XVII
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Sollte es nicht auch drüben einen Tod geben,
dessen Resultat irdische Geburt wäre?
Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch.
Wenn ein Mensch stirbt, wird er Geist.
Novalis, Von der geheimen Welt
Konstantin saß alleine in seinem Hotelzimmer, hörte die beruhigende Musik der Gruppe Lambda über Ohrstöpsel vom MP3-Spieler seines Smartphones und betrachtete den Harlekin’s Death. Du bist schön. Aber ob du die Macht besitzt, die ich benötige?
Hoya hatte ihm den Ring überlassen, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Danach hatte Carola sie zur Tür geführt und dem Chauffeur die Anweisung gegeben, sie an jeden Ort in Madrid zu fahren, an den sie wollten. Bevor sie gingen, schrieb Carola Konstantin ihre Handynummer auf und bat ihn inständig, sie über alles zu unterrichten, was er mit dem Ring erlebte, damit sie es notieren könnte. Die Formulierung »für meine Ablage« erinnerte ihn frappierend an Thielke. Er versprach es Carola, um den Kontakt zu ihr zu halten und sie notfalls um Beistand bitten zu können.
Marna kannte sich glücklicherweise in Madrid aus und hatte sie in ein Hotel bringen lassen, das nicht weit vom Flughafen entfernt lag.
Noch wusste er nicht, was er als Nächstes unternehmen sollte. Konstantin wartete auf Jesters Anruf. Er hatte seinem Freund per E-Mail eine knappe Zusammenfassung über das, was sich in Almudena ereignet hatte, geschickt. Das war vor zwei Stunden gewesen.
Marna hatte sich mit schlechter Laune in ihrem Zimmer verbarrikadiert. Der Job in der Edelstein- und Diamantbörse verlangte nach ihrer Anwesenheit, Urlaub konnte sie sich nicht nehmen, um weiter an seiner Seite zu bleiben, bis er ihr den Audi TT bezahlt hatte. Der für sie unergiebige Ausflug nach Madrid war gerade noch so unter geschäftlich verbucht worden, die weiteren Streifzüge auf Firmenkosten abzurechnen, wäre der Buchhaltung schwer zu erklären. Außerdem war sie sauer, dass er den Ring nicht an Hoya verkauft hatte. Anstatt ihre Provision zu bekommen, hatte sie eine gehörige Portion »übersinnlichen Mist« gehört, der sie – wie sie ihm deutlich sagte – nicht interessierte. Ihr Standing als ehrenwerte Vermittlerin bei Hoya betrachtete sie als geschädigt, und das wiederum würde sich in ihrem Kundenkreis herumsprechen.
Konstantin streckte die Finger und überlegte, ob er den Ring überstreifen sollte. Was geschieht dann? Geschieht überhaupt etwas?
Seine Vorstellungskraft ließ ihn Bilder sehen, wie der Schnitter im gleichen Moment den Kopf heben und ihm mit seiner Knochenfratze direkt in die Seele sehen würde, durch Raum und Zeit raubvogelgleich niederstieß, um die Gelegenheit zu nutzen, einen verhassten Todesschläfer zu vernichten. Mit einem einzigen, gewaltigen, lustvollen Schlag und einem lauten Freudenschrei.
Ihn fröstelte, und er erschrak, als er auf seine Hände sah. Unbewusst hatte er Harlekin’s Death über das erste Glied seines Zeigefingers geschoben.
Noch wenige Zentimeter, und er wüsste mehr.
Nein. Es ist zu früh. Die Angst, für den Tod sichtbar zu werden und sofort zu sterben, konnte er nicht einfach ignorieren. Er wollte zu Iva, mit ihr Dinge erleben, überhaupt ein Leben mit ihr haben. Und vor allem musste er Arctander finden und aufhalten. Carolas Worte hallten in ihm wider, sie hatte ihm Mut gemacht.
Sein Smartphone machte sich mit einem Summton bemerkbar, Jesters Nummer wurde angezeigt.
