NEUNZEHNTES KAPITEL
Ursprünglich war geplant, Larkin in dem Moment festzunehmen, in dem er sich erneut mit Knjasjew treffen würde. Michail Dawydowitsch hatte Knjasjew befohlen, gleich nach dem Mord auf die Nowokusnezkaja zu fahren und die Imbissbude zu öffnen, so, als wäre nichts geschehen.
»Du öffnest deinen Kiosk und verkaufst seelenruhig Würstchen, wie immer. Du wirst den Kiosk nicht verlassen und auf mich warten. Ich werde gegen drei Uhr nachmittags zu dir kommen. Du darfst mich nicht ansprechen, wenn du mich siehst. Entschuldige dich bei deinen Kunden, schließe deinen Kiosk für eine halbe Stunde und folge mir.«
Es war offensichtlich, was Larkin vorhatte. Gleich nach dem Mord wollte er Knjasjew aus der Trance herausführen und sein Gedächtnis blockieren. Knjasjew würde sich danach nie mehr an den etwas gedunsenen Mann mit der getönten Brille erinnern, der ihn auf der Straße angesprochen, zu sich nach Hause eingeladen und ihm gigantische Reichtümer versprochen hatte. Er würde sich nie daran erinnern, dass er in der Tscherepanow-Straße war, um dort einen Mann zu erschießen.
Natürlich wäre es ideal gewesen, wenn man auf Band hätte aufzeichnen können, wie Larkin dem unseligen Würstchenverkäufer suggerierte, dass die beiden sich nie getroffen hatten und dass es nie einen Mord gegeben hatte. Aber wenn man Larkin sein Werk hätte vollenden lassen, hätte man von Knjasjew nie eine Aussage bekommen, weil er sich in diesem Fall an nichts mehr erinnert hätte. Außerdem war Knjasjew bereits festgenommen, und es war jetzt nicht mehr möglich, ihm die Handschellen wieder abzunehmen und ihn zu seinem Kiosk gehen zu lassen. Aber Knjasjews Aussagen waren ohnehin keinen Pfifferling wert, ob so oder so. Solange er sich noch in Trance befand, konnte man ihn nicht vernehmen. Und ließe man zu, dass Larkin ihn aus der Trance herausholte, würde er sich an nichts mehr erinnern. Nastja hatte Fachleute konsultiert, und alle hatten ihr einhellig versichert, dass ein richtiger Hypnotiseur, wie Larkin es ganz offensichtlich war, Codewörter in seine Suggestionen einbaute, damit niemand außer ihm selbst die Trance wieder auflösen konnte. Mit Kyrill Basanow war allem Anschein nach genau das passiert. Nach dem Mord an dem Erpresser hatte Larkin sich mit ihm getroffen, ihn aus der Trance herausgeführt und sein Gedächtnis blockiert, denn Basanow erinnerte sich ja bis heute an nichts. Nach dem Mord an Lutschenkow hatte Michail es nicht geschafft, sich noch einmal mit Kyrill zu treffen, da man diesen am Tatort festgenommen hatte. Deshalb hatte Basanow anschließend gewissenhaft und verwundert von den Stimmen erzählt, die ihm Befehle erteilt hatten . . .
Knjasjew war als Zeuge nichts wert. Man würde nichts von ihm erfahren, und falls doch, dann würde man nichts beweisen können. Der einzige Beweis waren die Ton- und Bildaufnahmen, die zeigten, wie Larkin Vitali in Trance versetzte und ihm einen Mord befahl. Zusätzlich gab es die Videoaufnahme, auf der zu sehen war, wie Knjasjew gehorsam alles ausführte, was Larkin ihm befohlen hatte. Es wäre nicht schlecht gewesen, auch eine Aufnahme zu besitzen, die gezeigt hätte, wie Larkin sein Opfer wieder aus der Trance herausführte, aber vom rechtlichen Standpunkt hatte das alles wenig Sinn. Es gab keine Präzedenzfälle, und es war völlig unklar, wie Knjasjews und Basanows Taten in juristischer Hinsicht zu bewerten waren. Weder dem einen noch dem anderen würde man Unzurechnungsfähigkeit zugestehen. Im Strafgesetzbuch existierte kein Paragraph, der sich mit Straftaten befasste, die unter Hypnose begangen wurden. Selbst wenn man beweisen könnte, dass Basanow und Knjasjew unter Hypnose gehandelt hatten, würde sie das nicht von der Verantwortung für ihre Taten befreien, denn dem Strafgesetzbuch zufolge lag Schuldunfähigkeit nur dann vor, wenn eine Bewusstseinsstörung krankhaften Charakter hatte. Aber ein Mensch, der sich unter Hypnose befand, litt nicht an einer krankhaften Bewusstseinsstörung und war deshalb vom juristischen Standpunkt keinesfalls schuldunfähig. Über dieses Thema mussten noch Dutzende von Dissertationen geschrieben werden, bis man eines Tages ein entsprechendes Gesetz würde verabschieden können. Aber die Verhafteten konnten nicht so lange warten. Über ihr Schicksal musste sofort entschieden werden . . .
