ELFTES KAPITEL

Der Besuch der psychiatrischen Klinik für Straftäter hinterließ bei Nastja immer ein unangenehmes Gefühl. Das Mitleid mit den unglücklichen kranken Menschen, die nichts für ihre Krankheit konnten, stand im Widerstreit mit dem Entsetzen über die grausamen, blutigen Verbrechen, die sie begangen hatten. Natürlich betraf das bei weitem nicht alle Häftlinge. Viele von ihnen waren nicht wirklich krank, sondern wurden hier nur auf ihren Geisteszustand überprüft. Manche simulierten, spielten im wahrsten Sinn des Wortes verrückt. Und nicht alle, die hier waren, hatten schwere Verbrechen begangen, viele hatte man lediglich wegen Diebstahls oder Rowdytums verhaftet. Aber wie Nastja es auch drehte und wendete, welche Argumente sie auch anführte, jedes Mal, wenn sie hier durch die Pforte ging und den Innenhof betrat, wurde sie innerlich zerrissen von widerstrebenden Gefühlen, von Mitleid und Abscheu gleichzeitig.

Kyrill Basanow, der den Beamten der Generalstaatsanwaltschaft erschossen hatte und am Tatort festgenommen worden war, befand sich inzwischen an diesem Ort. Seine Vernehmung hatte bis jetzt nichts von Bedeutung ergeben. Basanows Nachbar arbeitete tatsächlich bei der Miliz und besaß eine registrierte Waffe, aber sie befand sich nach wie vor in seinem Besitz und war ihm nie entwendet worden.

Die Ärztin empfing Nastja sehr freundlich, Nastja kannte sie gut und traf sich nicht zum ersten Mal mit ihr.

»Eine Diagnose kann ich bis jetzt noch nicht stellen, aber ich kann mit fast hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass hier von einer schweren Geisteskrankheit nicht die Rede sein kann. Basanow orientiert sich sehr gut in der Realität und verhält sich durchaus adäquat. Die Unterlagen, die wir aus der für ihn zuständigen Poliklinik erhalten haben, besagen, dass bei ihm lediglich eine leicht ausgeprägte Form von Debilität vorliegt. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, was ihn zu dieser Tat bewogen haben könnte«, sagte die Ärztin, während sie in Basanows Krankenakte blätterte.

»Und was sagt Basanow selbst?«, fragte Nastja.

»Er sagt, dass er eine Stimme gehört hat und dass diese Stimme ihm Befehle erteilt hat. Hier steht es wörtlich: ›Die Stimme hat mir befohlen, ihn zu töten.‹«

Die Ärztin reichte Nastja das Gesprächsprotokoll.

Frage: Hat Ihnen die Stimme den Namen und die Adresse dessen genannt, den Sie töten sollten?

Antwort: Sie hat gesagt, dass ich diesen Mann töten muss.

Frage: Wer ist »dieser« Mann? Woher wussten sie, dass sie ihn erschießen sollten und nicht irgendeinen anderen?

Antwort: Am Tag vorher habe ich gesehen, wie dieser Mann aus einem Auto ausstieg. Die Stimme sagte mir: »Das ist ein sehr schlechter Mensch, er will zuerst dir Böses antun, dann deiner Familie und danach der ganzen Menschheit. Das muss verhindert werden. Sieh ihn dir an, er hat schwarze Haare und ein Muttermal an der Schläfe – das ist das Zeichen des Satans. Du wirst einen Revolver nehmen und ihn bei nächster Gelegenheit erschießen.« Deshalb habe ich ihm am nächsten Tag aufgelauert.

Frage: Kannten Sie den Namen des Mannes?

Antwort: Nein.

Frage: Wussten Sie, was dieser Mann von Beruf war?

Antwort: Nein, damals wusste ich es nicht. Das hat man mir erst später bei der Miliz gesagt.

Frage: Haben Sie früher schon einmal Stimmen gehört, die Ihnen Befehle erteilt haben?

Antwort: Nein . . . So etwas ist vorher nie vorgekommen.

Frage: Und was war nach dem Mord? Hat die Stimme danach noch etwas zu Ihnen gesagt?

Antwort: Nein.

Frage: Und was glauben Sie selbst? Was ist mit Ihnen passiert? Haben Sie eine Erklärung dafür?

Antwort: Nein, ich weiß nicht, was passiert ist. Wahrscheinlich bin ich verrückt geworden.

»Siehst du«, sagte die Ärztin, während sie das Gesprächsprotokoll wieder in die Mappe zurücklegte. »Er hat keine Erklärung für sein Verhalten, er hält das, was vorgefallen ist, nicht für normal. Mehr noch, er denkt, dass er verrückt geworden ist. Und das ist ein deutliches Anzeichen geistiger Gesundheit. Ein Geisteskranker hält sich nicht für krank, das ist sein größtes Problem.«

»Du meinst also, dass Basanow nicht zu den geisteskranken Tätern gehört?«

»Keinesfalls«, erwiderte die Ärztin. »Ich verstehe nicht, was ihm widerfahren ist. Ich halte es für möglich, dass er einfach lügt, dass er ein Simulant ist. Vielleicht hat man ihn für den Mord angeheuert und ihm geraten, den Verrückten zu spielen, falls er gefasst werden sollte. Aber an diese Version glaube ich, ehrlich gesagt, nicht, Nastja. Wenn einer einen Auftragsmord begeht, hat er, wenn er gefasst wird, immerhin noch eine Chance. So hoch die Strafe auch sein mag, irgendwann kommt jeder frei. Und Basanow hätte aufgrund seiner Oligophrenie sowieso nicht die Höchststrafe bekommen. Aber ein geisteskranker Mörder kommt automatisch in die Psychiatrie, und das für immer. Aus der Psychiatrie wird er nie mehr entlassen, das ist hinlänglich bekannt. Und falls doch, dann als geistiges und körperliches Wrack. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch sich dem freiwillig ausliefert. So schrecklich es im Straflager auch sein mag, es ist immerhin noch Leben. Aber in den Kliniken für geisteskranke Verbrecher gibt es kein Leben. Nur endloses Grauen und Leiden. Und schließlich, wenn die Medikamente ihr Werk getan haben, nur noch völlige Gleichgültigkeit und dumpfes Dahinvegetieren.«

Der vierundzwanzigjährige Kyrill Basanow hatte eine Sonderschule für geistig zurückgebliebene Kinder besucht. Bei der Armee hatte man ihn dennoch mit Freuden genommen. Er war gutmütig, fügsam und diszipliniert. So jemanden ließ man sich dort nicht entgehen. Manchmal bekam er zwar unkontrollierte Wutanfälle, aber er war nachgiebig und beruhigte sich genauso schnell, wie er aufbrauste. Er war außerordentlich empfänglich und beeinflussbar, wie fast alle Menschen mit Neigung zu Debilität. Nach dem Armeedienst wurde er Hilfsarbeiter in einer Schuhfabrik, zu mehr reichte es nicht bei ihm, und natürlich besaß einer wie er nicht im Geringsten das Zeug zum Killer.

