Kapitel 5

TAG SECHS. BEGINNT NACHTS

»Du bist irgendwie nicht ganz da«, bemerkte Nastja, während sie brav Damir folgte, den langen Flur im ersten Stock entlang.

»Nicht so wichtig.« Er winkte ab. »Ich habe mich beeilt zurück zu sein, bevor du dich schlafen legst. Ich bat den Taxifahrer schneller zu fahren, und der ist so gerast, daß wir zweimal fast einen Unfall gebaut hätten.«

»Hattest du Angst?«

»Ein bißchen, ja. Bin immer noch völlig neben mir.«

Er öffnete die Tür zu seiner ›Deluxe‹-Suite, ließ Nastja den Vortritt und half ihr aus der Jacke.

»Ach, die Zigaretten!« Sie stutzte. »Mist, ich muß sie auf der Bank im Park liegengelassen haben. Aber um sie zu holen, ist es jetzt zu spät. . .«

»Du beleidigst mich, Anastasija. Du glaubst doch nicht im Ernst, ich hätte mich um einen Martini für dich gekümmert und die Zigaretten vergessen?«

Mit theatralischer Geste holte Damir aus dem Barschrank eine Flasche, Gläser sowie eine Schachtel guter Mentholzigaretten.

»Sieh einer an, er hat es sich gemerkt.« Nastja mußte lächeln. »Wenn man mal die Details außer acht läßt, könnte man wirklich glauben, du seist verliebt.«

»Nastjenka«, Damir nahm sie zärtlich bei der Hand, »womit kann ich dir meine Aufrichtigkeit noch beweisen? Zwei ganze Tage bin ich nun schon hier . . .«

»Drei«, korrigierte Nastja ihn ruhig.

»Wie bitte?«

»Du bist nicht erst zwei Tage hier, sondern drei. Das sind diese kleinen Details, die es mir schwer machen, an deine Aufrichtigkeit zu glauben. Ich frage gar nicht, weshalb du lügst, ich nehme das nur zur Kenntnis. Du bist ein großer Junge, Damir, bald wirst du vierzig, und wenn du lügst, so hat das wahrscheinlich irgendeinen Sinn. Und komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen Ausreden. Nimm schlicht zur Kenntnis: Ich glaube dir kein einziges Wort. Doch das hindert mich keineswegs daran, Fragen mit dir zu diskutieren, die gar keine Wahrheitstreue verlangen. Zum Beispiel deine Arbeit. Weißt du, dein Film hat mir gut gefallen. Ich würde ihn gern zu Ende anschauen. Geht das?«

»Das geht schon.« Seine Stimme klang jetzt kalt. »Deine Direktheit bringt mich um. Bist du immer so?«

»Wie meinst du das?«

»Du bist keine Spielerin. Du bist einfach überkorrekt, setzt auch noch das allerletzte Komma. Wahrscheinlich hast du auch keine Freunde?«

»Nein«, pflichtete Nastja ihm bei. »Ich habe einen geliebten Mann, der mir alle Freunde ersetzt, einschließlich der gekauften.«

»Anastasija«, stöhnte Damir. »Du bist unerträglich. Der Teufel muß mich geritten haben, als ich mich für dich zu interessieren begann. Na gut, schau dir den Film zu Ende an, ich geh inzwischen Kaffee kochen.«

Auf dem Bildschirm erlebte der inzwischen erwachsene Enkel die Tragödie der Einsamkeit. »Du hast mir die Gabe der Rede genommen«, warf er seinem Großvater vor. »Ich kann meine Gefühle nicht mehr normal ausdrücken, ich kann sie nur spielen. Ich habe alle Freunde verloren, die Frauen meiden mich, weil ich einen Sprachfehler habe und mich ihnen nur mit Hilfe der Musik verständlich machen kann.« – »Dafür hast du große, unsterbliche Musik geschaffen«, entgegnete der sterbende blinde Großvater. »Ich will das aber nicht! Ich will eine Frau haben, Kinder, Freunde, ich will sein wie alle!« – »Ein Mensch, der große Musik schafft, darf nicht sein wie alle«, erwiderte der Großvater. »Wenn du solch eine Begabung hast, vergiß das gewöhnliche Leben mit seinen Regeln und seinen Albernheiten. Sie gelten nicht für dich. Du bist ein Genie.« Der Großvater entschlummert langsam, während der Enkel an seinem Bett steht und schreit: »Ich will kein Genie sein. Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht!« Und plötzlich, als er begreift, daß er mit Worten seinen Schmerz nicht ausdrücken kann, seinen Haß auf den Großvater, auf sich selbst, auf die Musik, greift er nach der Geige und beginnt zu spielen. Ende des Films.

Nastja hielt es für eine ganz außergewöhnliche Arbeit. Damir war wirklich begabt, darüber ließ sich schwerlich streiten. Seine musikalischen Fähigkeiten kamen in dem Film voll zur Geltung, und das Sujet war ebenfalls alles andere als gewöhnlich.

