„Georg, Georg! Wenn ich dich im Grunde meines Herzens nicht so verdammt gut leiden könnte, dann würde ich dir für deine Verbohrtheit jetzt und hier ungebremst eine reinhauen!“ Georg blickte Toni erschrocken an.

„Warum? Weil ich nicht so ein Macho bin wie Sie?“

„Macho, welch garstiges Wort! Schwein! Ja, genau! Schwein gefällt mir besser und wird auch deutlich öfters gegen mich verwendet als Macho.“ Georg stieß einen Laut aus, der eine Mischung aus Pfeifen und verächtlichen Lachen erinnerte.

„Spaß beiseite“, sagte Toni und wurde tatsächlich ernst. „Was tust du hier auf dem Gang? Bis du immer noch auf der Suche nach einem funktionierenden Mobiltelefon?“ Georg schüttelte den Kopf.

„Nein, im Augenblick bin ich eher auf der Suche nach etwas Trinkbarem. In meinem Bad stimmt etwas mit den Leitungen nicht. Da kommt leider nur eine unangenehme braune Brühe heraus.“

„Ach, tatsächlich?“

„Ja, und dann hatte ich auch noch unerwarteten Besuch von einem kleinen Jungen. Er heißt wohl Jörres. Wissen Sie etwas über ihn?“ Georg bemerkte, wie Tonis Gesichtszüge entgleisten.

„Jörres war bei dir im Zimmer?“ Georg nickte.

„Das darf doch nicht wahr sein!“ Toni sah sich plötzlich hektisch um und umklammerte seinen Arm.

„Vorschlag: Ich lade dich gerne zu einem Drink in der Bar unten im Kaminzimmer ein. Du solltest ohnehin hier nicht alleine herumlaufen. Du siehst ja selbst, wohin das führen kann.“ Er grinste und nickte in Richtung Zimmer Nummer 5.

„Außerdem bist du in deinem Zimmer nicht sicher.“

„Nicht sicher?! Vor wem oder was?“ Keine Antwort.

 

Toni führte ihn hinunter und brachte ihn in einen gemütlichen Raum mit offenem Kamin, zwei Sesseln und einer Bar. Hier hielt sich das Jagd-Ambiente dahingehend in Grenzen, dass die Wände nicht mit Schädeln von toten Tieren behangen waren, sondern mit einem Arsenal an Waffen. Da waren Säbel, verschiedene Messer, Pfeil und Bogen, ein historisches Schießeisen und über allem hingen auch zwei nicht weniger Respekt einflößende Flinten. Fast schon ehrfürchtig trat Georg in die Mitte des Raumes und sah sich um. Über seinem Kopf hing ein beeindruckender Kronleuchter, der den ganzen Raum in ein ganz besonderes Licht tauchte. Das Feuer im Kamin brannte bereits und knisterte Georg freundlich entgegen. Und in der Tat meldete sich in ihm ein vertrautes und lang vermisstes Gefühl von Behaglichkeit zurück. Er sehnte sich nach Wärme und er sehnte sich nach den kuscheligen Abenden vor seinem eigenen Kamin mit Maria zurück. An die Kälte, die ihm seit dem Unfall in die Knochen gezogen war, hatte er sich schon gewöhnt. Besonders seine Nase, seine Füße und die Hände fühlten sich vor Kälte fast steif an. Er dachte, dass es sich in einem beheizten Gebäude mit Hemd und Anzughose doch aushalten lassen müsste, aber nicht hier. Hier war es kalt – vielleicht war die Heizung defekt? Er trat auf den Kamin zu und hielt die Hände gegen die lodernden Flammen. Merkwürdigerweise strahlten sie nicht die Wärme ab, die Georg erwartete. Zumindest schafften sie es nicht, gegen die Kälte in seinem Körper anzukommen.

„Die Kälte kommt vom Blutverlust“, sagte Toni, ganz beiläufig und deutete auf seine Hand.

„So viel Blut hab ich doch gar nicht verloren“, antwortete Georg, jedoch klang es wenig überzeugt. Er blickte auf seine verbundene Hand und sah, dass der Verband wieder durchgeblutet war.

„Achte auf deinen Kreislauf. Wenn du merkst, dass die tanzenden Punkte kommen, versuche dagegen anzukämpfen.“ Georg sah Toni irritiert an. Der Mann schien sich tatsächlich Sorgen um ihn zu machen oder besser gesagt, er schien sich für seinen gesundheitlichen Zustand mehr zu interessieren, als Hinkebein. Dieser lauerte bereits mit missmutigem Blick hinter der Bar. Toni gab ihm ein Zeichen, woraufhin der alte Mann nickend zwei Gläser in die Hand nahm und sich an diversen Flaschen zu schaffen machte.

„Er arbeitet für Sie?“, fragte Georg so laut, dass auch Hinkebein die Frage nicht entgehen durfte.

„Nein! Das, was Alois tut, macht er aus freien Stücken und ohne einen finanziellen Hintergedanken.“

Georg runzelte die Stirn, vermied allerdings den Blickkontakt mit Alois, um nicht noch weiter in diesem Fettnäpfchen zu versinken.

„Um noch mal auf den Jungen zurückzukommen“, lenkte Georg ab. „Sie wirkten etwas erschrocken, dass er bei mir im Zimmer war. Ist etwas nicht in Ordnung mit ihm? Ich meine, ich habe versucht mit ihm zu reden, aber er hat nichts gesagt.“

„Der Junge spricht nicht“, sagte Toni und in seiner Stimme lag etwas Abfälliges. Offenbar war Toni dem Kleinen nicht besonders freundlich gesinnt.

„Sie meinen damit der Junge ist stumm?“, fragte Georg neugierig.

„Nein, er ist nicht stumm. Er spricht nur nicht, er hat irgendwann einfach damit aufgehört und es vorgezogen, seinen Weg schweigend fortzuführen.“

„Das ist ja schrecklich“, sagte Georg bestürzt. „Wo sind die Eltern?“ Tonis Gesicht verhärtete sich.

„Offenbar nicht auf ihren Zimmern, sonst würde er nicht hier herumlaufen und nerven“, erwiderte er aufgeregt. „Beachte ihn am besten gar nicht, dann macht er auch keinen Ärger.“

„Ärger?“

„Tja, auch wenn der Bengel nicht spricht, er lässt keine Möglichkeit aus, um Ärger zu machen.“

„Um Gotteswillen, Sie reden hier von einem Kind! Was hat der Junge denn getan? Ein Glas zerbrochen?“

„Hör auf, dich hier in Dinge einzumischen, die dich nichts angehen“, fuhr Toni in plötzlich an. „Halt dich einfach von dem Jungen fern, genau so, wie du dich auch von allen anderen Gästen fernhalten sollst!“

„Ich soll mich von allen anderen Gästen fernhalten? Warum? Ist etwas nicht in Ordnung?“

„Nun, es ist lediglich ein gut gemeinter Rat von mir. Wir haben hier aktuell ein paar Gäste, denen du besser nicht über den Weg laufen solltest.“

„Gäste, denen ich nicht begegnen sollte? Verzeihen Sie, aber was genau läuft hier eigentlich?“

„Du bist hier in einem Jagdhaus! Folglich sind alle Menschen, denen du hier begegnest auf irgendeine Weise Jäger – wenn auch in unterschiedlichen Formen und Variationen.“ Georg runzelte die Stirn.

„Der in Zimmer Nummer 2 ist ein Schäfchenjäger. Wenn du nicht Acht gibst, wird er sogar die Schäfchen erlegen, die du beim Einschlafen zählst. Auch Larissa, in Zimmer Nummer 5, ist eine Jägerin und am liebsten jagt sie Männer mit einem dicken Portemonnaie und einem langen Schwanz in der Hose.“

„Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen!“, knurrte Georg und winkte ab.

„Nein, Georg, ganz gewiss nicht. Ich möchte dich nur warnen“, seine Miene verhärtete sich. „Ignoriere auch das Zimmer mit der Nummer 6 – mit ihrer abgrundtiefen Armseligkeit würde sie nur Jagd auf einen deiner wunden Punkte machen. Doch der schlimmste und größte Jäger von allen wohnt im Zimmer Nummer 7. Er ist im Grunde genommen der Herrscher über dieses Haus.“

„Ich dachte, Sie wären…“

„Nein Georg, ich bin eigentlich hier genau so Gast wie du. Aber ich wohne schon ziemlich lange hier – genau genommen seit 31 Jahren. Ich bin der Hüter dieser ganzen verfluchten Bagage und gebe Acht, dass nichts nach draußen dringt.“ Georg runzelte die Stirn.

„Ich befürchte, ich verstehe nicht so ganz.“

„Das musst du auch nicht. Schlimm genug, dass du überhaupt hier hereingeplatzt bist, das war nämlich nicht geplant. Jetzt muss ich Schadensbegrenzung betreiben, bis sie dich hier rausholen.“

„Sie machen mir Angst, Toni“, lächelte Georg verhalten. „Ich hoffe, ich bin hier nicht versehentlich in eine geschlossene Gesellschaft irgendeiner organisierten Jägerschaft geplatzt, der es nicht recht ist, dass ich hier bin.“ Toni sah ihn mitleidig an.

„Vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht. Aber wir wollen es besser erst gar nicht darauf anlegen, es herauszufinden. Fakt ist: Es ist hier nicht sicher! Rede mit niemand und halte dich vor allem von dem Keller fern, denn dort, mein Lieber, ist es am gefährlichsten!“

„Warum?“, fragte Georg erstaunt. In seinem Kopf formte sich das Bild von verschiedenen Kellerräumen, in dem alle diese „Jäger“ in einem abgedunkelten Raum pokerten, in einem anderen Raum mit irgendwelchen Huren bumsten und in einem ganz anderen Raum Waffen und Drogen über den Tisch schoben.

„Hast du einen Keller in deinem Haus, Georg?“, fragte Toni. Georg dachte an das, was sich unter seinem Haus befand. Er hatte seinen Keller selbst entworfen mit dem Ziel, seinen Arbeitsplatz irgendwann einmal dort hinunter zu verlegen. Häuser entwerfen für Kunden von zu Hause aus, um seiner Frau näher zu sein – ein Traum, den er sich irgendwann einmal erfüllen wollte.

„Ja, natürlich habe ich einen Keller, sogar einen ziemlich großen.“

„Was lagerst du dort?“

„Aktuell, nichts!“

„Nichts?“

„Nichts!“, wiederholte Georg.

„Du willst mir allen Ernstes weismachen, dass es in deinem Keller nichts gibt, was du dort lagerst? Nicht einmal Werkzeug?“ Georg schüttelte den Kopf und er fühlte sich für einen kurzen Augenblick gezwungen, sich zu erklären.

„Im Moment liegt dort nur wertloses Zeugs herum. Ein paar leere Umzugskartons, Konserven im Vorratsraum, zwei Fahrräder. Meine Frau hat sich im größten Raum des Kellers eine kleine Künstlerwerkstatt eingerichtet – sie ist eine begnadete Malerin, wissen Sie. Aber warum fragen Sie mich das eigentlich?“

„Du hast deiner Frau erlaubt sich in deinem Keller breitzumachen?“ Toni sah ihn vorwurfsvoll an. „Sie hat in deinem Leben ziemlich viel Raum eingenommen – zu viel, wie ich finde.“

„Was reden Sie da?“

„Wo sind deine Sachen?“

„Was für Sachen?“

„Na, all die Dinge eines Mannes, die in den Keller gehören.“

„Ich habe sonst nichts!“

„Du behauptest also wirklich, dein Keller sei - bis auf das Gelumpe deiner Frau – besenrein? Das, lieber Georg, kaufe ich dir nicht ab. Weißt du, was in einem normalen Keller eines ganz normalen Durchschnittsbürgers lagert?“ In seiner Stimme verbarg sich ein Hauch von erschreckender Ernsthaftigkeit.

„In dem Keller eines normal spießigen Bürgers, wie du es bist, liegt all das herum, was für andere Augen nicht bestimmt ist. Seine schmutzige Wäsche, seine unausgelebten Triebe und die dazugehörigen Pornohefte, noch dunklere Geheimnisse und nicht zu vergessen: die Leichen. So sieht es in einem normalen Untergeschoss aus. Jeder Mensch hat irgendetwas in seinem Keller versteckt, das er nicht nach oben bringen will. Aber dann gibt es eben noch diese anderen, noch dunkleren Tiefen. Gänge, die unter den eigentlichen Keller führen. Dort, wo Dinge lagern, die am besten für immer dort unten bleiben sollten. Dinge, die niemals ans Tageslicht kommen dürfen, weil sie niemanden etwas angehen. Aus diesem Grund darf die Tür zum Keller nicht geöffnet werden!“ Georg lachte.

„Sie sind echt lustig, Toni!“

„Du hörst nicht richtig zu!“, unterbrach Toni. Seine Miene verhärtete sich. „Ich sage es dir nun noch mal, um dich zu schützen: Du weißt, wo der Keller ist. Die alte Holztür im Foyer. Du darfst sie auf gar keinen Fall öffnen. Egal, was passiert und egal mit welchen Tricks man versuchen wird, dich dort hinzulocken, verstanden?“

„Himmel, nein! Nein, ich verstehe nichts!“, rief Georg und riss kapitulierend die Hände hoch. Dieser Toni machte ihm Angst. Alles hier in diesem Irrenhaus fing an, ihm Angst zu machen.

„Jeder Mensch hat irgendetwas in seinem Keller liegen, Georg, auch du.“ Toni gab Hinkebein das Zeichen, endlich mit der Erfrischung anzurücken. Er tat wie befohlen und das freiwillig. Alois wackelte mit einem Tablett in der Hand, auf dem zwei Gläser standen, zu ihnen. Georg fuhr sich mit der Zunge über seine spröden Lippen. Noch nie hatte er so einen schrecklichen Durst verspürt wie in diesem Augenblick. Er konnte es kaum abwarten bis Hinkebein endlich die Gläser auf den Tisch stellte und riss ihm seines regelrecht aus der Hand. Was immer Hinkebein auch dorthinein gekippt hatte, er brauchte es jetzt mehr als alles andere. Ja, er war sich sicher, ein Schluck Whiskey oder was auch immer der Inhalt des Glases war, würde ihm die Energie wiederbringen, die ihm in den letzten Stunden deutlich abhandengekommen war.

„Zum Wohl!“, sagte er, prostete Toni entgegen und führte zunächst das Glas an seine Nase. Es roch nach nichts. Vorsichtig nippte er an dem Glas. Das Getränk entpuppte sich als undefinierbar. Es war lauwarm, schmeckte irgendwie abgestanden, fast schon bitter. Er konnte nicht einmal annähernd eine Geschmacksrichtung ausmachen. Doch darauf konnte er keine Rücksicht mehr nehmen. Er nahm einen tiefen Schluck, in der Hoffnung, dass dieses Gesöff seinen Durst stillte. Doch das tat es nicht. Und mit jedem weiteren Schluck, der seine Wirkung verfehlte, tat sich ihm der Gedanke auf, dass es vielleicht keine besonders gute Idee war, noch weiterhin von diesem Zeug - was immer sich darin auch befand - zu trinken. Vielleicht kam es aus einer schmutzigen Leitung? Vielleicht hatte es auch Hinkebein mit irgendeiner dubiosen Substanz verunreinigt? Bei diesem Gedanken musste er plötzlich husten. Er hustete mit aller Kraft, um das, was sich plötzlich irgendwo in seinem Rachenraum festgesetzt hatte zu lösen.

Verdammt, die Schweine haben mir irgendetwas in den Drink getan!, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Das Husten schwoll immer mehr zu einem Würgen an. Als wenn er eine Nagelwalze verschluckt hätte, röchelte er, bis ihm die Luft wegblieb. Sie wollen mich vergiften! Er sank zu Boden. Hektisch riss er an seinem Hemdkragen, in der Hoffnung, dass die Atmung wieder leichter fiel. Er hörte, wie kleine Knöpfe über den Holzboden perlten und irgendwo an den Wänden zum liegen kamen.

„HILFE“, röchelte er. „K-E-I-N-E L-U-F-T!“ Toni und Hinkebein reagierten nicht und starrten ihn nur mit offenem Mund an. Und plötzlich war er sich sicher, er würde hier in diesem Zimmer vor den Augen dieser beiden Männer ersticken.

I-C-H K-R-I-E-G-E K-E-I-N-E L-U-F-T!

I-C-H K-R-I-E-G-E K-E-I-N-E L-U-F-T!, so dachte er auch damals, als er mit einem Knie im Nacken ruckartig zu Boden gedrückt wurde. Dabei hatte er ungewollt eine große Ladung Staub eingeatmet. August 1985, die Sonne brannte und es hatte schon seit Tagen nicht mehr geregnet. Er hustete, versuchte aber gleichzeitig den Kopf von dem glühenden Boden des Ascheplatzes zu heben, dessen rotbraune Körnung sich erbarmungslos in seine Wange brannte.

Na los schon, schüttet seinen Ranzen aus!, befahl der Kerl, dessen Knie sich immer fester in den Nacken bohrte. Holger und Thomas Wertz taten, wie ihnen ihr großer Bruder Patrick befahl, und begannen den Inhalt seiner Schultasche in den Dreck zu kippen, während er hektisch in den Hosentaschen seines Opfers wühlte und sie nach außen stülpte. Allerdings fand er dort nicht das, was er suchte und das schien ihn noch wütender zu machen.

Ich frage dich zum letzten Mal, du Penner! Wo hast du die Kohle versteckt? Er erhöhte den Druck seines Knies, als wolle er ihm mit dem nächsten Atemzug das Genick brechen. Der Junge am Boden hustete so heftig, dass er würgen musste. Tränen liefen ihm über das Gesicht und hinterließen auf seiner verdreckten Haut eine dünne, nahezu saubere Spur.

Zieht ihm die Schuhe aus!, befahl Patrick und fixierte Georg zusätzlich noch mit seinen Händen.

Nein! Georg schrie und begann, sich mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, zu wehren. Doch er konnte gegen die geballte Gewalt der Wertz-Bande einfach nichts ausrichten. Lachend und spottend rissen sie ihm die Schuhe von den Füßen, warfen diese ins gegenüberliegende Gebüsch und machten sich dann an seinen Socken zu schaffen. Dort wurden sie schließlich fündig.

Georg Blumenfeld wollte uns wohl für dumm verkaufen, rief Patrick und hielt triumphierend zwei erbeutete Geldscheine in der Hand.

Nein, bitte!, flehte Georg. Ich brauche das Geld! Nimm es mir nicht schon wieder weg, meine Mutter bringt mich um!

Na, dann hat sie wenigstens nach deiner Geburt eine gute Tat vollbracht! Patrick lachte schallend und erhob sich. Dann nahm er plötzlich Anlauf und donnerte ohne weitere Vorwarnung seinen Fuß in Georgs Rippen.