Nastja Kamenskaja verließ die Klinik für Gerichtspsychiatrie in völliger Verwirrung. Der Mord an dem Beamten der Generalstaatsanwaltschaft schien sich mehr und mehr als Zufall zu entpuppen. Aber wenn der Mord an Lutschenkow ein Unglücksfall war, dann musste auch der Mord an Malkow, der aus völlig unerfindlichen Gründen von seiner drogenabhängigen Tochter erschossen wurde, unter diesem Blickwinkel betrachtet werden. Und was folgte daraus? Jurzew und Mchitarow hatten sich das Leben genommen, der Abgeordnete Isotow hatte einen Mordanschlag auf seine Frau begangen, der Geschäftemacher Semjonow war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Unter dem Strich folgte aus alledem nichts, buchstäblich gar nichts. Es gab keine Parallelen zwischen den Todesfällen, keine Zusammenhänge, jeder stand für sich, jedes der Opfer hatte ein eigenes, von den anderen völlig unabhängiges Schicksal und einen eigenen Tod.

Allerdings war da noch etwas. Die zwei Männer, die man im Haus von Mchitarow gesehen hatte. Man wusste zwar immer noch nicht mit Sicherheit, bei wem sie gewesen waren, aber wahrscheinlich eben doch bei Mchitarow. Gleb Armenakowitsch hatte sich umgebracht, und gleich darauf waren die beiden Männer ermordet worden. Wenn es auch hier keinen Zusammenhang gibt, dachte Nastja Kamenskaja, dann soll mich auf der Stelle der Schlag treffen.

* * *

Rita war wieder allein, aber diesmal fühlte sie sich nicht so unglücklich und verlassen wie früher. Diesmal war alles anders.

Zwar hatte Pawel gesagt, dass sie sich eine Weile nicht sehen würden, aber erstens würde diese Trennung keine zwei Jahre dauern, sondern höchstens einen Monat. Und zweitens würde Pawel zu ihr zurückkommen, anders konnte es gar nicht sein, denn sie liebten einander.

»Fährst du wieder weg?«, hatte Rita traurig gefragt.

»Nein, Kindchen, ich werde hier sein, in der Nähe. Wir dürfen uns einfach nur eine Weile nicht sehen. Ich habe etwas sehr Wichtiges zu erledigen, und bis dahin werde ich dich nicht mehr besuchen. Dafür werden wir uns danach nie mehr trennen. Abgemacht?«

Pawel hatte fröhlich gelächelt, aber Rita hatte gefühlt, wie konzentriert und angespannt er war. Sie bemerkte immer sofort, was mit ihm vor sich ging, wie er sich fühlte und in welcher Stimmung er war.

Für Rita hatte wieder der gewohnte Alltag begonnen. Sie machte ihren Schichtdienst in der Sparkasse und wartete auf Pawels Rückkehr. Das war alles.

An diesem Tag hatte Rita morgens zu arbeiten begonnen. Auf dem Heimweg kaufte sie rasch etwas ein, griff nach dem Nächstbesten im Regal und eilte im Laufschritt nach Hause. Sie dachte ununterbrochen an Pawel, nahm ihre Umwelt kaum noch wahr, immerzu schwelgte sie in der Erinnerung an die zwei Wochen, in denen sie sich so zärtlich und leidenschaftlich geliebt hatten. Sie bemerkte nicht, dass der Schlüssel in ihrer Wohnungstür klemmte und das Schloss ein unangenehmes, knirschendes Geräusch von sich gab, als der Schlüssel sich doch endlich drehte. Ein erfahrener, vorsichtiger Mensch hätte daran sofort erkannt, dass die Tür von einem fremden Schlüssel oder von einem Dietrich geöffnet worden und dass das Schloss beschädigt war. Theoretisch wusste Rita das zwar auch, aber sie befand sich nicht in einer Verfassung, in der man so etwas bemerkte und Vorsichtsmaßnahmen traf. Sie öffnete die Tür und betrat ihre Wohnung. Im nächsten Augenblick tauchte ein Schatten neben ihr auf, etwas umfasste ihren Hals, sie rang nach Luft. Ritas Hände öffneten sich, die Tüte mit den Lebensmitteln fiel zu Boden. Es dauerte nicht lange, bis die Funktionen des von der Sauerstoffzufuhr abgeschnittenen Gehirns aussetzten.

Der Mann legte den erstorbenen Körper der jungen Frau vorsichtig auf den Fußboden, öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr mit einer behandschuhten Hand ein kleines Fläschchen Parfüm. Dann öffnete er vorsichtig die Tür zum Treppenhaus. Die Uhrzeit war günstig, die Bewohner des Hauses waren entweder zur Arbeit oder standen am Küchenherd und bereiteten das Mittagessen zu. Der Mann wandte sich abrupt um, öffnete, auf der Türschwelle stehend, das Parfümfläschchen und verspritzte seinen Inhalt rasch auf dem Boden des Flurs, an der Stelle, wo er eben gestanden hatte. Als das Parfümfläschchen leer war, zog er die Tür leise ins Schloss, lief schnell die Treppe hinunter und verschwand.

* * *

Nastja und Jura Korotkow grasten die ganze Stadt nach Asaturjans Bekannten ab, die sie nach einem hoch gewachsenen, etwa fünfzigjährigen Mann mit grauen Haaren und funkelnden schwarzen Augen fragten. Aber niemand von ihnen hatte Garik jemals in Gesellschaft eines solchen Mannes gesehen.

»Das soll ein Mensch verstehen!«, sagte Korotkow unmutig. »Der Zugbegleiterin haben sie gesagt, dass sie seit Jahren gemeinsam verreisen. Wie kann es dann möglich sein, dass ihn niemand aus Asaturjans Umgebung kennt?«

»Das war gelogen«, winkte Nastja ab. »Die haben der Zugbegleiterin einen Bären aufgebunden.«

»Aber wozu?«, wunderte sich Korotkow. »Ich sehe darin keine Logik, Nastja. Wenn Menschen nicht zugeben wollen, dass sie sich gut kennen, dann hat das einen Grund. Es soll nicht herauskommen, dass Absprachen zwischen ihnen bestehen, dass sie Komplizen sind. Aber umgekehrt? So etwas ist mir noch nicht untergekommen. Erinnere dich daran, wie viele Fälle wir gelöst haben, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Leute, die so taten, als würden sie sich nicht kennen, doch sehr gut miteinander bekannt waren.«

»Und doch ist es so«, erklärte Nastja geduldig. »Sie geben sich als alte Freunde aus, die zudem beruflich Zusammenarbeiten, denn wenn man sie unter diesen Vorzeichen sucht, wird man sie niemals finden. In Wirklichkeit haben sie sich in diesem Zugabteil vielleicht zum ersten Mal gesehen. Oder zum zweiten Mal.«

Jura wollte widersprechen, aber er kam nicht mehr dazu. Sie waren nach einer ihrer erfolglosen Visiten bei Bekannten von Asaturjan in die Petrowka zurückgekehrt und gingen gerade durch den langen Flur, als Kolja Selujanow auf sie zugestürzt kam.

