9. Kapitel: Auf Leben und Tod
Der Offiziant hatte Glück im Unglück. Wenige Minuten nach seinem Zusammenbruch wurde er von zwei Constablern gefunden. Die Udels holten einen Gefangenentransporter und schafften Boysen in diesem Gefährt zum Seemannskrankenhaus auf St. Pauli.
Boysen war bei Bewusstsein. Ihm wurde klar, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Passagier in einem Gefangenentransporter war. Aber so richtig konnte er über diese Ironie des Schicksals nicht lachen. Er war immer noch vollauf damit beschäftigt, Erbrochenes und Fäkalien von sich zu geben.
Das Seemannskrankenhaus war schon längst überfüllt. Allerdings hatte man in der Nähe des Hospitals in aller Eile Cholera-Baracken errichtet. Nach einer Zeit, die ihm wie eine halbe Ewigkeit vorkam, wurde ihm dort ein Feldbett zugewiesen. Der Patient, der dort zuvor gelegen hatte, war nämlich soeben an der Seuche gestorben. Boysen musste mit ansehen, wie die Leiche in ein karbolgetränktes Leintuch gewickelt wurde. Ein Pfleger heftete einen Zettel mit dem Namen des Toten an das Bündel. Dann kamen zwei angetrunkene Leichenträger und schleppten das Seuchenopfer auf einer Bahre davon. Boysen wusste, dass die meisten Leichenträger während der Epidemie mehr oder weniger ständig berauscht waren. Alkohol galt als »desinfizierend« gegenüber dem Cholera-Erreger – doch in erster Linie mussten sie betrunken sein, um ihrer Arbeit überhaupt nachgehen zu können.
Boysen wurde von den Pflegern ausgezogen und gewaschen. Er war völlig geschwächt, konnte nur noch apathisch vor sich hin starren. Seine Muskeln verkrampften sich immer wieder schmerzhaft. Einer der Weißkittel begann, dem Offizianten ein salziges Gebräu einzuflößen. Es schmeckte widerlich, aber Boysen hatte entsetzlichen Durst. Daher schluckte er die Flüssigkeit, obwohl sein Magen immer noch rebellierte.
Von seinem Platz aus konnte der Offiziant unmöglich erkennen, wie viele Männer in der behelfsmäßigen Baracke lagen. Er schätzte, dass es mindestens 50 Kranke sein mussten. Boysen konnte keinen klaren Gedanken fassen. Fest stand für ihn nur, dass er nicht sterben wollte. Nie wieder auf Stines warmen weichen Körper rutschen dürfen, nie mehr die Sonne über den unzähligen Segelschiffmasten des Hafens aufgehen zu sehen – diese Vorstellung war unerträglich für ihn.
Boysen tat das Einzige, was in seiner Lage möglich war. Er konzentrierte sich ganz darauf, die Flüssigkeit zu schlucken. Das Gebräu bestand aus sauberem Wasser, das mit viel Salz und Zucker versetzt war. Der Brechdurchfall hatte seinen Körper austrocknen lassen, was letztlich tödlich war. Durch die Flüssigkeit kehrte das Leben in seinen geschundenen Leib zurück, wenn auch nur allmählich und zögerlich.
Boysen trank, bis er vor Erschöpfung einschlief. Irgendwann wachte er auf. Es war Nacht. Fahle Petroleumlampen beleuchteten die Cholera-Baracke. Er beobachtete, wie am anderen Ende der Unterkunft eine weitere Leiche abtransportiert wurde. Einige seiner Leidensgenossen wanden sich in Muskelkrämpfen. Das Ächzen und Stöhnen aus zahlreichen Kehlen wurde zu einer Litanei des Schmerzes. Der Offiziant glaubte zunächst, nicht wieder einschlafen zu können. Aber dann siegte doch die Erschöpfung.
