Kapitel 14
TAG FÜNFZEHN
Starkow brachte sie in eine luxuriöse Wohnung, in der Denissow Gäste beherbergte, die aus dem einen oder anderen Grund nicht im Hotel leben wollten.
Er hatte tatsächlich ein ernstes Problem.
»Was soll ich tun, Anastasija Pawlowna? Soll ich Denissow von seiner Enkelin erzählen oder soll ich schweigen?«
»Sind sie absolut sicher?«
»Es gibt keinen Zweifel. Die Haarspange ist eine Sonderanfertigung. Ich war selbst mit dem Auftrag befaßt. Eduard Petrowitsch hat sie Vera zum vierzehnten Geburtstag geschenkt.«
»Könnte sie sie an jemanden weitergegeben haben? Irgendeiner Freundin?«
»Kaum. In Denissows Familie geht man sorgsam mit Geschenken um. Besonders der Chef. Er fragt ständig: ›Warum trägst du nicht, was ich dir geschenkt habe? Gefällt es dir nicht?‹ Nein, sie hätte es nicht gewagt.«
»Dafür hat sie andere Dinge gewagt«, meinte Nastja trocken. »Und warum sind die Menschen ihren Nächsten gegenüber so blind? Wir glauben immer, daß wir sie in- und auswendig kennen, und dann stehen wir vor einer Tragödie.«
»Nein«, wiederholte Starkow überzeugt, »das Geschenk des Großvaters hätte sie nur zufällig verlieren können. Sie ist ein gutes, feines Mädchen, es hat sie nur irgendein Nichtsnutz durcheinandergebracht.«
»Womöglich dieser Student, mit dem sie ein Verhältnis hat?« Nastja lachte. »Wenn sie tatsächlich fein und gut ist, dann hat sie sich aus Liebe zu ihm darauf eingelassen, um Geld zu verdienen. Und er hat sie benutzt. Da haben Sie also noch ein Mitglied von Makarows Mannschaft.«
»Trotzdem, Anastasija Pawlowna«, wiederholte Starkow nachdrücklich. »Was raten Sie mir?«
»Schweigen Sie. Diesen Studenten finden Sie selbst, mit Vera sprechen Sie auch selbst. Danach sehen wir weiter. Aber vorläufig schweigen Sie.«
»Ich danke Ihnen«, Starkow seufzte erleichtert.
»Wofür?«
»Ich bin ja selbst dafür, Denissow nichts von seiner Enkelin zu erzählen. Aber ich fürchtete, Sie würden darauf bestehen.«
»Warum sollte ich darauf bestehen, Anatolij Wladimirowitsch? Das geht mich überhaupt nichts an. Sie wollten Makarow, und Sie haben ihn bekommen. Der Rest ist nicht meine Sache.«
»Wer ahnt schon, was in Ihnen vorgeht!« Starkow lachte. »Ihnen hätte alles mögliche einfallen können. Übrigens wollte ich es gleich sagen, aber ich konnte mich nicht entschließen: Sie sehen heute außergewöhnlich gut aus.«
»Man tut sein Bestes«, antwortete Nastja dankbar lächelnd. »Ich revanchiere mich mit einem Gegenkompliment: Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Ich habe Sie mit einem Berg idiotischer Aufgaben überhäuft, und Sie haben ohne Murren alle erfüllt und kein einziges Mal gefragt, wozu ich das brauche. Das zeugt davon, daß Sie mir vertraut haben und überzeugt waren, daß ich weiß, was ich tue. In meiner Dienststelle ist das anders.«
»Ich gestehe, Anastasija Pawlowna, es gab einen Moment, da habe ich an Ihnen gezweifelt. Ich habe es sogar Eduard Petrowitsch gesagt. Aber er hat mir geantwortet: Dieses Mädchen weiß, was es tut. Also geht Ihr Kompliment an die falsche Adresse. Ich weiß, es ist dumm zu fragen, aber . . .« Starkow schwieg. Er wußte nicht, ob er fortfahren sollte.
»Fragen Sie, fragen Sie. Wir müssen ohnehin die Nacht herumbringen. Schlafen kann ich sowieso nicht, also reden wir.«
»Wie sind Sie darauf gekommen?«
»Der Junge hat mir geholfen. Er sagte, daß sich ein richtiger Mann bei Autos und Waffen auskennen muß.«
»Da hat er recht.« Starkow nickte.
»Wahrscheinlich. Können Sie einen Mercedes von einem Volvo unterscheiden?«
»Natürlich.«
»Und eine ›TT‹-Pistole von einer Beretta?«
»Natürlich, das ist doch elementar.«
»Und eine ›Walter‹ von einer ›Makarow‹-Pistole?«
»O Gott!« ächzte Starkow.
* * *
Eduard Petrowitsch traute seinen Ohren nicht, als ihm Nastja und Starkow am nächsten Morgen über die Wohnung von Regina Arkadjewna Walter berichteten.
