Erster Tag des Sturms
Bis auf das herannahende Unwetter war eigentlich alles in bester Ordnung. Es musste so sein, denn alles war so wie immer. Jedenfalls versuchte Georg Blumenfeld, sich genau das einzureden. Wie jeden Morgen saß er mit seiner Frau Maria beim Frühstück, um den Tag mit dem regionalen Kölner Radiosender KFM, einer Tasse heißem Kaffee und seiner Morgenzeitung zu beginnen. Und wie jeden Morgen begleitete Maria diese Gewohnheit mit einem Tee, zwei Scheiben Vollkornbrot mit Butter und versuchsweise kleineren Unterhaltungen.
„Und? Was gibt`s Wichtiges in der Welt?“ Eine Frage, die standardgemäß für Georg der Startschuss für einen verärgerten Wortschwall über das Für und Wider der ganzen Weltpolitik war. Ausbrüche, die meist damit endeten, dass Maria ihn urplötzlich unterbrach und an seine Pflichten als Ehemann und Hauseigentümer erinnerte. Georg hatte bisher nie verstanden, wie seine Frau es immer wieder schaffte, einen Zusammenhang zwischen häuslichen Pflichten und den aktuellen Schlagzeilen zu finden.
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- Georg, du musst heute noch unbedingt die Hemden aus der Reinigung abholen.
Und? Was gibt´s Wichtiges in der Welt? Immer noch hallte die Frage in seinem Kopf und er spürte ihren eindringlichen Blick. Sie erwartete eine Antwort, doch er war nicht imstande, ihr diese zu geben. Natürlich hätte er ihr einfach sagen können, dass er die Rheinzeitung zwar in den Händen hielt, aber an diesem Morgen noch nicht eine Zeile gelesen hatte. Und er hätte ihr auch sagen können, dass es ihn heute nicht einmal annähernd interessierte, was in der Welt passiert war. Vielleicht hätte er sie im Anschluss, um seinem Gemütszustand noch eine deutlichere Würze zu verleihen, auch dabei ein bisschen anschreien können. Ja, er hätte sie auf seine übliche Blumenfeld`sche Art und im Baustellenjargon anschreien und ihr sagen können, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte. Er fühlte sich schon seit dem Aufstehen nicht wohl. Er hatte nicht nur schlecht, sondern überhaupt nicht geschlafen. Vielmehr hatte er die Nacht damit verbracht, vor seinem inneren Auge die Bedeutung eines Fundstückes durch Drehen, Wenden und Nachdenken zu verstehen. Er wollte begreifen, was ihm da in die Hände gefallen war. Doch er kapierte es nicht. Und solange er es nicht verstand, konnte er ihr nichts Sinnvolles entgegensetzen. Dennoch, auch wenn ihm nach Schreien zu Mute war, er liebte sie. Und weil er sie liebte, würde er seine Frau auch niemals so angehen, wie er es auf dem Bau gelegentlich mit den Handwerkern tat.
„Ich fragte, ob irgendetwas Wichtiges passiert ist in der Welt?“, wiederholte Maria und sah ihren Mann fragend an. Georg schüttelte abwesend den Kopf.
„Nein, nichts passiert.“
„Alles in Ordnung mit dir?“ Skepsis drang durch ihre Stimme und sie schaute ihn mit diesem besonderen Gesichtsausdruck an, in dem er so etwas lesen konnte wie: Hey, warum meckerst du heute nicht über Steuerpolitik? Du nimmst mir damit die Möglichkeit, dich daran zu erinnern, dass der Keller immer noch genau so aussieht, wie vor einem Jahr! Und er hätte dann üblicherweise darauf geantwortet:
Ja, ich weiß Schatz. Der Keller muss dringend aufgeräumt, die Kartons entsorgt und die Fahrräder in die Garage gebracht werden. Und ich weiß auch, dass dies zu meinen Pflichten als Ehemann gehört, aber weißt du, auf der Arbeit geht es derzeit drunter und drüber. Joachim lässt mich derzeit ziemlich hängen mit allem... Aber stattdessen sah er sie nur kurz an und antwortete: „Ja, alles in bester Ordnung!“ Es musste so sein, denn alles war so wie immer, schob er in Gedanken hinterher. Und während er dies fast schon feierlich stumm in den Raum dachte, scheiterte er kläglich bei dem Versuch selbst daran zu glauben.