Als der Morgen eines weiteren heißen Tages über der Elbe dämmerte, waren drei weitere Männer der Cholera erlegen. Aber Boysen lebte noch, obwohl er selbst sich darüber am Meisten wunderte. Der Tag begann mit dem Trinken der gewöhnungsbedürftigen Flüssigkeit. Aber Boysen schüttete das Zeug klaglos in sich hinein, denn er wusste, dass nur dieses Gebräu sein Leben retten konnte.
Er verlor jedes Zeitgefühl. Seine Taschenuhr war verschwunden, genau wie seine Uniform. Boysen trug nur ein fadenscheiniges weißes Gewand, das ihn an ein Leichenhemd erinnerte. Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Irgendwann kam ein vollbärtiger Mann im Arztkittel an sein Feldbett.
Boysen blinzelte. Der Doktor erinnerte mit seinen dunklen Ringen unter den Augen selbst an einen Cholerakranken. Doch der Offiziant ahnte, dass die ungesunde Gesichtsfarbe des Mediziners auf Schlafmangel zurückzuführen war. Ein Choleraarzt fand in jenen Tagen in Hamburg wenig Ruhe. Darüber machte sich Boysen keine Illusionen.
»Ich bin Dr. Schmidtbauer«, sagte der Vollbärtige. Er setzte sich auf die Bettkante und fühlte Boysens Puls. »Und Sie sind dieser Polizist?«
»Offiziant Boysen, stets zu Diensten«, röchelte der Patient.
Dr. Schmidtbauer gestattete sich ein Grinsen. »Ihr Puls ist gar nicht mal so übel, wenn man bedenkt, dass Sie schon fast tot waren. Aber das wird schon wieder, jedenfalls bei Ihnen. Die Cholera ist zwar schlimm, verläuft aber nicht immer tödlich. – Wenn Sie die Tollwut hätten, könnten wir Sie überhaupt nicht retten.«
Boysen verstand, dass der Mediziner ihn aufmuntern wollte. Trotzdem fragte er: »Warum sollte ich denn ausgerechnet die Tollwut kriegen?«
»Möglich wäre es. Das ist nur ein Beispiel für eine Krankheit, die unausweichlich zum Tod führt«, brummte Dr. Schmidtbauer. Er schob ein Thermometer in Boysens After. »Wenn der Patient gebissen wurde, gibt es im Prinzip keine Rettung mehr. Erst kommt das Fieber, dann die Unruhe. Er wird boshaft, schlägt, tritt und beißt zu. Die Tollwut macht ihn zur Bestie. Der Patient rast tagelang herum, fürchtet sich vor Helligkeit und lauten Geräuschen. Schließlich hat ihn die Tollwut vollständig gelähmt und er stirbt am Lungenversagen. – Nein, mein Lieber, als Cholerakranker haben Sie wenigstens eine Überlebenschance.«
Boysen fühlte sich wie elektrisiert. Die Symptome, die der Arzt soeben geschildert hatte, trafen ausnahmslos bei Carl Lütke zu.
»Könnte so ein Tollwutkranker auch eine Frau totbeißen?«, fragte Boysen aufgeregt.
Der Mediziner zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Wenn er genug Zorn in sich hat, wenn die Krankheit ihn also schlimm erwischt hat – das wäre denkbar. Der Mensch verfügt über kein Raubtiergebiss, wie Ihnen vielleicht bekannt ist. Doch auch wir können hemmungslos zubeißen und damit sehr viel Schaden anrichten. Ein Tollwutkranker ist im Prinzip ein Irrer, Offiziant Boysen. Er hat sich nicht mehr unter Kontrolle.«
»Und er stirbt auf jeden Fall an der Krankheit?«, hakte Boysen eifrig nach. »Wie lange dauert es, bis der Tod eintritt?«
»Das hängt von der Konstitution des Patienten ab. Aber länger als ein paar Tage wird es nicht dauern, denke ich. – Hören Sie, ich wollte Ihnen keine Angst einjagen, Offiziant Boysen. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ein Cholerapatient Überlebenschancen hat – und ein Tollwutkranker nicht.«
»Das habe ich schon begriffen«, flüsterte Boysen matt. Die Aufregung hatte seinen ausgemergelten Körper erneut erschöpft. Außerdem war seine Körpertemperatur immer noch zu hoch, wie die Messung mit dem Fieberthermometer ergeben hatte.
