NEUNTES KAPITEL

Das kalte Klima des Ural war nicht spurlos an Nastja vorübergegangen. Kaum zurück in Moskau, bekam sie Halsschmerzen und Schnupfen, was aber keineswegs bedeutete, dass sie zu Hause im Bett blieb und nicht zum Dienst ging. Es lag, wie immer, viel Arbeit an, und eine Krankschreibung wäre nicht nur für sie, sondern für alle Mitarbeiter der Abteilung zur Bekämpfung schwerer Gewaltverbrechen ein unzulässiger Luxus gewesen.

Die Reise nach Samara und die Begegnung mit Pawel Sauljak hatten eine seltsame Beklemmung in ihr hinterlassen, obwohl eigentlich alles gut gegangen war. Sie hatte ihren Auftrag erfolgreich erfüllt, sie hatte Pawel unbehelligt von seinen Verfolgern nach Moskau gebracht und direkt bei General Minajew abgeliefert. Aber etwas beunruhigte sie ständig, brachte sie um Schlaf und Ruhe.

Einige Tage nach ihrer Rückkehr blickte der Dezernatsleiter, Oberst Gordejew, bei der obligatorischen Einsatzbesprechung freudlos in die Runde.

»So, Kinder«, sagte er mit einem Seufzer, »es ist so weit. Der Wahlkampf hat begonnen, und er hat uns bereits ein paar Aufsehen erregende Leichen beschert. In unserer Stadt hat ein hochkarätiger Mafioso aus südlichen Gefilden das Zeitliche gesegnet. Wir haben Anlass zu der Annahme, dass man ihm dabei geholfen hat, ins Jenseits zu gelangen. Nastja, du bleibst nach der Besprechung hier, mit dir muss ich gesondert reden.«

Als die Ermittlungsbeamten nach der Besprechung davoneilten, um ihren Angelegenheiten nachzugehen, blieb Nastja allein in Gordejews Büro zurück. Sie saß zusammengekauert in einer Ecke und drückte ein feuchtes Taschentuch in ihrer Hand zusammen. Gordejew sah sie mitfühlend an und schüttelte den Kopf.

»Nimmst du denn wenigstens Medikamente gegen deine Erkältung?«

»Nein. Ich nehme nie etwas ein.«

»Grundsätzlich nicht?«

»Grundsätzlich nicht. Mein Körper soll wissen, dass er von mir keine Hilfe zu erwarten hat. Er rechnet wahrscheinlich damit, dass ich ihn zu Hause unter der Decke hüte und mit Tabletten füttere, aber ich denke nicht daran. Er soll seine Arbeit gefälligst allein machen.«

»Donnerwetter!«, sagte Gordejew belustigt. »Wie kommst du eigentlich immer auf diese hirnverbrannten Theorien?«

»Ich weiß nicht«, lachte Nastja. »Sie fanden ja immer schon, ich sei völlig verquer.«

»Das bist du mit Sicherheit. Hör zu, Kindchen, sagt dir der Name Jurzew etwas?«

»Ist das dieser Mafioso, der sich angeblich vergiftet hat?«

»Genau der.«

»Ich kenne ihn nicht persönlich. Aber Stassow hatte mal mit ihm zu tun. Er hat mir davon erzählt.«

»Und jetzt wirst du mir sagen, dass du keinen Klatsch magst, nicht wahr?«, frotzelte Gordejew.

»Das stimmt, ich mag keinen Klatsch. Aber sagen werde ich es nicht. Fragen Sie, ich antworte. Aber besser wäre es natürlich, Sie würden die Kollegen von der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens fragen oder General Satotschny selbst. Das ist deren Hoheitsgebiet.«

»Die kann ich immer noch fragen. Jetzt erzähl du erst mal, was du weißt.«

»Es ist nicht sehr viel. Im letzten Sommer hat Stassow mit seiner Tochter Urlaub im Süden gemacht, und seine geschiedene Frau arbeitete bei einem Filmfestival, das dort zur gleichen Zeit stattfand. Jurzew sponserte dieses Festival und verdiente dabei selbst nicht schlecht, indem er sämtliche Werbeeinnahmen kassierte. Außerdem gehörten ihm alle Restaurants und Kasinos in der Stadt, die während des Festivals natürlich überfüllt waren. Als Stassow ihn ein wenig unter die Lupe nahm, veranstaltete Jurzew eine regelrechte Hetzkampagne gegen ihn . . .«

Nastjas Bericht über die Erfahrungen, die Stassow, damals noch Oberstleutnant der Miliz, mit dem hochkarätigen Mafioso gemacht hatte, dauerte etwa eine halbe Stunde. Viktor Alexejewitsch hörte Nastja aufmerksam zu und stellte nur ab und zu eine Zwischenfrage.

»Mit anderen Worten, der Verstorbene war der unumschränkte Herrscher dieser Küstenregion«, resümierte Gordejew, nachdem er Nastja angehört hatte. »Die Sache geht uns natürlich nichts an, dafür ist die Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens zuständig, aber mein siebter Sinn sagt mir, dass sie dort ein Ermittlungsteam bilden und darum bitten werden, dass jemand von uns dazukommt. Was hältst du davon, wenn ich dich dafür einteile?«

»Muss das sein, Viktor Alexejewitsch?«

Nastja kräuselte die Nase und begann, beherzt ihr Nasenbein zu reiben. Aber die altbewährte Methode versagte diesmal, das Niesen war nicht zu unterdrücken. Schnell hielt sie sich das Taschentuch vor die Nase.

»Warum arbeitest du eigentlich so ungern im Team, Nastja?«

»Wahrscheinlich fehlt mir der Teamgeist. Ich bin nicht der Typ Kolchosbäuerin, mir liegt eher der Einmannbetrieb. Ich möchte nicht ins Team, bitte«, bettelte sie.