Versuch nicht noch mal mich zu verarschen, du Schlappschwanz! Georg spürte, wie die Spitze seines Turnschuhs es darauf anlegte, in seinem Brustkorb großen Schaden anzurichten. Mit dem Aufprall kam auch gleich eine heftige Schmerzwelle und sie ließ ihn mit dem Schlimmsten rechnen. Er schrie auf und begann wieder laut zu schluchzen. Er weinte vor Schmerzen, er weinte vor Angst aber vor allem weinte er, weil ihm genau das heute, an seinem neunten Geburtstag, schon wieder passieren musste. Es sollte der schönste Tag und der beste Geburtstag seines Lebens werden. Er hatte es genau geplant. Es gab ein großes Sommerfest mit Kirmes in Bonn und er hatte sich vorgenommen, sich zum Geburtstag selbst einen Rummelbesuch zu schenken. Er wollte Zuckerwatte schlecken, Karussell fahren, den großen Jungs bei Hau den Lukas oder an der Schießbude zusehen. Er hatte sich genau für diesen Tag das Wechselgeld zusammengespart, was er immer dann erhielt, wenn er beim Kaufmann um die Ecke die Medizin für seine Mutter holte. Seine Mutter sagte nie etwas, wenn er sich den einen oder anderen Pfennig vom Wechselgeld einbehalten hatte – meistens war sie so betrunken, dass sie auch gar nichts sagen konnte. Er hatte das Geld in einer kleinen Spardose auf seinem Schrank gebunkert und war guter Dinge, dass dieser Tag gnadenlos „bombe“ werden würde. Er musste nur noch zwei Flaschen Wodka aus Feltens Lädchen gleich nach der Schule für seine Mutter besorgen und diese ohne Umwege bei ihr abliefern, dann war sie überglücklich und auch er konnte sich zumindest für den Augenblick über das Gefühl freuen, ein guter Junge zu sein. Er lebte zu diesem Zeitpunkt alleine mit seiner Mutter. Das Geld war immer knapp, seine Kleidung stets abgetragen und geflickt. Aber er liebte seine Mutter und nahm es ihr auch nicht übel, wenn sie ihn immer wieder für ihr leidvolles und schreckliches Leben verantwortlich machte.

Du hast alles vermasselt! Wenn du nicht wärst, dann könnte ich das Leben führen, das ich mir schon immer gewünscht habe! Dann wäre ich jetzt bestimmt mit dem alten Herrn Bürgermeister verheiratet und würde im Wohlstand leben – aber der Mistkerl wollte keinen Bastard. Nein, er nahm es ihr nicht übel. Im Gegenteil, er fühlte sich deswegen schuldig. Aus diesem Grund gab er sich auch immer wieder die größte Mühe, ihr keine Schande zu machen. Seine Leistungen in der Schule waren daher vorbildlich und er gehörte sogar zu den Kindern, die bei Lehrern einen gewissen Lieblingsstatus hatten, da sie höflich, zuvorkommend und allzeit bereit waren, für die Lehrerschaft lästige Dienstleistungen, wie das Tragen von Unterrichtsmaterial oder Schultaschen zu helfen. Was ihn bei seinen Mitschülern nur noch mehr zum Sonderling machte, als er es ohnehin schon war. Der Plan war also, die Flaschen zu holen, sie zu Hause vorbei zu bringen, um dann mit dem Sparschwein zum Kirmesplatz zu laufen. Allerdings hatte er in seiner Planung einen erneuten Übergriff der Wertz-Bande nicht mit einbezogen. Patrick Wertz und seine Brüder hatten ihm, wie schon so oft nach der Schule, aufgelauert und ihn, wieder in die Mangel genommen und das Geld gestohlen, was für die „Medizin“ seiner Mutter bestimmt war. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, schlugen sie ihn auch noch zusammen. Hoffentlich bringen sie mich um!, dachte er. Ja, bitte tötet mich einfach, dann hat alles endlich ein Ende! Er schloss die Augen und hoffte, dass es schnell ging. Wieder holte Patrick zu einem Tritt aus, während Thomas, Georg mit Schlägen auf den Kopf malträtierte.

HÖRT SOFORT AUF DAMIT IHR IDIOTEN!, donnerte plötzlich eine männliche Stimme durch das Gerangel. Die drei Schläger ließen abrupt von Georg ab und blickten verdutzt auf den Störenfried, der sich mit langsamen Schritten auf sie zubewegte. Auch Georg wagte es für einen kurzen Augenblick, die Hände von seinem Kopf zu nehmen, um denjenigen zu sehen, der es wagte, sich den Wertzens in den Weg zu stellen. Ein paar Meter vor ihm stand ein älterer Junge. Er schätzte ihn um die sechzehn oder siebzehn Jahre. Er trug eine blaue Jeans und ein weißes Muskelshirt, in dem ein für sein Alter gut gebauter und muskulöser Körper steckte. Dunkelbraune, halblange Haare hingen ihm mit Strähnen im Gesicht und in seinem Mundwinkel qualmte eine Zigarette ohne Filter. Seine Erscheinung hatte etwas von James Dean, fand Georg und staunte über diese beeindruckende Überdosis Coolness. Der Junge nahm die Zigarette aus dem Mund und spuckte auf den Boden. Dann sah er die Wertzens Brüder abwechselnd mit finsterem Blick an und sagte:

Das ist ziemlich feige, zu dritt auf einen viel Jüngeren einzudreschen! Er verschränkte die Arme. Georg schluckte. Das roch auf jeden Fall nach Ärger. Er kroch langsam und unauffällig aus der Gefahrenzone. Auch wenn er fasziniert war, dass jemand so viel Mut aufbrachte, sich einzumischen und es damit nahezu darauf anlegte auf die Fresse zu kriegen, fühlte er so etwas wie Erleichterung, dass die Wertz-Bande nun einen anderen Sündenbock zum Austoben gefunden hatte. Das Geld war jedenfalls für immer verloren – oder etwa doch nicht?

Gib ihm das Geld zurück!, sagte der Fremde und deutete auf die Scheine in Patricks Hand.

„Du bist wohl lebensmüde, was?“, lachte Patrick und sah seine Brüder auffordernd an. Verpiss dich, dann behältst du auch deine Zähne! Der Junge seufzte, trat langsam auf Patrick zu und schlug ihn ohne Vorwarnung. Seine Faust traf ihn mitten ins Gesicht. Patrick taumelte und fiel rücklinks auf den Ascheplatz. Staub wirbelte auf und bedeckte seine Haare und Kleidung. Für einen kurzen Augenblick herrschte Stille. Offenbar mussten die Wertz-Brüder das Geschehene zunächst einordnen, verstehen und dann verarbeiten – das dauerte. Georg hingegen verstand, was er sah und hatte prompt aufgehört zu weinen.

Packt ihn, ihr Idioten!, rief Patrick außer sich vor Wut, während er auf allen Vieren auf dem Boden kroch und sich seine blutende Nase hielt. Unschlüssig, was sie tun sollten, sahen sich Holger und Thomas an und begaben sich nervös in Kampfposition. Und als ob sie sich stumm das Zeichen „Auf Drei“ gegeben hatten, stürmten sie schreiend auf ihren Gegner zu. Georgs Augen versuchten dem Kampf lückenlos zu folgen, doch bereits nach den ersten Hieben, Tritten und dem Knacken von Knochen gab er auf. Der Fremde vermöbelte die drei Wertz-Brüder als hätte er sein Leben lang auf diesen Tag gewartet. Für einen kurzen Augenblick dachte Georg sogar, er würde sie am Ende alle mit einem Handgriff umlegen. Erst als keiner der Drei es wagte, noch einmal Hand an ihn zu legen, ließ er von ihnen ab.

Gebt ihm das Geld wieder!, sagte der Fremde ohne, dass in seiner Stimme auch nur ein Hauch von Aufregung oder Anstrengung lag. Er stand da, die Hände in die Hüfte gestemmt, ohne Kratzer, nur mit ein, zwei staubigen Flecken auf dem weißen Muskelshirt und sah auf den Haufen jammernder und weinender Halbstarker am Boden.

Patrick, gib ihm das verdammte Geld wieder, heulte Thomas. Ich glaube, er hat mir den Arm gebrochen.

Patrick spuckte dem Fremden blutigen Schleim vor die Füße, hielt ihm dann wortlos die zwei Scheine entgegen.

So, und jetzt entschuldigt ihr euch bei dem Jungen und versprecht, dass ihr ihm nie mehr ein Haar krümmt! Ich werde euch finden und jeden Einzelnen von euch vernichten! Holger war der Erste, der aufstand, sich in Georgs Richtung bewegte und ihm ein leises Sorry! entgegen flüsterte. Dann humpelte er langsam vom Platz. Thomas folgte seinem Beispiel mit geschwollenem Arm und tränenerstickter Stimme. Patrick hingegen stand auf, blickte seinem Gegner mit blutverschmiertem Gesicht scharf in die Augen und zischte ihm ein verächtliches: Ich entschuldige mich bei niemandem! entgegen, dann wollte auch er verschwinden. Doch der Fremde packte ihn am Kragen und riss ihn zurück.

Du wirst dich jetzt bei diesem Jungen entschuldigen!

Nein, niemals! Der Fremde legte die Hand um Patricks Hals und drückte zu.

Los, sag es! Georg löste sich aus seiner Starre und sprang auf.

Ich will keine Entschuldigung von diesem… ARSCH!, rief er aufgeregt und seine Stimme bebte vor Angst und Stolz. Er soll einfach nur verschwinden! Der Junge ließ Patrick los, gab ihm zum Abschied noch einen kräftigen Schubs, so dass er taumelte, dabei über seine eigenen Füße stolperte und noch einmal der Länge nach in den rotbraunen Staub fiel. Wütend stand er wieder auf, zeigte mit dem Finger auf den Fremden und rief:

Du bist tot, du Bastard! Du bist tot! Der Junge zog etwas aus seiner Gesäßtasche und warf es Patrick vor die Füße.

Hier! Damit du auch weißt, wo du mich findest! Patrick machte sich allerdings nicht die Mühe das Blatt aufzuheben, sondern suchte fluchend das Weite.

Danke, dass Du mir geholfen hast, sagte Georg kleinlaut, während er seine, vom roten Staub verdreckte Socken überstreifte.

Na klaro! Das war unfair und wir Außenseiter müssen doch zusammenhalten! Hier… Der Fremde schob ihm den gleichen Zettel entgegen, den er Patrick vor die Füße geworfen hatte. Neugierig nahm Georg das Flugblatt entgegen und staunte. Auf dem Blatt war ein junger Mann zu sehen, der auf einer Bühne stand. Er sah aus wie James Dean, trug ein sauberes, weißes Muskelshirt und Bluejeans. Er hatte einen Arm in die Luft gehoben, um seinen – für sein Alter ziemlich üppigen - Bizeps zur Schau zu stellen. Stolz und mit erhobenem Haupt blickte er über die Köpfe einer Menschenschar hinweg und lächelte. Unter dem Bild stand:

 

ARMDRÜCKEN

 

GEGEN DEN STÄRKSTEN JUNGEN DER WELT

ANTONIO

 

NUR 3 DM

AUF DEM KIRMESPLATZ,

NEBEN DEM KETTENKARUSSELL

 

Ungläubig sah er von dem Flugblatt auf und blickte dem Jungen ins Gesicht.

Bist du etwa der … stärkste Junge der Welt?

Für diese Show? Ja!

Wow! Georg war beeindruckt. Und er war sich sicher, dieser Junge musste Superkräfte haben. Superkräfte, die ihn vor allem Übel beschützten und die ihm den Mut schenkten, von dem er nur träumte. Und als der Junge ihm sein Geld in die Hand drückte und ihm dabei half, seine Sachen wieder zusammenzufinden, nahm er allen Mut zusammen und fragte ihn:

Hast du wirklich Superkräfte

Woraufhin er antwortete:

Nein, natürlich habe ich keine Superkräfte. So etwas gibt es nicht. Der Rummel ist mein Leben. Ich bin wegen meiner Familie bis in alle Ewigkeit an diese Kirmes gefesselt und muss mich jeden Tag aufs Neue beweisen. Ich muss mich gegen Menschen wehren, die uns und unserer Familie nicht freundlich gesinnt sind. Wir sind Schausteller, die die Menschen unterhalten wollen, aber am Ende jeder Vorstellung sind wir für sie nur wieder rastlose Zigeuner, die ihnen ihr Zeugs unterm Hintern wegklauen. Das tut weh! Aber ich bin mit den Jahren stark geworden. Ich kann eine Menge einstecken, aber genau so gut austeilen. Ich lasse mir nichts mehr gefallen – von nichts und niemanden! Wer sich mir in den Weg stellt, mich demütigen und verletzten will, der bekommt meine Rache und meine Faust zu spüren! Und wenn es sein muss, wäre ich sogar imstande jemanden umzulegen. Und er hatte während er das sagte die Fäuste geballt und seinen unsagbaren Mut in die Welt hinaus geschrien. Das hatte Georg noch mehr beeindruckt.

Ich laufe gerade rum und mache Werbung für unsere Attraktion. Komm doch nachher mal vorbei, wenn du magst. Georg nickte aufgeregt.

Ja, ich werde kommen! Dann verabschiedeten sie sich und gingen ihres Weges. Doch er sah Antonio nie wieder. Denn Georg kam nicht, wie geplant, auf die Kirmes. Sein neunter Geburtstag nahm einen anderen ungeahnten Verlauf. Aber er dachte noch oft an diesen Superhelden, der sich dem Bösen so selbstlos in den Weg gestellt hatte.

 

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„Es scheint dich doch schlimmer erwischt zu haben, als ich gedacht habe“, sagte Toni und blickte ihn sorgenvoll an. „Geht es wieder?“ Es dauerte einen Augenblick bis er seine Gedanken mit dem, was er sah, in Einklang bringen konnte. Er saß immer noch in dem Sessel im Kaminzimmer. Offenbar hatte er wieder das Bewusstsein verloren. Und da war dieser Toni und erst jetzt fiel ihm diese verblüffende Ähnlichkeit mit James Dean auf. Georg sah ihn irritiert an.

„War ich etwa schon wieder weg?“ Toni nickte bedrückt.

„Innere Verletzungen durch den Unfall, der Blutverlust – die Aufregung?“

„Ich dachte schon, Sie wollten mich vergiften“, lächelte Georg schwach und deutete auf das Glas, aus dem er zuvor getrunken hatte.

„Dich vergiften?!“, rief Toni und in seiner Stimme lag eine Portion Beleidigung. „Alois ist zwar auch Meister im Zusammenstellen medizinischer Giftcocktails, aber in deinem Glas wird sich nichts dergleichen finden. Außerdem habe ich überhaupt gar kein Interesse daran, dich zu töten oder dir in irgendeiner Weise zu schaden – im Gegenteil. Ich bin vielmehr dein Beschützer und eigentlich dazu da, um dich vor großem Unheil zu bewahren.“ Georg runzelte die Stirn. Was redete Toni da für ein Zeug? Er spielte sich hier als ominöser Beschützer und Retter auf, tat aber nichts dergleichen, um ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien, außer ihm Unterschlupf zu gewähren. Unterschlupf in einem Gebäude ohne fließend Wasser und ohne funktionierende Heizung. Er konnte selbst auf sich aufpassen. Gut, vielleicht nicht immer erfolgreich, aber zumindest hatte er den Unfall, die Schussattacke eines Jägers und den anschließenden Hundeangriff überlebt.

„Ich kann es übrigens nicht fassen, dass du es wirklich getan hast!“, sagte Toni plötzlich und kippte sich in einem Zug den Inhalt des Glases in den Rachen.

„Dass ich was getan habe?“ Georg starrte ihn erschrocken an und ließ innerhalb von Sekunden alles noch einmal Revue passieren, was er, seitdem er das Haus betreten hatte, gedacht, gesagt, getan und angefasst hatte. Stellte aber dann erleichtert fest, dass man ihm nichts vorwerfen konnte. Er hatte ja nicht einmal einen Koffer dabei, in dem er ein Handtuch mit der Aufschrift „Pension zum alten Jagdhaus“ hätte mitgehen lassen können. Seine reine Weste ließ ihn erleichtert aufatmen.

„Maria!“, rief er vorwurfsvoll. „Du hast Maria geheiratet! Ich verstehe einfach nicht, warum du dir von allen Frauen der Welt gerade diese dumme Gans ausgesucht hast.“ Georg starrte Toni fassungslos an, dann spürte er plötzlich, wie sich unaufhaltsam der Ärger in ihm ausbreitete.

„Ich möchte nicht, dass Sie meine Frau als dumme Gans bezeichnen“, sagte er scharf, aber höflich.

„Warum nicht? Macht dich das etwa wütend?“, antwortete Toni und es lag plötzlich ein Hauch neuer Provokation in der Luft. „Es ist wirklich unglaublich, wie du auf ihr falsches Spiel hereingefallen bist. Man könnte dir ihre Falschheit auf einem Silbertablett servieren, aber selbst dann willst du es einfach nicht kapieren.“

„Hören Sie auf!“, zischte Georg wütend. „Sie haben nicht das Recht so über sie zu reden. Sie kennen sie doch gar nicht.“

„Da muss ich dich leider enttäuschen, Georg. Ich kenne Maria genau so gut, wie ich dich kenne.“

„Ach ja, und woher?“ Toni schenkte ihm nur einen mitleidigen Blick, beantwortete die Frage aber nicht.

„Sie brauchte dich nur anzusehen und du warst vollkommen manipuliert“, fuhr Toni fort. „Völlig fremdgesteuert und fehlprogrammiert. Und ja, ich weiß, du hast noch nie in deinem Leben eine Frau so geliebt, wie Maria. Und das ist der Punkt! Du hast dich vollkommen selbst verloren. Du warst ihr völlig ausgeliefert. Sie war wie eine Kobra, die sich vor dir aufbäumte, dich hypnotisierte und darauf wartete, dich mit ihrem Gift zu töten. Und du Idiot wolltest sogar von ihr getötet werden. Du hast dich jahrelang in Gefahr begeben. Und jetzt? Ja, jetzt bist du im Arsch! Du bist so ein Idiot!“

Die Stimme in meinem Kopf…, dachte Georg. Sie klang wie Toni und sie sagte ihm schon seit Tagen so einen Müll, wie auch er ihn jetzt hier abließ. Seid still! Seid alle still!

Toni lächelte, faltete die Hände und schien sich auf Georgs Antwort zu freuen. Doch dieser kämpfte noch mit dem ersten Satz, den Toni ihm entgegengebracht hatte:

Ich kenne Maria genau so gut, wie ich dich kenne.