Und was konnte man Larkin selbst zur Last legen? Wofür konnte man ihn zur Verantwortung ziehen? Er hatte niemanden getötet, hatte sich den Opfern nicht einmal genähert. Hypnose war nicht beweisbar. Er hatte nichts getan, er hatte einfach nur geredet. Das konnte jeder tun, das war nicht verboten. Larkin hatte einfach eine ganz gewöhnliche psychotherapeutische Sitzung mit einem Klienten durchgeführt, ein Entspannungstraining. War das etwa nicht erlaubt? Auch die Videoaufnahme bedeutete in diesem Zusammenhang nichts. Larkin hatte ein Experiment gemacht, den vertrauensseligen Knjasjew ein bisschen gefoppt. Er hat tatsächlich einen Mord begangen?, würde Larkin sagen. Das ist doch völlig unmöglich. Wen hat er denn umgebracht? Einen Mann aus der Tscherepanow-Straße? Nicht zu fassen! So ein Einfaltspinsel. Ich habe einfach eine x-beliebige Adresse genannt.
Oberst Gordejew und Untersuchungsführer Olschanskij stritten sich mit heiseren Stimmen darüber, was man mit Larkin machen sollte. Michail Dawydowitsch stand unter ständiger Beobachtung, man hätte ihn jederzeit festnehmen können, aber es war völlig unklar, ob das richtig gewesen wäre und wie man bei einer Verhaftung hätte vorgehen sollen. Man hatte nichts gegen ihn in der Hand. Und vermutlich würde man ihn auch nicht zum Sprechen bringen. Angesichts seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten würde wahrscheinlich selbst die klügste und raffinierteste Vernehmungstaktik zu keinem Ergebnis führen.
Schließlich beschloss man, Larkin vorläufig auf freiem Fuß zu lassen.
* * *
»Kommen Sie herein, Pawel Dmitrijewitsch«, sagte Nastja so freundlich wie möglich.
Es war ihr gelungen, ihre Beherrschung wieder zu finden, sie war jetzt völlig ruhig und fühlte sich für das Gespräch mit Pawel gewappnet.
»Sie müssen einen guten Schutzengel haben«, lächelte Sie. »Ich habe Sie also nicht umsonst aus Samara herausgeholt. Es wäre sehr traurig für mich gewesen, wenn man Sie heute umgebracht hätte. Kennen Sie den Mann, der den Mordanschlag auf Sie verübt hat?«
»Nein. Ich habe ihn nie gesehen und nie seinen Namen gehört.«
Nastja sah, dass er nicht log. Und sie sah, dass Sauljak völlig erschöpft war und sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt.
»Haben Sie wenigstens einen entfernten Verdacht, wer ihn geschickt hat, in wessen Auftrag er Sie ermorden sollte?«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, Anastasija, dass ich nicht unter einem Mangel an Feinden leide.«
»Wundert es Sie nicht, dass sich nun auch Ihr Gönner als einer von ihnen erwiesen hat?«
Sauljak runzelte die Stirn. Sein Blick entzog sich Nastja, wanderte zur Wand über ihrem Kopf, zum Fußboden, zum Fenster.
»Sie irren sich.«
Seine Stimme klang wieder hochmütig, wie damals in Samara, als sie sich gerade kennen gelernt hatten.
