8. Kapitel: Der Bestie auf den Fersen

 

Trotz des deprimierenden Anblicks der Leichenwagen auf den Straßen hatte Boysen am nächsten Morgen gute Laune. Das war zweifellos auf die Liebesdienste der dicken Stine zurückzuführen. Der Offiziant hatte sich am Vorabend davon überzeugen können, dass der große Bluterguss auf ihrem Bauch allmählich abheilte. Und Gustav, der Zuhälter, verhielt sich neuerdings gegenüber der jungen Frau »wie ein feiner Herr« – nach Stines eigenen Worten.

Boysen war sehr stolz darauf, dass er dem Luden mit seinen Verbindungen zu den Chinesen aus der Schmuckstraße gedroht hatte. Dadurch hatte er offenbar bei Gustav einen nachhaltigen Sinneswandel bewirkt.

Allzu lange hielt Boysens gute Laune allerdings nicht an. Er war auf seinem Weg zur Brooktor-Wache, als ein junger Constabler auf ihn zugeeilt kam. Der Milchbart legte grüßend seine Rechte an den Helmrand.

»Offiziant Boysen? Ich wollte gerade zu Ihnen nach Hause. – Sie müssen heute Vertretungsdienst in der Davidwache übernehmen und die Tagesschicht dort leiten. Anweisung vom Stadthaus.«

»So, muss ich das«, brummte Boysen. »Und wieso?«

»Offiziant Reker ist an der Cholera erkrankt und nicht dienstfähig.«

Das tat Boysen leid, der Reker als einen fähigen und besonnenen Polizisten kennengelernt hatte. Trotzdem missfiel es ihm, auf einer fremden Wache Dienst schieben zu müssen. Am Brooktor genoss er mehr oder weniger Narrenfreiheit. Er konnte in einem gewissen Rahmen das tun, was er wollte. Auf der Davidwache hingegen würde er vorsichtig sein müssen. Aber vielleicht fand er trotzdem einen Weg, seine verbotenen Ermittlungen gegen Carl Lütke weiterzuführen.

»Ich mache mich sofort auf den Weg nach St. Pauli«, versicherte Boysen dem jungen Constabler. Um seinen guten Willen zu demonstrieren, änderte er die Richtung und eilte auf die nächste Haltestelle der Pferde-Straßenbahn zu.

Es war sehr heiß, schon am Morgen. Eine Desinfektionskolonne kam vorbei. Das Wasser stank in den Fleeten. Boysen stand am Meßberg und wartete auf die Bahn. Er war nicht religiös, aber er schickte trotzdem ein Stoßgebet um Regen in den strahlend blauen Sommerhimmel.

Die entgegenkommende Pferde-Straßenbahn aus Blankenese traf ein. Aus dem hinteren Waggon stieg Anna Dierks. Sie hatte Boysen sofort entdeckt und kam winkend auf ihn zu.

Der Offiziant bemerkte, dass sie in ihrem cremefarbenen Sommerkleid mit dem dazu passenden wagenradgroßen Hut wirklich eine anmutige Erscheinung war. Schon am Vorabend, bei der zufälligen Begegnung in Teufelsbrück, hatte ihr Anblick sein Herz erwärmt. Doch ihm war bewusst, dass Welten zwischen ihm selbst und dieser schönen jungen Dame aus dem Großbürgertum lagen. Es war nicht gut für Boysen, Anna als begehrenswerte Frau zu sehen.

Er rief sich den Anblick der nackten Stine ins Gedächtnis zurück, die in der vorigen Nacht lustvoll unter ihm gestöhnt hatte. Boysen musste über sich selbst grinsen und hoffte, dass Anna nicht seine Gedanken erraten konnte.

