Kapitel 3

TAG VIER

Beim Aufwachen beschloß Nastja, ein neues Leben anzufangen und gleich einmal in der Praxis jene Theorie zu testen, wonach angeblich das Sein das Bewußtsein bestimme. Sie hatte gehört, daß Schauspieler manchmal so in ihre Rolle schlüpfen, daß sie anfangen, wie die von ihnen dargestellte Figur zu denken und zu fühlen. Ich probiere jetzt, eine FRAU zu sein, dachte sie, vielleicht schmilzt so ja wenigstens ein bißchen das Eis, das mich innerlich so frieren läßt, das mein Herz so erstarrt hat.

Sie machte sich zum Frühstück fertig, indem sie ihre hellen Brauen nachzog und die Wimpern tuschte, ein wenig Lippenstift auftrug, ein grelles T-Shirt anzog und darüber – nicht die Jacke ihres Jogginganzugs, sondern ein langes schwarzes Jacket, über dem das offene helle Haar beinah platinfarben wirkte. Sie drehte den Parfumflakon ›Klima‹ ein paar Mal in der Hand, stellte ihn aber wieder zurück: Irgendwo hatte sie gelesen, daß Parfum vor dem Frühstück nicht zum guten Ton gehöre.

Als sie in den Speisesaal ging, achtete sie genau auf ihren Gang und ihre Haltung, und dabei kam eine freudige Erregung in ihr auf. Das Mittel schien zu wirken.

Als sie die Tasche fürs Schwimmbad packte und gerade den Badeanzug vom Haken im Bad nahm, hielt sie kurz inne und hängte ihn entschlossen wieder zurück. Ich muß konsequent sein, tadelte Nastja sich selbst und nahm statt dessen ihren neuen, überaus gewagten Badeanzug, den ihr ihre Mutter schon letztes Jahr aus Schweden geschickt hatte und den sie seither noch nicht einmal getragen hatte. Wenn ich mir schon einen erotischen Gang antrainieren will, dann muß ich auch entsprechend aussehen.

Beim Anprobieren des Badeanzugs kamen Nastja erneut Zweifel: Sie sah darin aus wie ein Girl aus den Männermagazinen. Aber einerlei, im Schwimmbad war nach elf Uhr außer ihr sowieso keiner mehr, sie machte die Gymnastik immer ganz allein. Die meisten Kurgäste gingen entweder morgens schwimmen oder zwischen fünf und sieben Uhr abends. Zwischen elf Uhr und dem Mittagessen war die ›tote‹ Zeit, und genau darum hatte Nastja sie sich für ihr tägliches Training ausgesucht.

Gewissenhaft absolvierte sie im Becken all ihre Übungen, schwamm ihre vorgeschriebene Anzahl Bahnen und fing dann mit dem Herumaffen an. Die Stufen hochsteigen, sich auf den Rand setzen, zur anderen Seite hinübergehen, sich ins Wasser gleiten lassen, im Wasser zur gegenüberliegenden Treppe laufen – und nochmal das gleiche. Die Bewegungen sollten graziös sein, weich und erregend, als beobachte sie der tollste Mann der Welt, es sollte ihm unbedingt gefallen und den Wunsch in ihm entfachen, sich auf der Stelle und dauerhaft in sie zu verlieben. Ganz schön happig, diese Aufgabe!

Nachdem sie den Parcours viermal durchlaufen hatte, merkte sie, daß sie erschöpfter war als nach zwei Stunden Wassergymnastik. Ihr Körper war gelehrig, sie konnte jede Gangart imitieren, von der energischen, zornigen Tigerin bis hin zum zärtlichen, flauschigen Kätzchen. Es war eine Art Hobby von ihr, menschliche Typen zu kopieren. Doch zu trainieren (natürlich zu Hause und natürlich mit Unterbrechungen) und ein paar Minuten vor dem Spiegel herumzuaffen – das war das eine, etwas völlig anderes war es aber, diese Pose über längere Zeit beizubehalten. Richtig anstrengend. Schluß mit dem Zirkus.

Nastja sah hinauf zu der Uhr, die ganz oben unter der Decke hing – schon zweieinhalb Stunden tanzte sie hier im Becken herum, gleich gab es Mittagessen. Die Herbstsonne, die schräg durch die großen Scheiben fiel, wurde von der glitzernden Oberfläche direkt unter der Uhr reflektiert und blendete Nastja für einen Moment. Sie mußte blinzeln. Nun aber ab in die Umkleidekabine.