»Ich möchte dich ja selbst nicht hergeben«, lächelte der Oberst, »aber wen soll ich einteilen, wenn nicht dich?«

»Zum Beispiel Kolja Selujanow.«

»Gut, ich werde darüber nachdenken. Hör mal zu, dein Stassow . . .«

»Er ist nicht mein Stassow, Sie übertreiben. Wenn schon, dann ist er unser Stassow.«

»Gut, dann ist er eben unser Stassow. Meinst du, er wird uns erzählen, was er über Jurzew weiß?«

»Warum denn nicht? Er hat doch nichts zu verbergen.«

»Dann ruf ihn doch an und bitte ihn, mal bei uns vorbeizukommen. Abgemacht?«

Nastja war klar, worum es ihrem Chef ging. Derjenige aus der Abteilung, der dem Ermittlerteam zugeteilt wurde, sollte wenigstens ein kleines bisschen mehr Hintergrundwissen besitzen als die Kollegen aus der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens, denn zwischen den Abteilungen und Dienststellen der Kripo herrschte immer eine gewisse Konkurrenz. Manchmal war das eine gesunde, sinnvolle Rivalität, aber manchmal ging es auch nur darum, die Kollegen vom anderen Ressort auszubooten und ihnen bei der Lösung eines Falles zuvorzukommen. Gordejew war nicht erpicht darauf, diese internen Machtspielchen mitzuspielen, aber manchmal wurden die Erfolge seiner Mitarbeiter zu wichtigen Trümpfen in diesem Gerangel um Autorität, in das Gordejew aufgrund seiner Stellung bei der Kripo automatisch verwickelt war, ob er nun wollte oder nicht.

Wladislaw Stassow erklärte sich bereit, am Nachmittag in der Petrowka vorbeizukommen. Er hatte mit sechsunddreißig Jahren die Kripo verlassen und eine Lizenz als Privatdetektiv erworben. Jetzt leitete er den Sicherheitsdienst der Filmgesellschaft Syrius und war mit seinem neuen Leben sehr zufrieden. Gegen fünf Uhr erschien er in Nastjas Büro. Er war fast zwei Meter groß, grünäugig, voller Lebensfreude und von unverwüstlicher Gesundheit. Nastjas Büro füllte sich mit dem Geruch des kalten, sonnigen Tages, den Stassow von draußen mitbrachte.

»Was ist denn passiert mit dem werten Oleg Jurzew?«, fragte er, während er eine Tasse heißen Kaffee von Nastja entgegennahm. »Hat er es endlich geschafft?«

Nastja nickte. »Angeblich hat er sich vergiftet.«

»Das gefällt mir«, grinste Wladislaw.

»Was gefällt dir? Dass er sich vergiftet hat?«

»Nein, mir gefällt dein bedeutungsvolles ›angeblich‹. Willst du damit sagen, dass so wohlhabende und erfolgreiche Leute wie er niemals freiwillig aus dem Leben scheiden?«

»So ungefähr. Oder bist du anderer Meinung?«

»Alles kommt vor im Leben, Nastja. Aber in Bezug auf Jurzew hast du wahrscheinlich Recht. Er hat auf mich den Eindruck eines optimistischen Menschen gemacht, der nicht zu Depressionen neigt. Obwohl ich kaum mehr als zwei Stunden mit ihm verbracht habe. Wie ist das alles denn passiert?«

»Jurzew ist nach Moskau gekommen, um an einem Empfang der Ölgesellschaften teilzunehmen. Einigen Ehrengästen aus dem Ausland hatte er sogar die Anreise bezahlt. Der Empfang fand im Hotel Rossija statt. Jurzew war sehr liebenswürdig, unterhielt sich mit Bekannten, aber plötzlich wurde er sehr blass und verließ den Raum. Nach einiger Zeit kam er zurück und sah wieder ganz frisch und munter aus. Er begann erneut, im Raum umherzugehen und sich mit Bekannten zu unterhalten. Aber dann unterbrach er das Gespräch, das er gerade führte, ging ein Stück zur Seite und holte ein Päckchen mit Tabletten aus seiner Hosentasche. In diesem Moment sah er nicht sehr gut aus. Er schob sich eine Tablette unter die Zunge und brach im nächsten Moment zusammen. Etwa zehn Minuten später war er tot. Das ist im Grunde alles.«

»Was für Tabletten waren das?«

»Natürlich pures Gift. Er hatte ein ganzes Päckchen davon bei sich, es war neben ihm auf den Boden gefallen. Solche Tabletten kann man nirgends kaufen, es war kein legales Erzeugnis. Aber wenn es bei uns ganze Laboratorien gibt, die illegal Drogen herstellen, dann dürfte es kein Problem sein, auch tödliches Gift zu produzieren. Die Frage ist nur, warum er diese Tabletten mit sich herumgetragen hat, noch dazu in dieser Menge. Hatte er vielleicht vor, die ganzen Gäste zu vergiften?«

»Und das Päckchen, in dem die Tabletten waren?«

»Es war nur ein Blatt Papier aus Jurzews eigenem Notizbuch. Darin waren die Tabletten eingewickelt. Prima, was?«

»Besser könnte es nicht sein. Und was will dein Chef in dieser Situation von mir?«

»Ich vermute, er will mit den Kollegen von der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens Wettrennen spielen. Aber lass mich weitererzählen. Die Obduktion der Leiche hat ergeben, dass bei Jurzew keinerlei ernsthafte gesundheitliche Schäden Vorlagen, Herz und Kreislauf waren in einem für sein Alter durchaus zufrieden stellenden Zustand. Es bleibt also unklar, warum ihm auf dem Empfang so plötzlich schlecht geworden ist. Etwa eine halbe Stunde vor seinem Tod hatte er ein Medikament eingenommen, das zur Gruppe der Benzodiazepine gehört, Diazepam oder etwas in dieser Art. Diese Präparate helfen nicht gegen Schmerzen und werden nicht bei chronischen Erkrankungen angewandt. Die Frage ist, warum er es eingenommen hat.«

»Warum nimmt man so etwas überhaupt ein?«, fragte Stassow. »Sind das nicht Beruhigungsmittel? Hatte Jurzew irgendwelchen Stress?«

