ACHTES KAPITEL

Der Präsident bildete schließlich doch zwei Kommissionen, die Vorschläge zur Lösung der Tschetschenienkrise erarbeiten sollten, und Solomatin freute sich seiner weisen Voraussicht. Pawel hatte versprochen, alles dafür zu tun, dass der Präsident seine ganz persönliche Entscheidung treffen würde. Er war noch nicht höchstselbst bei Solomatin erschienen, aber er hatte ihn angerufen.

»Ich kann Ihre Sorgen und Motive nachvollziehen«, hatte er gesagt. »Ich verstehe wenig von Politik, zumal ich zwei Jahre lang praktisch von der Welt abgeschnitten war. Aber ich bin ein Mensch, der Stabilität und Gewohnheiten schätzt. Ich bin zufrieden mit der Politik des jetzigen Präsidenten und sehne mich nicht nach Veränderungen. Deshalb bin ich bereit, Ihnen zu helfen, damit alles bleibt, wie es ist.«

Solomatin war zufrieden mit Sauljaks Versprechen und verzichtete darauf, ihn in seine wahren Motive und wirklichen Sorgen einzuweihen.

Solomatins Tragödie bestand darin, dass der Präsident, den er schon seit seiner Jugend kannte und über die Maßen verehrte, ihn niemals wahrgenommen und als seinen treuesten Gefolgsmann erkannt hatte.

Im Windschatten des Präsidenten war Solomatin zu großem Wohlstand und Einfluss gekommen, aber dafür hatte er auch viele persönliche Opfer gebracht. Und seinem sehnlichsten Wunsch, die Achtung und Freundschaft seines Idols zu gewinnen, war er kein noch so kleines Stückchen näher gekommen.

Sein ganzes Leben lang hatte Wjatscheslaw Jegorowitsch Solomatin seinem Idol ergeben gedient, aber nach fünfundvierzig Jahren war plötzlich der Ehrgeiz in ihm erwacht. Enttäuscht stellte er fest, dass sein Idol ihn gar nicht wahrnahm, weil andere sich in den Vordergrund drängten, Wichtigtuer und Ellenbogenmenschen, während er, Solomatin, sich immer abseits gehalten und stillschweigend seine Arbeit gemacht hatte. Immer hatte er darauf gewartet, dass sein Idol ihn endlich bemerken würde. Ach, Slawa, Slawa, würde er dann gesagt haben, wir sind einen langen Weg miteinander gegangen, Schulter an Schulter, und immer warst du eine verlässliche Stütze für mich. Ohne dich hätte ich nichts im Leben erreicht. Und diese Worte hätte dann nicht nur Wjatscheslaw Jegorowitsch gehört, sondern jedermann im ganzen Land. Das hätte ihm genügt, um zu wissen, dass er nicht umsonst gelebt hatte. Aber sein Idol schwieg.

In der ersten Amtszeit des Präsidenten war es Solomatin nicht gelungen, auf sich aufmerksam zu machen. Und jetzt setzte er seine ganze Hoffnung darauf, dass der Präsident wieder gewählt wurde. Aber dafür musste man etwas tun. Und Wjatscheslaw Solomatin hatte sein Leben lang alles selbst gemacht, er hatte sich nie auf andere verlassen.

* * *

Schon von Anfang an, seit Solomatin seinem Idol zu folgen begann, wurden ihm Aufgaben auf dem Gebiet der Wissenschaft und Bildung übertragen. Es war schwer zu sagen, ob das Zufall oder Absicht war, aber wohin Solomatin seinem Idol auch folgte, immer wurde ihm ein Posten an einer Universität oder an einem wissenschaftlichen Institut zugeteilt, mal als Personalleiter, mal als Parteisekretär. Deshalb konzentrierte er sich jetzt nicht auf wirtschaftliche Probleme, sondern auf die Tschetschenienkrise, wenn er seine geringen Möglichkeiten erwog, dem Präsidenten im Wahlkampf nützlich zu sein. Er hatte gute Beziehungen zu den wissenschaftlichen Instituten der Hauptstadt, mit vielen ihrer Mitarbeiter war er gut bekannt, und es war ihm völlig klar, dass die Vorschläge zur Lösung der Tschetschenienfrage nicht die vom Präsidenten gegründeten Kommissionen erarbeiten würden, sondern die Mitarbeiter dieser Institute. So war es in früheren Zeiten gewesen, so war es auch jetzt.

Solomatin setzte vor allem auf ein Institut. Es war dem Ministerium für Inneres unterstellt und beschäftigte Fachleute für Konfliktbewältigung, die Probleme wie die Tschetschenienkrise im Rahmen umfangreicher Themenkreise bearbeiteten. Die Kollektive, die sich diesen Themen widmeten, bestanden aus Politologen, Soziologen, Juristen, Militärs, Wirtschaftsfachleuten und sogar Psychologen und Psychiatern.

Kurz, das Institut besaß große Fachkompetenz, es analysierte die Dinge mit aller Gründlichkeit und Sorgfalt, was man von anderen wissenschaftlichen Institutionen, die ihr intellektuelles Potenzial in den Dienst der Regierung stellten, nicht behaupten konnte.

Solomatin musste sich nur darüber klar werden, wie es ihm gelingen konnte, die Studie, die das Institut erstellen würde, schon vorab in die Hände zu bekommen. Es war ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, aber Pawel Sauljak hatte sich bereit erklärt, ihm zu helfen. Und dieser Sauljak hatte ja schon des Öfteren bewiesen, dass ihm nichts unmöglich war.

* * *

Der Leiter des Instituts, das sich auf Anweisung einer der vom Präsidenten eingesetzten Kommissionen mit Lösungsvorschlägen zur Tschetschenienkrise befasste, Pjotr Pawlowitsch Sergun, musste an diesem Tag mit der Metro nach Hause fahren. Auf den Straßen war es glatt, deshalb hatte er darauf verzichtet, sein Auto zu nehmen. Es war schon nach zehn Uhr abends, als er das Institutsgebäude verließ.

Das Institut befand sich im Stadtzentrum, in einem Labyrinth aus gewundenen Gassen mit brüchigem Kopfsteinpflaster. Ständig fiel hier die Straßenbeleuchtung aus, und bei jedem Schritt musste man darauf gefasst sein, dass man hinfallen und sich ein Bein brechen konnte. In der Umgebung des Instituts befanden sich drei Metrostationen, aber alle drei waren gleich weit entfernt und unbequem zu erreichen.