Noch mal zurück zu dem Gegenstand aus der Schublade. Was glaubst du, was sie damit bezweckt? Denkst du etwa, sie trägt es mit sich herum, weil alle Frauen im gebärfähigen Alter so etwas in der Tasche haben?
Er spürte, es war wieder da. Dieses unsichtbare, unheimliche Ding, das ihm Sachen ins Ohr flüsterte, die er nicht hören wollte und was ihm in der letzten Nacht den Schlaf geraubt hatte. Es beobachtete ihn auch jetzt wieder. Es lauerte, um zu sehen, wie er reagierte, um zu hören, was er sagte, um ihm am Ende wieder um die Ohren zu hauen, wie dumm, naiv und blind er doch war. Er verkroch sich wieder hinter seiner Zeitung und schwieg. Maria gab plötzlich einen Laut von sich, den Menschen manchmal ausstoßen, wenn ihnen mit vollem Mund plötzlich etwas einfällt, was sie unbedingt noch in diesem Moment sagen wollen. Und Maria fiel oft etwas ein, wenn sie gerade den Mund voll hatte. Er sah sie fragend an. Was kam jetzt? Der Auftrag, auf dem Rückweg von der Arbeit noch einen Beutel Kartoffeln mitzubringen? Gepaart mit der Aufforderung noch schnell einen Komposthaufen für die dann anfallenden Kartoffelschalen zu bauen? Doch Maria sagte nichts, stattdessen stand sie kauend auf, ging zu dem kleinen Tageskalender an der Wand gegenüber und begann das oberste Blatt an der der perforierten Stelle abzureißen.
Natürlich!, dachte Georg. Wenn alles so wie immer war, dann durfte auch dieses Szenario am Morgen nicht fehlen. Maria tat das, – wenn auch heute mit deutlicher Verspätung - was sie jeden Morgen tat: Ihren Kalender aktualisieren. Dieser gottverdammte und von Kitsch getränkte Blumenkalender.
Sie hatte dieses vor weiblichem Enthusiasmus sprießende Teil gleich neben dem Kühlschrank platziert, damit er nicht übersehen wurde. Er hatte ihn, seitdem sie ihn Anfang des Jahres aufgehängt hatte, für völlig überflüssig gehalten – wer brauchte heutzutage überhaupt noch einen, wenn es Smartphone-Apps & Co. gab? Georgs Bankberater überreichte ihm jedes Jahr einen Wandkalender zur Weihnachtszeit. Einen mit Sehenswürdigkeiten aus dem Siebengebirge inklusive Familienplaner, in dem Maria ihre unzähligen Termine, die geschäftlich und privat sich stets die Waage hielten, eintrug. Dann kam sie eines Tages mit diesen 15 mal 15 Zentimeter Tagesleitspruchkalender an und begrub die Raiffeisenbank-Version gnadenlos darunter. Er konnte nur noch die Ränder sehen. Das störte ihn. Aber er liebte seine Frau, wollte und konnte ihr daher auch kaum einen Wunsch abschlagen. Sie schien diesen Kalender abgöttisch zu lieben, denn – und das war ihr Lieblingsargument - das Besondere an diesem Kalender war: Er begrüßte den Betrachter nicht nur täglich mit einer neuen Blüte irgendeiner exotischen Pflanze, sondern auch mit einer lateinischen Weisheit. Eine Redewendung verfasst in einer toten Sprache. Offenbar ein „Muss“ für Menschen, die etwas auf sich hielten. Und Maria hielt eine Menge auf sich. Sie war Rechtsanwältin, hielt sich gerne an Paragrafen und Fakten und genoss den Respekt und das Ansehen, das man ihr entgegenbrachte. Eine Eigenschaft, die sie gerne bei jeder Gelegenheit herauskehrte und auch ihn immer wieder damit in die Ecke drängte. Und als erfolgreiche Juristin war sie nicht nur Meisterin im Halten von überzeugenden Plädoyers, sondern konnte auch ihn in Grund und Boden reden, wenn er ihr dazu Gelegenheit gab. Meist ging es dabei nicht mehr um die Schuldfrage, sondern diente lediglich der Erzeugung eines Schuldgefühls. Ihre Klienten verließen sich gerne auf ihr kompetentes Mandat und auch Georg war immer noch fasziniert von dieser dynamischen Frau, die er vor fünfzehn Jahren kennengelernt und vor fünf Jahren endlich geheiratet hatte.
