Nach dem Sturm

Knapp eine Woche später…

Sturm „Fiona“ gehörte inzwischen der Vergangenheit an.

Und während draußen die Aufräumarbeiten im vollen Gange waren, räumte auch die Kripo Bonn im Falle Blumenfeld auf - oder zumindest versuchten sie, mit aller Kraft Licht ins Dunkle zu bringen.

„Sie bringen ihn jetzt rein!“, rief ein Kollege durch die halb geöffnete Türe des Raums in dem Markus Born und Roland Behrenz auf den Mann warteten, der in ihrem aktuellen Fall der Hauptverdächtige war. Sie beobachteten seinen Aufmarsch durch das von der Gegenseite blickdichte Fenster des Verhörraumes. Zwei Beamte der Justiz führten ihn herein. Der Mann trug keine Handschellen, was darauf zurückzuführen war, dass seine rechte Hand, inklusive halbem Arm, in einem festen Verband steckten. Einer der beiden Justizbeamten gab ihm Anweisung, sich zu setzen, was er auch bereitwillig tat. Langsam ließ er sich auf den Stuhl nieder, legte seinen verletzten Arm auf das rechte Bein und die linke Hand auf den Tisch. Dann sah er regungslos zu Boden. Born und Behrenz hatten schon seit Tagen auf dieses Verhör hingearbeitet und waren trotz ihrer langjährigen Erfahrung bei der Mordkommission nervös. Dieser Mann gab ihnen mehr Rätsel auf, als sie in dieser Laufbahn hätten lösen können. Dr. Berger hatte mitgeteilt, dass sein Patient aus körperlicher Sicht durchaus vernehmungsfähig sei und aus diesem Grund auch heute entlassen werden konnte. Eine Entlassung, die für ihn allerdings sofort und ohne Umwege in der U-Haft endete. Es gab zwei Tote – Maria Blumenfeld und Joachim Päler - und es gab einen Verdächtigen. In diesem Fall, Georg Blumenfeld, der laut Mutmaßung erst seine Frau und einen Tag später seinen Kompagnon umbringt. Die Beweislast war erdrückend, nur das Motiv, das gab den Beamten noch Rätsel auf. Born spürte, dass an diesem Fall irgendetwas anders war, als all die typischen Fälle, die ihm im Rahmen seiner Laufbahn untergekommen waren.

Er blickte durch die Scheibe und beobachtete den Mann. Da saß er, Georg Blumenfeld, in sich zusammengesunken, mit eingefallenem, vor Trauer zerfurchtem Gesicht. Dort saß in seinen Augen ein gebrochener Mann, der nicht wusste, wie ihm geschah.

„Was haben wir jetzt alles über ihn?“, fragte Born nachdenklich und sah seinen Kollegen Behrenz fragend an.

„Du, eine ganze Menge!“ Er griff nach einer Akte, die neben ihm auf dem Tisch lag, und begann darin herumzublättern.

„Diese Informationen haben wir vorhin aus dem HAUS REGENBOGEN erhalten. Das ist ein Kinderheim in der Nähe von Königswinter. Das ist seine Akte, inklusive einer Reihe an psychologischen Gutachten, die im Rahmen einer Therapie nach 1985 erstellt wurden. Aus diesen Akten geht hervor, dass Georg „Jörres“ Blumenfeld bis zu seinem neunten Lebensjahr bei seiner Mutter in Bonn lebte.“

„Jörres?!“ Born sah ihn fragend an.

Jörres ist die rheinische Form von Georg. Also nichts weiter als ein merkwürdiger Spitzname, der von den Eltern ins Leben gerufen wurde. Die Mutter, Anna Blumenfeld, litt unter starken Depressionen, war zudem schwerst alkoholabhängig und hat ihrem Sohn mit ihrer Krankheit schwer zugesetzt. Die Nachbarn hatten sogar schon mehrmals die Polizei verständigt, weil sie um das Wohlergehen des Jungen bangten. Anna Blumenfeld hat wohl oft randaliert und ihren Sohn geschlagen. Allerdings schienen die Beamten damals mit der Situation überfordert und glaubten dem kleinen Jungen, der ihnen immer wieder versicherte, er sei in der Schule verprügelt worden. Seine Mutter hätte nichts mit den Verletzungen in seinem Gesicht zu tun. Eine spätere Ermittlung und Nachfrage in der Schule hatte diese Aussage bestätigt. Er wurde scheinbar oft verprügelt in der Schule. An seinem neunten Geburtstag kam es zu einem schrecklichen Unfall. Anna Blumenfeld stürzte eine Treppe hinunter und starb vor den Augen des Jungen an den Folgen ihrer schweren Hirnverletzungen. Der Junge war zu diesem Zeitpunkt bereits schwer traumatisiert. Seiner Mutter beim Sterben zusehen zu müssen, hatte ihm regelrecht die Sprache verschlagen. Das Jugendamt brachte ihn zu seinem Vater, Heinrich Frenzen und damit kam er auch gleich vom Regen in die Traufe. Sein Vater war ein angesehener Jäger eines kleinen Dorfes am Rande des Königsforstes. Frenzen war nicht besonders erbaut über diesen unverhofften Familienzuwachs, sah aber eine Chance, aus dem Jungen einen ansehnlichen Stammhalter zu machen. Dass sein Sohn mit neun Jahren nicht nur stumm, sondern auch hochsensibel, ängstlich und verschüchtert war, ließ in ihm die Befürchtung aufkommen, dass mit seinem Jungen irgendetwas nicht stimmte. Immer wieder warf er seiner verstorbenen Mutter vor, ihn vermasselt zu haben und zu einer – wie er es ausdrückte - schwulen Sau erzogen zu haben. Seine neue Lebensaufgabe wurde dann, aus dem Jungen einen echten Mann zu machen. Das trieb den passionierten Jäger immer wieder zu Handlungen und Experimenten, die an Grausamkeiten ihresgleichen suchten. In den meisten Fällen spielte wohl das Töten und Schlachten diverser Tiere eine treibende Rolle. Hier in diesem Gutachten steht eine lange Liste von all den scheußlichen Dingen, die er dem Jungen angetan haben musste. Ich hab das nicht alles gelesen, aber siehe selbst, die Liste ist lang …“ Behrenz unterbrach kurz und reichte Born ein Blatt. Dieser nahm es an sich und überflog die Zeilen.

„Wie bitte? Er hat einen Neunjährigen dazu gezwungen, einem lebendigen Tier die Kehle durchzuschneiden? Das ist krank!“

„Es kommt noch besser, Born!“ Behrenz zündete sich eine Zigarette an und blickte ebenfalls auf den einsamen Mann im Verhörraum. „Das, was du da liest, Kollege, ist alles im Rahmen der psychologischen Betreuung während seines Heimaufenthalts ans Licht gekommen. Erst durch die kompetente Betreuung eines Psychiaters hat der Junge sein Schweigen gebrochen und von seiner schrecklichen Zeit erzählt. Unter anderem bestätigen die zahlreichen Narben an seinen Händen die wahrhaft unglaubliche Aussage, dass der Jägersmann seine zahlreichen Jagdhunde regelmäßig auf den Jungen gehetzt haben musste. Mehrmals sogar unter dem Deckmantel einer Fuchsjagd zu Pferd – die im Übrigen schon seit den 40er Jahren verboten ist. Aber das interessierte Frenzen nicht. Immerhin jagte er nicht einen Fuchs, sondern seinen Sohn, um einen Mann aus ihm zu machen. Die Hunde haben ihn so lange durch den Wald gejagt, bis sie ihn schließlich gefunden haben.“

„Kein Wunder, dass er so hysterisch auf Hunde reagiert und vor allem auch so viele Hunde in seiner Jagdhausfantasie verbaut hatte.“

„Hat man ihm eigentlich schon gesagt, dass er sein Leben einem Rudel Hunde zu verdanken hat? Ich meine, wenn nicht auch ein Baum auf den Zaun des benachbarten Hundezüchters gekracht wäre, dann wäre die Retriever-Familie nicht abgehauen. Und weil diese sechs Hunde abhauten, auf ihrem Freigang Blumenfelds Wagen fanden und daraufhin sofort Krach schlugen, hat man ihn überhaupt so schnell gefunden.“

„Wobei mir gerade an dieser Stelle spontan - Nihil fit sine causa – nichts geschieht ohne Grund - einfällt!“ Behrenz lächelte.

„Ich liebe deinen Sarkasmus“, lachte Born verhalten. „Aber der Fall Blumenfeld geht mir echt an die Nieren. Vielleicht wird er das mit den Hunden irgendwann erfahren, wenn er wieder imstande ist, klar zu denken.“

„An seiner Stelle würde ich nie wieder klar denken wollen“, überlegte Behrenz halblaut.

„Wie lange war er bei seinem Vater und musste diese Tortur mitmachen? Nur damit ich weiß, worauf ich mich einlasse, wenn wir da gleich reingehen.“

„14 Monate!“

„Du liebe Güte!“

„Als Georg zehn Jahre alt war, kam es wohl zu einem schrecklichen Vorfall. Bis heute kann nicht genau aufgeklärt werden, was genau auf Frenzens Pirsch passiert ist. Fakt ist, - und das ist das Interessante an der Sache - man fand ihn im Wald, gleich neben einem toten Reh und seinem ebenfalls getöteten Hund. Dem Jäger wurde die Kehle durchgeschnitten. Im Anschluss hat man ihn auf grausame Art und Weise, fachmännisch ausgeweidet. Der Fall blieb ungelöst. Der Junge sprach ja nicht, schien auch von nichts gewusst zu haben. Es gab keine Spuren, keine Fingerabdrücke, keine Tatwaffe. Man vermutete seinen Mörder in der Jägerschaft, da die Schnitte getreu der Aufbrechregeln für ein hygienisches Wildbret ausgeführt wurden. Die Akte zum Fall Frenzen habe ich bereits bei den Kölner Kollegen angefordert. Die haben damals die Sonderkommission DER WAIDMANN ins Leben gerufen. Es gab wohl Jahre später einen weiteren Fall dieser schrecklichen Ausweidungs-Overkill-Methode. Ich bin gespannt auf die Tatortfotos. Das muss man sich mal vorstellen - man hat ihm sogar das Arschloch rausgeschnitten!“ Born gab Behrenz das Zeichen, dass er genug Details gehört und somit auch genug Infos hatte.