Pjotr Pawlowitsch konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit darauf, wohin er seinen Fuß setzte, um nicht zu stolpern oder auszurutschen, deshalb hatte er nicht bemerkt, woher dieser Mann plötzlich aufgetaucht war. Ob er ihn überholt hatte, aus der Gegenrichtung gekommen oder von der Seite an ihn herangetreten war.

»Pjotr Pawlowitsch?«, fragte der Mann mit dunkler, angenehmer Stimme.

»Ja«, sagte Sergun mechanisch und sah den Fremden erstaunt an.

Vor ihm stand ein gut gekleideter Mann seines eigenen Alters, er hatte dichtes graues Haar und dunkle, ausdrucksvolle Augen.

»Bitte schenken Sie mir ein paar Minuten Zeit. Ich werde Sie nicht lange aufhalten.«

»Verzeihen Sie«, sagte Sergun, der noch seine Dienstkleidung trug, eine Uniform, deren Schulterklappen ihn als Oberst auswiesen. »Es ist schon spät, ich bin in Eile. Außerdem kenne ich Sie nicht. Wenn Sie eine Frage an mich haben, besuchen Sie mich bitte in meinem Büro.«

»Wie sollte ich Sie in Ihrem Büro besuchen«, entgegnete der grauhaarige Fremde freundlich, »wenn mir dort der Zutritt ohne Sondergenehmigung nicht gestattet ist. Und anrufen kann ich Sie auch nicht, da ich Ihre Telefonnummer nicht kenne.«

Es ist besser, ihn jetzt anzuhören, dachte Sergun. Wenn ich ihm meine Telefonnummer gebe, werde ich ihn womöglich nicht mehr los.

»Gut«, stimmte er zu, »wir können uns auf dem Weg zur Metro unterhalten.«

»Verzeihen Sie, wahrscheinlich bin ich schlecht erzogen«, erwiderte der Fremde, »aber wenn ich mit einem Menschen spreche, muss ich ihm ins Gesicht sehen können, so wie es sich für einen Mann ja auch gehört. Mit jemandem, der ständig auf seine eigenen Füße sieht und nur mit dem Gedanken beschäftigt ist, nicht auszurutschen und hinzufallen, kann ich mich nicht unterhalten.«

Sergun empfand plötzlich Sympathie für diesen Mann. »Wir könnten uns auf eine Bank setzen«, schlug er vor und deutete in Richtung Grünanlage.

Sie gingen zu einer der Bänke und setzen sich. Pjotr Pawlowitsch stellte seine Aktentasche auf den Knien ab und wandte sich dem Fremden zu, der ihm mit jeder Sekunde sympathischer wurde, obwohl er nichts von Bedeutung sagte oder tat.

»Ich höre«, sagte Sergun und merkte, dass seine Zunge plötzlich seltsam schwer geworden war und ihm kaum noch gehorchte.

Er wollte anfangen, sich zu wundern, aber dazu kam er nicht mehr. Er fühlte plötzlich die warmen Finger des Mannes an seinen Händen, und gleich darauf überkam ihn eine Ruhe, als hätte er eben ein Bad genommen und läge jetzt zu Hause in seinem warmen, weichen Bett. Alles das kam ihm ganz selbstverständlich vor, und ebenso selbstverständlich erwartete er die Befehle, die der Mann ihm jetzt erteilen würde.

»Wann müssen Sie die Studie im Ministerium vorlegen?«

»Am Mittwoch, dem Einundzwanzigsten.«

»Wie weit sind Sie im Moment mit der Arbeit?«

»Die Recherchen sind alle gemacht, aber der Text muss noch geschrieben werden.«

»Wie viel Zeit werden Sie dafür brauchen?«

»Viel.«

»Wie viel?«

»Sehr viel. Aber wir werden es schaffen, wir haben viel Erfahrung und können sehr schnell arbeiten.«

»Hören Sie mir jetzt gut zu, Pjotr Pawlowitsch. Sie müssen diesmal noch schneller arbeiten als sonst. Haben Sie mich verstanden? Die Studie muss bereits fünf Tage vor dem Abgabetermin fertig sein und in meine Hände gelangen. Mir genügt eine Diskette, Sie müssen den Text nicht ausdrucken. Sie werden die fertige Studie in den zwei Tagen bis zum Abgabetermin niemandem zeigen und nichts davon verlauten lassen, dass sie bereits abgeschlossen ist. Lässt sich das einrichten?«

»Ich weiß nicht. Es ist schwierig. Es arbeiten viele Leute daran mit.«

»Sagen Sie ihnen, dass Sie die Studie nach Hause mitgenommen haben und sie noch einmal genau durchlesen wollen. Es handelt sich schließlich um ein sehr verantwortungsvolles Schriftstück, niemand wird sich wundern, wenn Sie es noch einmal genau überprüfen wollen. Sie müssen das tun, Pjotr Pawlowitsch. Sie müssen. Und Sie werden. Am nächsten Freitag werden Sie die Diskette mit dem fertigen Text an sich nehmen und nach Hause gehen. Auf dem Heimweg wird Sie jemand ansprechen und die Diskette von Ihnen entgegennehmen. Bis zum Freitag bleiben drei Tage. In diesen drei Tagen werden Sie in Trance sein. Sie werden zur Arbeit gehen, Ihre Pflichten erfüllen, Entscheidungen treffen, aber bei alledem werden Sie wissen, dass ich ein Teil von Ihnen bin, ein Teil Ihres Bewusstseins, Sie werden wissen, dass ich anwesend bin und sehr genau darauf achte, ob Sie meine Befehle befolgen. Sie werden niemandem etwas von unserer Begegnung sagen, sich aber immer daran erinnern, was Sie zu tun haben. Und Sie werden alles so gut wie möglich machen und die Frist einhalten, die ich Ihnen gesetzt habe. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja«, sagte Sergun mit tonloser Stimme.

* * *

Am Freitag begegnete Pjotr Pawlowitsch Sergun auf dem Nachhauseweg erneut dem grauhaarigen Mann mit den funkelnden dunklen Augen und übergab ihm die Diskette mit dem sechzigseitigen Text der Studie. Dieses Mal hatte der Fremde eine große Tasche bei sich, der er einen Laptop entnahm. Er stellte ihn an und schob die Diskette hinein. Sergun hatte genau das mitgebracht, was man von ihm verlangt hatte. Rifinius hatte nicht daran gezweifelt, aber für alle Fälle musste er die Diskette überprüfen. Womöglich hatte sie irgendeinen raffinierten Schreibschutz und konnte nicht geöffnet werden. Oder Sergun hatte aus Versehen eine falsche Diskette eingesteckt. Alles war möglich . . . Sobald er Sergun aus der Trance herausgeführt hatte, würde es zu spät sein. Doch alles erwies sich als vollkommen in Ordnung.

