Culebra

»Nicht Catalina! Geh da nicht hin!«

Catalina verstand die Worte, doch noch immer hörte sie nur das sanfte Singen des bunten Schlangentiers, das vor ihr im Sand züngelte.

Fasziniert starrte sie in die bernsteinfarbenen Augen und rührte sich auch dann nicht, als die Culebra zum Sprung ansetzte.

Doch plötzlich fühlte sie, wie sie von hinten unsanft zu Boden gerissen wurde. Benommen sah Catalina, wie die Zigeunerhexe die Schlange am Kopf gepackt hielt, während der bunte Steinleib hektisch hin und her schwang.

»Weg, Catalina!«, schrie Makris und nun endlich kam Leben in das Mädchen.

Zitternd rollte sie sich unter der Zigeunerhexe hervor über den Sand, während sie Makris nicht aus den Augen ließ, die jetzt die Schlange von sich schleudern wollte.

Aber im gleichen Moment schnellte die heiße Zunge der zuckenden Culebra leuchtend rot hervor und wickelte sich mit zwei spitzen Enden um den Arm der Zigeunerin. Die junge Frau schrie wild und verzweifelt auf.

Catalina zögerte keine Sekunde. Sie warf sich nach vorn, packte mit aller Kraft die Culebra am Schwanz und schleuderte sie fort, so weit es nur ging.

Ihr Atem ging in heftigen Stößen, als sie sich nach einer Waffe umschaute – etwas, irgendetwas, was ihr von Nutzen sein konnte.

Endlich erspähte sie in der Nähe der Klippen einen großen Stein, der aus dem Hang herausgebrochen sein musste. Sie raste los, riss ihn hoch und lief zu der Stelle bei den Bäumen, vor denen sich die Culebra im Sand zu einem bunten, steinernen Klumpen zusammengerollt hatte.

Es war keine Überlegung, die Catalina handeln ließ, es war allein der Zorn, der sie vorantrieb, und die Angst um Makris.

»Sei vorsichtig«, hörte sie die schwache Stimme der Zigeunerhexe hinter sich. Makris lag mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden und hielt den linken Arm fest an den Oberkörper gepresst.

Catalina achtete nicht auf die Warnung der Zigeunerhexe. Schon war sie bei der Schlange und ließ den Stein auf den Schädel der Culebra niederkrachen, wieder und wieder, bis sie sicher sein konnte, dass sich das Tier nicht mehr regte.

Gerade wollte sie erleichtert aufatmen, als sie eine Bewegung in den bernsteinfarbenen Augen wahrnahm. Dunkle Schatten schienen in ihnen zu schwimmen und das war der Moment, als Catalina ihre ganze Wut und Frustration in einen einzigen Schlag legte.

Es gab einen hohen klirrenden Ton und die Schlange zerbrach. Hunderte von kleinen Steinchen ergossen sich in den Sand und nahmen dessen Farbe an.

»Catalina!«

Verwirrt sah sich das Mädchen um. Der Stein fiel ihr aus der Hand und ihr wurde jetzt erst bewusst, dass sie tatsächlich eine Culebra getötet hatte – eins der giftigsten Wesen, die in diesem Land lebten.

Endlich fasste sie sich wieder. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass die Harlekine noch immer oben am Klippenrand standen und auf sie heruntersahen, aber das war ihr plötzlich egal. Sie war in der Stimmung, es mit jedem aufzunehmen, einschließlich dieser schrecklichen Harlekine.

Sie hastete auf die Zigeunerhexe zu.

»Du darfst es niemandem sagen, bitte!« Makris stöhnte auf und starrte auf ihren linken Arm.

Catalina sank neben ihr in die Knie. Wie hatte sie nur so dumm sein können! Ihr Vater hatte sie vor der bunten Culebra gewarnt, schon als sie ein kleines Kind gewesen war. Die Schlange lebte bevorzugt im hohen Ufergras an den Stränden der Küste und Catalina kannte all die Geschichten über die gefährlichen Wesen, die aussahen wie eine Mischung aus Stein und giftiger Serpiente. Ihre Mosaiksteinchen in der schuppigen Haut klimperten, wenn sich die langen Leiber durch das hohe Gras schlängelten, und ließen eine Musik erklingen, mit denen sie ihre Opfer in den Bann schlugen.