»Hat er dir gefallen?« Damir sah ihr ins Gesicht.

»Sehr«, meinte Nastja ganz offen. »Hast du noch etwas?«

»Nein, ich habe nur eine Kassette dabei, ich wollte sie Regina zeigen.«

Interessant, was war dann das, was du ihr noch gezeigt hast? Wegen welchem Film hat sie dich so gnadenlos kritisiert und dich einen Pfuscher geheißen? Wegen diesem hier? Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, dann hast du heute nachmittag ganz bestimmt erklärt, Regina Arkadjewna habe diesen Film noch nicht gesehen. Schon wieder lügst du, Damir Ismailow. Aber ich werde jetzt nicht jedes deiner Worte festnageln und dich der Lüge überführen. Ich bin nicht am Arbeitsplatz. Ich werde dich schon noch drankriegen und dir zeigen, was für ein schlechter Lügner du bist und daß ich dich durchschaue. Und was weiter? Schließlich muß ich mit dir ja keine Pferde stehlen gehen. Wenn du lügen willst – bitte sehr, soviel du willst. Mich stört das nicht.

Dann küßte Damir sie wieder lange und innig, streichelte dabei ihren Rücken und liebkoste zärtlich ihr langes Haar, und wieder ließ Nastja ihr inneres Metronom mitlaufen und schimpfte sich dabei zynisch, kalt und total unromantisch. Ich bin ein moralisches Monstrum, das hatte sie sich in den letzten Tagen schön öfter gesagt. Warum kann ich nicht loslassen und den Flirt mit einem gutaussehenden, begabten Mann einfach genießen? Warum ödet mich das so an? Sie wollte nachsichtig sein mit Damir und zählte diesmal bis zwanzig. Dann stand sie auf, wünschte ihm eine gute Nacht und ging auf ihr Zimmer.

* * *

Pawel Dobrynin hatte es sich über Jahre hin zur festen Regel gemacht: Niemals bei einer Frau bis zum Morgen bleiben. Der Begriff ›Morgen‹ verband sich in seiner Vorstellung keineswegs mit irgendeiner Stellung der Uhrzeiger auf dem Zifferblatt. Entscheidendes Kriterium waren die morgendlichen Attribute: Waschen, Gespräche, gemeinsames Frühstück, kurz gesagt alles, was nur irgendwie an Familienalltag erinnerte. Selbst wenn er erst um zehn Uhr morgens in einem fremden Bett erwachte, sofort zog er sich an und ging. Das war für ihn die einfachste Lösung.

Pawel riß sich von dem Luxuskörper der Brünetten los und sah auf die Uhr – gleich halb vier. Die zweihunderttausend hast du in der Tasche, stellte er mit Befriedigung fest. Zeit, aufs eigene Zimmer zu gehen, um noch eine Mütze voll Schlaf zu nehmen.

Die Brünette zeigte Verständnis und hielt ihn nicht auf. Offenbar war sie vom gleichen Schlag wie er, suchte einmalige Vergnügung und keinen Dauerpartner.

Bei Zimmer 240 angekommen, klopfte Pawel sacht. Als er hinter der Tür keinerlei Rascheln hörte, was ihm gesagt hätte, daß sein Nachbar aufgewacht war und ihm gleich aufmachte, klopfte er fester. Nichts. Vorsichtig drückte er auf die Klinke. Die Tür war offen. Dieser Parasit, schimpfte Dobrynin, schläft wie ein Mehlsack und sperrt nicht ab. Wie oft hab’ ich ihm schon gesagt, daß er die Tür nicht offenlassen soll: Seine – Pawels – Lederjacke, der Fotoapparat, der Doppelkassettenrecorder und der übrige Kram kosteten einen Haufen Geld, und noch dazu bewahrten sie in ihrem Zimmer die Gemeinschaftskasse auf, nicht nur seine und Kolja Spieleinsätze, sondern auch die von Shenja. Unglaublicher Leichtsinn.

Pawel schaltete das Deckenlicht ein und setzte zu einer Standpauke an. Sein Zimmerkumpan lag in die Decke gewickelt und mit dem Gesicht zur Wand reglos da.

»He, Kolja!« rief Dobrynin laut. »Wach schon auf! Man hat uns beklaut.«

Kolja rührte sich nicht. Pawel ging näher hin und rüttelte ihn an der Schulter. Da blieb ihm ein Schrei in der Kehle stecken.

* * *

»Was machen wir jetzt bloß?« fragte Swetlana Kolomiez zerstreut. Sie saß in eine Decke gehüllt auf dem Sofa und ließ die Füße baumeln.

»Wir müssen von hier verschwinden, bevor sie kommen. Wir haben noch ungefähr vier Stunden Zeit.«

Wlad wanderte langsam durchs Zimmer, er zitterte vor Kälte, es wurde ihm einfach nicht wärmer.