»Sie werden sich nicht mehr daran erinnern, wie ich aussehe«, sagte Karl Rifinius, während er Sergun ansah und seine Hand festhielt. »Aber Sie werden sich an alles erinnern, was zwischen uns vorgefallen ist. Sie werden sich daran erinnern, dass Sie mir die Diskette mit dem Text der Studie fünf Tage vor dem Ablieferungstermin übergeben haben. Und wenn Sie erfahren, dass jemand diese Arbeit als die seine ausgibt, werden Sie sich nicht wundern und nicht darüber aufregen. Sie werden sagen, dass das eine zufällige Übereinstimmung ist, dass ein anderer einfach vor Ihnen auf diese Gedanken gekommen ist. So etwas kommt in der Wissenschaft öfter vor, das ist nichts Außergewöhnliches. Ich möchte, dass Sie verstehen, was ich mache, denn nur dann werden Sie mir vertrauen können. Ich könnte Ihr Gedächtnis blockieren, und dann würden Sie sich nicht mehr erinnern, dass wir uns getroffen und dass Sie mir die Diskette gegeben haben. Aber dann würde alles ganz anders aussehen. Denn morgen werden Sie wieder zur Arbeit gehen, und nach einigen Tagen werden Sie durch die Medien erfahren, dass jemand Ihre Gedanken als die seinen ausgibt. Ohne die Erinnerung an unser Treffen würden Sie sich furchtbar aufregen und in den Reihen Ihrer Mitarbeiter denjenigen suchen, der nicht dichtgehalten und geheime Informationen nach draußen gegeben hat. Aber Sie würden den Verräter nicht finden. Sie würden Unschuldige verdächtigen, Ihre Untergebenen gegen sich aufbringen, und letzten Endes würde alles ans Licht kommen, es würde sich herausstellen, dass Sie selbst es waren, der die Studie aus dem Institut hinausgeschleust und an einen Fremden weitergegeben hat. Und dann würden Sie erledigt sein, als Wissenschaftler und als Militär. Deshalb ist es wichtig, dass Sie sich an alles erinnern, was geschehen ist, damit Sie keine Dummheiten machen. Wenn Sie sich richtig verhalten, wird nie jemand etwas erfahren. Werden Sie alles tun, was ich Ihnen befohlen habe?«

»Ja, ich werde alles tun.«

»Wiederholen Sie, was Sie tun müssen.«

»Ich kenne Sie nicht, ich kann mich nicht daran erinnern, wie Sie aussehen. Ich habe nur jemandem eine Diskette gegeben, aber ich habe keine Ahnung, wer das war und warum ich das getan habe. Und ich darf zu niemandem davon sprechen.«

»Richtig, Pjotr Pawlowitsch. Sie werden jetzt aus der Trance erwachen. Gehen Sie langsam, ganz langsam hinter mir her, vertrauen Sie mir . . .«

* * *

Grigorij Valentinowitsch Tschinzow war in einem Zustand, der an Panik grenzte. Von Malkows Leuten sprang einer nach dem anderen über die Klinge, und es waren genau die, die an vorderster Front standen, die mächtigsten und verlässlichsten Verbündeten in ideologischer und in finanzieller Hinsicht. Aus völlig unersichtlichen Gründen hatte Jurzew sich das Leben genommen, und das direkt auf einem Empfang im Hotel Rossija. Augenzeugen berichteten allerdings, dass er von Anfang an sehr schlecht ausgesehen hatte und offenbar völlig verwirrt war. Er hatte mit einem Bankier über einen Kredit verhandelt, aber die Verhandlung war gescheitert. Daraufhin hatte er sich ein paar Schritte entfernt, irgendein Gift aus seiner Hosentasche geholt und es, ohne zu zögern, geschluckt. Natürlich war es auch möglich, dass Jurzew sich gar nicht selbst umgebracht hatte, sondern von seinen Gegnern aus dem Weg geräumt worden war. Er war knallhart, der verblichene Oleg Iwanowitsch, er kannte keine Gnade, und vielleicht hatte ihn jetzt die Vergeltung ereilt.

Am selben Abend hatte Leonid Isotow, dieser halbseidene Abgeordnete, den Verstand verloren und seine eigene Frau unter ein Auto gestoßen, wahrscheinlich im Suff. Der Teufel musste ihn geritten haben! Oder womöglich die Eifersucht. Jetzt saß er im Gefängnis, seine Immunität als Abgeordneter interessierte niemanden mehr, nachdem er seine Frau vor aller Augen praktisch ermordet hatte. Was für ein Idiot, lieber Gott, was für ein Idiot!

Und Semjonow, dieser hirnlose Bastard, hatte einen Autounfall gebaut. Er war schon von Jugend an so und hatte sich nie geändert. Für ihn galten keine Regeln. Betrunken Auto fahren – das war das Einzige, was er konnte.

Das alles war vor drei Tagen geschehen. Und gestern, nachdem das ganze Land den Besuch des Präsidenten in seiner Heimatstadt auf dem Bildschirm verfolgt hatte, hatte sich Jewgenij Schabanow erhängt. Sollte er das aus freien Stücken getan haben? Nie und nimmer. Natürlich hatte man nachgeholfen. Schabanow hatte zu viel des Guten getan, auch er kannte kein Maß. Tausendmal hatte man ihn gewarnt: immer schön langsam und vorsichtig, bevor du einen Schritt nach vorn tust, musst du erst zwei nach hinten machen. Aber nein. Jetzt hatte er es geschafft, er hatte aus dem Besuch des Präsidenten in seiner Heimatstadt eine Zirkusnummer gemacht. Und nur einem kompletten Dummkopf konnte verborgen bleiben, dass das alles die Absicht eines Einzelnen war. Wer hatte den Tagesablauf geplant? Natürlich Schabanow. Wer hatte dem Präsidenten geraten, in aller Herrgottsfrühe das Grab seiner Eltern zu besuchen? Natürlich einer, der wusste, dass die Temperaturen in diesen Breitengraden um diese Tageszeit bei minus dreißig Grad lagen. Wer hatte den Text seiner Rede bearbeitet? Alles das hatte natürlich Schabanow getan. Offenbar hatte er in seinem Leben nicht genug zu lachen, dieser Knallkopf, deshalb hatte er aus dem Präsidenten einen Clown gemacht. Er hätte sich lieber eine Zirkuskarte kaufen sollen, wenn ihm so danach war, sich totzulachen.

