18
Schon bald ergab sich ein entspannter Tagesablauf für Olivia. Sie verbrachte die Vormittage lesend im Sommerhaus und machte vor der Nachmittagsruhe einen Spaziergang mit Adrienne. Das Abendessen nahmen sie gemeinsam auf der Terrasse ein und unterhielten sich über Kunst, Literatur und Adriennes geliebtes Frankreich.
Olivia stellte fest, dass die Schönheit von Wharton Park und der langsame Rhythmus des Lebens dort ihr ein tiefes Gefühl inneren Friedens verschafften und Gedanken an den bevorstehenden Krieg und ihre eigenen Pläne aus ihrem Kopf vertrieben.
Eines Nachmittags fuhr Adrienne mit ihr an die Küste. Olivia stockte fast der Atem, als sie den goldgelben Strand von Holkham erblickte. Sie machten ein Picknick in den Dünen; Adrienne döste nach dem Essen ein, den Strohhut ins Gesicht gezogen, um ihre helle Haut vor der Sonne zu schützen.
Olivia ging ans Wasser, um ihre Zehen vorsichtig hineinzustrecken. Es war nicht so kalt, wie sie erwartet hatte, und als der Wind ihr durch die Haare blies und die Sonne auf den menschenleeren Strand herunterschien, konnte Olivia sich gut vorstellen, in diesem Teil Englands zu leben.
Als Olivia in Wharton Park hinauf in ihr Zimmer gehen wollte, um aus ihrem feuchten, zerknitterten Kleid zu schlüpfen, begegnete sie auf der Treppe Harry.
»Olivia, was für eine Freude, dass Sie hier sind.« Er küsste sie herzlich auf beide Wangen. Olivia bedauerte ihren ungepflegten Zustand, Harry hingegen wirkte in seiner Offiziersuniform ziemlich beeindruckend.
»Hallo, Harry, wie geht es Ihnen?«
Er verdrehte die Augen. »Mittelprächtig, würde ich sagen. Aber Sie sehen sehr gut aus.«
Olivia wurde rot. »Finden Sie? Ihre Mutter und ich waren am Strand. Ich fürchte, ich sehe ein bisschen zerzaust aus.«
»Ach was. Ich liebe es, mir die Spinnweben vom Meereswind aus dem Kopf blasen zu lassen. Hätten Sie Lust, morgen noch mal mit mir hinzugehen? Ich habe dieses Wochenende keinen Dienst und möchte es genießen.«
Harry strahlte eine Leichtigkeit und Begeisterung aus, die Olivia bis dahin noch nicht aufgefallen waren.
» Klingt gut. Aber wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden: Ich muss dieses feuchte Kleid ausziehen.«
»Selbstverständlich. Bis zum Abendessen, Olivia.«
»Ja«, sagte sie und lief die Treppe hinauf. »Bis später.«
An jenem Abend bat Olivia Elsie, sie zu frisieren – den Pony in einer Rolle, die übrigen Haare in üppigen goldenen Locken, die über ihre Schultern fielen. Dazu zog sie ihr blaues Lieblingskleid an.
»Sie sind bildhübsch«, stellte Elsie voller Bewunderung fest. »Master Harry ist heute zum Abendessen da, stimmt’s?«
»Ich glaube schon.« Olivia, die zu nervös war, um sich auf Vertraulichkeiten einzulassen, ging nach unten und auf die Terrasse, wo Adrienne und Harry bereits auf sie warteten.
»Harry hat mir gerade erzählt, dass ihr morgen zusammen an den Strand wollt.« Adrienne lächelte anerkennend. »Olivia, chérie, die frische Luft tut Ihnen gut. Sie sehen wunderschön aus.« Adrienne reichte Olivia ein Glas Rosé von dem Silbertablett auf dem Tisch. »Morgen wird auch Christopher zu Hause sein. Am Sonntag haben wir einige Nachbarn zum Lunch eingeladen, damit Sie sie kennenlernen können. Aber setzen wir uns doch.«
Der Abend verging in angenehmer Atmosphäre. Harry war Olivia gegenüber sehr aufmerksam und erkundigte sich nach der Londoner Saison und dem Leben in der Stadt. Adrienne zog sich, Müdigkeit vorschützend, früh zurück, so dass die beiden allein auf der Terrasse blieben. Olivia bemühte sich, ihre Nervosität unter Kontrolle zu halten und Haltung zu bewahren.