»Vielleicht. Fragt sich nur, warum. Die Gäste des Empfangs, die befragt wurden, konnten dazu nichts Aufschlussreiches sagen. Jurzew hatte mit niemandem Ärger oder Streit, alles verlief völlig friedlich. Aber es stellt sich eine andere Frage: Woher hatte er das Benzodiazepin? Man fand bei ihm kein entsprechendes Fläschchen oder Päckchen. Bedeutet das, dass er eine einzige solche Tablette in seiner Hosentasche herumgetragen hat? So etwas gibt es nicht. Wenn jemand gesundheitliche Probleme hat und auf ein Medikament angewiesen ist, dann trägt er es in ausreichender Menge bei sich. Er steckt nicht eine einzelne Tablette ein, sondern nimmt das ganze Päckchen mit.«

»Das leuchtet ein. Du meinst also, dass ihm jemand die Tablette gegeben hat?«

»Genau das meine ich. Ihm ist schlecht geworden, er ist in die Halle hinausgegangen, um sich eine Weile hinzusetzen und zu erholen, und irgendein wohlmeinender Mensch hat ihm die Tablette gegeben. Aber keiner von den Gästen weiß etwas davon. Warum?«

»Weil er die Tablette von jemandem bekommen hat, der nicht zu den Gästen des Empfangs gehörte. Irgendein zufälliger Hotelgast.«

»Stassow, reiß dich am Riemen«, sagte Nastja empört. »Deine Phantasie geht mit dir durch. Du wirst doch nicht im Ernst glauben, dass an einem Ort, wo zu jedem Gast mindestens ein Bodyguard gehörte, ein zufälliger Hotelgast auftauchen konnte. Jeder Gast musste eine persönliche Einladung vorweisen. Nicht einmal eine Maus hätte durch eine Ritze dieser heiligen Hallen schlüpfen können, wo sich schwerreiche Ölmagnaten und Mafiosi ein Stelldichein gaben.«

»Vielleicht hast du Recht. Aber wie ist das alles dann zu erklären?«

»Ich habe keine Ahnung«, seufzte Nastja. »Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht kannst du mir ja helfen, du bist schlauer als ich.«

»Schmeichle dich nicht bei mir ein«, lachte Stassow. »Wie viele Leute waren auf diesem Empfang?«

»Etwa hundert. Ich weiß, worauf du anspielst, Stassow. Aber das ist unrealistisch. Diese Arbeit kann bei uns nur Mischa Dozenko machen, aber es handelt sich um hundert Personen mit ihren Bodyguards, und er ist allein. Das ist Arbeit für zwei Monate.«

Stassow schwieg und zwinkerte Nastja nur verschmitzt zu. Die Taktik lag auf der Hand. Sollten die Mitarbeiter der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens ruhig Jurzews Umfeld überprüfen, seine Verbindungen zu kriminellen Kreisen, seine Geschäftspartner und Konkurrenten. Währenddessen würden Gordejews Mitarbeiter in aller Stille ihre konservative Ermittlungsarbeit weiterführen und herauszufinden versuchen, ob ein Fremder auf dem Empfang gesehen wurde. Zwar kannten sich auf Veranstaltungen dieser Art die Leute untereinander bei weitem nicht alle, aber es gab schließlich Ermittlungsbeamte, die ihre Sache verstanden. Besonders solche wie Mischa Dozenko, der berühmt war für seine Kunst der Zeugenbefragung.

* * *

Nach zwei Tagen hatte Nastja ihre Erkältung überwunden. Ihre Stimmung wurde sofort besser, und sie stürzte sich Hals über Kopf in die Auswertung der Zeugenaussagen, die inzwischen im Zusammenhang mit Jurzews mysteriösem Tod Vorlagen. In der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens hatte man tatsächlich ein Ermittlerteam gebildet, aber Gordejew hielt Wort, er teilte Selujanow ein und ließ Nastja in Ruhe. Doch diese trügerische Ruhe währte nicht lange.

»Schon wieder eine prominente Leiche«, verkündete Gordejew, als er Nastjas Büro betrat und sich auf einem freien Stuhl niederließ.

»Wer ist es diesmal?«

»Ein hoher Beamter der Generalstaatsanwaltschaft. Er wurde heute Morgen ermordet. Mach dir keine Hoffnungen, das Hauptkomitee wird den Fall nicht übernehmen. Der Mörder wurde am Tatort gefasst.«

»Und was wollen Sie dann von mir?«, fragte Nastja erstaunt. »Irritiert Sie etwas?«

»Nicht im Geringsten. Am Tatort waren tausend Augenzeugen. Der Mörder hat das Opfer direkt vor dessen Haustür erschossen. Am helllichten Tag, unter den Augen der entsetzten Passanten. Aber er kann nicht erklären, warum er es getan hat.«

»Ein Verrückter? Oder tut er nur so, als sei er verrückt?«

»Das werden die Ärzte herausfinden. Aber ich möchte, dass du ihn mal im Zusammenhang mit anderen unaufgeklärten Mordfällen unter die Lupe nimmst und herausfindest, woher er die Waffe hatte.«

»Was sagt er denn? Dass er sie gefunden oder per Post zugestellt bekommen hat? «

»Das ist es ja, Kindchen. Er sagt überhaupt nichts Sinnvolles, sondern redet nur wirres Zeug.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Er sagt zum Beispiel, dass er den Revolver seinem Nachbarn gestohlen hat.«

»Und wer ist der Nachbar?«

»Ausgerechnet ein Mitarbeiter der Miliz. Aber ihm wurde nie ein Revolver gestohlen.«

»Ist das sicher, oder lügt er vielleicht?«

»Vielleicht lügt er. Ich habe Korotkow zu ihm geschickt, damit er ihn sich mal anschaut, und dich möchte ich bitten, dich ein wenig mit der Persönlichkeit dieses schießwütigen Psychopathen zu befassen. Wir haben in Moskau Dutzende solcher Mordfälle. Vielleicht lassen sich irgendwelche Zusammenhänge hersteilen. Wenn er wirklich verrückt ist, ist das vielleicht bei weitem nicht seine erste Heldentat. Und dann brauchen wir uns nicht zu wundern, dass die Mordfälle unaufgeklärt geblieben sind. Ein geistesgestörter Mörder ist am schwersten zu fassen, das weißt du ja selbst.«

Natürlich wusste Nastja das. Am Anfang der Aufklärung eines Mordfalles stand von jeher die Frage: Qui prodest? Wem nutzt es? Finde das Motiv, und du findest den Mörder. Aber wenn man nicht herausfinden konnte, wem der Tod des Opfers nutzte, wurde alles sehr kompliziert. Es konnte sein, dass der Täter sein Opfer nicht einmal kannte, dass er es völlig willkürlich ausgewählt hatte, und dann musste man nach einem Psychopathen suchen, dessen Motive völlig im Dunkeln lagen.