„Mission Overkill!“, sagte Born nachdenklich. „Wie bei seiner Frau - bei Päler allerdings nicht!“

„Meinst du, Blumenfeld hatte schon damals etwas mit dem Tod seines Vaters zu tun?“, fragte Behrenz.

„Ich möchte es mir nicht vorstellen. Wie ging es weiter mit ihm?“

„Nun, nach dem Tod des Vaters kam Georg in ein Heim“, fuhr Behrenz fort. „Genau genommen in das HAUS REGENBOGEN bei Königswinter. Zu Beginn eine schwierige Situation, da er kein Wort sagte und auch emotional deutliche Defizite hatte. Durch eine regelmäßige psychologische Betreuung fand er offenbar zurück ins Leben. Er bastelte in seiner Freizeit gerne an Modellen, machte sein Abitur und schließlich auch Karriere als Architekt. Seither ist er auch nie polizeilich in Erscheinung getreten - zumindest nicht als Täter. Lediglich bei einer Wohnungsdurchsuchung einer Wohngemeinschaft in den 90er Jahren fand man bei seinem Zimmernachbarn – und jetzt halt dich fest – Joachim Päler – mehrere Tüten Gras. Das war alles. In der Abschlusszeitung schreibt eine Lehrerin über ihn, ich zitiere: Georg ist ein freundlicher, zurückhaltender und friedliebender Mensch, auf den immer Verlass ist.

Wieder blickte er auf den Mann im Verhörraum. Er sah ungepflegt aus. Sein Barthaar hatte lange keinen Rasierer mehr gesehen und auch die Haare hingen ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht. Er war sich sicher, dass die fehlende rechte Hand nicht der Hauptgrund war, warum er sich auch optisch gehen ließ.

„Nun gut“, begann Born. „Dann würde ich sagen, sobald Faßbender da ist, werden wir in die Höhle des Löwen gehen.“ Behrenz nickte. „Ehrlich gesagt bin ich heilfroh, dass ein Kriminalpsychologe bei dem Verhör dabei sein wird und gegebenenfalls eingreifen kann. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Blumenfeld uns verarscht und seine Amnesie nur vortäuscht. Ich meine, er hat in der Tat viel Scheiße erlebt, aber ich gehe dennoch davon aus, dass er sehr genau weiß, was er tut. Ich denke Faßbender kann da mehr Licht in diese Angelegenheit bringen.“ Sie standen auf.

„Wie immer, ich guter und du böser Bulle?“ Behrenz nickte.

 

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Etwa eine Viertelstunde später betraten Born, Behrenz und Kriminalpsychologe Adam Faßbender den Verhörraum mit gemischten Gefühlen. Der Mann, der einmal der angesehene und erfolgreiche Georg Blumenfeld war, sah nicht einmal auf, als Born und Behrenz sich an den Tisch setzen. Faßbender blieb im Hintergrund und nahm auf einem Stuhl am Fenster Platz.

„Herr Blumenfeld, ich hoffe ihnen geht es inzwischen besser und Sie können wieder unterscheiden, was real ist und was nicht?“, begann Behrenz. „Und wie ich sehe, haben Sie auf einen Anwalt verzichtet?“ Er zündete sich eine Zigarette an.

„Auch eine?“ Georg starrte ins Leere und schüttelte den Kopf.

„Danke, aber ich rauche nicht! Und ich brauche auch keinen Anwalt.“

„Da wäre ich mir an Ihrer Stelle aber nicht so sicher“, knurrte Behrenz.

„Sie wissen, warum Sie heute hier sind?“, fragte Born behutsam.

„Weil Sie mich vor knapp einer Stunde verhaftet haben!“, antwortete Georg vorwurfsvoll.

„Haben Sie auch verstanden, warum wir Sie verhaftet haben?“ Georg zuckte mit den Schultern.

„Ihre Frau ist tot! Das hatten wir Ihnen bereits schon im Krankenhaus mitgeteilt“ Der Mann starrte auf den Boden. Ein Sonnenstrahl durchbrach die dämmrige Stimmung und legte einen hellen Streifen auf ihre Gesichter und Körper. Es herrschte eine bedrückende Stille.

„Tot?“ Verstört starrte Georg Born an.

„Ja, sie ist tot. Das allerdings schon seit 8 Tagen.“ Born beobachtete Georg. Er hatte bereits in zahlreichen Mordfällen in seiner fünfundzwanzigjährigen Laufbahn ermittelt, aber dieser Fall war ein anderer. Georg Blumenfeld gab so über-zeugend vor, von nichts eine Ahnung zu haben, dass man es ihm sehr gerne glauben würde, wenn da nicht diese erdrückende Beweislast wäre. Es war nahezu bewiesen, dass er der Täter war.

Er wirkt nicht wie jemand, der gerade seine Frau und seinen besten Freund getötet hat, dachte Born. Er wirkt vielmehr wie jemand, dem von einer auf die andere Minute das Leben zerstört wurde. Was war nur geschehen?

„Angesichts der aktuellen Beweislage muss ich zugeben, dass es in beiden Mordfällen sehr eng für Sie aussieht“, sagte Born ernst und es lag ein Hauch Enttäuschung in seiner Stimme.

„Sogar sehr eng“, schob Behrenz drohend nach.

„In Ihrer Wohnung haben wir eine Menge Spuren sichergestellt, die uns zu der Annahme führen, dass Sie Ihre Frau im Wohnzimmer mit diesem Messer getötet und…“ Er stockte. „… und auch damit ausgeweidet haben“, beendete Behrenz den Satz. Er hielt dem Mann eine kleine Tüte vor die Nase, in dem sich ein Gegenstand befand. Georg erkannte das Messer, schwieg aber.

„Sie haben ihr erst die Kehle durchgeschnitten, sie dann ausbluten lassen, ihre Gedärme und Innereien aus dem Leib gerissen und sie im Anschluss in Ihren Kofferraum gelegt.“ Georg schwieg und starrte ins Leere. Zwischendurch wischte er sich Tränen aus den Augen.

„Es wäre hilfreich, wenn Sie mit uns reden würden“, meldete sich Faßbender behutsam zu Wort. „Wir würden gerne Ihre Version der Dinge hören.“

„Ich habe meine Frau über alles geliebt“, sagte Georg leise, kaum hörbar. „Niemals hätte ich ihr etwas angetan. Sie war der einzige Mensch, dem ich blind vertraut habe. Fünfzehn Jahre lang habe ich nicht eine Sekunde an unserer Liebe oder an ihr gezweifelt.“

„Und da wären wir auch schon beim Motiv“, knurrte Behrenz dazwischen.

„Was für ein Motiv? Ich habe damit nichts zu tun“, wimmerte Georg. „Das war Toni oder der verrückte Jäger aus dem Jagdhaus. Bitte, das müssen Sie mir glauben. Welchen Grund hätte ich haben sollen?“

„Den hier!“ Behrenz zog etwas aus der Tasche und hielt es Georg sichtbar vor die Augen. „Dieses Foto haben wir von Ihrer Sekretärin Iris Schumacher erhalten. Sie ist sehr erschüttert über die Geschehnisse und fühlt sich regelrecht schuldig. Ihr sei nicht entgangen, dass Ihre Frau Maria sich in der letzten Zeit verdächtig häufig mit Joachim Päler getroffen habe. Und Sie hat uns auch diese Broschüre zugespielt, die wir auch bei Ihnen im Wagen gefunden haben. Es geht um die Pension „ZUM ALTEN JAGDHAUS“ im Ahrtal in der Eifel. Wir haben mit dem Pächter dort telefoniert und der hat uns bestätigt, dass dort ein Doppelzimmer für ein Wochenende gebucht wurde. Es sieht wohl so aus, als wollte sich Ihre Frau mit Päler dort treffen.“ Behrenz hielt Georg ein Foto hin auf dem Maria mit Joachim Päler zu sehen war. Es war kein sehr gutes Foto. Aber es war eindeutig zu sehen, dass das Bild in den Räumen des Architekturbüros geschossen wurde. Genau genommen wurde es von Iris` Platz durch die Scheibe von Pälers Büro aufgenommen. Und es zeigte, wie seine Frau Maria eine innige Umarmung mit Päler austauschte.

„Frau Schumacher hatte dieses Foto geschossen, um Sie darüber zu unterrichten. Sie hat es sich letztendlich aber doch nicht getraut, weil Sie – so hat sie es jedenfalls ausgedrückt - in der letzten Zeit ohnehin schon so merkwürdig waren.“ Georg starrte fassungslos auf das Foto und es schien, als kämpfte er gerade mit dem Gefühl, die Fassung zu verlieren.

„Was denken Sie, wenn Sie dieses Foto sehen?

„Ja, und aus diesem Grund hat sie es ja auch nicht anders verdient diese dämliche Fotze!“, schoss es plötzlich aus Georgs Mund und überrollte mit seiner tiefen Stimme die drei Zuhörer gnadenlos. Überrascht und mit der Tendenz zur Erschrockenheit sahen die drei Beamten sich an. Dann war es Behrenz, der es wagte, nach dieser unglaublichen Offenbarung das Wort zu ergreifen.

„Was meinen Sie damit, sie hat es nicht anders verdient?“, hakte Behrenz vorsichtig nach. „Geben Sie etwa zu, dass Ihnen das Verhältnis Ihrer Frau mit Joachim Päler bekannt war?“

„Sie haben doch keine Ahnung, Sie fettes Arschloch!“ Er schleuderte Behrenz das Foto entgegen. Dieser starrte den Mann irritiert an. Es war offensichtlich, dass der Anblick dieses Bildes irgendetwas in ihm ausgelöst haben musste.

„Kann ich eine Zigarette haben?“, knurrte Georg und sah abwechselnd von einem zum anderen. „Und was glotzen Sie mich denn alle so an, als käme ich von einem anderen Stern?“

„Herr Blumenfeld, Sie haben uns doch vorhin zu verstehen gegeben, dass Sie nicht rauchen?“, sagte Born vorwurfsvoll. Faßbender warf er einen fragenden Blick zu. Der Kriminalpsychologe stand auf und setzte sich langsam in Gang.