»Guten Morgen, Offiziant Boysen. Es freut mich zu sehen, dass es Ihnen gut zu gehen scheint.«

»Guten Morgen, Fräulein Dierks«, erwiderte Boysen und salutierte. »Was führt Sie so früh am Morgen schon auf den Meßberg?«

»Ich wollte zu Ihnen.« Anna senkte die Stimme und trat einen Schritt näher an Boysen heran. »Stellen Sie sich vor, ich konnte gestern der Familie Lütke einen Besuch abstatten …«

Boysen war ganz Ohr. Anna berichtete von dem regelmäßig stattfindenden Lyrikabend, zu dem sie gegangen war. Aber hauptsächlich erzählte sie, was sie an der Tür zum Herrenzimmer hatte aufschnappen können. Der Offiziant nickte grimmig. Er ließ eine Pferde-Straßenbahn fahren. Der Dienst musste warten, Annas Informationen waren ihm jetzt wichtiger.

»So, dann befindet sich der Filius also gar nicht in der elterlichen Trutzburg. Und der Herr Papa macht sich Sorgen über seinen missratenen Sprössling. Soviel Sorgen, dass er den Bluthund Wallmann auf seine Spur setzt.«

»Kennen Sie diesen Herrn, Offiziant Boysen?«

»Allerdings, Fräulein Dierks. Wallmann ist ein Aufschneider und Gernegroß, der sich als Privatdetektiv einen Namen gemacht hat. Ich muss einräumen, dass er gewisse Erfolge vorzuweisen hat. Er arbeitet allerdings nur für gutbetuchte Herrschaften, und seine Methoden sind äußerst fragwürdig.«

Letzteres traf zwar auch auf ihn selbst, Boysen, zu. Aber das musste er ja Anna nicht auf die Nase binden. Die junge Blankeneserin schaute ihn neugierig an.

»Was werden Sie nun tun?«

»Dank Ihrer Information weiß ich nun, dass Wallmann ebenfalls nach Carl Lütke Ausschau hält. Möglich, dass er etwas herausbekommt. Ich werde mich jedenfalls einmal genauer mit diesem Herrn befassen.«

Dazu sollte Boysen schneller Gelegenheit bekommen, als ihm in diesem Moment bewusst war. Anna wollte noch zu einem Treffen des Komitees zur Rettung gefallener Mädchen und verabschiedete sich von dem Offizianten. Boysen nahm die nächste Pferde-Straßenbahn nach St. Pauli. Auf der Davidwache wurde er bereits vom wachhabenden Constabler erwartet.

»Gut, dass Sie kommen, Offiziant Boysen. Uns wurde gerade ein Mord gemeldet.«

»Eine Hure?«, fragte Boysen, dem Übles schwante. Hatte der Schauermann etwa schon wieder zugeschlagen?

Aber der Constabler schüttelte den Kopf. »Ein Mann, heißt es. Soweit man das noch erkennen konnte … Ich habe erst mal zwei Kameraden zum Tatort geschickt, damit keine Spuren vernichtet werden.«

Boysen bekam von dem Constabler eine Adresse am Pinnasberg genannt. Er eilte sofort dorthin. Der Offiziant hatte immer noch ein flaues Gefühl in der Magengegend. Er hatte eine vage Vorahnung, dass die Bluttat mit seinem Schauermann-Fall zu tun haben könnte.

Vor der offenstehenden Tür der Pfandleihe am Pinnasberg 16 stand ein Constabler, den Boysen nicht kannte. Das Gesicht des Mannes war verschwitzt und totenbleich.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte er zur Begrüßung. Seine Stimme klang leise und rau. Es war offensichtlich, dass er gegen die Übelkeit kämpfte.

»Wer hat die Leiche gefunden?«, wollte Boysen wissen.

»Die Reinemachefrau. Sie sitzt jetzt in der Küche und hat eine halbe Flasche Klaren getrunken. Wer könnte es ihr verdenken?«

»Wo befindet sich der Tote?«

»In einer Kammer hinter dem Ladenlokal. Wir haben alles unverändert gelassen.«

Boysen klopfte dem Untergebenen kurz auf die Schulter und betrat dann die Pfandleihe. Hinter Eisengittern lagerten Uhren, Schmuck, Essbestecke und andere Wertgegenstände. Sogar Federbetten befanden sich in den Lagerräumen des Pfandleihers.