„Sie kennen meine Frau?“

„Ja, so in etwa könnte man es ausdrücken.“

„Wer zum Teufel sind Sie?“, Georgs Stimme bebte.

„Ich bin dein Freund“, begann Toni ruhig. „Vielleicht sogar der Beste, den du jemals hattest.“

„Und warum erinnere ich mich nicht an diesen besten Freund?“ Ein Hauch von Verzweiflung legte sich auf Georgs Stimme.

„Weil du dir einredest, dass ich es nicht sein kann.“ Sekunden lang herrschte beklemmendes Schweigen. Georg versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Nein, es konnte nicht Antonio sein. Das Ganze lag über dreißig Jahre zurück. Er müsste folglich doch sehr viel älter sein…

„Was haben sie mit meiner Frau zu schaffen?“, lenkte er schließlich von dieser absurden Idee ab. Toni seufzte, nestelte in seiner Hosentasche und griff nach der Packung Zigaretten, die sich darin befand. Er öffnete die Schachtel zog einen Glimmstängel auf halbe Höhe und hielt sie Georg vor die Nase. Dieser lehnte kopfschüttelnd ab.

„Danke, ich rauche nicht!“

„Du willst wissen, was ich mit Maria zu schaffen habe?“ Georg nickte.

„Ganz einfach! Ich hab sie gefickt!“ Tonis Offenbarung kam so plötzlich, dass Georg noch in seiner Bewegung erstarrte. Langsam drehte er seinen Kopf zur Seite und sah seinem Gegenüber tief in die Augen.

„Sie haben was?“ Er hatte Hoffnung, irgendwo einen Anhaltspunkt zu finden, der ihm den Beweis lieferte, dass dieser Mann zu scherzen pflegte. Aber er fand ihn nicht. Im Gegenteil. Seine braunen Augen, die ihm auf eine wundersame Art und Weise vertraut vorkamen, hatten nicht die Spur von einem scherzhaften Funkeln. Toni schob sich vollkommen unbehelligt von dem, was er gerade gesagt hatte, eine filterlose Zigarette in den Mund und zündete sie an.

Verdammt, wer bist du, dachte Georg. Und was führst du im Schilde? Und warum lügst du?

„Ich lüge nicht, Georg! Das ist die Wahrheit!“ Toni sah ihn eindringlich an, so als warte er auf die Reaktion, die ein gehörnter Ehemann für gewöhnlich auf solch eine Offenbarung zeigte.

„Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, dass meine Frau mich mit Ihnen betrogen hat? Das sagen Sie mir einfach hier und jetzt?“ Toni nickte.

„Ja, Georg, das sage ich dir hier und jetzt. Ich hätte dir ja schon gerne viel früher die Augen geöffnet, aber du wolltest ja nicht hören. Immer wieder hab ich versucht zu dir hindurchzudringen, aber du warst so blind und so verbohrt.“ Georg schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ich glaube Ihnen nicht!“

„Ich habe nichts anderes erwartet. Gerne helfe ich dir auf deinem Glaubensweg. Erinnerst du dich noch an den vierzigsten Geburtstag deines besten Freundes?“

„Ja, das war im Sommer letzten Jahres. Da ist Joachim vierzig geworden. Woher wissen Sie das? Kennen Sie ihn etwa auch?“ Toni winkte ab, steckte sich die brennende Zigarette in den Mundwinkel, ließ sich von Hinkebein erneut einschenken und begann zu erzählen:

„Nun, Maria war an diesem Abend nicht besonders gut drauf. Ihr hattet zu Hause einen kleinen Streit, weil du wieder - wie sie es immer so nett ausdrückte - schwierig warst. Vielleicht hast du dich darüber beschwert, dass ihr Ausschnitt viel zu gewagt war für eine Gartenparty? Vielleicht hast du ihr auch eine kleine Szene gemacht, weil sie unendlich viel Zeit für ihr Make-up gebraucht hat? Ich weiß es nicht. Fakt war: Sie war angespannt und missbilligte zudem, dass du ein Bier nach dem anderen in dich hinein gekippt hast. Du hast nämlich ein Problem, wenn du trinkst und das weißt du.“

„Ach ja? Was hab ich denn dann für ein Problem?“

„Du wirst sehr emotional und redest wirres Zeugs. Manchmal singst du auch merkwürdige Lieder. Jagdlieder… Fuchs du hast die Gans gestohlen… und so ein Zeugs.“

„Maria scheint Ihnen ja wirklich jedes Detail ausgeplaudert zu haben“, knurrte Georg und vergrub seine Schamesröte hinter seinen Händen. Georg spürte, wie neben der Scham auch immer mehr die blanke Wut in ihm zu kochen begann. Er hatte das Gefühl, als säße er auf dem größten Präsentierteller der Welt, vor einem Publikum, von dem jeder Bescheid wusste, nur er nicht. Was ging hier vor? Warum plauderte Maria solch prekäre Details aus seinem Privatleben aus? Toni fuhr fort.

„Jedenfalls hatte dieser Hurensohn Päler nichts Besseres zu tun, als Maria den ganzen Abend nachzusteigen. Sie sprang natürlich darauf an und das ohne Rücksicht darauf, dass sie eigentlich eine anständige, gebildete, wohlerzogene und vor allem treue Ehefrau ist. Sie turtelten so herum, dass selbst andere Gäste stutzig wurden. Und ich sah es als meine Aufgabe an, ihr wieder Benehmen beizubringen. Das war in dem Augenblick – es musste schon zur späten Stunde gewesen sein – als ich Maria dort oben mit Joachim an der Treppe stehen sah. Sie unterhielten sich gerade angeregt – meines Erachtens viel zu angeregt, denn ich glaube gesehen zu haben, dass ihre Hände sich liebevoll berührten. Noch bevor sie unbemerkt in irgendein Zimmer verschwinden konnten, habe ich diese Unterhaltung dann sofort beendet. Ich habe sie gepackt und – zugegeben etwas unsanft – hinaus in den Garten gezerrt. Ich hatte an diesem Moment einfach das starke Bedürfnis ihr zu zeigen, wie das ist, wenn man plötzlich die Beherrschung und die Kontrolle verliert. Ich habe ihr daraufhin zwei Mal ins Gesicht geschlagen. Du hättest ihren Blick sehen sollen. Es war eine Mischung aus Schreck und Faszination. Ja, es schien ihr zu gefallen, dass ich sie so hart anfasste.“ Georg starrte Toni fassungslos und mit offenem Mund an. Noch nie in seinem Leben hatte man ihm so etwas derartig Unglaubliches aufgetischt, was dennoch so überzeugend klang, dass er es fast geglaubt hätte – fast – wenn es nicht um seine Frau Maria gegangen wäre, die allerdings an jenem besagten Abend die ganze Zeit an seiner Seite war. Das war sie doch oder? Er versuchte sich zu erinnern, doch irgendetwas störte seine Suche nach der richtigen Antwort.

„Ja, und dann ging es zwischen uns erst richtig zur Sache! Wir haben es miteinander getrieben. Im kleinen Wäldchen, gleich hinter Joachims Gartenhaus. Sie war erst ein wenig störrisch und sagte ständig irgendetwas wie: Nein, das können wir doch nicht tun, wenn uns hier einer sieht! Aber das war mir egal. Ihr hat es sehr gefallen…“

„Ich will diesen Schwachsinn nicht hören!“, zischte Georg wütend und stand abrupt auf. Doch es war dieser plötzliche Stich in seinen Schläfen, dicht gefolgt von einem unaufhörlichen Pochen in seiner Hand, das ihn schnell wieder in den Sessel zwang.

„Das ist alles erstunken und erlogen! Niemals würde Maria mich betrügen, niemals! Und niemals würde sie sich auf solch ein schmutziges Niveau herablassen!“ Georg spürte, wie sein Kreislauf auf Hochtouren gegen den Zusammenbruch kämpfte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und alles begann, sich zu drehen.

„Du solltest dich nicht so aufregen“, sagte Toni und schenkte ihm einen mitleidigen Blick.

„Nicht aufregen?“ Georg schnappte nach Luft. „Ich soll mich nicht aufregen, wenn ich mir hier so einen Mist anhören muss? Mist von einem Mann, den ich nicht kenne, und der behauptet eine Menge über mich und mein Leben zu wissen? Was soll das? Schön, vielleicht haben Sie sich tatsächlich mit meiner Frau unterhalten. Ich gehe davon aus, dass dieses Gespräch im Rahmen einer Mandantschaft stattfand. Wahrscheinlich haben Sie sich Ärger mit dieser dubiosen Pension eingehandelt? Hat Sie ein Gast vielleicht wegen Verleumdung und übler Nachrede angezeigt? Oder hat der Zoll spitz gekriegt, dass Sie hier Schwarzarbeiter beschäftigen – von wegen Alois arbeitet auf freiwilliger Basis und vollkommen unentgeltlich für Sie. Was immer auch der Grund ist, warum meine Frau Sie als Anwältin rechtlich vertreten hat, es ist noch lange kein Grund mich so derart übel an der Nase herumzuführen und das auch noch in einer Situation, in der ich auf Ihre Hilfe angewiesen bin. Sagen Sie, geht man so mit seinen Gästen um? Ich kann mich im Übrigen nicht daran erinnern, Sie auf der Feier von Joachim Päler gesehen zu haben. Ich kann mich ohnehin nicht daran erinnern, Sie überhaupt schon irgendwann einmal gesehen zu haben.“ Sieh nur, wie er seine Zigarette mit seinem Mundwinkel bearbeitet, dachte er und korrigierte den Gedanken mit einem fassungslosen. Nein, es ist einfach nicht möglich! Es kann nicht Antonio sein!

„Hören Sie einfach auf mit diesen Spielchen, das zieht bei mir nicht.“ Toni nahm die Zigarette aus dem Mund und drückte sie im Aschenbecher aus. Erst jetzt merkte Georg, dass ihn der Rauch der Zigarette überhaupt nicht störte.

Normalerweise fand er den Geruch von Zigaretten ekelhaft und hatte sich deswegen schon oft genug mit Päler gestritten, weil dieser in ihren Büroräumen rauchte, obwohl sie ein Anti-Rauch-Abkommen geschlossen hatten. Er hasste diesen Gestank sogar so sehr, dass es ihn auf eine unerklärliche Art und Weise wütend machte, wenn er in seine Nase stieg. Doch hier war es, als hätte der übelriechende Qualm ihn erst gar nicht erreicht. Vielleicht eine spezielle Marke?

„Wie Alois schon erwähnte, ist es nicht meine Art zu spielen“, sagte Toni ruhig. „Siehe es eher als Versuch, dir zu sagen, dass du deine Gedanken auf etwas anderes richten sollst, als auf das Problem, dass du dir einbildest, dass zu Hause eine Frau sitzt und sich Sorgen um dein Wohlergehen macht. Dein Problem manifestiert sich in eine ganz andere Richtung, und zwar dort draußen mit jeder weiteren Minute, die du hier mit deiner Ignoranz verschwendest. Aber eigentlich weißt du das! Du willst es nur nicht wahrhaben, Georg! Ganz nach deinem Standardmotto: Alles ist in bester Ordnung, denn alles ist so wie immer, nicht wahr?! Oder sollte ich besser sagen: Nichts geschieht ohne Grund!?“

„Das reicht jetzt!“, zischte Georg und stand erneut auf, dieses Mal aber mit mehr Bedacht. „Sie sind doch nicht bei Trost! Ich bin weg!“

„Ach ja und wohin, wenn ich fragen darf?“

„Weg hier! Weg von Ihnen und Ihrem überflüssigem Gerede!“

„Du kannst hier nicht weg!“, lächelte Toni. „Du hast vergessen, dass dort draußen ein mächtiger Sturm tobt und die ersten Einsatzkräfte nicht vor morgen früh eintreffen werden. Wenn du ganz still bist, kannst du den Wind hören, wie er an dir rüttelt und reißt. Wach endlich auf, Georg!“ Toni lehnte sich zufrieden in seinen Sessel zurück und sah seinen Gesprächspartner mit großen Augen an.

„Da liegen Sie falsch! Der Sturm ist abgezogen! Ich muss es wissen, immerhin bin ich zu Fuß durch den Wald hierhergekommen.“

„Der Sturm, mein Lieber, hat noch lange nicht aufgehört – für dich fängt er jetzt erst an – also setz dich lieber wieder!“

„Nein, ich hau ab aus diesem Irrenhaus!“ Er bewegte sich entschlossen Richtung Tür, blieb aber dann zögerlich stehen und sagte laut: „Es ging übrigens um einen Ovulationstest!“

„Wie bitte?“

„An dem Nachmittag vor Joachims Geburtstagsfeier. Wir hatten uns wegen dieses bescheuerten Ovulationstests gestritten. Ihr ständiges Gerede von ihrem Kinderwunsch machte mich schon seit Monaten vollkommen verrückt. Ständig wollte sie Sex nach Plan. Und an diesem Tag stand ihr Eisprung unmittelbar bevor und sie wollte noch schnell diese letzte Chance nutzen – ich aber wollte nicht.“ Toni lächelte und nickte schließlich.

„Jetzt wird mir einiges klar!“

„Was wird Ihnen klar! Nichts wird Ihnen klar! Weil Sie überhaupt keine Ahnung haben!“ Kommentarlos drehte Georg sich um und verließ den Raum. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, hörte er noch das amüsierte Lachen von Toni, der so etwas sagte wie: Spar dir die Mühe, du kommst hier nicht raus! Und ob er hier rauskam! Sie konnten ihn ja wohl kaum hier einsperren. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Er war bei Päler auf der Party gewesen und hatte mit Maria geschlafen? Was lief bei ihm schief, dass er solch unglaubliche Behauptungen aufstellte? Jede weitere Minute mit diesem exzentrischen Kerl war reine Zeitverschwendung. Toni war einfach nicht ganz dicht und sein merkwürdiges Gefolge ebenfalls. Er musste raus! Raus aus diesem Haus und das auf schnellstem Wege.

Er stand auf einem länglichen Gang. Ihm fiel auf, dass dieser anders aussah, als der, über den er zuvor in das Kaminzimmer gelangt war. Er wirkte eher ausladend und regelrecht düster. Die letzte Renovierung schien schon viele Jahrzehnte zurückzuliegen. Die Holzdielen knarrten bei jedem seiner Schritte und von den Wänden blätterte der Putz. Offenbar hatte er die falsche Tür gewählt, als er die Lounge verlassen hatte. Aber er würde sich auf gar keinen Fall die Blöße geben, in den Saal zurückkehren, um eine mögliche andere, eben die richtige Tür zu wählen. Er war sich sicher, Toni würde wieder sein provokatives Lächeln aufsetzen, genüsslich an seiner Zigarette ziehen und so etwas sagen wie: Ah, da bist du ja wieder Georg. Wir hatten dich schon vermisst!

Kopfschüttelnd und mit einem Gefühl in der Magengegend, als würde der Plan abzuhauen mehr Zeit in Anspruch nehmen als ihm lieb war, begann er den Gang entlang zu laufen. Eine Ratte kreuzte seinen Weg und löste in ihm Ekel aus. Ein Grund mehr, keine Sekunde länger hier zu bleiben als nötig! Er war froh, dass er nicht auf die Idee gekommen war, nach einem üppigen Abendbrot zu fragen. Er wollte sich erst gar nicht vorstellen, wie es hier möglicherweise in der Küche zuging. Er erinnerte sich an die Infotafel, auf der von gutbürgerlicher Küche und auch von frisch zubereitetem Wild die Rede war. Ob auch hier Hinkebein die treibende Kraft war und am Herd stand? Vielleicht sogar mit schwingendem Beil, mit dem er gerade frisch erlegten Tieren die Gliedmaßen amputierte, um diese entsprechen anzurichten? Er schüttelte sich. Er musste einen klaren Kopf bewahren und sich nicht mit irgendwelchem Müll, der ungewollt seiner Fantasie entsprang, verrückt machen. Er musste raus hier! Vielleicht gab es hier eine Hinter- oder zumindest eine Verbindungstür zu den anderen Räumen. Irgendwie musste er es zurück ins Foyer schaffen, von dort aus würde er dann problemlos den Ausgang finden. Langsam tat er einen Schritt vor den anderen und lauschte. Das monotone Brummen war immer noch da, auch die unterschwellige Musik ertönte wieder. Ob es von Larissa oder seinem Zimmernachbarn aus dem ersten Stock kam? Oder gab es vielleicht in diesem Trakt auch jemanden, der Radio hörte? Ein Gefühl von Hoffnung flammte auf, wurde aber jäh von neuen Zweifeln erstickt. Hier in diesem regelrecht heruntergekommenen Bereich war es eher unwahrscheinlich auf einen Gast zu treffen, der ihm mit einem Handy oder anderweitig helfen konnte. Hinzu kam noch der schlechte Beigeschmack, dass er Toni dahin gehend glaubte, dass er sich von den anderen Gästen lieber fernhalten sollte. Er war sich sicher, niemand hier in diesem Haus würde ihm wirklich helfen können oder wollen, sondern ihn möglicherweise nur noch weiter in die Scheiße reiten.

Apropos Scheiße … Ein paar Meter vor ihm war eine Tür. Auf der stand ein Schild mit einer 6. Georg stutzte. Zu seiner Überraschung registrierte er, dass das Zimmer offen stand. Aus dem Inneren des Raumes ertönten die monotonen Klänge eines Radios. Hansen verkündete gerade neben den Meldungen rund um den Sturm auch die aktuellen Nachrichten aus dem regionalen Bereich. Er lauschte gespannt:

„Mysteriöser Mordfall auf einer Baustelle in der Bonner Südstadt. Nach dem Fund einer männlichen Leiche sucht die Polizei nun fieberhaft nach dem Täter. Die Spurensuche vor Ort gibt den Beamten eine Menge Rätsel auf.“

Georg spürte, wie ihm unaufhaltsam die Hitze ins Gesicht stieg. Sein Atem stockte vor Entsetzen und sein Magen reagierte auf diese Meldung mit einem dumpfen Gefühl, das ihn fast dazu brachte, sich erneut zu übergeben. Es stimmte also. Der Albtraum war Wirklichkeit geworden – es gab tatsächlich einen Toten auf der Baustelle.

„Unser Außenreporter Dennis Mackenstedt ist für uns direkt vor Ort“, fuhr Hansen fort. „Ja, sag mal Dennis, kannst du uns Näheres berichten?“

„Ja, Charly, hier ist in der Tat eine Menge los, nur was genau sich hier abgespielt hat, da tappen alle scheinbar noch im Dunkeln. Ich habe hier an meiner Seite Bauherr Rüdiger Marquard, für den an Schlaf im Augenblick scheinbar auch nicht zu denken ist. Herr Marquard können Sie uns bereits etwas zu dem Toten sagen, den man auf Ihrer Baustelle gefunden hat?“

„Ich bin fassungslos und ich muss zugeben, dass ich das alles noch gar nicht so richtig realisiert habe. Das ist alles so unglaublich schrecklich!“

„Haben Sie die Leiche persönlich entdeckt?“, fragte Mackenstedt.