Der Präsident hatte schließlich nicht nur Feinde, sondern auch Freunde. Und weiß Gott nicht wenige. Schabanows Tod war natürlich bedauerlich. Immerhin hatte man in ihm einen Verbündeten im allernächsten Umfeld des Präsidenten gehabt. Ohne ihn würde es nicht einfach sein. Aber andererseits geschah es ihm recht, er war selbst schuld.

So dachte Grigorij Valentinowitsch in der Nacht, in der er von Schabanows Tod erfuhr. Doch schon am nächsten Tag nahmen seine Gedanken eine ganz neue Richtung. Gegen zwei Uhr erreichte ihn eine neue Schreckensbotschaft: Ein Mann aus Malkows Team, der im Fall des Wahlsieges bereits als neuer Innenminister vorgesehen war, war das Opfer eines Verbrechens geworden. Ein Wahnsinniger hatte direkt vor seiner Haustür mehrere Schüsse auf ihn abgegeben. Natürlich hatte man den Mann sofort festgenommen, denn das Verbrechen hatte sich morgens um zehn ereignet, auf einer belebten Straße. Aber die Tatsache, dass man den Mörder gefasst hatte, machte auch nichts besser, der potenzielle zukünftige Minister erlag noch vor Eintreffen der Miliz und des Rettungswagens seinen Verletzungen.

Und da begriff Grigorij Valentinowitsch, dass genau die Leute ins Jenseits befördert wurden, die sich vor Pawel Sauljaks Freilassung aus der Strafkolonie gefürchtet hatten. Diejenigen, in deren Interesse man vor einigen Jahren »Säuberungen« in Regierungskreisen verschiedener Landesregionen vorgenommen hatte. Diejenigen, die diese Regionen zu Umschlagplätzen für Waffen und Drogen gemacht hatten. Sollte jemand davon Wind bekommen haben und nun dafür sorgen, dass die Konkurrenten sukzessive beseitigt wurden?

Das kann nicht sein, sagte sich Tschinzow. Das ist Unsinn. Jurzew hat sich selbst vergiftet, jeder hat das gesehen. Isotow hat seine Frau selbst unter das Auto gestoßen. Sollte es ein Racheakt gewesen sein, dann war wahrscheinlich nicht er gemeint, sondern seine Frau. Semjonow hat den Autounfall selbst verursacht, niemand hat bei ihm im Auto gesessen. Und Schabanow? Es ist kaum anzunehmen, dass er sich freiwillig erhängt hat, die Leute von der Gegenseite werden nachgeholfen haben. Wahrscheinlich haben sie sich dafür gerächt, dass Schabanow den Präsidenten lächerlich gemacht hat. Und dieser Mann, den der Wahnsinnige erschossen hat? Es ist einfach die Tat eines Geisteskranken, nichts weiter. Ich muss aufhören, mir dummes Zeug einzureden, sagte sich Grigorij Valentinowitsch entschieden. Es kann nur ein Zufall sein.

Und doch war es nicht so einfach, den Verdacht loszuwerden. Und vor allem fiel der Verdacht natürlich auf Pawel Sauljak. Aber schon wenige Minuten später besann sich Tschinzow und lachte auf. Was tat hier Pawel zur Sache? Was ging ihn das alles an? Verständlich wäre es gewesen, wenn er angefangen hätte, Geld für sein Schweigen zu verlangen. Aber was hätte er davon gehabt, diese Leute umzubringen? Gar nichts. Sie hatten ihm persönlich nichts getan, er hatte keinen Grund, Rechnungen mit ihnen zu begleichen. Und die Tatsache, dass er selbst Kontakt aufgenommen und seine bezahlten Dienste angeboten hatte, bewies, dass er gesunden Menschenverstand besaß, und ein praktisch denkender, unsentimentaler Mensch war. Nein, Pawel Sauljak stand in keinerlei Beziehung zu alledem.

Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass fünf von Malkows Leuten nicht mehr am Leben waren. Und man hatte genau diejenigen beseitigt, die die größten Summen für den Wahlkampf zur Verfügung stellten. Hinter Malkow stand ein mächtiges kriminelles Finanzvolumen, das durch den Handel mit Waffen, Drogen und »lebender Ware« erworben worden war. Malkow war nicht der einzige, fast jeder Präsidentschaftskandidat hatte eine mehr oder weniger kriminelle Geldmenge im Rücken. Ob Erdöl oder Gas, Schwerindustrie oder die Banken – jede Interessengruppe verfolgte ihre eigenen Ziele, jede wollte ihren Mann an die Macht bringen, das alles war hinlänglich bekannt.

Schon zu Zeiten der Sowjetmacht hatte es Leute gegeben, die so genannte Fenster an den Grenzen organisierten und beträchtliche Summen von denen kassierten, die diese Fenster nutzten. Unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft blühte die Spekulation, rührige Schwarzhändler verschoben durch die illegalen Schlupflöcher im Zoll alle möglichen Waren zwischen den Staaten des einstigen sozialistischen Lagers, Massenbedarfsgüter wie Kosmetika, Kleidung, technische Geräte und anderes. Zu Beginn der neunziger Jahre kamen die bisher so knappen Konsumgüter ganz legal in die Geschäfte, aber die so genannten Fenster blieben bestehen. Es stellte sich die Frage, wie man sie unter den neuen Bedingungen so Gewinn bringend wie möglich nutzen konnte. Hinter Malkow standen genau jene Leute, die jetzt diese Fenster kontrollierten und über sichere Beziehungen zum Zoll verfügten. Sie waren es auch gewesen, die Verbindung zu Wladimir Wassil-jewitsch Bulatnikow aufgenommen hatten, der ihnen geholfen hatte, die Rahmenbedingungen für ihre Geschäfte zu schaffen. General Bulatnikow hatte natürlich beseitigt werden müssen. Er wusste zu viel. Und Leute, die zu viel wussten, konnte niemand gebrauchen.

Inzwischen waren von den sieben Leuten, die die Spitze des Unternehmens gebildet hatten, nur noch zwei am Leben. Sergej Ge-orgijewitsch Malkow, der Präsidentschaftskandidat, und ein gewisser Gleb Armenakowitsch Mchitarow, der im Fall von Malkows Wahlsieg Finanzminister werden sollte.