Der Offiziant bemerkte ein fortlaufendes Geräusch, das er nicht sofort zuordnen konnte. Während er den Laden durchquerte, fiel es ihm ein. Es war das leise Weinen und Schluchzen einer Frau.

Boysen erblickte eine weitere Polizeiuniform. Constabler Holst von der Davidwache stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor der offenstehenden Kammertür. Auch er schien kein großes Interesse daran zu haben, der Leiche zu nahe zu kommen. Der Offiziant schaute Holst ins Gesicht und nickte ihm zu. Der Constabler wiederholte die Geste schweigend. Es gab nichts, was gesagt werden musste. Jedenfalls nicht im Moment.

Boysen war nicht unvorbereitet, trotzdem traf ihn der Anblick des Leichnams wie ein Schlag in die Magengrube. Immerhin konnte Boysen das Mordopfer sogleich identifizieren.

Es handelte sich um den Privatdetektiv Heinrich Wallmann, dem sein letzter Auftrag offenbar kein Glück gebracht hatte. Er war geköpft worden. Seine im Tod verzerrten Gesichtszüge drückten pures Entsetzen aus.

Boysen runzelte die Stirn. Der Körper des Ermordeten war mit kleinen Messerwunden übersät. Der Offiziant hatte derartige Leichname schon gesehen, allerdings nicht in Hamburg, sondern in China.

In dem fernöstlichen Kaiserreich wurde diese Art der Hinrichtung »Tod der tausend Schnitte« genannt. Es war für einen Chinesen die entehrendste Art, ums Leben zu kommen.

Boysen wusste genau, wer den Detektiv auf dem Gewissen hatte. Kwan Lok – und er selbst, Boysen.

Wenn der Offiziant nicht den Drachenkopf des chinesischen Geheimbundes auf Carl Lütke angesetzt hätte, würde Wallmann vermutlich noch leben und weiterhin der Polizei Schwierigkeiten machen. Boysen fand den Privatschnüffler zwar stets zum Speien – aber den Tod hatte er nicht verdient.

Immerhin schien Wallmann vor seinem unrühmlichen Ableben etwas herausgefunden zu haben. Ob es möglich war, dass er den Unterschlupf von Carl Lütke gefunden hatte? Boysen schaute sich genauer in der kleinen Kammer um. Leider gab es außer viel Blut und Dreck nur alte Zeitungen und leere Schnapsflaschen zu sehen. Der fleckige Bettbezug ließ auf ein reges Liebesleben schließen.

Boysen beschloss, die Hausbewohner zu befragen. Es war nicht schwer, die Küche und die dort hockende Reinemachefrau zu finden. Er musste nur dem Geräusch des leisen Schluchzens folgen.

Die Zeugin war eine Frau mit grauem Haar, grauem Kleid und undefinierbarem Alter. Sie konnte 30 Jahre, aber genauso gut auch doppelt so alt sein, wie Boysen aus Erfahrung wusste. Das harte Arbeitsleben und die vielen Geburten ließen die jungen Mädchen aus dem einfachen Volk schnell verwelken.

»Ich bin Offiziant Lukas Boysen. Und wie heißen Sie?«

Die Frau blickte ihn aus blassblauen Augen an. Der Alkohol hatte ihre eingefallenen Wangen gerötet. »Mein Name ist Luise Falker«, brachte sie hervor. »Ich arbeite seit drei Jahren für die Familie Cohen.«

»Wo finde ich den Pfandleiher und seine Familie?«

»Auf dem Friedhof und in der Cholera-Baracke, Offiziant Boysen. Das jüngere Kind und der Mann sind gestorben, der Rest der Familie hat auch die Seuche und ist in Behandlung.«

Boysen nickte und machte sich Notizen. Er hatte sich schon so an den beißenden Gestank des Karbols und der anderen Desinfektionsmittel gewöhnt, dass ihm dieser Geruch hier gar nicht mehr auffiel. Aber wenn die Kalkkolonne die Pfandleihe vom Dachboden bis zum Keller gereinigt hatte, dann mussten sie auch in Lütkes Kammer gewesen sein – falls das Zimmer denn dem Blankeneser Bürgersohn gehört hatte.