Konstantin schaltete die Musik aus und nahm den Anruf entgegen. »Ja?«
»Life is too important to be taken seriously«, drang das nächste Wilde-Zitat durch den Hörer. »Aber in diesem Fall, alter Knabe, muss ich Oscar widersprechen. Das Leben der Menschen ist zu wichtig, um den Narko frei herumlaufen zu lassen.«
»Da gebe ich dir recht.« Konstantin legte den Ring auf das Kissen, der Opal schimmerte blauhell auf dem schwarzen Untergrund. »Konntest du mit meinen Informationen etwas anfangen?«
»Ja, danke. Ich habe meine Abteilung damit gefüttert. Sobald es Resultate gibt, melde ich mich.« Jester klang entspannt wie schon lange nicht mehr, als habe er viele gute Neuigkeiten und wollte sie genießerisch eine nach der anderen loswerden. »Bist du immer noch in Madrid?«
»Ja.«
»Wo?«
»Im Hotel Oro. Ich wollte in der Nähe des Flughafens sein, je nachdem, wo du mich hinbestellst.«
»Vorbildlich, alter Knabe. Glänzend! Bleib einfach, wo du bist. Ich habe ein Team nach Madrid geschickt. Sie werden sich bei dir melden. Es sind zwei Topor’s Men und zwei Freelancer, die tun werden, was du ihnen sagst. Erinnerst du dich noch an Johnny?«
»Ja. Ist er dabei?«
Jester bejahte. »Er hat sich in den letzten Jahren gemacht, und ich dachte, deine Rolle als Teamleiter wird dir leichterfallen, wenn du wenigstens ein Gesicht kennst.«
»Du kommst nicht?«
»Nein. Ich bin sozusagen die Spinne im Netz und versorge euch mit den News, die meine fleißigen Hacker, Abhörer und Satellitenspanner vom MI6 besorgen.« Jester räusperte sich. »Arctander begeht zurzeit unglaubliche Fehler auf seiner Flucht. Er hat die falschen Identitäten fast alle aufgebraucht, und somit wird er beim nächsten Einchecken oder Bezahlen mit der Kreditkarte sofort auffallen. Wir sind vorbereitet.«
Konstantin legte sich aufs Bett, betrachtete die Decke. »Und wieso brauchst du mich dann noch?«
»Weil du ein guter Mann bist, Stan … ich meine Konstantin. Oneiros. Wie auch immer. Deine Vergangenheit prädestiniert dich für die Jagd auf Arctander«, sagte Jester. »Du bist der Einzige, der mir und meinen Teams mehr als einmal entkam. Und den Phansigar obendrein. Das macht dich zu einer Legende, auch wenn du dich zurückgezogen hast. Viele erinnern sich genau an den Namen Oneiros.«
»Das ist zwar schmeichelhaft, aber es gefällt mir dennoch nicht.« Konstantin richtete sich auf und öffnete die Minibar, um eine Flasche Cola herauszuholen. Er war müde, obwohl er vorhin eine Stunde im Bad geschlafen hatte, die Tür abgesperrt, damit der Zimmerservice nicht zufällig hereinkam und einen unerwarteten Tod starb. Zucker und Koffein mussten sein. »Apropos Phansigar. Was machen eigentlich die Inder? Sind sie dichter an ihm als wir?« Mal sehen, was du jetzt sagst.
Jester schien von der Frage überrascht. Seine Antwort ließ einen Moment zu lange auf sich warten. »Ah, die Phansigar. Ja, wir haben ihre Leute gesichtet, allerdings in Konstantinopel. Wir verstehen nicht, was sie da wollen, und es wird ohnehin nicht mehr lange dauern, bis sie nach Madrid kommen. Das Massaker war ein zu deutlicher Hinweis. Aber keine Sorge, alter Knabe. Mein Team kennt sich im Gegensatz zu dir bestens mit Feuerwaffen aus. Es können nicht alle solche Nieten beim Schießen sein wie du, alter Knabe.« Jester lachte.
Konstantin schüttelte enttäuscht den Kopf. Immer noch der alte Geheimdienstmann. Er öffnete die Colaflasche an der Bettkante. »Jester, was soll der Mist?«
»Pardon?«
»Die Phansigar sind nicht hinter Arctander her. Ich habe meine Verbindungen spielen lassen und mich umgehört.«
Jester schwieg erneut, dann lachte er verlegen. »Sorry. Ich wollte dich auf Trab bringen, und die skrupellosesten Todesschläfer sind nun mal die Chai-Macher. Ich dachte, dass ich dich damit zusätzlich ansporne. Es tut mir leid, Kumpel.«
Konstantin sah ihn vor sich, mit seinem jungenhaften Grinsen und dem ertappten Gesichtsausdruck. Wusste ich es doch. »Diese MI6-Psycho-Scheiße brauchst du bei mir nicht. Das wird dich eine Flasche guten Wodka kosten! Russischen.«
»Wird erledigt. Meine Freunde vom FSB haben noch welchen von der letzten Razzia eingebunkert.« Jester klang erleichtert, dass Konstantin ihm die Lüge nicht nachtrug. »Es kommt nicht wieder vor.«
»Alles klar. Dann warte ich im Hotel. Bis dann.«
»Cheerio, Konstantin.«
Beim Gedanken an das Team, das er befehligen sollte, fühlte er sich nicht ganz wohl. Er war Einzelspieler und hätte den erfahrenen Jester lieber dabei gehabt.