»Es freut mich wirklich, dass Sie in Wharton Park sind, Olivia. Wie schön, dass meine Mutter Gesellschaft hat, wenn sie nicht in Frankreich bei ihrer Familie sein kann und mein Vater so selten da ist. Sie mag Sie sehr.«
»Ich mag sie auch«, sagte Olivia.
»Gefällt Ihnen das, was dieser Teil der Welt zu bieten hat, nun besser als das letzte Mal?«, fragte Harry lächelnd.
»Ja! Ich finde es wunderbar hier. Ihre Mutter hat mich bekehrt.«
»Sie besitzt große Überzeugungskraft.« Harry hob die Augenbrauen. »Schön, dass Sie sich in Wharton wohlfühlen. Dies ist ein ganz besonderer Ort.«
»Was für ein Glück für Sie, dass Sie das Wochenende hin und wieder zu Hause verbringen können«, bemerkte Olivia.
»Ja. Das macht alles erträglicher. Aber«, meinte Harry und drückte seine Zigarette aus, »ich muss jetzt ins Bett. Ich bin hundemüde. Sie nicht?« Er reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie und stand auf. Als sie ins Haus gingen, ließ er sie wieder los. »Gute Nacht, Olivia«, verabschiedete er sich an der Treppe und küsste sie höflich auf beide Wangen. »Schlafen Sie gut.« Dann verschwand er in Richtung seines Zimmers.
Olivia legte sich verwirrt darüber, dass Harry nicht versucht hatte, sie auf den Mund zu küssen, schlafen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass dies erst der Anfang ihres Aufenthalts war und Harrys erster freier Tag seit Wochen. Sie musste ihm Zeit lassen.
Am folgenden Morgen während der Fahrt zum Strand schien Harry bester Laune zu sein.
»Ich werde Sie nicht mit einem zweiten Ausflug nach Holkham langweilen, sondern dachte mir, wir fahren nach Cromer, essen dort zu Mittag und machen dann einen Spaziergang am Strand«, schlug er vor.
Olivias Vorstellung, in den Dünen in Harrys Armen zu liegen, verflüchtigte sich. Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen und sich die wertvolle Zeit mit ihm nicht zu verderben.
Sie verbrachten einen schönen Tag miteinander, auch wenn er nicht ganz so verlief, wie Olivia ihn sich gedacht hatte. Beim Lunch in einem Hotelrestaurant unterhielt Harry sie mit Anekdoten über die Rekruten seines Bataillons, von denen einige aus Wharton Park stammten.
»Besonders beeindruckt mich Bill Stafford, der Verlobte von Elsie«, erzählte Harry und zündete sich eine Zigarette an. »Er wird es bestimmt zum Offizier bringen, weil er die Ruhe und Souveränität besitzt, die nötig sind, damit die anderen auf ihn hören. Er wird mit Sicherheit ein besserer Soldat als ich«, gab Harry zu.
»Das stimmt doch nicht, Harry.«
»Ich fürchte schon, meine Liebe«, widersprach er und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Wollen wir heimfahren?«
Weil Lord Crawford von London nach Hause zurückgekehrt war, fand das Essen an jenem Abend im Speisezimmer statt. Adrienne strahlte vor Freude darüber, beide Männer bei sich zu haben, und steckte alle mit ihrer guten Laune an. Anschließend spielten sie Bridge. Olivia gewann dank ihrer guten Ausbildung bei Mr. Christian.
Am Ende des Abends begleitete Harry sie die Treppe hinauf, wo sie wieder auf einen Gutenachtkuss wartete. Doch erneut bekam sie nur einen keuschen Kuss auf die Wange, bevor er sich in Richtung seines Zimmers entfernte.