»Erzählen Sie mir, was heute geschehen ist, Frau Falker!«

Die Putzfrau schaute erst Boysen, dann die Flasche mit dem Kornbrand an. Der Offiziant warf ihr einen ermutigenden Blick zu. Mit zitternden Fingern goss sie sich das Schnapsglas erneut voll und kippte die Flüssigkeit in einem Zug herunter. Danach fühlte Luise Falker sich offenbar in der Lage, die Ereignisse noch einmal innerlich Revue passieren zu lassen.

»Ich … ich soll das Haus in Schuss halten. Die Herrschaften haben mich immer ordentlich bezahlt. Ist ja schon schlimm genug, dass die Krankheit so gewütet hat in der Familie. Ich hab’ auch einen eigenen Schlüssel. Also bin ich in der Früh gekommen, wusste ja auch nicht, ob der junge Herr da ist …«

Boysen unterbrach Frau Falker mit einer Zwischenfrage. »Von welchem jungen Herrn sprechen Sie? Von dem Mann, der die Kammer bewohnt, in der …« Er ließ den Satz unvollendet.

Luise Falker nickte und kämpfte bereits wieder mit den Tränen. Aber dann sprach sie weiter. »Ja, Herr Cohen hatte ihn als Untermieter. Mich geht es ja nix an, aber sein Zimmer hat er verkommen lassen. Ich durfte da nich’ rein, sonst wäre das nicht so ein Schweinestall, das können Sie mir glauben.«

»Kennen Sie den Namen von dem jungen Herrn?«

Die Reinemachefrau schüttelte den Kopf. Boysen versuchte, Carl Lütke möglichst genau zu beschreiben. Er hatte diesem Mann noch niemals von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, aber durch Anna wusste er einigermaßen, wie der Verdächtige aussah. Luise Falker wiegte den Kopf.

»Ja, das könnte der junge Herr sein. Ich hab’ ihn selten zu Gesicht bekommen.«

»Sie betraten also die Pfandleihe.« Boysen kam auf den Bericht zurück. »Was geschah dann?«

»Ich wollte mir meinen Schrubber und den Aufnehmer aus dem Besenschrank holen. Da hab’ ich dann sofort den Toten gesehen. Die Kammertür stand weit offen. Ich dacht’, mich trifft der Schlag. Ich wusst’ ja nicht, ob der Mörder noch im Haus ist. Also hab’ ich um Hilfe gerufen und bin raus auf die Straße gerannt. Na, und zum Glück kamen dann gleich die zwei Udels.«

Boysen machte sich weiterhin Notizen. Er schrieb sich die Adresse der Zeugin auf. Dann verabschiedete er sich von ihr und ging nachdenklich hinaus.

»Ein Fenster wurde aufgehebelt und eine Seitentür aufgebrochen«, sagte Constabler Holst. »Das haben wir schon herausgefunden. Es sieht so aus, als ob an zwei Stellen gleichzeitig eingebrochen worden wäre.«

»Gute Arbeit«, murmelte Boysen. »Lasst die Leiche fortschaffen, Totenschein ausstellen und so weiter! Wir sehen uns später auf der Wache.«

Als der Offiziant die Pfandleihe verließ, spürte er eine unbestimmte Wut im Bauch. Teils war er auf Kwan Lok sauer, teils auf sich selbst. Boysen bereute schon zutiefst, dass er den chinesischen Verbrecher-Geheimbund in seine Ermittlungen einbezogen hatte. Aber diese Suppe hatte er sich selbst eingebrockt, nun würde er sie auch auslöffeln müssen. Boysen war jedenfalls sehr gespannt, wie der alte Chinese ihm das Gemetzel erklären würde.

