Valéncia
»Etwas hat uns getroffen«, schrie Kamino Regalado über den Lärm der lauten Schiffsglocke hinweg. »Und was immer es ist, es zieht uns viel zu schnell nach unten.« Sie hielt sich mit beiden Händen am Fenster fest, so sehr schaukelte die Flugmaschine. »Verdammt, wir verlieren immer mehr an Höhe.«
Jordi spürte es. Die Kälte zog durch den Boden hinauf. Eine der fliegenden Galeonen hatte eine Kanone abgefeuert, so viel stand fest. Etwas hatte sich in den Bauch des Falken gekrallt, doch es war keine Kugel. »Sie schießen mit Finsternis auf uns«, sagte Kamino, die Augen weit aufgerissen.
Sie griff nach dem Messingrohr, pustete hinein. »Cortez!« Ihre Stimme überschlug sich.
»Ich habe sie gesehen«, hörte Jordi die blecherne Stimme des Kapitäns. »Zwei Galeonen.«
»Wir müssen den Kurs ändern.«
»Hab ich auch vor«, sagte Cortez knapp.
Kamino warnte ihn: »Die Stürme sind aufgebracht.«
Jordi sah sie von der Seite aus an und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. War es hilfreich, wenn Seufzerstürme aufgebracht waren, oder musste er sich Sorgen machen?
»Haltet euch fest da unten, es kann gleich holprig werden.« Die Stimme des Kapitäns klang fast vergnügt.
Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als Jordi erfuhr, was Cortez damit gemeint hatte.
Der Falke senkte die Schnauze und stürzte kopfüber in die Tiefe. Wieder zerrte etwas an ihnen und Jordi konnte spüren, wie sich das Fluggerät diesem Zugriff zu entziehen versuchte. Das ganze Schiff ächzte, als die Maschinen die Flügel schneller und schneller schlagen ließen. Helium wurde in die Tanks gepumpt, er konnte es hören.
Jordi schaute nach draußen. »Wir sind ihnen ins Netz gegangen«, rief er erschrocken.
Die fliegende Galeone hatte eine Harpune aus Schatten auf den Falken abgeschossen. Ein langer Faden, nahezu unsichtbar und dennoch voller Kraft, spannte sich vom Falken bis hin zur ersten fliegenden Galeone, die näher und näher kam.
Kamino tauchte neben ihm auf. »Nur nicht den Mut verlieren.«
»Ist das eine Fliegerweisheit?«
Der Trotz flackerte wieder in ihren Augen auf. »Ja«, sagte sie. »Ja, ist es.«
»Aber wir werden zu ihr hingezogen«, keuchte Jordi.
Kamino Regalado starrte auf den Faden, der am Bug der fliegenden Galeone endete.
»Wir müssen ihn losschneiden«, sagte sie. »Sonst entern sie uns.«
»Den Faden losschneiden? Dazu müsste einer von uns nach unten zum Bauch des Falken klettern.«
»Hast du eine bessere Idee?«
Beide überlegten kurz, starrten auf die Luke im Boden. Beide hatten sie den gleichen Gedanken gehabt.
Doch die Öffnung im Boden begann bereits heftig zu vibrieren. Was immer da unten am Bauch des Fluggerätes hing, begehrte Einlass.
»Wie viele Personen trägt der Pájaro?«
»Vergiss es. Er ist zu klein für uns alle.«
Kamino Regalado lächelte wie jemand, der tief in seinem Herzen lächelt. »Es ist gut, dass du nicht nur an dich selbst denkst.«
»Warum sollte ich das tun?«
Sie zuckte die Achseln. »Willkommen an Bord.«
Jordi erwiderte das Lächeln. Er hatte verstanden.
Dann verfinsterte sich die Mine des Bootsmädchens wieder.
Das Poltern an der Luke wurde laut und lauter. Man konnte förmlich sehen, dass etwas von außen mit aller Macht dagegendrückte. Das Metall würde der Kraft der Schatten nicht mehr lange standhalten, davon war Jordi überzeugt.
»Da!«
Dünne Tropfen dichter Finsternis quollen durch die Ritzen und Rillen an den Rändern der Luke und drangen in den Maschinenraum ein. Wie schwarze Pfützen breiteten sie sich auf dem Boden aus.
»Verdammt!«, fluchte Kamino. »Was nun? Du bist den Schatten doch schon einmal entkommen.«
»Das war Glück.« Und meinem Vater zu verdanken, fügte Jordi im Stillen hinzu.