„Natürlich rauche ich! Ich will eine Zigarette, vorher sage ich kein Wort mehr!“ Georg verschränkte die Arme. Behrenz schob ihm die Schachtel Marlboro über den Tisch und legte das Feuerzeug gleich mit dazu. Wie jemand, der lange keine Zigarette mehr geraucht hatte, griff er nach der Packung zog mit den Zähnen eine Zigarette heraus, zündete diese an, nahm einen tiefen Zug und blies den Qualm voller Genuss in den Raum.

„Ist zwar nicht meine Marke – ich bevorzuge die Filterlosen – aber besser als nichts!“ Er steckte die Kippe in seinen Mundwinkel und sah die Beamten grinsend an.

„Ich habe sie schon öfters gesehen!“, sagte er schließlich und lehnte sich zurück.

„Wen haben Sie gesehen?“, fragte Born neugierig.

„Na, Joachim und Maria. Sie konnten ja selbst im Büro ihre Finger nicht voneinander lassen. Einmal umarmten sie sich heimlich als Georg bei einem Außentermin war. Die schrullige Schumacher hat die beiden dabei fotografiert, ich habe es auf ihrem Rechner gesehen. Und jetzt kommen Sie mir bitte nicht mit der Möglichkeit, dass sich hier nur zwei Freunde getroffen haben könnten. Nein – es war klar und deutlich zu erkennen, dass sie miteinander ficken wollten!“ Die beiden Kommissare sahen sich flüchtig an und nahmen dann Faßbender ins Visier ihrer fragenden Blicke. Dann war es Born, der aufstand und Faßbender zur Seite nahm.

„Warum redet er plötzlich von sich in der dritten Person?“

„Ich bin mir nicht sicher. Aber anscheinend will er gerade jemand anderes sein als Georg Blumenfeld.“

„Sie meinen er spielt mit uns?“

„Schon möglich, vielleicht ist es aber auch ein ernsthaftes Krankheitsbild. Wir werden es herausfinden. Wir sollten einfach weitermachen und mitspielen.“

„Nur für die Aufnahme und das Protokoll“, sagte Faßbender freundlich und sah den Mann aufmerksam an. „Würden Sie uns noch mal bitte sagen, wer Sie sind?“

„Mein Name ist Antonio – aber Sie können mich auch Toni nennen.“

„Sie verarschen uns doch von vorne bis hinten!“, fuhr Behrenz den Mann wütend an. „Ich sage Ihnen, wer Sie sind. Sie sind Georg Blumenfeld, geboren am 13.08.73 in Köln, wohnhaft in der Wiesenstraße 13, in Bad Hönningen. Seit fünf Jahren verheiratet mit Maria Blumenfeld, keine Kinder.“

„Ja, aber dafür kann er nichts!“

„Wofür kann er nichts?“, fragte Faßbender ruhig.

„Dass Georg es noch nicht geschafft hat ins Schwarze zu treffen, also Maria einen Braten in die Röhre zu schieben – sie zu schwängern. Er ist zeugungsunfähig. Eine fiese Mumpserkrankung in der Kindheit. Infolge dieser Mumpserkrankung haben sich seine Hoden entzündet – uh, sehr schmerzhafte Angelegenheit. Er wäre auch fast dabei draufgegangen. Jedenfalls tut sich seither in seinen Eiern nicht mehr viel, wenn Sie verstehen, was ich meine…“

„In welchem Verhältnis stehen Sie zu Georg?“, fragte Faßbender und kritzelte etwas auf einen Block.

„In welchem Verhältnis wir stehen? Also wir sind nicht schwul oder so. Im Gegenteil, ich rette ihm sogar immer wieder seinen Arsch. Wissen Sie, er ist manchmal so unfähig, so erbärmlich und schwach, dass es unerträglich ist. Ich habe mir angewöhnt, mir nichts mehr gefallen zu lassen – von nichts und niemanden! Wer sich mir in den Weg stellt, mich demütigen und verletzten will, der bekommt meine Rache oder auch ganz andere Dinge zu spüren!“ Und während er das sagte, ballte er die Fäuste und zeigte seinen Bizeps.

„Leute, der Kerl hat doch nicht mehr alle Latten am Zaun“, zischte Behrenz und stand wütend auf. „Ich geh Kaffee holen – will noch jemand?“ Born nickte, Faßbender lehnte hingegen ab. Behrenz verließ daraufhin den Raum.

„Sie sagten vorhin, dass Maria es nicht anders verdient hätte …“, fuhr Born fort.

„Nein! Ich sagte, die Fotze hat es nicht anders verdient – ein kleiner aber bedeutender Unterschied!“

„Wie auch immer – was meinen Sie damit?“ Bereitwillig fuhr er fort:

„Nachdem Georg durch seinen heimlichen Besuch beim Frauenarzt erfuhr, dass seine Frau tatsächlich schwanger war, er aber aufgrund seiner Erkrankung definitiv sicher sein konnte, dass er diesen Treffer nicht gelandet hatte, habe ich die Sache in die Hand genommen.“

„Und wie sah dieses in die Hand nehmen aus?“

Faßbender und Born sahen sich beide an und schienen zu ahnen, was in den nächsten Minuten folgen würde. Born checkte mit einem Handgriff das Aufnahmegerät auf tatsächliche Funktion, dann faltete er die Hände und hörte dem Mann, der angab Toni zu sein aufmerksam zu.

„Ich glaub ich bin zu Georg nach Hause gefahren. Zumindest weiß ich, dass ich lange auf Maria in seinem Sessel gewartet habe. Ja, ich hatte es mir im Wohnzimmer bequem gemacht und wartete mit ein oder zwei, vielleicht auch drei Gläsern Whiskey im Blut auf sie. Und als sie dann irgendwann hereinkam, wirkte sie sehr nachdenklich. Ich konnte es durch den Spiegel in der Garderobe sehen, dass sie sich bereits die nächsten Lügen und fadenscheinigen Ausreden ausdachte, um ihren Ehemann – wenn es denn darauf ankäme – dumm sterben zu lassen.

Ah, die Dame von Welt ist wieder zurückgekehrt von ihrer Mission?!, sagte ich aus dem Dunkel des Wohnzimmers direkt in ihre Richtung. Sie zuckte erschrocken zusammen, das gefiel mir. Zumindest hatte ihre Reaktion den Anschein, dass sie wenigsten einen Ansatz eines schlechten Gewissens hatte. Sie antwortete nicht und betrat wortlos das Wohnzimmer. Im Halbdunkel sah ich, dass ihr vor Verblüffung der Mund offen stand.

Hast Du getrunken?, fragte sie vorwurfsvoll und griff nach der halb leeren Flasche, die auf dem Tisch stand. Dann fiel ihr Blick auf den Aschenbecher und meine qualmende Zigarette.

Und du rauchst?! Spinnst du? Ich antwortete ihr nicht, sondern lächelte sie nur an. Dieses Miststück kommt gerade von Ihrer Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchung und echauffiert sich allen Ernstes wegen einer Zigarette und einem Drink? Der Vorteil bei mir ist übrigens, dass mich alle immer mit Georg verwechseln. Manchmal nutze ich das aus, meistens aber nicht. Doch bei ihr entschloss ich, wie auch schon damals auf Pälers Party, die Georg-Rolle weiter zu spielen.

Wie war dein Tag, SCHATZ?, fragte ich sie daher freundlich aber bestimmend.

Was soll das?, war ihre einzige Antwort darauf. Und als ob sie an einer Antwort auf ihre Frage in keiner Weise interessiert wäre, flatterte sie wie ein aufgeregtes Huhn hin und her, wedelte mit den Armen, riss die Fenster auf und stellte den Aschenbecher auf den Balkon. Dann zeterte sie über meine unglaubliche Frechheit die ganze Wohnung mit Zigarettenqualm zu verpesten und fragte mich, warum ich überhaupt Zigaretten hätte, da ich doch schon seit jüngsten Kindertagen Zigaretten und deren Gestank verabscheute. Und wissen Sie was? Das langweilte mich. Das langweilte mich sogar fast zu Tode. Immerhin ist das Georgs Problem, wenn er nicht Manns genug ist, das Rauchen anzufangen.

Liebst du mich noch?, fragte ich sie so plötzlich, dass sie mich ganz erschrocken ansah. Doch statt mir eine Antwort darauf zu geben, schwieg sie.

Ist das für dich in Ordnung, dass ich dir diese Frage stelle?, hakte ich ruhig nach und war auf ihre Antwort sehr gespannt. Kommt dir das nicht merkwürdig vor?

Worauf willst Du hinaus?, fauchte Maria und sah mich wieder mit diesem ganz speziellen Gesichtsausdruck an, den sie auch damals an den Tag legte, als wir auf der Geburtstagsparty bei Päler waren. Es lag wieder dieser Du-Bist-Krank-Ausdruck in ihren Augen. Und ich spürte, dass die Angst ihre Schenkel hochkroch.

„Wenn es wichtig für den weiteren Verlauf Ihrer Aussage ist, würde mich brennend interessieren, was das für eine Party war“, sagte Born neugierig.

„Nein, das ist unwichtig!“ Die Tür flog auf und herein trat Behrenz mit zwei Kaffeebechern in den Händen.

„Hab ich was verpasst?“, fragte er in die Runde. Erntete aber nur beiläufiges Kopfschütteln.

„Erzählen Sie ruhig weiter“, sagte Faßbender. „Was geschah dann am besagten Abend in Ihrem Wohnzimmer?“

„Ich fragte sie schließlich, wie lange das schon mit ihr und Päler laufen würde“, fuhr der Mann, der sich Toni nannte, fort. „Ich hatte sie mit dieser Frage so überrascht, dass sie in ihrer letzten Bewegung inne hielt.

Herrgott Georg, wovon redest du?!, schrie sie schließlich los. Und ich muss zugeben, ich hätte nicht gedacht, dass sie es auf diese Art versuchte, denn natürlich wusste sie sehr wohl, wovon ich redete.

Päler!, half ich ihr auf die Sprünge und rauchte konzentriert weiter. Wie lange treibt ihr es schon miteinander? Sekunden des Schweigens vergingen.

Du bist ja betrunken! Keine Ahnung, was du dir da einbildest, sagte sie mit einer Stimmlage, die mich wohl glaubend machen sollte, dass ich vollkommen auf dem falschen Dampfer bin.