»Der Mist ist nur, daß wir nicht wissen wohin. Die finden uns doch gleich – hübsches Mädchen in Begleitung eines Liliputaners. Ein malerisches Paar, muß man zugeben.«

»Und wenn wir einfach abhauen und uns verstecken?« schlug Swetlana vor. »Irgendeinen Keller finden oder ein verlassenes Haus und dort eine Zeitlang abwarten?«

»Du hast etwas vergessen. Ich hänge an der Nadel. Kannst du dir vor stellen, wie es mir morgen geht? Wieviel Geld haben wir?«

»Ich habe zwölfhundert, das ist alles. Und du?«

»Nur das Geld für die Rückreise.«

»Vielleicht schaffen wir es bis Tagesanbruch aus der STADT zu sein? Laß es uns probieren. Weißt du, wo der Bahnhof ist?«

»Keine Ahnung, ich bin mit dem Flugzeug gekommen. Und du?«

»Ich auch. Öffentliche Verkehrsmittel fahren jetzt nicht, und die Straßen sind wie ausgestorben, keiner da, den man nach dem Weg fragen könnte. Ein Taxi?«

»Fällt aus. In keiner Stadt arbeitet heutzutage ein normaler Taxifahrer noch nachts. Nur Mafiosi. Dann fallen wir denen direkt in die Hände.«

»Aber vielleicht haben wir Glück, Wlad? Wir halten einfach einen privaten an.«

»Bist du noch bei Trost? Welcher Privatmensch nimmt denn um vier Uhr morgens irgendwelche Unbekannten in seinem Wagen mit? Und wenn er es macht, dann nur mit der Absicht, sie auszurauben.«

»So geht es aber doch nicht, Wladitschek«, schluchzte das Mädchen, »wenn du überall nur Verbrecher siehst, dann gibt es überhaupt keinen Ausweg mehr. Aber es muß einen geben, hörst du? Unbedingt. Ich will nicht sterben. Wlad, du bist doch der Mann, du mußt dir irgend etwas einfallen lassen.«

»Also, Mädchen, folgendes.« Wlad blieb einen Moment stehen, dann wanderte er weiter durchs Zimmer hin und her. »Wenn wir bis zum Morgen nicht weg sind, sind wir erledigt. Die Stadt zu verlassen, ist sehr riskant, das geht vielleicht nur noch schlimmer aus. Variante eins – hierbleiben. Dazu müßten wir andere Kleidung anziehen, sowohl du als auch ich. Du in deinem Fünfziger-Jahre-Kleid bist viel zu auffällig. Von mir ganz zu schweigen, ein Zweitklässler in Erwachsenenkleidern. Außerdem brauchen wir noch Geld für Essen und für den Stoff. Bloß hab’ ich nicht den geringsten Schimmer, wo ich ihn beschaffen könnte, ich kenne niemanden in der STADT. Doch wenn wir das Problem mit der Kleidung, dem Geld und dem Stoff hinkriegen, dann besteht eine Chance, daß wir hier rauskommen. Sei jetzt einfach mal fünf Minuten ruhig, ich muß nachdenken.«

Swetlana drückte sich ganz still in eine Ecke des Sofas. O Gott, in was für eine schreckliche Geschichte war sie da hineingeraten! Sie hatte immer noch nicht begriffen, wieso Wlad meinte, daß man sie auf jeden Fall umbringen würde, aber sie glaubte es ihm. Mit so was würde er nicht scherzen. Und wenn man doch zur Polizei ging? Ihnen alles erzählte, wie es war. Dann müßte sie auch zugeben, daß sie eine Prostituierte war und in einem Pornofilm hatte mitmachen wollen. Das galt freilich als Verbrechen, aber sie wäre schließlich geständig, da käme sie um ein Gerichtsverfahren herum. Und Wlad? Auf jeden Fall kämen sie erst mal beide in Haft, selbst wenn sie dann freigesprochen würden. Und seine Drogen bekäme er dort nicht auf dem Tablett serviert. Armer Kleiner! Im Knast geht er bestimmt drauf.

Swetlana überlegte kurz, wo man Geld auftreiben könnte. Die graue Glacelederjacke verkaufen, die Goldkette und den Ring? In diesem Fall wäre es ihr nicht schade drum. Aber nachts, in einer fremden Stadt, und noch dazu unter Zeitdruck? Mehr als ein Drittel des Werts wäre da nicht herauszuschlagen. Sie wußte ja nicht einmal, wo hier nachts die Händler saßen, und ob überhaupt. Man könnte versuchen, auf altgewohnte Weise etwas zu verdienen, doch das Risiko war groß, mit der Mafia, die hier den Strich kontrollierte, aneinanderzugeraten. Dann war endgültig Feierabend. Was tun?

Wlad hielt plötzlich inne.

»Die Stadt, aus der du kommst, kennst du dich da gut aus?« fragte er.

»Natürlich. Ich bin dort aufgewachsen.«

»In wie viele Sektoren ist deine Stadt aufgeteilt?«

»Was für Sektoren?« Swetlana begriff nicht. »Stadtteile, oder was?«

»Wie viele Mafiaclans kontrollieren die Stadt?« fragte er, jede Silbe einzeln betonend.