* * *

»Ich will die da«, meinte Sarip und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

Er war zum ersten Mal in der ›Doline‹, und ihm wurde gerade der Raum gezeigt, von dem aus man die Auswahlprozedur verfolgen konnte. Es war ein kleines, enges Zimmer im zweiten Stock des Behandlungstrakts. Unter einem Wandkalender mit Katzen- und Hundebildern war ein verspiegeltes Guckfenster versteckt, das direkt ins Schwimmbad führte.

»Die ist ein Kurgast«, erwiderte ein gutaussehender, athletisch gebauter Mann mit dunklen Augen und hellem Haar. »Die Mädchen werden abends gebracht, dann können Sie sich eines aussuchen.«

»Ich will aber die da.« Sarip ließ die Augen blitzen, auf seine Wangen traten heiße rote Flecken.

Psychopath, dachte der Hellhaarige böse. Dickschädel, nicht mehr davon abzubringen. Alles paßt bei unserem Business, nur die Kunden nicht.

»Sehen Sie sich erst einmal die an, die wir Ihnen bieten«, meinte er beschwichtigend. »Vielleicht ist ja eine dabei, die Ihnen mehr liegt.«

Sarip nickte, aber es war offensichtlich, daß er nur zum Schein nachgab.

»Wann werden die Mädchen gebracht?«

»Zwischen neun und zehn Uhr abends. Bis dahin können Sie sich entspannen, in dem Häuschen wird Ihnen ein Mittagessen serviert. Sie können eine Massage haben, die Sauna benützen.«

»Kein Bedarf. Ich leg’ mich eine Weile aufs Ohr. Kommt noch wer außer mir heute abend,?«

»Noch zwei. Sehr nette Herrschaften, keine Sorge. Stammkunden von uns, die bisher noch immer zufrieden waren. Kotik, begleite den Gast in seine Unterkunft.«

Sarip ging, begleitet von dem wuchtigen, aber etwas schlaffen Kotik, dessen hohe Tenorstimme so gar nicht zu seiner Erscheinung paßte. Auf seiner Schlafcouch gab Sarip sich süßen Träumen von dem Mädchen hin, das er gerade durch das Guckfenster im Schwimmbad beobachtet hatte. Wahnsinn, war die scharf! Sarip sah sie in seinen erregenden Träumen, blond, sanft, zärtlich, geil. Und sie war schon hier, gleich nebenan. Pfeif drauf, daß sie nicht dazugehört, die sollen sie überreden, oder mit Gewalt dazu bringen, ganz egal, er brauchte nur die und keine andere!

In Gedanken stellte Sarip sich vor, wie sie sich auszog, wie sie mit ihm vögelte. O ja, er würde sie all das machen lassen, was er von den Frauen zu Hause in seinem Usbekennest nicht bekam. All diese Sachen, die er in der Stadt auf Video gesehen hatte, die ihn aber nicht erregt hatten, weil er da nur Zuschauer gewesen war. Jetzt aber würde er sie selber machen, berauschen würde er sich an diesen langen blonden Haaren, der hellen Haut, dem schlanken Körper. Und der Hals! Ihr Hals! Mit welcher Inbrunst würde er seine Finger um ihn legen und drücken, zudrücken, immer fester und fester, bis tief drinnen ihre Seele erstickte und mit einem letzten Stöhnen aus ihrem Körper fuhr . . . Und hinterher könnte er sich zur Erinnerung immer wieder den Film ansehen . . . Noch andere?! Noch eine wie sie gab es nicht. Entweder die oder keine.

* * *

Schon über eine Stunde saß Swetlana Kolomiez vor dem Spiegel und legte eine spezielle Schminke auf, wie sie Sportlerinnen beim Wasserballett benützen. Swetlana selbst hatte Sport nur in der Schule getrieben, und auch da nicht Schwimmen, sondern Volleyball. Sie lächelte vor sich hin, freilich, ihr jetziger Beruf, der älteste der Welt, war ja auch eine Art Sport.

Drei Monate war es her, daß Swetlana die Annonce gelesen hatte, in der gutaussehende junge Mädchen für den Nahen und Mittleren Osten gesucht wurden, als Sekretärinnen für Firmen, die mit russischen Partnern zusammenarbeiteten. Ohne sich besondere Chancen auszurechnen, hatte sie einen Brief mit Foto an die angegebene Adresse geschickt und war dann überrascht gewesen, als eine Antwort kam. Es wurde ihr angeboten, an einem beliebigen Tag zwischen dem 20. und 27. Oktober zu einem Gespräch in die STADT zu kommen. Ohne lange zu überlegen, hatte sich Swetlana ins Flugzeug gesetzt und war hingeflogen.