Gegen Abend holte Nastja ihre Unterlagen über unaufgeklärte Verbrechen aus dem Safe und breitete sie vor sich auf dem Schreibtisch aus. Für den Anfang beschloss sie, sich auf die Fälle der letzten drei Jahre zu beschränken, danach konnte sie weiter zurückgehen, falls es nötig werden sollte.

Jeder unaufgeklärte Mordfall war in ihren Unterlagen einer bestimmten Gruppe zugeteilt. Die Zuordnung des Falles hing von verschiedenen Faktoren ab. Zum Beispiel davon, ob der Mörder von Zeugen gesehen worden war oder nicht, auf welche Weise die Tat begangen wurde, auch die Persönlichkeit des Opfers spielte eine Rolle, ebenso Tatort, Jahreszeit, Wochentag, Uhrzeit und so weiter. Es gab auch die Gruppe der Morde mit »unverhältnismäßiger Gewaltanwendung«. Das waren die Morde, bei denen das Opfer mit besonders vielen Schüssen oder Messerstichen getötet wurde.

Der Mord an dem Beamten der Generalstaatsanwaltschaft wurde an einem belebten Ort begangen, am Morgen eines Wochentags. Die Anzahl der Schüsse hätte genügt, um damit vier Menschen zu töten. Der Mörder war vierundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, er hatte ein ungesund wirkendes, aufgeschwemmtes Gesicht. So weit, so gut, sagte sich Nastja. Was folgte nun daraus?

Sie fand in ihren Unterlagen zwei Fälle, in denen der Mörder als mittelgroßer junger Mann mit aufgeschwemmtem Gesicht beschrieben wurde. Der erste der beiden Morde wurde im Frühjahr 1993 begangen. Der Täter hatte die Schüsse ebenfalls aus nächster Nähe abgegeben, das Opfer war ein auf den ersten Blick völlig unauffälliger Mann, der sich jedoch als geschickter Erpresser erwies. Damals hatte sich die ganze Ermittlungsarbeit auf den Kreis der Personen konzentriert, die zu den Erpressten gehören konnten, aber der Mörder war unter ihnen nicht zu finden gewesen. Der Revolver, aus dem die Schüsse abgegeben wurden, wurde nach kurzer Zeit gefunden, aber es befanden sich keine Fingerabdrücke darauf. Der Mörder hatte ihn sorgfältig abgewischt.

Der zweite Mordfall hatte sich Ende 1994 ereignet, aber die Tat wurde in diesem Fall nicht mit einem Revolver begangen, sondern mit einem Messer. Nastja legte diesen Fall erst einmal beiseite und beschloss, sich den Mord an dem Erpresser näher anzuschauen. Natürlich stellte sich die Frage, wo der am heutigen Tag gefasste Mörder im Frühjahr 1993 gewesen war und was er zu dieser Zeit gemacht hatte. Vielleicht war er gar nicht in Moskau gewesen, dann erübrigten sich weitere Nachforschungen.

Das Läuten des Telefons ließ Nastja zusammenzucken.

»Wie sieht es aus, teure Freundin?«, hörte sie ihren Mann sagen. »Machst du noch nicht Feierabend?«

»Ist es denn schon so spät?«, fragte sie, ohne die Augen von den Blättern auf ihrem Schreibtisch zu heben.

»Jedenfalls später, als du denkst. Ich will ja nicht drängeln, aber es wäre ganz nett, wenn du bald nach Hause kommen würdest.«

»Wieso? Brauchst du mich?«, fragte Nastja begriffsstutzig.

»Nein, natürlich nicht«, lachte Alexej. »Wozu sollte ich dich brauchen? Mit dir hat man ja doch nur Ärger. Aber wir haben deinen Bruder für heute Abend eingeladen, er wird in einer halben Stunde hier sein.«

»O Gott, Ljoscha, verzeih!«, stöhnte sie auf. »Das habe ich völlig vergessen. Ich mache mich sofort auf den Weg. Aber warte. Warum hast du gesagt, dass Sascha in einer halben Stunde da sein wird? Kommt er etwa ohne Dascha?«

»Dascha ist längst hier. Und während du und dein Bruder durch Abwesenheit glänzt, begehen wir hier Ehebruch.«

»Gleich beide auf einmal?«

»Nein, nur ich. Ich betrüge dich, während Dascha ihrem Mann die Treue hält. Kommst du nun oder nicht?«

»Ich bin schon auf dem Weg, Ljoscha. Sag Sascha, dass er mich an der Metro abholen soll, ja?«

Sie packte ihre Unterlagen schnell ein und begann, sich anzuziehen. Es war ihr wirklich peinlich. Sie hatten ihren Halbbruder und seine Frau nach Ewigkeiten wieder einmal zu sich eingeladen, und sie kam zu spät. Natürlich würde ihr das niemand übel nehmen, aber trotzdem . . .

An der Metrostation erblickte sie sofort das Auto ihres Halbbruders.

»Hallo, Sascha«, sagte sie, während sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm. »Verzeih mir bitte meine Dummheit.«

»Schon gut«, lachte Alexander Kamenskij. »Von dir ist nichts anderes zu erwarten.«

Er küsste seine Halbschwester, dann betrachtete er sie aufmerksam aus der Nähe.