»Nein, Pawel Dmitrijewitsch, ich irre mich nicht. General Minajew hat sich mit einem Mittelsmann getroffen. Dieser hat Knjasjew für den Mord an Ihnen ausgesucht und ihn mit einem Revolver in der Tasche zu Ihnen geschickt. Wir sind im Besitz von Bild- und Tonaufnahmen, die das beweisen. Wir sind schließlich keine Götter und keine Hellseher, Pawel, unsere Mitarbeiter sind nicht zufällig in Ihrem Haus gewesen, als Knjasjew dort auftauchte, um Sie umzubringen. Wir haben diesen Mittelsmann beobachtet und wissen deshalb auch von seinem Kontakt zu Minajew. Überzeugt Sie das nicht?«
»Nein. Unser Gespräch ist gegenstandslos geworden, finden Sie nicht?«
Er glaubte ihr also nicht. Oder er hatte sofort begriffen, dass sie die Wahrheit sagte, und wollte es aus irgendeinem Grund nicht zugeben. Natürlich durfte er Anton Andrejewitsch Minajew nicht preisgeben. Die Morde an Malkows Leuten hatten einige Tage nach Pawels Rückkehr nach Moskau begonnen und zwei Tage vor seiner Abreise nach Belgorod wieder aufgehört. Es konnte nicht sein, dass Minajew nichts damit zu tun hatte. Und wo Minajew war, da war auch Pawel. Also würden beide bis zum Letzten auf der Unschuld des anderen bestehen. Macht nichts, Pawel, dachte Nastja, gleich wirst du in die Knie gehen.
»Der Gegenstand unseres Gesprächs ist die Reihenfolge der Opfer, Pawel Dmitrijewitsch«, sagte sie. »Sind Sie sich im Klaren darüber, dass Sie der Letzte in dieser Reihe sind?«
So, Pawel, dachte Sie, jetzt überlege. Versuche zu erraten, was ich meine. Du wirst es nämlich nicht erraten und über das zu reden beginnen, was dich am meisten beunruhigt. Mach schon, fang an.
»Und wer ist nach Ihrer Meinung der Erste in dieser Reihe?«
Du willst mich austricksen, Pawel, erwiderte sie innerlich. Ich werde dir sagen, wer der Erste in der Reihe war. Aber du wirst sowieso nichts verstehen. Weil dieser Mann der Erste in beiden Reihen ist, in deiner und in meiner.
»Der Erste war General Bulatnikow. Ich dachte, das sei offensichtlich. «
»Stehen sehr viele in dieser blutigen Reihe?«
»Lassen Sie uns mit diesem Versteckspiel aufhören, Pawel Dmitrijewitsch. Sie wissen genau, wovon die Rede ist. Sie decken Minajew, gerade so, als hätte er Ihnen im Leben nur Gutes getan. Er hat Ihnen einen Killer geschickt, begreifen Sie das denn nicht? Er hat Ihren Mitarbeiter abgeworben, wie immer ihm das gelungen ist, durch Erpressung oder mit Geld, und er hat ihn dazu gebracht, einen Killer für Sie anzuheuern.«
»Dafür gibt es keine Beweise«, sagte Sauljak gleichmütig. »Ich weiß nicht, von welchem Mitarbeiter Sie sprechen, und ich glaube Ihnen nicht.«
»Schade«, sagte Nastja in beinah fröhlichem Tonfall. »Soll ich
Ihnen einen Film zeigen? Dann werden Sie selbst sehen, wie Michail Dawydowitsch Larkin Ihren potenziellen Mörder in Trance versetzt und ihm den Mord an Ihnen suggeriert. Sie werden hören, wie er ihm Ihre genaue Adresse nennt.«
»Das ist dummes Zeug«, sagte Pawel.
* * *
Es wäre dumm gewesen, die Bekanntschaft mit Michail abzustreiten. Alle Frauen, die damals zu Larkin in die Sprechstunde gekommen waren, hatten Pawel gesehen. Man konnte diese Frauen suchen und finden, und deshalb hatte Leugnen keinen Sinn.
»Das ist dummes Zeug«, sagte Pawel, innerlich jedes weitere Wort genau abwägend. »Ich kenne zwar einen Psychotherapeuten namens Larkin, aber ich wüsste nicht, warum er daran interessiert sein sollte, mich ermorden zu lassen. Ich habe ihm nie meine Adresse gegeben. Er kennt nicht einmal meinen vollen Namen.«
»Sehen Sie, also hat ihm ein anderer Ihre Adresse gegeben. Jemand, der Ihren Namen und Ihre Anschrift kennt, jemand, der gewusst hat, dass Sie nach Moskau zurückgekehrt sind und heute um genau fünf vor zwölf Ihre Wohnung verlassen würden. Haben Sie immer noch Zweifel?«
Pawel hatte keine Zweifel. Aber er konnte nicht zugeben, dass es zwischen ihm und General Minajew ein Geheimnis gab, aufgrund dessen Pawel für ihn gefährlich geworden war.