Das Gespräch hatte so ein nervöser Typ mit Pferdegesicht geführt, aber sie fand es gut, daß er ihr keinen Bären aufgebunden, sondern gesagt hatte, was Sache war. Russische Schönheiten waren im Nahen Osten sehr gefragt, und es gab viele Reiche, die sie als Mätressen wollten. Das Mädchen würde herrliche Bedingungen vorfinden, ein eigenes Haus, zwar klein, aber mit Personal, Essen, Kleidung, Schmuck – und dafür müsse sie ihrerseits eine ergebene, leidenschaftliche, vorurteilsfreie Liebhaberin sein. Wenn der Besitzer ihrer überdrüssig sei, bekäme sie eine Art Abfindung sowie die Möglichkeit, nach Rußland zurückzukehren.

Man habe sie, Swetlana, zu diesem Gespräch eingeladen, nachdem ein Polizist aus der Türkei sie nach dem Foto ausgewählt habe. Doch außer ihr hätten ihm noch einige andere Mädchen gefallen, und damit er seine endgültige Wahl treffen könne, müsse er die Möglichkeit haben, die Kandidatinnen genauer zu begutachten. Der Auftraggeber habe gebeten, die Mädchen in einem Schwimmbad zu filmen – das sei so ein Tick von ihm, weil er glaube, daß eine Frau im Wasser ihren Charakter besser zur Geltung brächte, man erkenne die Grazie besser und gleichzeitig auch die Mängel, falls es welche gab. Wenn die Wahl des Auftraggebers auf sie falle, werde man ihr bei der Ausstellung eines Reisepasses, beim Visum und beim Kauf des Flugtickets behilflich sein und ihr eine gute Reise wünschen.

»Und wenn ich ihm nicht gefalle?« hatte Swetlana gefragt.

»Wo kein Kläger, da kein Richter. Da kann man nichts machen. Wenn Sie wollen, behalten wir die Videokassette in unserem Archiv, Kunden haben wir viele, die Chancen sind also ziemlich groß. Es gibt noch eine Variante: Falls Sie finanzielle Probleme haben, können Sie in einem Porno mitspielen. Das Video ist für den Export, wir machen die Filme ausschließlich für ausländische Auftraggeber und nur auf individuelle Bestellung, unter Berücksichtigung des jeweiligen Geschmacks und der Vorlieben, und keine Kopien, versteht sich. Sie sind eine schöne Frau, also ich denke, Sie sind bestimmt nicht umsonst angereist.«

»Wäre zu hoffen.« Sie lächelte. »Wie lange dauert das mit der Antwort?«

»Drei bis vier Tage nach den Videoaufnahmen im Schwimmbad, höchstens eine Woche. Sie müßten nicht mal woandershin. Wir bringen Sie in einer eigenen Wohnung unter, Kost und Logis gehen auf die Firma. Doch unter einer Bedingung: Die Wohnung ist nur in Begleitung eines Mitarbeiters unserer Firma zu verlassen.«

»Warum so streng?« Swetlana war erstaunt.

»Darum«, erwiderte der Typ mit dem Pferdegesicht. »Ich frage Sie ja auch nicht, warum Sie nicht russischen Männern zu Diensten sein wollen, sondern lieber das gleiche im Ausland tun, und das auch noch, ohne wählen zu können. Jeder Job hat seine Tücken. Also bitte keine überflüssigen Fragen.«

Swetlana hatte es als gegeben hingenommen. Zu verlieren hatte sie sowieso nichts. Im Becken herumplanschen, mit dem Hintern wackeln, dann eine Woche Urlaub, ausschlafen, fernsehen und abends noch einen Tee, wie ein anständiges Mädchen. War ja sogar eine nette Abwechslung . . .

Punkt neun Uhr abends klingelte es an der Tür. Swetlana Kolomiez warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel, nahm die Tasche mit den Badesachen, zupfte noch einmal an ihrer Frisur und ging dann hinunter, wo ein Wagen auf sie wartete. Die Fahrt dauerte nicht lang. Es kam ihr sogar so vor, als mache der Fahrer ein paar extra Schlenker, statt den kürzesten Weg zu nehmen. Wegen der Dunkelheit konnte sie allerdings nicht viel erkennen. Der Wagen passierte ein hohes schmiedeeisernes Tor, fuhr eine Allee entlang und hielt vor einem Gebäudeeingang, vor dem bereits zwei andere Wagen geparkt waren. Swetlana griff zum Türhebel. Doch sofort murrte der Fahrer, ohne sich überhaupt nach hinten umzudrehen:

»Warte!«

Keine Minute später kamen aus dem Eingang zwei Gestalten heraus: ein Mann und ein Mädchen. Der Mann stieg in den bronzefarbenen BMW ein und ließ den Motor an. Das Mädchen hüllte sich fröstelnd in einen schicken langen Mantel, ging um den Wagen herum und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Der Wagen fuhr davon.