Zum Lunch am folgenden Tag erwartete man zwanzig Gäste, samt und sonders Freunde und Nachbarn von Lord und Lady Crawford. Olivia genoss das Essen, weil sie die Gesellschaft älterer Menschen gewöhnt war, hatte aber das merkwürdige Gefühl, taxiert zu werden. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich von ihrer besten Seite zeigte. Harry verhielt sich wie schon in den vergangenen Tagen: aufmerksam-distanziert.
Vor dem Einschlafen kam Olivia zu dem traurigen Schluss, dass es an der Zeit war, ohne ihn Pläne für die Zukunft zu schmieden.
Als der Sommer zur Neige ging und der September herannahte, trieb der Geruch von abgebrannten Stoppelfeldern über das Anwesen. Olivia las viel, machte lange Spaziergänge durch den Park und besuchte immer wieder Jack im Gewächshaus. Harry hatte sie seit dem Essen am Sonntag nicht mehr gesehen – er war das vergangene Wochenende in London gewesen. Seine offensichtliche Ambivalenz machte sie nur noch entschlossener, sich auf ihre Gedanken über die Zeit nach Wharton Park zu konzentrieren. Sie wäre schon früher abgereist, doch Elsie, mit der sie sich mittlerweile angefreundet hatte, wollte, dass sie bis zu ihrer Hochzeit blieb.
Drei Tage vor Elsies Hochzeit kam Christopher unerwartet aus London. Er und Adrienne verbrachten den größten Teil des Nachmittags in seinem Arbeitszimmer. Olivia las gerade in der Bibliothek, als Adrienne sie mit blassem Gesicht aufsuchte.
»Meine Liebe«, begrüßte Adrienne sie. »Es sieht ganz so aus, als wäre der Krieg unausweichlich. Christopher sagt, die britische Regierung habe Informationen, dass die Kriegsmarine alle unter deutscher Flagge segelnden Handelsschiffe angewiesen hat, sofort deutsche Häfen anzulaufen, weil der Einmarsch in Polen bevorstehe. Sie werden den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt wohl nicht einhalten.« Adrienne sank, den Kopf in den Händen, auf einen Stuhl. »Jetzt ist es so weit, Olivia.«
Olivia stand auf, um sie zu trösten. »Das wird Hitler bestimmt nicht wagen. Er weiß, was das bedeutet.«
»Ja, das weiß er, und genau das will er, wollte er von Anfang an. Christopher glaubt, dass der deutsche Einmarsch in Polen bereits morgen früh beginnt. Dann muss Großbritannien in den Krieg eintreten.« Adrienne ergriff Olivias Hand. »Elsie darf nichts davon erfahren. Sie soll sich noch ein paar Stunden über ihre Hochzeitsvorbereitungen freuen. Verraten Sie niemandem davon, bis die Öffentlichkeit darüber unterrichtet ist, ja?«
»Natürlich, Adrienne. Ich sage kein Wort, das verspreche ich.«
»Ich hoffe nur, dass sie ihren Hochzeitstag genießen können wie jedes andere Paar. Sie sollen das Gefühl haben, eine Zukunft zu besitzen, auch wenn dem nicht so ist.« Adrienne traten Tränen in die Augen, die sie mit einem Spitzentaschentuch wegwischte. »Mon dieu! Genug! Ich muss mich zusammenreißen. Entschuldigen Sie, ma petite. Manchmal ist es gar nicht gut, so viel zu wissen. Christopher muss sofort nach London zurück. Aber er wollte mir die Nachricht selbst überbringen.«
An jenem Abend blieb Adrienne auf, bis Harry nach Hause kam. Als er eintraf, bat sie ihn in die Bibliothek und schenkte sich und ihm einen Armagnac ein.