Draußen kamen die fliegenden Galeonen mit großer Geschwindigkeit auf sie zu. Bevor sie jedoch einen weiteren Schuss abgeben konnten, drehte der Falke bei.
Das Manöver riss den Jungen und das Mädchen von den Füßen. Beide rutschten über den Boden und prallten gegen die Wand mit den Uhrengeräten, deren Zeiger sich jetzt wie wild drehten und nur zu deutlich zu erkennen gaben, dass die Flugmaschine ihren Kurs verloren hatte.
»Sie schießen schon wieder auf uns«, schrie Kamino.
Der Donner des zweiten Schusses rollte noch durch die Luft, als Jordi einen weiteren Schattenfaden ausmachte, der in Richtung des Falken zielte. Er hielt den Atem an, stieß ihn jedoch erleichtert wieder aus, als der stählerne Schattenfaden das Luftschiff um Haaresbreite verfehlte.
»Die wollen es wirklich wissen«, schnaufte Kamino.
In Jordis Kopf gellten die Fragen. Weshalb machten die Galeonen Jagd auf sie? Ging es ihnen um Kopernikus – oder etwa um ihn? Ein Blick in das Gesicht des Mädchens zeigte ihm, dass sie das Gleiche dachte. Doch sie sagte nichts.
»Ich könnte mit Kopernikus im Pájaro fliehen.«
»Um was zu tun? Den Helden zu spielen?« Sie verdrehte die Augen. »Das wird nicht funktionieren.«
»Es wäre einen Versuch wert.«
»Das mit dem Pájaro war keine gute Idee. Der ist Schrott. Er würde abstürzen und ihr beide mit ihm.«
»Ist er nicht. Mein Vater hat ihn gebaut, für meine Mutter.«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Tut mir leid.«
»Schon gut.«
Jordi ließ nicht locker: »Die Schatten würden vielleicht vom Falken ablassen, wenn sie sehen, dass wir im Pájaro zu entkommen versuchen.«
Sie hob die Hand und schüttelte energisch den Kopf. »Jordi! Vergiss es!«
Die Schatten am Boden erwachten zum Leben. Kamino sah es und Jordi spürte, wie die Kälte intensiver wurde.
Erneut änderte der Falke seinen Kurs. Jordi verlor das Gleichgewicht und Kamino prallte mit dem Kopf gegen eines der Uhrengeräte. Sie ging in die Knie, lag benommen auf dem Boden und versuchte die Orientierung zurückzugewinnen. Ein dünner Streifen Blut lief ihr von der Stirn übers Gesicht.
»Kamino!« Es war das erste Mal, dass Jordi ihren Namen rief. Seltsam, dass ihm das gerade jetzt auffiel. Viel seltsamer noch, dass er froh darüber war, den Namen aussprechen zu können.
Sie hob den Kopf und blinzelte.
»Vorsicht!«
Instinktiv zog sie die Beine an. Der Schattenstrich, dürr wie ein verdorrter Ast, verfehlte ihre Stiefel nur knapp. Wie eine schlecht gezeichnete Krallenhand hatte der Schatten sie zu packen versucht.
Panikartig trat Kamino nach ihm und rutschte weiter nach hinten, bis sie mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden saß und nicht mehr weiterkonnte.
Jordi schaute sich um.
Die Schattenpfütze am Boden breitete sich aus. Sie pulsierte wie etwas Lebendiges. Nie zuvor hatte er die Finsternis in so dichter Form erblickt. Es war eine einzige fließende Bewegung, und wenn man lange genug in sie hineinsah, dann konnte man sogar Farben und Muster erkennen, die einmal Leben gewesen sein mochten.
Das Licht schien diesen Schatten nichts auszumachen. Sie umspülten die Scharniere, die die Luke verschlossen hielten. Die Brille mit den dicken Gläsern, die Kamino noch vor wenigen Augenblicken getragen hatte, war in der Finsternis untergegangen.
»Cortez!«, schrie Kamino.
»Hört er uns?«
»Keine Ahnung.« Sie drehte den Kopf in Richtung des Sprechrohrs. »Es sind Schatten im Maschinenraum!« Hektisch trat sie nach der Dunkelheit, als würde sie das retten können.
Keine Antwort aus dem Cockpit.
