19
Am Morgen des 1. September 1939 hörten sie im Radio, dass Hitlers Truppen in Polen einmarschiert seien.
Zwei Tage später, am Vorabend von Elsies und Bills Hochzeit, erklärte Chamberlain in einer Rede an die Nation, Großbritannien und Deutschland befänden sich jetzt im Krieg.
Nun lag eine Atmosphäre der Anspannung in der Luft, die das gesamte Anwesen zu durchdringen schien. Am folgenden Morgen, als Olivia gerade ihre Koffer packte, klopfte es an der Tür.
»Herein«, sagte sie.
Harry trat ein. »Entschuldigung, wenn ich störe, Olivia, aber Sie sind doch zu Elsies Hochzeit eingeladen, oder?«
»Ja«, antwortete sie kühl. Der Kriegsausbruch sowie Harrys zwiespältiges Verhalten hatten alle ihre romantischen Gefühle erstickt.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie begleite? Ich könnte ein bisschen Aufmunterung gebrauchen. Ich mag Elsie und Bill sehr, und eine solche Feier scheint mir genau das Richtige zu sein.«
Olivia sah ihn überrascht an. Ihr war klar, dass sie kaum nein sagen konnte. »Wenn Sie möchten. Die Feier beginnt um zwei Uhr nachmittags.«
»Dann treffen wir uns um halb zwei unten in der Eingangshalle und gehen gemeinsam durch den Park zur Kirche.« Er schaute zu dem Koffer, der auf dem Bett lag. »Sie packen?«
Olivia nickte. »Ja, ich fahre morgen zu meinen Eltern nach Surrey. Anschließend möchte ich nach London, um mich bei den Wrens zu melden. Ich hoffe, die Marine nimmt mich.«
»Sehr schön, Olivia. Doch Sie werden uns fehlen.«
»Das bezweifle ich«, widersprach Olivia.
»Ich versichere Ihnen, wir wären alle traurig über Ihre Abreise. Bis um halb zwei dann?«
»Ja.« Sie nickte und widmete sich wieder ihrem Koffer. Olivia fand Harrys Verhalten höchst verwirrend.
Olivia und Harry beobachteten vom hinteren Teil der Kirche aus, wie Elsie, in ihrem hübschen Spitzenkleid vor Stolz und Glück strahlend, den Mittelgang auf ihren künftigen Ehemann zuschritt. Es gab keinen, der nicht weinen musste, als sie einander das Jawort gaben; alle Anwesenden wussten, dass ihr Eheleben bald ein Ende haben würde. Dieser Gedanke ernüchterte Olivia, und auch Harry schien gerührt zu sein.
Beim anschließenden Empfang im Gemeindesaal sah Olivia, wie Harry mit seinen Arbeitern einen Tapeziertisch aufstellte und mit ihnen scherzte, als wäre er einer von ihnen. Es lag auf der Hand, dass sie den jungen Mann achteten, der eines Tages ihr Herr sein würde. Hier offenbarte sich Olivia eine Seite von ihm, die sie noch nicht kannte und die sie für ihn einnahm.
Nach dem Hochzeitsmahl wurden Reden gehalten, und Bills Vater Jack fragte, ob Master Harry bereit sei vorzutreten und einen Toast auf das glückliche Paar auszubringen.
Die Gäste jubelten, als Harry nach vorn zum Podium kam.
» Verehrte Anwesende, ich kenne Bill und Elsie bereits mein ganzes Leben«, begann er. »Wer konnte ahnen, dass die beiden unartigen Kinder von damals, die schon mal Äpfel aus dem Obstgarten mopsten, eines Tages heiraten würden? Und sie haben mir nie einen Apfel angeboten!«
Gelächter.
»Aufgrund der alles andere als angenehmen Umstände, mit denen wir uns momentan konfrontiert sehen, hatte ich Gelegenheit, Bill in den vergangenen Wochen besser kennenzulernen. Ich darf seiner Frau versichern, dass er inzwischen ziemlich gut mit dem Besen umgehen kann«, erklärte Harry mit einem Lächeln in Richtung Elsie. »Und ich möchte ihr des Weiteren sagen, dass ich mich, sobald der Besen durch eine echte Waffe ersetzt wird, hinter keinem lieber verstecken würde als hinter ihm. Elsie, du hast einen ordentlichen, mutigen Mann geheiratet. Behandle ihn gut und erfreue dich an ihm, solange du kannst.«
Elsies Augen wurden feucht; sie ergriff die Hand ihres frischgebackenen Ehemannes. »Versprochen, Master Harry.«
Harry hob das Glas. »Auf Bill und Elsie.«
»Auf Bill und Elsie«, wiederholten die Gäste, während Harry unter lautem Jubel vom Podium kletterte.
Jack klatschte in die Hände, um sie zum Verstummen zu bringen. »Dreimal hoch auf Master Harry, den wir eines Tages stolz Seine Lordschaft nennen werden, und auf die junge Miss Olivia, die so freundlich zu unserer Elsie ist. Danke Ihnen beiden, dass Sie gekommen sind.Vielleicht sollten wir noch fragen« – Jack grinste hinterlistig –, »wann bei Ihnen der große Tag sein wird.« Weitere Jubelrufe, während Harry sich wieder zu Olivia gesellte.