»Agata la Gataza darf nichts davon erfahren.« Makris’ Stimme war flehend geworden.

»Vielleicht kann sie dir helfen.«

»Niemand kann das, Catalina, niemand.«

»Sag das nicht.«

Die dunklen Mondaugen glitzerten vor Schmerz und Tränen.

Catalina tastete nach Makris’ Hand. »Warum hast du das getan? Warum hast du dich bloß dazwischengeworfen?«

»Wenn sie dich berührt hätte, wäre alles vorbei gewesen.«

»Jetzt hat sie dafür dich erwischt.«

»Ich komme schon zurecht.«

An manchen Stränden, in den verborgenen Winkeln, so hatte Catalinas Vater erzählt, da leben Wesen, die wir Culebra nennen. Ihr Gift wirkt langsam, wenn es einem durch die Adern fließt. Man wird zu Stein, immer mehr.

Dann hatte er ihr eingeschärft, die Augen offen zu halten, immer wenn sie allein am Strand spielte. Man sieht sie nicht gut, denn die Steinchen, aus denen sie bestehen, passen sich ihrer Umwelt an. Er hatte dem Mädchen auch von anderen gefährlichen Tieren berichtet, doch die Culebra war Catalina fest im Gedächtnis geblieben. Nicht zuletzt, als sie die Mosaikeidechsen der singenden Stadt das erste Mal gesehen hatte. Bloß waren die nicht giftig gewesen, sondern einfach nur klein und flink und allzeit gegenwärtig in den Ritzen und Spalten der Mauern.

»Es waren bestimmt keine Culebras am Strand, als wir ankamen«, sagte sie und Makris nickte schwach.

Vielleicht hatte sich die Culebra aus voller Absicht bei ihrer Ankunft versteckt gehalten? Doch warum hätte sie so etwas tun sollen?

Weil es ihr jemand befohlen hatte? War das die Antwort?

Die Harlekine!

Catalina vergewisserte sich, dass sie nicht näher gekommen waren.

Nein. Noch immer standen sie völlig regungslos oben an den Klippen. Ihre Gewänder wehten im leichten Wind.

Catalina wendete sich wieder der Zigeunerhexe zu. »Können wir denn wirklich nichts gegen das Gift tun?« Sie strich Makris scheu über das Haar. Wenn sie nicht so leichtfertig auf die Culebra zugegangen wäre, dann hätte Makris de los Santos gar nicht erst eingreifen müssen.

Sie machen Geräusche, wenn sie sich bewegen. Und sie betören einen damit. Sie sind die Sirenen von einst, sagen manche. Sirenen, die als Schlangentiere wiedergeboren wurden. Das Klimpern ihrer Schuppen lässt uns in Verzückung fallen.

Sie hatte es gewusst! Und doch hatte es sie nicht davor bewahrt.

Das Leben ist ungerecht, dachte Catalina wütend und hilflos zugleich.

Makris de los Santos betrachtete ihren Unterarm. Die sonnengebräunte Haut hatte ein Muster bekommen, das wie ein schwarzweißes Mosaik aus kleinen Äderchen aussah. Nur ein winziger Streifen war zu sehen, dort, wo die Zunge sie berührt hatte. Doch dieses Mal würde er sich verändern, schon bald.

»Mir bleiben bestimmt noch einige Tage, wenn nicht gar Wochen, ehe es schlimmer wird«, keuchte sie und fügte nach einem kurzen Stocken hinzu: »Ehe es richtig schlimm wird.« Die Angst in ihrer Stimme wollte sich nun nicht mehr verstecken.

»Aber irgendein Heilmittel muss es doch geben!« Sie so verzweifelt zu sehen, brach Catalina das Herz.

Makris de los Santos schüttelte den Kopf.