»Du bist irgendwie . . .« Er verstummte und suchte nach dem richtigen Ausdruck.

»Wie bin ich? Gefällt dir etwas nicht?«

»Nein, so kann man es nicht sagen . . . Aber du siehst irgendwie verändert aus. Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. Als wärst du eine andere geworden. Hast du Unannehmlichkeiten?«

»Nein, eigentlich nicht«, sagte sie mit einem Schulterzucken.

»Und du fühlst dich ganz normal?«

»Eigentlich sogar sehr gut.«

»Sagst du auch die Wahrheit?«

»Natürlich sage ich die Wahrheit. Was ist denn los, Sascha? Bei mir ist alles in Ordnung, wirklich.«

»Nein, ich glaube dir nicht«, widersprach er hartnäckig, während er den Motor anließ. »Ich fühle, dass mit dir etwas nicht stimmt.«

Sie waren schon die halbe Strecke bis zum Haus gefahren, als Nastja sich plötzlich anders besann.

»Du hast Recht, Sascha«, sagte sie. »Mit mir stimmt wirklich etwas nicht.«

»Bist du krank?«, fragte ihr Halbbruder beunruhigt.

»Nein, es ist etwas anderes. Ich war vor kurzem auf einer Dienstreise. . .«

»Ja, ich erinnere mich, Ljoscha hat davon erzählt. Und was war auf dieser Dienstreise?«

»Ich habe einen sehr seltsamen Menschen kennen gelernt. Und aus irgendeinem Grund beunruhigt mich das ständig.«

»Du lieber Gott«, rief Alexander aus. »Hast du dich etwa verliebt?«

Nastja lachte laut auf. Die Vermutung ihres Bruders kam ihr völlig aberwitzig vor.

»Warum lachst du? Willst du mich erschrecken?«

»Nein, keine Angst, ich habe mich nicht verliebt. Kein Gedanke.«

»Und was ist es dann?«

»Genau das kann ich nicht verstehen. Und deshalb bin ich beunruhigt. Weißt du, ich habe das unangenehme Gefühl, dass ich etwas gesehen habe, etwas sehr Wichtiges, aber ich habe es nicht ernst genommen. Und das quält mich.«

»Die Sorgen einer Ermittlungsbeamtin? Das ist erlaubt«, sagte Kamenskij großmütig. »Hauptsache, Ljoscha muss nicht leiden.«

»Natürlich«, stichelte Nastja, »du denkst nur an ihn und nicht an mich.«

»Männersolidarität«, lächelte er. »Wir sind da. Lass uns schnell hinaufgehen, ich habe Hunger. Dein Mann muss etwas unglaublich Köstliches gekocht haben. Er hat mir nicht erlaubt, die Küche zu betreten, aber der Geruch in der Wohnung war Schwindel erregend.«

Sascha hatte Recht. Der Geruch erreichte sie bereits im Treppenhaus und war wirklich verlockend. Dascha kam ihnen entgegen und fiel Nastja um den Hals.

»Ich habe dich so vermisst, Nastjenka!«

Nastja war überrascht. Sie hatten sich erst vor zwei Wochen gesehen. Der kleine Sascha war acht Monate alt geworden, und Nastja war zu den beiden gefahren, um zu gratulieren. Aber sie zweifelte nicht an Daschas Aufrichtigkeit. Diese junge Frau war einfach von Natur aus nicht in der Lage, sich zu verstellen. Dafür liebte Nastja sie auch so.

»Wem hast du heute meinen einzigen Neffen überlassen?«, fragte sie, während sie ihre Jacke abnahm und auf einen Bügel hängte.

»Seiner Großmutter.«

»Welcher?«

Dascha deutete mit dem Kopf auf ihren Mann.

»Meiner Schwiegermutter.«

»Und wie ist es mit Saschas und meinem Vater? Nimmt er keinen Anteil am Wohl seines Enkels?«

»Aber nicht doch, Nastja«, sagte Dascha vorwurfsvoll. »Pawel Iwanowitsch ist ein sehr besorgter Großvater, er hilft uns ständig. Bist du ihm böse, weil er deiner Mutter nicht geholfen hat, dich großzuziehen?«

»Er hat auch meiner Mutter nicht sehr dabei geholfen, mich großzuziehen«, bemerkte Alexander. »Immerzu war er auf Geschäftsreisen. Aber man sagt ja nicht umsonst, dass das erste Kind die letzte Puppe ist und erst der Enkel das erste Kind. Wahrscheinlich stimmt das. Wenn du erst einmal ein eigenes Kind hast, Nastja, dann wirst du schon sehen. Sein Großvater wird ihm nicht mehr von der Seite weichen.«

»Das glaube ich nicht«, lächelte Nastja, die merkte, dass das Gespräch in die falsche Richtung ging. »Wenn ich irgendwann ein Kind haben sollte, dann wird es für Pawel Iwanowitsch bereits der zweite Enkel sein. Und das ist etwas ganz anderes.«

»Was ist eigentlich los dort draußen«, ertönte Alexejs Stimme aus der Küche. »Wollt ihr ewig so im Flur stehen und die Familiendramen der Kamenskijs diskutieren? Wollen wir uns nicht endlich an den Tisch setzen?«

Alexej kochte hervorragend, die Getränke, die zum Essen gereicht wurden, waren ebenfalls ausgezeichnet, und schon nach einer Viertelstunde herrschte eine entspannte, fröhliche Atmosphäre. Nastja bemerkte allerdings, dass Dascha sehr zurückhaltend aß, dass sie jedes Mal zu überlegen und zu zögern schien, bevor sie sich etwas auf den Teller legte. Die alkoholischen Getränke rührte sie überhaupt nicht an, obwohl sie mit den anderen das Glas hob und anstieß.

»Dascha!«, sagte Nastja streng. »Was ist mit dir los? Machst du etwa eine Diät?«

»Nein«, murmelte Dascha irritiert und sah aus irgendeinem Grund zur Seite.

