Echos von damals und irgendwann
Catalina erwachte aus einem Traum und stellte fest, dass sie geweint hatte, es noch immer tat. Tränen liefen ihr über die Wange.
»Was hast du?« Makris war bei ihr.
»Ich bin ertrunken.« Nur langsam wurde sich Catalina bewusst, dass sie in Malfuria war und nicht im Ozean. Dass sie auf vielen weichen Kissen lag und draußen wilde Winde im Sonnenlicht wehten. Dass sie nicht an kaltem Wasser erstickt war.
»Du hast geschlafen.«
Catalina schnappte nach Luft und das Gefühl, wieder atmen zu können, war einfach nur wunderbar. »Ich habe geträumt, dass ich ertrinke. Wie mein Vater.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen.
Benommen blinzelte sie ins Sonnenlicht, das ihr Gesicht berührte. Durch ihre Tränen sah es wie Tausende kleine Glitzerpunkte aus, die auf sie zukamen und sie zu umhüllen schienen.
Es war kalt in ihrem Traum gewesen, dort unten, wo man staunend bis hinauf zur Wasseroberfläche schauen konnte und die Sonnenstrahlen in den Wellen tanzten.
Catalina wusste, dass sie sich in ihrem Traum in den Gewässern nahe der Cala Silencio befunden hatte, dort, wo sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. Bis zu jenem Tag, als ihr Vater so plötzlich ertrunken war. Ein einfacher Fischer war er gewesen, mit einem leisen Lächeln im ernsten Gesicht, immer zerwuseltem Haar und starken, sonnengebräunten Händen. Von diesen Händen hatte sie auch geträumt. Davon, wie sie von ihnen hochgehoben worden war, dem Himmel entgegen. Niemand hatte ihr etwas antun können, weil ihr Vater auf sie aufgepasst hatte. Doch dann war er gestorben, einfach so.
An jenem Tag war sie mit ihm hinausgefahren, wie so viele Tage schon zuvor, um Reusen zu leeren und neue Netze auszuwerfen.
»Ich gehe auf dem Meeresgrund spazieren«, hatte er immer gesagt, seinen Helm aufgesetzt und ihr vorher noch einmal zugezwinkert. »Wenn du ein großes Mädchen bist, dann nehme ich dich mit dorthin und zeige dir all die Wunder, von denen ich dir heute nur erzählen kann.«
In ihrem Traum war Catalina bei ihm gewesen, tief unten auf dem Meeresgrund. Gemeinsam waren sie zwischen den Korallen und sich in der Strömung wiegenden Wasserpflanzen entlanggegangen. Die Fische und ein kleiner Kalmar, leuchtend durchsichtige Quallen, grimmige Krebse und große Hummer hatten ihren Weg gekreuzt.
Dann hatte ihr Vater wortlos zu schreien begonnen, sie hatte es an seinem Gesicht hinter dem Glas gesehen. Der Luftschlauch war gerissen. Wie das passiert war? Sie wusste es nicht. Da waren nur die vielen dicken Luftblasen und das Gesicht ihres Vaters.
Oben, wo das kleine Boot wie ein undeutlicher Schattenriss in den Wellen schaukelte, erkannte sie ihre Mutter. Ja, Sarita Soleado stand dort oben und lächelte. Sie konnte das zufriedene Lächeln deutlich sehen, so, wie man im Traum eben Dinge erkennt, die einem normalerweise verborgen bleiben. Sarita Soleado war damals nicht mit an Bord gewesen und Catalina hatte seit jenem Tag die tiefen Wasser gemieden.
Langsam, wie Träume nun einmal atmen, passierten all die Dinge noch einmal, nur anders.
Catalina wollte ihrem Vater zu Hilfe eilen, doch sie konnte sich kaum von der Stelle bewegen. Als ob ein mächtiger Magnet sie am Meeresboden hielte, so kam es ihr vor. Und als sie endlich seinen Helm berührte, da sah sie plötzlich in die mokkabraunen Augen, die sie so sehr vermisste.
Es war Jordi Marí und nicht ihr Vater, der sie anschaute, während Wasser das Innere des Helms füllte.
»Ich habe gesehen, wie er ertrunken ist.«
»Dein Vater?«
»Jordi.« Verwirrt überlegte sie, was sie eigentlich gesehen hatte. »Beide vielleicht.« Richtig erinnern konnte sie sich aber nur an das Gesicht des Lichterjungen.