Hör auf dich dumm zu stellen, du kleines Flittchen! Erschrocken starrte sie mich an. Ja, das hatte gesessen.

Wie redest du denn mit mir, Georg? Ich verbitte mir diesen Ton! Für einen kurzen Augenblick dachte ich darüber nach, sie, wie damals auf Pälers Party, noch an Ort und Stelle zu ficken, einfach nur, um sie daran zu erinnern, was es bedeutete, wenn man Grenzen überschritt. Allerdings blieb mir jegliche Form von Erektion verwehrt, was mich nicht sonderlich wunderte. Allein der Gedanke, das Päler seinen Schwanz schon in ihr drin hatte, törnte mich ab. Zudem war Maria auch optisch noch nie mein Fall gewesen – aber wie heißt es so schön, in der Not frisst der Teufel auch Fliegen.“

„Sie schweifen ab Toni…“, unterbrach Born ruhig und faltete die Hände.

„Entschuldigung! Nun, zumindest schien sie zu ahnen, dass dies hier keine der üblichen Unterhaltungen werden würde, bei der sie wieder die Oberhand behielt. Georg zog ja ständig den Schwanz ein, wenn es darauf ankam. Er verzog sich in sein Schneckenhaus, sobald es nach Konfrontation roch. Jetzt war sie es, der es vor lauter Verunsicherung die Sprache verschlug.

Es ist so, Maria, begann ich ruhig. Es ist so, dass es sich nicht schickt, seinen Ehemann zu hintergehen und das schon gar nicht, wenn dieser so loyal und treu ist, dass es fast schon nicht mehr auszuhalten ist. Den Mann, der dich seitdem ihr euch kennengelernt habt auf Händen trägt, dir fast jeden Wunsch von den Augen abliest.

Ich habe dich nicht hintergangen!, sagte sie und das, ohne auch nur ansatzweise mit der Wimper zu zucken.

Hast du nicht? Ich stand langsam auf. Du behauptest also tatsächlich, dass alles in bester Ordnung ist? Weil alles so, wie immer ist? Sie nickte.

Nihil fit sine causa – nichts geschieht ohne Grund, oder?, sagte ich. Wie kann es dann sein, dass du schwanger bist? Sie starrte mich mit großen Augen an. Und in ihren Augen konnte ich lesen, was sich gerade für ein Drama in ihrem Kopf abspielen musste. Das Kartenhaus aus Lügen brach zusammen, die Scheinheilige wurde zur Fadenscheinigen und schließlich zu einem wimmernden Haufen Elend. Sie begann zu weinen und ich stellte mich gedanklich schon darauf ein, dass sie mir gleich das Märchen vom großen Wunder erzählen würde. So Sachen wie, dass sie sich erkundigt hätte und es nie eine einhundertprozentige Zeugungsunfähigkeit geben würde und es immer eine, wenn auch nur geringe Chance bestünde, dass es zur richtigen Zeit am richtigen Ort auch klappt. Aber sie versuchte es erst gar nicht, sondern sagte:

Es tut mir leid, dass du es so erfahren musstest.

Nein, das tut es dir nicht!, habe ich ihr daraufhin geantwortet.

Doch, natürlich tut es mir leid. Ich hätte es dir viel lieber auf einem anderen Wege gesagt. Weißt du Georg, ich habe mir so sehr ein Kind gewünscht. Ich habe über fünf Jahre lang jeden Monat so sehr gehofft, aber es hat nicht geklappt…

Wie bitte? Seit fünf Jahren fickt ihr schon miteinander?, ich sah sie böse an. Dann wurde sie plötzlich wütend und sagte so etwas wie: Du hast sie doch nicht mehr alle! Seit fünf Jahren ficke ich ausschließlich nur mit dir, - um es mal mit deiner plötzlich äußerst vulgären Ausdrucksweise zu sagen! Was ist denn nur in dich gefahren? Du bist krank Georg, sieh es endlich ein. Ich habe jahrelang gehofft, es würde sich etwas ändern. Aber das tut es nicht. Du wirst dich niemals ändern. Nihil fit sine causa - nichts geschieht ohne Grund. Ich habe es lange genug mit dir und deiner krankhaften Eifersucht ausgehalten – es reicht! Dann habe ich in ihre Augen gesehen und die Botschaft, die ich darin lesen konnte, war eindeutig.

Sieh es ein, du bringst es nicht! Du bist und bleibst eben ein Schlappschwanz. Ich werde dich verlassen, um mit Päler zusammen zu sein!

Hätte Sie gewusst, dass die alte Pendeluhr in der Küche ein süßes Geheimnis birgt, dann wäre sie vielleicht mit ihren Gedanken etwas nachsichtiger umgegangen. Wer weiß, vielleicht hätte sie sich erst gar nicht gewagt, sich überhaupt mit Päler einzulassen. Die Pendeluhr hat im unteren Bereich ein kleines Geheimfach. Dort habe ich genau die Waffe platziert, die mir schon vor Jahren sehr gute Dienste erwiesen hat – das kleine unscheinbare Jagdmesser mit großer Wirkung. Und ich musste Georg doch in diesem Moment erst recht verteidigen, er wäre sonst wieder nur auf sie reingefallen. Ihre Worte und ihre hinterfotzigen Gedanken waren eine scharfe Waffe. Ich musste sie unbedingt zum Schweigen bringen. Ihre verdammte Zunge sollte ihr im Halse stecken und ihre Lippen für immer geschlossen bleiben.

Du bist und bleibst eben ein Schlappschwanz. Ich werde dich verlassen!

Und wissen Sie was? Ich habe ihr daraufhin ohne weitere Vorwarnung die Kehle durchgeschnitten. Dabei hat die kleine Schlampe mich noch gekratzt. Ein kleiner Schnitt für Toni, ein große Erleichterung für Georg – er weiß es nur noch nicht, wie sehr ich ihn damit erleichtert habe. Ich habe ihr im Anschluss so lange beim Sterben zugesehen, bis ich mir sicher sein konnte, dass aus ihrem Mund keine Lügen und keine scharfen Worte mehr kommen würden. Ich habe es für Georg getan. Der arme Kerl wäre ihr sonst bis in alle Ewigkeit hinterhergelaufen und hätte sich lächerlich gemacht.“ Georg, der immer noch Toni war, lehnte sich zurück und lächelte.

„Jetzt ist sie da, wo sie hingehört – in der Hölle!“ Die Beamten sahen sich fragend an. Es war Behrenz der schließlich das Wort ergriff. Er beugte sich nach vorne sah dem Mörder ins Gesicht, und sagte: „Mit so einem perfekten Geständnis hätte ich nicht gerechnet, Herr Blumenfeld. Das macht es für uns einfacher, Sie für immer hinter Gitter zu bringen. Erzählen Sie uns doch auch bitte, was Sie danach gemacht haben.“

„Danach? Oh, da muss ich überlegen. Manchmal, wenn Georg urplötzlich mitmischt, dann fällt es mir schwer, mich an Dinge zu erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich mir danach sehr viel Zeit für Sie genommen habe.“

„Sie haben Sie ausgeweidet wie ein Tier!“, sagte Behrenz abfällig. „Eine schwangere Frau! Sie sind so ein abartiges, krankes Schwein, Blumenfeld!“

„Kann ich noch eine Zigarette haben?“

„Nein! Von mir kriegen Sie gar nichts mehr!“

„Halt die Klappe, Behrenz!“, zischte Born. „Er ist geständig! Mach es jetzt nicht kaputt durch persönliche Befindlichkeiten!“ Born schob dem Geständigen bereitwillig eine Zigarette aus Behrenzs Schachtel hin und lieferte das Feuerzeug dazu. Der Mann strahlte vor Dankbarkeit. Während er sich diese Zigarette anzündete, forderte Faßbender ihn auf weiter zu erzählen, was er auch tat – und das offenbar sogar gerne. Als würden die Herren sich an einem Stammtisch mit viel Gesprächsstoff befinden, hielt er weiter seine Rede des Schreckens.

„Ja, Sie haben recht, es machte mir sehr viel Spaß Maria wie eine Weihnachtsgans auszunehmen, ihr die Falschheit aus dem Leib zu reißen und sie ohne Umwege in den Biomüll zu entsorgen.“ Behrenz war entsetzt. Und auch wenn er – wie Born - schon seit über zwanzig Jahre im Dienst war, konnte er sich einfach nicht an diese Form von schrecklicher Gewalt gewöhnen. Im Gegenteil. Er hatte das Gefühl, als ob mit wachsendem Alter und mit jedem weiteren Fall seine ursprüngliche Abgestumpftheit sich in Luft auflöste und stattdessen die Abneigung gegen die Menschen steigen würde. Es war, als würde die tägliche Arbeit mit dem Bösen mittlerweile auf ihn abfärben. Und er wagte die Frage: Wie ging es weiter? Eigentlich gar nicht zu stellen, tat es aber dennoch.

„Nun, da ich Georg nicht unnötig in Schwierigkeiten bringen wollte – und die hätte er bekommen, wenn ich Maria auf dem Wohnzimmerboden liegen gelassen hätte – musste ich sie doch fachgerecht entsorgen. Ich hatte aufgeschnappt, dass gleich am nächsten Tag große Mengen Beton für die Tiefgarage geliefert werden sollten. Und ich wusste, dass dort an den für die Schalung vorbereiteten Stellen, die ein oder andere Möglichkeit bestünde, unauffällig eine Leiche verschwinden zu lassen. Zusätzlich dachte ich mir, es wäre doch eine gute Idee, wenn Päler am nächsten Morgen auch an gleicher Stelle eine eindeutige Botschaft erhält. Ich besorgte mir also einen Pinsel und Eimer…“

„Das ist krank. Absolut krank!“, stöhnte Behrenz und fuhr sich nervös über seine Glatze.

„Wenn Sie das sagen“, sagte der Mörder und zog gelangweilt an seiner Zigarette.