»Warum isst du dann so wenig? Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du nicht abnehmen darfst, solange du dein Kind stillst.«

»Ich stille nicht«, sagte Dascha, diesmal noch leiser. »Schon seit zwei Monaten nicht mehr.«

»Wie bitte? Willst du damit sagen, dass . . .«

Dascha nickte und errötete.

»Du bist verrückt geworden!«, meinte Nastja entsetzt. »Sascha ist erst acht Monate alt. Wie willst du das schaffen mit zwei so kleinen Kindern? Was geht bloß vor in deinem Kopf!«

»Ich schaffe es«, sagte Dascha mit einem freudigen Lächeln. »Da kannst du ganz sicher sein. Und dein Kind ziehe ich auch noch auf, wenn es so weit ist. Du würdest doch nie im Leben deine Arbeit aufgeben, während ich sowieso den ganzen Tag zu Hause sitze. Schimpf nicht mit mir. Ich wünsche mir so sehr eine kleine Nastja.«

»Dabei wird es doch nicht bleiben, erzähl mir nichts. Anschließend wirst du einen kleinen Alexej wollen, das hast du ja bereits angedeutet. Und danach noch irgendjemanden. Weiß Sascha es schon?«

»Natürlich. Er hat es sogar als Erster gewusst.«

»Wie meinst du das? Er kann es schließlich nicht vor dir selbst gewusst haben, oder?«

»Doch, stell dir vor, er hat es sogar vor mir selbst gewusst. Eines Morgens wacht er auf, schaut mich an und sagt: Dascha, ich glaube, wir werden eine kleine Nastja haben. Zuerst habe ich es nicht geglaubt, ich dachte, er macht einen Witz. Aber ein paar Tage später wurde mir klar, dass er Recht hatte. Verrückt, was?«

»Ja, verrückt«, stimmte Nastja zu. »Dascha, du bist ein tolles Mädchen. Ich beglückwünsche dich, und Sascha natürlich auch.«

Die beiden Frauen unterhielten sich leise über dies und das, während die Männer laut und heftig über die Chancen der Präsidentschaftskandidaten bei den bevorstehenden Wahlen diskutierten. In Daschas Anwesenheit überkam Nastja gewöhnlich ein stilles, friedliches Gefühl. Aber heute wollte sich dieses Gefühl nicht einstellen. Die Unruhe, die seit der Begegnung mit Pawel Sauljak in ihr war, ließ nicht nach, etwas nagte ständig an ihr, und sie konnte nichts dagegen tun.

* * *

Ihr Leben lang hatten sie drei Träume verfolgt. Den einen, in dem sie starb, träumte sie, wenn etwas mit ihrem Herzen oder Blutdruck nicht in Ordnung war. Im zweiten Traum stand sie auf einer hohen Felsenklippe und wusste, dass sie im nächsten Moment in die Tiefe stürzen würde, weil sie nicht von dem Felsen hinabsteigen konnte. Aber dann kam ihr der rettende Gedanke. Auf irgendeine Weise war sie auf den Felsen hinaufgekommen, und deshalb musste es möglich sein, dass sie auf demselben Weg auch wieder hinunterkam.

Auch der dritte Traum war bedrückend. Nastja machte ihren Schulabschluss und wusste, dass sie einen Teil der Prüfungen nicht bestehen würde. Sie hatte zusammen mit Alexej eine Schule mit den Schwerpunkten Mathematik und Physik besucht, aber seltsamerweise träumte sie, dass sie ausgerechnet in Mathematik und Physik versagen würde, da sie in beiden Fächern seit der sechsten Klasse nie mehr etwas gemacht hatte. Schreckliche Schuldgefühle überfielen sie im Traum. Sie hatte die ganzen Jahre verbummelt, sie hatte alles falsch gemacht, und jetzt musste sie dafür bezahlen. Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg, aber schließlich begriff sie, dass es keinen Ausweg gab, dass es zu spät war. Die Verzweiflung, die sie im Traum überfiel, war so abgrundtief, dass sie sich mit aller Gewalt zwang, endlich aufzuwachen.

Genau dieser Traum hatte sie auch in dieser Nacht wieder heimgesucht. Sie erwachte, schlüpfte leise aus dem Bett, um Alexej nicht zu wecken, und schlich auf Zehenspitzen in die Küche. Es war erst kurz nach fünf Uhr und dazu Samstag. Heute hätte sie bis in die Puppen schlafen können, aber sie wusste, dass sie es gar nicht erst zu versuchen brauchte.

In der Küche war es kalt, sie nahm ein Streichholz und zündete das Gas auf dem Herd an. Dann setzte sie Kaffeewasser auf. Es hatte sowieso keinen Sinn, noch einmal ins Bett zu gehen, sie würde sich nur herumwälzen und Ljoscha beim Schlafen stören. Sie verspürte plötzlich Hunger, öffnete den Kühlschrank und holte einen Teller mit kalten Kalbsschnitzeln heraus, ein Spezialgericht ihres Mannes. Sie schnitt sich eine dicke Scheibe Brot ab, belegte es mit einem Schnitzel und begann nachdenklich zu kauen und dazu den heißen Kaffee zu schlürfen. Warum ging ihr Sauljak nicht aus dem Kopf? Was stimmte nicht mit ihm?

Besaß er vielleicht hypnotische Fähigkeiten? Daran wäre nichts Besonderes gewesen, es gab Tausende von Leuten, die sich darauf verstanden. Jeder halbwegs gute Psychiater beherrschte diese Technik und wandte sie zur Heilung seiner Patienten an. War es Sauljaks besondere Verschlossenheit? Unsinn. Schließlich war sie selbst auch nicht gerade die Offenherzigkeit in Person. War es seine Unergründlichkeit? Wer sagte denn, dass sie, Anastasija Kamenskaja, die Klügste und Scharfsinnigste von allen war und jeden und alles verstehen musste? Als würde es auf der Welt nicht zahllose Dinge und Menschen geben, die sie nicht verstand. Aber nie hatte sie das so beunruhigt wie bei Pawel Sauljak. Warum? Was stimmte nicht mit ihm? Was war es nur?