»Es tut mir so leid.«

»Du hast getan, was in deiner Macht stand. Beide haben wir das getan.« Sie stützte sich mit dem gesunden Arm im Sand ab und kam langsam auf die Beine. »Es geht mir schon wieder besser.«

Catalina hob den Blick hinauf zu den Klippen und den reglosen Gestalten. »Sieh, die Harlekine. Ich glaube, sie rühren sich nicht vom Fleck, weil sie es nicht mehr brauchen. Sie schauen einfach zu, wie wir in der Falle zappeln.« Ihre Stimme war bitter geworden. »In den Augen der Culebra schwammen Schatten.«

Makris de los Santos ergriff die Hand des Mädchens. »Bitte, Catalina, du darfst Agata auf keinen Fall etwas davon sagen.«

»Versprochen.« Catalina erwiderte den drängenden Blick von Makris, doch insgeheim war sie über den Wunsch der Zigeunerhexe erstaunt. Sie war bisher immer davon ausgegangen, dass sich Agata la Gataza vorbehaltlos um die Zigeunerhexe gekümmert hatte, seit sie diese als kleines Kind zu sich genommen hatte. Warum versperrte sie sich selbst den Weg, auf dem sie vielleicht Hilfe bekommen hätte?

»Sie wird nicht erlauben, dass etwas Schlechtes nach Malfuria gelangt.«

»Du meinst, sie würde dich hier zurücklassen, wenn sie es erfährt?«

»Ist möglich.«

»Das ist nicht gerecht!«

Catalina grub ihre Hände in den Sand und ballte die Fäuste. Das durfte nicht sein! Sie wollte nicht schon wieder jemanden verlieren, der ihr etwas bedeutete. War das ihr Fluch? Widerfuhr allen, die sie gern hatte, ein Unheil? Dem alten Márquez, Firnis, Pérez und Reverte – und Jordi, immer und immer wieder Jordi. Und jetzt Makris de los Santos! Nein, das konnte sie nicht zulassen!

»Kannst du aufstehen?«, fragte sie Makris.

Die Zigeunerhexe nickte. »Ja, das geht schon. Nur mein Arm fühlt sich kalt und schwer an.«

Über dem Dorf stiegen Rauchwolken in den Himmel. Nach dem ersten großen Feuer breiteten sich abermals die Flammen in Sant Joan de Labritja aus. Die Galeone, die vom Himmel gestürzt war, hatte Feuer gefangen und was immer die Gebläsemaschine angetrieben hatte, es brannte lichterloh, genauso wie alles, was sich in der Nähe des Wracks befand.

Die zweite Galeone war ins Meer gestürzt, ihr Mast und ein Teil der Takelage ragten wie abgebrochene Zähne aus den Fluten.

Die Schiffe waren keine echten Gegner für den Rabenfedernsturm gewesen und Catalina fragte sich, warum die Befehlshaber dies nicht geahnt hatten.

Sie schaute erneut zu den dunklen Gestalten hoch oben an den Klippen. Hinter ihnen züngelten die Flammen goldgelb und orangerot nach allem, was Nahrung zu sein versprach. Hoch schlugen sie in den blauen Himmel hinein wie zackige Fahnen und schwere Rauchwolken schwebten über Xarraca, wieder einmal.

Feuer!

Konnte das des Rätsels Lösung sein? Manche Gedanken waren seltsame Reisende, die kamen und gingen, und dieser Gedanke war ganz plötzlich bei Catalina angekommen. Doch als er erst einmal gedacht war, da wunderte sich das Mädchen, nicht schon viel früher gesehen zu haben, was doch offensichtlich zu sein schien.

Das Feuer!

Ja, so könnte es sein, vielleicht…

Hatte Ramon Rocas, der Rabenkater ihrer Großmutter, ihr nicht gesagt, dass sich Nuria Niebla aus freiem Willen von den Flammen hatte verzehren lassen? Dass sie sich angezündet hatte, vor den Augen des Arxiduc?

Aber Nuria Niebla lebte noch! Sie hatte Catalina beigestanden. Verbrannt war sie also nicht.

»Was hast du?«, fragte Makris de los Santos, die unruhig zwischen Catalina und dem Baum, vor dem die Culebra zersprungen war, hin und her schaute.

»Das Feuer«, murmelte Catalina nur und starrte wie hypnotisiert auf die Flammen, die das Dorf verzehrten.

»Was ist damit?«

»Nuria Niebla ist nicht verbrannt. Sie lebt noch, deswegen sind wir hier. Und wenn sie noch lebt und nicht verbrannt ist, dann hat das Feuer getan, was sie ihm befohlen hat.«

Warum war sie nicht schon viel früher darauf gekommen? Sie konnte mit dem Wind sprechen, warum sollte dann ihre Großmutter nicht Flammen befehligen können?