„Jedenfalls bin ich noch in der gleichen Nacht zur Baustelle. Allerdings stürmte es zu diesem Zeitpunkt schon so extrem, dass ich mir schon dachte, dass die Betonarbeiten am nächsten Tag nicht stattfinden würden. Die Nummer wurde mir zu heiß, zumal der Sicherheitsdienst mir in die Quere kam. Ich hatte gerade diesen dämlichen Spruch des Tages Nihil Fuck sine causa - das sollten auch Sie sich hinter die Ohren schreiben, meine Herren - an die Wand gepinselt und wollte gerade Eimer und Pinsel verschwinden lassen, als ich plötzlich sah, wie ein Typ sich an meinem Auto zu schaffen machte. Georg kannte den Mann vom Sicherheitsdienst wohl flüchtig, der sich gerade das Kennzeichen notierte und mit seiner Riesentaschenlampe immer wieder in das Auto hineinleuchtete. Ich hoffte, dass Maria keine Flecken auf dem Kofferraumrand hinterlassen hatte – ich hatte es zumindest nicht überprüft. Aber er verlor irgendwann das Interesse an dem Wagen und behielt ihn nur beiläufig im Auge. Ich habe ihm später einen Fünfziger zugesteckt und ihm gesagt, dass ich nur zum Schein an der Baustelle geparkt hätte. Ich erzählte ihm das Märchen von einem Besuch im Bordell, das sich im benachbarten Block befand. Er schluckte diese Story und freute sich über die Fünfzig Euro eben so viel, wie über die Tatsache, das einer der Oberbaufuzzies, ihm, dem kleinen Wicht aus der Ukraine, so viel Vertrauen schenkte.“

„Und dann?“ Der Mann sah Born fragend an.

„Was meinen Sie?“

„Ja, was haben Sie danach getan?“ Er zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung! Fragen Sie doch Georg, diesen feigen Hund. Der hatte sich im Anschluss wieder eingemischt. Ich hab sie aus dem Kofferraum nicht wieder rausgeholt.

„Was war mit Päler?“ Born fuhr sich mit seinem Kugelschreiber nachdenklich über die Lippen.

„Päler? Ja, ich erinnere mich. Wir waren am nächsten Tag auf der Baustelle. Päler hatte seine Klappe wieder auf Durchzug stehen und ließ ununterbrochen seine Scheiße ab. Die Botschaft an der Wand schien ihn allerdings nicht sonderlich zu interessieren, im Gegensatz zu Georg, der diese Schmiererei sehr persönlich nahm, wie ich später feststellte. Irgendwann schleuderte Päler sein Feuerzeug weg. Ich dachte, dieses Feuerzeug sei sehr interessant und habe dafür gesorgt, dass Georg es auch in Augenschein nimmt. Es war ein sehr schönes Feuerzeug. Ein Werbegeschenk von der Pension ZUM ALTEN JAGDHAUS, eben genau der Laden, von dem Maria eine Broschüre in ihrem Atelier liegen hatte. Also ein weiterer Beweis für ihre Untreue und ein weiterer Nagel zu Georgs Sarg. Irgendwann war dann der Moment, an dem wir alleine waren. Päler schien nervös. Es war, als hätte er geahnt, dass der Schleier gefallen und auch Georg so langsam sein fadenscheiniges Getue durchschaut hatte. Und es war auch Georg, der sich plötzlich mutig fühlte und Päler tatsächlich die Frage stellte, was da zwischen ihm und seiner Frau lief. Doch Joachim ignorierte ihn und haute ab. Das machte Georg wütend, sehr wütend. Aber ich war es schließlich, der ihm folgte. Joachim telefonierte oder zumindest versuchte er jemanden zu erreichen, von dem er schon lange nichts mehr gehört haben musste.

Maria, wenn du das hier abhörst, ruf mich bitte sofort an. Irgendetwas stimmt mit Georg nicht. Ich habe ein ungutes Gefühl. Hast du schon mit ihm gesprochen? Ich bin daraufhin aus meinem Versteck aufgetaucht und sagte:

Nein, hat sie nicht! Er fuhr erschrocken herum und starrte mich mit seinen großen, verlogenen Päler-Augen an.

Oh, Georg, ich habe dich ja gar nicht gehört.

In unmittelbarer Nähe war der Fahrstuhlschacht. Ich habe hineingesehen. Es wäre nicht nur der tiefe Fall, der den vermutlich sicheren Tod bringen würde, sondern auch die zahlreichen Stahlstreben und massiven Eisenelemente, die unten am Grund noch aus dem Stahlbeton ragten. Ja, ich weiß, kein schöner Tod. Die Idee dazu lieferte mir übrigens Georg selbst. Er hatte nämlich eine hundertstel Sekunde darüber nachgedacht, ihn genau dort hinunterzustoßen, aber er war zu feige. Georg ist so ein erbärmliches Weichei. Er hat keine Eier in der Hose, die ihn hätten dazu bringen können, eine Konsequenz aus dem zu ziehen, was Päler und seine Frau miteinander getrieben hatten.

Geht man so mit seinem besten Freund um, Joachim?, sagte ich und trat langsam auf ihn zu.

Georg, ich weiß nicht, wovon du redest?, sagte er und ich konnte seine Angst förmlich riechen. Allerdings ging er davon aus, dass von Georg nicht wirklich viel zu erwarten war. Immerhin kannten sie sich schon viele Jahre und egal was Päler auch tat und wie sehr es Georg auch missfiel, er hätte einen Tadel niemals über die Lippen gebracht. Aber auch er wusste nicht, dass er mich, Toni, vor sich stehen hatte. Umso irritierter war er, als ich ihm das Handy aus der Hand riss, es an mein Ohr hielt und ein entspanntes „Ach ja, was Päler noch sagen wollte, SCHATZ! Wir sehen uns in der Hölle!“ auf den Anrufbeantworter brüllte. Joachim fauchte mich daraufhin an, ich sollte den Quatsch lassen und ihm sein Handy geben.

Warum fickst du die Frau deines besten Freundes, Joachim? Und machst ihr auch noch ein Kind? Geht man so mit Freunden um? Und Sie werden es nicht glauben, diese Drecksau hat alles geleugnet. Selbst als ich ihm sagte, dass ich sie bereits auf der Feier beim Rummachen gesehen habe, wollte er nicht mit der Wahrheit rausrücken. Im Gegenteil, er wollte mich für dumm verkaufen und fing an mir so Dinge an den Kopf zu werfen, dass ich dringend Hilfe bräuchte bei meinen Wahnvorstellungen und so ein Zeugs. Aber es war egal. Im Grunde genommen stand er fast genau da, wo ich ihn haben wollte. In direkter Nähe zum Fahrstuhlschacht.

Georg, ich bitte dich, beruhige dich! Es wird sich alles aufklären. Klar würde sich alles aufklären. Und ich war für ein klärendes Gespräch bereit. Ich zog mein Jagdmesser aus der Tasche, übrigens ein Erbstück von Georgs Vater, dass ich, nachdem ich mit Maria fertig war, eingesteckt hatte.

Georg, was tust du da? Es war nur eine kurz gezielte Handbewegung, die ich ausführen musste, damit auch Joachims Kehle auseinanderklaffte, wie eine geplatzte Bratwurst auf dem Grill. Er röchelte, taumelte und starrte mich ungläubig an. Er schwankte auf mich zu und war im Begriff meinen Mantel zu versauen. Ich stieß ihn weg und er kam schon dabei dem Abgrund gefährlich nahe. Aber das reichte mir nicht, ich wollte ihn dort unten sehen. Wenn ich ihn schon nicht hier an Ort und Stelle auseinandernehmen konnte, weil durch den Sturm einfach zu viel los war auf der Baustelle, dann wollte ich wenigstens, dass sich die Eisenstangen des Schachtes liebevoll in seinen Körper bohrten. Nie wieder sollte dieser Mensch Georg an der Nase herumführen, ihn belügen und betrügen – nie wieder! Ich habe gehört, wie er unten aufprallte – und es war ein sehr schönes Geräusch.“ Georg, aus dessen Mund Toni sprach, grinste.

„Also, wenn ihr mich fragt, ich habe genug von diesem Spinner“, knurrte Behrenz abfällig und stand auf. „Ich denke, das Geständnis für den Doppelmord reicht, um ihn für immer hinter Gitter zu bringen.“ Plötzlich entspannte sich das Gesicht des Mannes, der bis gerade eben noch behauptete Toni zu sein, doch es verkrampfte sich in dem Augenblick erneut, als ein Hustenanfall den Körper durchschüttelte. Georg warf angewidert die Zigarette in den Aschenbecher und wischte sich empört mit dem Handrücken über den Mund.

„Was soll das! Ich bin Nichtraucher! Warum stecken Sie mir eine Zigarette in den Mund? Ich werde mich über Sie beschweren. Ich bin zwar verhaftet, aber auch ich habe Rechte!“

„Was reden Sie denn da für einen Mist? Sie haben doch vorhin gesagt, dass Sie …“, weiter kam Behrenz nicht. Faßbender würgte ihn mit einer Handbewegung ab und fragte stattdessen: „Georg, sind Sie das?“

„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Natürlich bin ich Georg. Georg Blumenfeld, geboren am 13.08.73 in Köln, wohnhaft in der Wiesenstraße 13, in Bad Hönningen. Seit fünf Jahren verheiratet mit Maria Blumenfeld, die Frau meines Lebens - leider keine Kinder.“ Faßbender gab seinen beiden Kollegen das Zeichen eine Verhörpause einzulegen. Georg erklärte er behutsam: „Herr Blumenfeld, bitte entschuldigen Sie uns einen Augenblick. Wir sind gleich wieder bei Ihnen. Sie können sich derweilen ja noch mal ihre Zeit im Jagdhaus in Erinnerung rufen. Da hätte ich gleich noch ein, zwei Fragen an Sie. Born sah Faßbender irritiert an. Er hatte noch Fragen an den Kerl wegen des Jagdhauses? Das war doch laut Arzt ohnehin alles nur ein Hirngespinst? Der Kriminalpsychologe schob ihn mit einem Blick nach draußen, der wohl so viel bedeuten, sollte wie „Erkläre ich Ihnen gleich“. Das reichte Born, um sich zu gedulden. Auch Behrenz folgte ihnen seufzend in den Nebenraum, wo frischer Kaffee, eine Packung Kekse und weitere neugierige Ermittler auf sie warteten. Sie setzen sich und schoben ihr gesammeltes Material, inklusive Beweisstücke zusammen.