* * *

Auf Mchitarow setzte Pawel Garik und Rifinius an. Im Grunde hielt Sauljak nichts von Gemeinschaftsaktionen und war lange Zeit darauf bedacht gewesen, dass die Mitglieder seiner Gruppe sich nicht kennen lernten. Das war besser und ungefährlicher für alle. Es ging nicht nur darum, überflüssige Mitwisserschaft zu vermeiden, sondern auch darum, keine Konkurrenz und Eifersucht aufkommen zu lassen.

Einmal jedoch hatte sich der Einsatz von zwei Leuten nicht vermeiden lassen. Pawel hatte hin und her überlegt, aber wie er es auch drehte und wendete, eine Person allein hätte diese Aufgabe nicht bewältigen können, und er musste Garik Asaturjan und Karl Rifinius miteinander bekannt machen. Aber das war die einzige Ausnahme von der Regel geblieben.

Mchitarow lebte in St. Petersburg, er hatte den Kaliningrader Hafen und die Grenze nach Finnland unter seiner Kontrolle. Garik und Karl fuhren mit dem »Roten Pfeil« nach St. Petersburg, in einem Schlafwagenabteil für zwei Personen.

Die Zugbegleiterin war ein sympathisches Pummelchen mit fröhlichen Augen und appetitlichen Grübchen in den Wangen.

»Was wünschen die Herren?«, fragte sie. »Tee, Kaffee, belegte Brote, Kekse, Waffeln?«

»Für mich bitte Tee«, sagte Karl.

»Für mich bitte auch«, schloss Garik sich mit einem Augenzwinkern an. »Ob die gute Fee vielleicht auch ein Scheibchen Zitrone für mich hätte?«

»Für einen guten Menschen haben wir alles«, erwiderte die Zugbegleiterin lachend.

Garik bemerkte mit einem Seitenblick, dass sich der Gesichtsausdruck seines Partners verändert hatte und dieser offenbar zu überprüfen beschlossen hatte, ob das gemeinsame Arbeiten noch funktionierte. Immerhin brauchte man dafür Übung, und die erste und einzige gemeinsame Aktion lag schon so weit zurück . . .

»Seien Sie so nett und nehmen Sie auch mich in die Kategorie der guten Menschen auf«, sagte er, und Garik bemerkte, dass sich nicht nur sein Sprechrhythmus verändert hatte, sondern auch die Intonationen und die Atmung. Es war ihm schnell gelungen, sich auf das Pummelchen einzustellen.

»Sie nehme ich in die Kategorie der soliden Menschen auf«, scherzte die Zugbegleiterin.

»Gilt für die soliden ein anderes Angebot an Speisen und Getränken?«, mischte Garik sich ein, wobei er versuchte, in demselben Rhythmus zu sprechen wie sie. »Dann muss ich über die Sache nachdenken. Vielleicht sollte ich in diesem Fall die Kategorie wechseln. Was raten Sie mir? Betrachten Sie meinen Kollegen doch bitte mal mit Ihrem erfahrenen weiblichen Blick, und sagen Sie mir, warum ich immer so viel Pech habe.«

Die Zugbegleiterin richtete ihren Blick gehorsam auf Rifinius, und nun nahmen die beiden sie in die Zange. Karl wirkte über Augenkontakt auf sie ein, über Mimik und Gestik, während Garik ohne Punkt und Komma redete und dabei immer versuchte, ihren Sprach- und Atemrhythmus zu imitieren.

»Ich mache schon seit Jahren Dienstreisen mit ihm, und es ist immer dasselbe. Er ist immer jedermanns Liebling, und mich bemerkt man kaum neben ihm . . .«

Karl gab Garik ein unmerkliches Zeichen, und Garik verstummte. Die Zugbegleiterin hatte sich mit dem Rücken an die Tür gelehnt und sah Karl unverwandt an. Sie schien nicht einmal bemerkt zu haben, dass Garik zu reden aufgehört hatte.

Die Pause war nur ganz kurz, nur jemand mit sehr viel Erfahrung hätte bemerken können, was hier vor sich ging. Garik fuhr fort.

»Sie werden jetzt in Ihr Abteil zurückgehen und zwei Gläser Tee mit Zitrone für uns machen. Dann werden Sie auf einen Zettel eine Zeile aus Ihrem Lieblingslied schreiben und auf einen anderen eine Zeile aus Ihrem Lieblingsgedicht. Danach werden Sie uns den Tee bringen, und mit ihm zusammen die beiden Zettel. Gehen Sie jetzt.«

Die Zugbegleiterin drehte sich um, öffnete mit Mühe die Abteiltür und ging hinaus auf den Gang. Nach einigen Minuten kehrte sie mit einem Tablett in der Hand zurück. Neben den Teegläsern lagen zwei gefaltete Blätter Papier auf dem Tablett. Das Lieblingslied der Zugbegleiterin war »Der blaue Waggon« aus einem bekannten Zeichentrickfilm, ihr Lieblingsgedicht »Ich habe so lange um Liebe gefleht« von Semjon Nadson. Garik steckte die beiden Zettel ein, holte die Frau aus der Trance und schloss die Tür, hinter der sie verschwand.

»Eine interessante Mischung, nicht wahr?«, sagte Karl nachdenklich. »Ein simples Kinderliedchen und daneben das wenig bekannte Gedicht eines Künstlers, der nicht in der Schule durchgenommen wird und an den sich überhaupt kaum noch jemand erinnert. Seltsam.«

»Wissen Sie eigentlich, warum wir diesmal zu zweit arbeiten sollen?«, fragte Asaturjan, ohne weiter auf das Seelenleben der Zugbegleiterin einzugehen, und nahm einen Schluck von dem inzwischen abgekühlten Tee. »Gibt es Probleme?«

»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Rifinius mit einem Schulterzucken. »Man muss nur die psycholinguistische Herkunft des Objekts berücksichtigen.«

»Was muss man berücksichtigen?«, Garik sah seinen Partner verständnislos an.