Es klopfte an der Tür.
Konstantin erhob sich, sah durch den Türspion hinaus.
Marna wartete vor der Tür. Sie hatte ein dunkelgraues Kostüm mit einer schwarzen Bluse angezogen, die Haare waren hochgesteckt. Als hätte sie geahnt, dass er auf der anderen Seite der Tür stand, sah sie genau in die Linse. Ihre Blicke trafen sich durch das Glas, wie sie sich vorher noch nicht getroffen hatten.
Konstantin fühlte ein warmes Gefühl in seiner Körpermitte, das sich langsam ausbreitete. Was war das denn? Schnell riss er sich los, öffnete die Tür.
»Hallo, Korff.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. Ihre Wut auf ihn war verraucht. »Wie sieht’s aus? Pläne?«
Er rang um Beherrschung. »Ich … habe meinen Kumpel angerufen … und …«, sagte er verdattert und trank von seiner Cola, die er noch immer in der Hand hielt. Um die Verwirrung zusammen mit dem Durst wegzuspülen. »Er sagte …«
»Wollen wir das auf dem Gang besprechen?«, unterbrach sie ihn und beugte sich zur Seite, um an ihm vorbeizuschauen. »Oder haben Sie eine Dame bei sich, die ich nicht sehen soll?«
»Quatsch.« Konstantin trat zur Seite, damit sie eintreten konnte. Er wollte an Iva denken. Ihr Bild leuchtete auf, flackerte und wurde von diesem merkwürdigen Gefühl von eben gestört. Nur eine leichte Verwirrung. Ich habe zu viel Zeit mit Marna verbracht. Das ist alles.
Marna schob sich an ihm vorbei, sah ihn verwundert an, sagte jedoch nichts zu seiner Verfassung. »Sie haben mit Ihrem Kumpel gesprochen … und?« Sie blieb stehen, lehnte sich gegen die Wand und kreuzte die Arme.
Rasch nahm er noch einen Schluck, unterdrückte das Gurgeln in seinem Hals, das die Kohlensäure auslöste. »Er … sendet mir ein Team von Spezialisten. Wir kümmern uns um Thielke und Arctander, damit sie keinen Schaden mehr anrichten können«, fasste er zusammen. »Mehr darf ich Ihnen nicht sagen, Frau Herbst.«
»Verstehe.« Sie sah auf das Bett. »Und was jetzt?«
»Wie …?«
»Der Ring. Was machen Sie damit? An dem Schmuck hängt nach wie vor die Provision, die Sie mir schulden. Hoya konnten Sie weismachen, dass er ein Familienerbstück ist. Ich weiß es besser.« Marna lächelte ihn warm an. »Ich fand Ihre Vorstellung übrigens beeindruckend. Ich hätte nicht gedacht, dass man Hoya so schnell aus der Fassung bringen kann. Der Mystik sei Dank. Sie haben sich exzellent auf Señora Hoyas Ausführungen eingelassen. Gute Show.«
»Tja. Danke sehr.« Konstantin hatte seine Verunsicherung endlich niedergerungen. »Ich werde wohl noch ein paar weitere Untersuchungen vornehmen lassen, bevor ich entscheide, was ich mit Harlekin’s Death mache«, antwortete er mit einer gewissen Beliebigkeit.
»Weitere Untersuchungen? Was gibt es denn mehr herauszufinden als das, was Sie schon von mir wissen?« Marna atmete durch. »Ah. Sie wollen mir nicht sagen, was Sie vorhaben.«
»Ich kann nicht. Geheimdienstsache. Und es ist auch mystisch, was eh nicht Ihr Ding ist, wie Sie sagten.« Die Spitze musste sein. Er nippte an der Flasche. »Das bedeutet für Sie, dass Sie nach Hause fliegen können, Frau Herbst. Sie hatten genug Abenteuer.«
Marna rührte sich nicht. »Was ist mit meinem TT?«
»Bezahle ich Ihnen.«
»Schuldschein, Korff?«, schlug sie vor.