»Woher soll ich das wissen?« fuhr sie hoch. »Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«

»Hör mir zu, Mädchen. In der Stadt, aus der ich komme, sind es vier. Es gibt Städte mit zwei, und einige mit zehn. Kapierst du, worauf ich hinaus will?«

»Nein. Ich kapiere gar nichts.« Sie begann wieder zu schluchzen.

»Wenn wir beide es hier mit einer bestimmten Mafia zu tun haben, dann müssen wir uns nur an die andere wenden. Die werden uns dann garantiert helfen.«

»Wieso sollten die uns helfen?«

»Das ist deren Konkurrenz. Soweit kapiert? Wenn der eine Clan hinter uns her ist, nimmt uns der andere unter seine Fittiche. Bestimmt rechnen sie untereinander ab, aber in diesem Spiel ist jeder Trumpf gut. Und genau zu solch einem Trumpf müssen wir werden. Schlecht ist nur, daß wir beide in dieser STADT hier fremd sind. Die Orientierung ist schwer. Aber man könnte es riskieren. Fangen wir bei der Geographie an. Weißt du noch, wo das Büro liegt, in dem du das Vorstellungsgespräch geführt hast?«

»Nein, ich weiß nicht mal die Adresse. In der Anzeige war ein Postfach angegeben, und auch nicht hier, sondern in einer anderen Stadt. Im Antwortschreiben stand, ich solle hierher kommen, meine Ankunftszeit aber vorher der ersten Adresse melden. Hier wurde ich abgeholt und mit dem Auto zu Semjon gebracht.«

»Hast du dir den Weg gemerkt?«

»Nein. Ich habe überhaupt keinen Orientierungssinn. Zum Schwimmbad haben sie mich abends gefahren, da war es schon dunkel. Und hierher auch abends.«

»Mist. Praktisch null Information. Mich haben sie auch am Flughafen abgeholt und hierher gebracht. Es war zwar morgens, aber den Weg habe ich mir auch nicht gemerkt, wozu auch. Dann versuchen wir eben, auf anderem Wege zu einer Lösung zu kommen.«

* * *

»Wie konnte dir nur so was passieren, Semjon?«

»Ich hatte keine Wahl. Er hat mich erkannt. Wir waren fünf Jahre zusammen in der gleichen Mannschaft, haben oft im selben Zelt übernachtet. Er hat gedacht, ich säße schon lange im Knast, und zwar für fünfzehn Jahre.«

»Du könntest durchaus schon wieder auf freiem Fuß sein.«

»Na klar! Für Mord in Verbindung mit Vergewaltigung? Da hätten sie mich einfach wieder rausgelassen! War doch ein Mordsskandal, die ganze Truppe wußte davon. Nachdem ich untergetaucht war, wurden alle samt Trainer zehnmal zum Verhör zitiert, ob sie nicht wüßten, wo ich mich verstecken könnte. Seither habe ich mich nicht mehr in Moskau sehen lassen, immer schön still gehalten, neue Papiere besorgt. Es schien ja zu klappen, keiner hat mich bis jetzt gefunden. Und dann ausgerechnet so was – Kolja Alferow, mein Busenfreund. Hat mich gleich erkannt, zum Teufel mit ihm, obwohl es so lange her ist. Sobald der zurück in Moskau gewesen wäre, hätte er allen unseren gemeinsamen Bekannten erzählt, daß er mich in der STADT gesehen hat. Glauben Sie, die Bullen hätten dann nicht Wind davon bekommen? Irgendein Depp findet sich immer, der einen Tip gibt. Entweder aus Überzeugung oder einfach, um anderen zu schaden. Zumal Alferow mich zusammen mit Sarip gesehen hat.«

»Auch das noch?«

»Ja. Sarip röchelt unter mir, und da taucht Alferow aus dem Gebüsch auf und wirft sich mir an den Hals wie dem besten Freund. Was blieb mir übrig? Er sieht Sarip und erstarrt vor Schreck, und ich starre ihn an und überlege, was ich mit diesem ganzen Schlamassel anfange. Na, da mußte ich ihm eben eins über die Rübe ziehen.«

»Das macht alles noch komplizierter. Kotik, was meinst du?«

»Alferows Leiche wie gewöhnlich verschwinden zu lassen, war unmöglich. Er ist doch Kurgast, man wird ihn suchen. Darum haben wir ihn auf sein Zimmer geschafft und ihn dort gelassen. Er hat das Zimmer zusammen mit irgend so einem Trottel, der dauernd in fremden Betten rumhüpft. Die werden sich zuallererst einmal an ihn halten, werden versuchen, ihm Mord aus Eifersucht anzuhängen oder Totschlag im Suff. Wir haben alles ganz sauber erledigt. Durch den Lieferanteneingang und mit dem Lastenaufzug, niemand hat uns gesehen.«