»Da seid ihr ja endlich, ich habe euch schon überall gesucht. Wir müssen dringend zu Knüppelchen.«

Jura und Nastja beschleunigten ihren Schritt, und schon nach einigen Sekunden standen sie vor ihrem Chef, dessen Glatze rot angelaufen war vor Wut. Mischa Dozenko, ein sympathischer, hoch gewachsener junger Mann, saß in völliger Verwirrung am Konferenztisch. Viktor Alexejewitsch nickte den Eintretenden zu.

»Setzt euch«, befahl er. »Mischa habe ich bereits beglückwünscht, jetzt seid ihr dran. Es gibt Probleme, Kinder. Keine Angst, ihr habt nichts verbrochen. Wir sitzen nur wieder einmal in der Scheiße. Der Ausdruck sei mir erlaubt. Eben hat Kostja Olschanskij angerufen, er hat das Gutachten des Gerichtschemikers bekommen, es geht um die Tabletten, mit denen Jurzew sich vergiftet hat. Es ist eine lange Geschichte, wir haben jetzt keine Zeit, darüber zu diskutieren, ich sage euch nur das Ergebnis. Dieses sofort wirkende Präparat wurde bereits Anfang der achtziger Jahre in einem Speziallabor des KGB entwickelt. Schnell wirkende Gifte wurden für Spionagezwecke natürlich immer gebraucht. Das Präparat, das Jurzew ins Jenseits befördert hat, besitzt genau dieselbe Formel, die in diesem Labor entwickelt wurde. Nur die Herstellungsweise ist eine etwas andere. Nicht grundsätzlich anders, aber ein wenig. Wobei die neue Technologie sich keineswegs auf die Qualität der Tabletten ausgewirkt hat. Das ist im Moment alles, ich bin müde, ich rede schon seit einer halben Stunde ohne Unterbrechung. Jetzt bist du dran, Nastja.«

»Die Tabletten, mit denen Jurzew sich vergiftet hat, wurden also nicht im Labor des KGB hergestellt«, resümierte Nastja. »Jemand hat die Formel und die Technologie, die dort entwickelt wurden, für seine Zwecke benutzt. Entweder hat er eine große Partie des Präparats entwendet und es gründlich analysiert, oder er hat die Unterlagen gestohlen, aus denen die Formel hervorging. Letzteres halte ich für wahrscheinlicher. Die Unterlagen muss man ja nicht einmal stehlen, es genügt, jemanden zu finden, der sie gegen gute Bezahlung direkt am Arbeitsplatz kopiert. Um die Formel des Giftes herauszufinden und das Herstellungsverfahren nachzuvollziehen, hätte man eine große Menge des Präparates benötigt, so viel wurde im Labor des KGB sicher gar nicht hergestellt, denn man wollte schließlich nicht ganz Moskau vergiften. Und außerdem, wenn es möglich gewesen wäre, eine große Menge des Präparates zu entwenden, dann wäre es nicht nötig gewesen, Experimente damit anzustellen. In diesem Fall hätte der Gerichtschemiker uns jetzt mitgeteilt, dass Jurzew sich mit Tabletten aus einem Speziallabor des KGB vergiftet hat. Vielleicht handelt es sich um irgendein illegales Labor zur Herstellung von Drogen. Dort arbeiten Pharmazeuten und Chemiker, für sie ist es eine Kleinigkeit, ein tödliches Gift herzustellen, zumal dann, wenn die Formel bekannt ist. Jetzt habe ich allerdings eine Frage, Viktor Alexejewitsch. Woher wissen unsere Gerichtschemiker eigentlich so gut Bescheid, was in den Speziallabors des KGB für Spionagezwecke hergestellt wurde? Man muss schließlich großes Detailwissen besitzen, um sagen zu können: Es ist genau dasselbe Präparat, nur die Herstellungsweise ist eine etwas andere.«

»Richtig gesprochen«, stimmte Gordejew Nastja zu. »Einer der Spezialisten aus diesem Labor wurde im Alter von sechzig Jahren höflich gebeten, seinen Hut zu nehmen und in Pension zu gehen. Ich kann mir das nicht erklären, denn solche Spezialisten hält man normalerweise auf jeden Fall bei der Stange, sonst könnte es ja passieren, dass ihr Wissen plötzlich den Besitzer wechselt und auf die Seite des Feindes gelangt. Aber offenbar hat es dort irgendein größeres Ränkespiel gegeben, jedenfalls hat man den Mann an die Luft gesetzt. Und unser Sachverständigenzentrum hat ihn sich gegriffen. Wir sind ja nicht anspruchsvoll, für uns ist auch ein Greis gut genug, wenn er über das entsprechende Wissen verfügt, und ein sechzigjähriger Mann ist ja fast noch ein Jüngling. Als 1990 eine junge Dame Hand an sich legte, fand man bei ihr Tabletten, deren Zusammensetzung natürlich untersucht wurde. Damals hat der Mann festgestellt, dass es genau die waren, die er aus seinem ehemaligen Labor im KGB kannte. Die Idee stammt von uns, sagte er, nur das Herstellungsverfahren ist nicht ganz dasselbe. Ein Gottesgeschenk von einem Sachverständigen.«

»War er es, der Jurzews Tabletten untersucht hat?«, fragte Nastja hoffnungsvoll.

»Nein, Kindchen, leider nicht. Der Mann ist vor einem Jahr gestorben. Aber seine Arbeitsunterlagen sind natürlich alle noch erhalten. Und jetzt stellt sich die Frage, wie die Tabletten in Jurzews Besitz gekommen sind.«

»Und wie sind sie in den Besitz der Dame gekommen, die sich 1990 das Leben genommen hat? Konnte man das klären?«

»Schön wäre es«, seufzte Gordejew. »Dieser Fall ist immer noch ungelöst. Aber das Schlimmste kommt noch, Kinder. Heute haben wir etwas erfahren, das man bisher sorgsam geheim gehalten hat. Ein Mann des Präsidenten hat sich das Leben genommen, ein gewisser Jewgenij Schabanow. Und das bringt mich auf sehr traurige Gedanken.«

»Wollen Sie damit sagen, dass nun, nachdem man mit Malkows Leuten kurzen Prozess gemacht hat, jemand damit begonnen hat, die Reihen des Präsidententeams zu lichten?«

»Was sollte ich sonst damit sagen wollen?«, fragte der Oberst grimmig. »Bist du etwa anderer Meinung?«

»Das weiß ich noch nicht. Wann ist das passiert?«

»Am sechzehnten Februar, am Tag nach dem historischen Auftritt unseres Präsidenten.«

»Dann sieht es nicht danach aus«, widersprach Nastja. »Heute ist bereits der sechsundzwanzigste. Wenn es in allen Fällen dieselben Täter sind, dann hätten sie in zehn Tagen mindestens fünf bis sechs Leute umgebracht. Malkows Team haben sie doch praktisch innerhalb einer Woche ausgesiebt. Aber etwas verstehe ich trotzdem nicht, Viktor Alexejewitsch. Wenn das Präparat in größeren Mengen hergestellt wird, wofür wird es dann verwendet? Hat man in all den Jahren nur zwei Leute damit umgebracht? So viel Aufwand und nur zwei praktische Anwendungen in so langer Zeit? Daran glaube ich nicht.«