»Mchitarow ist ein russifizierter Armenier, und da Sie ebenfalls gebürtiger Armenier sind, wird es Ihnen nicht schwer fallen, mit entsprechenden Schlüssel- und Reizwörtern auf sein Unterbewusstsein einzuwirken. In manchen Fällen ist es sehr nützlich, mit der Muttersprache des Objekts zu arbeiten, besonders dann, wenn das Objekt diese Sprache schon lange nicht mehr gesprochen hat. Indem man Wörter und Begriffe benutzt, die untrennbar mit der frühen Kindheit verbunden sind, erreicht man, dass das Objekt in einen Zustand frühkindlicher Abhängigkeit und Unterwürfigkeit zurückversetzt wird und dadurch bedingungslos gehorcht. Ich kann kein Armenisch, aber Sie können es. Aus diesem Grund werden Sie bei dieser Aktion gebraucht. Die andere Sache ist die, dass Herr Mchitarow sich wegen Schlaflosigkeit und überhöhter Reizbarkeit des Öfteren in ärztliche Behandlung begeben hat. Ich schließe nicht aus, dass dies die Symptome einer psychischen Anomalie sind. In diesem Fall muss bei ihm eine besondere Methode angewandt werden. Ich werde ihn mir mit den Augen des Fachmanns ansehen und mich auf ihn einstellen. Vielleicht muss ich bei ihm von meiner üblichen Arbeitsmethode abweichen.«

Mehr gab es nicht zu sagen, gegen halb elf gingen die beiden schlafen. Am nächsten Morgen, pünktlich um acht Uhr neunundzwanzig, rollte der »Rote Pfeil« unter das Gewölbe des Moskauer Bahnhofs in St. Petersburg.

* * *

Sergej Georgijewitsch Malkow war Gouverneur eines großen Gebietes. In dieser Region gab es natürlich keine illegalen Aktivitäten. Das eigene Nest musste man rein halten, das war eine eiserne Regel. Malkow hielt sich oft in Moskau auf, ob in dienstlichen oder privaten Angelegenheiten, aber Michail Larkin hielt es für besser, ihn in seinen häuslichen Verhältnissen aufzusuchen. Pawel war damit einverstanden.

Malkow war ein dicker, kahlköpfiger, immer schwitzender Mann. Er hatte ein rundes, mondförmiges Gesicht mit kleinen blauen Augen, die durchaus warm und freundlich dreinblicken, aber auch gefährlich blitzen und Funken sprühen konnten. Seine Kinder waren ihm frappierend ähnlich. Auch sie waren stark überernährt, verweichlicht und unbeweglich. In ihrem Wesen waren die beiden Geschwister allerdings sehr unterschiedlich. Der Sohn stand kurz vor dem Schulabschluss, er hatte verschiedene Wettbewerbe in Literatur, Fremdsprachen und Geschichte gewonnen und wollte im Sommer mit dem Studium beginnen. Mit ihm hatten die Eltern keine Probleme. Die Tochter des Gouverneurs hingegen war ganz anders, sie bereitete ihren Eltern von jeher nur Kopfschmerzen.

Mit zwanzig Jahren hatte Angelique bereits die zweite Ehescheidung hinter sich und wurde drogensüchtig. Mit fünfundzwanzig durfte man sie kaum noch aus dem Haus gehen lassen. Sie hatte sich in eine Irre verwandelt, die sich nur noch für drei Dinge interessierte: für gutes, reichliches Essen, für Sex in jeder nur erdenklichen Form und für Heroin. Das Heroin war sicherlich ihre gefährlichste Leidenschaft, außerdem kostete es eine Menge Geld. Aber Angelique ließ sich nicht aufhalten, wenn es um die Befriedigung ihrer Wünsche ging. Sie war rücksichtslos, absolut zynisch und setzte sich mit der Gewalt einer Panzerdivision über alles hinweg, was sich ihr in den Weg stellte.

Michail Larkin betrat die Villa des Gouverneurs mit einem großen Rosenstrauß in der Hand. Er wurde erwartet, denn er hatte vorher angerufen und sich lange mit Angeliques Mutter unterhalten.

»Ich heiße Arkadij Grinberg«, hatte Larkin sich mit angenehmer Stimme vorgestellt. »Wissen Sie, ich habe Ihre Tochter vor einigen Jahren kennen gelernt, als ich ein Gastspiel in Ihrer Stadt hatte.«

»Sind Sie Künstler?«

»Ich bin Musiker und spiele in einem Symphonieorchester. Bekannte haben mir gesagt, dass Angelique sich stark verändert hat. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen . . .«

»Ich verstehe Sie sehr gut«, sagte die Ehefrau des Gouverneurs sarkastisch. »Ich sitze tagaus, tagein zu Hause und passe auf sie auf. Kaum lasse ich sie aus den Augen, geht sie auf und davon, und nie weiß man, womit ihre Ausflüge enden. Ich möchte nichts vor Ihnen verheimlichen, Arkadij, denn über unser Unglück weiß sowieso die ganze Stadt Bescheid. Wir sind machtlos dagegen.«

»Ich kann das nicht glauben«, sagte Larkin, bemüht, möglichst viel Entsetzen und Erschütterung in seine Stimme zu legen. »Wissen Sie, ich hatte damals eine Beziehung zu Ihrer Tochter, und ich glaube, sie hat mich wirklich geliebt. Ich bin fast sicher, dass ich das Gute wieder erwecken könnte, das sie in sich hat. Es kann doch nicht einfach verschwunden sein. Nur ist es wahrscheinlich nicht jedem gegeben, es in ihr zu erkennen.«

»Ich fürchte, Sie erliegen einem Irrtum«, sagte Malkows Frau mit einem traurigen Seufzer. »In meiner Tochter ist nichts Gutes mehr. Manchmal bitte ich Gott darum, dass sie stirbt, so schrecklich das klingen mag.«

»So dürfen Sie nicht denken!«, widersprach Larkin. Jeder Mensch hat etwas Gutes in sich. Ich bin davon überzeugt, dass Angelique sich verändern wird, wenn ich mit ihr spreche und sie an unsere Liebe erinnere. So starke Gefühle hinterlassen immer Spuren in einem Menschen.«

»Sie können es ja versuchen«, sagte Malkows Frau, nicht im Geringsten bemüht, ihren Unglauben zu verbergen.

Und so war Michail gekommen, um es zu »versuchen«. Er hatte sich absichtlich Arkadij Grinberg genannt, denn er wusste, wie viel Wert man in seinem Land auf Namen und Nationalitäten legte, wie magisch der Name Arkadij Grinberg klang. Ein junger Mann, der so hieß, konnte nur ein ehrenhafter, anständiger Jude sein. Er nahm auf keinen Fall Drogen, und er war natürlich Musiker.

Malkows Frau war eine stattliche Dame mit angenehmen, verblühenden Gesichtszügen. Nachdem Michail ihr einen Rosenstrauß überreicht hatte, begleitete sie ihn in das obere Stockwerk der Villa, wo Angelique in ihrem Zimmer saß und auf eine Fluchtmöglichkeit wartete. Das letzte Mal war es ihr gelungen, eine massive Goldkette ihres Vaters an sich zu nehmen, nachdem dieser nach der morgendlichen Massage vergessen hatte, die Kette anzulegen. Dafür hatte sie so viel Heroin bekommen, dass sie sich zwei bis drei Tage keine Sorgen mehr zu machen brauchte.