Konstantin lachte. »Sie sind hartnäckig.«
»Ich arbeite in einem Beruf, in dem es um Geld und Sicherheiten geht«, erwiderte sie, drückte sich von der Wand ab und begab sich an den Schreibtisch. Sie öffnete die Hotelmappe und setzte einen Schuldschein auf, den sie Konstantin unterschreiben ließ. Damit war er Verbindlichkeiten über fünfzigtausend Euro eingegangen.
»Die Sache mit dem Schmuck der Leichen, die Sie vorgeschlagen haben … ich bin keine Leichenfledderin.« Marna erhob sich und wedelte mit dem Blatt, faltete es. »Die Toten sollen ihre Habe behalten.«
»Ach? Sie haben ja doch Skrupel. Oder ist es vielleicht Aberglaube?« Konstantin freute sich, dass sie den Vorschlag, den er in Idar-Oberstein gemacht und nie hatte umsetzen wollen, ablehnte.
»Ehrgefühl, denke ich. Ich würde mich nicht wohl dabei fühlen.«
Er nickte. »Um ehrlich zu sein, ich hätte es auch nicht getan.«
»Skrupel oder Aberglaube, Korff?« Marna verstaute grinsend den Schuldschein in der Tasche ihres Blazers. Dann klopfte sie einmal darauf. »Denken Sie nicht, dass ich Ihnen den erlasse. Ich weiß, wo ich Sie finde, und die Börse hat gute Kontakte zu Inkassounternehmen. Notfalls komme ich einfach mit Zerbo vorbei. Übrigens erwarte ich auch Schadenersatz für die entgangene Provision. Aber ich bin ja nicht so. Legen wir den Realwert des Rings mit etwa hunderttausend Euro zugrunde, bekomme ich weitere zehntausend von Ihnen, Korff.«
Konstantin wollte etwas erwidern, da beugte sie sich nach vorne und küsste ihn.
Auf den Mund.
Sie schmeckte nach dunklen Kirschen, nach klarem Wasser und einem herrlichen Sommertag am See. Ihr Parfüm drang in seine Nase, und ihre Lippen lagen warm auf seinen.
Marna löste sich von ihm. »Lassen Sie sich nicht umbringen, Korff. Sie schulden mir Geld.« Dann verließ sie sein Zimmer. Einfach so.
Die Verwirrung, die er gerade eben abgeschüttelt hatte, war wieder zurück, riss sein klares Denken nieder und ließ ihn zu einem glotzenden Idioten mutieren. Bewegungslos stand er da, die Colaflasche in der Hand, die Augen starr auf die geschlossene Tür gerichtet und ihren Geschmack im Mund.
Sein Smartphone vibrierte.
Konstantin ignorierte es und versuchte, die Emotionsexplosionen in seinem Solarplexus zu kontrollieren. Sonneneruptionen am laufenden Band. Zeichen. Die für ihn ungewohnten esoterischen Vergleiche schossen ihm durch den Kopf.
Gleich darauf klingelte das Zimmertelefon.
Wie ferngesteuert griff er zum Hörer. »Korff.«
»Señor Korff, hier ist die Rezeption«, sagte ein warme Männerstimme, die bestens dafür geeignet wäre, überteuerte Produkte an einsame Frauen zu verkaufen. »Sie werden von vier Herrschaften erwartet. Ich soll Ihnen ausrichten: ›I sometimes think that God, in creating man, somewhat overestimated his ability.‹«
Ein Wilde-Zitat. Die Verstärkung ist da. »Vielen Dank. Ich komme runter.« Er legte auf, packte seinen Koffer in aller Eile, steckte den Harlekin’s Death in die Hosentasche und verließ seine Unterkunft.
Mit dem Fahrstuhl fuhr er nach unten, sah zwischendurch auf sein Handy, auf dem eine SMS eingegangen war. Iva!
Sie hatte ihm geschrieben, dass sie sich sehr über seinen Anruf freuen würde und dass es ihr leidtäte, wie es zwischen ihnen gelaufen sei. Ruf mich an, lautete der letzte Satz.
Konstantin war beinahe erleichtert darüber, wie sehr er sich freute, von der Frau zu hören, für die er den Fluch brechen wollte. Alles ist gut, dachte er beruhigt und sah sie vor sich, am Cello, auf der Bühne, in einem verführerischen schwarzen Kleid und mit einer Perlenkette um den Hals, die blonden Haare auf den Schultern … Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
Die Lifttüren öffneten sich. Es machte ping, und der Blick auf die Lobby wurde freigegeben.
Konstantins glückliches Lächeln gefror.