Dr. Schmidtbauer verordnete dem Offizianten weiterhin Ruhe und viel Flüssigkeit. Dann klopfte er ihm aufmunternd auf die Schulter und eilte zum nächsten Patienten.
Boysen dachte nach, denn dazu hatte er ja nun mehr als genug Gelegenheit. Bei seinen Verdächtigungen gegen Carl Lütke hatte ihm bisher stets ein überzeugendes Motiv gefehlt. Die Tagebucheintragungen des jungen Tunichtguts aus einer alteingesessenen Patrizierfamilie ließen weder auf Frauenhass noch auf einen Hang zur Gewalttätigkeit schließen. Und Geldgier konnte ebenfalls kein Grund für die Bluttaten sein, denn die Opfer waren ausnahmslos arm wie Kirchenmäuse.
Doch wenn Carl Lütke auf einem seiner nächtlichen Streifzüge durch Hafen und Gängeviertel von einem tollwütigen Tier gebissen worden war, hatte die Krankheitsübertragung bei ihm diesen beispiellosen Blutrausch ausgelöst.
Der Offiziant hatte einmal gelesen, dass Tollwut meist durch Hunde, Füchse oder Fledermäuse auf den Menschen übertragen wurde. Es spielte im Grunde keine Rolle, was für ein Tier es gewesen war.
Doch wieso fiel der tollwütige Carl nur über Frauen her? Möglicherweise war es Zufall oder der Mörder tat es, weil Männer sich besser wehren konnten. Boysen musste nicht unbedingt verstehen, was im Hirn eines rasenden Tollwutkranken vor sich ging.
Der Offiziant überlegte, ob er Kwan Lok eine Warnung zukommen lassen sollte. Am Ende fiel Carl Lütke noch einen der Chinesen an, die ihm auf den Fersen waren. Aber Boysen wusste nicht, wie er von seinem Krankenbett aus mit dem Drachenkopf in Verbindung treten sollte. Außerdem konnten die Buttjes des Verbrecherkönigs sehr gut auf sich selbst aufpassen. Bevor sie sich von Carl Lütke verletzen ließen, würden sie ihm eher den Kopf absäbeln. So wie sie es mit Heinrich Wallmann getan hatten.
Wenn die Chinesen den Täter nicht bald erwischten, würde sich das Problem von selbst lösen. Carl Lütke würde an der Krankheit zugrunde gehen, wenn Boysen den Arzt richtig verstanden hatte. Eine Rettung gab es nicht.
Boysen drehte sich auf der durchgelegenen Matratze auf die Seite. Das hier war der seltsamste Kriminalfall, den er jemals bearbeitet hatte. Mörder und Polizeibeamter waren erkrankt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Boysen war nun entschlossener als je zuvor, wieder gesund zu werden. Er wollte auf jeden Fall miterleben, wie die Leiche des Mädchenmörders aus irgendeinem Verschlag gezogen wurde, in den sich Carl Lütke zum Sterben verkrochen hatte.
Boysen hätte gerne den Frauenzerfleischer selbst zur Strecke gebracht. Aber allein die Vorstellung, aufstehen zu müssen, verursachte bei ihm einen Schwächeanfall. Ob es ihm gefiel oder nicht – er würde einstweilen im Bett bleiben müssen.
Der Offiziant hoffte nur, dass nicht noch eine weitere Frau Carl Lütke zum Opfer fiel, bevor der Tollwütige endlich verreckte.