„Nein, zum Glück nicht! Ich habe nur die blutige Botschaft an der Wand gefunden.“

„Blutige Botschaft?“

„Ja, Nix Finiti et Causa oder so ähnlich. Die Worte wurden mit Blut an die Wand geschrieben. Wir haben die Polizei darüber informiert und die kamen dann. Sie stellten dann fest, dass es menschliches Blut ist. Ja, und jetzt haben die einen Toten im Fahrstuhlschacht gefunden.“

„Weiß man schon, wer der Tote ist?“

„Keine Ahnung! Vielleicht einer der Baustellenhelfer. Rumäne oder Pole – die übrigens legal hier arbeiten – das nur nebenbei bemerkt. Mehr kann ich leider nicht sagen. Es darf ja keiner auf das Gelände! Das muss man sich mal vorstellen, ich darf meine eigene Baustelle nicht betreten.“

„Ja, soviel zu diesem schaurigen Thema, wir bleiben auf jeden Fall dran. Doch bis dahin ein bisschen Musik für alle Nachtschwärmer mit Roxette und It Must Have Been Love.“

Es dauerte einen Augenblick, bis Georg das Gehörte in seinem Kopf registriert und verarbeitet hatte. Der Gedanke an Maria und dass er nicht wusste, wie es ihr ging, brachte ihn immer mehr um den Verstand. Was war, wenn der Mörder schon längst auf dem Weg zu ihr oder, schlimmer noch – schon bei ihr war, während er hier durch dieses verrückte Haus irrte und sich Gedanken über Ratten und kulinarische Highlights einer Jagdpension machte?

Scheiße! Scheiße! Was für eine gottverdammte Scheiße! Georg war den Tränen nahe, doch Tränen waren nicht gut. Nein, Tränen waren ein Zeichen von Schwäche und dafür, dass er die Kontrolle verloren hatte. Und Georg Blumenfeld verlor nie die Kontrolle, er durfte sie nicht verlieren. Roxettes Refrain erinnerte ihn daran, wie sehr er Maria liebte. Und er hatte Angst, dass es für ihre Liebe zu spät war. It´s over now… Er lehnte seinen Kopf gegen die Wand, ließ die Welle der Traurigkeit kampflos eintreten und begann zu weinen. Er schluchzte leise, kaum hörbar aber dafür so intensiv, dass sich seine Muskeln verkrampften. Irgendetwas schmerzte ganz tief in ihm und er wusste, es war keine Verletzung, die er sich bei dem Unfall zugezogen hatte. Irgendetwas war da, was in einer ungeahnten Wunde stocherte und ihn in die Knie zwang. In seiner Verzweiflung schlug er mit den Fäusten gegen die Wand und wurde dabei schmerzhaft an seine sichtbare Verletzung an der Hand erinnert. Er stöhnte auf, war aber dankbar für diese unsanfte Ablenkung, die den Maria-Schmerz zumindest für diesen Augenblick dorthin schickte, wo er hergekommen war.

Ein plötzliches Geräusch aus dem Inneren des Zimmers ließ ihn erschrocken aufhorchen. Es klang wie ein hohler Metallbehälter, der über den Boden rollte. Nein, vielleicht ist doch noch nichts verloren!, motivierte er sich. Jemand war in diesem Zimmer. Vielleicht hatte der Gast dieses Zimmers ja doch ein Mobiltelefon? Maria, ich werde gleich zu Hause sein! Und dann reden wir über alles! Das Licht an den Wänden begann aufgeregt zu flackern, wie eine Warnung, dass er sich in Acht nehmen sollte. Unheilvoll krochen im blinkenden Licht schwarze Schatten über die Wände. Er spürte, dass er auf der Hut sein musste. Allerdings wusste er nicht vor wem oder was. Vielleicht lauerte Toni oder Hinkebein bereits irgendwo, um ihn daran zu hindern das Haus zu verlassen? Vielleicht lauerte auch irgendwo dort draußen der verrückte Jäger mit seinem Hund? Er lugte durch den offenen Türspalt und blickte auf ein kahles Zimmer mit spartanischer Einrichtung. Sein erster Blick fiel auf ein klappriges Bett mit zerwühlter und verdreckter Bettwäsche. Nicht gerade einladend, dachte Georg und suchte mit den Augen das Zimmer ab.

“Hallo?!“, rief er laut in den Raum hinein und wartete auf Antwort. Als diese nicht kam, trat er vorsichtig ein. Und er spürte, wie sich mit dem Betreten des Raumes ein Gefühl von Unbehagen in ihm ausbreitete. Nicht nur, dass er sich wie ein Eindringling vorkam, in dem Zimmer herrschte auch ein heilloses Durcheinander. Wäsche, Müll und leere Schnapsflaschen bedeckten den Boden. Eine leere Konservendose lag in der Ecke und bewegte sich wie von Geisterhand. Georg ahnte, welches Nagetier gerade die letzten Reste Erbsensuppe vom Dosenboden leckte und wandte sich angewidert ab. In der Mitte des Raumes stand ein kleiner Tisch, auf dem ebenfalls leere Schnaps- und Bierflaschen standen, ein Stuhl mit abgewetztem Ledersitz hatte offensichtlich schon eine Menge Sitzfleisch aushalten müssen. Er ließ seine Blicke weiter schweifen, allerdings sank mit jeder weiteren Sekunde in dieser Absteige der Wunsch, den Menschen, der hier wohnte, anzutreffen. Abgesehen davon, dass hier jemand gerne die Nacht mit mehr oder weniger guten Drinks durchzechte, schien der Grund des Aufenthalts eher anderer Natur zu sein, als Urlaub.

Vielleicht illegale Einwanderer? Schwarzarbeiter? Drogenhändler? Zuhälter? Es gab eine Vielzahl an schrecklichen Möglichkeiten, die sich hier noch auftun konnten, doch er wischte sie alle aus seinem Kopf. Unschlüssig, was er jetzt tun sollte, schlich er vorsichtig in die Richtung, wo er das Badezimmer vermutete. Wenn hier jemand gerade auf dem Klo saß oder in der Badewanne lag, dann würde er diesen nur ungern dabei stören. Allerdings wollte er nichts unversucht lassen. Er klopfte zaghaft an die Tür.

„Hallo? Ist hier jemand?“ Keine Antwort. Ein merkwürdiges Schlurfen ertönte aus unmittelbarer Nähe und ließ seinen Puls in die Höhe schnellen. Es kam draußen vom Gang. Seine Gedanken überschlugen sich. War es Hinkebein, der sich, wie er schon befürchtete, mit einer Flinte bewaffnet ihm in den Weg stellen oder gar sofort abknallen wollte? Für einen kurzen Augenblick dachte er darüber nach, einfach die Flucht zu ergreifen, Hals über Kopf aus diesem Zimmer und gegebenenfalls auch den Schlürfer über den Haufen zu rennen. Doch dann fiel ihm auf, dass das Geh-Geräusch sich nicht nach Hinken anhörte. Es war vielmehr das stetige Schleifen müder Füße über einen alten, knarrenden Holzboden. Und da war noch etwas, was er hörte. Ein leises Seufzen untermalt mit einem schwerfälligen Stöhnen. Das, was sich dort draußen näherte, schien es schwer zu haben. Nervös blickte er auf die Tür. Was wäre, wenn das dort draußen auf dem Flur, der Bewohner des Zimmers war und ihn hier stehen sah? Was würde dieser denken und viel schlimmer noch die Frage: Was würde derjenige wohl dann mit ihm machen? Oh Gott, was sollte er nur tun? Das Zimmer verlassen oder warten?

Bitte entscheiden Sie sich JETZT!

„Wo bist du, Jörres?“, krächzte plötzlich eine weibliche Stimme in unmittelbarer Nähe. Georg taumelte vor Schreck, als eine Gestalt in der Türe auftauchte. Beim näheren Hinsehen erkannte er eine Frau, mittleren Alters. Sie war deutlich kleiner als er und wirkte geschrumpft, irgendwie in sich versunken. Ihre braunen halblangen Haare hingen strähnig an ihr herab. Ihr Gesicht war faltig und eingefallen und sie trug nur ein dünnes Nachthemd. Fast gespenstisch leuchtete ihre Silhouette im Schein des schwachen Lichts. Die Frau wirkte apathisch und schien abwesend. Ihre weißen Plüschhausschuhe schwebten weiter unbeeindruckt über den Dielenboden direkt auf ihn zu.

„Erschrecken Sie sich bitte nicht“, sagte Georg vorsichtig. „Ihre Zimmertür war offen und da bin ich einfach…“ Sie reagierte nicht, schlurfte stur auf ihn zu. Nachdem er seine erste Verwirrung überwunden hatte, hatte er für einen kleinen Augenblick Hoffnung. Hoffnung, die im gleichen Augenblick in traurige Gewissheit kippte. Diese auf den ersten Blick vollkommen hilflos erscheinende Frau schien dieses Drecksloch zu bewohnen. Gewiss konnte sie ihm auch nicht helfen. Wahrscheinlich schlafwandelte sie gerade oder hatte sonst irgendetwas intus, was ihr merkwürdiges Verhalten erklären könnte. Sieh dich mal um, Blumenfeld! Sie ist sturzbetrunken! Die Frau blieb plötzlich stehen, hob ihren Kopf und starrte ihn mit glasigen Augen an. Und in dem Augenblick, als ihre Blicke sich trafen, war es, als blickte er in ein Meer aus schmerzhafter Vertrautheit. Der Anblick ihrer braunen, leeren Augen löste ein Gefühl in ihm aus, das ihn fast dazu gebracht hatte, sich abzuwenden und wegzulaufen. Eine undefinierbare Mischung aus Trauer und Wut drängte sich in sein Herz. Ihre Pupillen waren groß wie Murmeln, das Weiße in ihren Augen gerötet, das Gesicht aufgedunsen. Er wusste, was dies zu bedeuten hatte. Es war der Blick einer Frau, deren Dasein nur noch darauf basierte sich mit Alkohol zu betäuben. Er konnte ihre Fahne zwar nicht riechen, aber er wusste, sie war da. Und er spürte, dass eine weitere quälende Erinnerung auf ihn wartete. Und sie platzte in dem Augenblick ungebeten zur Tür herein und nahm Platz, als die Frau nervös damit anfing, nach ihrer „Medizin“ zu suchen.

 

Es war immer noch sein neunter Geburtstag. Die Wertz-Brüder hatte er hinter sich gelassen. Der Tag war noch nicht zu Ende – es sollte der schönste Tag seines Lebens werden. Und nachdem der James-Dean-Typ, Antonio, ihm den Arsch und auch das Geld seiner Mutter gerettet hatte, war er sich sicher, dass sein Wunsch in Erfüllung gehen würde. Er musste seiner Mutter nur noch ihre Medizin bringen, das Ersparte aus seiner Spardose nehmen, sich wieder höflich verabschieden und in die Stadt gehen. Doch als er die Haustür öffnete, spürte er bereits, dass etwas nicht stimmte. Es war so ruhig. Normalerweise lief immer der Fernseher. Er lief von morgens bis abends, auch wenn sie gar nicht schaute. Georg schlich in die Küche und stellte die Flaschen auf den Tisch und sah sich suchend um. Seine Mutter lag nicht, wie gewöhnlich im Wohnzimmer auf der Couch und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er fand sie auch nicht im Badezimmer. Das war mehr als nur merkwürdig. Seine Mutter verließ nahezu nie das Haus. Einkäufe und kleinere Besorgungen erledigte meist er direkt nach der Schule. Sie musste also oben sein. Vielleicht war sie müde und hatte sich ins Bett gelegt? Stutzig stieg er die Treppe hinauf. Im Obergeschoss befand sich sowohl sein Zimmer als auch ihr Schlafraum. Er fand sie schließlich in seinem Zimmer – oder vielmehr, er fand sie in dem Raum, der einmal sein Zimmer gewesen und von dem nicht mehr viel übrig geblieben war. Die Gardine war mitsamt der Stange vom Fenster gerissen, sein Bett war zerwühlt, die Kleidung aus seinem Schrank lag auf dem Boden. Die Schubladen waren aus seinem Schreibtisch gerissen und lagen in Einzelteilen, mitsamt ihrem Inhalt im ganzen Raum verteilt. Seine Karl May Bücher, seine Sammlung Zinnsoldaten, einfach alles, was ihm jemals lieb war und was er aus diesem Grund auch auf ein Regal gestellt hatte, waren achtlos von der Wand gefegt. Was war hier passiert? Dann sah er sie. Seine Mutter saß inmitten des heillosen Durcheinanders auf einem Stuhl und starrt ihn mit finsterem Blick an. Er erschrak.

Um ihre Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet und ihr faltiges Gesicht, hatte sich in eine von tiefen Furchen gezeichnete Fratze verwandelt. Sie sah aus wie ein Monster, fand Georg. Er wusste, das dort vor ihm war seine Mutter, doch irgendwie war sie es auch nicht.

Wo warst du?, fragte sie und ihre Stimme bebte.

Entschuldige, Mama, ich bin aufgehalten worden, antwortete er kleinlaut und begann nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten. Zu allem Übel zwickte, seitdem ihm die Wertz-Bande dazwischen hatte, seine Blase mehr denn je. Er musste schon seit einer Stunde dringend auf die Toilette, sah aber ein, dass die Chancen im Augenblick sehr schlecht standen.

Hab ich dir nicht gesagt, du sollst sofort nach der Schule nach Hause kommen und mir meine Medizin bringen? Du nichtsnutziger Bengel! Sie stand langsam auf, stützte sich dabei schwankend auf die Stuhllehne und sah ihn mit hasserfüllten Augen an.

Wo ist sie!? Georg sah, wie ihre Hände zitterten. Ihr Gesicht war schweißnass und sie war rasend vor Wut. Sie war schon oft wütend auf ihn gewesen und er hatte sich auch schon oft die eine oder andere Ohrfeige eingefangen. Aber so böse hatte er sie noch nie erlebt. Sie ging mit langsamen Schritten auf ihn zu.

Wo ist meine Medizin?

In der Küche, flüsterte Georg. Ich habe die Flaschen auf den Küchentisch gestellt. Seine Stimme erstickte in den Tränen, die er zu weinen begann.

Mama, es tut mir leid! Die Wertz-Brüder, sie haben mich aufgehalten: Sie haben mich geschlagen und wollten das Geld stehlen. Aber da kam so ein Wahnsinnstyp, der hat… Noch bevor er den Satz weitersprechen konnte, donnerte bereits die erste Ohrfeige in sein Gesicht. Auf die erste Schelle folgte ohne Verzögerung auch schon die Zweite und schließlich begann sie abwechselnd, eine Hand nach der anderen auf ihn einzuschlagen. Und mit jedem einzelnen Hieb hagelte es auch weitere schmerzhafte Silben aus ihrem Mund.

Zu nichts bist du zu gebrauchen, ständig machst du mir nur Ärger. Du weißt, wie wichtig es ist, dass ich pünktlich meine Medizin bekomme! Jetzt siehst du, was du davon hast! Wie siehst du überhaupt aus? Du Dreckschwein! Georg versuchte, sich schützend die Hände vor sein Gesicht zu halten. Doch immer wieder traf sie ihn.

Mama, bitte! Hör auf! Es tut mir leid!

Halt deine Klappe! Plötzlich erfasste sie mit beiden Händen seinen Hals. Er röchelte.

Du hättest bei der Mumpserkrankung damals sterben sollen, dann wäre mir einiges erspart geblieben. Stattdessen bringe ich mich noch in Teufelsküche, weil ich keine Krankenversicherung für dich habe. Ich werde irgendwann noch wegen dir vor Kummer sterben, das willst du doch nicht oder? ODER? Er hatte ihr darauf keine Antwort gegeben. Er hätte ihr auch gar keine Antwort darauf geben können, weil ihre Hände um seinen Hals immer wieder zudrückten. Es war, als ahnte er, was als Nächstes passieren würde. Sie würde ihn umbringen, weil er zu spät nach Hause gekommen war und ihr somit auch zu spät ihre Medizin gebracht hatte. Er hatte den Tod verdient! Mit der Gewissheit, dass sein neunter Geburtstag auch sein Todestag sein würde, gab er auf, sich zu wehren. Seine Muskeln entspannten sich, in dem Moment spürte er, wie es warm wurde zwischen seinen Beinen. Er hatte sich in die Hose gemacht. Dann verliert sich seine Erinnerung…

 

Es dauerte einen Augenblick bis Georg den Sprung aus der Vergangenheit zurück in das Hier und Jetzt schaffte. Die Erinnerung trieb ihm nicht nur die Tränen in die Augen, sondern erinnerte ihn unsanft daran, dass auch er schon seit etlicher Zeit zur Toilette musste.

„Da bist du ja endlich, Jörres“, sagte plötzlich die merkwürdige Frau, die ihn an seine Mutter erinnerte, und streckte ihre knöchrigen Arme nach ihm aus.

„Wo ist meine Medizin?!“ Georg wich zurück und war für einen kurzen Moment vor Überraschung handlungsunfähig. Diese desolate Frau war die Mutter von Jörres? Er wusste nicht, was er schlimmer fand. Die Tatsache, dass diese Frau ihn an seine eigene Kindheit erinnerte oder dass Jörres offenbar ein ähnliches Schicksal ereilt hatte – eine trunksüchtige Mutter, die nicht in der Lage war, ihren Aufgaben und Pflichten nachzukommen. Er fühlte sich schlagartig verantwortlich für den kleinen Kerl mit den vernarbten Händen.

„Oh, das tut mir sehr leid, Sie verwechseln mich“, sagte er und schob ihre Arme behutsam zu Seite. „Ich bin nicht Jörres.“ Ihre Haut fühlte sich stumpf an, wie altes Pergament, das nach einer Berührung möglicherweise zu Staub zerfiel.

„Ich? Dich verwechseln? Nein, niemals!“, sagte sie leise und lächelte ein liebevolles, aber doch schreckliches Lächeln. Ihre oberen Vorderzähne fehlten. Georg vermutete, dass sie sich die Zähne vielleicht bei einem Sturz im Delirium ausgeschlagen hatte.

„Junge, wo warst du denn? Mami hat sich schon große Sorgen gemacht und du weißt doch, wenn du nicht artig bist, werde ich irgendwann vor Kummer sterben, das willst du doch nicht oder? ODER?“ Sie kreischte ihm das letzte Wort förmlich entgegen. Georg spürte, wie sich ungewollt eine Gänsehaut über seinen Körper ausbreitete. Ein Zeichen dafür, dass es Zeit war zu gehen. Das Geschehene, das Haus, die Leute, einfach alles hier wühlte ihn auf und machte ihn krank.