Und dann gab es da noch diesen anderen, privaten und eher stillen Teil in ihr, fernab von Paragrafen und Fakten. Sie malte gerne. Nein, sie liebte es. Doch was genau sie auf die Leinwand brachte, blieb Georg bisher verborgen. Nicht, dass sie ihm ihre Werke nicht gezeigt hätte. Im Gegenteil. Anfangs hatte sie großen Wert auf seine Meinung gelegt, aber er konnte mit ihrer abstrakten Kunst einfach nichts anfangen. Meist malte sie buntes Zeugs, das entweder in Punkt oder Strichform eine spezielle Grundfarbe zierte. Bilder, die er eher in der Künstlerwerkstatt eines Kindergartens vermutet hätte, gab Maria Namen wie „Der Neue Weg“ oder „Die Liebenden“. Mit Edvard Munchs „Der Schrei“ konnte er etwas anfangen, auch wenn er sich die Frage stellte, was genau der Schreier gesehen hatte, was ihn so derart aus der Fassung brachte. Er konnte mit Van Gogh etwas anfangen, denn auf seinen Bildern war deutlich etwas zu erkennen. Bei Picasso kam er schon ins Straucheln, denn bei ihm war auch nicht alles eindeutig. Die Werke von Salvador Dali beeindruckten ihn, machten ihm aber gleichzeitig Angst. Ja, und dann war da Maria, die größte Künstlerin von allen und er war nicht in der Lage zu definieren, wer oder was sich da aus ihrer Hand auf der Leinwand verewigt hatte. Eine schreckliche Situation, denn immer dann, wenn sie ihm wieder eine neue Arbeit präsentierte und ihn freudestrahlend, mit einem Na-Was-Sagst-Du-Kann-Ich-Das-Nicht-Toll-Blick ansah, dann wusste er als Betrachter nichts weiter zu sagen als: Wow! Das ist …. das ist wirklich… ausgesprochen … toll …wirklich! Er klang dabei wohl nie überzeugend. Heute antwortete Maria auf sein Gestammel meist nur mit so Dingen wie: Du hoffnungsloser Kunstbanause! Oder sie sagte: Nein, mir ist kein Farbeimer umgestürzt und nein, wir hatten auch nicht meine kleinen Neffen zu Besuch. Im Keller hatte sie sich vor einigen Jahren ein kleines Atelier eingerichtet, dem Georg aber fern blieb, um sich nicht ungewollt wieder in irgendwelche Kunst-Nesseln zu setzen. Er versuchte ihr auf andere Weise Anerkennung zu zeigen und hatte Marias Bilder in den Räumen des Architekturbüros BLUMENFELD & PÄLER ausgestellt. Als Geschäftsführer und Kompagnon konnte er das verantworten. Und er war immer wieder aufs Neue verblüfft, wenn Besucher und Geschäftspartner über ihre abstrakten Pinselstriche staunten und den unbekannten Künstler hoch lobten und sogar nach