Makris de los Santos strich ihr über die Haare. »Es ist vorbei, Catalina.«
»Mein Vater ist ertrunken und ich konnte nichts dagegen tun. Das war der Preis, den meine Mutter in Kauf genommen hat.«
Makris sah sie betroffen an. »Und du glaubst nun, dass es bei dir und Jordi dasselbe ist?«
Catalina nickte langsam. »Ja. Obwohl – ich weiß es nicht. Hat der Traum das zu bedeuten?«
»Träume sind nicht selten Sendboten unserer allertiefsten Wünsche und schlimmsten Befürchtungen. Manchmal sind sie schwer zu deuten, manchmal nicht.«
Catalina betrachtete ihre Hand. Die geschwungenen Schriftzeichen, die wie Feuer den Namen der Stadt geschrieben hatten, waren nun fort. Nur der leise brennende Schmerz war geblieben. Sie musste daran denken, was Agata la Gataza über Lebenslinien gesagt hatte, und fragte sich einmal mehr, ob die Herrin von Malfuria recht gehabt hatte mit dem, was sie sagte.
Hätte sie nichts ändern können? War alles vorherbestimmt? Sie dachte an die weißhaarige Hexe, wie sie begierig gelauert hatte auf das, was Catalinas Hand wohl zeigen würde, und wünschte sich plötzlich, sie hätte sie nie kennengelernt. Wie sollte sie weiterleben, wenn sie doch wusste, dass alles festgeschrieben war?
Einen gleißenden Sternenschauer hatte sie in ihrem Traum zum Schluss gesehen – in Jordis Augen. Und das war der Moment, in dem sie gewusst hatte, dass er gestorben war.
»Wer bin ich?«, fragte sie zögerlich.
Makris de los Santos lächelte. »Du bist Catalina Soleado.«
»Ich habe immer geglaubt, dass ich eine Familie habe. Doch alles ist nur eine Lüge gewesen.«
Sie spürte eine Bewegung an ihren Füßen und sah, wie Miércoles auf das Bett sprang, sich vor ihren Füßen zusammenrollte, gähnte und schließlich begann, seine Federn zu putzen.
»Ist es das, was man fühlt, wenn man erwachsen wird?« Catalina blickte Makris an, wollte endlich wieder in der Gegenwart ankommen und den Traum abschütteln. Doch die Bilder wisperten ihr weiter in Verstand und Seele.
Als sie mit ansehen musste, wie Jordi langsam ertrank, da war auch ihr kaltes Wasser durch Mund und Nase gedrungen. Sie hatte gespürt, wie die Luft ihren Körper verließ, wie sie so schwer wie Blei wurde und mit den Armen ruderte, als könne sie das allein zur Oberfläche zurückbringen.
»Sarita hat die ganze Zeit über zugeschaut, im Traum«, flüsterte sie. »Sie hat mir nicht geholfen. Sie wollte, dass all das geschieht.« Sie schaute auf. »Aber sie ist schließlich meine Mutter. Ich habe sie einmal geliebt. Und am Ende… am Ende bin ich ihr doch ähnlich.« Sie sah die Zigeunerhexe an, schluckte und sprach es aus: »Davor habe ich Angst.«
»Dass du bist wie Sarita?«
»Ja.«
»Jeder Mensch kann sich entscheiden«, sagte Makris de los Santos. »Es ist das, was ein Leben ausmacht. Sarita hat sich entschieden, ihren Weg zu gehen. Und du wirst dich entscheiden, einen anderen Weg zu gehen.«
Catalina dachte an Agata und daran, dass sie ihr eine ganz andere Antwort gegeben hatte. Und sie war unendlich dankbar, Makris an ihrer Seite zu wissen.
»Warum stürze ich die Menschen, die mir am Herzen liegen, ins Unglück?«, wisperte sie. »Sieh dich an – wenn ich nicht gewesen wäre, hätte dich die Culebra nie erwischt.«
»Schicksal«, sagte Makris de los Santos.
»Hast du eben nicht von Entscheidungen gesprochen?«
»Du bist ein besonderes Mädchen, Catalina. Du hast ganz besondere Fähigkeiten. Und es wird der Augenblick kommen, in dem du sehen wirst, warum du all diese Dinge tun kannst. In jedem Leben gibt es einen solchen Moment. Alles wird dann einen Sinn ergeben.«
Catalina seufzte.
»Jordi lebt noch«, sagte Makris de los Santos. »Er ist vielleicht in Bedrängnis, aber er ist noch am Leben. Erinnerst du dich nicht mehr daran, was du gesagt hast, als du das erste Mal hier aufgewacht bist?« Sie ergriff die Hand des Mädchens.
Erschrocken bemerkte Catalina, wie sich die Haut der Zigeunerhexe verändert hatte. Wie Nadelstiche, so spürte sie die winzigen Mosaiksteinchen, die kaum größer waren als die Wünsche kleiner Kinder.
Makris schlug schnell den Blick nieder. »Es hat begonnen«, sagte sie. »Das Gift der Culebra, es breitet sich aus.«
Catalina schob den Stoff an Makris’ Unterarm zurück, sodass sie die Haut betrachten konnte.