„Sie werden nicht sterben!“, sagte er freundlich, konnte aber seine emotionale Befangenheit nicht verbergen.

„Doch, mein Junge, das werde ich“, sagte sie plötzlich mit ernster Miene und hob ihre zittrigen Hände. Es war anzunehmen, dass sie ihre knochigen Finger auf sein Gesicht legen wollte. Auch wenn er nicht wusste, warum er das tat, ließ er ihre Berührung zu. Mit kalten Fingern berührte die Frau sein Gesicht. Sie fuhr ihm über Wange, Nase und Stirn. Etwas regte sich in ihm, aber es war nichts Sexuelles. Aber es war dennoch etwas, was ihn irgendwo ganz tief berührte.

„Ja, ich werde sterben mein Junge! Und du bist schuld!“ Sie schlurfte wieder an ihm vorbei und verließ das Zimmer. Georg sah ihr irritiert nach. Was redete sie für unsinniges Zeug? Und wo wollte sie schon wieder hin? Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich in der Zimmerecke etwas bewegte. Die Ratte hatte sich inzwischen aus ihrem Dosenversteck gewagt und suchte sich eine neue Möglichkeit, um an Nahrung zu kommen. Wieder überkam ihn der Ekel und die Befürchtung, dass der Junge ebenfalls hier in diesem Zimmer ausharren musste, brachte ihn zur Verzweiflung.

„Wo ist Jörres?“, rief er laut und hechtete ihr hinterher. Sie blieb stehen, drehte sich um und sah ihn ernst an.

„Willst du Bengel mich schon wieder auf den Arm nehmen? Geh ins Bett! Ich muss noch mal in den Keller!“ Sie drehte sich um und bewegte sich schwerfällig den Gang hinunter. Georg wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Noch bevor er sich weitere Gedanken um den geistigen Zustand dieser Frau machen konnte, schoss ihm plötzlich ein erlösender Gedanke durch den Kopf. Auch wenn die Frau ganz offensichtlich nicht bei sich war, gab es eine, wenn auch nur geringe Chance, dass sie den Weg zum Foyer kannte. Was immer sie auch in dem Keller wollte – vielleicht die Weinvorräte plündern? - die Tür dorthin war im Foyer. Er erinnerte sich noch genau an den halbrunden Zugang mit der altdeutschen Aufschrift über dem Türbogen. Innerlich begann etwas zu triumphieren. Etwas, was ihm die Gewissheit gab, in wenigen Minuten all diesen Irrsinn hinter sich lassen zu können und sich wieder dem zu widmen, was wirklich wichtig war. Und es gab nur eines, was für ihn nach all den Stunden des Bangens zählte: Maria. Und er würde ihr beweisen, wie sehr er sie liebte und er würde sie auch davon überzeugen, dass alles in bester Ordnung war, wenn alles so blieb wie immer. Er beschloss, der Frau unauffällig zu folgen. Sie war inzwischen den Gang hinunter geschlurft und blieb an einer Abzweigung stehen. Sie verharrte kurz, so als wüsste sie nicht mehr, wohin sie gehen wollte, dann aber schleppte sie sich weiter und bog in den Gang nach rechts. Georg schlich ihr hinterher. Er lief vorbei an einem Zimmer, auf dem die Nummer 7 stand. Hier war er heilfroh, dass die Türe verschlossen war. Er erinnerte sich an die Worte von Toni und wie er ihn vor dem schlimmsten „Jäger“ von allen gewarnt hatte. DER JÄGER, so stand es auch im Gästebuch geschrieben. Allein das Pseudonym klang schon nicht besonders vielversprechend. Zudem hätte es sein können, dass sich hinter diesem Begriff auch der verrückte Jäger verbarg, der ihm mit seinem Hund an seinem Autowrack aufgelauert hatte. In diesem Irrenhaus war nahezu alles möglich, doch er war sich sicher, noch so eine verrückte Begegnung hätte er vermutlich nicht verarbeiten können.

Die Frau war inzwischen hinter einer weiteren Tür verschwunden. Er zögerte einen Augenblick, bevor er ihr folgte und hoffte, dass ihr angetrunkener Instinkt sie nicht täuschte. Eine Geräuschwelle wild tickender Uhren überschwemmte den Gang und ließ sein Herz höher schlagen. Es klang in diesem Augenblick wie Musik in seinen Ohren. Es war, als würden die fünf Pendeluhren ihn einzeln mit einem ganz persönlichen „Hallo!“ begrüßen. Wie alte Freunde, die sich lange nicht mehr am Stammtisch getroffen haben.

Tick tack!

Hey Georg, altes Haus! Schön, dich wieder zu sehen! Mann, wie die Zeit vergeht. Erzähl doch mal, wie geht es dir? Wie geht es deiner Frau?

Tick tack!

Das Foyer!, dachte Georg. Ungeduldig schob er seinen Körper durch die Tür und atmete erleichtert auf, als er genau den Raum erkannte, den er zu Beginn dieser merkwürdigen Reise betreten hatte. Er stand im Foyer, mit all seinen tierischen Wandbehängen. Er sah die aufwendig geschnitzte Empfangstheke und auch den Fuchs, der immer noch aufmerksam auf dem Tresen wachte. Und er sah auch die Frau, die tatsächlich auf die Holztür neben der Treppe zusteuerte. Mit wachsendem Unbehagen beobachtete er ihre Entschlossenheit. Der Keller, eben der besagte Ort, der für ihn tabu sein sollte. Warum sollte er noch gleich dort nicht hinuntergehen?

Dort lagern Dinge, die am besten für immer dort unten bleiben sollten. Dinge, die niemals ans Tageslicht kommen dürfen, weil sie niemanden etwas angehen. Aus diesem Grund darf die Tür zum Keller nicht geöffnet werden. Ich sage dir das, um dich zu schützen: Du darfst auf gar keinen Fall dort hinuntergehen. Egal, was passiert, und egal mit welchen Tricks man versuchen wird, dich dort hinzulocken, verstanden? Nein, er hatte es nach wie vor nicht verstanden! Zumal er überhaupt kein Interesse daran hatte, in den Keller einer Jagdpension hinabzusteigen. Er hatte sich inzwischen ohnehin sein eigenes Bild von dem gemacht, was dort unten verborgen sein könnte. Verbotenes Glücksspiel, Prostitution, Drogen oder illegaler Handel mit Tierpräparaten? Fakt war: Toni schien gewaltig Dreck am Stecken zu haben. Vielleicht war genau das der Grund, warum er Kontakt zu Maria hatte? Jemand, für den zwielichtige Machenschaften an der Tagesordnung waren, der brauchte in der Tat einen guten Anwalt. Und Maria war eine der besten Anwältinnen im Bonner Raum. Georg fand diese Erklärung so plausibel und einleuchtend, dass er lächeln musste. Wie konnte er auch nur annähernd glauben, dass Toni die Wahrheit sagte? Maria würde ihn nie, niemals hintergehen! Georg richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die betrunkene Frau. Sie will tatsächlich in den Keller. Vielleicht sollte ich sie doch davon abhalten? Was, wenn sie in ihrem Zustand stürzte und sich verletzte?

Eine der Uhren meldete eine volle Stunde. Auf das erste Bim-Bam, folgte ein Zweites. Unbeeindruckt legte die Frau die Hand auf die Klinke. Für einen Augenblick hatte er Hoffnung, dass die Tür verschlossen war und sich nicht öffnen ließ. Wenn Toni schon so bedacht darauf war, ihn nicht dort hinuntergehen zu lassen, dann hatte er mit Sicherheit auch mit einem Schlüssel für eine entsprechende Barriere gesorgt. Mit zittrigen Fingern drückte die Frau das alte geschwungene Eisen hinunter und zu Georgs Überraschung sprang die Tür mit einem lauten Quietschen auf. In der nächsten Sekunde verschwand sie in der Dunkelheit. So, als hätte sich dahinter ein Abgrund ins bodenlose Nichts aufgetan und sie verschluckt. Wie von Geisterhand fiel die Kellertür mit einem Krachen ins Schloss. Hin– und hergerissen von seinen eigenen Gefühlen dachte Georg für einen kurzen Augenblick darüber nach, ihr zu folgen. Er hatte plötzlich Sorge, sie in ihrem Zustand sich selbst und einer möglichen steilen Kellertreppe zu überlassen. Obwohl, wenn er genauer darüber nachdachte, wäre es für Jörres wahrscheinlich sogar das Beste, wenn sie die Treppe hinunterfallen und nie wieder aufstehen würde. Ich werde irgendwann noch wegen dir sterben! Willst du das?

Ja! Ja, ich will, dass du endlich stirbst und für ewig dein dreckiges Schandmaul hältst! Sein letzter Gedanke irritierte ihn, mehr als das, er schockierte ihn zutiefst. Er wandte sich von der Kellertür ab und beschloss, dass er von alldem, was sich hier abspielte, nichts mehr wissen wollte. Nur eines, das wollte er in jedem Fall noch wissen: Was hatte Toni in das Gästebuch an der Theke geschrieben? Hatte er einfach nur seinen Namen an Zimmer Nummer 3 notiert oder hatte er ihm ebenfalls ein mysteriöses Pseudonym verpasst? Schnurstracks nutzte er den Moment und lief eilig zur Theke. Er beugte sich über den Tresen, zog das Buch zu sich und blickte auf die Liste.

 

1. DER MEDIZINER

2. DER SCHÄFCHENJÄGER

3. DER WAIDMANN

4. DIE FADENSCHEINIGE

5. DIE WOLLLUSTIGE

6. DIE TRUNKSÜCHTIGE

7. DER JÄGER

 

DER WAIDMANN? Georg runzelte die Stirn. Fast schon enttäuscht über so viel unpassende und nahezu nichtvorhandene Kreativität warf er das Buch zurück hinter die Theke. Wie kam Toni nur auf die Idee, ihn Waidmann zu nennen? Was hatte er schon mit diesem Metier zu schaffen? Nichts! Gar nichts!

Los, raus hier!, meldete sich schließlich wieder seine Angst zu Wort. Zeitgleich hörte er, wie der Wind mahnend ums Haus pfiff und an Fenstern und Läden rüttelte. Das Licht begann wieder zu flackern, so als wolle es andeuten, dass es bald am Ende seiner Kräfte sein würde. Wenn jetzt noch der Strom ausfallen würde, dann hätte er tatsächlich den perfekten Stoff für einen Horrorfilm. Der Sturm wütete also immer noch oder – was ihm logischer erschien – wieder dort draußen. Ein Blick aus dem schmalen Rauchglasfenster über der Haustür bescherte ihm allerdings nur die Gewissheit, dass es draußen immer noch dunkel war. Plötzlich hörte er Stimmen und eilige Schritte aus dem oberen Stockwerk. Es war anzunehmen, dass Toni und Hinkebein auf der Suche nach ihm waren.

Und ich werde dafür sorgen, dass sie mich nicht finden!, sagte er stumm und öffnete schließlich entschlossen die Eingangspforte, von der er sich eigentlich sicher war, dass auch diese verrammelt und verriegelt sein musste. Aber scheinbar wollte ihn niemand von seiner Flucht abhalten, denn die Tür sprang problemlos auf und gab bereitwillig den Weg frei. Mit einem Gefühl im Körper, dass ihn an seine Hochzeit erinnerte, trat er nach draußen. Er hatte Maria damals über die Schwelle getragen und gesagt: Noch nie bin ich so glücklich durch eine Tür gegangen… Und Maria hatte gelacht und er verliebte sich in diesem Augenblick noch einmal in die Frau, der er kurz vorher aus tiefstem Herzen das Jawort gegeben hatte. Ihre Hochzeit, ein perfekter Tag, mit einer noch perfekteren Nacht, in der Maria feierlich ihre Antibabypille in den Müll warf, mit den Worten: Wenn es passiert, dann passiert es eben! Aber es passierte nichts… Als er nach draußen trat, wurde Georg von einer unheimlichen Stille überrascht. Die Haustür fiel mit einem lauten Krachen hinter ihm ins Schloss und durchschnitt die Ruhe. Es war unglaublich, aber es wehte tatsächlich kein Lüftchen. Es war vollkommen windstill. Der Sturm hatte sich wohl verzogen. Als wolle er Platz für ihn und seine Pläne machen. Doch wie genau lautete überhaupt sein Plan? Er dachte kurz nach. Ja, genau! Er würde zurück zu seinem Wagen gehen und entweder dort auf Hilfe warten oder einen weiteren Versuch starten, sein Mobiltelefon wieder in Gang zu bringen. Dieses vermaledeite Handy musste dort noch irgendwo liegen. Und mit viel Glück hatte es seinen Wutanfall ohne Schaden überlebt und hatte inzwischen auch wieder Empfang.

Er stieg langsam die Treppe hinunter. Nach den ersten Stufen übermannte ihn eine erneute Schwindelattacke und zwang ihn, stehen zu bleiben. Instinktiv blickte er auf seine verletzte Hand und spürte, dass die Wunde wieder blutete. Auch der Kopfschmerz meldete sich zurück und bescherte ihm Sterne vor den Augen. Er schwankte kurz, fand aber Halt am Geländer. Er atmete mehrmals tief durch. Die Kälte ließ ihn frösteln. Er wusste, dass sein Körper am Rande seiner Kräfte war. Vorsichtig nahm er die letzten Stufen und trat stöhnend auf den Schotterplatz. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Außenlaternen, die vorhin noch den Parkplatz beleuchtet hatten, abgeschaltet waren. Auch der Informationskasten war dunkel. Einziger Lichtspender war der schwache Schein des Mondes, der hin und wieder sein lächelndes Gesicht zur Orientierung zeigte. Allerdings war seine Freundlichkeit abhängig von Wind und Wolken. Es würde eine Tortur werden, ohne Licht und in seinem Zustand zu seinem Wagen hinaufzulaufen. Wenn er die Annatalstraße in die andere Richtung nehmen würde, dann blieb ihm zwar die Steigung erspart, allerdings waren es zurück nach Bad Honnef mindestens sechs Kilometer. Er sah abwechselnd in beide Richtungen, in der Hoffnung, dass sein Hirn ihm eine blendende Idee schenkte. Denk nach! Leises Schluchzen riss ihn jedoch aus seinen Gedanken. Als er aufsah, erblickte er eine Gestalt, die regungslos am Waldrand stand und ihn anstarrte. Er erkannte, dass die Gestalt sehr klein war und einen gelben Regenmantel trug. Jörres, erkannte Georg und atmete erleichtert auf. Zeitgleich dachte er an die Mutter, die eine Säuferin war und an den cholerischen Vater, den er vorhin durch die Gänge nach seinen Sohn hatte brüllen hören. Beide hatten wahrscheinlich keinen Schimmer, dass ihr Sohn mitten in der Nacht hier draußen in Kälte und Dunkelheit an einer Straße stand. Was sind das nur für schreckliche Eltern? Mit langsamen Schritten ging er auf ihn zu. Er sah den Jungen an. Er hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen, so dass Georg sein Gesicht nicht sehen konnte.

„Jörres, was tust du hier? Du kannst doch nicht alleine hier herumlaufen im Dunkeln. Geh wieder ins Haus.“ Jörres schüttelte den Kopf und gab ihm stumm das Zeichen, dass ER wieder zurückgehen sollte. „Nein, ich kann nicht zurück. Ich muss gehen, Kleiner! Ich muss nach Hause. Meine Frau macht sich Sorgen und wartet auf mich.“ Der Junge deutete an ihm vorbei in den Wald hinein. Georg folgte dem ausgestreckten Arm des Jungen, konnte dort aber nichts erkennen. Nichts, außer tiefschwarzer Nacht, einem Stück feucht glänzender Straße und undurchdringbarem Dickicht.

„Da ist nichts! Was willst du mir sagen?“ Der Junge streckte ihm beide Hände entgegen. Georg trat näher. Im Halbdunkeln sah er, dass beide Hände stark bluteten.

„Um Gotteswillen, was ist passiert?“ Da begann der Junge, zu singen. Ängstlich und mit tränenerstickter Stimme:

 

Fuchs, du hast die Gans gestohlen

Gib sie wieder her

Gib sie wieder her

Sonst wird dich der Jäger holen

Mit dem Schießgewehr

 

Dann verstummte er. Tief berührt von dieser schrecklichen Szene wollte Georg den Jungen in den Arm nehmen, ihm helfen.

„Oh mein Gott, wer hat dir das angetan?“

„Du kommst hier nicht weg“, antwortete Jörres in einer erwachsen klingenden Tonlage, dass Georg erschrocken innehielt.

„Ich dachte, du sprichst nicht?“ Der Junge deutete mit versteinerter Miene ein weiteres Mal hinter sich in die Dunkelheit.

„Es ist zu spät, um wegzulaufen, Georg. Die Jagd hat bereits begonnen. Geh zurück. Es ist an der Zeit in den Keller zu gehen und dem Bösen ins Auge zu sehen. Denke immer daran: NIHIL FIT SINE CAUSA - nichts geschieht ohne Grund!“

 

Seine große, lange Flinte

Schießt auf dich den Schrot

Schießt auf dich den Schrot

Dass dich färbt die rote Tinte

Und dann bist du tot

Dass dich färbt die rote Tinte

UND DANN BIST DU TOT

 

Aus dem Wald ertönte ein verdächtiges Knacken. Dann ein Rascheln, dicht gefolgt von einem aufgeregten Hecheln. Die gleichen Geräusche, nur in einer anderen Reihenfolge hörte er ein paar Meter weiter rechts, dann in unmittelbarer Nähe vor ihm. Verdammt, Hunde!, dachte Georg und spürte, wie die Panik wieder um Vorherrschaft rang. Fragend suchte er den Blick von Jörres, doch seine Augen fanden ihn nicht. Er drehte sich hektisch im Kreis, vergebens. Der Junge war nicht mehr da. Wie eine Fata Morgana, die aus dem Nichts auftauchte und wieder verschwand. Im nächsten Augenblick schoss etwas großes Dunkles aus dem Unterholz und flitzte mit einem Höllentempo auf ihn zu. Ein Hund! Einen Atemzug später sprang ein zweiter Hund aus dem Gebüsch und folgte dem anderen in fast gleicher Geschwindigkeit. Er konnte nur ihre Umrisse erkennen und ihren unersättlichen Jagdtrieb hören. Immer mehr Hunde schossen wie fließende Lava bellend aus dem Wald und rannten auf ihn zu.