»Ich warte schon die ganze Zeit, dass du danach fragst«, sagte Gordejew. »Es ist richtig, dass du nicht daran glaubst. Aber zwei Fälle haben wir ja nur in Moskau. Wie viele sind es im ganzen Land und erst recht in der gesamten GUS? Der Informationsfluss stockt jetzt überall, die Verbindungen zwischen den Dienststellen sind unterbrochen. Ich habe auf gut Glück zwei Kollegen in zwei verschiedenen Regionen Russlands angerufen. Und beide hatten in letzter Zeit mit mehreren Selbstmordfällen zu tun, in denen unbekanntes Gift in Tablettenform zum Tod geführt hat. Da es sich in allen Fällen eindeutig um Selbstmord handelte, ist man der Sache nicht weiter nachgegangen. Die Sachverständigen hatten festgestellt, dass schnell wirkendes Gift verwendet wurde, und sich damit zufrieden gegeben. Niemand hat danach gefragt, woher die Leute diese Tabletten hatten. Um solche Dinge kümmert sich doch heute keiner mehr. Aber wenn sie alle, einschließlich Jurzew, tatsächlich Selbstmord begangen haben, dann muss doch irgendwo dieses Schwein sitzen, das Gift herstellt und die Leute damit versorgt. Warum hat nie jemand danach gefragt? Weil heutzutage einfach allen alles schnuppe ist.«

Gordejew hatte sich wieder in Rage geredet, und Nastja begriff jetzt, warum er von Anfang an so verärgert gewesen war. Wahrscheinlich hatte er bereits Mischa Dozenko dasselbe erzählt.

Mischa hatte ebenfalls keine guten Nachrichten. Niemand hatte auf dem Empfang einen hoch gewachsenen Mann mit grauen Haaren und funkelnden schwarzen Augen gesehen, weder ihn noch einen kleinen sympathischen Armenier. Aufgefallen war allerdings ein anderer Mann, einer, den niemand gekannt hatte. Mittelgroß, etwas füllig, langes gelocktes Haar und eine getönte Brille. Aber damit konnte Nastja bis jetzt nicht viel anfangen . . .

* * *

Als sie Gordejews Büro verließen, war es bereits fast sieben Uhr abends. Korotkow folgte Nastja in ihr Büro.

»Warum hört man nichts von deinen Gerichtsmedizinern?«, fragte sie, während sie den Wasserkocher anstellte. »Du hast doch geschworen, dass sie Asaturjan außer der Reihe obduzieren werden.«

»Du scheinst auf dem Mond zu leben, Nastja«, empörte sich Jura. »Ich habe ihnen doch lediglich eine einzige Flasche mitgebracht. Das bedeutet, dass wir innerhalb der nächsten zehn Tage drankommen. Sofortige Obduktion hätte mindestens fünf Flaschen gekostet. So viel Geld habe ich nicht.«

»Gut, wenden wir uns jetzt erst einmal Schabanow zu. Obwohl uns natürlich kein Mensch irgendwelche Auskünfte über ihn geben wird. Mir scheint, in so einer Zwickmühle waren wir schon lange nicht mehr. Eine Leiche nach der andern, und wir kommen keinen einzigen Schritt weiter. Die Identität des Grauhaarigen ist uns immer noch unbekannt. Ebenso die Umstände von Jurzews Tod. Warum Basanow diesen Lutschenkow erschossen hat, wissen wir auch nicht. Und jetzt auch noch dieser Schabanow . . .«

Nastjas Wortschwall wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen.

Es war für Jura. Er nahm den Hörer, und nachdem der Anrufer sich gemeldet hatte, zwinkerte er Nastja zu. Seinen kurzen Repliken konnte Nastja nicht entnehmen, worum es ging. Endlich legte er wieder auf und sah Nastja mit einem breiten Grinsen an.

»Siehst du, und du hast dich beschwert, dass die Gerichtsmediziner nicht anrufen. Jetzt ist alles klar. Man hat in Asaturjans Blut und Lunge Spuren von Gas mit nervenlähmender Wirkung entdeckt.«

»Genau«, rief Nastja aus und wäre dabei fast vom Stuhl aufgesprungen. »Ich habe es geahnt. Man hat mit einer Gaspistole auf ihn geschossen, direkt ins Gesicht. Danach hat sich der Täter ins Auto gesetzt und den Bewusstlosen seelenruhig überfahren. Anschließend ließ er das Auto einfach stehen und machte sich davon. Kein Lärm, kein Blut. Sauber und akkurat. Lieber Gott, was für eine Kreatur muss das sein. Diese Visage würde ich ja nur zu gern einmal sehen.«

»Du solltest lieber auf deinen Wasserkocher aufpassen«, riet Korotkow.

Nastja schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Das Wasser sprudelte bereits über den Rand der hohen Keramikkanne. Nastja zog schnell den Stecker aus der Steckdose, aber für zwei Tassen Kaffee reichte das Wasser nicht mehr.

»Das ist für dich«, sagte sie großmütig. »Ich setze gleich noch einmal Wasser auf. Was bin ich nur für ein Tölpel.«

»Trink nur, trink«, lachte Jura. »Du kommst doch um ohne Kaffee. Ich kann noch etwas warten.«

Die beiden hatten ein sehr freundschaftliches Verhältnis, obwohl sie sehr unterschiedlich waren, aber vielleicht verstanden sie sich gerade deshalb so gut. Jura war leicht entflammbar, Nastja hingegen kühl und gelassen. Korotkow verlor leicht den Mut, gewann ihn aber ebenso schnell wieder, krempelte die Ärmel hoch und ging wieder an die Arbeit. Nastja nahm Niederlagen klaglos hin, analysierte sie gründlich, ging ihren Fehlern auf den Grund und lernte aus ihnen. Um sie zur Verzweiflung zu bringen, bedurfte es vieler Misserfolge gleichzeitig. Aber wenn sie wirklich schwach wurde, dann verfiel sie ernsthaft und lange in Depressionen, gegen die kein Kraut gewachsen war. Da halfen keine freudigen Überraschungen, kein Trost und kein gutes Zureden. Sie war still und bedrückt, brach wegen jeder Kleinigkeit in Tränen aus, und wenn sie sprach, dann so leise und monoton, als würde sie einen fertigen Text vorlesen. Es gab nur ein einziges Mittel gegen ihre Depression. Sie musste begreifen, dass ihr Zustand sowohl sie selbst als auch andere an der Arbeit hinderte. Sobald sie das erkannte, gab sie sich einen Ruck. Genug, Kamenskaja, sagte sie sich, nimm dich zusammen und arbeite. Sie atmete tief ein und hielt die Luft an, worauf ihre Tränen auf wundersame Weise versiegten, sie begann wieder lebhaft und ausdrucksvoll zu sprechen, und das, was sie eben noch bedrückt hatte, erschien ihr nebensächlich und beinah komisch. Natürlich dauerte der Kampf mit der Depression länger als ein paar Minuten. Manchmal brauchte Nastja Stunden dafür. Aber es gelang ihr immer nur aus eigener Kraft, das Tief zu überwinden, von außen konnte ihr dabei nichts und niemand helfen.