»Tut es weh?«
Makris de los Santos nickte.
Eine feine, dünne Spur aus winzigen Mosaiksteinchen lief dort wie eine eisig kalte Ader aus vielen bunten Farben bis hinunter zum Handgelenk. Die Armreifen klimperten jetzt ein wenig lauter, wenn sie gegen den Stein stießen. Zumindest kam es Catalina so vor, als täten sie es.
»Du musst es La Gataza sagen.«
Energisch winkte die Zigeunerhexe ab. »Die Katzenhexe ist Malfuria allein verbunden. Sollte sie der Meinung sein, dass ich eine Gefahr für den Rabenfedernsturm darstellen könnte, dann würde sie nicht einen Augenblick lang zögern, um mich zu verstoßen.«
Catalina kam ein Gedanke. »Was ist mit Nuria? Kann sie dir helfen?« Catalina spürte plötzlich so etwas wie Hoffnung. Ihre Großmutter war mächtig – vielleicht genauso mächtig wie Agata la Gataza. Zumindest schien die Katzenhexe so etwas wie Respekt vor Nuria zu haben. Und hatte sie nicht auch Catalina in letzter Sekunde beigestanden?
»Wenn wir sie finden, werde ich mich bei ihr erkundigen.« Trotz allem schien Makris de los Santos ihren Humor nicht verloren zu haben. Sie räusperte sich, nahm Catalinas Hand. Sie war rot und voller Bläschen. »Wie hast du gewusst, dass der Stein der Schlüssel ist?«, fragte sie.
»Ich habe es nicht gewusst. Es war nur ein Gefühl.« Catalina hielt ihre Handfläche ins Licht. Von den Schriftzeichen war nichts mehr zu sehen. »Die Narben werden mich erinnern, dass man für die Magie bezahlen muss«, sagte sie nachdenklich. »Und vielleicht ist das ganz gut so.«
Catalina wünschte sich sehnlichst, dass sie das schon viel früher begriffen hätte, als Jordi noch bei ihr gewesen war. Dass die Magie, die wie Luft und Wasser durch die Welt floss, einen Tribut verlangte und der Preis immer der war, den man zu geben bereit war.
»Glaubst du, dass wir Nuria in Lisboa finden werden?«
Makris schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, dass Nuria dich finden wird. Wenn sie es will.«
»Sie wird es wollen.« Die Stimme der alten Frau erfüllte den Raum, ganz plötzlich und unverhofft. Makris de los Santos schrak zusammen und versuchte hastig, ihre Überraschung und Bestürzung zu verbergen. Catalina sah ihr an, dass sie sich furchtsam fragte, wie lange die Katzenhexe schon hier war und ob sie die Mosaiksteinchen in ihrem Arm gesehen hatte.
Mit schnellen Schritten trat die alte Katzenhexe auf die beiden zu und es sah aus, als spuckten sie die schwarzen Federn förmlich aus der Wand. Nicht zum ersten Mal fiel Catalina auf, wie schnell und geschmeidig sich die alte Frau bewegen konnte, wenn sie nur wollte. »Wir müssen sie finden, sonst gibt es keine Hoffnung. Sarita ist die Mephistia, davon bin ich überzeugt. Sie will das Herz der Hexenheit für sich gewinnen und sie tut alles dafür. Ihr Pakt mit den Schatten und Kassandra Karfax ist stark.«
»Wer ist Kassandra eigentlich wirklich?« Catalina erinnerte sich an die Buchstabenkreatur auf Eivissa, die von der Reisenden gesprochen hatte, doch sie dachte auch daran zurück, was der Bibliothekar Firnis über Kassandra herausgefunden hatte. »Man hat mir gesagt, dass sie vor Jahrhunderten gelebt hat.«
»Es gibt viele Möglichkeiten, das Altern und die Zeit zu überlisten«, sagte die Katzenhexe. »Aber man bezahlt für diesen Zauber mit seiner Seele.« Sie lachte grimmig. »Kassandra Karfax wollte damals in die Hexenheit aufgenommen werden. Doch Malfuria jagte sie fort und seit jenen Tagen trachtet Kassandra Karfax danach, zu erlangen, was man ihr versagt hat.«
»Sarita – auch ihr ging es um Malfuria.« Catalina sprach die Worte zögernd aus.