LAUF!, mahnte eine aufgebrachte Stimme irgendwo in seinem Kopf. LAUF ZURÜCK INS HAUS! Er nahm alle Kraft zusammen und rannte los. Ihn trennten nur wenige Meter von der rettenden Treppe. Als er diese erreichte, nahm er gleich mehrere Stufen auf einmal. Er spürte die Meute dicht hinter sich, knurrend, bellend, geifernd und angestachelt von ihrem Jagdtrieb, der wohl – dessen war er sich sicher - auch nicht vor einer Steintreppe haltmachen würde. Wie bei einer Fuchsjagd, dachte er. Ich bin der Fuchs und sie werden mich jagen und mich zerfetzen!

Wie damals …

Georg stolperte mit letzter Kraft die letzten Stufen hinauf, hechtete zur Tür, und drückte mehrmals die Klingel. Gleichzeitig hämmerte er gegen das massive Holz und hoffte, dass Hinkebein und Toni nicht immer noch gemütlich in ihrem Kaminzimmer saßen und ihre komischen Drinks genossen.

„HILFE! LASSEN SIE MICH REIN … BITTE!“ Er wagte nicht, sich umzudrehen. Doch er hörte das Kratzen ihrer Krallen auf dem harten Beton. Er hörte, wie ihre Pfoten abrutschten.

„AUFMACHEN!“ Er donnerte flehend seine Fäuste gegen die Türe und hinterließ dabei einen deutlichen Blutfleck. Plötzlich dachte er an Jörres. Auch seine Hände hatten stark geblutet. Ob das die Hunde waren? Um Gottes Willen, hoffentlich hatte der Junge es irgendwie geschafft zu entkommen oder sich zu verstecken.

„H-I-L-F-E!“ Jemand öffnete, allerdings nur einen kleinen Spalt.

„Was wollen Sie?!“, zischte eine ihm bekannte Stimme entgegen. Hinkebein starrte ihn mit gleicher finsterer Miene an, wie bei ihrer ersten Begegnung.

„Lassen Sie mich rein, Alois!“, schrie Georg, „Die Hunde! Die Hunde kommen!“

„Sind Sie Jude?“

Unsanft stieß er Hinkebein zur Seite und zwängte sich hastig durch die halb geöffnete Tür. Da packte ihn etwas am Hosenbein. Georg schrie auf, wartete auf den Schmerz, doch der kam nicht. Zähnefletschend verbiss sich der Hund, in der Hoffnung doch noch ein Stück Wade zu erwischen. Georg schüttelte das Tier ab und hielt sich währenddessen am Türrahmen aufrecht.

„Helfen Sie mir die Tür zu schließen, Sie Idiot!“, fauchte er. Doch Alois regte sich nicht, dieser sah ihn nur empört an und nuschelte so etwas wie:

„So ein Benehmen hätte es beim Führer nicht gegeben.“ Georg riss mit letzter Kraft sein Bein durch den Türspalt. Er hörte wie die Stoffhose riss und sich einige Fetzen im Maul des Hundes verfingen. Zufrieden begann der Hund seine vermeintliche Beute hin und her zu schütteln. Diese Irritation nutze Georg, um sich gänzlich aus der Gefahrenzone zu bringen und warf mit Schwung die Tür ins Schloss. Erschöpft und kraftlos ließ er sich auf einem der Stühle im Foyer nieder und starrte ins Leere. Hinkebein war ebenfalls verschwunden, wie der Junge vorhin. Wahrscheinlich berichtete er gerade Toni, dass DER WAIDMANN reumütig wieder zurückgekrochen war. Ihm war es egal. Seine Gedanken kreisten um Maria und prallten schließlich immer wieder mit der Situation im Hier und Jetzt zusammen. Es war, wie es war. Er kam hier nicht weg. Was immer dort draußen vor sich ging, es machte ihm einen gehörigen Strich durch sein Leben. Er war am Ende mit seinen Kräften. Dieses scheußliche Zittern am ganzen Körper hörte einfach nicht auf. Vielleicht war es nur der Schreck, diese Überdosis Adrenalin, der er ausgesetzt war. Doch viel mehr quälten ihn unendlich viele Fragen, auf die er einfach keine Antwort fand. Was um alles in der Welt war hier los? Wo waren all diese Hunde hergekommen? Und was hatte Jörres dort unten an der Treppe für ein merkwürdiges Zeug geredet?

Ob es dem Jungen gut ging?, dachte Georg beunruhigt.

Hoffentlich konnte auch er sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Fakt war: Irgendetwas ging hier verdammt noch mal nicht mit rechten Dingen zu. Und irgendwie sagte ihm sein Gefühl, dass diese ganzen Geschehnisse noch nicht alles gewesen waren. Und da war noch etwas, was ihm große Sorge bereitete. Irgendetwas tief in ihm drinnen. Etwas das mit jedem Mal, wo es ihm bewusster wurde, nur noch mehr quälte. Da war diese tiefe Furcht vor der Antwort auf die Frage: Was war, wenn Toni wirklich die Wahrheit sagte? Hatte Maria ihn wirklich so derart übel hintergangen? In dem Augenblick öffnete sich eine Tür und Toni betrat das Foyer. Im Schlepptau hatte er Hinkebein. Natürlich hatte der elendige Quatschkopf ihn informiert!

„Georg, wie schön, dass du vernünftig geworden bist!“, sagte Toni und begrüßt ihn mit offenen Armen.

„Was heißt hier vernünftig geworden!?“, antwortete Georg. „Ich habe ganz offensichtlich keine andere Wahl! Wenn es hier nicht von streunenden Hunden wimmeln würde, dann wären Sie mich schon längst los!“

„Nichts geschieht ohne Grund, Georg. Die Bluthunde haben den Fuchs dort hingetrieben, wo er hingehört – hier in dieses Haus. Du kannst nicht in alle Ewigkeit vor der Realität wegrennen.“

„Reden Sie nicht so, als wären Sie mein Psychiater“, fauchte Georg.

„Wenn du dich so benimmst, als würdest du einen brauchen. Ohne meine Hilfe kommst du doch ohnehin nicht klar!“

„Hören Sie auf mit diesem bescheuerten Gequatsche! Ich weiß überhaupt nicht, was Sie von mir wollen?!“

„Georg, du vergisst, dass du derjenige bist, der hier hereingeplatzt ist und alles durcheinandergebracht hat!“

„Ich und irgendetwas durcheinandergebracht?“ Toni nickte.

„Ich befürchte eher, es war meine Frau, die hier einiges durcheinandergebracht hat.“, murmelte Georg.

„So langsam hebt sich der Schleier, was? Ich habe dich gewarnt, Kumpel.“

„Was ist hier los? Was geht hier vor? Ich habe das Gefühl ich verliere den Verstand?“

Toni sah Georg mit ernster Miene an.

„Was soll ich sagen? Das alles hier ist auf deinem Mist gewachsen. Warum musstest du auch wegen der Sache die Nerven verlieren? Von mir aus hätte das noch ewig so weitergehen können.“

„Wobei habe ich die Nerven verloren und was hätte ewig weitergehen können?“

„Du hättest dich weiterhin bis in alle Ewigkeit zum Affen machen können. Du hättest weiter die Augen vor der Tatsache verschließen können, dass Päler gerade im Begriff ist, dir nicht nur die Frau und deine Firma zu nehmen, sondern auch deine Illusion von einem Kind mit Maria.“

„Sie lügen!“

„Warum habt ihr keine Kinder, Georg?“

„Das ist ganz dünnes Eis, das Sie hier betreten!“

„Wach endlich auf!“

„Ich kenne meine Frau und ich kenne auch Joachim. Sie würden niemals…“

„Überzeuge dich selbst! Sie sind hier!“

„Wer ist hier?“

„Der Schäfchenjäger und die Fadenscheinige! Joachim und Maria. Na, die Turteltäubchen eben! Sie haben es vorhin noch in Zimmer Nummer 2 miteinander getrieben – weshalb der Schäfchenjäger auch nicht aufgemacht hat.“

„Das glaube ich Ihnen nicht!“

Toni hob kapitulierend die Arme.

„C’est la vie!“ Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Die beiden waren hier? Und was meinte er damit, er habe die Nerven verloren? Georg kämpfte gegen die hereinbrechenden Gedanken, die irgendwo aus weiter Ferne auf ihn zurasten und ihm keine Chance gaben auszuweichen, und sie trafen ihn dieses Mal mit voller Wucht. Da war Marias dubioser Termin gestern Nachmittag.

Er wollte ihr nicht folgen. Er wollte ihr vertrauen und sich so fühlen, wie er sich immer gefühlt hatte, wenn alles so wie immer war – sicher und geliebt. Aber dieser Schwangerschaftstest, die Broschüre von einer merkwürdigen Pension im Ahrtal und Marias seltsame Geheimniskrämerei hatte ihn mehr als nur verunsichert. Aus diesem Grund war er ihr gestern Nachmittag doch gefolgt. Es war an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Er war sich sicher, dass sie ihn nicht belogen hatte. Doch sie fuhr nicht, wie er innerlich hoffte, nach Bonn, um sich mit einer Sabine Eschweiler im Restaurant ZUM GOLDENEN ANKER zu treffen, sondern war aus einem ganz anderen Grund in die ehemalige Bundeshauptstadt gefahren. Irgendwann hatte sie ihren Wagen in der Tiefgarage am Friedensplatz abgestellt und war mit schnellen Schritten in die Innenstadt gelaufen. Und es war nicht besonders leicht gewesen ihr unauffällig zu folgen, wie es ein Privatdetektiv hätte machen können. Wie ein Schwerverbrecher hatte er sich dabei gefühlt, obwohl er als Ehemann doch eigentlich ein gutes Recht dazu hatte, sie und ihrem Geheimnis auf die Schliche zu kommen – insofern es denn ein Geheimnis gab -, oder? Immer wieder musste er vor Schaufenstern stehen bleiben oder sich in Hauseingängen verstecken. Die Straßen und Gassen waren nahezu menschenleer, als hätte der Sturm sämtliche Bummler mit einem Handschlag weggefegt. Somit war die Gefahr von Maria erwischt zu werden deutlich erhöht. Und er hatte sich nicht nur einmal von ihr ertappt gefühlt, als er ihr mit hochgeklappten Mantelkragen durch die Fußgängerzone folgte. Und er hatte sich mögliche Antworten auf die Frage, was er hier zu suchen hätte, bereits zurechtgelegt, - nur für den Fall, dass sie ihn entdecken würde. Vielleicht hätte er ihr das Märchen von einem Geschäftstermin mit der Bauherrschaft der Rheinarkaden erzählt. Vielleicht hätte er ihr auch von einer geheimnisvollen Überraschung zu ihrem Geburtstag vorgelogen. Vielleicht hätte er ihr aber auch nur ein leises Nichts geschieht ohne Grund! entgegen gehaucht, um der Stimmung zwischen ihnen noch die richtige Würze zu verleihen. Dazu kam es aber nicht, denn er blieb unentdeckt. Maria schien ohnehin mit ihren Gedanken ganz weit weg und ganz gewiss nicht bei ihm zu sein, dessen war er sich sicher. Irgendwann war sie dann in dieses große Haus gegangen. Zu seiner Verwunderung entpuppte sich das mehrstöckige Gebäude als Ärztehaus mit einem integrierten Bürokomplex. Hier teilten sich neben einem Urologen, ein Radiologe, ein Zahnarzt, ein Frauenarzt und auch eine große Krankenkasse ein ganzes Gebäude. Hier irgendwo hatte Maria also einen Termin, ein Date oder etwas anderes zu suchen, von dem er nichts wusste. Urologen und Zahnarzt schloss er kategorisch aus. Urologe war selbsterklärend, zu dem ging nur er. Auch hatten sie einen gemeinsamen Zahnarzt, zu dem sie schon seit über zehn Jahren gingen. Und solch eine Geheimniskrämerei wegen eines Zahnarztes zu veranstalten wäre ohnehin sinnlos gewesen. Vielleicht doch der Radiologe? Möglich wäre es. Aber angesichts des Ovulationstestes, den er am Abend zuvor in ihrem Atelier gefunden hatte, war der Gynäkologe für ihn die logischste Erklärung. Er brauchte nur noch den Beweis, der seine Vermutung bestätigte.

Georg wartete geduldig, bis Maria knapp eine Stunde später das Gebäude wieder verließ. Erst dann Schritt er zur Tat. Er betrat das Haus und suchte gezielt die Praxis des Frauenarztes auf. Sie war im zweiten Stock. Das Einzige, was jetzt eigentlich nur noch schief laufen konnte, war, dass Maria etwas vergessen hatte und zurückkehrte. Er hoffte einfach, dass genau das nicht passierte. Es war nicht leicht gewesen, seine Nervosität im Zaum zu halten und sich nichts anmerken zu lassen, als er die Praxis betrat. An der Empfangstheke verabschiedete sich gerade ein Paar, das ganz offensichtlich ein Kind erwartete. Die Frau trug eine ordentliche Kugel vor sich her und ihr Gang ähnelte vielmehr dem einer Ente, statt einer Frau, die schätzungsweise Mitte zwanzig war. Der Mann, – Georg vermutete, dass dies auch der Vater des Kindes war – stapfte selig vor ihr her, um ihr auch im richtigen Moment in die Jacke zu helfen und die Tür aufzuhalten.

Entschuldigen Sie die Störung, ich suche meine Frau. Ihr Name ist Maria Blumenfeld. Ist sie schon durch oder muss sie noch zur Untersuchung?, fragte er eine der drei Frauen, die hinter Theke mit Papieren umherwuselten, Rezepte vorbereiteten und Telefonate entgegennahmen. Und er hatte sich bei dieser Frage so gelassen angehört, dass es ihn selbst erstaunt hatte. Die Dame am Empfang lächelte ihn freundlich an und für einen kurzen Augenblick plagte Georg das schlechte Gewissen, weil er hier mit einer solch hinterhältigen Absicht hereinplatze.

Herr Blumenfeld, das tut mir leid. Sie müssen sich ganz knapp verpasst haben. Ihre Frau ist schon vor knapp zehn Minuten gegangen. Die Frau, die laut Namensschild über ihrer Brust Frau Meier hieß, sah ihn mitleidig an, hielt aber an ihrem freundlichen Lächeln fest. Georg gab sich alle Mühe irgendetwas aus ihrem Gesicht herauslesen zu können, was Schlüsse auf eine mögliche Diagnose geben könnte.

Oh, vielen Dank für die Information, dann wird sie bestimmt schon zum Wagen gegangen sein. Er zögerte kurz, dann fragte er vorsichtig: Ich hoffe, es ist alles in Ordnung mit ihr?

Frau Meier beugte sich lächelnd zu ihm und flüsterte: Ja, mit ihr und dem Baby ist alles in Ordnung, aber das kann sie ihnen ja gleich alles selber erzählen. Ich gratuliere ihnen noch einmal ganz herzlich. Er hatte daraufhin die Praxis verlassen.

Das war gestern.

Und jetzt? Jetzt fühlte er sich nicht nur hilflos, sondern er fühlte sich auch seltsam. Irgendwie fremd. So als würde irgendetwas in seinem Kopf ein Eigenleben führen. Es verbarg Erinnerungen, blendete ihn mit falschen Eindrücken, brachte alles durcheinander und verwehrte ihm den klaren Blick. Er musste nur nachdenken, das war alles. Nachdenken, sein Gehirn wieder ans Arbeiten bringen, nach der richtigen Erinnerung und nach einer Lösung suchen. Wieder Ordnung in sein Leben bringen.

 

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Es war dieses wohlige Gefühl von Wärme und Geborgenheit, was ihm für einen kurzen Augenblick die Gewissheit gab, dass alles in bester Ordnung war. Es musste alles in Ordnung sein, denn wahrscheinlich lag er gerade einfach nur in seinem Bett. Ja, er lag in seinem Bett und hatte nur wieder einen dieser wirren Träume gehabt. Er hatte oft wirre Träume, meist dann, wenn ihm die Arbeit wieder über den Kopf gewachsen war. Das laute Schlagen einer Uhr riss ihn plötzlich aus seinem Dämmerschlaf. Er war tatsächlich hier im Foyer eingenickt. Er war fassungslos. Sein Leben war ein einziger Scherbenhaufen, in seinem Gehirn befand sich gefühlt nur wabernder Pudding aus Erinnerungsmüll und er hatte nichts Besseres zu tun, als ein Nickerchen zu machen? Wieder ertönte das Geräusch. Er sah auf die Wand mit den Uhren. Vorhin war es die rechte Uhr, die eine volle Stunde durch ein monotones Bim-Bam meldete und – wie er jetzt erst entdeckte – um fünf nach zwölf stehen geblieben war. Auch zwei weitere Uhren waren exakt um fünf nach zwölf stehen geblieben. Den Zwölfuhrgong mussten sie abgegeben haben, als er draußen war. Drei Uhren standen jetzt mucksmäuschenstill. Jetzt war es die vierte noch funktionierende Uhr, die mit einem kräftigen Gong zwölf Uhr anzeigte. Er wusste, dass es nicht zwölf Uhr war. Es musste schon wesentlich später sein. Er hörte Schritte. Jemand kam die Treppe hinunter. Es waren nicht die Schritte von Hinkebein oder Toni. Nein, es war vielmehr ein leichtes Tänzeln, fast schon ein Schweben. Neugierig sah er zum Treppenaufgang und entdeckte plötzlich Larissa. Allerdings trug sie dieses Mal ein rotes Kleid über ihre Unterwäsche. Sie sah ihn nicht, sondern bog schnurstracks, ohne Umwege nach links und ging auf die Kellertür zu.

„Hallo, Frau Larissa!“, rief Georg ihr nach, in der Hoffnung, sie für einen Plausch zur Ablenkung überreden zu können. Vielleicht würde er sie auch fragen, ob sie nicht eine Patentlösung für seine Lage parat hatte. Doch sie reagierte nicht. Sie schien ihn nicht einmal zu hören. Wie in Trance lief sie auf die Kellertür zu und verschwand dahinter ebenso plötzlich, wie auch zuvor die Mutter von Jörres.