Nastja und Jura waren so aufeinander eingespielt, dass sie manchmal sogar dasselbe dachten. Sie tranken schweigend Kaffee, jeder vertieft in seine eigenen Gedanken, aber als Jura das Schweigen brach, vollendete Nastja sofort den von ihm begonnenen Satz.

»Asaturjan hatte sein Notizbuch bei sich . . .«, begann Korotkow.

»Und der andere hatte aus irgendeinem Grund überhaupt nichts bei sich. Leere Taschen. Nur ein Geldbeutel. Jura, du bist doch ein Mann, sag mir, ob es sein kann, dass er tatsächlich nur mit dem Geldbeutel in der Tasche aus dem Haus gegangen ist. Bei einer Frau wäre das undenkbar. Wie ist das bei den Männern?«

»Ganz genauso«, lachte Korotkow. »Wer geht schon ohne Schlüssel aus dem Haus? Von Taschentuch, Kamm und Zigaretten ganz zu schweigen.«

»Demnach hatte Asaturjans Mörder nichts dagegen, dass die Miliz sofort an Ort und Stelle die Identität seines Opfers feststellt. Es war ihm offenbar gleichgültig. Aber wenn er auch den Grauhaarigen umgebracht hat, warum hat er dann alles Erdenkliche getan, um dessen Identifizierung zu erschweren?«

»Willst du damit sagen, dass die beiden von zwei verschiedenen Tätern und aus verschiedenen Gründen umgebracht wurden?«

»Nein, Jura. Ich will sagen, dass bei dem Grauhaarigen irgendetwas anders ist als bei Asaturjan. Die beiden Fälle unterscheiden sich voneinander, und zwar grundsätzlich. Wenn wir uns mit Asaturjans Kontaktpersonen befassen, vertun wir nur unsere Zeit. Man hat eine falsche Spur gelegt, und wir laufen ihr hinterher wie zwei blinde Gäule. Man hat uns absichtlich auf den großen Bekanntenkreis eines energischen, aktiven Mannes gestoßen, um uns in die Irre zu führen, uns genau da suchen zu lassen, wo wir den Mörder niemals finden werden. Aber im Fall des Grauhaarigen liegen die Dinge anders. Entweder kannte er seinen Mörder so gut, dass wir nach der Identifizierung des Opfers sofort auch den Mörder gefunden hätten, oder da ist noch etwas anderes im Spiel. Aber auf jeden Fall ist da etwas, Jura, das steht fest. Ich spüre es.«

* * *

Pawel fühlte sich sehr schlecht, aber er wusste, dass es bald wieder vergehen würde, er musste sich nur ein wenig gedulden. Er verfügte über dieselbe Gabe wie alle Mitglieder seiner Gruppe, aber bei ihm war diese Gabe sehr viel schwächer ausgeprägt. Er konnte einen Menschen dazu bringen, dass er erstarrte, sich entspannte und seinen Widerstand aufgab, aber das bedurfte bei ihm kolossaler Anstrengung, es kostete ihn so viel Kraft, dass er danach lange brauchte, um sich wieder zu erholen. Das, was sogar Rita mit Leichtigkeit zustande brachte, war bei ihm das Äußerste seiner Möglichkeiten. Und die Fähigkeit, jemanden in ein willenloses Objekt seiner eigenen Wünsche und Befehle zu verwandeln, ging Pawel Sauljak gänzlich ab.

Pawel war in Ungarn geboren, sein Vater war dort Militärattache gewesen, seine Kindheit verbrachte Pawel in der engen, abgeschlossenen Welt des sowjetischen Botschaftsviertels. Sein Vater, ein Berufsoffizier, erzog ihn von klein auf zu Disziplin und impfte seinem Sohn ein, dass die bestehende Ordnung für immer unerschütterlich bleiben musste, weil es so für alle am besten, am gesündesten und am praktischsten war. Und der Junge glaubte ihm. Er glaubte ihm von ganzem Herzen und überzeugte sich Tag für Tag davon, dass sein Vater Recht hatte.

In jenen Jahren trug er den Namen Wolodja, und auch sein Familienname war ein ganz anderer. Er war ein begabtes, fröhliches, kommunikatives Kind, das von Anfang an zweisprachig aufwuchs. Er besuchte nicht die russische Schule für die Kinder der Botschaftsangehörigen, sondern eine ungarische Eliteschule, an der die Kinder der Staats- und Partei-Elite unterrichtet wurden. Wolodja schloss dort viele Freundschaften, was dazu führte, dass auch die Eltern der Kinder sich nach und nach kennen lernten.

Nach Ungarn kam die Tschechoslowakei, von wo die Familie 1968, nach dem Prager Frühling, endgültig nach Moskau zurückkehrte. Wolodja war zu dieser Zeit achtzehn Jahre alt, er hatte gerade die Schule abgeschlossen und sprach fließend Ungarisch und Tschechisch. Er war für ein Studium an der Hochschule des KGB prädestiniert, aber um dort aufgenommen zu werden, musste er erst den Armeedienst ableisten. Davor hatte Wolodja keine Angst, er war gesund, kräftig und gewöhnt an Disziplin.

Er diente sehr gut und sogar mit Begeisterung. Das, was die anderen Soldaten verfluchten, machte ihm überhaupt nichts aus. Weckappell und Zapfenstreich, strapaziöse sportliche Übungen, das Büffeln von Dienstvorschriften, das Scheuern von Fußböden -alles das nahm er mit Gelassenheit hin und empfand dabei keinerlei Unbehagen. Er hatte schon von jeher so gelebt, er kannte nichts anderes. Sein Vater hatte ihn dazu erzogen, sich Erwachsenen widerspruchslos unterzuordnen und sich eisern an Disziplin und Ordnung zu halten. Man brauchte über nichts nachzudenken, keine Entscheidungen zu treffen, denn über alles hatten bereits andere nachgedacht und entschieden. Wolodja kam das entgegen. Er hatte eine lebhafte, stark ausgeprägte Phantasie und war froh, dass er sich nicht mit banalen alltäglichen Entscheidungen herumschlagen musste, denn er brauchte seine ganze Zeit und Energie für das Leben in seiner hermetisch abgeschlossenen, schillernden Innenwelt.

Nach dem Armeedienst begann das Studium an der Hochschule. Auch hier gab es keine Probleme mit Disziplin und Lehrstoff. Wolodja war begabt, er besaß eine gute Auffassungsgabe, ein ausgezeichnetes Gedächtnis und Talent für Fremdsprachen. Der ehemalige sowjetische Botschafter in der Ungarischen Volksrepublik war bereits seit 1967 KGB-Vorsitzender, und da ihn mit Wolodjas mittlerweile verstorbenem Vater eine persönliche Freundschaft verbunden hatte, bekam der junge Offizier nach Abschluss seines Studiums einen Posten im Verwaltungsapparat des KGB. Der Vorsitzende nutzte Wolodjas spezifische Fremdsprachenkenntnisse und setzte ihn des Öfteren als Dolmetscher bei wichtigen Besprechungen ein.