»Aber ich habe ihr doch selbst aus wohltätigen Erwägungen einen Teil des dreistöckigen Gebäudes zur Verfügung gestellt! Eine Pädagogin, die sich allgemeiner Wertschätzung erfreut, die solche bekannten Interpreten hervorgebracht hat, muß eine Wohnung haben, in der Platz für ein Klavier ist und für den Unterricht mit ihren Schülern. Sie muß unter würdigen Bedingungen leben und sich keine Sorgen machen müssen darüber, daß die Musik die Nachbarn stört, die kleine Kinder haben. Ich habe doch selbst, mit eigener Hand . . . Und ich habe sogar Geld dafür locker gemacht. Ich habe extra daran erinnert, daß Experten kommen sollten, um die Wände schalldicht zu isolieren. Mein Gott! Mein Gott!«
»Es war zu spät«, sagte Nastja. »Sie war schon erniedrigt und gedemütigt. Sie war wegen ihres Gesichts und ihres Hinkens als geniale Pädagogin und Komponistin nicht anerkannt. Aus irgendeinem Grund kann man in unserem Land Invaliden nicht als gleichberechtigt anerkennen. Sie haben ihr ein würdiges Leben ermöglicht, aber erstens zu spät und zweitens nur zum Teil. Sie braucht viel Geld, sehr viel Geld. Sie hat meinem Kollegen aus Moskau davon erzählt. Das Geld braucht sie, um sich nur der Musik zu widmen und um sich nicht durch ihre altersbedingte Schwäche beeinträchtigt zu fühlen. Natürlich hat sie beteuert, daß sie das Geld durch Unterricht verdient. Aber dann habe ich zufällig ein Gespräch mitgehört, aus dem hervorging, daß sie für ihre Stunden kein Geld nimmt. Sie gibt kostenlos Unterricht, aber nur den Kindern, die die Musik wirklich lieben. Das Geld bezieht sie aus einer anderen Quelle.«
»Aber warum gerade das? Warum so eine ungeheuerliche Art, Geld zu verdienen?«
»Weil sie uns alle haßt und sich rächt. Sie wollten meine Kunst nicht? Sie wollten meine Musik nicht hören und anerkennen? Dann erlauben Sie mir, daß ich sie trotzdem komponieren werde, und zu meiner Musik werdet ihr und eure Nächsten sterben. Ich hatte anfangs gedacht, daß Ismailow selbst die Musik schreibt. Dann, als der Verdacht zu stark geworden war, bat ich ihn, für mich zu improvisieren. Ich überzeugte mich, daß er eine solche Musik, wie sie für den Film mit dem Mord an Swetlana gedacht war, niemals komponieren konnte. Er hat nicht die Klasse. Er ist zweifellos talentiert, aber nicht genial. Aber diese Musik wurde von einem Genie geschrieben. Und er hat mir selbst mehrmals bestätigt, daß Regina ein Genie ist, und ich habe es einfach nicht registriert. Und da war noch etwas, das ich mir durch die Finger gehen ließ. Wäre es mir rechtzeitig eingefallen, könnte Swetlana vielleicht noch leben. Das kann ich mir nicht verzeihen.«
»Wovon sprechen Sie?«
»Ich stand auf dem Balkon und hörte den Teil eines Gesprächs zwischen Regina Walter und Damir. Es ging um einen Film. Ich kehrte ins Zimmer zurück, sie hörten offenbar das Zuschlagen der Balkontür und Regina kam sofort angerannt, angeblich, um mich mit ihrem Schüler bekanntzumachen. In Wirklichkeit wollten sie herausfinden, ob ich etwas gehört hatte, was mich mißtrauisch hätte werden lassen. Und dann log Ismailow die ganze Zeit. Ich bemerkte das und gab mir Mühe, es nicht zu beachten. Jetzt fällt es mir ein, und es zeigt sich, daß seine Lügen in das Schema passen. Viele Kleinigkeiten stachen ins Auge, aber ich wollte sie nicht sehen. Zum Beispiel an dem Abend, als Alferow getötet wurde, da hatte Regina Beschwerden am Fuß, und Usdetschkin kam extra zu mir, um mich zu bitten, nach ihr zu schauen und ihr, falls nötig, zu helfen. Zu dieser Zeit war jemand im Sanatorium, vor dem sie mich schützen wollten, und sie ›fesselten‹ mich einfach an die kranke Nachbarin. Ich denke, das war genau die Person, deren Leiche zuletzt im Keller gefunden wurde. Er war der einzige Mann unter den Ermordeten, alle übrigen waren Frauen und Mädchen. Ihre Polizeidirektion hat jetzt für ein Jahr genug zu tun.«
Nastja schwieg. Sie sah den Keller im Haus von Regina Arkadjewna vor sich, wo man begonnen hatte, die einzementierten Leichen zu bergen, und sie zitterte wie vor Kälte.
Sie war so naiv gewesen und hatte Angst vor Denissow und seiner Mafia gehabt. Aber was war schon Schreckliches an ihnen, wenn daneben solche Menschen existieren . . .
»Besorgen Sie mir eine Fahrkarte für morgen, Eduard Petrowitsch«, bat sie. »Ich möchte abreisen.«
* * *
Shenja Schachnowitsch brachte Nastjas Gepäck in das Zweibett-Abteil des Schlafwagens und ging diskret wieder auf den Bahnsteig hinaus, um sie mit Denissow allein zu lassen. Durch das Waggonfenster konnte er sehen, wie sich ihre Lippen bewegten, und er glaubte sogar, einzelne Worte unterscheiden zu können. Jetzt zog Eduard Petrowitsch die Fahrkarte aus der Brieftasche und legte sie auf den Tisch. Da wurde die Bewegung ihrer Lippen langsamer, ein peinliches Schweigen hing in der Luft, und die Gesichter der beiden wurden angespannt. Denissow nickte und machte einen Schritt zur Tür, er war im Begriff zu gehen. Die Kamenskaja rief ihm etwas nach, offenbar etwas Unerwartetes, denn Denissow drehte sich abrupt um, Nastja machte eine Bewegung auf ihn zu und küßte ihn zärtlich auf die Wange. Beide lächelten, aber irgendwie war es ein trauriges Lächeln . . .