Makris nickte langsam. »Du könntest recht haben. Aber bringt uns das weiter?«

Catalina schüttelte den Kopf. »Vielleicht.«

Sie wusste nur nicht, wie.

Feuer, herrje!

Sie musste an die boshaften Fledermausschatten in der singenden Stadt denken. Jordi hatte eines dieser Dinger mit bloßer Hand abgewehrt, doch die Finsternis hatte sich an seiner Haut festgekrallt. Erst als der Junge die Hand in die Flamme eines Feuers gehalten hatte, da war der Schatten von ihr abgefallen.

Man muss einen Preis zahlen, wenn einem die Magie durch die Finger fließt.

Catalina spürte den Aquamarin in ihrer Tasche. Die ganze Zeit über hatte er dort verborgen gelegen.

Könnte es sein, dass…?

»Was ist los mit dir?« Makris de los Santos rüttelte sie.

»Ich hatte nur eine Idee«, stammelte Catalina. »Nichts weiter.«

»Die Harlekine sind wach geworden.«

Das Mädchen hob den Blick, blinzelte ins Sonnenlicht. Verdammt! Um ehrlich zu sein, hatte sie nicht mehr damit gerechnet, nicht nach der langen Zeit.

Die beiden dunklen Gestalten schwebten in ihren langen Gewändern auf den Abgrund zu und glitten einfach an den schroffen Felsen hinab. Wie eine sirupartige Flüssigkeit, so legten sich ihre Gewänder über die Steine.

»Wir müssen fort«, drängte Makris de los Santos. »Schau!«

Catalina folgte ihrem Fingerzeig.

Zwei Rabenfedernwirbel kamen über die See auf den Strand zu, schnell wie der Wind selbst.

Makris de los Santos, die sich noch immer den Arm hielt, lief neben Catalina in Richtung der Wasserlinie.

Hinter sich hörten sie jetzt das laute Zischen der Harlekine, das von schlangenhaftem Geklimper winziger Steine beantwortet wurde. Ein Blick zurück reichte aus, um Catalina zu zeigen, dass es höchste Zeit wurde, dass Malfuria kam.

Denn der Strand, der jetzt zwischen den hohen Klippen und ihnen lag, war mit einem Mal übersät von Culebras. Die Harlekine, die am Strand angekommen waren, nahmen inmitten der Schlangen Aufstellung. Manchmal tropfte ein Spritzer tiefer Finsternis aus ihren Augen auf den Sand, kroch in ihn hinein und schoss an anderer Stelle wieder hervor. So fanden die Schatten ihren Weg in die schmalen Augen der Culebras.

Die Rabenfedernwirbel waren jetzt ganz nah. Catalina konnte das Wispern und Rascheln der vielen Federn hören, die der heulende Sturm ausgeschickt hatte.

Für jede Art von Magie muss man einen Preis zahlen.

Wieder fasste sie sich in die Hosentasche und spürte den warmen Stein in ihrer Hand. Der Aquamarin hatte alle ihre Erinnerungen an Nuria Niebla enthalten und sie ihr zurückgegeben. Konnte es sein, dass er noch mehr enthielt? Konnte es sein, dass Nuria Niebla eine Botschaft in ihm versteckt hatte? Einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort gar?

Catalina schüttelte den Kopf.

Nein, das wäre zu einfach!

Man muss einen Preis zahlen. Und der Preis ist oft mit Schmerzen verbunden.

Man musste etwas hergeben, an dem einem das Herz hing. Catalina hatte am eigenen Leib erfahren, was dies bedeutete. Ihre Mutter hatte ihren Vater geopfert, damit sie eine neue Küste hatte zeichnen können. Catalina hatte Jordi ins Unglück gestürzt.

Immer muss man einen Preis zahlen.

»Sie sind da!«

Catalina schüttelte die Gedanken ab.

Die Culebras, die wie kleine bunte Blitze im Sand waren, schossen mit einem Mal auf sie zu und die beiden Harlekine zischten, als sie nach vorne stürmten.

Gleichzeitig aber waren die Rabenfedernwirbel zur Stelle. Makris’ tiefe Mondaugen flüsterten erneut die Bitte, den Wunsch, der Katzenhexe kein Sterbenswörtchen über das, was geschehen war, zu erzählen. Dann nahmen die Federn sie in ihre Mitte und Catalina hatte wieder das Gefühl, sich in die Lüfte zu erheben.