Eines Tages erfuhr Wolodja ganz zufällig, dass in seiner Behörde ein hoch geheimes Labor existierte, in dem mit Hypnose und anderen ungewöhnlichen Suggestionsmethoden experimentiert wurde. Ihn übermannte die Neugier, und er fand einen Weg in dieses Labor, nur um einmal nachzusehen, was man dort eigentlich machte.

»Das ist unser Spezial-Enzephalograph«, erklärte man ihm, »unsere neueste Erfindung. Mit diesem Gerät lässt sich augenblicklich feststellen, ob jemand das entsprechende Potenzial besitzt und ob es sich lohnt, mit ihm zusammenzuarbeiten. Willst du es ausprobieren?«

»Natürlich«, stimmte Wolodja sofort begeistert zu.

Man setzte ihm einen Helm auf und schaltete die Impulsgeber ein. Etwas begann zu summen, zu piepen, dann war es vorbei, man nahm ihm den Helm wieder ab.

»Du hast gewisse Anlagen«, sagte man ihm im Labor. »Aber offenbar hast du bisher nichts davon gewusst und nicht versucht, sie weiterzuentwickeln. Dein Gehirn verfügt über ziemlich starke Bioströme, aber du kannst sie nicht in die entsprechende Richtung lenken.«

»Natürlich kann ich es nicht«, sagte Wolodja verwirrt. »Wie sollte ich?«

»Man kann es lernen. Wir erarbeiten hier entsprechende Methoden und Techniken. Denn die natürliche Begabung allein genügt nicht. Man muss lernen, mit dieser Gabe umzugehen, sie zu steuern und entsprechend einzusetzen. Andernfalls bleibt sie eine tote Last im Körper, ungenutzt und überflüssig. Ich werde dir jetzt etwas sagen, wovon du wahrscheinlich noch nie etwas gehört hast«, fuhr Wolodjas guter Bekannter fort. »Der Mensch ist von Natur aus mit einem großen bioenergetischen Potenzial und ähnlichen Gaben ausgestattet. Das ist nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel. Nur wurde diese Gabe früher immer nur zufällig und deshalb sehr selten entdeckt, und noch seltener kam es vor, dass jemand in der Lage war, sie zu entfalten und entsprechend einzusetzen. Erst heute erlaubt es die technische Entwicklung, das bioenergetische Potenzial eines Menschen zu messen. Und bei diesen Messungen hat sich herausgestellt, dass nicht nur besondere Menschen über ein ausgesprochen hohes bioenergetisches Potenzial verfügen, sondern jeder Siebte bis Achte. Aber nur einer von zehntausend ist in der Lage, dieses Potenzial zu nutzen. Alle andern wissen nicht einmal, dass sie es besitzen. Man wundert sich immer nur, dass in den Händen mancher Menschen ständig Geschirr zerbricht, man in ihrer Anwesenheit Kopfschmerzen bekommt oder der Schmerz, im Gegenteil, plötzlich verschwindet. Ich könnte dir noch viel über diese Dinge erzählen. Aber um es kurz zu machen, wir haben spezielle Methoden und Techniken entwickelt, mit deren Hilfe jeder lernen kann, seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet zu entdecken und optimal einzusetzen. Wenn du also möchtest, bitte sehr, du kannst gern einen Kurs bei uns belegen.«

Wolodja begann, dieses geheime Labor zu besuchen. Er war der persönliche Dolmetscher des KGB-Vorsitzenden, er kam ihm näher als viele andere. Für ihn gab es nichts Geheimes in diesem Labor. Eine der wichtigsten Errungenschaften bestand darin, dass man hier beim Training die Bioenergetik mit der traditionellen, bereits seit Jahrhunderten bekannten Hypnosetechnik verband. Und die Ergebnisse waren überzeugend. Wolodja lernte nicht nur, zweihundertfünfzig Prozent jener schwachen Gabe zu nutzen, mit der ihn die geizige Natur ausgestattet hatte, sondern eignete sich auch alle Techniken und Praktiken an. Er begriff, dass die Gabe an sich nicht viel bedeutete. Wichtig war es nur, seine Fähigkeiten zu trainieren und zu vervollkommnen. Und nur wenige Auserwählte waren in der Lage, das zu tun, das natürliche Potenzial in sich zu entfalten und praktisch zu nutzen.

Natürlich wusste der Vorsitzende von Wolodjas neuer Leidenschaft, er selbst hatte ihm erlaubt, das Labor zu besuchen. Eines Tages, nachdem er bemerkt hatte, wie viel Zeit Wolodja im Labor verbrachte, sprach er ihn darauf an.

»Wozu machst du das, mein Junge?«, fragte er mit einem feinen Lächeln. »Was willst du damit erreichen?«

»Nichts«, antwortete Wolodja offenherzig. »Aber man weiß ja nie, wozu es eines Tages gut sein könnte. Ich könnte zum Beispiel einmal den Schlüssel zum Safe verlieren, und dann wird man ihn nicht aufschweißen müssen, weil ich ihn mit den Augen öffnen kann.«

Beide brachen in freundschaftliches Gelächter über diesen gelungenen Witz aus. Der Vorsitzende war ein sehr subtiler, gebildeter Mensch, aber er bevorzugte den einfachen, schlichten und unzweideutigen Humor. Wolodjas Witz war ganz nach seinem Geschmack.

Und schließlich geschah es, dass der Vorsitzende beschloss, eine operative Dienststelle für die Länder des Warschauer Paktes einzurichten. Einer der ersten, die er zur Mitarbeit in dieser Dienststelle heranziehen wollte, war natürlich Wolodja.

»Du kannst wählen, in welcher Gruppe du arbeiten möchtest, in der ungarischen oder in der tschechischen«, bot der Vorsitzende dem frisch gebackenen Major an, ihm damit seine Großherzigkeit und Loyalität demonstrierend. »Da du beide Sprachen fließend sprichst, überlasse ich die Entscheidung dir.«

Wolodja versuchte, sich mit einem Scherz aus der Affäre zu ziehen. Das Angebot kam überraschend und gefiel ihm ganz und gar nicht. Aber der Vorsitzende ließ nicht mit sich scherzen. Er meinte es ernst mit seinem Angebot.

»Bitte verstehen Sie mich doch«, begann Wolodja sich zu ereifern, »ich kann das nicht tun. Ich kann doch nicht gegen Menschen arbeiten, bei denen ich als Kind auf dem Schoß gesessen habe. Es handelt sich schließlich um die Eltern meiner einstigen Schulfreunde, ich habe mit ihren Kindern gespielt und wurde zu ihren Geburtstagen eingeladen. Und nicht zuletzt waren sie die Freunde meines Vaters.«

»Dein Vater, Gott hab ihn selig, war mit diesen Leuten nicht befreundet, er hat gegen sie gearbeitet. Es wird Zeit, dass du das erfährst, mein Junge. Diese Leute sind Katholiken, sie haben ein anderes Denken und können sich in jedem Augenblick als unsere Gegner erweisen. Das hat dein Vater niemals vergessen. Genau deshalb hat er dich auch nicht auf die russische Botschaftsschule geschickt, sondern auf die ungarische. So hat er die Eltern deiner Schulfreunde kennen gelernt, er bekam Zugang zu privaten ungarischen Kreisen und führte auch andere Botschaftsmitglieder in diese Kreise ein. Du musst das Werk deines Vaters fortsetzen.«

»Warum haben denn dann andere Botschaftsmitglieder ihre Kinder nicht auch auf die ungarische Schule geschickt?«, fragte Wolodja misstrauisch.