Boysen begab sich sofort in die Schmuckstraße. Die Opiumhöhle war wieder gut besucht, obwohl es noch Vormittag war. Aber die Süchtigen hatten ohnehin kein Zeitgefühl mehr. Kwan Lok hockte vor seinem Go-Brett. Er schien sich nicht vom Fleck gerührt zu haben, seit Boysen das letzte Mal mit ihm geredet hatte. Vielleicht traf das ja sogar zu.

»Welch’ ein freudiger Besuch in meinem unwürdigen Gemach«, sagte Kwan Lok mit einem breiten Grinsen. Er bot Boysen einen Platz an, und das Mädchen mit den verkrüppelten Füßen brachte erneut unaufgefordert Jasmintee.

»Ich habe nicht viel Zeit«, blaffte Boysen grob. Er hatte jetzt keine Lust auf fernöstliche Höflichkeitsrituale. »Warum haben deine Buttjes diesen Detektiv Wallmann abgeschlachtet?«

»Ein Detektiv war das?« Kwan Loks Erstaunen schien echt zu sein. »Auf jeden Fall ist der Mann sehr dumm gewesen. Sonst hätte er nicht meine Buttjes angegriffen. Sie haben sich nur verteidigt. Der Mann schoss, und Li Fang wurde am Arm verwundet. Daraufhin haben sich meine Buttjes gewehrt.« Kwan Lok machte eine Pause und trank einen Schluck Tee. »Außerdem war er ein lästiger Zeuge. Ich wollte nicht, dass irgendjemand sieht, was meine nichtswürdigen Buttjes für den ehrenwerten Offizianten getan haben.«

Mit diesen Worten zog der alte Chinese ein gebundenes Buch unter seinem Tisch hervor und reichte es Boysen. Durch diese unerwartete Geste hatte er dem Uniformierten den Wind aus den Segeln genommen. Boysen schlug den Band auf.

Es war das Tagebuch von Carl Lütke.

»Meine Buttjes haben die Aufzeichnungen in jener Kammer an sich genommen, wo der Detektiv seinen verdienten Tod fand«, fuhr der Drachenkopf fort. »Leider sind wir alle zu dumm, um die Buchstaben lesen zu können. Aber ich bin sicher, dass der kluge Boysen dazu in der Lage ist.«

Aus seiner Ostasienzeit wusste Boysen, dass die Chinesen mit ihren vielen tausend Schriftzeichen das lateinische Alphabet als primitiv und unbeholfen verachteten. Aber für solche kulturellen Feinheiten hatte er jetzt keinen Sinn. Boysen wollte nur noch eins, nämlich in Ruhe das Tagebuch lesen.

»Ich stehe tief in deiner Schuld, Kwan Lok«, sagte er. »Wie geht es Li Fang?«

»Er wird wieder gesund. Einer unserer Ärzte behandelt ihn. Es ist nicht gut, wenn er mit einer Schussverletzung in ein Krankenhaus gehen würde. Außerdem gibt es dort keinen Platz, wegen der Seuche.«

Da hatte der alte Chinese natürlich Recht. Die Asiaten verfügten über ihre eigenen Doktoren, die mit langen Nadeln und seltsamem Gebräu wahre Wunder vollbringen konnten.

»Der ehrwürdige Offiziant kann sich darauf verlassen, dass Kwan Lok seinen Teil der Vereinbarung einhalten wird«, versprach der Drachenkopf.

Boysen verließ die Opiumhöhle mit gemischten Gefühlen.

Einerseits war er jetzt endlich der Bestie auf den Fersen. Alle Hinweise auf Carl Lütke verdichteten sich. Boysen wusste nun, wo sich der Verdächtige in der Vergangenheit verkrochen hatte. Kwan Loks Männer würden garantiert die Pfandleihe im Auge behalten. Wenn Carl Lütke dorthin zurückkehrte, musste er ihnen zwangsläufig in die Arme laufen.