Abermals war es der Traum vom Fliegen, so unbeschwert und leicht, als sei das Leben wie eine Feder, die am Firmament im Wind tanzte und niemals zur Erde fallen würde. Catalina war allein und da war nur Dunkelheit, durchsetzt von kleinen Lichtschimmern, wenn die Rabenfedern sich leicht öffneten.

Dann klärte sich die Sicht.

Langsam, so als trat man aus einem wilden Sturm heraus direkt in ein Zimmer, das holzvertäfelt war und einem eleganten Salon glich. Es war ein Raum, in dem große Ohrensessel standen und breite Tische voller Bücher und Schreibzeug.

Die Decke des Raumes wölbte sich zu einer riesigen Kuppel. Sterne funkelten dort oben, winzig und hell.

Der Raum, der wie ein Sternenzelt aussah, öffnete sich endgültig vor Catalina.

»Willkommen zurück«, sagte die Katzenhexe. »Willkommen im alten Observatorium.«

Das Mädchen trat aus einer Wand aus Rabenfedern und Holzstückchen hervor. Jetzt erst erkannte Catalina, dass sich kleine bunte Kugeln in der Luft befanden. Planeten, Himmelskörper, Kometen – alle waren sie im alten Observatorium vereint. Sie kreisten im Raum umher und machten nie halt, flogen aneinander vorbei und trafen sich doch nicht.

In der Mitte des Raumes standen seltsame Gerätschaften, die wie lange Zylinder aussahen. Große Exemplare der Fernrohre, die von den Kapitänen benutzt wurden.

Teleskope.

Eine stampfende und fauchende Maschine bewegte sie hin und her, sodass sie wie spindeldürre Finger aus Messing den Himmel in der Kuppel berührten.

»Hier sieht man manchmal sogar die Zukunft, die in den Sternen liegt«, sagte Agata la Gataza und ihr Gesicht erstrahlte in einem sanften Lächeln voller Geheimnisse.

»Sie haben uns nicht angegriffen«, sagte Catalina und wusste sogleich, dass sie sich nicht richtig ausdrückte. Die Harlekine hatten sie gestellt, hatten sie vielleicht bedroht. Aber sie hatten sie nicht so angegriffen, wie sie es in der singenden Stadt getan hatten.

»Es war eine Falle.«

Makris de los Santos kam kurz nach Catalina an. Sie hatte den Ärmel ihres Oberteils über die Wunde gestreift und schaute sich unruhig um, als erwarte sie eine sofortige Zurechtweisung. »Sie haben uns aufgelauert, weil sie dachten, dass wir wissen, wo Nuria zu finden ist.«

Agata achtete scheinbar nicht auf sie. Sie sah Catalina an und deutete auf die Wände, die über und über mit Sternkarten bedeckt waren. Sie zeigten den dunkelblauen und nebeldurchflochtenen Nachthimmel, besprenkelt mit winzigen Lichtern.

»Es gibt viel mehr Welten«, sagte Agata la Gataza und ihre Stimme war wie eine warme Farbe, »als diese hier. So viele Leben, die man leben kann. So viele Schicksale, die nie voneinander erfahren.« Sie lächelte. »Jeder Stern ist ein Gedanke und jeder Gedanke ein eigenes Leben. Jeder Herzschlag ein Lied und jedes Lied ein geheimer Ort, an dem man sich ausruhen kann.«

»Wir sind umsonst nach Xarraca gekommen«, sagte Makris de los Santos und trat neben Catalina.

»Nein, das sind wir nicht.« Catalina hatte mit solcher Bestimmtheit geantwortet, dass selbst die alte Katzenhexe überrascht war.

Die lauernden Augen musterten das Mädchen. »Dann weißt du, wo wir deine Großmutter finden?«

»Nein, aber ich weiß, wie ich es herausfinden kann.«

Catalina spürte die Augenpaare auf sich ruhen und fragte sich, warum sie nicht ein Mal den Mund hatte halten können.

Man muss einen Preis zahlen für die Magie. Nur dann funktioniert sie. Nur dann lässt sie einen teilhaben an dem, was sie bewirken kann. Das ist die uralte Art und Weise, wie Zauber funktioniert.