»Nie ging es um etwas anderes.« La Gatazas schmale Augen waren voller Magie und Tücke. »Wenn Malfuria stirbt, dann ist die Hexenheit ohne Halt. Eines musst du wissen, mein Kind: Es gibt viele Hexen. Alle besitzen unterschiedliche Talente.« Sie beugte sich vor und Catalina roch ihren Atem, der Gewürz und Meersalz war. »Doch sie wissen nicht mit ihnen umzugehen. Zu oft haben Menschen, die schwach waren, die Zauberkraft missbraucht. Und nie ist etwas Gutes dabei herausgekommen.«
»Aber habt ihr mich nicht gerade wegen meiner Fähigkeit nach Malfuria geholt? Ist es nicht so, dass ich mit meiner Gabe nicht nur Chaos schaffen kann, sondern es vielmehr verhindern soll? Das Böse auslöschen?«
»Du kannst es tun, denn du bist stark, vielleicht viel stärker, als du ahnst.« Die Katzenhexe seufzte. »Kassandra Karfax und deine Mutter jedoch, sie vermögen allein nichts. Deswegen haben sie versucht, deiner habhaft zu werden. Und deswegen haben sie einen Pakt mit den Schatten geschlossen. Kassandra und Sarita geht es um das, was sie in Malfuria zu finden glauben. Zauberkraft.« Sie machte eine Pause, flüsterte dann: »Macht!« Ihre Hand strich durch das kurze greise Haar. »Die Schatten aber, mein Kind, sie verfolgen eigene Ziele. Bedenke: In diesem Spiel belauern sich alle Parteien gleichermaßen. Die Königin der Schatten ist nicht töricht. Sie weiß, dass die Reisende sie nur für ihre Zwecke einzuspannen versucht. Und Kassandra Karfax weiß, dass sie, sollten die Schatten an Macht gewinnen, ihre eigene Kraft nutzen muss, um nicht am Ende eine Sklavin ihres eigenen Schattens zu werden.«
»Aber wohin soll das alles führen?«
Die alte Frau seufzte erneut. »Es wird keinen Sieger geben in diesem Verwirrspiel. Kassandra, Sarita, die Schatten – sie alle wollen den Lauf der Dinge, die seit alter Zeit schon Bestand haben, verändern. Aber das, was dabei entstehen wird, ist keine schöne neue Welt. Es ist ein Ort, an dem es mehr Unglück geben wird als je zuvor.«
»Weil jemand unterliegt.«
»Du sagst es, mein Kind.«
»Deswegen soll ich tun, was die Hexen schon vor langer Zeit getan haben.«
Schmerzhaft wurde dem Mädchen bewusst, dass es hier, an diesem Ort, geschehen war. Dass die Kartenmacherinnen hier, in Malfuria, der Welt ein neues Gesicht gegeben hatten. Und dass sie nun das Gleiche tun sollte. Sie allein.
»Du und Nuria Niebla«, sagte La Gataza. »Ohne ihre Hilfe wird es nicht gelingen.«
»Was passiert, wenn wir es nicht schaffen?«
Die alte Frau erhob sich von ihrem Platz und schritt im Raum auf und ab, berührte die Wand an drei Stellen und breite Fenster öffneten sich. Das Licht der untergehenden Sonne beleuchtete die tiefen Falten in dem uralten Gesicht. »Immer mehr Städte fallen den Schatten anheim.« Die Stimme der Frau, die Malfuria war, zitterte, nur kurz. Draußen krächzten die Raben. »Die Späher bringen Kunde, dass Valéncia ebenfalls La Sombría gehört.«
Sie wandte sich zu Catalina um.
»Du musst tun, was deine Bestimmung ist«, sagte La Gataza. »Wenn es so weit kommt, dass die Schatten übermächtig werden, dann müssen wir alle dafür sorgen, dass es endet.«
Catalina überlegte kurz. »Sind die Schatten böse?« Nur eine einfache Frage war es, eine Frage aber, die Königreiche zu Fall bringen konnte.
»Du hast gesehen, wozu sie in der Lage sind, mein Kind. Böse ist, wer Böses tut.« Agata schnaufte abfällig. »Ja, die Schatten sind böse. Und es liegt an uns, sie aufzuhalten.«
Makris de los Santos schwieg.
»Malfuria wird schon bald Lisboa erreichen.« Agata la Gataza schaute aus dem Fenster, bevor sie sich umdrehte und Catalina tief in die Augen sah. »Deine Großmutter wollte, dass du dorthin kommst. Hoffen wir, dass sie weiß, was sie tut.« Der Ausdruck im Gesicht der alten Frau verhärtete sich. Dann verließ sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, den Raum.
Schweigsam blieben Catalina und Makris de los Santos zurück. Draußen heulte der Wind und die Raben krächzten. Miércoles sprang vom Bett und Catalina beugte sich vor und strich ihm über den Kopf. Der Kater blickte auf und schnurrte. Die undurchdringlichen Katzenaugen blinzelten und dann leckte er dem Mädchen die verbrannte Hand.
Die Zigeunerhexe saß neben ihr und gemeinsam schwiegen sie. Das war alles, was sie tun konnten. So wenig, und doch viel.