dem Preis fragten. Und während alle den bunten Kreisen auf blauem Grund mit dem Titel „Sehnsucht“ hinterherstaunten, staunte die Künstlerin täglich immer wieder aufs Neue, wenn sie auf den Tageskalender sah und sich ihr eine neue lateinische Botschaft mit weisem Hintergrund auftat. Und sie ließ es sich – je nach Tagesform – auch nicht nehmen, ihn immer wieder auf die tiefsinnige Bedeutung dieser Sprüche hinzuweisen. Ein Ritual, das inzwischen unwillkürlich zu einem wesentlichen Teil seines Lebens geworden war. Oder besser gesagt: Es war in ihm eine vollkommen neue Abneigung geboren. Eine Abneigung gegen lateinische Weisheiten. Eben solche klugen Sprüche, die täglich gegen ihn verwendet wurden, und das von einer Frau, die er doch aus tiefsten Herzen liebte und gegen die er sich nicht zu wehren wagte. Meist kamen ihre lateinischen Angriffe unverhofft und plötzlich. Mal im Verlauf irgendeiner harmlosen Diskussion, manchmal waren sie auch Bestandteil eines Streitgespräches.
CARPE DIEM (nutze den Tag) hatte sie ihm um Ohren gehauen, als er sich an einem seiner wenigen freien Tage nach etwas Ruhe und Schlaf sehnte. Mit dem Zitat IN VINUM VERITAS ermahnte sie ihn nicht so viel zu trinken, als er mehrere Flaschen seines besten Moselweins aus dem Keller holte, um einen gemütlichen Abend mit Freunden im Kamin-zimmer zu verbringen. AMICUS OPTIMA VITAE POSSESSIO (ein Freund ist der beste Besitz des Lebens), mahnte sie ihn, als er vor einigen Wochen seine Vermutung aussprach, dass Joachim Päler, sein bester Freund und Kompagnon, ihn geschäftlich über den Tisch zog. Er war an jenem Abend bei der gemütlichen Mosel-Weinrunde übrigens mit von der Partie gewesen. MEA CULPA - MEA MAXIMA CULPA (meine Schuld – meine große Schuld). Georg versuchte, diesen Gedanken loszuwerden. Er beschloss Marias Alles-Ist-So-Wie-Immer-Kalenderwahnsinn zu ignorieren und widmete sich schweigend seiner Zeitung. Er hatte plötzlich Hoffnung, dass der Artikel über die schreckliche Tierquälerei in Reinbrohl ihn tatsächlich auf andere Gedanken bringen könnte. Und wenn er auf andere Gedanken käme, würde dieses wachsende Gefühl von Angst ebenfalls eine andere Richtung einschlagen. Das zumindest hoffte er.
„Nihil fit sine causa“, hörte er Maria laut vorlesen. „Nichts geschieht ohne Grund.“ Sie setzte sich wieder. Georg sah auf.
„Wie bitte?“
„Nichts geschieht ohne Grund.“ Er starrte sie mit offenen Augen an.