„Geständnis hin oder her, der Typ verarscht uns doch von vorne bis hinten“, donnerte Behrenz verärgert in den Raum und warf die Tüte mit dem Messer ebenfalls auf den Haufen.

„Wie ist Ihre Einschätzung, was Blumenfeld betrifft?“, fragte Born den Kriminalpsychologen, während sie Georg durch die Scheibe beobachteten.

„Ich befürchte, meine Herren, er kann uns nicht verarschen. Ein Mensch, der sich in einem solchen Zustand befindet, ist nahezu nicht in der Lage sich eine Lüge auszudenken. Eine endgültige Diagnose kann ich hier zwischen Tür und Angel natürlich nicht stellen, aber allem Anschein nach leidet Herr Blumenfeld unter einer sogenannten dissoziativen Identitätsstörung - auch multiple Persönlichkeitsstörung genannt. Ist Ihnen das ein Begriff?“ Born nickte nachdenklich.

„Mit anderen Worten, er hat mächtig einen an der Klatsche?“, knurrte Behrenz und schob sich einen Keks in den Mund. „Das wurde mir in dem Augenblick klar, als ich seine ausgeweidete Frau im Kofferraum hab liegen sehen.“

„Wenn Sie es so nennen wollen – ja, er hat einen an der Klatsche. Ich ziehe es allerdings vor, diese Menschen nicht so zu betiteln, sondern sie darin einzustufen, was ihr Problem ist. Und Herr Blumenfeld hat ein Problem mit seiner zweiten Persönlichkeit.“

„Toni?!“, sagte Born. Faßbender nickte.

„In Situationen höchster Anspannung, wie Angst, Stress, Trauer oder auch Wut, spaltet sich die Persönlichkeit, da die erlebte Wirklichkeit für Herrn Blumenfeld einfach unerträglich wird. Toni scheint für ihn ein persönlicher Beschützer, eine Art Leibgarde zu sein.“

„Das heißt, also im Klartext, sobald es ungemütlich wird, verzieht sich Georg Blumenfeld und haut stattdessen als Toni auf die Kacke?“ Behrenz schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ich weiß nicht, was ich von diesem ganzen Psychozeugs halten soll. Nicht dass dies nur wieder eine der üblichen Maschen ist, sich aus der Verantwortung zu ziehen. Sie wissen schon, von wegen Schuldunfähigkeit und dieser ganze Kram.“ Faßbender verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah Behrenz aufmerksam an.

„Nun, in vielen Fällen wird auf Schuldunfähigkeit plädiert, was allerdings meistens von den Anwälten eingefädelt wird. In diesem Fall mutmaße ich allerdings, dass der Täter tatsächlich nicht weiß, dass er den Mörder in sich trägt. Auch ich habe in den letzten Tagen viel recherchiert und mich auf diesen Fall vorbereitet. Sein Lebenslauf ist ungewöhnlich, einschlägig, prägend und traumatisierend. Sie haben ja selbst gelesen, was er in jungen Jahren schon alles erlebt hat. Demnach scheint Herr Blumenfeld, in der Regel ein sehr ruhiger, introvertierter, emotionaler und vielleicht auch sehr schwacher Mann zu sein. Die Wurzeln hierfür liegen ganz klar in der Kindheit. Ständige Demütigungen und Abwertung, Missachtungen, Misshandlungen, seelischer und geistiger Natur. Er hat in dieser Zeit einen Weg gefunden, das Leben zu ertragen. Möglicherweise auch damals schon durch Verdrängung. Besonders Kinder haben einen Mechanismus im Gehirn, der bei schrecklichen Erlebnissen in Gang gesetzt wird. Das Geschehene wird einfach ausgeblendet und somit vergessen. Eine automatisierte Amnesie. Manche hören auch auf, zu sprechen. Vielleicht hat Georg den Tod seiner Mutter nicht verarbeiten können. Hier hat ein Mechanismus eingesetzt, der das Sprachzentrum betraf. Eine Selbstschutzfunktion. Die Therapie hat ihm die Sprache wiedergegeben. Allerdings blieb bei dieser Behandlung Toni verborgen. Vielleicht, weil sein Leben im Heim einfach deutlich besser war, als die Zeit bei seiner Mutter und bei seinem Vater? Und Toni somit keinen Grund hatte einzuschreiten? Im Übrigen habe ich mir auch seine komplette Aussage zu seinen Erlebnissen in diesem Jagdhaus, inklusive der Anzeige angesehen, die er erstattet hat.“

„Stimmt, er hat tatsächlich diesen Toni angezeigt“, sagte Born.

„Was interessiert das noch? Er hat gestanden“, motzte Behrenz und machte seinem Unmut Luft. „Eigentlich könnte man ihn abführen lassen, der Fall ist geklärt.“

„Theoretisch schon“, sagte Faßbender. „Aber ich glaube, wir sind noch nicht durch. Sie wissen über seine Erlebnisse in diesem imaginären Jagdhaus Bescheid?“ Born und Behrenz nickten.

„Allerdings haben wir das als Halluzination aufgrund seiner Verletzungen abgestempelt, also nicht wirklich ernst genommen“, sagte Born. „Und das, obwohl er uns den Ort und die Geschehnisse so glaubwürdig und lebendig erzählt, dass ich jetzt noch das Knurren der Hunde im Ohr und die Bilder von Jagdtrophäen im Kopf habe. Ich war schon sehr beeindruckt, dass man sich so etwas aus dem Stegreif einfach so ausdenken kann.“

„Das hat er sich ja auch nicht ausgedacht“, fiel Faßbender ein. „Im Rahmen einer tiefen Bewusstlosigkeit, in einem komatösen Zustand oder gar aufgrund einer Nahtoderfahrung haben wir schon die kuriosesten Geschichten gehört. Oft erzählen die Menschen im Anschluss sogar, dass sie Kontakt mit einer verstorbenen Person oder gar mit Jesus oder Gott hatten. In Blumenfelds Fall glaube ich eher an den systematischen Versuch seines Unterbewusstseins einmal mächtig aufzuräumen, sowohl in seinem Oberstübchen als auch in den tiefsten Sphären seiner Seele. Daher halte ich das Erlebte von Georg Blumenfeld für gar nicht so unwahrscheinlich. Er war tatsächlich in diesem Haus und hat all diese Dinge erlebt – allerdings nur in seinem Kopf. Er begegnete in diesem Haus nicht nur seiner zweiten Persönlichkeit, sondern auch all den Menschen, zu denen er eine spezielle emotionale Beziehung hegte. Er stieg in den Keller und somit auch in den tiefsten Abgrund seiner Seele. Und da ist jetzt der Punkt, wo ich als Kriminalpsychologe sage: Hier sollten wir genauer hinsehen.“

„Wir haben zwei Leichen und zwei Geständnisse – warum sollten wir genauer hinsehen?“

„Mit diesem alarmierenden Krankheitsbild fällt es mir schwer zu glauben, dass es nur zwei Leichen sind.“

„Sie meinen…?“ Faßbender nickte.

„Ja, ich kann mir vorstellen, dass Toni noch mehr auf dem Kerbholz hat. Sie wissen, wie der Vater umgekommen ist? Wer sagt uns, dass er nicht auch etwas mit dem Tod der Mutter zu tun hat?“ Die beiden Beamten nickten nachdenklich.

„Sie haben recht“, sagte Born schließlich. „Wir sollten auf jeden Fall weiter ermitteln. Und wir sollten auch versuchen herauszufinden, wer diese Larissa ist. Vielleicht finden wir ja irgendeine Verbindung. Die Akte der SOKO WAIDMANN müsste jeden Augenblick ankommen. Der leitende Ermittler von damals, Eduard Volkmann, bringt sie gleich persönlich vorbei. Der alte Haudegen will sich ebenfalls ein Bild von Blumenfeld machen, eben von dem Mann, der ihn seit über 30 Jahren an der Nase herumgeführt haben könnte.“

„Ja, und wir werden auch noch mal die Handys von Maria Blumenfeld und Joachim Päler checken lassen“, sagte Behrenz. „Wenn er wirklich, so wie Toni sagt, auf die Mailbox von Päler gequatscht hat, dann würde dies ebenfalls als Beweis gegen ihn verwendet werden können.“

 

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Etwa eine Stunde später betraten vier Männer erneut den Verhörraum. Born, Behrenz, Faßbender und Kommissar Volkmann von der Kripo Köln, leitender Ermittler der Sonderkommission WEIDMANN, die 1985 ins Leben gerufen wurde. Der Mann, der in diesem Augenblick nicht durchblicken ließ, wer er war - Toni oder Georg - sah die vier Männer fragend an.

„Was wollen Sie denn noch von mir?“, fragte er schließlich weinerlich.

„Kennen Sie eine Larissa Sydow – auch genannt Lissa?“

Kommissar Volkmanns barscher Ton ließ den Mann zusammenzucken.

„Larissa Sydow?“ Er schien scharf nachzudenken und blieb an einer Erinnerung hängen.

„Ja, ich habe mal eine Lissa kennengelernt, das ist allerdings schon viele Jahre her. Ich habe sie zuletzt in meiner Studienzeit gesehen. Warum fragen Sie mich das? Wer sind Sie überhaupt.“

„Mein Name ist Eduard Volkmann, ich war damals der leitende Kommissar, der im Mordfall Ihres Vaters ermittelt hat. Wir sind uns schon einmal begegnet, allerdings waren Sie damals erst zehn Jahre alt und wollten mit niemand sprechen oder konnten es nicht. Ich weiß noch heute, wie wir Sie damals am Tage des schrecklichen Mordes an Ihrem Vater aufgefunden haben. Sie trugen einen gelben Regenmantel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, auf den Knien ihrer Jeans waren Mickey Mouse Flicken. Sie haben etwa zwanzig Meter neben der Leiche Ihres Vaters gesessen und das Lied Fuchs du hast die Gans gestohlen gesummt. Und Sie haben kein Wort gesprochen. Das Bild habe ich bis heute noch im Kopf. Und jetzt sehe ich Sie nach all diesen Jahren unter diesen Umständen wieder. Larissa Sydow ist tot. Sie wurde 1991 nach einer Party auf die gleiche unmenschliche Art und Weise ermordet, wie Ihr Vater. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Fall? Immerhin hatte er damals, auch auf ihrer Universität für mächtig viel Aufregung und Wirbel gesorgt.“

„Nein, ich erinnere mich nicht“, sagte der Mann und seine Stimme klang verzweifelt. „Lissa, tot? Ich kann das gar nicht glauben. Ihre Haare haben so nach Erdbeeren geduftet…“ Born beugte sich unauffällig zu Faßbender und flüsterte:

„Wir brauchen hierfür Toni, nicht wahr?“ Faßbender nickte.