Dafür vollführte der Falke ein neues Manöver, das Jordi und Kamino ans andere Ende des Raums beförderte. Sie schlitterten über den Boden und voller Entsetzen erkannte Jordi, dass das Bootsmädchen die finstere Pfütze streifte. Ihre Hand griff in die Dunkelheit und versank sogar einen kurzen Moment in ihr.
Das Mädchen schrie laut auf, weil etwas an ihren Fingern klebte.
»Mach es weg, Jordi, bitte, mach es weg!« Sie schlug danach, doch ohne Erfolg.
Jordi rappelte sich auf. Draußen heulten die Seufzerstürme laut auf. Der Falke kippte zur Seite und Jordi musste sich mit aller Kraft an einem angeschraubten Stuhl festhalten, um nicht wieder den Halt zu verlieren.
Kamino, die nur noch Augen für die Schatten hatte, wurde in Richtung der eisernen Tür geschleudert, wo sie mit dem Kopf gegen eine Kiste stieß und zitternd liegen blieb.
Sie atmete flach und blinzelte mit halb geöffneten Augen auf ihren Arm, der sich dunkel wie Tinte färbte. Bis hinauf zum Ellbogen waren die Schatten schon gewandert.
»Jordi?«
»Ich bin hier.« Schon war er bei ihr und kniete neben ihr nieder.
»Was passiert mit mir?« Sie sah ihn flehend an.
Jordi schnürte es die Kehle zu. Er konnte ihr nicht sagen, was geschehen würde. Er dachte an all die Menschen, die er in Barcelona ein Opfer der Schatten hatte werden sehen. Niemand hatte ihnen zu helfen vermocht.
Niemand würde Kamino helfen können. Jordi jedenfalls war mit seiner kümmerlichen Weisheit am Ende.
Oder etwa doch nicht?
Er rannte zu dem Sprachrohr, das verbogen aus der Wand ragte: »Kopernikus, kommt nach unten. Schnell!«
»Etwa jetzt?« Die Stimme war blechern und genervt.
»Ja«, schrie Jordi hinein. »Sofort! Sie sind hier.«
Er sah verzweifelt zur Tür, hoffte, dass er recht behalten würde mit dem, was er vermutete.
Nur wenige Augenblicke später sah er eine hochgewachsene Gestalt im Türrahmen.
»Kopernikus! Du musst es tun! Du musst die Schatten zurückdrängen! Nur du kannst es!«
Der Navigator zögerte.
»Kopernikus!« Jordis Stimme gellte jetzt. »Ich weiß es. Ich habe es vor der Kathedrale selbst gesehen.«
Der hochgewachsene Mann rührte sich noch immer nicht vom Fleck.
Jordi riss an seinem Arm und da kam endlich Leben in ihn. Er ging auf Kamino zu und schrie etwas in einer Sprache, die wie das Zischen vieler, vieler Schlangen klang. Jordi widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. Der Schatten, der zu Kopernikus’ Arm gehörte, strich über die Haut des Bootsmädchens und plötzlich wichen die anderen Schatten zurück.
Obwohl es doch sein eigener Einfall gewesen war, starrte Jordi Kopernikus ungläubig an.
Es funktionierte! Die eisig kalten Schatten tropften Kamino vom Arm. Einen kurzen Augenblick lang schienen sie innezuhalten. Dann sammelten sie sich zu ihren Füßen und flossen zurück zur Luke.
Wieder setzte sich Kopernikus in Bewegung und folgte schnellen Schrittes den Schatten. Unablässig sprach er in diesen fremden Zischlauten. Sogar mit den Stiefeln trat er nach ihnen und sein eigener Schatten war es, der ihm dabei half.
Die Zischlaute wurden lauter.
Jordi ließ ihn nicht aus den Augen. »Finsternis«, flüsterte er, »muss mit Finsternis bekämpft werden.«
Langsam, zögerlich, entwichen die Schatten durch die Luke, durch die sie gekommen waren.
Schließlich waren sie fort.
Kopernikus stand da und sah ausgemergelt und erschöpft aus. »Alles in Ordnung?«, fragte er das Mädchen.
»Wie habt Ihr das gemacht?«, wollte Jordi wissen.
Kamino hielt sich den Arm fest. Ihre Zähne schlugen aufeinander. »Es ist so kalt«, sagte sie.
»Das geht vorbei«, antwortete Kopernikus.