„Ich habe übrigens heute Nachmittag einen Termin mit einem Mandanten“, fügte sie beiläufig hinzu. „Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, warte also bitte nicht auf mich.“ Sie aß weiter. Georg faltete langsam und gewissenhaft die Zeitung zusammen und legte sie neben sich auf den Tisch. Wieder betrachtete er seine Frau. Nichts geschieht ohne Grund? Und Maria hat einen Termin? SUCHE DEN FEHLER! Seine Gedanken überschlugen sich. Tanzten von einem Extrem ins andere und blieben immer wieder an ein und derselben Stelle hängen, eben an jenem Fundstück, das er gestern Abend völlig unverhofft in einer Schublade in ihrem Atelier gefunden hatte. Er hatte das weiße, längliche Ding, das einen durchsichtigen, rosafarbenen Stöpsel auf einer Seite hatte zunächst nicht richtig deuten können. Man konnte den Stöpsel sogar abziehen, was einen breiten weißen Streifen freilegte, den man – wenn es denn ein Utensil zum Malen gewesen wäre – durchaus auch als Pinsel hätte verwenden können. Allerdings machte eines die Sache bedeutend merkwürdiger - der breite weiße Streifen roch nach Urin. Zudem hatte dieses ganze Werkzeug zwei durchsichtige Fenster, in denen jeweils ein Strich zu erkennen war. Seine männliche Unwissenheit brauchte etwas länger, um zumindest einen Ansatz zu finden, was ihm hier in die Hände gefallen war. Die dazugehörige Verpackung, inklusive Gebrauchsanweisung fand er erst beim zweiten Hinsehen und dann verstand auch er, was er da Unglaubliches in den Händen hielt. Doch was zum Teufel hatte ein Schwangerschaftstest in Marias Schublade zu suchen?
In diesem Augenblick nahm er den fordernden Blick seiner Frau wahr. Sie saß mit geneigter Kanne in der Hand vor ihm und blickte ihn fragend an. Es war ganz offensichtlich, dass sie ihn nach einer weiteren Tasse Kaffee gefragt hatte und nun auf seine Antwort wartete. Aber er konnte ihr nicht antworten, er konnte sie nicht einmal mehr hören. Er war wieder gefangen in diesem zeitlosen Moment, der ihn einhüllte, als er mit dem Wort Termin kollidierte. Er war wieder über das Fadenscheinige gestolpert und irgendetwas in seinem Kopf sagte ihm, dass er diesmal sogar den Halt verlieren würde. Nichts geschieht ohne Grund? Maria schenkte auch ohne seine Zustimmung ein. Er zog die frisch gefüllte Tasse an sich, warf ein Stück Zucker hinein und begann abwesend mit dem Löffel darin zu rühren. Er spürte, dass etwas aus seinem tiefsten Inneren in ihm hochkroch. Ein Gefühl, das sich um seinen Brustkorb und seinen Hals legte und gnadenlos zudrückte.
„So, so…“, begann er. „Du hast also einen Termin?“ Seine Stimme bebte vor Anspannung.
„Ja, ich habe einen Termin. Klingt das neuerdings irgendwie merkwürdig für dich?“ In ihrer Stimme lag der Hauch eines Vorwurfs. Ob es merkwürdig klang? Georg lächelte kühl. Angesichts dieses bedenklichen Fundstückes in ihrem Atelier vom Vorabend bekam der Begriff „Termin haben“ einen durchaus seltsamen Beigeschmack.
„Wo hast du denn diesen Termin und vor allem mit wem?“, fragte Georg mit einer perfekt gespielten Höflichkeit, dass Marias Gedankenwelt offenbar kurz ins Straucheln geriet. Es dauerte einige Sekunden, bis sie eine Antwort fand und zum Gegenschlag ausholte: „Entschuldige bitte, was soll denn diese Frage und vor allem gefällt mir dein ironischer Unterton nicht.“
„Nun, ich werde doch wohl höflich nachfragen dürfen, mit wem meine Frau einen Termin hat?! Das war doch noch nie ein Problem für dich.“
„Gut, wenn du es genau wissen willst: Ich habe ein Termin mit einer Mandantin.“
„Name?“
„Du fängst wieder an schwierig zu werden, Georg!“ Sie lächelte, legte ihre Hand auf seine Wange und sah ihn mit einem Blick an, den Georg zunächst nicht richtig deuten konnte. Es war einer dieser Ich-lächele-dich-nur-an-und-du-liegst-mir-zu-Füßen Blicke. Er hatte etwas liebevoll Heimtückisches.
„Ach ja, findest du?“ Er entzog sich ihren Händen und lehnte sich zurück.