»Gehen wir«, kommandierte ihr Fahrer.

Swetlana kam umgezogen aus der Kabine und ging zu dem Pferdegesicht, das mit einer Videokamera am Beckenrand stand. Niemand sonst war in der Halle, was Swetlana irgendwie beruhigte. Sie hatte befürchtet, daß bei der Schau irgendwelche dahergelaufenen Typen als angebliche Firmenmitarbeiter dabeiständen, weil sie gern schöne und außerdem noch nackte Mädchen begafften (vielleicht sogar gegen Bezahlung). Daß der Mensch mit der Kamera ganz allein war, überzeugte sie mehr als alle guten Referenzen vorher.

»Was soll ich machen?«

»Nichts besonderes. Seien Sie locker und ausgelassen, tanzen Sie, schwimmen Sie. Versuchen Sie, attraktiv zu wirken. Zeigen Sie dem Kunden, was Sie zu bieten haben. Ich werde alles aufnehmen. Na los!« Er schubste sie leicht zum Becken.

Zuerst kam sie sich blöd vor, wußte nicht, wohin mit ihren Armen und Beinen, sie hatte keine Ahnung, wie sie ›sich zeigen‹ könnte. Dann dachte sie an das Haus mit Dienstboten und versuchte sich vorzustellen, wie sie einfach so zum Vergnügen im eigenen Pool schwamm. Ihre Bewegungen wurden weicher, fließender, ein paar Mal tauchte sie sogar, denn sie wußte, wie schön ihr kastanienbraunes Haar im blauen Wasser aussah.

»Es reicht!« rief der Mann mit der Kamera. »Danke. Sie können sich anziehen.«

Als Swetlana aus dem Gebäude trat, begleitet von dem Fahrer, der geduldig vor der Umkleidekabine gewartet hatte, sah sie, daß neben ihrem Wagen bereits ein neuer stand. Die nächste Kandidatin für den türkischen Thron.

* * *

In dem kleinen Zimmer im zweiten Stock verfolgten vier Männer aufmerksam das Geschehen im Schwimmbad. Als Swetlana an der Reihe war, meinte Jurij Fjodorowitsch bestimmt:

»Die ist es! Die Ähnlichkeit ist verblüffend.«

Er zog ein Foto seiner Mutter aus der Hosentasche. Er warf zuerst nochmal einen Blick auf das Foto, dann auf das Mädchen im Schwimmbad.

»Ohne jeden Zweifel, sie ist es. Man braucht sie nur ganz wenig zu schminken. Größe, Haarfarbe, Gesichtsausdruck –alles paßt.«

»Wunderbar«, meinte der Mann mit dem hellen Haar und den dunklen Augen, »damit wäre es bei Ihnen schon mal erledigt. Soll Sie jemand hinausbegleiten?«

Marzew nickte stumm.

Der Dritte in der ›Guckkammer‹ war ein älterer Mann in einem perfekt geschneiderten teuren Anzug. Ihm hatte bisher keine gefallen, aber er war nicht zum ersten Mal hier und wußte, daß die Nymphchen immer erst zum Schluß kamen. Man glotzt, der Kunde sucht sich eine von den Älteren aus, von denen, die am Anfang gezeigt werden. Das war sogar besser, denn mit den Minderjährigen war es viel zu riskant. Das mußte man nach Möglichkeit immer vermeiden. Aber auf ihn traf diese Regel nicht zu, schließlich wußte er genau, was er wollte, ihn konnte man mit solchen Tricks nicht drankriegen. Er, Assanow, war schon siebenundsechzig, und ein Mädchen älter als dreizehn würde er nicht nehmen. Besser noch jünger. Also, abwarten.

Der vierte, Sarip, schaute nur noch pro forma durch das Guckfenster. Er wußte, daß ihm von diesen Mädchen keines gefallen würde. Er brauchte die, die er tagsüber gesehen hatte. Und er würde sie bekommen. Koste es, was es wolle.

* * *

Heute war Nastja fleißig gewesen, sie hatte ihr Soll sogar übererfüllt. Und da sie ihren am Morgen gefaßten Entschluß auch umsetzen wollte, nahm sie sich vor dem Mittagessen eine volle Viertelstunde Zeit, um sich zu schminken und das Haar zu kämmen, damit es schöner fiel. Die Therapie zeigte spürbaren Effekt, es bereitete ihr sogar einiges Vergnügen, die Garderobe für den Speisesaal auszusuchen.

Nach dem Mittagessen machte sie sich zu einem Spaziergang auf. Sofort hatte sie irgendeinen widerlichen Gnom neben sich, der ihr eine Unterhaltung aufdrängen wollte. Nastja zwang sich dazu, sich auf ein Gespräch einzulassen, doch nach zehn Minuten ödete es sie dermaßen an, daß sie das sich selbst gegebene Versprechen, friedlich und umgänglich zu sein, brach.