»Sie haben mich nicht überzeugt. General Minajew hat keinen Grund, mich beseitigen zu lassen. Er hat alles dafür getan, um mich lebendig aus Samara herauszuholen. Niemand weiß das besser als Sie selbst.« Er erlaubte sich ein leises Lächeln. »Minajew wollte um jeden Preis mein Leben retten.«
»Angenommen, Sie haben Recht. Aber was ist mit Rita?«
»Rita?« Sauljak zuckte unmerklich zusammen.
»Hat Rita Dugenez auch zu Ihrer Gruppe gehört?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Rita war meine Freundin.«
Sein Herz hatte zu klopfen begonnen wie ein Vorschlaghammer in der Brust. Warum fragte sie nach Rita? Was wusste sie?
»Das eine schließt das andere nicht aus. Sie konnte Ihre Freundin sein und gleichzeitig Ihre Mitarbeiterin.«
»Ich habe keine Mitarbeiter«, sagte Pawel gereizt. »Was für einen Unsinn haben Sie sich da ausgedacht?«
»Sind Sie sicher, dass es Unsinn ist?«
Er hörte ihre Stimme wie aus weiter Ferne. Es war, als hätte er Watte in den Ohren, und er begriff, dass sein Blutdruck stark angestiegen war.
»Dann werde ich Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die Sie noch nicht kennen. Deshalb wird es interessant für Sie sein.«
Jetzt wird sie von Bulatnikow anfangen und von Malkows Leuten, dachte Pawel. Wahrscheinlich weiß sie dieses und jenes und wird nun versuchen, aus den einzelnen Steinchen ein hübsches Mosaik zusammenzusetzen. Soll sie reden, sagte er sich, ich werde solange versuchen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
»General Minajew hat Bulatnikow, seinen Chef, immer gehasst. Er verabscheute ihn aus tiefster Seele und verging vor Neid, weil er nicht begreifen konnte, woher Bulatnikow so viel Macht und Geld besaß. Und er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Ist es spannend, Pawel Dmitrijewitsch?«
Pawel hob den Kopf und sah Nastja verwirrt an. Er hatte etwas ganz anderes erwartet, sie sprach von Dingen, die er tatsächlich zum ersten Mal hörte.
»Fahren Sie fort«, sagte er mit unbeweglichem Gesicht, bemüht, seine Neugier zu verbergen.
»Anton Andrejewitsch wandte alle Tricks an und erfuhr, dass Bulatnikow Sie hatte, Sie, Pawel Sauljak. Und dass Sie eine Gruppe hatten. Aber obwohl er sich alle Mühe gab, konnte er nicht herausfinden, wer diese Leute waren. Allerdings hatte er in Erfahrung gebracht, welcher Mittel sich die Gruppe bediente. Und er hatte begriffen, dass das eine Goldgrube war. Deshalb beschloss er, dass die Gruppe für ihn arbeiten würde. Und was hat er als Erstes getan, wissen Sie es?«
»Nein«, sagte Pawel rasch. »Das kann nicht sein. Ich glaube Ihnen nicht.«
»Warum sagen Sie das? Ich sehe doch an Ihrer prompten Reaktion, dass Sie genau wissen, was Ihr jetziger Gönner Minajew getan hat. Er hat Bulatnikow ermorden lassen. Er steht hinter diesem Mord und nicht Malkow. Er ließ Malkows Leuten Informationen zukommen, die sehr beunruhigend waren und dazu führten, dass der General, der so viel für diese Leute getan hatte und so viel über sie wusste, beseitigt wurde. Aber Minajew beging einen Fehler, und jemand aus Malkows Septett erfuhr, dass General Minajew an dem Mord an seinem einstigen Chef, Freund und Lehrer beteiligt war. Kurz nach Bulatnikows Tod haben Sie, Pawel Dmitrijewitsch, den Braten gerochen und sind vorübergehend in einer Strafkolonie verschwunden. Und das hat Minajews genialen Plan durcheinander gebracht. Er hatte fest damit gerechnet, dass Sie im Gefühl heiliger Rache entbrennen oder zumindest versuchen würden, der Wahrheit über den Mord an Bulatnikow auf den Grund zu gehen. Er hatte