Der Vorsitzende lächelte kaum merklich, nur mit einem Mundwinkel.

»Weil die Kinder der anderen dumm, faul und desinteressiert waren. Sie waren nicht in der Lage, Ungarisch zu lernen, deshalb besuchten sie die russische Botschaftsschule. Du hingegen warst sehr sprachbegabt. Als dein Vater und ich das bemerkten, beschlossen wir, das für unsere Zwecke zu nutzen. Ich hoffe, du nimmst uns das nicht übel, mein Junge. Schließlich warst du so das einzige Botschaftskind, das sich frei und ohne alle Einschränkungen in der Stadt und sogar über ihre Grenzen hinaus bewegen konnte, während alle anderen Kinder das Botschaftsgelände nur zusammen mit ihren Eltern verlassen durften. Im Gegensatz zu ihnen hast du deine Kindheit und Jugend im wahrsten Sinne des Wortes im Westen verbracht. Meinst du nicht, dass es Zeit wird, eine Gegenleistung für dieses Geschenk zu erbringen?«

»Bitte, ich bitte Sie . . . zwingen Sie mich nicht. Schicken Sie mich in eine beliebige andere Gruppe, setzen Sie mich ein, wo Sie wollen, in jedem anderen Land, nur bitte nicht in Ungarn und nicht in der Tschechoslowakei.«

»Entweder Ungarn oder die Tschechoslowakei«, sagte der Vorsitzende kalt. »Entscheide dich.«

Alles in Wolodja zog sich zusammen vor Schmerz und Hass. Sie hatten ihn für ihr Spiel benutzt, als er noch ein Kind war. Und jetzt wollten sie ihn erneut benutzen, wollten alles aus ihm herauspressen, was sie nur konnten. Der Hass brannte ihm hinter den Augen, in den Handflächen, hinter der Stirn und brach durch die Poren der Haut. Er hob die Augen und sah den Vorsitzenden an. Es waren nur einige Sekunden, aber sie genügten.

»Ich werde mich weder in Ungarn noch in der Tschechoslowakei einsetzen lassen«, sagte er leise, langsam und sehr deutlich. Dann erhob er sich und verließ das Büro des Vorsitzenden, sorgfältig die Tür hinter sich schließend.

Seltsamerweise geschah nichts. Die Erde tat sich nicht auf, kein Blitz traf ihn. Er wurde nicht einmal entlassen. Der Vorsitzende rief ihn nicht mehr zu sich und machte ihm auch keine weiteren Angebote.

Drei Monate später kam ein Anruf aus dem KGB-Hospital. Man bat, einen Offizier mit Fremdsprachenkenntnissen vorbeizuschicken. Der Rettungswagen habe einen Mann eingeliefert, dem auf der Straße schlecht geworden war, offenbar hatte man ihn verprügelt. Er hatte keine Papiere bei sich und sprach kein Russisch. Der Dienstleiter schickte Wolodja zum Hospital und bat ihn, die Angelegenheit zu klären.

Im Hospital brachte man Wolodja zum Wartezimmer und bat ihn, sich kurz zu gedulden. Gleich darauf erschienen drei bullige Männer, verdrehten Wolodja die Arme auf dem Rücken, rissen ihm die Hose herunter und jagten ihm eine Spritze mit einer Pferdedosis Aminasin ins Gesäß. So begann man zu jener Zeit mit der Behandlung von Kranken, die sich in psychotischen Wahnzuständen befanden und eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellten.

Nach einigen Tagen fand der behandelnde Arzt, dass man Wolodja genug von dem Mittel verabreicht hatte und er nun ein Gespräch mit ihm führen konnte.

»Warum bin ich hier?«, fragte Wolodja entsetzt. »Es handelt sich um einen Irrtum, irgendeinen schrecklichen Irrtum. Sie müssen mich verwechselt haben.«

»Aber nicht doch, nicht doch«, sagte der Arzt begütigend. »Sie sind doch. . .«

Er warf einen Blick ins Krankenblatt und nannte Wolodjas Namen und Vatersnamen, sein Geburtsjahr, seine Adresse und Telefonnummer, seinen Dienstgrad und seine Stellung beim KGB.

»Ja, das bin ich«, sagte Wolodja verwirrt. »Aber warum, wofür? Was ist passiert?«

»Freundchen, Sie saßen im Büro ihres Chefs, blickten auf den Safe und behaupteten, dass Sie gerade versuchen, ihn mit ihren Augen zu öffnen. Geben Sie zu, dass das nicht normal ist. Natürlich sind Sie krank, und wir müssen Sie behandeln.«

Von da an fragte Wolodja nicht mehr, warum er hier war. Der Vorsitzende hatte kurzen Prozess mit ihm gemacht. Elegant und effizient hatte er sich für seinen Ungehorsam und seinen kindlichen Moralisierungsversuch revanchiert. Und für Wolodjas letzten Blick, unter dem ihm plötzlich so seltsam heiß geworden war und seine Arme und Beine sich mit bleierner Schwere gefüllt hatten.

Natürlich, mein Junge, hätte er in diesem Moment am liebsten gesagt, ich werde dich für China einteilen. Für Ungarn und die Tschechoslowakei finden wir andere. Du hast Recht, diese Länder sind nichts für dich. Einen Moment lang war der Vorsitzende ganz sicher gewesen, dass er genau das sagen musste, weil dann alles ganz leicht, einfach und gut werden würde. Es hatte nicht länger als drei Sekunden gedauert, aber die hatte der Vorsitzende Wolodja nie verziehen.

Wolodja blieb im Hospital. Nach dem Willen des Vorsitzenden sollte er es erst in einigen Jahren als geistiges und körperliches Wrack verlassen. Dieser Wille hätte sich zweifellos auch erfüllt, wäre nicht Wladimir Wassiljewitsch Bulatnikow gewesen, der Wolodja aus dem Hospital herausholte, bevor es gelang, ihn endgültig auszulöschen. Natürlich raubte Bulatnikow Wolodja nicht bei Nacht und Nebel aus dem Hospital, sondern machte das ganz legal. Er erreichte einfach, dass man ihn als geheilt entließ. Wolodja hatte die Schwelle zum Hospital als gesunder, kraftvoller, erfolgreicher KGB-Major überschritten, jetzt, als er es verließ, war er niemand mehr. Seine Beine trugen ihn kaum noch, er sah schlecht, die Mittel, die man ihm gespritzt hatte, hatten zu einer Netzhautablösung geführt. Er war stark geschwächt und hilflos. Aber sein Kopf war noch in Ordnung, er konnte noch normal denken.