»Entschuldigen Sie, könnten Sie mich nicht einfach allein lassen?« sagte sie und bog in einen Seitenweg ein.

Der Kleinwüchsige erwies sich jedoch als ziemliche Klette. Er scharwenzelte um Nastja herum und plapperte irgendeinen Schwachsinn, wobei er gar keine Antwort erwartete. Und plötzlich hakte er sich bei ihr unter.

Nastja blieb stehen und war schon drauf und dran, ihm irgendeine Unverschämtheit ins Gesicht zu schleudern, doch der Kerl kam ihr zuvor:

»Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen fünfzigtausend«, sagte er vollkommen ernst.

»Klar will ich, her damit«, meinte Nastja nicht weniger ernst.

»Na ja, nicht einfach nur so.« Der Kerl lachte.

»Dann will ich sie nicht.«

Nastja drehte sich um und ging weiter, doch ihr hartnäckiger Begleiter war gleich wieder neben ihr.

»Sie müssen überhaupt nichts dafür tun. Wir gehen nur gemeinsam spazieren und Sie erzählen mir dabei, wie Sie ihre Zeit hier im Sanatorium verbringen, welche Kuren Sie nehmen, welche Arschlöcher außer mir sich noch an Sie heranmachen, danach gehen wir auf Ihr Zimmer, Sie machen Ihren Kram, ich setze mich inzwischen still in die Ecke und lese ein Buch. Ich bleibe so bis gegen zehn Uhr und dann verdufte ich wieder. Mehr nicht.«

»Und die fünfzigtausend?« fragte Nastja belustigt. Sie fing an, neugierig zu werden.

»Morgen früh. Falls Sie erlauben, daß ich später abends noch einmal bei Ihnen vorbeikomme, bringe ich das Geld auch gleich heute.«

»Hören Sie, junger Mann, wenn Sie fünfzigtausend übrig haben, dann holen Sie besser einen Dachdecker, denn Sie haben einen Dachschaden.«

Erneut schritt Nastja energisch durch die Allee davon. Der Kerl ließ sie in Ruhe.

Ihre liegengelassene Uhr hatte Nastja bereits am Morgen beim Masseur abgeholt, deshalb war sie heute sogar pünktlich beim Abendessen gewesen. Jetzt, als sie sah, daß es kurz vor elf war, beschloß sie, die Arbeit für heute zu beenden. Sie legte die fertigen Seiten in einen Hefter, klappte die Wörterbücher zu und ging auf den Balkon zum Rauchen.

Der Oktober war kalt, fast schon winterlich. Die kahlen Bäume warteten auf den Schnee, fröstelnd und einsam standen sie da, so ganz ohne Laub. Nastja kam es vor, als sei ihr innen drin genauso kalt wie diesen Bäumen. Ihre ganze Therapie heute war nichts als ein Christbaumschmuck an abgefrorenen kahlen Ästen. Genauso blödsinnig und unglaubwürdig. Ein nettes Spielchen – aber jetzt war Schluß.

Sie hatte längst zu Ende geraucht und stand noch immer gedankenverloren in der Stille. Ein leichter Frosthauch wehte sie schließlich an, sie zog die Schultern ein und erwachte aus ihrer Starre. Regina Arkadjewna nebenan schien Besuch zu haben. Nastja hörte Stimmen:

». . . so geht das nicht, das ist der reinste Pfusch. Die optische Abfolge ist dadurch unterbrochen, die Stimmung wird versaut. Die akustische Lösung zeigt keinerlei Verbindung zur optischen. Das verletzt die Harmonie, schwächt den Eindruck, läßt keine Assoziationen aufkommen. Du hast diese herrliche Musik einfach kaputtgemacht. . .«

Die Stimme der Alten konnte richtig fordernd und zornig klingen, das hätte Nastja nie gedacht. Es war ihr etwas peinlich. Sie ging zurück ins Zimmer und schloß die Balkontür. Sie hängte gerade ihre Jacke in den Schrank, als es klopfte. Draußen stand ihre Nachbarin.

»Ist etwas passiert?« fragte Nastja alarmiert, denn sie dachte daran, was ihr die Alte bei ihrer ersten Begegnung gesagt hatte.