»Und Sarip?«

»Sarip haben wir vorläufig in das Nebengebäude geschafft, wir konnten ihn ja nicht in der Allee liegenlassen. Der Wagen ist weg zum Tanken. Sobald er zurück ist, schaffen wir ihn zum Pavillon.«

»Bist du sicher, daß man Sarip nicht suchen wird? Seine Familie weiß, wo er hingefahren ist!«

»Seine Familie weiß, daß er psychisch krank ist, deshalb hält er es auch nie lange an einem Arbeitsplatz aus. Pendelt dauernd zwischen der STADT und seinen Jobs hin und her, es kommt vor, daß er wochenlang verschwunden ist, und niemand kümmert sich darum, keiner vermißt ihn. Als wir merkten, daß Sarip aus dem Ruder läuft und er aus dem Verkehr gezogen werden muß, planten wir die Inszenierung eines Selbstmords für den Fall, daß man ihn doch vermißt. Suizid im Zustand einer akuten Psychose ist nichts Außergewöhnliches. Aber wegen Alferow hielt ich es nicht für angebracht, ein Risiko einzugehen. In einer so ruhigen STADT zwei Leichen an einem Tag –das wäre verdächtig.«

»Und wenn man ihn aus dem Bezirk hinausschafft? Dann könnten sie ihn ruhig finden . . .«

»Dazu fehlt die Zeit. In unserer momentanen Situation kommt der Transport einer Leiche in einen anderen Bezirk nicht in Frage. Die Möglichkeit, Leichen offiziell zu melden, haben wir nicht, also lassen wir besser gleich die Finger davon. Ich fürchte, das mit Alferow ist ziemlich dumm gelaufen, aber da kann man nichts mehr dran ändern. Alle Dinger, die wir bisher gedreht haben, konnten wir vertuschen, kein einziges Mal gab es eine Fahndung. Die dilettantische Inszenierung eines Selbstmords kann die Sache nur schlimmer machen. Wir werden ihn im Pavillon liquidieren, wie gehabt.«

»Wie spät ist es?«

»Fünf vor vier. Vor sieben Uhr morgens wird man Alferows Leiche wohl kaum entdecken. Da sein Zimmerkumpan um ein Uhr nachts nicht auf dem Zimmer war, ist er entweder später zurückgekommen und hat sich im Dunkeln schlafen gelegt, ohne etwas zu merken, oder er kommt erst morgen früh zurück. Wir müßten es eigentlich schaffen.«

»Wirklich?« Kotik schnellte vom Sofa hoch und sah aus dem Fenster. Durch das Einfahrtstor des Sanatoriums rasten zwei Polizeiautos mit Blaulicht. »Sieht aus, als ob wir gar nichts mehr schaffen. Laßt uns die Kurve kratzen. Gott sei Dank ist wenigstens Assanow schon weg.«

* * *

Der junge Kripobeamte, der Nastja gegenübersaß, sah müde aus, sein Gesicht war grau, die Augen geschwollen. Ist ja klar, dachte sie, die arbeiten schon seit vier Uhr früh hier in der ›Doline‹, und jetzt ist fast Mittag. Sie hätte ihm gern geholfen. Und sie wußte, daß sie ihm hätte helfen können.

»Name, Vorname, Vatersname?«

»Kamenskaja, Anastasija Pawlowna.«

»Geburtsjahr und –ort?«

»Moskau, neunzehnhundertsechzig.«

»Wohnadresse?«

»Moskau, Stschelkowskoje Chaussee zweiundvierzig, Wohnung einundfünfzig.«

»Arbeitgeber?«

»Oberste Kriminalbehörde in Moskau, das GUWD.«

Sie erwartete, daß der Mitarbeiter der hiesigen Polizei jetzt erstaunt aufblickte, erfreut lächelte, und alles seinen gewohnten Gang ging: Sie würde sich in die Ermittlungen einklinken, Informationen analysieren, kurz gesagt, all das machen, was sie so gut konnte und liebte. Na, jetzt aber . . .

»Kennen Sie Kolja Alferow?«

»Ja.«

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

Nastja beantwortete die Fragen anfangs sehr gewissenhaft, erinnerte sich an jedes kleinste Detail und wagte es sogar, erste Schlüsse zu ziehen. Doch der Kripobeamte, der sich als Andrej Golowin vorgestellt hatte, schien von ihren Bemühungen nichts zu merken. Er versuchte auch gar nicht, mit ihr irgend etwas zu besprechen. Er stellte nur Fragen. Na gut, dachte Nastja, er ist müde, er hat heute schon so viele verhört, ich darf es ihm nicht übelnehmen.

Als die Befragung zu Ende war, meinte sie zaghaft:

»Genosse Oberleutnant, wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, es würde mich freuen . . .«

»Schon gut, wir kommen schon ohne Ihre Hilfe zurecht.« Golowin winkte ab, und seine Stimme war so voller Geringschätzung, daß Nastja dachte, sie hätte einen Nasenstüber bekommen. Weggescheucht wie einen kleinen Pinscher, der sich frech an den Napf eines reinrassigen Dobermanns gewagt hat.