»Mutter, ich weiß Bescheid«, sagte Harry, der die Sorge in ihrem Gesicht las. »Bitte versuch, nicht in Panik zu geraten. Bis jetzt ist nichts sicher. Keiner weiß, wie es weitergeht. Überraschend kommt Hitlers Aktion nicht. Unsere Vorbereitungen laufen seit Monaten. Ich glaube, meine Jungs sind froh, wenn klar ist, wie die Dinge stehen, und wenn sie das Gelernte in die Tat umsetzen können.«
Adrienne hob die Hand an die Stirn. »Nicht zu fassen, dass ich noch einen Krieg erleben muss. Der letzte hat mir so viele geliebte Menschen genommen, und jetzt… Harry…« Sie zuckte hilflos mit den Achseln.
»Maman, bitte beruhige dich«, tröstete er sie, als sie in seinen Armen zu schluchzen begann. Dies war eine der wenigen Situationen, in denen er sich eine reservierte britische Mutter gewünscht hätte. Sie so verzweifelt zu sehen schmerzte ihn.
»Was soll ich hier machen, Harry? Wenn du im Krieg bist und dein Vater in London ist? Und die meisten jungen Männer des Guts auch nicht da sind? Wie soll ich Wharton Park allein verwalten?«
»Du hast doch Olivia.«
»Pouf!« Adrienne winkte ab. »Sie wird nicht bleiben, wenn der Krieg ausbricht. Warum sollte sie auch? Ich habe euch beobachtet, Harry. Sie liebt dich, aber du… scheinst dich nicht genauso für sie zu interessieren. Ja, ich habe sie hierher eingeladen, weil ich dachte, dass du sie auch attraktiv findest. Offenbar habe ich mich getäuscht. Sie ist nur deinetwegen da und wird wieder gehen, und dann bin ich allein.«
Harry war bestürzt über ihren Ausbruch.
»Du meinst, Olivia ist in mich verliebt?«, rief er erstaunt aus.
»Natürlich! Merkst du das denn nicht? Sie ist so ein nettes Mädchen, klug und ungewöhnlich für eine Engländerin. Ja, ich hatte Pläne für dich … Weil du der Alleinerbe bist, und … oh!« Sie legte die Hände an ihre glühenden Wangen. »Es fällt mir schwer, das auszusprechen, aber falls du den Krieg nicht überlebst, gibt es keinen Erben für Wharton Park. Dann geht der Besitz an Hugo, den Neffen deines Vaters, und unsere Linie stirbt nach dreihundert Jahren aus.«
»Gütiger Himmel!« Harry begann, das Glas Armagnac in der Hand, in der Bibliothek auf und ab zu marschieren. »Du hast recht. Wenn ich nicht zurückkomme, ist…« Er verstummte.
»Harry, entschuldige. Ich bin heute Abend nicht ich selbst. Bitte verzeih mir, und vergiss, was ich gerade gesagt habe.«
Er wandte sich ihr zu. »Es stimmt. Olivia ist wirklich ein nettes Mädchen; ich mag sie sehr. Genau wie du. Sie könnte dir Gesellschaft leisten, wenn …«
»Nein, Harry! Vergiss es!«, rief Adrienne aus. »Ich habe zu viel erwartet. Ich dachte …«
»Vielleicht waren deine Gedanken gar nicht so abwegig.« Harry nickte. » Mir als Mann fehlte offenbar die Sensibilität, die Zeichen richtig zu deuten.«
»Mag sein, aber bitte vergiss nicht, dass Liebe sich nicht erzwingen lässt.« Adrienne senkte den Blick. »Ich habe Kopfschmerzen und muss mich hinlegen.«
»Natürlich, Maman, es war ein schwieriger Tag für uns alle.«
Adrienne ging zur Tür, wo sie sich noch einmal zu Harry umwandte. »Ich möchte nicht, dass du irgendetwas tust, das nicht deinen Gefühlen entspricht. Das ist nicht die französische Art und auch nicht die meine. Gute Nacht, mein Lieber. Hoffen wir auf ein besseres Morgen.«
Als sie aus dem Zimmer war, schenkte Harry sich einen weiteren Armagnac ein und ließ sich zum besseren Nachdenken in den bequemen Ledersessel sinken.