»Ja, Nastjenka!« Die Nachbarin strahlte. »Da habe ich neulich noch gemurrt und gemeckert . . . Und nun hat man sie doch nicht ganz vergessen, die Alte! Ein Schüler von mir ist da, einer von den wenigen, die mir bis heute Freude machen. Kommen Sie, ich mache Sie miteinander bekannt. Immer nur an der Schreibmaschine zu sitzen, ist auch nichts für Sie.«

Als Nastja die freudig erregte Alte sah, brachte sie es nicht über sich, nein zu sagen. War ja verständlich, daß sie ein bißchen prahlen wollte mit einem Schüler, der es zu etwas gebracht hatte. Was für Freuden blieben einer einsamen älteren Frau denn noch?

»Ich richte mich nur noch schnell ein wenig . . .«

»Sie sehen zauberhaft aus, Nastja, rote Wangen wie nach einem Spaziergang. Kommen Sie schon.«

Als sie in das Zimmer der Nachbarin kam, stutzte Nastja unwillkürlich. Auf dem Tisch stand eine Schale mit Äpfeln, Trauben, Granatäpfeln. Daneben eine Flasche Kognak, eine Schachtel teurer Pralinen, auf einem Teller eine aufgeschnittene Zitrone. Am meisten jedoch staunte sie über einen riesigen Strauß prächtiger Chrysanthemen, deren rosa-cremefarbene Blütenblätter auf der Innenseite wie Terrakotta schimmerten. Ein großer attraktiver Mann erhob sich aus dem Sessel und kam auf sie zu. Vom Gesicht her ein klassisch strenger östli-eher Typ mit dunklen, mandelförmigen Augen, das Haar hell kastanienfarben, eigentlich fast hellbraun. Dieser Kontrast verlieh seiner männlichen Erscheinung etwas Weiches, Bezauberndes . . .

»Damir«, stellte er sich vor, und Nastja sah kurz einen Ausdruck über sein Gesicht huschen, als sei er über etwas erstaunt, habe es sich aber rechtzeitig verkniffen, weil es sich nicht gehörte, darüber erstaunt zu sein.

»Anastasija.« Die Stimme schön gedämpft und leise gemacht, und das Lächeln entlieh sich Nastja aus dem Fundus einer französischen Filmschauspielerin.

Damir gab ihr einen Handkuß, und unter seinem warmen Blick begann das Eis in ihr zu schmelzen. Mein Gott, wie gut, daß sie doch herübergekommen war! Um ein Haar hätte sie abgesagt.

Regina Arkadjewna holte ein Glas, schenkte Kognak ein und reichte es Nastja. Die wunderte sich, daß die ältere Dame und nicht der Mann den Alkohol ausschenkte, im selben Augenblick jedoch begriff sie, daß Damir ja immer noch ihre Hand hielt. Und selber stand sie da wie eine Vogelscheuche mit einem seligen Lächeln im Gesicht. Verlegen zog sie ihre Hand zurück, das Glas lehnte sie ab.

»Sie trinken gar nicht?« Die Alte wunderte sich.

»Ich mag keinen Kognak.«

»Was mögen Sie denn?«

»Wermut. Am liebsten Martini.«

»Ich werde es mir merken«, sagte Damir mit einer Stimme, daß Nastja Hitzewallungen bekam.

Damir Ismailow war, wie sich herausstellte, hier in der STADT geboren und aufgewachsen, bei Regina Arkadjewna hatte er sechs Jahre studiert und Anlaß zu großen Hoffnungen gegeben, doch nach der höheren Musikschule war er nicht aufs Konservatorium gegangen, wie alle erwartet hatten, sondern an die Filmhochschule. Jetzt arbeite er als Regisseur in einem kleinen privaten Filmstudio, könne alles frei realisieren, was ihm in den Sinn komme, sei sehr experimentierfreudig, und manchmal würden die Früchte seines eigenwilligen Schaffens sogar auf irgendwelchen Festivals mit irgendwelchen Preisen ausgezeichnet. Die Geringschätzung, mit der Damir von Festivals und Preisen sprach, schien Nastja zwar nicht gerade gespielt zu sein, allerdings jedoch irgendwie unglaubwürdig: Wie konnte ein Filmstudio existieren, wenn es nichtkommerzielle, experimentelle Filme produzierte?

»Da brauche ich mir keine Sorgen zu machen.« Damir lächelte belustigt. »Das Studio gehört anteilig zwei Verrückten, die der festen Meinung sind, das Talent ihrer Kinder würde im Filmgeschäft nicht angemessen geschätzt, und sie reißen sich das letzte Hemd vom Leib, nur damit Filme herauskommen, in denen ihre unansehnliche Brut in Hauptrollen zu sehen ist. Die Reichen haben so ihre Schrullen, wissen Sie. Aber Geld wie Heu, und woher es kommt, das soll nicht meine Sorge sein. Oder sind Sie da anderer Meinung?«