»Erwischt, du Vielfraß«, ertönte plötzlich Ljoschas Stimme hinter ihrem Rücken. »Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn man nachts Hunger hat. Bist du vielleicht krank?«

»Ich habe schlecht geträumt«, sagte sie mit einem schuldbewussten Lächeln. »Habe ich dich geweckt? Entschuldige bitte, mein Schatz.«

»Macht nichts, es ist ja Wochenende, ich werde noch genug Zeit zum Schlafen haben. Was hast du denn Böses geträumt?«

»Lach nicht, ich habe geträumt, dass ich Prüfungen in Mathe und Physik ablegen muss, aber von nichts eine Ahnung habe.«

»Wie bitte?« Er brach in so herzhaftes Gelächter aus, dass Nastja unwillkürlich den Kopf einzog. »Du warst in Physik und Mathe besser als ich, und ich habe es schließlich bis zum Professor gebracht. Was für einen Unsinn du im Kopf hast!«

»Na bitte, wir sind noch nicht einmal ein Jahr verheiratet, und schon beschimpfst du mich«, bemerkte Nastja seufzend. »Aber lassen wir diesen blöden Traum, Ljoscha. Es geht nicht darum.«

»Und worum geht es nach deiner Meinung?«

»Die Frage ist, warum ich ihn geträumt habe.«

»Aha, das klingt interessant.«

Alexej zog einen Stuhl zu sich heran und setzte sich Nastja gegenüber an den Tisch. Er streckte die Hand nach Nastjas Kaffeetasse aus, nahm einen Schluck und stellte die Tasse wieder ab.

»Und warum hast du ihn geträumt, diesen physikalisch-mathematischen Unsinn?«

»Ganz offensichtlich deshalb, weil mich irgendwo in meinem Unterbewusstsein der Gedanke quält, dass ich einen Fehler gemacht habe. Und jetzt muss ich für diesen Fehler bezahlen. Aber ich komme einfach nicht darauf, was ich falsch gemacht habe, was für ein Fehler das war.«

Vor Ärger auf sich selbst schlug sie mit der Faust auf den Tisch und verzog schmerzhaft ihr Gesicht.

»Und auf welche Art und Weise musst du jetzt bezahlen? Weißt du wenigstens das?«

»Nein, auch das weiß ich nicht.«

»Kann es sein, dass du dir das alles nur einbildest, Nastjenka? Du kennst weder den Fehler noch seine Folgen.«

»Vielleicht bilde ich es mir nur ein«, stimmte sie zu. »Aber man bildet sich doch nicht grundlos etwas ein, Ljoscha. Irgendetwas muss da gewesen sein. Aber ich komme einfach nicht darauf. Und darum kriege ich hysterische Zustände, als wäre ich mitten im Klimakterium.«

»Schon gut, schon gut, du bist eine Hysterikerin, ich habe alles verstanden. Gehen wir noch mal ins Bett, oder ist die Nacht zu Ende?«

»Wie spät ist es?«

»Sechs Uhr.«

»Du lieber Gott, so früh noch? Der ganze Samstag ist dahin. Warum komme ich nie aus dem Bett, wenn ich zur Arbeit muss, und wenn ich bis zum Mittag schlafen könnte, stehe ich mitten in der Nacht auf. . .«

»Komm, wir gehen noch mal ins Bett und versuchen einzuschlafen. Obwohl. . . du hast ja bereits Kaffee getrunken. Dann gehen wir eben spazieren.«

»Wie bitte?« Nastja sah ihren Mann fassungslos an. »An einem Samstagmorgen um sechs, mitten im Winter? Ich bin zwar verrückt, aber so verrückt nun auch wieder nicht.«

»Warum denn nicht?«, entgegnete Ljoscha ungerührt. »Es ist schön frisch draußen, leere Straßen, alle schlafen noch, selbst die Hunde werden jetzt noch nicht ausgeführt. Die pure Romantik. Wir gehen ein Stündchen spazieren, danach frühstücken wir mit gesundem Appetit und gehen mit frischen Köpfen an die Arbeit. Ich muss einen Vortrag vorbereiten. Und was hast du zu tun?«

»Was soll ich schon zu tun haben, Ljoscha! Bei mir regnet es Leichen, wie immer, Leichen in jeder Ausführung und für jeden Geschmack.«

»Wirst du den Computer brauchen?«

»Heute nicht. Höchstens morgen. Heute muss ich Unterlagen durchsehen, nachdenken und noch mal nachdenken.«

»Dann sollten wir erst recht spazieren gehen. Komm, Nastja, zieh dich an, überleg nicht lange.«

Wahrscheinlich hat er Recht, dachte Nastja, während sie sich lustlos erhob und anzukleiden begann. Es ist gar nicht schlecht, an die frische Luft zu gehen, während es draußen noch dunkel, still und menschenleer ist, wenn man von nichts abgelenkt und bedrängt wird.

Nach einer Stunde kehrten sie nach Hause zurück. Nastjas Stimmung hatte sich deutlich verbessert, sie verschlang zum Frühstück mit großem Appetit die Reste des Festessens vom Vortag und stellte dann enttäuscht fest, dass ihr die Augen wieder zufielen. Um nicht im Sitzen einzuschlafen, räumte sie schnell den Küchentisch ab und breitete die Unterlagen darauf aus, die sie aus dem Büro mitgebracht hatte.

Bis etwa zehn Uhr war es völlig still in der Wohnung, man hörte nur das leise Klappern von Tasten. Ljoscha saß am Computer und arbeitete an seinem Vortrag. Nastja war es gelungen, sich zu konzentrieren, eifrig verglich sie Fakten und unterschiedliche Zeugenaussagen miteinander. Dann unterbrach das Läuten des Telefons die himmlische Ruhe.

»Nastja, du hörst und siehst natürlich nach wie vor keine Nachrichten«, hörte sie Oberst Gordejew sagen.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte sie.