»Wie, in aller Welt, habt Ihr das gemacht?«, wiederholte Jordi seine Frage und richtete sich auf.
»Ich habe ihnen befohlen, sich zurückzuziehen.« Kopernikus sprach es ganz selbstverständlich aus. »Aber es wird nicht viel nützen. Sie werden herausfinden, dass ich nicht mehr auf ihrer Seite stehe, und dann werden sie zurückkehren.«
Jordi fühlte, wie das Blut ihm aus dem Gesicht wich. Er hatte es gewusst – er hatte recht gehabt, dass Kopernikus gestern nicht die Wahrheit gesagt hatte. Zumindest nicht die volle Wahrheit.
»Ihr standet früher auf ihrer Seite.« Er sagte es bitter und Kamino warf ihm einen neugierigen Blick zu, so als wüsste sie nicht recht einzuordnen, was Jordi so zornig machte.
Doch Jordi achtete nicht auf sie. Er ließ Kopernikus nicht aus den Augen, der scheinbar eine Ewigkeit seinen Blick erwiderte, bis er endlich aufseufzte und sich müde über sein Gesicht rieb.
»Das stimmt, Junge«, sagte er. »Ich hätte es dir schon früher erzählen müssen – ich hätte dich gestern nicht belügen dürfen. Aber ich wusste nicht, ob du mit der Wahrheit würdest umgehen können.«
Jordi starrte ihn an.
»Wenn du die Wahrheit schon in Barcelona gekannt hättest, wärst du vor mir geflohen. Aber ich brauchte deine Hilfe.«
»Wer seid Ihr?« Jordis Stimme war schneidend.
Kopernikus seufzte. »Einst bin ich Karim Karfax gewesen.« Er begann auf und ab zu gehen, als helfe ihm das, seine Gedanken zu ordnen. »Es war mein Schiff, das in die singende Stadt gekommen war. Ich habe die Meduza befehligt. Ich war das Oberhaupt des Hauses Karfax.«
Jordi dachte an seine Schreie vor der zerstörten Kathedrale und die Schatten, die ihm aus den Augen getropft waren.
»Jetzt bin ich Kopernikus, Karim Kopernikus, und niemand mehr sonst. Karim Karfax gibt es nicht mehr.«
Jordi starrte ihn noch immer an und fühlte den Verrat.
»Ihr sprecht die Sprache der Schatten?« Kamino fand als Erste ihre Stimme wieder.
»Seit meiner Kindheit.« Er seufzte, als wolle er sich niemals mehr daran erinnern müssen. »Ich stand im Dienste der Schattenkönigin.« Nahezu verträumt sprach er den Namen aus: »La Sombría.«
»Und jetzt?«
»Bin ich frei.«
»Warum habt Ihr beim Leuchtturm nichts unternommen?« Jordis Frage war eine einzige Anklage.
»Die Schatten dort wussten, was in Barcelona geschehen ist«, sagte Kopernikus schnell. »Sie wussten, dass ich mich von La Sombría abgewendet hatte. Sie waren hinter mir her, wie sie hinter allem her waren, das lebte und atmete und in dessen Augen das Licht wohnte.«
»Und die Schatten, die ihr eben vertrieben habt?«
»Werden es herausfinden, sobald sie zur Galeone zurückgekehrt sind.«
Kamino schaltete sich ein. »Sie werden also in Kürze wieder da sein.«
»Genau.«
»Was tun wir dann?«
»Cortez ist zuversichtlich, den Falken in Sicherheit bringen zu können.«
Besorgt fragte Kamino: »Wo ist der Kapitän?«
»Im Cockpit. Er redet, glaube ich, mit den Seufzerstürmen.«
Der Falke stürzte erneut in die Tiefe, gewann wieder an Höhe und schlug einige Haken, die dafür sorgten, dass dem Lichterjungen speiübel wurde. An den Wänden trat Dampf aus dünnen Röhren.
»Ich gehe zu Cortez«, sagte Kamino und erhob sich. An ihrem Arm waren keine Spuren der Schatten mehr zu sehen. »Hier unten können wir nichts mehr tun. Und vom Cockpit aus haben wir eine bessere Übersicht.«
Sie wartete keine Antwort ab, sondern rannte los.
Jordi folgte ihr, ohne ein weiteres Wort an Kopernikus zu richten oder darauf zu achten, was er tat.
Am liebsten hätte er den Mann, dem er einst vertraut hatte, niemals wiedergesehen.