Andererseits war ein Mensch gestorben, weil Boysen bei seinen Ermittlungen die chinesischen Verbrecher um Unterstützung gebeten hatte. Da war es auch kein Trost, dass Heinrich Wallmann zu Lebzeiten ein sehr unangenehmer Zeitgenosse gewesen war. Ein Menschenleben zählte nicht viel bei Kwan Lok und dessen Buttjes – diese Tatsache hatte der Offiziant nicht genügend berücksichtigt.

Bei seinem Eintreffen in der Davidwache erwartete Boysen bereits ein Haufen Arbeit. Gerne hätte er sich sofort dem Tagebuch gewidmet. Aber wenn er nicht endgültig wegen Pflichtvergessenheit hinausgeworfen werden wollte, musste er zunächst seinen Dienstobliegenheiten nachkommen. Immerhin kommandierte er während dieser Schicht die 20 Constabler, die zwischen dem Fischmarkt und der Reeperbahn für Ruhe und Ordnung sorgten. 20 Männer waren die übliche Sollstärke; aufgrund der Cholera-Epidemie fielen allerdings fünf Udels wegen Krankheit aus.

Die Bekämpfung der Seuche dominierte in diesen Tagen auf der Davidwache die polizeiliche Arbeit. Boysen musste Constabler einsetzen, um die städtischen Wasserwagen zu sichern. Bei der Verteilung von sauberem Trinkwasser gab es immer wieder Gedrängel und Schlägereien. Teilweise wurden auch die Gefangenentransporter zweckentfremdet, um Erkrankte in die Cholera-Baracken zu schaffen. Nun war endgültig klar, dass die Stadt Hamburg über viel zu wenige Krankenwagen verfügte.

Als die Schicht endlich vorbei war, hatte Boysen sich lange genug zurückgehalten. Er brannte darauf, das Tagebuch zu lesen. Doch dann fiel ihm ein, dass Anna garantiert auch gern einen Blick auf die Seiten werfen würde. Sie kannte die Verhältnisse in Blankenese viel besser als Boysen und würde manche Aussage gewiss besser einordnen können. Außerdem musste sich der Offiziant eingestehen, dass er die junge Frau gern wiedersehen wollte.

Kurz entschlossen fuhr er mit der Pferde-Straßenbahn in den gediegenen Elb-Vorort. Annas Adresse war ihm bekannt. Ihr Elternhaus wirkte kaum weniger prächtig als die Villa der Lütkes. Eine Hausangestellte ließ Boysen herein. Er bat darum, mit Anna sprechen zu dürfen.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis die junge Frau in dem Salon erschien, wo Boysen warten musste. Annas Gesicht zeigte freudige Überraschung.

»Offiziant Boysen! Was führt Sie zu mir?«

Der Uniformierte zog das gebundene Buch aus seinem Waffenrock.

»Carl Lütkes Tagebuch«, sagte er mit leiser Stimme. Anna riss ihre schönen Augen weit auf. Sie setzte sich auf eine Ottomane und deutete an, dass Boysen neben ihr Platz nehmen möge. Das tat er nur allzu gern. Der Offiziant schlug das Buch auf und hielt es so, dass Anna mitlesen konnte.

Schon bald wurde das Gesicht der jungen Frau von einer starken Röte überzogen. Das verwunderte Boysen nicht, denn Carl Lütke beschrieb genüsslich seine geschlechtlichen Erlebnisse mit Strichmädchen. Bei den Schilderungen nahm er kein Blatt vor den Mund.