Anna Dierks war geschockt und betrübt, als sie von Boysens Cholera-Erkrankung erfuhr. Sie war zur Brooktor-Wache gegangen, weil sie sich nach Neuigkeiten über die Mordserie erkundigen wollte. Dort schickte man sie zur Davidwache, wo Boysen als Vertretung eingesetzt war. Erneut bat sie darum, mit Boysen sprechen zu dürfen.
»Offiziant Boysen hat die Cholera, Fräulein«, sagte ein bleicher und übernächtigt aussehender Mann, der ebenfalls die Rangabzeichen eines Offizianten auf seinem Waffenrock hatte.
Anna riss ihre schönen Augen auf und schlug ihre rechte Hand vor ihren Mund. »Das ist ja schrecklich! Wie geht es ihm?«
»Ich weiß es nicht, mein Fräulein. Wir haben zu viele Krankheitsausfälle und müssen versuchen, trotzdem unseren Dienst zu verrichten.« Bitter fügte er hinzu: »Und auch die sinnlosesten Aufgaben wollen erledigt werden. Meine Constabler ziehen ins Gängeviertel und müssen Plakate mit Cholera-Warnungen kleben – dabei kann das Pack da größtenteils gar nicht lesen.«
Anna wollte protestieren, aber sie biss sich auf die Zunge. Im Grunde hatte der Uniformierte Recht, wenn sie auch seine verächtliche Haltung gegenüber den Armen nicht teilte. Doch Anna hatte von der Plakatklebeaktion im Fremdenblatt gelesen und fand sie ebenfalls sinnlos. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass viele Menschen aus dem einfachen Volk wirklich Analphabeten waren.
Die junge Frau bedankte sich für die Auskunft und verließ die Davidwache wieder. Sie dachte an Boysen und war in großer Sorge um sein Leben. Noch vor wenigen Tagen hätte sie es niemals für möglich gehalten, dass dieser zynische Grobian solche Gefühle in ihr auslösen könnte.
Ob sie sich am Ende gar verliebt hatte? Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, als sie ihn auch schon rigide in die hinterste Ecke ihrer Seele verbannte. Eine Verbindung zwischen ihr und Offiziant Boysen war völlig undenkbar, hätte einen gewaltigen sozialen Abstieg bedeutet. Annas Vater würde einer solchen Ehe niemals zustimmen. Und einen Mann gegen den Willen ihrer Eltern zu heiraten, war jenseits ihrer Vorstellungskraft.
So etwas gab es nur in rührseligen Romanen. Davon war Anna fest überzeugt.
Sie ging sogleich in die evangelisch-lutherischen St. Pauli-Kirche am Paulsplatz und sprach ein Gebet für Boysen. Das war alles, was sie momentan für ihn tun konnte.
An diesem schönen Augusttag trug Anna wieder ein schlichtes ärmliches Kleid. Sie wollte zu den Armen gehen, um ihnen Zuversicht und Gottvertrauen zu spenden. Sie musste einfach etwas tun, sie konnte sich nicht in das sichere Haus ihrer Eltern zurückziehen, wie es viele Menschen in Blankenese taten.
Anna hatte in ihrer Umhängetasche einige Volksbibeln dabei, die von Philanthrophen gespendet worden waren. Die erste Frau auf Annas heutiger Liste hieß Josefine Maurer. Das neunzehnjährige Straßenmädchen lebte in einem Untermietzimmer am Kattrepel.
Der jungen Blankeneserin lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie von der breiten Steinstraße in den schmalen Kattrepel einbog. Die schmutzige düstere Straße war ihr immer schon unheimlich gewesen. Vielleicht lag es daran, dass der Kattrepel eine der ältesten Hamburger Straßen war. Die Gasse existierte seit dem Mittelalter, wie Anna einmal in der Schule gelernt hatte. Diese finstere Zeit schien hier niemals aufgehört zu haben. Anna hätte sich nicht gewundert, wenn ihr eine Prozession von Pestkranken entgegengekommen wäre.