Keine vier Meter von ihm entfernt drehte sich eine Frau zu ihm um, von der er dachte, dass sich ihre Lungen mit Nahe-Wasser gefüllt hätten. Ihr Gesicht war von Schrammen gezeichnet, am Hals erkannte er ein langes Pflaster, das unter ihrer Kleidung verschwand und vermutlich eine Naht verbarg; den rechten Arm trug sie in Gips sowie in einem schlingenartigen Korsett.
Aber Baronesse Kristin Sophie von Windau lebte!
Und sie hat mich schon wieder gefunden. Konstantin überlegte fieberhaft, was er unternehmen sollte, während sie langsam den unverletzten Arm zum Gruß hob – und die Finger der Linken nach ihrer Haarnadel ausstreckte.
Martin Thielke setzte sich einen Insulinschuss in den Bauch und bestellte sich ein zweites Stück der göttlich leckeren spanischen Torte, die fast nur aus Zucker, Mandeln und Fett bestand und durch höchstens einen Teelöffel Mehl zusammengehalten wurde. Dazu schlürfte er einen Café bombón, Espresso mit eingedickter, gesüßter Kondensmilch. Eine Kombination, die sein Körper ohne die Insulinspritze kaum überleben würde.
»Wäre zu schön, wenn bald jemand kommt«, murmelte er und hob seine Nikon, um ein paar Schnappschüsse der Villa zu machen, von der er zirka fünfhundert Meter entfernt saß.
Es hatte sich noch niemand gezeigt, aber man hatte ihm versichert, dass die Señora gelegentlich in der Stadtresidenz ihres Vaters auftauchte.
Das Café, in dem er saß, war eine Ausgeburt an hässlichem, modernem Design, das sich eine Bank ausgedacht hatte. In seinem Landhaus-Outdoor-Look fiel er inmitten der Anzugträger auf wie ein Huhn in einem Affenhaus, doch Thielke kümmerte sich nicht darum. Er folgte einer Spur, und die führte ihn an diesen noblen Ort.
Die Bedienung brachte ihm die Torte, von der er sofort kostete.
Sein Beinstumpf war friedlich, was an den Schmerzmitteln lag, die er eingenommen hatte. Das lebenswichtige Nikotin gelangte über sieben Pflaster auf seiner Brust in den Körper. Er fühlte sich gut und ausgeruht, dank des langen Nickerchens, das er sich gegönnt hatte. Ganz ohne Schlafmittel.
Mit einem Schluck süßen Espresso spülte er den Bissen der Torte hinunter und sah wieder zu der Villa, die so gar nicht zwischen die modernen Gebäude rechts und links von ihr passte.
Seine Ungeduld wuchs.
Er spielte mit dem Gedanken, einfach zu klingeln und nach Arctander zu fragen. Die Zeit, die er mit Warten vergeudete, könnte Unschuldigen später fehlen, könnte den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.
Nachdem ihm Arctander im Stadion entkommen war, hatte Thielke die Aufnahmen vom Friedhof genutzt, um das Gesicht der Frau im Internet ausfindig zu machen. Er hoffte, auf einen Namen zu stoßen, und mit dem Namen auf die Adresse.
Es fiel leichter als gedacht.
Carola Hoya war in Madrid recht bekannt, zum einen wegen ihres Vaters, und zum anderen wegen ihrer Tätigkeit in wohltätigen Organisationen. Zwar hatte sie ihren Hauptwohnsitz in Sevilla, aber nach ein paar Anrufen fand er heraus, dass sie sich zurzeit in Madrid aufhielt.
Die Stadtresidenz von Ruben Hoya, ihrem Vater, galt als Anlaufpunkt der ganzen Familie, und so hatte sich Thielke in der Nähe in Position gebracht. Jetzt musste sie nur noch aufkreuzen, damit er sie fragen konnte, was sie über Arctander wusste.
Er kratzte sich am Kopf und rückte die Sonnenbrille zurecht. Sein Tatendrang war nicht mehr auszuhalten, angestachelt durch die Überdosis Nikotin. Er schaufelte den Kuchen in sich hinein, stürzte den Kaffee hinunter und bezahlte.
Die Banker und Anwälte bedachten ihn mit herablassenden Blicken, als er trotzdem sitzen blieb, aber er störte sich nicht daran. Wer seinen Erfahrungsschatz besaß, blieb in seiner solchen Umgebung gelassen. Über seinem erblindeten Auge lag eine schwarze Klappe, die ihn wie einen alten Marshal aus einem Western aussehen ließ, sobald er die Sonnenbrille abnahm. Die schwarzen Gummibänder liefen rechts und links unter dem Gestell hervor.