Bulatnikow begann, Wolodja zu hegen und zu pflegen. Er versorgte ihn mit Vitaminen, mit Naturprodukten vom Markt, er ging mit ihm im Park spazieren und hielt ihn dabei am Ellenbogen fest, er brachte ihn zu einem Augenarzt, der seine Netzhaut behandelte.

Er weihte Wolodja von Anfang an in seine Pläne ein. Der gescheiterte, kranke KGB-Major musste aus der Welt verschwinden, an seine Stelle musste ein Mann mit einem neuen Namen und einer neuen Biographie treten. Dieser Mann war dazu ausersehen, eine Gruppe von Menschen mit großer natürlicher Begabung zu leiten, er sollte diese Menschen führen und sie lehren, ihre natürliche Gabe zu entfalten und praktisch zu nutzen. Wolodja war dafür der ideale Mann. Er besaß eine Spezialausbildung, beherrschte die entsprechenden Techniken und hatte einige Erfahrung in operativer Arbeit. Außerdem war er allein stehend, sein Vater war vor einigen Jahren, seine Mutter ganz vor kurzem gestorben, er hatte keine Geschwister, keine Frau und keine Kinder. Sein Verschwinden würde wahrscheinlich niemandem großen Schmerz zufügen.

So wurde ein Mann namens Pawel Sauljak ins Leben gerufen. Und danach die Gruppe. Alle vier Mitglieder fand Bulatnikow selbst und rettete sie aus ihrem Unglück. Aber keiner der Gruppe kannte auch nur seinen Namen. Pawel unterrichtete jeden von ihnen einzeln und hielt sich dabei streng an die Methoden, die er sich in dem geheimen Labor angeeignet hatte und die, wie er feststellte, wirklich brauchbar und effektiv waren. Selbst Rita, die überhaupt nichts konnte, deren höchste Kunst darin bestanden hatte, ihren Nachbarn dazu zu bringen, dass er seinen eigenen Wodka in den Ausguss kippte, lernte in kurzer Zeit erstaunliche Dinge. Das einzige Hindernis bestand in ihrer Gutmütigkeit und Naivität.

Die junge, naive und verliebte Rita war die einzige in der Gruppe, die Pawel von Anfang an duzte. Die drei Männer, die sich ihres schmutzigen Geschäfts und ihrer Abhängigkeit von Pawel sehr genau bewusst waren, sprachen ihn mit Namen und Vatersnamen und per Sie an. Rita hingegen wusste nicht, was sie eigentlich tat, sie war Pawel unendlich dankbar und liebte ihn so, dass sie mit Begeisterung auch umsonst für ihn gearbeitet hätte.

Damals hatte Pawel leider vieles nicht begriffen. Erst jetzt waren ihm die Augen aufgegangen.

Vor einer Woche hatte er Rita darauf vorbereitet, dass er für eine Weile verschwinden würde. Er wollte in dieser Zeit das erledigen, was er zu erledigen hatte, und dann zu Rita zurückkehren. Aber völlig unerwartet für sich selbst begann er sie bereits nach einer Woche zu vermissen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er in einer Situation, in der er völlig auf sich allein gestellt war. Niemand gab ihm Anweisungen und niemand entschied für ihn. Nachdem er aus dem KGB hinausgeflogen war, war Bulatnikow sein Chef geworden. Wieder war er Befehlsempfänger gewesen, der nur dazu da war, die ihm gestellte Aufgabe so gut wie möglich zu erfüllen. Dann, nach Bulatnikows Tod, kam das Straflager und auch hier das Gewohnte. Disziplin, Ordnung, Gesetze, Kontrolle, Hierarchie. Und danach war es Minajew, der ihm Befehle erteilte. Pawel hatte wieder nichts anderes zu tun, als seinen Auftrag zu erfüllen und das Honorar dafür in Empfang zu nehmen.

Und jetzt? Pawel hatte nie gelernt, selbst zu entscheiden, selbst über sein Leben zu bestimmen. Er konnte nur über das Leben anderer entscheiden, aber nicht über sein eigenes.

Und plötzlich zog es ihn zu Rita, die noch hilfloser und verwirrter war als er. Durch sie hoffte er Sicherheit zu gewinnen. Wenn er Verantwortung für sie übernahm, dann würde diese Verantwortung zu seinem neuen Gebieter werden, zu jener Autorität, die die Entscheidungen für ihn treffen würde. Rita brauchte ihn, und vielleicht würde ihm das zeigen, wie er weiterleben sollte.

Er hatte gestern und heute bei ihr angerufen, mindestens zwanzigmal, er hatte morgens, abends und nachts angerufen, aber Rita nahm nicht ab. Pawel hatte ihre Dienstnummer, aber er wollte nicht in der Sparkasse anrufen. Das konnte gefährlich werden und ging gegen seine Prinzipien. Rita war zwar sehr zuverlässig und diszipliniert, aber in ihrer Überraschung und Freude über seinen Anruf würde sie vielleicht ungewollt seinen Namen ausrufen, und das durfte Pawel auf keinen Fall riskieren. Warum meldete Rita sich nicht? Wo war sie nur?

Er erhob sich mühsam von dem Sofa, auf dem er lag, und ging hinaus auf die Straße. Die nächste Telefonzelle war nicht weit entfernt. Er steckte eine Münze in den Schlitz und wählte erneut Ritas Nummer. Diesmal wurde abgenommen, aber es meldete sich eine Männerstimme.

»Hallo«, sagte der Mann. »Wer ist da? Hallo?«

»Guten Tag«, erwiderte Pawel gefasst, obwohl sich ihm innerlich alles zusammenschnürte. »Kann ich bitte Swetlana Jewgenjewna sprechen?«

»Swetlana Jewgenjewna?«, wiederholte der Mann unsicher. »Wissen Sie, sie ist gerade hinausgegangen, sie kommt in fünf Minuten wieder. Könnten Sie noch einmal anrufen? Oder soll ich ihr etwas ausrichten?«

»Vielen Dank«, entgegnete Pawel ruhig. »Sagen Sie ihr bitte, dass Martynenko angerufen hat. Wenn Sie erlauben, melde ich mich später noch einmal.«

Er hängte auf und lehnte sich an die Wand der Telefonzelle. So war das also. Rita war nicht zu Hause, und in ihrer Wohnung befand sich ein fremder Mann. Einer, der nicht einmal wusste, wer in dieser Wohnung wohnte. Hätte er Rita gekannt, hätte er dem Anrufer gesagt, dass er sich verwählt hatte, dass es hier keine Swetlana Jewgenjewna gab. Dies aber war ein völlig fremder Mensch gewesen, der keine Ahnung hatte, in wessen Wohnung er sich überhaupt aufhielt.

Rita musste etwas zugestoßen sein.

Und in diesem Moment erinnerte sich Pawel plötzlich an eine andere Frau, eine, die er bereits aus seinem Gedächtnis getilgt hatte. Er erinnerte sich an die, die ihn gerettet hatte. Er erinnerte sich an Nastja.