damit gerechnet, dass Sie zu diesem Zweck die Mitglieder Ihrer Gruppe einsetzen würden. Er wollte Sie beobachten und so herausfinden, wer Ihre Mitarbeiter waren. Aber Sie, Pawel Dmitrijewitsch, haben seine Erwartungen nicht erfüllt, Sie haben sich weder zur Rache noch zur Wahrheitssuche hinreißen lassen, sondern haben sehr vernünftig und vorsichtig reagiert und sind einfach untergetaucht. Während Sie Ihre Strafe für schweres Rowdytum absaßen, blieb Minajew allerdings nicht untätig. Er suchte und fand das gesamte kompromittierende Material, das über die Mitglieder Ihrer Gruppe existierte und mit dem man sie bei der Stange hielt. Unter anderem auch Sie, Pawel Dmitrijewitsch, nicht wahr? Und als Sie endlich nach zwei langen Jahren nach Moskau zurückkehrten, hat er Sie mit seinem Wissen über Sie unter Druck gesetzt. Er brauchte Sie, weil nur Sie die Namen und Adressen Ihrer Gruppenmitglieder kannten. In den Unterlagen aus Bulatnikows Safe hatte er nämlich nur Informationen darüber gefunden, wie und mit welchen Mitteln Ihre Leute arbeiteten, aber namentlich war keiner von ihnen genannt. Diese Namen konnte er nur von Ihnen erfahren, und deshalb hat er alles dafür getan, um Ihr Leben zu retten. Klingt es glaubwürdig?«
»Es klingt wie ein Schauermärchen«, sagte Pawel. Aber ihm war bereits klar, dass alles, was er jetzt noch sagte, keine Bedeutung mehr hatte. Sie wusste alles und sogar mehr als er selbst. Aber wie hatte sie es erfahren und von wem? Sollte etwa Minajew selbst alles gestanden haben? Nein, das war unmöglich.
»Machen wir weiter«, sagte Anastasija ungerührt. »Minajew hat versucht, Sie davon zu überzeugen, dass der Mord an seinem Freund gerächt werden muss. Ich höre förmlich seine Worte, denn Ihnen hat er wahrscheinlich dasselbe gesagt wie meinen Vorgesetzten. Er sei ein Mann und ein Offizier, er könne den Mord an seinem Freund nicht ungesühnt lassen, an diesem großartigen Mann, dem er seine ganze Dienstkarriere verdankte. Meinen Vorgesetzten hat er weisgemacht, dass er mit Ihrer Hilfe herausfinden wollte, wer Bulatnikows Mörder waren. Aber was hat er Ihnen selbst gesagt? Dass er die Mörder kennt und sich rächen will? War es so? In Wahrheit wollte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Er wollte diejenigen beseitigten, die wussten, dass er in den Mord an Bulatnikow verwickelt war, und gleichzeitig erfahren, wer die Mitglieder Ihrer Gruppe waren. Und beides ist ihm gelungen.«
»Unsinn«, wiederholte Pawel mit Nachdruck.
Er saß in seiner gewohnten Haltung da, zurückgelehnt im Stuhl, die Arme über der Brust verschränkt. Nur die Augen hielt er jetzt geöffnet.
»Unsinn?«, sagte Nastja spöttisch und reichte ihm ein Blatt Papier. »Lesen Sie doch einmal.«
Pawel streckte die Hand aus und nahm das Blatt. Sechs Namen standen darauf. Malkow. Semjonow. Isotow. Lutschenkow. Mchitarow. Jurzew. Sechs Namen. Es fehlte nur noch Jewgenij Schabanow, der Imageberater des Präsidenten.
»Hier stehen nur sechs Namen«, fuhr Nastja fort. »Aber es gibt noch einen siebten. Und ich bin fast hundertprozentig sicher, dass dieser siebte Jewgenij Schabanow ist. Ich erwarte nicht, dass Sie mir das bestätigen, aber sehen Sie sich das einmal an.«
Sie reichte ihm einige Fotos. Pawel warf einen Blick darauf und erstarrte vor Entsetzen. Rita. Garik Asaturjan. Karl. Alle drei tot. Diese Halunke hatte sie ermorden lassen. Nur Michail Larkin hatte er verschont. Den Stärksten und Skrupellosesten in der Gruppe. Für ihn war dieser eine genug. Guter Gott, sollte das alles wirklich wahr sein?