Thielke hob erneut die Nikon, schoss Fotos von den Fenstern der Villa. Die Einbruchsicherungen machte er durch den Zoom sofort aus.
Señor Hoya, der Patron, nein, der Don der Familie war bekannt für seine Sammelleidenschaft. Er unterhielt ein privates Museum und betätigte sich als Mäzen. Angesichts der gut verborgenen Kameras rund um die Villa und der anderen Sicherheitsvorkehrungen nahm Thielke an, dass sich im Haus Gegenstände von nicht unbeträchtlichem Wert befanden.
Er grübelte darüber nach, was Arctander von Señora Hoya gewollt haben könnte. Kannten sie sich vielleicht von früher? Er hatte bisher noch keine Verbindungen der Hoyas zu den Todesschläfern finden können. Vielleicht eine Verbindung zu Arctanders spanischer Verwandtschaft?
Das Nachdenken brachte nichts. Die Señora würde ihm helfen müssen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Ein Mercedes CLK fuhr vor, ein Chauffeur stieg aus und näherte sich der Villa.
Thielke fotografierte das Nummernschild und erhob sich. Er nahm an, dass gleich ein Familienmitglied der Hoyas auftauchte, unter Umständen Señora Carola. Hoffentlich ergab sich eine Gelegenheit zum Reden – freiwillig oder erzwungen.
Er verließ das Café, ging den Bürgersteig entlang und näherte sich der Villa. Dabei hängte er die Kamera auf den Rücken, um nicht wie ein psychopathischer Paparazzi auszusehen, und nahm die Sonnenbrille ab.
An der Bordsteinkante hielt er an. Blick rechts, Blick links. Frei. Er hob das gesunde Bein und war im Begriff, den ersten Schritt zu machen, um die Straße zu überqueren.
Das aufröhrende, aggressive Schnarren eines kleinen Motors ließ Thielke herumfahren.
Über den Platz schoss ein aufgemotzter Roller mit zwei Gestalten darauf auf ihn zu. Die verspiegelten Visiere ihrer Helme verdeckten die Gesichter, der Typ auf dem Sozius hob eine schallgedämpfte Heckler & Koch MP5, eine vollautomatische Maschinenpistole. Eindeutig keine üblichen Handtaschendiebe.
Thielke warf sich nach hinten. Hart prallte er auf dem Boden auf.
Die erste Garbe verfehlte ihn knapp. Asphaltbröckchen spritzten hoch und trafen ihn im Gesicht. Klirrend ging das Objektiv der Nikon zu Bruch. Er zog den LeMat, legte auf den Fahrer an und drückte zweimal ab.
Der schwere Revolver entlud sich krachend, rüttelte in seiner Hand. Die Detonationen der Treibladungen übertönten jegliche Umgebungsgeräusche.
Die Projektile des LeMat trafen den Hintermann in den Arm, der aufplatzend herumgerissen wurde, und ins Visier, das sich splitternd auflöste. Die Rückseite des Helms zerbarst, als wäre eine Handgranate darin gezündet worden.
Ich habe den Fahrer verfehlt?! Was ist denn mit mir los?
Der Schütze stürzte vom Roller und überschlug sich mehrmals, wobei sein Blut und graurote Hirnbröckchen umherschleuderten. Die Finger des Toten hatten sich um den Abzug verkrampft, und die MP5 spie ihre Kugeln ungezielt in die Glasfront eines Bürogebäudes. Knisternd und krachend regneten die Scherben zu Boden und bedeckten den gepflasterten Vorplatz.
Thielke lag noch immer auf der Erde. Er hatte ein Rucken im Bein gespürt. Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass die Prothese zerfetzt war, Unterschenkel und Schuh bestanden nur noch aus Einzelteilen. Sein gesundes Bein hatte er angezogen, es war der gegnerischen Salve zum Glück entgangen.
Der Rollerfahrer hielt an und griff unter seine Windjacke, um eine Waffe zu ziehen.
Thielke richtete den Oberkörper halb auf, die Mündung des LeMat auf den Angreifer gerichtet. Dieses Mal schieße ich nicht daneben. Er setzte ihm einen einzigen Schuss in den Hals, der noch mehr Sauerei auf dem Gehweg anrichtete. Der Lebenssaft sprühte in einem dichten Schwall aus der Ein- und Austrittswunde. Der Kopf wurde halb abgerissen, Mann und Roller stürzten.
Na, also! Thielke erhob sich schwerfällig und hüpfte auf einem Bein bis zu einem zwei Meter langen Blumenkübel, den er als Deckung nutzte. »Wo kommen diese Wichser denn plötzlich her?«, sagte er zu sich selbst und schaute sich um.