»Ein Feuer«, sagte Catalina, »ich brauche Feuer.«

Makris de los Santos legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Was redest du da?«

»Vertrau mir.«

Agata la Gataza sagte nichts. Ihre Lippen bewegten sich stumm, kaum merklich. Nur wenige Augenblicke später öffnete sich eine Wand und ein eiserner Kessel kam auf krummen Beinen herein. Die Gelenke aus Messing und Eisen knarzten und quietschten, als er sich neben der Teleskophand auf den Boden setzte.

Eine blauweiße Flamme loderte auf einer Oberfläche heißen Öls.

»Da ist dein Feuer«, stellte die Katzenhexe fest.

Catalina trat vor. Sie spürte die Hitze, die ihr ins Gesicht schlug. Aus der Nähe sahen die Flammen wie lebendige Wesen aus, die hungrig nach ihr zu greifen versuchten.

»Was hast du vor?«

Die Stimme der Katzenhexe war schneidend: »Lass sie tun, was sie tun muss!«

Makris de los Santos zuckte zusammen.

Catalina blickte ihr in die Mondaugen, kurz nur. Dann griff sie in die Hosentasche. Sie sah den Aquamarin an, wie er in ihrer Hand lag. Ihre Finger schlossen sich um den Stein.

Sie schluckte. Es würde wehtun, das wusste sie. Es war unvermeidlich.

Jemand muss den Preis zahlen.

Sie streckte die Hand aus und hielt sie ins Feuer.

Fast unmittelbar spürte sie die Hitze, heiß und sengend. Sie keuchte vor Schmerzen auf, hätte fast ihre Hand zurückgezogen und tat es doch nicht.

Tränen traten ihr in die Augen. Sie biss sich auf die Lippen und dachte an Jordi, der genau das Gleiche für sie getan hatte, damals in Barcelona.

Der Aquamarin in ihrer Hand begann inmitten des Feuers zu glühen, doch noch immer traute sie sich nicht, die Hand aus dem Feuer zu ziehen.

Was, wenn sie sich irrte?

Jemand stand hinter ihr und plötzlich fühlte sie einen festen Griff um ihre Schultern, etwas, das ihr Halt gab inmitten dieses blendenden Lichts des Schmerzes.

Nein, sie würde nicht irren. Sie fühlte es.

Catalina starrte auf ihre Hand, die jetzt rot wurde. Bläschen bildeten sich auf der Haut. Der Aquamarin begann, Risse zu bekommen, kleine, feine Linien, die den Stein zu sprengen drohten. Oder waren das keine Risse? Waren es nicht vielmehr Linien, die der Stein ihr in die versengte Haut hineinbrannte?

»Catalina!«

Sie reagierte nicht.

Dann spürte sie, wie ihr die Beine nachgaben. Jemand fing sie auf. Der Schmerz war plötzlich alles, was ihr Leben ausmachte, hier und jetzt. Sie öffnete die Augen und sah Makris de los Santos neben sich knien. Die verbrannte Hand hielt noch immer den Aquamarin, so fest, als sei er eine kostbare Erinnerung an das, was sie vergessen hatte.

»Warum hast du das getan?«, fragte Makris de los Santos angstvoll.

Die alte Katzenhexe beugte sich jetzt über sie, gestützt auf ihren krummen Stock.

Catalina öffnete die Hand, langsam nur. Dünne Linien waren ihr aus dem Aquamarin in die Haut geflossen. Sie pulsierten dort und es fühlte sich an, als würde ihr das Blut in den Adern kochen. Es tat weh, so weh.

»Kannst du es lesen?«, fragte Catalina zögerlich. Sie selbst vermochte nur undeutlich die Linien zu erkennen.

»Es ist nur ein einziges Wort«, sagte Makris de los Santos.

»Sag es mir.«

Agata la Gataza trat ganz nah an sie heran. »Lisboa« flüsterte sie den Namen der Stadt, der sich in des Mädchens Hand gebrannt hatte.

Dann nahm der Schmerz Catalina bei der Hand und führte sie weit fort von Malfuria, und wo eben noch Feuer gebrannt hatte, wurde plötzlich alles hell und blau und rauschend und ganz aquamarin.