Er fühlte jetzt nur noch unendliche Müdigkeit und Gleichgültigkeit. Sie wusste alles. Sie spielte nur noch mit ihm wie die Katze mit einer halb toten Maus.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte er mit gequältem Gesichtsausdruck. »Warum erzählen Sie mir das alles?«
»Weil ich gern einiges von Ihnen wüsste. Zum Beispiel, wie es Ihnen gelungen ist, Malkows Leute auszutricksen. Sie waren doch schon von dem Moment an hinter Ihnen her, als Sie das Straflager verließen. Sie waren fast drei Wochen in Moskau und haben heimlich, still und leise einen nach dem andern beseitigt. Warum hat keiner von ihnen versucht, Sie umzubringen? Haben Sie sich auf irgendeine Weise von ihnen losgekauft? Ich wüsste gern, warum diese Leute ihre Jagd auf Sie eingestellt haben. Des Weiteren wüsste ich gern, wer Rewenko ist. Warum hat Minajew alles getan, um die Feststellung seiner Identität zu verhindern? Ich vermute, dass Rewenko früher einen anderen Namen hatte, und Minajew wollte nicht, dass dieser Name bekannt wird. Anton Andrejewitsch wäre es lieber gewesen, wenn Rewenkos Leiche für immer und ewig unerkannt geblieben wäre.«
»Ist das alles?«
»Nein, Pawel Dmitrijewitsch. Das ist noch nicht alles. Ich möchte wissen, wie und warum Minajew Sie nach Moskau gerufen hat. Wie hat er Sie gefunden? Wo waren Sie in diesem Moment? Aus welchem Grund sollten Sie sofort nach Moskau kommen?«
»Ich bin nicht dazu gekommen, mit Minajew zu sprechen. Wenn Ihre Leute mich nicht hierher gebracht hätten, wäre ich jetzt bei ihm. Ich war gerade auf dem Weg.«
»Pawel Dmitrijewitsch, ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Minajew vorhatte, Sie umbringen zu lassen. Und er hat es immer noch vor. Er dachte gar nicht daran, Ihnen etwas zu erklären. Er hat Sie nach Moskau gerufen und Larkin beauftragt, einen Killer zu finden, der Sie beim ersten Verlassen Ihrer Wohnung umbringen sollte. Haben Sie das immer noch nicht begriffen? Minajew braucht Sie nicht mehr. Er hat die Mitglieder Ihrer Gruppe gefunden, hat sie eine Weile beobachtet und alle beseitigt, bis auf einen, den Stärksten. Ich kann beweisen, dass Asaturjan und Rewenko in St. Petersburg waren und Mchitarow dazu gebracht haben, sich zu erschießen. Ihr Larkin hat Jurzew ein schnell wirkendes Gift untergeschoben, und Jurzew hat es eingenommen in der Annahme, dass es sich um harmlose Tranquilizer handelte. Auch Rewenko besaß solche Tabletten, wir haben sie bei ihm in der Wohnung gefunden. Ich würde übrigens auch gern erfahren, wo dieses Präparat herkommt, was für eine Entstehungsgeschichte es hat. Larkin hat auch dafür gesorgt, dass Malkow und Lutschenkow nicht mehr am Leben sind. Ich hoffe sehr, dass Sie mir erzählen werden, was mit Semjonow und Isotow passiert ist. Wen hat man auf sie angesetzt? Ihre Freundin Rita?«
Pawel Sauljak hatte eine Entscheidung getroffen. Er brauchte dieses Leben nicht mehr. Er hatte seine Sache nicht zu Ende gebracht, aber das war das Einzige, was er in diesem Moment bedauerte. Alles andere hatte keine Bedeutung mehr und keinen Sinn. Diese Frau mit den hellen Augen und dem blassen Gesicht, die in diesem engen, ungemütlichen Büro vor ihm saß, diese Frau, die ihn an den Toren der Strafkolonie erwartet hatte, wusste zu viel über ihn. Pawel hatte jetzt nur noch einen Wunsch. Er wollte nach Hause. Man sollte ihn gehen lassen. Man sollte ihm erlauben, dieses Büro zu verlassen.