„Aber wie kriegen wir ihn?“

Faßbender nickte zu Behrenz und sagte dann:

„Er soll Blumenfeld mit den Worten provozieren, die ihn dazu gebracht haben seine Frau zu ermorden.“ Born warf dem Kriminalpsychologen einen skeptischen Blick zu, zog aber dann Behrenz zur Seite und weihte ihn in ihren Plan ein.

„Sie können sich nicht daran erinnern? Oder wollen Sie sich nicht daran erinnern?“, Volkmanns Stimme klang bedrohlich. Georg sah Volkmann traurig an. Dann vergrub er sein Gesicht und fing an zu schluchzen. Sein ganzer Körper bebte, als er schließlich den Kopf wieder hob und mit tränenerstickter Stimme sagte: „Ich weiß überhaupt nichts mehr. Ich weiß nicht, wo meine Frau ist, in meinem Kopf ist alles so durcheinander. So viele Fragen, so viele Bilder – bitte, lassen Sie mich einfach in Ruhe!“

„Du bist so ein erbärmlicher Schlappschwanz, Georg!“, unterbrach ihn Behrenz und donnerte seine Faust vor ihm auf den Tisch. „Du bringst es einfach nicht, weil du kein richtiger Mann bist. Kein Wunder, dass deine Frau dich betrogen hat!“ Der Mann, der abrupt aufgehört hatte zu weinen, sprang so plötzlich auf, dass der Stuhl nach hinten kippte und mit einem lauten Krachen zu Boden fiel. Er sah Behrenz aus zwei Augenschlitzen böse an.

„Sag das noch mal, du fette Sau und ich mach dich kalt! Lass Georg in Ruhe!“ Born und Volkmann sprangen erschrocken auf. Der Plan war offensichtlich aufgegangen. Georg, der nun wieder Toni war, stierte Behrenz böse und zum Kampf bereit an, doch die Beamten wussten, dass er allein durch seine körperliche Verfassung nicht imstande war, ihm ernsthaften Schaden zuzufügen. So schnell, wie Georg aufgesprungen war, so schnell wollte er sich auch wieder setzen.

„Toni – wie schön Sie wieder zu sehen!“, sagte Faßbender und lächelte. Dann nickte er Volkmann zu und sagte: „Fragen Sie ihn noch mal nach Larissa Sydow. Ich bin mir sicher, er wird Ihnen Rede und Antwort stehen.“

„Das ist doch vollkommen verrückt“, flüsterte er und stellte dann seine Frage noch einmal. „Was haben Sie mit Larissa Sydow gemacht?“ Und dann erzählte Georg, aus dessen Mund nun wieder Toni sprach, die ganze Geschichte. Wie sie Georg an diesem besagten Partyabend in ein Zimmer lockte, wie sie ihn im Auftrag von Päler verführen und entjungfern wollte und wie sie ihn, nachdem ihr das nicht gelang, vor der ganzen Partygesellschaft demütigte.

Der kleine Georg sucht dringend nach einer Erektion, wer sie findet, darf ihn gerne behalten, hatte sie laut in den Raum gerufen. Als er von dem brutalen Mord an Larissa Sydow berichtete, ließ er kein Detail aus. Es schien als würde sein Gemüt von heller Freude durchflutet. Bereitwillig erinnerte er sich bei der Gelegenheit auch an seine weiteren Heldentaten, die er für den schwachen Georg ausgeführt hatte. Die Liste der Namen die Toni dabei nannte, wollte gar nicht mehr enden.

„Und? Ist er Ihr Waidmann?“, Faßbender sah Volkmann fragend an. Dieser lehnte sich lächelnd zurück und antwortete erleichtert:

„Unglaublich aber er scheint es tatsächlich zu sein. Und falls wir weitere Beweise und Geständnisse aus ihm herauskitzeln können, dann können wir tatsächlich die Akte eines lang gesuchten Serienkillers schließen.“

„Serienkiller?“ Volkmann nickte.

„Die SOKO WAIDMANN umfasst über zehn ungeklärte Mordfälle mit Ausweidung innerhalb der letzten 30 Jahre.“ Behrenz verschränkte zufrieden die Hände hinter seinem Kopf und lächelte.

„Das nenne ich mal einen Ermittlungserfolg! Endlich ein Psychopath weniger auf dieser Welt.“

„Nun stellt sich mir noch eine entscheidende Frage“, überlegte Born halblaut. „Eben das Stück, was noch fehlt, um dieses Jagdhaus-Puzzle zu vervollständigen. Wer zum Teufel ist Hinkebein? Also Alois? Wo ist hier die Verbindung?“ Faßbender zuckte mit den Schultern.

„Ich habe keine Ahnung, aber ich denke, auch das werden wir noch herausfinden.“ Erwartungsvoll richteten alle ihre Augen auf Toni, der mit verschränkten Armen und finsterer Miene an einer weiteren Zigarette zog, die Behrenz ihm, auf Faßbenders Bitten hin, missmutig hingeworfen hatte.

„Was ist mit Hinkebein?“, fragte Behrenz.

„Hinkebein? Was ist das für ein Name? Wollen Sie mich verarschen? Ich kenne keinen Hinkebein!“

„Georg hat den Namen Alois verwendet, er schien im Jagdhaus die Rolle des Dieners übernommen zu haben. Er hinkt.“

„Ich habe keine Ahnung, von wem Sie reden, aber wenn Sie wissen wollen, ob ich auch einen Alois um die Ecke gebracht habe… nein!“ Die Beamten sahen sich fragend an.

„Er kann in diesem Zustand nicht lügen – er sagt somit die Wahrheit“, erinnerte Faßbender. „Toni kennt tatsächlich keinen Hinkebein.“

 

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„Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Born. Faßbender blickte durch die Scheibe und sah, wie Georg ins Leere starrte.

„Fakt ist, er gehört in die Psychiatrie, nicht in ein Gefängnis.“

„Apropos“, sagte Born mit bedrückender Stimme. „Sollten wir Blumenfeld noch den Anruf seiner Frau auf Pälers Mailbox vorspielen? Ich finde, das sollte er wissen.“

„Was ist mit dem Anruf?“, fragte Faßbender neugierig.

„Nachdem wir mehr oder weniger von Toni erfahren haben, dass hier das offensichtliche Motiv Eifersucht ist, also dass der Verdacht besteht, dass Päler mit Frau Blumenfeld ein Verhältnis hat, in dem auch ein Kind entstanden sein soll, haben wir die Handys checken lassen. Wir dachten das Motiv könne anhand der Handydaten bestätigt werden.“

„Und?“

„Das sollten Sie sich besser selbst einmal anhören.“

Er setzte sich an den Computer, suchte die Dateien und spielte die erste Aufnahme ab:

 

Hey Joachim, ich war gerade beim Arzt. Dem Baby geht es sehr gut. Ich habe das Herz schlagen hören und musste vor Glück weinen. Ich wollte es Georg eigentlich schon heute Morgen sagen, doch er war so komisch drauf. Er fängt an, mir Angst zu machen. Ich glaube er denkt schon wieder, wir hätten was miteinander! Dieser verrückte Kerl! Wie kommt er nur auf so einen Blödsinn?! Es wird echt Zeit, dass er die Therapie anfängt! Pass gut auf meinen Mann auf, damit der Sturm ihn nicht wegfegt – ich brauche ihn nämlich noch.

Tschüss!

 

Hi Joachim, ich bin es noch mal. Danke für das Prospekt mit dem Jagdhaus im Ahrtal. Ich denke, wenn Georg und ich dort ein Wochenende verbringen, können wir uns richtig aussprechen. Dann werde ich ihm auch sagen, dass ich es für besser halte, wenn er sich eine Auszeit nimmt und wieder richtig zu sich findet, damit er auch voll und ganz für sein Baby da sein kann.

Danke für Deine Freundschaft!

 

 

ENDE

 

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Epilog

Es war im Sommer 1998. Sein ehemaliger Schul- und Heimfreund Heiko Becker hatte ihn für ein paar Tage eingeladen. Sie besuchten sich regelmäßig alle zwei Jahre.

Er hatte sich für die Zugfahrt von Köln nach Hamburg einige Zeitschriften und ein Asterix-Comic eingepackt – nur für den Fall, dass ihm langweilig wurde. Doch ihm wurde keineswegs langweilig. Auf halber Strecke stieg ein alter Mann zu und betrat das Abteil mit finsterer Miene. Der Mann war auffallend gehbehindert und hinkte. Er zog seinen Koffer schwerfällig in das Abteil und begann sich dort für die Fahrt einzurichten. Georg beobachtete ihn dabei mit sorgfältiger Unauffälligkeit. Ächzend versuchte der Alte schließlich seinen Koffer kopfüber, in das für Gepäck vorhergesehene Fach zu stülpen. Eine Situation, die Georg dazu brachte, dem Mann bereitwillig zu helfen. Er verstaute den Koffer mit einem Handgriff an vorgesehener Stelle und erntete dafür unerwartet Lob und Anerkennung.

„Sehr freundlich, danke. Seit man mir 1945 das Bein abgenommen hat, bin ich leider nicht mehr so agil und frisch, wie damals. Es war eine MK2, eine der neusten Granaten der Alliierten, da war nichts mehr zu machen. Die Scheißdinger reißen alles in Stücke. Mein Name ist übrigens Dr. Alois Herzog.“ Er reichte Georg höflich die Hand. Georg erwiderte den Händedruck.

„Georg Blumenfeld!“

„Blumenfeld?“ Er starrte Georg mit skeptischem Blick an. „Sind Sie Jude?“ Er spürte die Schärfe in dieser Frage und auch, dass sein gegenüber nur eine Antwort darauf akzeptierte. Georg sah ihn verständnislos an, schüttelte aber dann mit dem Kopf. Das schien den Alten zu beruhigen. Herzog setzte sich zufrieden auf den Platz gegenüber und musterte ihn neugierig.