„Sie heißt Sabine Eschweiler und sie will mit mir über ihre Scheidungspläne sprechen. Wir treffen uns um 15:00 Uhr im Restaurant ZUM GOLDENEN ANKER. Georg schwieg. Er schwieg, weil er nicht wusste, was er auf diese Bilderbuchantwort sagen sollte.
„Es ist alles in Ordnung, Georg.“ Georg sah auf und sein Blick traf genau in das strahlende Blau von Marias Augen, in die er sich vor fünfzehn Jahren so verliebt hatte. Alles musste in bester Ordnung sein, denn ihre Augen waren so wie damals und er war sich sicher gewesen, dass sich daran nie etwas ändern würde. Dennoch versetzte ihm ihr Blick einen Stich und er wandte sich abrupt von ihr ab. Und während er weiterhin dem Löffel in seiner Kaffeetasse beim Kreisen zuschaute, kämpfte er nicht nur gegen seine hereinbrechenden Gedanken, sondern auch gegen das Gefühl die Beherrschung zu verlieren.
Diese Stimme! Diese verfluchte Stimme! Sie hält einfach nicht die Klappe! In Gedanken versuchte er sich die Ohren zuzuhalten, doch die Botschaft, die er nicht hören wollte, drang tief in sein Bewusstsein.
Alles in bester Ordnung, ja? Ihm stockte der Atem. Das unsichtbare Ding hatte sich zu ihm gebeugt und näherte sich seinem Ohr. Es blies ihm seinen kalten Atem ins Gesicht und sprach schließlich mit dieser erschreckend vertrauten Stimme:
Du bist ein Idiot! Wann kapierst du endlich, dass hier etwas nicht stimmt? Wann wirst du endlich aufhören, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen? Und dann sagte es noch: Sieh hin! Und zuletzt: Wach endlich auf! Dann war der Spuk vorbei.
„Ich mache mir langsam Sorgen“, Maria wirkte bedrückt. „Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Du bist heute so anders. Vertraust du mir plötzlich nicht mehr?“ Sie umschloss sanft Georgs Hand. Eine Geste, die ihn fast dazu gebracht hätte, aufzustehen und fluchtartig den Raum zu verlassen. Vielleicht hatte er sich doch geirrt? Vielleicht hatte sie gar nichts getan? Der Test in der Schublade könnte auch einer Freundin gehören. Lag es also doch wieder an ihm? War er selbst der Grund, warum sein Leben auf einmal in völlig falschen Bahnen zu laufen schien? Stimmte er nicht?
„Bist du glücklich mit mir?“, fragte Georg so plötzlich, dass er sich selbst mit seiner Frage überraschte.
„Ob ich glücklich mit dir bin?“ Maria gab sich nicht viel Mühe ihre Empörung über diese Frage zu verbergen.
„Himmel Georg, was ist denn heute bloß los mit dir?“ Sie stellte die Kanne unsanft auf den Tisch zurück, dabei schwappte die frisch befüllte Tasse über und hinterließ einen unschönen braunen Fleck auf der Tischdecke.
„Mensch, jetzt guck dir die Sauerei an!“ Erst jetzt wurde ihm klar, dass Maria ihm keine Antwort auf seine Frage gab und wohl auch nicht mehr geben wollte. Er hatte so gehofft, dass dieses bedrückende Gefühl, diese Ahnung - die ihn schon seit Wochen, seit Monaten heimgesucht hatte - ihn täuschen würde. Und er hatte auch gehofft, dass die Gewissheit darüber, so wie er sie jetzt empfand, niemals eintreffen würde. Das Fadenscheinige hatte den Schleier abgelegt und es ließ sich jetzt nicht wieder verdrängen.