»Wollen Sie sagen, dass Anton Andrejewitsch es war, der Rita umbringen ließ?«, fragte er mit tonloser Stimme. »Ich kann das nicht glauben.«
»Hören Sie auf, Pawel. Sie wissen längst, dass alles so ist, wie ich es sage. Stecken Sie Ihren Kopf nicht in den Sand. Wir könnten eine Abmachung miteinander treffen.«
»Eine Abmachung? Worüber?«
»Sie erzählen mir alles, was Sie über Minajew wissen. Sie machen eine detaillierte, wahrheitsgetreue Aussage, auf deren Grundlage wir uns diesen Mann vorknöpfen können.«
»Und was bieten Sie mir dafür an?«
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie sich nicht für die Morde verantworten müssen, die Sie ganz persönlich begangen haben.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte er kalt. »In der Geschichte, die Sie mir eben mit so viel Begeisterung erzählt haben, hat niemand von meinen Leuten einen Mord mit eigenen Händen begangen. Weder jemand von ihnen noch ich selbst. Sie widersprechen sich.«
»Pawel. . .«
Sie richtete sich auf dem Stuhl auf und sah ihn mitfühlend an. Ihr Blick verwirrte ihn.
»Pawel, warum tust du das?«, fragte sie mit leiser, trauriger Stimme. »Du weißt doch, dass diese Menschen im Grunde unschuldig sind. Man hat Larkin auf sie angesetzt, nicht wahr? Larkin, den Stärksten in der Gruppe, der vor nichts zurückschreckt. An seinen Händen klebt das meiste Blut, und deshalb hat Minajew ihn ausgesucht. Larkin ist leichter als die anderen an der Kandare zu halten. Ich hätte verstanden, wenn du ihn umgebracht hättest. Aber warum bringst du die um, die im Grunde völlig unschuldig sind?«
Ihm war, als hätte sie in diesem Moment seine Gedanken gelesen, als hätte sie gehört, was er dachte. Und sie war bereit, ihn laufen zu lassen, wenn er ihr alles erzählen würde. Sollte er das vielleicht wirklich tun?
»Kann ich davon ausgehen, dass wir uns geeinigt haben?«, fragte er mit zusammengepressten Zähnen.
»Ja.«
»Versprechen Sie es mir?«
»Ja.«
»Wenn ich Ihnen alles erzähle, werden Sie mich dann gehen lassen?«
»Ja. Ich hoffe, wir haben einander richtig verstanden.«
»Das hoffe ich auch. Was möchten Sie von mir hören?«
»Ich möchte wissen, warum Sie das tun.«
Warum er das tat? Als hätte man das mit ein paar Worten sagen können . . . Er hatte viele Jahre für Bulatnikow gearbeitet, aber er hatte nie das Unglück derer gesehen, deren Angehörige in seinem Auftrag ermordet wurden. Er war ein Roboter gewesen, ein Automat, eine seelenlose Maschine. Er gehorchte einfach, wie es seine Gewohnheit war, froh darüber, dass er keine eigenen Entscheidungen treffen musste.
Und plötzlich, in Uralsk, wohin ihn der Zufall verschlagen hatte, hatte er im Hotelzimmer den Fernseher angestellt und die Augen der Mütter und Väter gesehen, denen Bulatnikow die Kinder genommen hatte. In diesen Augen brannte ein so unstillbarer Schmerz, ein so schreckliches Leiden, dass seine Entscheidung im selben Augenblick gefallen war. Er musste die umbringen, deren Tod diesen unersättlichen Durst nach Rache stillen würde. Dabei war es völlig unwichtig, dass die Mörder in Wirklichkeit unschuldig waren. Es hatte keine Bedeutung, dass die Schuldigen die waren, die diese unmenschlichen Verbrechen in Auftrag gegeben und organisiert hatten, nämlich Bulatnikow, Larkin und er selbst, Pawel Sauljak. Bedeutung hatte nur eines: Die Eltern, in deren Augen er diesen unbeschreiblichen, unmenschlichen Schmerz gesehen hatte, mussten erfahren, dass die Mörder ihrer Kinder bestraft worden waren. Das würde ihnen vielleicht ein wenig Erleichterung verschaffen.
Und so begann er, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Alles ging glatt. Aber aus irgendeinem Grund wurde Pawel nicht leichter ums Herz. Schon nach dem ersten Mord hatte er die Sinnlosigkeit seines Tuns begriffen. Aber er nahm einmal getroffene Entscheidungen niemals zurück.