Menschen rannten geduckt über den Platz, flüchteten in die Gebäude. Autos fuhren auf der Straße vorbei, aus denen die Menschen hinter den Scheiben mit großen Augen auf die Leichen und das Blut glotzten. Es würde nicht lange dauern, und die Gesetzeshüter rollten an. Die Ereignisse im Stadion hatte die Policía in einen Daueralarm versetzt.
Thielke sah die Banker, die ihn vorhin abwertend angeschaut hatten, unter den Tischen des Cafés hocken. So schnell war es vorbei mit der Arroganz und der Überheblichkeit des Geldadels.
Neben ihm flog dunkle Erde in die Höhe, Blümchen zerfledderten und sandten ihre Blätter in den Wind.
Thielke sackte zusammen und schaute hinter sich. Der fehlende Knall bedeutete, dass seine Feinde mit Schalldämpfern auf ihn schossen. Das deutete auf einen Geheimdienst oder einen Profiverbrecher hin. Da er sich in letzter Zeit nicht mit Gangstern angelegt hatte, blieb der Geheimdienst.
Er machte hundert Meter von sich einen Mann mit Eishockeymaske und Anzug aus, der in der offenen Tür eines dunkelblauen Transporters stand und ein langläufiges Sturmgewehr auf ihn gerichtet hielt. Der Form nach war es ein AK74.
Thielke warf sich zur Seite, überrollte dabei nochmals die knirschende Nikon und entging den drei Kugeln, die in den Kübel einschlugen und Betonstücke heraussprengten.
Ich zeige dir, wie das geht. Der LeMat war auf solchen Entfernungen unpräzise, seine erste Kugel durchschlug das Blech neben dem Schützen, woraufhin die Frontscheibe sich von innen rot färbte; die zweite schrammte gegen das Gewehr und schlug es zur Seite, und gerade als der Mann sich duckte, bekam er die dritte in den Bauch. Dumpf hinter der Maske schreiend, sank er auf den Boden des Transporters.
Neben dem Heck des Kleinlasters erschien noch ein Maskierter, der ebenfalls ein AK74 mit Schalldämpfer hob und in Anschlag brachte.
»Scheiße!« Thielke robbte hastig um den Kübel herum, während es hinter ihm sirrte und er mit Steinsplittern überschüttet wurde. Einen Streifschuss bekam er in den rechten Oberschenkel, was nicht weiter ins Gewicht fiel, da er das Bein wegen der zerschossenen Prothese eh nicht mehr zum Gehen gebrauchen konnte. Das linke wäre schlimmer gewesen.
Thielke hörte, dass der Feind vorrückte und dabei sein Magazin wechselte, das leere fiel klappernd auf die Straße.
Aus der Entfernung erklang Sirenengeheul, das gewiss von Polizeifahrzeugen stammte. Er rechnete mit einem Sondereinsatzkommando, das vermutlich erst einmal wild um sich schießen würde, so angespannt, wie die Stimmung seit dem Zwischenfall im Stadion in Madrid war.
Er warf einen hastigen Blick über den Betonrand des Kübels und sah den Maskierten keine dreißig Meter von sich entfernt.
Thielke feuerte, der Beschuss wurde aus der AK sofort erwidert und zwang ihn nach unten. Zerfetzte Blütenstengel und -blätter bedeckten ihn, und er machte sich hinter seiner Deckung klein, so gut es ging. Bei der hohen Feuerfrequenz musste der Mann gleich wieder nachladen.
Als das erwartete Klappern des leeren Magazins, das auf der Straße landete, erklang, neigte sich Thielke seitlich hinter dem Kübel heraus. Er legte an und schoss zweimal auf den Oberkörper des Maskierten.
Der Mann machte unter den Einschlägen mehrere Ausfallschritte rückwärts, ließ zuerst das Gewehr, dann das Ersatzmagazin fallen und brach schließlich zusammen.
Einem Knallen hinter Thielke folgte unmittelbar Schmerz in seiner rechten Hand. Aufschreiend ließ er den LeMat los, presste die Hand an die Brust und wälzte sich herum.
Von der anderen Seite des Platzes näherten sich zwei weitere Gegner, die MP5s auf ihn gerichtet hielten und im Laufschritt auf ihn zueilten. Sie trugen ebenfalls Anzüge und Eishockeymasken. Da sie nach dem ersten Treffer nicht weiterschossen, wollten sie anscheinend etwas von ihm. Seine Hand pochte dumpf, dank der vorhin eingeworfenen Schmerztabletten spürte er die Schusswunde kaum. Als habe er geahnt, dass er die Wirkung der Pillen heute noch benötigte – und zwar nicht für seinen zwackenden Beinstumpf.