Georg spürte seine eindringlichen Blicke, blätterte aber weiter in seiner Zeitung und versuchte sich auf den Inhalt zu konzentrieren. Doch er spürte auch nach Minuten, dass der Alte ihn unaufhörlich anstarrte. Das irritierte ihn. Irgendwann faltete er die Zeitung zusammen, legte sie beiseite und sah aus dem Fenster.

„Hat Sie der Artikel über einen möglichen Frieden in Jerusalem etwa nicht interessiert?“, fragte der Alte und deutete auf die Zeitung. Georg sah ihn an und lächelte.

„Ich hab den Artikel bereits gelesen. Wenn es einen wirklichen Frieden im Nahen Osten geben könnte, dann wäre das großartig.“

„Toll?! Ich wäre da an Ihrer Stelle nicht so euphorisch. Ich habe schon genug von denen kennengelernt. Ich kann Ihnen aus erster Hand sagen, dass die Juden ein ganz dreckiges und verlogenes Volk sind. Die werden sich niemals ändern!“ Georg starrte ihn fassungslos an. Er hatte zwar gemerkt, dass er scheinbar an einen ewig gestrigen des vergangenen Nazideutschland geraten war, hatte aber nicht gedacht, dass er auch ein scheinbar großes Interesse daran hatte, seine Meinung offen kundzutun.

„Ich finde, besonders wir Deutschen sollten dieses Thema sensibel behandeln“, antwortete Georg ruhig und sah wieder aus dem Fenster. „Schließlich haben wir viel Tod und Leid über dieses Volk gebracht.“ Der Mann, der Dr. Alois Herzog hieß und von Georg stumm HINKEBEIN getauft wurde, sah Georg mit einem Gesichtsausdruck an, der nahezu an Entsetzen erinnerte.

„Haben Sie eigentlich gedient, junger Mann?“, fragte er scharf. Georg schüttelte den Kopf. „Nein, ich war nicht bei der Bundeswehr, wenn Sie das meinen. Ich war Student und wurde vom Wehrdienst befreit.“

„Aha, ein Drückeberger?“

„Wenn Sie es so nennen wollen? Aber warum fragen Sie mich das?“ Der Alte seufzte.

„Ich empfinde es immer wieder als eine bodenlose Frechheit, wie der heutige Deutsche sich so erbärmlich zum Affen der Nation macht. Demütig kriecht er zu Kreuze und vergisst, welch stolzes Blut in unseren Adern fließt. Früher, junger Mann, früher war nicht alles schlecht, im Gegenteil. Ich kann sogar mit Stolz sagen, dass ich ganz vorne in der Liga mitgespielt habe.“

„Ganz vorne in der Liga?“, fragte Georg und spürte, wie ihn plötzlich die Neugierde packte. Er hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt kaum für die schreckliche Geschichte Deutschlands interessiert. In der Schule hatte er das Thema rund um das Dritte Reich nur halbherzig und mit wenig Anteilnahme verfolgt. Er wusste aber dennoch, wie es in dieser Zeit um die Judenverfolgung stand und welch Gräueltaten hier über Jahre hinweg vollzogen wurden. Aus Erzählungen wusste er, dass sein Großvater Elias Blumenfeld, ein Jude, viele quälende Monate im Konzentrationslager in Dachau verbringen musste. Er gehörte zu den Überlebenden. Allerdings entpuppte sich das Leben nach Dachau als wahre Hölle. Elias Blumenfeld hat psychisch nie wieder den Weg zurück ins Leben gefunden und hat sich einige Jahre später das Leben genommen. Seine Tochter hatte ihn damals gefunden, als er mit einem Strick um den Hals an einem Deckenbalken in seinem Arbeitszimmer hing.

„Erzählen Sie mir von damals“, forderte Georg ihn auf und schien damit einen Stein ins Rollen gebracht zu haben, der sich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr aufhalten ließ.

„Gerne, Herr Blumenfeld. Es war 1941, der Zweite Weltkrieg wütete inzwischen schon im zweiten Jahr. Ich wurde überraschend zum Assistenzarzt in der biochemischen Versuchsstation im Lager Dachau berufen. Ich war jung und fasziniert von unserem Führer, der SS und diesem unglaublichen Imperium. Ich war stolz, ihnen dienen zu dürfen und wollte, wie alle anderen auch einen höchstmöglichen Posten anstreben. Ich war Teil dieses Imperiums, mein Freund.“ Georg spürte, wie Unbehagen seine Glieder hochkroch. Er hatte auf dieser Zugfahrt mit allem gerechnet – wirklich mit allem. Zum Beispiel ein Abteil voller Frauen, die sich über seine Schüchternheit und seinen hochroten Kopf amüsierten oder irgendwelche streitsüchtige Jugendliche, die ihm an den Kragen wollten, aber mit so einem abartigen Zeitgenossen hatte er nicht gerechnet. Aber er hörte ihm dennoch zu. Es war eine Mischung aus Abscheu und Faszination, die ihn dazu trieb sich knapp eine Stunde lang seine Erzählungen anzuhören. Doch je mehr dieser Kerl sich mit seinen Schandtaten brüstete, desto grausamer und eindeutiger wurden die Bilder in seinem Kopf. Er wollte diesem furchtbaren Menschen sagen, dass er sein nationalistisches Maul halten sollte, aber er brachte keinen Ton über die Lippen.

„Vor Dachau hatten wir für unsere Versuchszwecke nur Laborraten verwenden können. Es war unglaublich, wie viele Menschen uns die SS plötzlich zur Verfügung stellte. Wir haben den Juden die Schädel aufgesägt. Sie waren noch bei Bewusstsein, so konnten wir sofort sehen, was geschieht, wenn wir an ihrem Hirn herumdokterten. Aber ich sag mir immer: Nichts geschieht ohne Grund – sie haben es verdient.“

Es war plötzlich schrecklich heiß geworden. Die Mittagssonne brannte auf dem Dach des Zuges, als wolle sie alle Insassen passend zum Mittagessen kochen. Georg stand auf, um das Fenster zu öffnen. Der alte Mann stöhnte auf und begann sich mit einem Taschentuch über die Stirn zu wischen.

„Diese Hitze ist nicht gut für mich und meinen Kreislauf. Mein Herz macht bei so einem Wetter immer etwas schlapp. Man ist ja auch inzwischen nicht mehr der Jüngste.“ Er lachte laut und schallend. Georg schwieg, während er versuchte das Fenster hinunterzudrücken. Es klemmte. Aber eigentlich nur ein wenig. Er musste sich nur ein klein wenig anstrengen, dann würde es aufgehen. Aber er hatte mit einem Male keine Lust mehr sich anzustrengen. Gedanken schossen ihm durch den Kopf und landeten ungewollt in seinem Bewusstsein. Was hatte dieser Kerl gerade gesagt? Nichts geschieht ohne Grund? Alois Herzog erzählte unaufgefordert weiter, während er Georg beim Öffnen des Fensters beobachtete.

„Wir haben damals ehrliche und saubere Forschung betrieben und waren schließlich auch mit der Endlösung des Judenproblems beauftragt. Heute darf man ja nicht einmal mehr das Wort Untermensch in den Mund nehmen. Dabei kann ich doch wohl stolz sein, dass ich damals der Verunreinigung unserer Deutschen Rasse mit meiner Arbeit Einhalt gebieten konnte. Sagen Sie mal, kriegen Sie das Fenster da noch auf?“ Der Mann wurde plötzlich blass und Schweißperlen bildeten sich auf seiner von Pigmentflecken übersäten Stirn. Ein seltsames Röcheln kroch aus seiner Kehle.

„Das Fenster klemmt leider“, sagte Georg. Und war selbst erstaunt über diese unglaubliche Lüge.

„Bitte helfen Sie mir! Ich bekomme schlecht Luft. Mein Herz! Ich brauche meine Tabletten. Sie sind dort oben in der Tasche.“ Er sah Dr. Alois Herzog aufmerksam an. Er versuchte sich vorzustellen, wie dieser Kerl damals ausgesehen hatte. Damals als er noch nicht so gebrechlich, erbärmlich und abscheulich nach Urin stinkend war. Er war mit Sicherheit ein stattlicher Soldat, mit zwei gesunden Beinen und einer braunen Uniform. Die Frauen müssen ihm zu Füßen gelegen haben.

„Hilfe, die Tabletten, mein Herz… bitte!“ Ob er mit der Wimper gezuckt hatte, wenn er die Sägen anschaltete, die dann die Schädeldecken seiner unbetäubten Patienten durchschlugen?

„Ich werde sterben, wenn Sie mir nicht helfen…“ Ob es ihn vielleicht sogar erregt hatte, wenn er all diese Menschen unter dem Deckmantel des Reichsarztes quälte und tötete? Alois fasste sich krampfhaft an die Brust und atmete hektisch. Dann rollte er wie ein erschossenes Tier mit den Augen und sackte schließlich zusammen.

„Nichts geschieht ohne Grund“, sagte Georg leise und sah dem sterbenden Mann direkt in die Augen. „Sie sagten, Sie waren ein Teil dieses unglaublichen Imperiums? Dann haben Sie auch einen entscheidenden Teil dazu beigetragen, das Leben von Elias Blumenfeld zu zerstören. Wenn Sie und Ihre Nazi-Bagage nicht gewesen wären, dann hätte er sich auch nicht umgebracht. Wenn er sich nicht umgebracht hätte, dann wäre es seiner Tochter - meiner Mutter - erspart geblieben ihrem Vater zu begegnen – tot, von der Decke baumelnd, mit blauem Gesicht, bepisst und bekackt, so wie Sie es gerade sind. Sie hätte eine glückliche Kindheit nach dem Krieg erleben können. Sie hätte nie das Trinken angefangen, hätte sich nie herumgetrieben und hätte auch nie einen ungewollten Sohn zu Welt gebracht. Ja, Herr Herzog, Sie haben recht – nichts geschieht ohne Grund – Sie sind der Grund!“

 

Er betrachtete Alois noch lange. So lange hatte er auch seine Mutter betrachtet, als Sie damals unten am Fuß der Treppe ihren schweren Verletzungen erlag und starb.