Die junge Frau rief sich selbst innerlich zur Ordnung. Sie begriff, dass soeben ihre Fantasie mit ihr durchging. Aber war das wirklich so verwunderlich?
Die schmalen Katen der ärmlichen Straße erinnerten sie an düstere Kerker. Der Kattrepel wirkte wie ausgestorben. Jedes Leben hatte sich verabschiedet, die Menschen waren fort oder hatten sich in ihre elenden Behausungen zurückgezogen. Hinter sich an der Steinstraße hörte sie Hufklappern, das Rattern von Wagenrädern und das Wiehern der Gespannpferde. Doch ansonsten herrschte eine unheimliche Stille am Kattrepel.
Anna schickte ein Stoßgebet zum Himmel, um ihre Zuversicht zurückzugewinnen. Doch das fiel ihr in diesem Moment sehr schwer. Obwohl strahlender Sonnenschein herrschte, war die Gasse grau, trist und freudlos.
Die junge Frau ging mit langsamen Schritten auf das baufällige Gebäude zu, in dem die Prostituierte Josefine Maurer hauste. Um zum Zimmer der Dirne zu gelangen, musste Anna die Toreinfahrt durchqueren. Noch nie war ihr das so schwer gefallen wie an diesem herrlichen Vormittag im August. Anna hatte Josefine schon öfter besucht, also war ihr der Weg wohlbekannt.
Doch momentan schienen sich ihr Körper und ihre Seele gemeinsam zu weigern, das finstere Haus zu betreten. Nur ihr Wille zur Pflichterfüllung trieb Anna vorwärts.
Irgendwie schaffte sie es, auf den mit hohen Mauern umgebenen Hof zu gelangen. Normalerweise spielten zwischen den überquellenden blechernen Ascheimern Scharen von schmutzigen Kindern. Doch seit die Cholera-Epidemie Hamburg fest in ihren Klauen hatte, war alles anders. Vor allem die Armen starben an der Seuche, das hatte Anna von Anfang an begriffen. Wer noch lebte und nicht erkrankt war, versteckte sich in seinem Zimmer – wenn er eins besaß.
Anna atmete tief durch, obwohl die Luft im Hinterhof süßlich nach Verwesung stank. Zwischen zwei Mülltonnen entdeckte Anna eine tote Ratte. Sie schrie schrill auf, weil der Anblick sie ekelte und erschrak.
Doch gleich darauf wurde es noch schlimmer.
Ein heiseres Knurren ertönte hinter ihr. Anna wurde von der Furcht gepackt. Es war, als wäre sie von einer plötzlichen Lähmung befallen worden. Sie wusste, dass sie die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen durfte. Sie musste sich umdrehen, der Gefahr ins Auge blicken. Doch genau das fiel ihr unglaublich schwer.
Das Grollen war erneut zu hören.
Anna sprach sich selbst Mut zu. Und dann, bevor ihre Tapferkeit sie wieder verließ, wandte sie sich um.
Sie erblickte Carl Lütke, den Schauermann.
Er musste es einfach sein. Der Unhold trug die Kleidung eines Hafenarbeiters, und mit viel Fantasie konnte sich Anna vorstellen, dass dieser Schreckenskerl noch vor wenigen Wochen der gut situierte Bürgersohn Carl Lütke aus Blankenese gewesen war. Doch daran erinnerte jetzt kaum noch etwas.
Seine Joppe starrte vor Schmutz. Das bleiche Gesicht war mit langen Bartstoppeln bedeckt. Die geröteten Augen lagen tief in den Höhlen. Blutkrusten an Mund und Nase zeugten davon, dass er seine Zähne in Frauenhälse geschlagen hatte.
