4

Als Julia am folgenden Morgen aufwachte, wartete sie auf die trüben Gedanken und die Hoffnungslosigkeit, die sie normalerweise in den ersten Sekunden nach dem Schlaf überfielen.

Doch sie kamen nicht.

Und so stand sie auf, ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück.

Das einfache Cottage war hauptsächlich seiner herrlichen Aussicht wegen so beliebt bei Feriengästen. Es stand auf einem grasbewachsenen Hügel, nur ein paar Meter von der High Street von Blakeney entfernt, und bot sowohl die Vorzüge des Ortes als auch die Ruhe und den guten Ausblick der erhöhten Lage.

Die klare Januarsonne schien auf den frostbedeckten Hügel. Darunter befand sich der Hafen von Blakeney und dahinter das Meer. Julia zog den Riegel an dem kleinen Fenster zurück, öffnete es weit und atmete tief durch. Heute, dachte Julia, war es tatsächlich möglich zu glauben, dass irgendwann der Frühling wiederkommen würde.

Als sie in ihrem dünnen T-Shirt zu zittern begann, schloss sie das Fenster, schlüpfte in ihre Jacke und ging nach unten, um Tee zu kochen.

Bis zum Mittag erhärtete sich Julias Gefühl, dass sich etwas geändert hatte. Sosehr sie sich auch bemühte, sich zu erinnern, was sie in den vergangenen Monaten in dem Cottage gemacht hatte – es gelang ihr nicht. Nun wollte die Zeit plötzlich nicht mehr vergehen; Julia war unruhig, langweilte sich sogar.

Vergeblich versuchte sie, zur behaglichen Apathie jener Tage zurückzufinden.

Als ein Gefühl der Klaustrophobie sich ihrer bemächtigte, merkte Julia, dass sie aus dem Haus musste. Sie zog Jacke, Schal und Gummistiefel an, öffnete die Tür und wanderte über das Gras in Richtung Meer.

Der Hafen lag verlassen da. Die Boote, in der Wintersaison sicher an Land, klangen unruhig. Die Takelage klimperte vor sich hin, als wollte sie die Besitzer daran erinnern, dass sie bald wieder einsatzfähig wäre. Julia ließ den Hafen hinter sich und ging die Landzunge entlang, an deren hinterem Ende sich Seehunde im Sand sonnten, sehr zur Freude der Touristen, die eigens mit dem Boot kamen, um sie zu beobachten.

Zum Schutz gegen den kalten Wind stellte sie den Kragen ihrer Jacke hoch. Julia genoss das Gefühl, allein zu sein. Auf beiden Seiten des schmäler werdenden Landstreifens wogte Wasser – es war, als würde sie sich von der Welt wegbewegen.

Sie hielt kurz inne, bevor sie zum Wasser hinunterging. Es war tief und kalt, tief genug, um darin zu ertrinken. Wenn sie sich hineinstürzte, wäre niemand da, der sie aufhalten könnte, und der Schmerz hätte ein Ende.

Schlimmstenfalls würde sie für immer schlafen, bestenfalls sie wiedersehen.

Julia streckte vorsichtig einen Fuß aus.

Sie konnte es jetzt tun …

Jetzt

Was sollte sie daran hindern?

Sie sah ins graue Wasser, versuchte, sich zu diesem letzten, erlösenden Schritt durchzuringen, aber …

Sie schaffte es nicht.

Julia hob den Blick zur fahlen Sonne, legte den Kopf in den Nacken und stieß einen gellenden Schrei aus.

» WWWWAAAARRRRUUUUMMM???«

Sie sank heulend auf die Knie und schlug vor Wut und Schmerz mit den Fäusten auf den Boden ein.

»Warum sie? Warum sie?«, schluchzte sie wieder und wieder.

Sie lag flach auf dem Boden, Arme und Beine von sich gestreckt, und weinte all die Tränen, die sie sieben Monate lang nicht hatte vergießen können.

Nach einer Weile richtete sie sich auf und ging auf die Knie, als wollte sie beten.

»Ich muss … leben! Ohne euch, irgendwie …«, jammerte sie und hob die Handflächen zum Himmel.

»Hilf mir, bitte, hilf mir …« Sie sank in sich zusammen, legte den Kopf in die Hände und stützte sie auf die Knie.

Julia hörte nur noch das rhythmische Lecken der Wellen am Ufer und stellte fest, dass es sie beruhigte. Sie spürte die Wärme der schwachen Sonne auf dem Rücken, und plötzlich durchströmte sie ein unerwartetes Gefühl des Friedens.

Julia wusste nicht, wie lange es dauerte, bis sie aufstand. Völlig durchnässt vom feuchten Boden, die Beine wacklig und beide Hände taub von der Kälte, stolperte sie die Landzunge entlang zurück zum Cottage.