Michail betrat das Zimmer und verzog angewidert das Gesicht. Angelique wog mindestens hundertzwanzig Kilo und sah nicht gerade gepflegt aus. Er sah sofort, dass sie unter Drogen stand, obwohl die Wirkung bereits nachzulassen schien. Gut so, dachte er, wenn es gelingt, in das innere System ihrer Wahrnehmungen einzudringen, bevor sie auf Entzug kommt, lässt sich alles gleich heute erledigen.

»Salut«, rief die Tochter des Gouverneurs mit kreischender Stimme. »Wer bist du denn?«

Larkin blickte sich um, überzeugte sich davon, dass die Tür hinter ihm geschlossen war, und näherte sich auf Zehenspitzen dem breiten Bett, auf dem Angelique sich fläzte.

»Dornröschen, ich bin dein Prinz«, sagte er leise. »Du hast so lange geschlafen und auf mich gewartet. Jetzt bin ich da. Jetzt werde ich dich aufwecken, und für dich wird ein märchenhaftes Leben beginnen. Bis jetzt hast du geschlafen, und Albträume haben dir zugesetzt, deshalb ist es dir so schlecht gegangen. Hast du mich verstanden?«

»Na klar«, erwiderte Angelique. »Wirst du mich zuerst bumsen und dann aufwecken, oder umgekehrt? «

»Beides gleichzeitig«, sagte Larkin mit einem berückenden Lächeln. »Du wirst dich jetzt ausziehen, und dann werde ich anfangen, dich aufzuwecken. Es wird dir gefallen, du wirst sehen.«

»Meinetwegen«, stimmte sie willfährig zu. »Aber wer bist du denn? Kenne ich dich?«

»Natürlich.«

Michail setzte sich auf den Bettrand und nahm ihre Hand. Angeliques Finger waren aufgedunsen und klebrig. Er bewegte seine Hand vor ihren Augen ein paar Mal hin und her, dann schob er sie unter ihren Nacken.

»Natürlich kennst du mich«, wiederholte er, bemüht darum, ihren Sprech- und Atemrhythmus nachzuahmen. »Ich bin Musiker, ich heiße Arkadij. Arkadij Grinberg. Vor ein paar Jahren war ich mit meinem Orchester zu einem Gastspiel hier, und wir hatten ein Verhältnis. Du hast mich sehr geliebt. Und ich dich auch. Nach meiner Abreise bin ich noch mehrmals zurückgekommen, um dich zu treffen. Dann wolltest du mich nicht mehr sehen. Nicht ich habe dich verlassen, sondern du mich . . .«

Nach zwei Stunden verließ er Angeliques Zimmer, schloss vorsichtig die Tür hinter sich und ging nach unten, wo die Mutter der jungen Frau saß.

»Es ist schrecklich, nicht wahr?«, sagte sie und hob ihren traurigen Blick zu Larkin. »Sie haben sicher nicht erwartet, dass es so schlimm ist. Ich nehme an, Sie haben nichts erreicht.«

»Sie haben Recht«, erwiderte Larkin betrübt. »Sie hat mich nur mit Mühe wieder erkannt. Mein Gott, mein Gott, was ist nur aus ihr geworden. Aber wissen Sie, ich glaube, es besteht trotzdem noch Hoffnung. Es ist mir tatsächlich gelungen, zu dem Guten vorzudringen, das Gute anzusprechen, das in ihr noch nicht ganz abgestorben ist. Und mir scheint, dass sie sich jetzt sogar für ihr Verhalten schämt. Wenn ich nur hier bleiben und sie jeden Tag besuchen könnte. Ich bin überzeugt davon, dass ich sie heilen könnte. Ich fühle, dass ich es könnte.«

»Und was hindert Sie daran?«

»Ich muss verreisen. Schon bald.«

»Sie können wirklich nicht bleiben?«

In der Stimme der Frau war eine leise Hoffnung erwacht. Wenn dieser nette jüdische Musiker nun tatsächlich ihre Tochter retten konnte, wenn er sie alle retten konnte?

»Nein, leider. In zehn Tagen geht unser Orchester auf Gastspielreise nach Australien. Aber vielleicht, wenn ich zurück bin . . .«

In diesem Moment wurden auf der Treppe schwere Schritte hörbar. Beide hoben gleichzeitig die Köpfe und erblickten Angelique. Sie war durchaus anständig gekleidet, gewaschen und sogar gekämmt.

»Habt ihr etwas dagegen, wenn ich Tee für uns aufbrühe?«, fragte sie höflich.

Die Frau des Gouverneurs blickte ihren Gast verblüfft an, so hatte sie ihre Tochter noch nie sprechen gehört.

»Ich danke dir, Angelique«, erwiderte Larkin, wieder ihren Sprechrhythmus imitierend. »Das ist sehr freundlich, aber ich muss leider gehen. Deine Mutter wird sicher sehr gern eine Tasse Tee mit dir trinken.«

»Schade, dass du nicht länger bleiben kannst«, sagte Angelique in demselben ruhigen und höflichen Tonfall. »Ich begleite dich hinaus. Mama, willst du dich hier von unserem Gast verabschieden?«

»Nein, nein, ich komme mit hinaus.«

Die Frau des Gouverneurs sprang auf, sie traten gemeinsam vors Haus. Mutter und Tochter blieben Schulter an Schulter in der Tür stehen, bis Larkin unter den wachsamen Blicken der Leibwächter hinter dem hohen Stahlzaun verschwunden war, der die Villa umgab.

* * *

Die Mutter konnte es nicht fassen. Angelique versuchte nicht, wieder in ihrem Zimmer zu verschwinden, und bot sogar ihre Hilfe im Haushalt an.

»Ich schäme mich so, Mama«, sagte sie. »Ich habe mich einfach abscheulich benommen und ein abscheuliches Leben geführt. Es war, als hätte ich geschlafen und einen langen Albtraum gehabt. Aber jetzt bin ich aufgewacht. Jetzt wird alles anders, ich verspreche es dir.«

Sie sprach leise und ausdruckslos, aber ihre Mutter fand nichts Seltsames daran. Angelique wich ihrer Mutter nicht von der Seite.

»Wann kommt Papa nach Hause?«, fragte sie ständig. »Ich möchte mich bei ihm entschuldigen. Mir ist so schwer ums Herz, ich möchte mich endlich entschuldigen und diese innere Last loswerden. «

Um vier Uhr kam ihr jüngerer Bruder von der Schule nach Hause, er aß schnell etwas und ging auf sein Zimmer. Jetzt würde er vor neun Uhr, bis zum Abendessen, nicht wieder herunterkommen, er würde über seinen Büchern sitzen und lernen.