»Und wozu dann das Experimentieren?«

»Das läßt sich nur schwer mit ein paar Worten erklären . . . Kurz gesagt, ich versuche meine musikalische Ausbildung einzusetzen und schreibe selbst die Musik zu den Filmen, wobei ich mich bemühe, sie das ausdrücken zu lassen, was ich auch als Regisseur sagen will.«

Als Nastja wieder zu sich kam, war es nach ein Uhr nachts. Sie konnte sich nicht entsinnen, sich in Gesellschaft wildfremder Menschen jemals so wohl gefühlt zu haben. Die Trauben waren süß, der Kaffee stark gewesen, die Alte hatte sich entgegen aller Befürchtungen als wunderbar lebhafte, geistreiche Gesprächspartnerin gezeigt, die fleißig dem Kognak zusprach und mit ihrem Lachen alle ansteckte. Damirs Blicke hüllten Nastja gänzlich ein, sie waren nicht mehr nur warm, sondern glühend, und Nastja kam es vor, als beginne sie, von diesen Blicken innerlich gewärmt, äußerlich zu zerfließen, sie hatte keine Arme, keine Beine mehr, und es war ihr völlig unbegreiflich, wie sie überhaupt aus dem Sessel aufstehen sollte.

»Nastja, möchten Sie nicht noch einen kleinen Spaziergang machen vor dem Schlafengehen?« fragte Damir mit einem Blick aus dem Fenster. »Es ist Vollmond. Wirklich schön.«

»Gern.« Sie war sofort einverstanden, wohl etwas schneller, als es der Anstand erlaubte. Der Alten blieb das nicht verborgen, und sie zwinkerte Nastja verschwörerisch zu.

»Sind Sie mit dem Wagen hier, Damir?« fragte Nastja, während sie langsam durch den mondbeschienenen Park liefen.

»Nein.«

»Wie kommen Sie dann nach Hause? Es fahren keine Busse mehr, und auf Taxis besteht auch keine große Hoffnung.«

»Hatte ich es nicht erwähnt? Ich bin für eine einwöchige Kur hier. Erst heute habe ich gebucht. Heute morgen bin ich mit dem Flugzeug aus Nowosibirsk gekommen, unser Studio ist dort, ich habe zu Hause bei Regina Arkadjewna vorbeigeschaut, die Nachbarin sagte mir, sie sei im Sanatorium. Ich bin gleich hierher, und Regina gab mir den Rat, mich hier einzuquartieren. Na ja! Komfort, gutes Essen, und vor allem –Regina. Schließlich bin ich ja wegen ihr hier. Ich möchte ihr verschiedene Arbeiten zeigen.«

»Man hat den Eindruck, Sie studieren noch immer bei ihr«, meinte Nastja leise und hüllte sich enger in ihren Schal.

»Regina ist ein Genie«, sagte Damir sehr ernst. »Schreckliches Schicksal und eine bewunderungswürdige Standhaftigkeit. Seit ihrer Kindheit hinkt sie. Schönes Gesicht, wundervolles Haar, und dann über die ganze Wange dieses häßliche Muttermal. Sie war unglaublich talentiert. Die Fachleute hörten ihre Aufnahmen und waren außer sich vor Begeisterung. Doch sobald sie vor ihnen auf der Bühne stand – Schluß, aus. Schließlich waren das die vierziger Jahre. Der Künstler hatte eine Gottheit zu sein, man sollte sich in ihn verlieben können, dann würden die Leute auch in die Konzerte gehen. Wer kauft schon eine Karte, um eine Hinkende mit entstelltem Gesicht zu hören? Daß es darum ging, eine talentierte Pianistin spielen zu hören, daran wollte keiner denken. Wie denn auch, bei dem Prunkgehabe der Stalinzeit! Darum ließ Regina ihre Auftritte sein und widmete sich dem Unterricht. Und auch hier machte sie von sich reden. Genie ist eben Genie. Innerhalb von fünf Minuten, mit zehn Worten und drei Akkorden vermochte sie einem Schüler zu erklären, wozu andere Pädagogen Wochen, ja Monate brauchten. Wenn ein Kind auch nur das winzigste Fünkchen, das kleinste Körnchen Talent besaß, unter Reginas Führung entfaltete sich eine göttliche Blume. Die Kinder haben sie angebetet, die Eltern haben sie vergöttert. Und dann ein neuer Schlag! Man ließ sie nicht zusammen mit ihren Schülern nach Polen reisen, zu einem internationalen Wettbewerb für junge Musiker. Alle Teilnehmer kamen mit ihren Lehrern, aber die zwei aus unserer STADT kamen mit einem Instrukteur vom städtischen Parteikomitee.«