Als sie es mit vom langen Gehen und Weinen zittrigen Knien erreichte, hörte sie jemanden ihren Namen rufen.

»Julia!«

Kit Crawford kam von der Highstreet auf sie zu.

»Hallo«, begrüßte er sie. »Ich wollte dich besuchen, aber du warst nicht da. Ich hab einen Zettel durch den Briefschlitz geschoben.«

»Ach«, sagte sie, ein wenig verwirrt.

»Du bist ja völlig durchnässt. Was um Himmels willen hast du getrieben?« Er blickte nach oben zum Himmel. »Hat es geregnet?«

»Nein.« Julia drückte die Haustür auf und trat auf das gefaltete Stück Papier, das Kit durch den Briefschlitz geworfen hatte. Sie hob es auf.

»Meine Handynummer.« Er deutete auf den Zettel. »Aber wenn ich dich jetzt doch persönlich erwische: Hast du Zeit für ein kurzes Gespräch?«

Julia wusste, dass sie nicht besonders begeistert wirkte, und außerdem begann sie vor Kälte mit den Zähnen zu klappern. »Ich glaube, ich brauche auf der Stelle ein heißes Bad«, antwortete sie in der Hoffnung, dass er gehen würde.

Kit folgte ihr ins Cottage. »Deine wertvollen Finger sind ganz blau. Wir dürfen nicht riskieren, dass die berühmteste britische Nachwuchspianistin sich Frostbeulen holt, oder?« Er schloss die Tür hinter sich. »Gott, ist es hier drin kalt. Weißt du was? Geh du nach oben und lass dir ein heißes Bad ein, und ich heize den Kamin an und koche uns einen Kaffee, ja?«

Julia sah ihn an. »Es könnte eine Weile dauern.«

»Ich bin nicht in Eile.«

 

Julia ließ sich Zeit, Finger, Füße und Gehirn im warmen Badewasser aufzutauen. Dabei überlegte sie, warum Kit so unerwartet aufgetaucht war. Normalerweise kamen Besucher nicht einfach unangemeldet zu ihr, und sie war sich nicht sicher, ob ihr das behagte.

Andererseits wusste sie, dass sie nicht weitermachen konnte wie bisher und das versuchen musste, was alle ihr rieten: ein neues Leben beginnen.

Sie hätte sich für den Tod entscheiden können, hatte jedoch das Leben gewählt.

Julia schlüpfte in ihre Jeans und die alte Wolljacke, die sie an der Rückseite der Tür zum Gästezimmer entdeckt hatte, und ging wieder nach unten.

Kit saß auf dem Sofa, ein kleines Päckchen auf den Knien, und im Kamin brannte munter ein Feuer, wie sie es selbst noch nie zustande gebracht hatte.

»Wie hast du mich aufgespürt?«, fragte sie Kit, als sie an den Kamin trat.

»Über meine Schwester Bella. Sie kennt hier jeden. Oder besser gesagt: Sie sieht zu, dass sie jeden kennt, und wenn das nicht funktioniert, kennt sie sicher jemanden, der zu der betreffenden Person Kontakt hat. In diesem Fall zu deiner Schwester Alicia. Ich habe versucht, dich vor meinem Besuch anzurufen, aber dein Handy ist offenbar immer ausgeschaltet.«

Julia dachte mit schlechtem Gewissen an die siebzehn Nachrichten, die sie beim letzten Einschalten nicht abgehört hatte. »Hier kriegt man kaum Empfang.«

»Kein Problem. Als Erstes wollte ich mich für neulich entschuldigen. «

»Wieso?«

Kit betrachtete seine Hände. »Ich wusste nicht, was dir passiert ist. Wie gesagt, ich war mehrere Jahre im Ausland und bin erst vor ein paar Monaten nach England zurückgekommen. «

»Wer hat’s dir erzählt?«

»Bella natürlich. Offenbar stand hier alles in der Zeitung, und Bella hat selbstverständlich sämtliche Artikel gelesen. Bestimmt sind die Informationen zum größten Teil falsch, wie meist in solchen Fällen.«

»Keine Ahnung. Wie du dir vielleicht denken kannst, habe ich sie nicht gelesen.«

» Klar.« Kit schien sich unbehaglich zu fühlen. »Mein Beileid, Julia. Es muss schrecklich für dich sein.«

»Ja.« Julia wechselte das Thema, um ihnen weitere Peinlichkeiten zu ersparen. »Und weswegen bist du nun hergekommen? «

Kits Miene hellte sich auf. »Ich habe etwas gefunden, das dich und deine Familie interessieren könnte.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Ich habe dir doch erzählt, dass ich die Cottages im Geviert renovieren lassen möchte, oder?«

Julia nickte.