Sie sagt mir nicht die Wahrheit! Dieses verdammte Miststück lügt! Und Georg war sich noch nie so sicher wie in diesem Augenblick: Nichts, rein gar nichts war hier in Ordnung! Und dieser Gedanke blieb an ihm haften, wie ein schmieriger Belag, der sich selbst mit der gröbsten Drahtbürste nicht mehr entfernen ließ. Irgendetwas ging hier vor, was ihm immer mehr die Kontrolle nahm. Wie ein Virus, der sich in seinem Gehirn festgesetzt hatte und anfing, es anzunagen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er gänzlich zu Boden gehen würde. Es war bedrückend still zwischen ihnen geworden. So, als ob alles bereits gesagt worden war, was gesagt werden musste - auch das Unaussprechliche. Sie fickt mit ihm, Georg! Sie tun es hinter deinem Rücken und noch vieles mehr! Was ist mit der Broschüre, die du gleich neben dem Schwangerschaftstest gefunden hast? Ihr Schweigen wurde untermalt von monotonem Gebrabbel aus dem Radio und dem stetigen Ticken der Pendeluhr am anderen Ende der Wand.
Tick! Tack! Er spürte, dass sich etwas in ihm in Gang gesetzt hatte. Etwas, das er nicht aufhalten konnte. Der Countdown lief.
Tick! Tack! Er wusste allerdings nicht, was am Ende, gleich nach der Null auf ihn wartete. Instinktiv blickte Georg auf das Ziffernblatt, der antiken Wanduhr. Es war eine alte Junghans Pendeluhr aus Nussbaum, ein Erbstück von Marias Großvater. Das gute Stück musste etwa 1915 das Licht der Welt erblickt haben. Alle halbe Stunde erinnerte sie mit einem robusten Einzelgong an ihre Existenz, zur vollen Stunde gab es ein größeres Glockenspiel. Es war 8.26 Uhr.
Tick! Tack! Und er registrierte, dass er sich in wenigen Minuten von Maria verabschieden und sich auf den Weg zur Arbeit machen würde.
„Weitere Meldungen zum herannahenden Sturmtief kommen direkt vom Deutschen Wetterdienst …“
„Pssst!“, sagte Maria plötzlich, sprang auf und stellte das Radio lauter.
„Der nordatlantische Orkan mit dem freundlichen Namen Fiona hat bereits in Nordirland Böen mit Windgeschwindigkeiten bis zu 225 km/h erreicht. Jetzt scheint es hier bei uns auch langsam ungemütlich zu werden. An der Atlantikküste sowie an den Friesischen Inseln peitscht Fiona bereits riesige Wellen an Land. Der Fährbetrieb sowohl zu den Deutschen Nordseeinseln als auch nach Großbritannien wurde bis auf Weiteres komplett eingestellt. Für Hamburg besteht Sturmflut–Warnung. Eine solche Druckdifferenz gab es seit Jahren nicht mehr. In Hamburg werden am Pegel St. Pauli Stände von mehr als 5,50 m über normal null erwartet. Hier spricht man von einer sehr schweren Sturmflut. Ganz besonders auf den Anhöhen deutscher Mittelgebirge ist mit schweren Schäden durch Sturm zu rechen. Umstürzende Bäume und umherfliegende Gegenstände haben auch bei uns bereits erste Todesopfer gefordert. Wissen Sie was?! Bleiben Sie einfach zu Hause und machen Sie es sich mit KFM-Radio bequem, bis der Sturm an uns vorübergezogen ist.“
„Da braut sich etwas ganz Gewaltiges über uns zusammen“, ergänzte Maria sorgenvoll und drehte die Lautstärke wieder herunter.
„Das befürchte ich auch …“, erwiderte Georg abwesend. Was immer der Nachrichtensprecher auch von dem Sturm berichtete, seine Gedanken wirbelten auch ohne Fionas Hilfe durcheinander. Aus dem Radio ertönte „Wind of Change“ von den Scorpions.
„Wann kümmerst du dich eigentlich um den Keller, Georg?
Tick! Tack! Dann kam der Gong.