Gegen acht Uhr hörte man draußen ein Auto Vorfahren.

»Jetzt ist Papa da«, sagte die Mutter mit einem Lächeln.

Im nächsten Moment zerfetzte eine Pistolenkugel ihr den Nacken. Die Unglückselige sollte nie erfahren, dass ihre Tochter gleich darauf in die Diele stürzte und in dem Moment, in dem Malkow auf der Schwelle erschien, erneut auf den Abzug drückte und noch einmal mehrere Schüsse abgab.

* * *

Larkin saß in seinem Hotelzimmer und sah sich die Abendnachrichten auf dem Regionalsender an. Er wollte die Stadt nicht verlassen, bevor er sich davon überzeugt hatte, dass alles nach Plan verlaufen war. Sollte heute etwas nicht geklappt haben, würde er morgen in die Villa zurückkehren müssen, um noch einmal nachzuhelfen. In weiser Voraussicht hatte er für diesen durchaus möglichen Fall vorgesorgt. Nach der rührenden Abschiedsszene vor dem Haus hätten die Leibwächter ihn am nächsten Tag wahrscheinlich ohne weiteres passieren lassen, auch ohne vorherige Ankündigung seines Besuchs.

Doch alles war bereits heute geschehen. Der Nachrichtensprecher kommentierte mit mühsam unterdrückter Empörung die Bilder aus der Villa des Gouverneurs. Seine Frau lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Küchenfußboden, der unförmige, ebenfalls auf dem Boden liegende Körper des Gouverneurs füllte fast die ganze Diele aus. Angelique thronte in stoischer Ruhe auf einem Sessel im Wohnzimmer, umgeben von Ärzten und Mitarbeitern der Miliz. Auf dem kleinen Couchtisch vor ihr lag ein Revolver.

»Woher haben Sie den Revolver?«, fragte ein Mann in Zivil, wahrscheinlich ein Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft.

»Der gehört meinem Vater«, sagte Angelique mit unerwartet kindlicher Stimme. »Mein Vater hat viele Waffen im Haus, ich habe den Revolver gefunden und versteckt.«

»Warum haben Sie das getan?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Aber heute habe ich mich entschlossen, meine Eltern umzubringen.«

»Warum? Warum haben Sie Ihre Eltern umgebracht, Angelique?«

»Damit sie mich endlich in Ruhe lassen. Sie haben mir alles verboten und mir nie Geld gegeben. Ich hatte es satt. . .«

Der Bildbeitrag vom Tatort war zu Ende, auf dem Bildschirm erschien wieder der Nachrichtensprecher.

»Diese schreckliche Tragödie erinnert uns ein weiteres Mal daran, dass es nichts Wichtigeres gibt als den Kampf gegen die böse Macht der Drogen. Drogensüchtige schrecken vor nichts zurück, sie schonen weder Bekannte noch Freunde und nicht einmal ihre Eltern. Deshalb kann jeder von uns schon morgen das nächste Opfer sein.«

Alles bestens, dachte Michail Dawydowitsch, während er die Bettdecke zurückschlug und sich schlafen legte. Morgen geht es wieder nach Hause.

* * *

In den Tageszeitungen waren die hämischen Kommentare über Abgeordnete der Staatsduma, die ihre Ehefrauen einfach unter die Räder vorüberfahrender Autos stießen, noch nicht verstummt, als die Leser eine neue Hiobsbotschaft erreichte, eine Nachricht, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Einer der Präsidentschaftskandidaten war von seiner eigenen drogensüchtigen Tochter erschossen worden. Für Wjatscheslaw Jegorowitsch Solomatin war das eine gute Nachricht, jetzt konnte er freier atmen. Zuerst hatte Schabanow seinen letzten Gang angetreten, und jetzt war ihm Malkow gefolgt, sodass der Präsident einen Rivalen weniger hatte. Das Schicksal meinte es gut mit seinem Idol, es war auf seiner Seite in dem schweren, gerechten Kampf, den er kämpfte.

Am selben Tag teilte der Präsident öffentlich mit, dass die beiden von ihm gebildeten Kommissionen bis zum Ende der Woche ihre wissenschaftliche Studie zur Tschetschenienkrise vorlegen würden. So viel ihm bekannt sei, hätten die Kommissionen sieben Vorschläge zur Beendigung der Krise erarbeitet, aber er, der Präsident, habe bereits eine eigene, achte Variante. Solomatin triumphierte. Es war ihm schließlich doch noch gelungen, mit seinem Vorschlag zum Präsidenten vorzudringen, und dieser hatte ihn endlich bemerkt. Er hatte ihn nicht nur bemerkt, er hatte sich sogar bei ihm bedankt. Wjatscheslaw Jegorowitsch hatte es sich natürlich nicht verkneifen können, den Präsidenten an die alte Bekanntschaft zu erinnern. Der Präsident hatte freundlich gelächelt und so getan, als könne er sich genau erinnern, aber es war völlig offensichtlich gewesen, dass er keine Ahnung hatte, wovon Solomatin sprach. Aber das machte nichts. Jetzt hatte er Solomatin bemerkt und würde ihn von nun an nicht mehr vergessen. Das war die Hauptsache.

Bulatnikow hat Pawel Sauljak nicht umsonst so gelobt, dachte Wjatscheslaw Jegorowitsch. Der Mann verstand seine Sache. Wie war es ihm nur gelungen, an die wissenschaftliche Studie des Instituts heranzukommen, ohne auch nur das geringste Aufsehen zu erregen? Das wusste nur der liebe Gott. Nur zu gern hätte Solomatin Pawel als festen Mitarbeiter für sich gewonnen. Aber er musste sich damit abfinden, dass das unmöglich war. Pawel war nicht zu greifen, er nahm nur telefonisch Kontakt mit ihm auf und war nicht bereit, persönlich bei ihm zu erscheinen. Das Honorar für seine Dienste hatte er sich an einem geheimen Ort hinterlegen lassen.

* * *

Anton Andrejewitsch Minajew strich mit kräftigem Druck den letzten Namen auf seiner Liste aus. Eine Zeit lang betrachtete er nachdenklich das Blatt Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag, dann zerriss er es in kleine Fetzen und verbrannte sie im Aschenbecher. Der erste Teil seines Vorhabens war abgeschlossen. Dumm war nur, dass Pawel plötzlich spurlos verschwunden war . . .