Thielke rollte sich über seinen Revolver, um ihn mit der Linken greifen zu können, ohne dass seine beiden Angreifer es sahen. Theatralisch stöhnend verharrte er so, wartete auf die Ankunft der Feinde.
Wenige Sekunden später hatte das Duo ihn erreicht.
»Unten bleiben«, schnarrte ihn einer der Maskierten an. »Homeboy, kommen«, funkte er dann.
Keine Antwort.
Er sah zum Transporter. »Homeboy, was ist? Fahr die Kiste her, wir müssen verschwinden!«
Thielke dachte an die rote Windschutzscheibe. Seine erste Kugel hatte sich ihren Weg in die Fahrerkabine gesucht und einen Treffer gelandet. Homeboy war mindestens schwer verletzt.
»Jeff, lauf los und sieh nach«, wies er seinen Begleiter an. »Ich frag den Boss, was wir tun sollen, falls wir ihn nicht mitnehmen können.«
Sie tauschten einen Blick, wandten sich für eine Sekunde von ihm ab – und Thielke riss den LeMat hoch, löste die Schrotladung aus.
Donnernd jagten die winzigen Kügelchen und Schrapnelle aus der Mündung, hagelten mit enormer Wucht gegen die beiden Maskierten und durchdrangen Kleidung, zerrissen die Hockeymasken, bohrten sich durch Haut und Fleisch.
Aufschreiend taumelten die Männer zurück, schossen wahllos auf Thielke, der noch eine Kugel in den verletzten Oberschenkel kassierte, doch er setzte sie mit einer Reihe von grob gezielten Schüssen außer Gefecht, bis sein Magazin leer war.
Hastig entfernte er die leeren Hülsen aus der Trommel und schob neue nach, die er in seiner Jackentasche hatte. Den Schrotlauf ließ er ungeladen, das dauerte zu lange.
Sechs Tote, gegen eine Übermacht aus Schnellfeuerwaffen bestanden und den Bankern einen gehörigen Schrecken eingejagt. Das betrachtete Thielke als gute Bilanz für eine Schießerei.
Doch seine Verletzungen bereiteten ihm Sorgen. Er fühlte seinen Blutdruck sinken, die Wirkung des Schocks breitete sich aus, ließ ihn unkontrolliert zittern. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, und dann würde er verbluten – oder von der spanischen Policía gelyncht, die in ihm Igor aus dem Stadion erkennen würden, wenn die Ballistiker ihre Arbeit gemacht hatten.
»Sleeper one, habt ihr ihn?«, drang es leise an sein Ohr.
Thielke kroch ächzend zu einem der Erschossenen und fand ein blutiges Headset unter der zerstörten Maske. Er zog es dem Toten vom Kopf und hielt es sich so, dass er es nutzen konnte. »Sleeper one hier. Wir haben ihn«, sagte er angestrengt. »Mich hat es erwischt. Wohin sollen wir ihn bringen? Kommen.«
»Er lebt noch?«
»Ja. Kommen.«
»Dann erledigt ihn. Wir brauchen den alten Sack nicht. Ich habe keine Lust, dass er sich aus Zufall mit Korff unterhält.«
Die Stimme kam Thielke bekannt vor, doch ihm fehlte das Gesicht dazu. Er musste mehr hören, vielleicht fiel es ihm dann ein. »Bestätigt. Sollen wir Korff auch erledigen, Chef? Wir haben ihn in der Nähe gesichtet. Kommen.«
»Seid ihr verrückt?« Die Stimme klang überrascht und wütend. »Er soll noch für uns arbeiten, bevor wir ihn abstoßen. Erledigt Thielke, verschwindet und bringt mir den LeMat mit. Scheint ja eine gute Waffe zu sein, die sich der alte Idiot gebastelt hat.« Ein leises Lachen drang aus dem Kopfhörer. »›I am not at all cynical, I have merely got experience, which, however, is very much the same thing.‹ Over.«
Dieser kleine MI6-Wichser! Thielke wusste jetzt, wem er den Überfall zu verdanken hatte.
Das Gespräch hatte ihn abgelenkt, so dass er die zuschlagenden Autotüren und die Schritte hinter sich gar nicht vernommen hatte.
Ein Hieb in den Nacken reichte aus, um ihn in der ohnehin nahenden Ohnmacht versinken zu lassen. Er driftete ins Schwarze.