* * *
Nastja kam völlig erschöpft nach Hause. Das Treffen mit Pawel hatte sie so viel Kraft gekostet, dass sie jetzt, nachdem alles vorbei war, am liebsten geweint hätte. Sie verzichtete auf das Abendessen, das ihr Mann liebevoll zubereitet hatte, und ging gleich zu Bett. Sie zog die Decke hoch bis zum Kinn und drehte sich zur Wand. Ljoscha ließ sie in Ruhe, er saß still in der Küche und legte Patiencen. Nur einmal kam er zwischendurch ins Zimmer und bot ihr eine Tasse heißen Tee an. Aber Nastja wandte nicht einmal ihren Kopf und murmelte nur etwas Unverständliches.
Kurz vor Mitternacht läutete das Telefon. Ljoscha nahm ab und kam erneut ins Zimmer.
»Nastja, Gordejew ist dran. Willst du mit ihm sprechen, oder soll ich sagen, dass du schon schläfst?«
Sie kroch wortlos aus dem Bett und ging barfuß in die Küche.
»Kindchen, wir haben uns verrechnet«, hörte sie Viktor Alexejewitsch in der Leitung sagen.
Verrechnet, hatte Gordejew gesagt. Das konnte nur bedeuten, dass Pawel sein Vorhaben ausgeführt hatte. Sie hatten einander richtig verstanden.
»Sauljak hat sich umgebracht. Er hat sich mit denselben Tabletten vergiftet, die man bei Jurzew und Rewenko gefunden hat. Wir hätten ihn nicht laufen lassen dürfen.«
»Aber genau das war doch unser Plan«, erwiderte sie phlegmatisch. »Er sollte unter einem Vorwand nach Moskau gelockt werden und so lange auf freiem Fuß bleiben, bis wir erfahren hätten, wer seine nächsten Opfer sein sollten. Den Vorwand hat uns Minajew geliefert, und alles hätte klappen können.«
»Hätte«, seufzte Gordejew. »Aber es hat nicht geklappt. Dafür kommt uns jetzt Minajew nicht mehr aus. Wir haben mehr als genug Material gegen ihn. Wenn wir Glück haben, wird die Staatsanwaltschaft gleich morgen das Verfahren gegen ihn einleiten. Aber trotzdem ist es schade, dass Sauljak uns entwischt ist.«
»Ja, schade«, sagte Nastja.
Aber es war nicht schade. Wozu hätte Pawel Sauljak noch leben sollen? Es wäre nur eine Qual für ihn selbst und für andere gewesen. Wenn ein Leben so verpfuscht war wie das seine, dann nutzte auch kein Gericht und keine Strafe mehr. Er hatte sein letztes Opfer gerichtet, das letzte in einer langen Reihe, an deren Ende er selbst stand. Die Stunde des Henkers hatte geschlagen.
* * *
Der Sturm auf Groznyj hält an, teilte die hübsche, schwarzhaarige Nachrichtensprecherin mit. In den Medien findet eine heftige Diskussion über den Rücktritt des Verteidigungsministers statt. Nach Ansicht der Militärbehörden zeugt der unerwartete Beginn des Sturmangriffs auf die tschetschenische Hauptstadt von großer Nachlässigkeit in der Beurteilung der Sachlage bei den Sicherheitsdiensten.
Unsere Korrespondenten aus dem Kreml berichten heute von erneuten personellen Konsequenzen im Umfeld des Präsidenten. Zu einem der neuen Berater wurde der in politischen Kreisen wenig bekannte Wjatscheslaw Solomatin ernannt. Inoffiziellen Berichten aus dem Kreml zufolge verdankt der Präsident gerade diesem Mann die Möglichkeit, sich bei der Entscheidung für eine der verschiedenen Varianten des Ausstiegs aus der Tschetschenienkrise weder mit den Militärs noch mit den Demokraten solidarisieren zu müssen.
Eine weitere Nachricht erreichte uns heute von der russischen Staatsanwaltschaft. Nach der Verhaftung des Generalstaatsanwaltes scheint die strafrechtliche Verfolgung hoher Staatsbeamter zu einer schönen Tradition in unserem Land zu werden. Heute wurde ein Strafverfahren gegen General Anton Minajew, einen führenden Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, eingeleitet. Für heute verabschiede ich mich, nach der Werbepause erwarten Sie die neuesten Nachrichten vom Sport. Guten Abend.