»Das solltest du aber tun. In St. Petersburg hat sich jemand erschossen. Ich vermute, das wird dich interessieren.«

»Wer denn?«

»Ein gewisser Gleb Armenakowitsch Mchitarow.«

»Wer soll denn das sein?«

»Nastja, deine politische Uninformiertheit grenzt an Analphabetentum. So geht das einfach nicht. Ich weiß, du hast deine Prinzipien, aber das geht zu weit. Dieser Mchitarow gehört zur Anhängerschaft des Präsidentschaftskandidaten Malkow. Hast du wenigstens diesen Namen schon einmal gehört?«

»Ja, den ich habe ich schon mal gehört.«

»Und dieser Mann von der Staatsanwaltschaft, den der Geistesgestörte auf der Straße erschossen hat, gehört ebenfalls zu Malkows Anhängerschaft. Klingelt es?«

»Nicht schlecht«, sagte Nastja mit einem Pfiff durch die Zähne. »Hat man die Jagd auf die Rivalen des Präsidenten eröffnet?«

»Es sieht so aus. Aber mit Mchitarow ist alles nicht so einfach. Er hat sich offenbar tatsächlich selbst erschossen. Morgen werden wir Genaueres wissen, aber bis jetzt gibt es keinerlei Anzeichen für einen Mord. In einer Stunde werde ich eine Liste mit den Namen der wichtigsten Gefolgsleute von Malkow auf dem Tisch haben. Diese Stunde muss dir reichen, um ins Büro zu kommen. Hast du alles verstanden?«

»Ich habe verstanden.«

Sie warf den Hörer auf die Gabel und zog sich ihre Jacke an.

* * *

In der Metro war es warm und fast menschenleer. Nastja setzte sich in eine Ecke und spürte plötzlich, wie müde sie war. Das kommt davon, wenn man die Nacht zum Tage macht, dachte sie träge und kämpfte mit aller Macht gegen den Schlaf an, der sie übermannen wollte. Nachdem sie an der Station Tschechowskaja ausgestiegen war, fühlte sie sich plötzlich so schwach, dass sie ins nächstbeste Cafe ging und eine Tasse Kaffee trank. Danach wurde es besser. Als sie endlich die Petrowka erreicht hatte, waren ihre Lebensgeister wieder vollständig zurückgekehrt.

Nastja schloss ihr Büro auf, legte ab und ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie sich auf die bevorstehende Arbeit freute. Jura Korotkow hatte Recht, wenn er sagte, dass die Arbeit an einem ungelösten Fall für sie süßer war als jedes Bonbon.

Kaum war ihr Korotkow eingefallen, als dieser auch schon höchstpersönlich erschien. Auch er kam am Samstag gern ins Büro, ebenso wie Nastja, nur hatte er andere Gründe dafür. Er war nicht gern zu Hause bei seiner Frau.

»Hat Knüppelchen dich angerufen?«, fragte er. »Aus irgendeinem Grund braucht er dich dringend. Er ist zum General gegangen, und ich soll aufpassen, dass du nicht wieder wegläufst. Ich habe eine Idee, Nastja, und bin bereit, sie dir zu verkaufen.«

»Was willst du dafür haben?«

»Liebe und Freundschaft, wie immer. Etwas anderes ist bei dir doch sowieso nicht zu holen.«

»Her mit der Idee.«

»Erinnerst du dich, wen unser Freund Stassow geheiratet hat?«

»Er hat Tatjana geheiratet. Warum?«

»Wie kann man nur so begriffsstutzig sein! Wer ist denn unsere Tatjana?«

»Genau, Korotkow. Du bist ein Genie!«

Stassows Frau Tatjana lebte in St. Petersburg und war Untersuchungsführerin. Nastja wählte sofort Stassows Nummer. Zum Glück hatte er ein Handy und war immer zu erreichen.

»Wlad, könntest du mal deine Frau anrufen?«, fragte sie ohne Umschweife.

»Könnte ich. Warum?«

»In St. Petersburg hat sich ein gewisser Mchitarow erschossen. Meinst du, man kann es Tatjana zumuten, dass sie sich ein paar Gedanken über die Sache macht?«

»Das weiß ich nicht. Sie mag es eigentlich nicht, wenn sich jemand in ihre Angelegenheiten einmischt. Sie hat ihre Prinzipien, und ihre Unabhängigkeit als Untersuchungsführerin ist ihr heilig.«

»Dann erkläre ich es dir kurz. Vor ein paar Tagen wurde in Moskau ein hoher Beamter der Generalstaatsanwaltschaft ermordet. Man hat den Mörder festgenommen, er tut so, als sei er nicht zurechnungsfähig. Der Moskauer Beamte und Mchitarow gehören zu einer politischen Gruppierung, an deren Spitze ein gewisser Malkow steht. Es wäre nicht schlecht, die Umstände etwas näher zu betrachten, unter denen Mchitarow gestorben ist. Womöglich hat er sich ja gar nicht selbst erschossen. Das ist im Grunde alles.«

»Ich habe verstanden, was du willst. Ich bin ja nicht auf den Kopf gefallen«, lachte Stassow. »Wo bist du im Moment?«

»Im Büro.«

»Ich rufe zurück«, sagte er und legte auf.

Im nächsten Moment erschien Gordejew in Nastjas Büro. Er sah grimmig und geradezu beleidigt aus.

»Da bist du ja. Das ist gut. Setz dich, Kindchen, und hör mir aufmerksam zu. Eben haben wir die Nachricht bekommen, dass Malkow ebenfalls ermordet wurde. Nicht in Moskau allerdings, sondern bei sich zu Hause.«

»Donnerwetter«, entfuhr es Korotkow. »Wer war es denn?«

»Stell dir vor, seine eigene Tochter. Sie hat ihren Vater und ihre Mutter erschossen. Eine verrückte Drogenabhängige. Hier ist die Liste der Leute, die hinter Malkow standen und ihn als Präsidentschaftskandidaten unterstützten. In einer Stunde möchte ich hören, was euch dazu eingefallen ist. Das betrifft auch dich, Jura.«

Gordejew drehte sich um und verließ das Büro, ohne ein weiteres Wort zu sagen.