»Meine Damen und Herren, suchen Sie sich einen Partner und begeben Sie sich auf die Tanzfläche«, forderte Bill die Anwesenden auf.
Harry setzte sich neben Olivia und zwinkerte ihr zu. »Sie scheinen Sie zu mögen.«
»Und Sie auch, Harry. Eine wunderbare Rede«, versuchte sie von Jacks Bemerkung abzulenken.
Harry reichte ihr die Hand. »Lust auf einen Tanz?«
Sie lächelte. »Warum nicht?«
Eine Stunde später traten Harry und Olivia aus dem heißen Saal hinaus in die sich rasch abkühlende Nachtluft.
Olivia war von allen aufgefordert worden und hatte mit Jack, Bill und sogar dem Butler Sable getanzt.
Harry ergriff ihre Hand, als sie zum Haus gingen. Olivias Herz machte vor Freude einen Sprung.
»Sie können wirklich gut mit dem Personal umgehen, Olivia. Das ist eine Gabe, die auch meine Mutter besitzt.«
»Danke. Ich verlasse Wharton Park nur ungern«, gestand sie. »Dieser Ort ist mir ans Herz gewachsen.«
Die Sonne versank gerade am Horizont, als sie über die frisch abgeernteten Maisfelder zum Park gingen.
»Wissen Sie, Olivia«, begann Harry mit leiser Stimme, »manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.«
Olivia wandte sich ihm erstaunt zu. »Was genau meinen Sie?«
»Als ich Sie heute Morgen beim Kofferpacken beobachtet habe, ist mir plötzlich klar geworden, wie sehr ich Ihre Gesellschaft genieße. Und wie sehr Sie mir fehlen werden, wenn Sie uns verlassen.«
Olivia hob eine Augenbraue. »Vielen Dank, Harry, aber wir haben doch kaum Zeit miteinander verbracht.«
»Stimmt, allerdings wusste ich immer, dass Sie hier sind.«
Was sollte sie darauf antworten? Sie betraten den französisch angelegten Garten und näherten sich dem Springbrunnen. Plötzlich wandte Harry sich ihr zu, nahm sie in den Arm und küsste sie leidenschaftlich auf den Mund.
Damit hatte Olivia nun wirklich nicht gerechnet.
Erst nach einer ganzen Weile löste er sich von ihr und legte die Hände auf ihre Schultern, um ihr in die Augen zu blicken. »Olivia, ich möchte, dass du hier bei mir in Wharton Park bleibst.«
»Ich … Harry … Ich kann nicht«, stotterte sie.
»Warum nicht?«
»Was soll ich denn in Wharton machen? Ich muss nach London und mich zum Kriegsdienst melden.«
»Olivia, auch in Norfolk kann man unserem Land nützen.«
»Harry, darum geht’s nicht. Ich …«
»Heirate mich.«
Sie starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
Harry kniete nieder und nahm ihre Hände in die seinen. »Olivia, ich weiß nicht, welche Gefühle du für mich hegst, aber wenn du meine Gesellschaft ertragen könntest, würde ich dich bitten, den Rest deines Lebens hier in Wharton Park zu verbringen.«
Endlich gelang es Olivia, etwas zu sagen. »Entschuldige, Harry, ich bin völlig aus der Fassung. Ich hatte nicht den Eindruck, dass du« – sie schluckte – »etwas für mich empfindest. Wie kommt das so plötzlich?«
»Vielleicht sind mir meine Gefühle erst bei einem Gespräch mit meiner Mutter gestern Abend klar geworden und als ich dich heute Morgen beim Packen gesehen habe. Bitte sag ja. Ich verspreche dir, für dich zu sorgen und dich zu ehren, soweit es in meinen Fähigkeiten steht. Gemeinsam können wir Wharton Park für die nächste Generation sichern.«
Da flammte all die Liebe, die sie so verzweifelt zu unterdrücken versucht hatte, wieder auf.
»Bitte sag ja, bevor meine Kniescheiben auf dem Kies kaputt gehen«, scherzte er mit einem jungenhaften Grinsen. »Bitte?«, wiederholte er.
Olivia kam zu dem Schluss, dass es keinen Grund gab, seinen Antrag auszuschlagen. Sie liebte ihn. Alles andere war nebensächlich.
»Ja, Harry«, antwortete sie. »Ich heirate dich.«
Er erhob sich, nahm sie in die Arme und küsste sie noch einmal. »Schatz, du machst mich sehr glücklich. Lass uns zu meiner Mutter gehen. Ich kann es nicht erwarten, es ihr zu sagen.«
Erst später, als sie, erschöpft von den Ereignissen des Tages und der kleinen Champagnerfeier mit Adrienne, im Bett lag, merkte Olivia, dass Harry nicht von Liebe gesprochen hatte.