»Ich … bin wirklich froh, dass meine Eltern heute Abend einer Einladung der Handelskammer gefolgt sind«, sagte Anna mit belegter Stimme. »Nicht auszudenken, wenn sie erführen, dass ich so … einen Schmutz lesen muss. Das ist ja beinahe schon pornografisch!«

»Zweifellos«, stimmte Boysen unbeeindruckt zu. »Aber ich kann aus Carl Lütkes frivolen Liebesabenteuern kein Motiv für die Bluttaten ableiten, ehrlich gesagt. Bisher hatte ich angenommen, der Täter wäre von einem irrsinnigen Frauenhass getrieben. Aber davon ist hier nichts zu bemerken.«

»Sind wir vielleicht auf der falschen Spur, Offiziant Boysen?«

»Ausgeschlossen.« Boysen blätterte eine weitere Seite um. »Alle Hinweise deuten auf Carl Lütke. Der Manschettenknopf, die Verkleidung als Schauermann, sein nächtliches Herumtreiben im Gängeviertel, die lange Abwesenheit von seinem Elternhaus. Aber als Polizist benötige ich immer ein überzeugendes Motiv für ein Verbrechen. Ein Irrer würde die Frauen umbringen, weil er krank im Kopf ist. Aber Carl Lütke ist nicht wahnsinnig, seine Tagebucheintragungen machen einen normalen Eindruck.«

»Normal?«, fragte Anna pikiert nach. »Diesen abnormen … Geschlechtstrieb finden Sie normal?«

Boysen zuckte mit den Schultern. »Abnorm? Carl Lütke hat eben männliche Bedürfnisse. Solange er bei seiner Triebbefriedigung keine Gesetze verletzt, ist das höchstens moralisch verwerflich.«

Anna war über Boysens Worte schockiert. Aber gleichzeitig musste sie sich eingestehen, dass sie nur höchst theoretisch über diese Dinge reden konnte. Bisher hatte sie einen jungen Herrn noch nicht einmal geküsst, von weiterführenden Dingen ganz zu schweigen. Anna musste an den heißen Traum von Boysen denken, den sie einmal gehabt hatte. Das machte sie unruhig. Sie versuchte, sich auf den Kriminalfall zu konzentrieren.

»Sehen Sie, die Tagebuchaufzeichnungen enden am 19. August 1892.«

Boysen kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Das war ein Tag, bevor Marie Stevens angefallen wurde. Carl Lütke hat also seitdem nichts mehr in sein Tagebuch geschrieben. Vielleicht ist er gar nicht mehr in seinem Unterschlupf gewesen. Die Pfandleiher-Familie kann ich nicht fragen, die sind alle schwer an der Cholera erkrankt. Oder bereits an der Seuche gestorben.«

»Sie glauben also, dass etwas geschehen ist, das die Mordlust bei Carl Lütke auslöste, Offiziant Boysen?«

»Ja, das glaube ich, Fräulein Dierks.«

»Und was?«

Boysen ließ ein bitteres Grinsen sehen. »Ich habe keine zündende Idee, ehrlich gesagt. Jetzt geht es hauptsächlich darum, den Täter endlich zu stoppen. Wenn wir ihn kaltgestellt haben, können wir immer noch herausbekommen, was ihn zu diesen Bluttaten getrieben hat.«

»Carl Lütke kann überall und nirgends sein«, seufzte Anna. »Es ist wirklich zu ärgerlich, dass sein Vater die Ermittlungen unterdrückt hat. Wenn Sie mehr Männer für die Suche zur Verfügung hätten …«

Boysen nickte bedeutungsschwanger. Er würde Anna ganz gewiss nicht auf die Nase binden, dass er eine Hilfstruppe von chinesischen Halsabschneidern auf den flüchtigen Bürgersohn angesetzt hatte. Alles musste Anna schließlich nicht wissen.

»Ich werde meine Bemühungen verstärken.« Boysen formulierte absichtlich schwammig. »Die Bekämpfung der Cholera-Epidemie zeigt erste Erfolge, Fräulein Dierks. Bald werden nicht mehr so viele polizeiliche Kräfte durch die Seuchenbekämpfung gebunden sein. Carl Lütke verhält sich auffällig. Seine Verkleidung als Schauermann nützt ihm nichts mehr. Ich werde ihn schon bald erwischen, da bin ich mir sicher. – Trotzdem möchte ich Sie bitten, bis auf Weiteres nicht mehr allein in die Armenviertel zu gehen.«

Anna zog unwillig die Augenbrauen zusammen. »Ich bin kein kleines Kind mehr, Offiziant Boysen. Ich kann sehr gut auf mich allein aufpassen. Und gerade in der Zeit der Cholera benötigen die gefallenen Mädchen meine Hilfe mehr denn je.«

»Die brauchen sauberes Wasser und keine Bibelsprüche«, knurrte Boysen. Im gleichen Moment bereute er bereits seine Bemerkung. Doch da hatte er es schon geschafft, Anna zu verärgern.