»Es hat sich herausgestellt, dass mein neues Zuhause tatsächlich das alte Cottage deiner Großeltern ist. Beim Rausreißen der Bodendielen haben die Handwerker das hier entdeckt. « Kit wies auf das Päckchen auf seinem Schoß.

»Was ist das?«

Kit wickelte vorsichtig ein kleines, in Leder gebundenes Buch aus und hob es hoch. »Ein Tagebuch, es beginnt 1941. Ich habe es flüchtig durchgeblättert. Das Leben eines Kriegsgefangenen im Changi-Gefängnis.«

Julia runzelte die Stirn. »Das ist in Singapur, nicht?«

»Ja.Viele britische Soldaten, die damals in Malaya kämpften, landeten als Gäste der Japaner eine Weile dort. Weißt du, ob dein Großvater jemals in Kriegsgefangenschaft war?«

»Großvater Bill hat viel von Asien erzählt, allerdings hauptsächlich von den herrlichen Blumen, die dort wachsen.« Julia lächelte. »Von Changi hat er nichts erwähnt.«

»Wahrscheinlich wollte er ein Kind nicht mit seinen Erinnerungen belasten. Trotzdem vermute ich, dass es sein Tagebuch ist. Wem sonst sollte es gehört haben? Dein Großvater hat doch sein ganzes Leben in dem Cottage gewohnt.«

»Darf ich?« Julia streckte die Hand nach dem Tagebuch aus. Als sie es aufschlug, sah sie, dass das Leder das dünne Papier vor dem Verrotten bewahrt hatte. Die eleganten schwarzen Buchstaben waren immer noch gut zu lesen.

»Ist das die Schrift deines Großvaters?«, fragte Kit.

»Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas von ihm Geschriebenes gesehen zu haben. Seine Beobachtungen über die Orchideen in den Gewächshäusern hat stets meine Mutter notiert«, antwortete Julia. »Vielleicht würde mein Vater seine Schrift erkennen. Oder meine Großmutter, die zwar schon über achtzig, aber meines Wissens gesund und munter ist. Ich frage mich nur, warum er das Tagebuch versteckt hat.«

»Soviel ich weiß, sind die Japaner nicht gerade zimperlich mit Kriegsgefangenen umgegangen. Vielleicht hat dein Großvater das Tagebuch verborgen, weil er deine Großmutter nicht aus der Fassung bringen wollte. Glaubst du, ich könnte es mir ausleihen, wenn deine Familie es gelesen hat? Augenzeugenberichte finde ich faszinierend.«

»Ja, ich auch«, pflichtete Julia ihm bei, die ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie so wenig über Großvater Bills Vergangenheit wusste.

Kit stand auf. »Außerdem wollte ich dich um einen Gefallen bitten.« Er trat an das Bücherregal, das neben dem Kamin stand, und zog einen Band heraus. »Ich glaube, das gehört mir.«

Es war The Children’s Own Wonder Book, das Julia für ein Pfund in Wharton erstanden hatte.

»Das kann nicht sein! Es steht das Datum 1926 drin.«

»Ja, schon erstaunlich, was die plastische Chirurgie heutzutage vermag«, meinte Kit schmunzelnd. »Aber im Ernst: Es gehörte meinem Großvater. Meinst du, es wäre ein angemessenes Tauschobjekt gegen das Tagebuch?«

»Natürlich.«

»Danke. Ach, und Julia…« Plötzlich wirkte Kit verlegen. »Ich habe einen Bärenhunger und dachte, vielleicht könnten wir …« Da klingelte sein Handy. »Entschuldige bitte.« Er hielt den Apparat ans Ohr. »Hallo? Ach, hallo, Annie …« Er lauschte und schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nicht verstehen. Die Verbindung ist sehr schlecht. Was? Es hat keinen Sinn, ich verstehe nichts. Bis später dann. Danke, tschüs.«

»Tut mir leid, Julia, ich muss los.« Kit ging zur Tür, wo er sich noch einmal zu ihr umdrehte. »Halt mich auf dem Laufenden über das Tagebuch, ja?«

»Klar. Und danke, Kit, dass du dir die Zeit genommen hast, es mir zu bringen.«

»Kein Problem. Ich habe übrigens einen Blick auf die Gewächshäuser geworfen. Sie stehen noch, allerdings kann ich nicht beurteilen, wie schlecht ihr Zustand ist. Der Küchengarten jedenfalls sieht übel aus. Schau doch mal vorbei, wenn du möchtest, bevor der neue Eigentümer einzieht. Auf Wiedersehen, Julia.«

Orchideenhaus
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