Was zum Teufel tun sie alle da unten? Dann schlug die nächste Uhr Alarm, und auch wenn Georg diese Reihenfolge nicht wirklich nachvollziehen konnte, zeigte auch diese Uhr zwölf. In Gedanken zählte er die Sekunden, wie lange es dauern würde, bis der Nächste ins Foyer gelaufen kam, um in den Tiefen des Kellers zu verschwinden. Und zu seiner Überraschung tat sich wirklich etwas. Er hörte ein Poltern, dann das Schlagen einer Tür, dann Schritte, die sich vielmehr nach einem aggressiven Stapfen anhörte. Doch diese Geräusche kamen nicht von der Treppe, sondern kamen aus dem anderen Trakt. In dem Augenblick, wo das Bellen eines Hundes seine Ahnung perfekt machte, wusste er es ganz sicher – es war DER JÄGER aus Zimmer Nummer 7, der Vater von Jörres. Er schluckte. Dann dachte er für einen Moment an Flucht. Im zweiten Moment stellte er fest, dass ihm die Kraft zu flüchten fehlte. Er würde einfach hier sitzen bleiben und mit klopfendem Herzen der Dinge harren, die kommen würden. Die Tür flog auf und herein trat ein großer, breitschultriger Mann mit einem großen, hellbraunen Hund an der Leine – es war ein Rhodesian Ridgeback. Der Mann trug schwarze Stiefel, die ihm fast bis zu den Knien reichten. In den Stiefeln steckte eine braune Cordhose, die mit Leder abgesetzt war. Auf dem Kopf trug er einen grauen Hut, in dem die Feder eines Greifvogels steckte. Die Krempe warf einen langen Schatten in sein Gesicht. Georg konnte es somit nicht erkennen. Sein Körper war in einen dunkelgrünen Mantel gehüllt, der eher an einen Poncho erinnerte. Über der Schulter trug er ein Gewehr. Georg hätte am liebsten geschrien, als er schließlich das Duo erkannte, das ihn vor einigen Stunden von seinem Autowrack durch die Dunkelheit erst verletzt und dann hierher gejagt hatte. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Er schloss die Augen und hielt den Atem an, damit weder Hund noch Herrchen hörten, wie sein ganzer Körper vor Angst bebte. Doch zu seiner Überraschung stellte er fest, dass weder der Mann, noch der Hund irgendeine Notiz von ihm nahmen. Und auch er ging mitsamt Hund ohne Umwege in den Keller. Ungläubig sah er ihnen hinterher. Nachdem die Tür auch hinter dem Jäger zufiel, war ihm, als müsse er laut schreien, um all diesen Irrsinn, all diese quälenden Fragezeichen loszuwerden. Wo um alles in der Welt war er hier hingeraten? Verzweifelt fuhr er sich durch die Haare und sah abwechselnd von der Kellertür zu den Uhren. Alle Uhren standen nun auf fünf nach zwölf. Konnte das wirklich mit rechten Dingen zugehen? Oder spielten Toni und Hinkebein ein gemeines Spiel mit ihm, in dem am Ende jemand aus der Ecke springt, seine Maskerade fallen lässt und so etwas sagt, wie: „Verstehen Sie Spaß?“ oder „reingelegt!“ Das schrille Klingeln des alten Telefons riss ihn aus seinen Gedanken und brachte ihn für einen Augenblick auf die amüsante Idee, dass der Moderator einer möglichen TV-Veräppelungsshow jetzt am anderen Ende der Leitung sein könnte, um ihn endlich aus diesem Albtraum zu erlösen. Der Gedanke trieb ihn dazu, energievoll aufzuspringen und zum Telefon zu hechten – er wusste ja bereits, wo es stand und wie es funktionierte, wenn es denn funktionierte.

„Hallo?!“, flüsterte er in den Hörer, mit der tiefen Gewissheit möglicherweise gleich vor einem Millionenpublikum zugeben zu müssen, dass man ihn reingelegt hatte.

„Georg? Bist du das?“, fragte eine weinerliche Stimme am anderen Ende der Leitung. Der Schauer, der ihm über den Rücken lief, trieb ihm die Tränen in die Augen.

„Maria!“

„Es tut mir leid! Es tut mir alles so leid. Das mit Joachim war ein Fehler.“

Er brach zusammen. Er versuchte etwas zu sagen, doch sein Schluchzen nahm ihm jegliche Chance, auch nur einen Ton herauszubringen. Noch nie war er so froh gewesen, ihre Stimme zu hören, noch nie hat er so viel Erleichterung empfunden.

„Georg, ich liebe dich, das musst du mir glauben!“, sagte die Maria-Stimme am anderen Ende. „Bitte versprich mir, dass wieder alles so wird wie früher.“

„Maria, mein Engel!“, schluchzte er. „Ich verzeihe dir alles. Und ich schwöre dir, alles wird so sein wie früher. Wenn ich nach Hause komme, werde ich dich in meinen Arm nehmen und nie wieder loslassen. Egal, was auch passiert ist.“ Ein merkwürdiges Geräusch donnerte plötzlich durch die Leitung. Es klang wie eine Art Motor. Röhrend, laut, knatternd, störend. Eine Kettensäge?

„Du musst mir helfen, bitte komm schnell zu mir!“ Panik lag plötzlich in ihrer Stimme.

„Wo bist du?“

„Hier, im Keller!“

„Hier? Im Jagdhaus?!“

„Ja! Er ist hinter mir her! Er will mich töten! Er wird uns alle töten!“

„Wer?“ Keine Antwort. Der Hörer in seiner Hand drohte ihm aus den Händen zu rutschen, doch er krallte sich daran fest, als würde er Marias Hand festhalten, während sie über einem Abgrund hing. Dann riss die Verbindung ab. Georg brüllte verzweifelt ihren Namen in den Hörer, hämmerte mit der Faust auf die Gabel. Doch all seine Bemühungen fruchteten nicht. Seine Frau war nicht mehr in der Leitung. Das Telefon war tot.

Und Maria ist es ebenfalls!

NEIN!“, rief er laut in den Raum und weinte. „Maria, ich komme!“

Ein dumpfes Pochen ließ ihn erschrocken herumfahren. Es kam aus dem Keller. Vorsichtig näherte er sich der Tür. Das Pochen wurde lauter. Aus weiter Ferne nahm er auch das Motorengeräusch wieder war. Es kam ebenfalls von unten. Oh Gott, Maria ist wirklich da unten!, schoss es ihm durch den Kopf. Dann ein lautes Krachen, eine Art Hämmern. Es hörte sich so an, als würde sich von innen jemand mit aller Kraft gegen die Tür werfen. Seine Gedanken überschlugen sich. Er musste etwas tun, irgendetwas.

Sei einmal im Leben ein richtiger Mann, Blumenfeld! Ängstlich trat er auf die Tür zu, mit der Gewissheit, sie gleich mit aller Macht aufzureißen, ganz egal, was ihn auf der anderen Seite erwartete. Erst jetzt konnte er die Aufschrift über dem Türbogen lesen und die Zeile ließ ihn erneut erschaudern.

NIHIL FIT SINE CAUSA

„Ich bin hier in einem Irrenhaus gelandet“, wimmerte er und fuhr sich mit dem verletzten Handrücken hastig über die Nase. Den Schmerz spürte er vor lauter Adrenalin nicht mehr. Das Pochen war plötzlich verstummt.

„HILF MIR, GEORG!“

War das etwa Marias Stimme? Plötzlich brach die Hölle hinter der verschlossenen Tür los. Lautes Kreischen einer Frau. Es war Maria und sie rief immer wieder nach ihm. Dann Fäuste, die auf Holz schlugen, das Motorengeräusch, Stimmen von verschiedenen Männern und über allem lag das aufgeregte Gebell eines Hundes. Georg schlug das Herz bis zum Hals, als er seine Hand auf die Klinke legte. Er spürte, dass ein Teil von ihm, ihn davon abhielt zu öffnen. Es war der Teil, der ihn grundsätzlich von all dem abhielt, was er gerne tun würde, weil er einfach den Mut nicht aufbrachte, um es zu tun. Er war gerade im Begriff seinen inneren Schweinehund zu überwinden, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.

„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun!“, sagte eine Stimme dicht hinter ihm. Georg fuhr erschrocken herum und blickte direkt in das versteinerte Gesicht von Toni.

„Ich soll das nicht tun?“, fauchte Georg. „Sie haben hier wohl alle vollkommen den Verstand verloren! Meine Frau ist da unten! Sie hat mich angerufen! Irgendetwas Schreckliches geschieht ihr. Das kann ich nicht zulassen!“ Georg legte erneut die Hand auf den Griff und versuchte die Tür zu öffnen. Toni riss ihn unsanft zurück, schleuderte ihn an die Wand und drückte dabei gezielt auf Georgs verletzte Hand. Er unterdrückte den Schmerzensschrei, setzte sich mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte, zur Wehr, und löste sich aus Tonis festem Griff.

„Meine Frau ist da unten!“, brüllte Georg. „Und sie ist in Gefahr!“

„Du bist immer noch so erbärmlich“, fuhr Toni ihn wütend an. „Ich frage mich, warum ich dir damals bei den Wertz-Brüdern geholfen habe.“

„Das ist unmöglich!“, Georg starrte ihn ungläubig an. „Du kannst es nicht sein! Du kannst nicht Antonio, der Junge von der Kirmes sein!“

„Es ist mir egal, was du glaubst. Fakt ist: Nichts hast du seit damals gelernt! Du lässt dich immer noch so leicht beeinflussen und merkst nicht, wie sie dich hier an der Nase herumführen. Das ist eine Falle. Ich sagte, egal, was sie dir auch erzählen, du sollst nicht auf sie hören. Du bist so naiv! Und du bist schwach! Und du bist ängstlich! Und du kannst die Wahrheit nicht ertragen! Du weißt nichts und das ist auch besser so. Nihil fit sine Causa! Morgen wird alles vergessen sein! Ich habe dir eindringlich gesagt, dass du nicht die Tür zum Keller öffnen sollst, und du hast nichts Besseres zu tun, als diese eine kleine Regel zu brechen? Geht man so mit seinen Freunden um?“ Georg starrte Toni immer noch irritiert, dann wieder böse an.

„Freunde? Wir sind keine Freunde! Ich kenne Sie ja nicht mal. Und abgesehen davon: Wenn wir Freunde wären, hätten Sie nicht mit meiner Frau geschlafen!“ Toni lächelte und ließ von ihm ab.

„Armer Georg!“

„Lassen Sie mich durch! Ich werde Maria da jetzt rausholen und Sie werden mich nicht davon abhalten können!“

„Wenn du die Tür öffnest, wirst du möglicherweise an den Folgen sterben! Du bist nicht bereit, das ertragen zu können, was sich hinter dieser Türe verbirgt.“

„Dann werde ich eben sterben, aber vorher will ich zu Maria!“

„Wenn du dort hinuntergehst, dann kann auch ich dir nicht mehr helfen!“ Er kümmerte sich nicht mehr um Toni, der immer noch auf ihn einredete. Er zwängte sich an ihm vorbei und versuchte erneut die Tür zu öffnen. Doch sie klemmte. Während er an ihr rüttelte und zog, wurden die Schreie und das Getöse im Inneren des Kellers immer lauter. Und mit jedem weiteren Schrei verstärkte sich sein Wille, das massive Holz mit bloßer Hand zu durchbrechen. Doch mit einem Male gab die Tür nach und gab den Blick auf die Dunkelheit frei, von der auch schon die anderen verschluckt wurden. Er warf hektisch einen Blick nach unten und sah diese Treppe, die in ein schwarzes Nichts führte. Die Stufen wirkten wie Zähne, der rote Läufer wie eine lechzende Zunge und der Weg nach unten wie die Straße in einen zähnefletschenden Schlund. Er rief mehrmals nach Maria, bekam jedoch keine Antwort.

„Lass es gut sein, Georg!“, meldete Toni irgendwo hinter ihm. „Es ist ohnehin schon alles gelaufen und was macht es über verschüttete Milch zu klagen, hm?“ Georg antwortete ihm nicht. Entschlossen stieg er langsam die Stufen hinunter.

„GEORG, NEIN!“ Irgendetwas lag plötzlich in Tonis Stimme. Etwas, das Georg an Wahnsinn erinnerte. Er wollte ihm hinterherspringen, doch auf der Türschwelle bremste er abrupt ab.

„Okay du Idiot, ich sehe, du tust es wirklich! Dann wirst du mit Sicherheit auch verstehen, dass ich dich nicht wieder zurücklassen kann. Wenn die Büchse der Pandora einmal geöffnet wurde, dann lässt sich das Böse nicht mehr aufhalten. Es tut mir leid, Kumpel!“ Dann warf er die Tür zu. Georg zuckte zusammen, als diese hinter ihm mit einem lauten Krachen ins Schloss fiel und sämtliches Licht jäh verschluckte. Er bekam Panik, als die Dunkelheit ihn umhüllte und Toni von außen abschloss.

Scheiße! Scheiße! Scheiße!“, zischte er in die bedrückende Stille. Toni sperrte ihn tatsächlich hier unten ein! Er versuchte seine Wut und seine Verzweiflung im Zaum zu halten. Nein, er würde hier nicht bis in alle Ewigkeit eingesperrt bleiben und darauf warten, dass ihn irgendjemand findet. Er musste Maria suchen und eine Möglichkeit finden, hier irgendwie rauszukommen. Vielleicht durch ein Fenster oder eine Luke? Er lauschte. Doch er hörte nur das abgedämpfte, monotone Rauschen des Sturms außerhalb dieser Wände. Selbst das unterschwellige Gedudel des Radios, was ihn seit Stunden begleitet hatte, war etwas, was er in diesem Augenblick vermisste. Doch die meiste Sorge bereitete ihm, was mit Maria war. Sie hatte aufgehört, nach ihm zu rufen. Er hatte keine Ahnung, was ihn hier unten erwartete, aber die Angst um sie, verriet ihm selbst, dass er mit dem Schlimmsten rechnete.

Definiere bitte, das Schlimmste!, befahl eine Stimme irgendwo in seinem Kopf. Das Schlimmste? Das Schlimmste wäre für ihn, Maria irgendwo verletzt oder gar tot zu finden. Eingesperrt von einem merkwürdigen Kerl namens Toni, gedemütigt von einer Trunksüchtigen, malträtiert und geschunden von einem Jäger. Wer weiß, vielleicht spielte Larissa auch eine Rolle in diesem schrecklichen Albtraum und war die wolllüstige Lady in Red für diese ganze Bagage? Und über allem hinkte Alois, der aufgrund seiner Behinderung wahrscheinlich noch nie diesen Keller betreten hatte, aber dennoch wusste, was hier vor sich ging. Und natürlich würde er niemals etwas nach außen dringen lassen – Verrat, eine Todsünde im Dritten Reich.

Er atmete tief durch, tastete sich langsam an der Wand entlang und nahm vorsichtig eine Stufe nach der anderen. Und je tiefer er stieg, desto mehr wurde die Dunkelheit von einem seichten Lichtschein verdrängt. Das ließ hoffen, dass er bald wieder mehr sehen konnte. Wenige Augenblicke später trat er auf einen Gang. Die Wände waren mit kleinen brennenden Fackeln bestückt und gaben den Blick auf einen breiten und nahezu besenreinen Korridor frei. Verblüfft sah er sich um. Er hatte einen schmierigen, von Feuchtigkeitsschimmel, Kakerlaken und Rattendreck befallenen Basaltkeller oder irgendetwas in der Art erwartet. Aber dieser Anblick war nahezu overdressed für so einen alten Keller mit einem ansehnlich gefliesten Fußboden. Der Fußboden… Er sah genauer hin. Es waren helle Fliesen mit braunen Ornamenten, die eher an Omas nostalgische Wandtapete erinnerte als an einen Bodenbelag. Er empfand Unbehagen. Er kannte diese Fliesen. Sie waren ein Spanienimport. Er hatte ähnliche Bodenplatten in seinem Keller verbaut. Er hatte sie vor zehn Jahren von einem spanischen Bauhelfer erworben, der im Auftrag seines Bruders diese einzigartigen Fliesen unter die Menschen bringen sollte. Die Fliesen waren ausgesprochen günstig, und da sie für den Keller waren, mussten sie nicht von besonderer Qualität sein. Irgendetwas stimmte hier nicht. Seine Befürchtung bestätigte sich noch um ein Quäntchen mehr, als er einige Schritte weiter einem Stapel gelagerter Umzugskartons und zwei Fahrrädern begegnete. Alles sah so aus wie in seinem Keller in der Wiesenstraße. Die Umzugskartons hatte er dort an die Wand gestellt, weil er sich sicher war, dass er diese irgendwann noch einmal gebrauchen könnte. Die Fahrräder hatte er vor zwei Jahren bei einem Fahrradhändler in Neuwied gekauft. Maria hatte ihn von diesem Superschnäppchen überzeugen wollen, obwohl er der Meinung war, dass für einen ein- oder zweimaligen Fahrradausflug im Jahr, eine Geldanlage von knapp dreitausend Euro eindeutig zu hoch war. Sie hatte ihn schnell überzeugt. Er konnte ihr einfach keinen Wunsch abschlagen. Doch warum standen diese Fahrräder hier? Vielleicht waren es zwei ähnliche Fahrräder, aber unmöglich dieselben? Und auch die Fliesen hatten sich wahrscheinlich innerhalb der letzten zehn Jahre zu einem Kassenschlager für Kellerräume entwickelt. Und Umzugskartons hat jeder in seinem Keller!

Georg, glaubst du selbst, was du da gerade denkst? Irritiert von so viel Unerklärlichem, ging er langsam und aufmerksam weiter.

„Maria?!“, rief er zaghaft und lauschte angespannt. Aus der Ferne hörte er Stimmen, dann ein Lachen. Irgendwo am Ende des Ganges mussten die anderen mysteriösen Gäste sich aufhalten und Maria festhalten. Er schlich weiter, immer mit der Gewissheit gleich aus irgendeiner Ecke angegriffen zu werden. Er musste auf der Hut sein. Doch inmitten dieses quälenden Gefühls von Angst und Verzweiflung umhüllte ihn plötzlich eine Welle von Wärme. Sie kam aus der dunklen Ecke unmittelbar vor ihm. Es war, als hätte jemand eine warme Decke über ihn gelegt, damit er nicht fror. Vielleicht ein Heizungsrohr von dem Wärme abstrahlte?

„Endlich bist du da“, drang plötzlich eine Stimme aus dem Gewölbe zu ihm durch. Er erschrak noch nicht einmal, sondern spürte einen Hauch von Erleichterung. Er konnte die Worte kaum verstehen, aber es war dieser zauberhaft liebliche Klang. Ihre Stimme war wie ein Gesang, der ihn sanft aus diesem schrecklichen Traum küssen sollte.

„Endlich bist du wieder bei mir“, sang die Stimme wieder dicht in sein Ohr und es zerriss ihm fast das Herz. Er wollte sehen, wer ihm da dieses wohlige Gefühl von Geborgenheit gab, er wollte sie sehen. Sie, die ihm in diesem Moment soviel Wärme und Liebe schenkte. Aber sie stand in einem dunklen Schatten.

„Maria?“, flüsterte er leise. „Maria bist du das?“

„Nein, Süßer, ich bin es, Larissa!“ Sie trat aus der Dunkelheit in den schwachen Lichtschein auf ihn zu. Erschrocken starrte er direkt in das sanfte Gesicht der Frau, der er heute schon einmal begegnet war. Sie stand plötzlich vor ihm, lächelte ihn an und streckte ihre Hände nach ihm aus. Ihr rotes Kleid leuchtete im Schein der Fackel blutrot.