Carl Lütke war von Sinnen. Anna musste keine Nervenärztin sein, um zu erkennen, dass sie einen gefährlichen Irren vor sich hatte. Das war nicht mehr der Mann, der genüsslich dem Tagebuch seine erotischen Abenteuer anvertraut hatte.
Stattdessen kauerte eine Bestie in Menschengestalt neben dem Brennholzstapel, hinter dem sie sich zuvor verborgen haben musste.
»Carl«, hauchte Anna. Nun hatte sie endlich den Mörder der jungen Frauen gefunden. Boysen würde sich freuen, aber der Offiziant war krank. Und auf diesem finsteren Hinterhof war kein anderer Constabler weit und breit zu sehen. Bis zur nächsten Polizeiwache war es mindestens eine Meile. Anna bezweifelte, dass sie es schaffen würde, Hilfe zu holen.
Trotzdem raffte sie ihre Röcke und begann wegzulaufen. Es war ihr Urinstinkt, der sie dazu trieb. Bei unmittelbar drohender Todesgefahr gewann Annas angeborener Überlebenswille die Oberhand über ihre anerzogene Verstandesorientierung.
Weit kam sie nicht.
Der Schauermann sprang sie an, noch bevor sie die Toreinfahrt erreicht hatte. Er packte ihr linkes Fußgelenk. Anna fiel der Länge nach hin. Sie schlug mit dem Gesicht auf den harten Boden, Blut floss aus ihrer Nase.
Carl knurrte und fauchte. Er schien nicht mehr dazu in der Lage zu sein, sich wie ein Mensch artikulieren zu können. Der Mörder zerfetzte Annas Rock und Unterrock.
Die Berührung seiner schmutzigen Hände auf ihrem weißen Unterschenkel wirkte wie ein heilsamer Schock. Anna begriff, dass sie kämpfen musste. Noch nie hatte ein Mann ihren Körper dort berührt. Sie wusste nicht, ob der Mörder ihr Gewalt antun oder sie gleich totbeißen wollte. Anna wusste nur, dass sie es nicht zulassen würde.
Sie musste wieder an Boysen denken, und diese Vorstellung gab ihr Kraft. Anna erinnerte sich an den Moment, als sie dem geifernden Lynchmob gegenübergestanden hatten. Auch in diesem Moment hatte sie gehandelt, und intuitiv das Richtige getan.
Anna öffnete blitzschnell ihre Umhängetasche, während der Schauermann ihr weiterhin die Kleider vom Leib riss. Die junge Frau hatte ihr Versprechen gegenüber Boysen gehalten. Sie führte nicht nur Bibeln mit sich, sondern auch eine Waffe.
Es war nur ein kleiner sogenannter Damenrevolver, ein Flobert-Revolver mit ornamentiertem Patentschaft, ausgekehlter Walze und verziertem Kautschukgriff. Die Trommel war gefüllt mit sechs Patronen.
Anna wusste, dass ein Revolver keine Schusswaffe mit hoher Treffsicherheit war. Aber zwischen der Revolvermündung und Carl Lütkes Gesicht betrug die Distanz noch nicht einmal eine Armlänge. Es war unmöglich, ihn zu verfehlen. Und das tat die junge Frau auch nicht.
Anna spannte den Revolverhahn, zielte und feuerte. Sie war nun so ruhig wie auf dem Schießstand. Carl jaulte auf, als die erste Kugel in sein linkes Auge schlug. Anna ließ nicht locker. Sie machte die Waffe erneut schussbereit und zog abermals den Stecher durch. Die junge Frau wiederholte den Vorgang, bis die Trommel leergeschossen war und der Mörder mit zerschmettertem Schädel neben ihr lag. Alle sechs Kugeln hatten das Ziel getroffen.
Von Carl Lütkes Gesicht war nichts mehr zu erkennen.
Anna begriff allmählich, dass die Gefahr vorbei war. Nun erst begannen ihre Hände zu zittern, und sie brach in Tränen aus.