»O Gott, wie grauenhaft«, entfuhr es Nastja. »Aber warum nur?«

»Was glauben Sie? Hätte in den sechziger Jahren eine arme Lehrerin mit dem Nachnamen Walter auf eine Dienstreise ins Ausland fahren können? Nicht daran zu denken. Der Rest war noch schlimmer. Es fand sich ein Idiot, der es für nötig hielt, ihr zu erklären, weshalb die Schüler mit jemandem von der Partei fahren und nicht mit ihr. Da ihm jedoch der Mut fehlte, diese antisemitische Wahrheit auszusprechen, sagte er ihr, daß ihr Aussehen nicht repräsentativ sei. Beim Ankündigen der Teilnehmer auf Wettbewerben werde immer auch der Lehrer mit vorgestellt, der sich dann vor Publikum und Jury verbeugen müsse. Wie stellen Sie sich das vor, meinte er, mit Ihrem Bein und bei Ihrem Gesicht. . .«

»Und was war dann?«

»Danach setzte sich Regina ein Ziel und begann daraufhinzuarbeiten. Sie nahm zusätzliche Schüler, es war jetzt kein normales Geldverdienen mehr, sondern buchstäblich ein Geldraffen. Sie kam gar nicht mehr raus. Dann nahm sie endlich unbezahlten Urlaub und fuhr nach Moskau. Sie ließ sich ihr Gesicht operieren, nicht vollständig natürlich, aber hinterher war es bedeutend besser. Wenn man es nicht weiß, merkt man nichts. Mit dem Bein ging es böse aus. Vier Operationen hintereinander, irgendwie haben sie es nicht hinbekommen, vielleicht auch einen Fehler gemacht. Kurz gesagt, während Regina früher einfach bloß hinkte, geht sie seit der Behandlung am Stock. Sie war damals schon fast vierzig. Ihr Privatleben konnte sie vergessen. Hätte sie mehr Geld gehabt und wäre zehn Jahre früher zum Arzt gegangen, wäre vielleicht alles anders gekommen. Sie hätte eine Familie haben können, und Kinder. Aber so ist sie einsam und allein.«

»Aber sie hat doch auch jetzt noch Schüler«, entgegnete Nastja, »und Sie haben sie ja auch nicht vergessen.«

»Machen Sie meinen Edelmut nicht größer, als er ist, Nastjenka. Meine Besuche gelten nicht der Lehrerin Regina, der ich bis an mein Lebensende dankbar bin, sondern der genialen Musikerin. Wenn Sie möchten, dann kommen Sie zu mir aufs Zimmer, und ich werde Ihnen demonstrieren, was ich meine.«

»Es ist schon spät«, protestierte Nastja leicht.

Damir lief bis unter eine Laterne, schob den Ärmel zurück und sah auf seine Uhr.

»Zwanzig nach zwei. Tatsächlich, ganz schön spät. Wissen Sie was, Nastja, lassen Sie uns ganz offen miteinander reden. Ich mag es sowieso am liebsten einfach und ehrlich. Sie haben nichts dagegen?«

»Probieren Sie es«, kam es Nastja kaum hörbar über die erstarrten Lippen. Sie verspürte eine leichte Übelkeit.

»Erstens schlage ich vor, zum Du überzugehen. Einverstanden?«

Sie nickte und haßte sich dafür.

»Zweitens möchte ich Ihnen, soll heißen dir, hiermit offiziell erklären, daß du mir nicht nur gefällst, sondern sogar sehr gefällst, ich bin kurz davor, mich zu verlieben und hätte natürlich gern, daß wir jetzt zusammen auf mein Zimmer gehen. Doch es soll so laufen, wie du es willst. Wenn du meinst, heute sei es noch zu früh, dann warte ich gern bis morgen, oder bis übermorgen, oder bis zu irgendeinem Tag dieser Woche, bis ich wieder zurückfliege nach Nowosibirsk. Nur hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Ich habe meine Apparate mitgebracht, weil ich Regina um Rat fragen möchte. Ich bin zum Arbeiten hergekommen. Wenn ich dich also zu mir aufs Zimmer einlade, um dir meine Arbeit zu zeigen, dann ausdrücklich zu diesem Zweck. Ich bin kein kleiner Junge mehr, Nastja, der ein Mädchen zum Musikhören in den Keller einlädt, und hinterher beklagt sich das Mädchen, man habe sie vergewaltigt. Ich bin fast vierzig. Und billige Tricks habe ich nicht nötig, um eine Frau, die mir gefällt, ins Bett zu bekommen.«

Allerdings. Und nicht nur ins Bett, sondern auch auf den Boden, und auf den Tisch, und überhaupt auf alles, was sich gerade bietet. Wie schade, mein Gott, wie schade! Alles an dir ist in Ordnung, Damir, bis auf eines: du lügst. Und das liebe ich gar nicht.