„Komm zu mir“, sagte sie und winkte ihn mit dem Zeigefinger zu sich. „Ich will mit dir zusammen sein.“ Fassungslos starrte Georg sie an.

„Was machen Sie hier unten?“

„Dich trösten!“

„Trösten? Ich bin verheiratet!“, sagte Georg und in seiner Stimme lag der Hauch einer Entschuldigung.

„Ich weiß!“, antwortete Larissa. „Ich habe gehört, was Toni über dich und deine Frau gesagt hat. Und ich habe in deinen Augen gesehen, dass du nicht glücklich darüber bist, dass sie es mit deinem besten Freund treibt.“ Georg starrte sie erschrocken an. Ihm fehlte die Kraft, ihr zu widersprechen.

„Treib es doch einfach mit mir!“ Larissa legte ihre Hände auf seine Brust und begann seinen Oberkörper zu streicheln. „Wir sind ganz alleine hier unten!“

„Nein, sind wir nicht! Es sind noch mehrere Personen hier unten und meine Frau auch.“ Sie antwortete nicht, sondern fasste ihm plötzlich an die Hose. „Lassen Sie das gefälligst!“ Georg versuchte sich aus ihren Berührungen zu winden, bemerkte aber schnell, dass er dies nur halbherzig tat und nicht mit dem nötigen Nachdruck. „Meine Frau ist hier unten und sie steckt in Schwierigkeiten.“

„Lass dich fallen, ich fange dich auf“, flüsterte sie und drückte ihn mit sanfter Gewalt an die Wand. Dann küsste sie ihn. Er wehrte sich zunächst nicht, er war zu verblüfft und irritiert und ließ es geschehen. Doch als ihre Zungen sich berührten, brannte es plötzlich wie Feuer auf seiner Seele. Erinnerungen schossen in ihm hoch. Es waren wieder diese Erinnerungen an die Frau, die sich Lissa, mit scharfem S nannte.

Nein, sie hieß Larissa! Lissa mit scharfem S war lediglich ihr Spitzname, du Dummerchen…

„Was ist los mit dir Georg, kriegst du etwa keinen hoch?“, sagte die Larissa-Lissa und in ihrem Ton lag etwas abgrundtief Abfälliges. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und stieß ein schreckliches, irres Lachen aus.

„Um Gotteswillen, wer bist du?!“, rief Georg verzweifelt und wich erschrocken zurück.

„Du wirst doch noch die Frau wieder erkennen, die dir deine Jungfräulichkeit nehmen wollte. Die Frau, in die du so unsterblich verliebt warst und für die du alles tun wolltest – nur mit ihr ficken, das wolltest du nicht! Das war sehr unhöflich von dir, Georg! Geht man so mit Frauen um?“ Für einen kurzen Augenblick war Georg im Begriff laut zu schreien, doch kein Ton löste sich aus seiner Kehle.

„Seht alle her“, schrie die Frau in dem roten Kleid. „Der kleine Georg ist auf der Suche nach einer Erektion, wer sie findet, der darf ihn gerne behalten!“ Dann lachte sie wieder und in ihr nahezu hysterisches Gelächter stimmte noch ein weiteres allerdings männliches Lachen ein. Es kam aus dem Gang weiter hinten und es kam Georg erschreckend bekannt vor. Päler? Sein Lachen war unverkennbar sowie er auch das Lachen von Maria meinte, erkannt zu haben. Dann lachte noch jemand, und plötzlich schien der ganze Keller voller Menschen zu sein, die nur eines im Sinn hatten: Ihn auszulachen!

„Joachim?!“, rief er in den Gang. „Maria? Seid ihr hier unten?“ Georg spürte, dass er durch das Theater an amüsierten Stimmen nicht viel ausrichten konnte.

„Ich hab es ja gesagt, dass der Bengel ein verweichlichter Schlappschwanz ist!“, donnerte eine verrauchte Jäger-Stimme durch den Gang. „Die schwule Sau ist ja nicht mal in der Lage einem Hasen das Fell über die Ohren zu ziehen. Kein Wunder bei dieser versoffenen Hurenmutter!“

„Jörres, wo ist meine Medizin?!“, lallte eine weitere bekannte Stimme durch den Keller.

„Haltet die Klappe! Lasst mich in Ruhe!“, brüllte Georg und hielt sich die Ohren zu. Dann stolperte er den Gang weiter hinunter. Er wollte weg. Weg von dieser verrückten Larissa, weg von all dem furchtbaren Gelächter und den Stimmen, die böse Dinge sagten. Und es schien ihm zu gelingen. Je tiefer er in diesen Keller vordrang, desto leiser wurde es. Auch das Lachen verstummte, nachdem ein energisches „Halt´s Maul du dumme Gans!“ durch den Keller hallte. Er erkannte die Stimme von Toni. Er beschleunigte seine Schritte. Das Einzige, was er noch von Larissa wahrnahm, war ein lautes, hysterisches Kreischen, was schlussendlich in ein unmenschliches Gurgeln überging. Er kümmerte sich nicht darum. Ich muss Maria finden! Erst jetzt fiel ihm auf, dass überall Gemälde hingen oder angelehnt an der Mauer standen. Einige lagen willkürlich auf dem Boden. Offenbar hatte hier ein Künstler seine Werkstatt. Überrascht betrachtete er die ersten Bilder. Es schien abstrakte Kunst zu sein. Eben solche Bilder, die ihm auch bei Maria immer Rätsel aufgegeben hatten. Er wusste nichts anzufangen mit Farbklecksen oder Strichen auf unruhigem Grund oder mit Gemälden auf denen auf schwarzem Hintergrund rote Spritzer die Vision eines geschlachteten Tieres aufriefen.

Ein geschlachtetes Tier… Plötzlich fiel sein Blick auf ein Bild, welches sich von den anderen deutlich unterschied. Es zeigte eine Menschenmenge, die sich vor einem kleinen Podest versammelte. Im Hintergrund konnte er die bunten Buden und Zelte eines Jahrmarkts erkennen. Auf dem Podest stand ein Junge. Er war vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt und trug ein sauberes, weißes Muskelshirt und Bluejeans. Er hatte einen Arm gebeugt und präsentierte seine Muskeln. Stolz blickte er über die Köpfe hinweg in die Ferne. Neben ihm stand ein lächelnder Mann mit Goldzahn, der ein Schild trug. Auf dem stand in großen Buchstaben:

 

ARMDRÜCKEN

 

GEGEN DEN STÄRKSTEN JUNGEN DER WELT

ANTONIO

 

NUR 3 DM

AUF DEM KIRMESPLATZ,

NEBEN DEM KETTENKARUSSELL

 

War das tatsächlich eine Erinnerung seines Lebens auf diesem Bild? Ein Gemälde von dem James-Dean-Verschnitt, der ihm damals den Arsch vor den Wertz-Brüdern gerettet hatte? Und von dem Toni behauptete, genau dieser jemand von damals zu sein? Wie konnte das möglich sein? Kein Zufall dieser Welt könnte sie jemals wieder zusammenbringen und schon gar nicht in Öl gemalt. Er war gerade im Begriff seine Augen auf das nächste Bild zu richten, als ihm in der Menschenmenge vor dem Podest eine Gestalt in einem gelben Regenmantel auffiel. Man konnte ihn nur von hinten sehen, aber anhand seiner Körpergröße war es anzunehmen, dass es sich um ein Kind handelte. Er dachte an Jörres und fühlte plötzlich den starken Drang weiter durch die Gänge des Kellers zu irren, um Maria und letztendlich auch ihn zu finden. Ein anderer Teil in ihm zwang ihn an diesen Bildern auszuharren, um sie anzusehen. Irgendetwas lag in diesen Gemälden, was versuchte, eine Verbindung mit ihm aufzubauen. Dann fiel sein Blick auf das nächste Bild. Auf diesem Gemälde war eine Frau zu sehen, sie war bekleidet mit weißen Plüschhausschuhen und einem fast durchsichtigen Nachthemd. Überrascht stellte er fest, dass die Frau, die ihn auch an seine Mutter erinnerte, auf dem Bild der Person ähnelte, die er hier vor Stunden noch volltrunken über die Flure schlurfend gesehen hatte und die schließlich ebenfalls in diesen Keller gegangen war. Auf dem Bild stand sie an einer Treppe und taumelte. Ja, es hatte den Anschein, als ruderte sie mit den Armen, um den Halt wieder zu finden, den sie in dem Augenblick verlor, als ihr rechter Fuß über die Kante einer Treppenstufe rutschte. Georg starrte das Bild mit einem wachsenden Gefühl an, was er zunächst nicht richtig deuten konnte. Sein Herz begann aufgeregt zu schlagen. Er wollte sich abwenden, doch er schaffte es nicht. Die Frau war nicht alleine auf diesem Bild. Unmittelbar vor ihr stand eine Gestalt. Es war der Junge mit einem weißen Muskelshirt und Bluejeans. Sein Handballen war in Höhe ihrer Brust gerichtet und gab in Georgs Gedanken der Frau eindeutig den entscheidenden Schubs, der ihr noch fehlte, um gänzlich die Treppe hinunterzustürzen. Und er sah noch etwas auf dem Bild. Oben am Treppenabsatz kauerte ein Kind. Es vergrub seinen Kopf zischen den Knien, nicht gewillt, das Geschehen mitzuerleben und es trug einen gelben Regenmantel. Und auf den Knien erkannte Georg Flicken mit Mickey Mouse Emblem.

Jörres? Was um alles in der Welt ging hier vor? Wer malte solch schreckliche Bilder und das so genau, dass förmlich jeder Pinselstrich ein neues Detail hervorrief? Er betrachtete das nächste Bild mit wachsendem Entsetzen. Dort lag ein Reh, getötet durch einen Kopfschuss. Neben dem Reh lag ein toter Hund, ein Rhodesian Ridgeback, mit durchgeschnittener Kehle. Neben den beiden toten Tieren lag eine Person. Georg traute seinen Augen nicht.

Der Jäger! Überall war Blut… Der Junge mit dem Muskel-shirt spielte auch in diesem Bild eine Hauptrolle. Er hielt triumphierend ein merkwürdig geformtes Messer in der Hand. Seine Hände und sein Hemd waren blutverschmiert. Beim genaueren Hinsehen erkannte er auch hier den Jungen im gelben Regenmantel. Er versteckte sich hinter einem Strauch und drehte dem Geschehen den Rücken zu, so als wolle er auch hier nicht Zeuge von dem sein, was sich dort jenseits des Busches abspielte. Georg wollte sich weitere Details ersparen und wandte sich angewidert ab. Was hatte das alles zu bedeuten? Was steckte hinter diesem auf Leinwand festgehaltenen Irrsinn? Verdammt, ich kriege dieses Puzzle einfach nicht gelöst…

Plötzlich hörte er Stimmen. Der Gang machte am Ende einen Knick. Er vermutete, dass die Stimmen von dort kamen. Entschlossen ging er weiter, und als er schließlich vorsichtig um die Ecke lugte, zuckte er erschrocken zurück. In dem Raum unmittelbar vor ihm saß tatsächlich jemand. Im schwachen Schein einer Fackelleuchte sah er eine Frau, die vor einer Staffelei saß und ein Bild malte. Er erkannte die blonden Haare, die sie beim Malen immer perfekt hochgesteckt hatte, damit sie ihr nicht ins Gesicht fielen. Er erkannte ihre Körperhaltung, die bei Konzentration immer so wirkte als sei sie komplett in sich zusammengesunken.

„Maria?“ Seine Verblüffung hallte durch das Gewölbe und prallte irgendwo dumpf von den Wänden ab. Die Frau vor ihm reagierte nicht, sondern ließ weiterhin sanft den Pinsel über die Leinwand gleiten.

„Maria, endlich habe ich dich gefunden!“ Er trat einen Schritt auf sie zu, in der Hoffnung, dass sie sich umdrehte und ihm einfach nur ein Lächeln schenkte. Ein Maria-Alles-Ist-In-Bester-Ordnung-Lächeln.

Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als ihr weinend in die Arme zu fallen, sie ganz fest an sich zu drücken und sie einfach nicht mehr loszulassen. Er konnte dann wieder bei ihr sein, so wie er es sich seit diesem blöden Streit beim Frühstück gestern gewünscht hatte. Sie würden einfach wieder einander lieben, als sei nichts geschehen. So macht man das in einer Ehe: Sich lieben und ehren, bis dass der Tod sie schied.

Genau, bis dass der Tod euch scheidet..., hörte er Tonis Stimme irgendwo in seinem Kopf. Er blickte voller Freude und Liebe auf das Bild, was sie malte und blieb abrupt stehen. Er spürte, wie der Stich ihn mitten ins Herz traf. Auf dem Bild war ein Baby zu sehen. Ein Baby, was friedlich mit einem seligen Lächeln im Gesicht schlief. Der Anblick traf ihn wie ein Faustschlag ins Gesicht. Seine Kehle schnürte sich zu und nahm ihm die Luft zum Atmen. Er spürte, dass er kurz vor dem Zusammenbrechen war, und stützte sich mit der Hand an der Wand ab. Dann tauchte aus heiterem Himmel eine weitere Person aus dem Nichts auf. Joachim Päler sah Maria über die Schulter und schmiegte seinen Kopf an ihren. Sie reagierte zunächst mit einem sanften Lächeln und vervollständigte das Kunstwerk mit einem letzten Tupfer.

„Ist das unser Baby, das du da malst?“, fragte der Mann und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf den Hals.

Päler, diese gottverdammte linke Ratte, der Schäfchenjäger und eigentlich bester Freund!? Es stimmte also alles? Von dieser Wahrheit schwer getroffen schwankte Georg, fand jedoch Halt an der Wand und rutschte kraftlos an ihr herunter.

„Ja, das ist unser Baby, Joachim. Das Kind, was ich mir so sehr gewünscht habe und das Georg niemals hätte zustande bringen können. Er ist eben ein Schlappschwanz. Er hat ja noch nicht einmal Eier in der Hose, die funktionieren. Er ist nichts weiter, als ein verweichlichter Nichtsnutz, der nicht einmal in der Lage ist, seinen eigenen Keller aufzuräumen!“ Päler lachte laut und schallend, dann sagte er: „Ja, und vergiss auch nicht zu erwähnen, dass er dumm und naiv ist. Es wird ein Leichtes sein, ihn aus der Firma zu kicken. Dann haben wir zwei endlich unsere Ruhe.“ Er küsste sie innig und leidenschaftlich und schob dabei seine Hand in ihre halb geöffnete Bluse. Georg wandte sich ab und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

„Die ganze Sache überfordert dich wohl ein bisschen, was?“, sagte plötzlich eine Stimme dicht hinter ihm. Als er getroffen von den Bildern, die er sah und noch mehr verletzt von dem Gesagten an der Person, die vor ihm stand, hochschaute, blickte er in das versteinerte Gesicht von Toni. Er stand da, sah mitleidig auf ihn herab, und erst jetzt fiel Georg auf, dass er ein weißes Muskelshirt und Bluejeans trug. „Ich übernehme an dieser Stelle! Ich werde tun, was ich tun muss, so wie ich dir auch schon bei deiner Mutter, bei deinem Vater und bei Larissa geholfen habe.“ Georg antwortete ihm nicht. Sollte Toni doch tun, was er tun wollte. Ihm war es egal. Alles war ihm egal – es war vorbei. Ein Gurgeln durchschnitt die gespenstische Szene. Dann war es Päler, der sich plötzlich röchelnd an die Kehle griff und zu Boden sank. Maria schrie auf und versuchte zu flüchten, doch Toni hielt sie fest. Georg sah, wie frisches Blut das Gemälde, an dem Maria noch vor Sekunden malte, mit blutroten Punkten besprenkelte. Das Baby, das zuvor noch so friedlich schlief, versank in einem tiefen Rot. Als er warmes Blut auch auf seinem Gesicht und den Wangen spürte, schrie er. Er schrie so laut, dass die Stimmbänder vibrierten und seine Kehle vor Schmerz brannte. Dann verging eine unendlich lange Zeit der Stille.

Georg lag auf dem Boden. Die Knie dicht an seinen Körper gezogen und er zitterte vor Kälte. Seine Augen waren starr auf den leblosen Körper neben sich gerichtet. Maria starrte ihn an und mit jeder weiteren Sekunde, wo sie sich ansahen, schwand der Glanz aus ihren Augen. War das etwa das Ende? War Maria tot? Getötet durch ein Messer, mit dem Toni ihren zarten Hals durchschlug, als wäre er kein nennenswertes Hindernis?

Nein! Das konnte nicht sein, das durfte einfach nicht sein!

„Ich habe dich gewarnt“, sagte eine Stimme dicht neben ihm. „Ich habe dir gesagt, dass es dich umbringen wird, wenn du in den Keller gehst. Es gibt Dinge, die sind nicht bestimmt für Menschen wie dich.“ Georg antwortete nicht. Er blieb regungslos auf dem Boden liegen und war sich sicher, dass ihn nichts und niemand auf dieser Welt dazu bringen wird, wieder aufzustehen. Er würde hier unten liegen bleiben und einfach darauf warten, bis es auch mit ihm zu Ende ging.

Maria! Oh Gott, Maria! Dann spürte er einen kräftigen Ruck, der durch seinen Körper ging. Überall waren Hände. So viele Hände, und alle fassten ihn an. Hände von körperlosen Wesen. Sie fuhren über sein Gesicht, durch sein Haar. Sie berührten seine Arme, seine Beine. Wie Schlangen schlängelten sie sich über seinen Körper, und es brannte wie Feuer. Er versuchte sich zu bewegen, doch die Hände hatten ihn fest im Griff.

„Was passiert hier mit mir?“, krächzte Georg mit letzter Kraft. Die Hände rissen und zogen an ihm. Höllische Schmerzen lähmten ihn und machten ihn unfähig sich zu bewegen.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Toni. „Sie geben sich in diesem Augenblick alle Mühe, dich wieder ins Leben zurück zu holen, also lass sie machen.“ Georg stöhnte laut auf und begann wieder zu zittern.

„Es wird jetzt gleich noch mal ein bisschen wehtun, aber das lässt sich leider nicht vermeiden. Immerhin hast Du ein schweres Schädelhirntrauma, eine Menge gebrochener Rippen und eine Fleischwunde an der Hand, aber das wird schon wieder. Ich muss leider gehen.“ Aus der Ferne hörte er ein Martinshorn, weitere Stimmen, die er nicht kannte. Ein Rufen, das Schlagen von Autotüren, wieder eine Kettensäge.

„Wir sehen uns, Kumpel!“, hörte er Toni noch sagen, dann hörte er eine andere, fremde Stimme und sie sagte.

„Okay, er ist stabil!“

 

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