»Ich bin mir im Klaren darüber, dass Sie meiner Tätigkeit nur Verachtung entgegenbringen, Offiziant Boysen«, sagte Anna kühl. »Aber Sie sollten bedenken, dass ich kein Mann bin. Ich habe nicht die Möglichkeit, in der Uniform des Constabler Corps gegen das Böse zu kämpfen. Ich muss das tun, was für eine junge Dame von Stand realisierbar ist.«

»Ja.« Boysen senkte reuig den Kopf. »Können Sie einem breegenklöterigen Udel noch einmal verzeihen?«

Anna musste schmunzeln. »Vergebung gehört wohl zu den höchsten christlichen Tugenden. Ich bin mir inzwischen sicher, dass sich unter Ihrer rauen Schale ein gutes Herz verbirgt, Offiziant Boysen.«

»Vielen Dank. Aber wenn Sie schon in das Gängeviertel oder hinunter zum Hafen gehen, dann nehmen Sie wenigstens einen Revolver mit. Ich habe gesehen, dass Sie damit umgehen können.«

Anna öffnete den Mund, um Boysen zu sagen, dass sie Gewalt verabscheute. Aber dann erinnerte sie sich an ihren kurzen, aber harten Zweikampf mit dem unheimlichen Schauermann. Gott hatte seine schützende Hand über sie gelegt, davon war sie überzeugt. Aber es wäre trotzdem besser gewesen, eine Waffe bei sich zu haben.

Die junge Frau nickte langsam und bedächtig. »Also gut, Offiziant Boysen. Ich verspreche Ihnen, einen der Revolver meines Vaters mitzuführen. Er besitzt mehrere Schusswaffen und wird wahrscheinlich gar nicht merken, dass eine davon fehlt.«

»Das ist gut. Es dient nur Ihrem eigenen Schutz.« Boysen stand auf. »Ich verabschiede mich, Fräulein Dierks. Es ist schon spät. Vielen Dank für die Zeit, die Sie mir gewidmet haben.«

»Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte Anna lächelnd. »Leben Sie wohl, Offiziant Boysen.«

 

Boysen ertappte sich dabei, dass er vor sich hin pfiff, als er langsam zur Haltestelle der Pferde-Straßenbahn ging. Er musste die ganze Zeit an Anna denken. Ihre anmutige Gestalt und ihr hübsches Gesicht gingen ihm nicht aus dem Kopf.

Hast du dich etwa in diese Betschwester verliebt, Lukas?, fragte Boysen sich voller Selbstironie. Er wusste es selbst nicht so genau. Allerdings war es schon auffällig, dass er bei jeder Gelegenheit Annas Nähe suchte.

Lange hielt sein Wohlbefinden nicht an. Schon in der Straßenbahn wurde Boysen plötzlich von Schweißausbrüchen und heftiger grundloser Angst geplagt. Außerdem rebellierte sein Magen. Am Meßberg sprang der Offiziant aus dem Waggon. Er schaffte es nicht mehr bis zur Brooktor-Wache. An der Ecke Brandstwiete und Dovenfleet versagte sein Schließmuskel. Boysen gab aus Mund und Anus gleichzeitig übel riechende Flüssigkeit von sich. Schüttelfrost hatte ihn fest im Griff. Der Offiziant musste nicht lange Rätselraten. Er wusste genau, was mit ihm los war.

Boysen hatte sich mit der Cholera angesteckt.