Bis zum Mittagessen blieb noch Zeit, darum beschloß sie, auf die Post zu gehen, um die telegrafische Anweisung abzuholen, die ihr Stiefvater ihr versprochen hatte, und ihn bei der Gelegenheit gleich noch einmal anzurufen.

* * *

In der Petrowka 38 in Moskau hielt Oberst Gordejew die morgendliche Einsatzplanung ab.

»Es liegt eine Meldung aus der STADT vor: Auffindung der Leiche eines gewissen Kolja Alferow, wohnhaft Moskau. Er hat bei der Aktiengesellschaft ›Nord Trade Limited‹ gearbeitet. Hat einer schon mal was von der gehört?«

»Über unsere Informationskanäle – nein«, antwortete sogleich der immer zum Lachen aufgelegte Kolja Selujanow, einer der erfahrensten Mitarbeiter in Gordejews Abteilung. »Da müßten wir mal nebenan fragen.«

Mit ›nebenan‹ war die Abteilung zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität gemeint.

»Bring das mal in Erfahrung.« Viktor Alexejewitsch nickte. »Geh am besten jetzt gleich, kann sein, daß wir irgendwas unternehmen müssen.«

Zehn Minuten später war Selujanow zurück.

»Das Ganze ist ziemlich undurchsichtig, Genosse Oberst. Die Firma ist wohlbekannt, die schleichen um Nord Trade schon herum, wie die Katze um den Brei, aber bisher haben sie denen noch nichts nachweisen können. Obwohl sie überzeugt sind, daß da nicht alles ganz sauber abläuft. Sie halten es für durchaus möglich, daß der Mord am Fahrer des Generaldirektors zurückführt bis nach Moskau.«

»Haben sie um Hilfe gebeten?« Gordejew nahm den Bügel seiner Brille aus dem Mund, auf dem er immer herumkaute, wenn er über etwas Wichtiges nachdachte.

»Na ja . . .« Selujanow schmunzelte. »Sie haben so was angedeutet.«

»Angedeutet also.« Knüppelchen seufzte, nahm den Brillenbügel wieder in den Mund und überlegte, dann geriet er plötzlich in Bewegung. »Übrigens, in der STADT im Sanatorium ›Doline‹ ist unsere Nastja zur Kur. Wo ist denn nur diese Telefonnotiz? Ich hatte sie doch eben noch. Da ist sie ja! Tatsächlich, dieser Alferow war ebenfalls in der ›Doline‹ zur Kur. Dort ist er auch ermordet worden. Na, was sagt ihr? Das nehmen wir doch schon mal freudig zur Kenntnis.«

* * *

Eduard Petrowitsch Denissow war nicht einfach nur verärgert. Er war außer sich vor Zorn.

»Kann mir eigentlich endlich einer erklären, was da vor sich geht in dieser verdammten ›Doline‹? Schon seit vier Monaten hockt dort einer von uns, ohne etwas herauszubekommen. Und am Ende gibt es einen Mord. Sitz nicht stumm da, Tolja, mach den Mund auf, sag was.«

Der Chef der Aufklärung, Anatolij Starkow, kaute auf seinen Fingerknöcheln herum. Letzte Nacht hatte er von Shenja Schachnowitsch einen Haufen neue Informationen bekommen, allerdings ziemlich unvollständig und unsystematisch. Er brauchte Zeit, um sie zu durchdenken, und jetzt plötzlich der Mord an diesem Moskauer. Der war immer um diese Kamenskaja herumgeschwirrt, die Schachnowitsch nicht hatte knacken können. Gab es da irgendwelche Zusammenhänge?

Starkow sah den Mann von der hiesigen Polizeidirektion stirnrunzelnd an. Wieso sagte der nichts? Der müßte doch eigentlich auch befragt werden. Insgeheim hatte Starkow etwas gegen ihn, obwohl er ihn achtete. Auch wenn der sich arrogant aufführte, er machte seine Sache gut, und er half, wenn man ihn brauchte, hatte noch nie nein gesagt, selbst wenn es um Kleinigkeiten gegangen war. Man sah, daß Eduard ihn streng unter seiner Fuchtel hielt. Na gut, wenn der nichts sagte, würde eben er, Starkow, sein Blatt aufdecken, mochte es auch nach nichts aussehen, kaum höher als eine Acht, aber wer weiß, vielleicht war die plötzlich Trumpf?

