Epilog

 

16. November 1892

Die Straßenkinder liefen lachend und schreiend hinter einem Automobil her. Das seltsame Gefährt rollte quer über den Rödingsmarkt. Boysen folgte dem Wagen nur mit seinen Blicken, verharrte aber ansonsten so unbeweglich wie eine Statue. Trotz der steifen Brise war ihm nicht kalt. Unter seinem Waffenrock trug er einen dicken Wollpullover, und seine Hände steckten in Handschuhen. Außerdem hatte er sich vor einer halben Stunde verbotenerweise im Dienst einen Grog genehmigt.

Boysen hatte einmal in der Zeitung gelesen, dass die Kutschenwagen der Firma Daimler mit einer Geschwindigkeit von 16 km/h durch die Gegend rasten. Darüber konnte er nur den Kopf schütteln. Wozu sollte das gut sein? Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich diese Erfindung durchsetzen würde.

»Offiziant Boysen!«

Er zuckte zusammen. Während der vergangenen Monate hatte er es geschafft, möglichst selten an Anna Dierks zu denken. Er war ihr dankbar dafür, dass sie den verdammten Mörder niedergeknallt hatte. Aber seine romantischen Gefühle für die junge Blankeneserin mussten unbedingt unterdrückt werden. Zum Glück gab es ja die dicke Stine, bei der Boysen gehörig Dampf ablassen konnte.

»Guten Tag, Fräulein Dierks«, sagte Boysen artig. »Die korrekte Anrede lautet inzwischen übrigens Constabler. Ich bin nämlich degradiert worden.«

»Degradiert?« Anna trug einen Pelzmantel und sah hinreißend aus. Ihr Erstaunen war offenbar echt. »Aber … warum nur? Dafür gibt es doch überhaupt keinen Grund!«

»Oh doch, den gibt es. – Sehen Sie, Sie haben Carl Lütke in Notwehr erschossen. Daran hat die Untersuchung der Staatsanwaltschaft keinen Zweifel gelassen. Aber Theodor Lütke ist nicht dumm. Er wird herausgefunden haben, dass wir beide seinen Sohn gejagt haben. Der Reeder ist ein Machtmensch. Er konnte es nicht auf sich sitzen lassen, dass wir gegen seine Familie vorgegangen sind. Ihnen konnte er nichts am Zeug flicken, weil Ihr Vater zu mächtig ist. Aber ich …«

Boysen vollendete den Satz nicht. Anna war nun nicht mehr verblüfft, sondern regelrecht empört.

»Wie ist so etwas möglich in unserer Stadt?«

Boysen genehmigte sich ein müdes Lächeln. »Spielen Sie Schach, Fräulein Dierks?«

»Gelegentlich, aber … wie kommen Sie darauf?«

»Beim Schach gibt es ein sogenanntes Bauernopfer, und das bin in diesem Fall ich. Dagegen kann man nichts machen, die Spielregeln sehen es vor. – Ich selbst bevorzuge übrigens nicht Schach, sondern Go.«

»Entschuldigen Sie, Offi… Constabler Boysen, aber das ist Unsinn. Man muss gegen diese willkürliche Degradierung protestieren, man …«

»Wo gehobelt wird, da fallen Späne«, fiel Boysen ihr ins Wort. »Es ist freundlich von Ihnen, dass Sie mir beistehen wollen. Aber ich sage Ihnen: Lassen Sie es gut sein. Die hohen Herren sitzen immer am längeren Hebel. Natürlich bin ich nicht wegen der Sache mit Carl degradiert worden. Man hat andere Gründe gefunden. Wer suchet, der findet – so steht es schon in der Bibel, nicht wahr?«

»Aber das ist eine himmelsschreiende Ungerechtigkeit!«, rief Anna. »Sie haben unter Einsatz Ihres Lebens einen Mörder gejagt!«

»Ich lebe noch«, stellte Boysen trocken fest. »Und ich bin jetzt hier auf Stehwache. Das ist einer der langweiligsten Dienste beim Constabler Corps. Doch mir gefällt die Stehwache. Es ist hübsch ruhig und friedlich. Ich halte mich hier am Rödingsmarkt auf, muss nichts tun und werde dafür sogar bezahlt. – Und ich freue mich übrigens, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen.«

Anna schlug die Augen nieder. »Ja, ich war länger nicht in Hamburg. Meine Eltern haben mich zu einer Kur in die Schweiz geschickt, damit ich mich von Carl Lütkes Angriff erholen konnte. – Wie ich höre, litt er an der Tollwut. Da ist aber noch eine Sache, die ich nicht verstanden habe.«

»Nämlich, Fräulein Dierks?«

»Carl Lütke hat doch Thea Kramer gebissen, und sie hat seinen Angriff überlebt. Warum ist bei ihr nicht ebenfalls die Tollwut ausgebrochen?«

»Ganz einfach. Thea Kramer starb an der Cholera, bevor sie sich ebenfalls in eine reißende Bestie verwandeln konnte. Wir haben unglaubliches Glück gehabt, dass sich neben der Cholera nicht auch noch die Tollwut in Hamburg verbreitet hat. – Und ich bin erleichtert, dass Carl Lütke Sie nicht beißen konnte, Fräulein Dierks.«

»Ja, das sagt mein Verlobter auch immer«, gab Anna zurück.

Boysen hob eine Augenbraue. »Sie gedenken, sich zu vermählen?«

»Ja, im Frühjahr sollen die Hochzeitsglocken läuten«, hauchte Anna. Eine Pause entstand. Boysen fragte nicht nach, wer Annas Bräutigam war. Er wusste ohnehin, dass es sich um einen jungen Herrn aus Blankenese handeln würde.

»Wenn ich oder meine Familie etwas für Sie tun kann, Constabler Boysen …«

Boysen legte grüßend seine Hand an den Helmrand. »Verbindlichsten Dank, aber ich habe alles, was ich brauche. – Heute ist ein guter Tag für uns alle, Fräulein Dierks, denn mit dem heutigen Tag wird die Stadt Hamburg offiziell für cholerafrei erklärt. Leben Sie wohl.«

»Ja, Sie auch. Alles Gute.«

Boysen wippte auf den Fußspitzen, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Er schaute Anna nach, wie sie Richtung Wallbrücke davonging.

Er hatte nicht gelogen, es fehlte ihm wirklich an nichts. Der Einzige, der ihm Scherereien machen konnte, war Theodor Lütke. Doch Boysen fürchtete sich nicht vor dem einflussreichen Reeder. Mit seiner Degradierung hatte er sich abgefunden. Doch wenn Lütke Boysen in Zukunft nicht in Ruhe ließ, würde der Polizist dafür sorgen, dass Kwan Loks Chinesen einen kleinen Ausflug nach Blankenese machten.