»Zwei Menschen befinden sich in der STADT, die sich vor irgend etwas verstecken wollen. Vor einer Stunde hat mich Igor angerufen, er ist für die Hotels zuständig, und hat mir mitgeteilt, daß heute gegen sechs Uhr morgens, da verlassen die Mädels immer die Hotelzimmer, eine von ihnen angesprochen worden sei. Von einer Frau, die ein acht oder neun Jahre altes Kind bei sich hatte und sie um Hilfe bat. Es ist eine Professionelle, die sich hier in der STADT aufhält aus Gründen, die sie nicht an die große Glocke hängen will. Dort, wo sie untergebracht gewesen sei, hätte es gebrannt. Sie wollte ihre Zuhälter nicht verpfeifen und sich deshalb nicht an die Polizei wenden. Geld, Papiere, Kleidung, alles sei in der ausgebrannten Wohnung geblieben. Man hätte sie extra gewarnt, sich draußen nirgends blicken zu lassen. Darum hat sie gebeten, sie irgendwo zu verstecken, sie würde dann selbst mit ihren Zuhältern Kontakt aufnehmen, damit sie sie abholen. Unser Mädchen hat sich nicht groß geweigert. Die kennen schließlich auch so was wie Solidarität. Aber sie hat natürlich gleich Igor Bescheid gesagt. Ich habe es überprüft, das mit dem Brand stimmt. Die Feuerwehr war um halb fünf Uhr morgens dort.«

»Interessant«, schaltete sich der Mann von der Polizeidirektion ein. »Um drei Uhr vierzig ruft der Nachtdienst der ›Do-line‹ an und teilt den Fund einer Leiche mit. Und kaum eine halbe Stunde später fängt es am anderen Ende der STADT an zu brennen. Das gibt zu denken.«

»Wo ist die Frau jetzt?« fragte Denissow.

»Bei uns. Wir haben sie uns sofort geschnappt«, entgegnete Starkow schnell.

»Schaff sie her, ich rede selbst mit ihr. Und Sie«, Denissow wandte sich an den Mann von der Polizeidirektion, »ich warne Sie: Und wenn es Sie den Kopf kostet, der Mord im Sanatorium wird aufgeklärt. Das ist für mich so wichtig wie für Sie. Wenn in der STADT Konkurrenz aufgetaucht ist, dann muß ich die Hände frei haben, um gegen sie vorzugehen. Außerdem muß ich endlich wissen, was hier wirklich gespielt wird.«

* * *

Der erste Teil des Plans hatte bestens funktioniert. Kaum war Qualm aus der Wohnung gekommen, waren Swetlana und Wlad auf die Straße gerannt, hatten aus der nächsten Telefonzelle die Feuerwehr alarmiert und dann gewartet, bis eine Menschenmenge zusammengelaufen war. Viele waren es so früh am Morgen freilich nicht gewesen, aber genug, um unauffällig in Erfahrung zu bringen, wo sich das teuerste Hotel der STADT befand. Ihre Geschichte hatte sich Wlad ausgedacht, um das Risiko möglichst gering zu halten, falls sie kein Glück haben würden und wieder in die Hände derer fielen, vor denen sie eigentlich davonliefen. Wenn sie einfach so aus der Wohnung verschwunden wären, hätten die gleich gewußt, daß sie einen Verdacht hatten, etwas ahnten, und dann hätte man sie sofort liquidiert. Aber wegen eines Feuers – das war völlig normal. Wlad hatte darauf beharrt, aus Sicherheitsgründen zu betonen, daß sie ihre Arbeitgeber nicht verpfeifen wollten.

Sie hatten einen Unterschlupf gefunden. Jetzt mußten sie nur noch herausbekommen, wem sie da in die Hände gefallen waren: denen, die sie für die Filmaufnahmen bestellt hatten oder der Konkurrenz. Die Chancen standen fifty-fifty, doch das war immer noch besser als der sichere Tod. Wlad hatte nie daran gezweifelt, daß es nicht Swetlana allein war, die dran glauben sollte. Wenn er richtig vermutete, dann hätte sie vor seinen Augen umgebracht werden sollen, was bedeutete, daß man auch ihn nicht am Leben gelassen hätte.

* * *

Während man sie aus der Wohnung der Prostituierten an einen anderen Ort fuhr, begann Wlad, der sich nicht auf den Einfallsreichtum seiner Begleiterin verlassen wollte, sie zu instruieren.

»Kein Wort über den Film. Verstanden? Du erzählst nur von der Annonce, von dem Vorstellungsgespräch, vom Schwimmbad, vom türkischen Sultan. Denk dir nichts aus, sag nur die Wahrheit. Aber vom Film kein Sterbenswort.«

»Wieso nicht?« Swetlana verstand nicht.

»Weil nicht klar ist, an wen wir geraten sind. Zeitungsannonce, Postfach – das sind Sachen, die kennt jeder. So was ist völlig legal, und daß wir davon wissen, stellt keinerlei Gefahr dar. Das mit dem Film ist was ganz anderes. Wenn wir anfangen darüber zu reden, dann kommen die auf wer weiß was für Ideen. Ich weiß ja selbst nicht genau, warum wir davon nichts erzählen sollten. Aber ich hab’s im Gefühl, daß es so besser ist.«

»Na gut, ich werde nichts erzählen«, meinte Swetlana folgsam.

Während der wenigen Stunden, die sie Wlad kannte, hatte sie sich schon daran gewöhnt, sich auf ihn zu verlassen. Dieser Winzling kümmerte sich um sie, er war klug, er hatte den Durchblick, er würde sie retten. Wenn er bloß keine Entzugserscheinungen bekam. Swetlana dachte, daß sie bereit wäre, ihr letztes Schmuckstück dranzugeben und mit jedem x-beliebigen ins Bett zu steigen, nur um Wlad seinen Stoff zu besorgen. Wenn er versuchte, sie zu retten, mußte auch sie sich um ihn kümmern. Und er war wirklich ein echter Schauspieler, dachte Swetlana begeistert. Als sie während des Feuers noch zwischen den Gaffern standen, und auch später, im Hotel, war er nicht eine Sekunde von ihr gewichen, hatte sich immer fest an ihre Schenkel geklammert und sein Gesicht in ihrem Kleid versteckt. Wie ein erschreckter kleiner Junge. Freilich, bei Tageslicht könnte Wlad sein Alter nicht mehr verheimlichen, aber immerhin, wenn man sie suchen würde, hätten sie schon einen Vorsprung. Frau mit Kind – das war was anderes als Prostituierte mit Liliputaner, soviel stand fest.

* * *

Nastja Kamenskaja hatte ihre Augen auf dem englischen Text und hämmerte eifrig in die Schreibmaschine. Sie hatte sich bereits hineingefunden in McBaines Stil, in seine charakteristische Art, Sätze zu bauen. Die Übersetzung ging flott voran, die Handlung war spannend, und Nastja gab sich alle Mühe, sich ganz auf die Arbeit zu konzentrieren. Doch irgend etwas verhinderte, daß ihr das Buch Spaß machte. Und Nastja wußte, was es war. Kränkung.

Sie dachte sich alle möglichen Rechtfertigungen für den Kripobeamten Andrej Golowin aus, statt dessen aber kam ihr nur immer wieder in den Kopf, wie sie einsam im eiskalten Oktoberregen auf dem Bahnsteig der STADT gestanden hatte, wie sie gegen die Schmerzen ankämpfend ihr Gepäck geschleppt hatte, die Tasche mit den Wörterbüchern in der einen Hand und die Schreibmaschine in der anderen, wie sie der Frau an der Rezeption das Schmiergeld hingeschoben hatte, wie sie auf ihrem Zimmer geheult hatte vor Schmerz und Erniedrigung. Und dann erinnerte sie sich noch daran, wie Gordejews Gesicht rot angelaufen war, als er den Chef der hiesigen Kripo gebeten hatte, ihr, der jungen Frau, zu helfen. All dies türmte sich auf zu einer einzigen großen KRÄNKUNG, die so tief ging, daß Nastja überhaupt nicht mehr die Ruhige und Rationale, die Gleichgültige und Kaltblütige in sich spürte, für die sie sich sonst immer hielt. Na so was, dachte sie auf einmal, anscheinend kann ich doch ganz normale menschliche Gefühle entwickeln. Ich habe Mitleid mit Regina Arkadjewna, der einsamen Lehrerin, die von ihrem Lieblingsschüler so elend betrogen wird. Sogar dieser Kolja Alferow tut mir ein bißchen leid, dieser sympathische, gutherzige kleine Kerl, der so gar nichts Hinterlistiges hatte. Und vor allem bin ich gekränkt. Hätte wirklich nicht gedacht, daß ich zu so etwas noch fähig bin. Sieh an, diese Kamenskaja!

Ein wenig verwundert war sie, daß Damir den ganzen Tag über noch kein einziges Mal vorbeigeschaut hatte. Natürlich, er war nicht verliebt, doch irgendwie hatte er sie gestern und vorgestern doch gebraucht. War es damit heute etwa vorbei? Es würde sie wirklich mal interessieren, warum. Im übrigen, fiel Nastja ein, wahrscheinlich ist Regina bei ihm. Vor dem Mittagessen hatte die Alte zu ihr hereingeschaut und angekündigt, sie ginge jetzt zu Damir, seine Arbeit begutachten, ob Nastja nicht mitkommen wolle. Sie hatte sich eine passende Ausrede einfallen lassen. In Wirklichkeit hatte sie den Film ja schon gesehen, doch die Alte damit kränken, daß ihr hochgeschätzter Damir seine Arbeit vorher schon jemand anderem gezeigt hatte, das wollte Nastja nicht. Überhaupt schien das ganze Tamtam um den Mord die Nachbarin nicht besonders zu stören. Regina Arkadjewna erinnerte Nastja an eine alte weise Schildkröte, die nichts mehr in Erstaunen versetzt. Wahrscheinlich saß sie jetzt in Damirs ›Deluxe‹-Suite, trank ein Gläschen Kognak und zerpflückte den Film, der Nastja so gefallen hatte. Zu gern wüßte sie, welche Mängel die Alte entdeckte.

Die letzten zwei Tage hatte sie sich jedesmal weit nach Mitternacht schlafen gelegt. Die aufgestaute Müdigkeit machte sich jetzt bemerkbar. Die Übersetzungsnorm war erfüllt, Nastja konnte sich guten Gewissens etwas früher schlafen legen.