Kapitel 34

Sam und ich gehen noch einmal die Route durch. Eigentlich kenne ich sie in- und auswendig, aber wie sagt man so schön? Vorbereitung ist alles und mehr als vorbereiten können wir uns nicht. Alles, was nach Beginn unserer irrwitzigen Aktion kommt, ist unberechenbar. Natürlich gestehen wir uns das nicht ein. Wir machen uns gegenseitig Mut und sagen Dinge wie »Das wird hinhauen!« oder »Der Plan ist wasserdicht. Das kann nicht schiefgehen«. Eben all die haltlosen Sprüche, die auch mittelmäßig begabte Kleinkriminelle austauschen, kurz bevor sie mit Spielzeugpistolen bewaffnet die nächstbeste Tankstelle ausrauben wollen.

»Ihr wartet, bis ich euch über das Walkie Bescheid gebe, dann haltet ihr euch bereit und schließt euch uns an«, wiederholt Sam seine Instruktionen. Er sagt das so, als planten wir einen gemütlichen Ausflug mit ein paar Kumpels. So als wolle er uns neue Freunde vorstellen. Nur will eigentlich niemand von uns diese Freunde kennenlernen. Dennoch artig nickend um ihn und die fransige Karte versammelt, lauschen wir der Lagebesprechung.

»Und du bist dir ganz sicher, dass du das machen willst?«, fragt Jaze ihn ein allerletztes Mal.

Sam blickt ihn beinahe amüsiert an. »Wieso? Willst du es lieber tun?«

Anscheinend muss Jaze darüber kurz nachdenken, doch nach ein paar Sekunden meint er grinsend: »Nee, lass mal. Du hast das im Griff.«

»Was ist, wenn irgendwas schiefgeht?«, fragt Summer nervös. »Wenn du Probleme bekommst, oder so ...«

Sam scheint auch schon daran gedacht zu haben, denn seine Miene verfinstert sich markant.

»Dann versuche ich, euch per Funk Bescheid zu geben. Solltet ihr nichts von mir hören, dann macht ihr, dass ihr wegkommt.«

»Und dann sitzen wir für immer hier fest«, murmelt Gadget. »Oder zumindest, bis irgendeines dieser Drecksviecher so freundlich ist, uns zu erlösen.«

Sam sieht ihn unglücklich an. »Trotzdem. Wenn mir etwas passiert oder ich nicht rechtzeitig von mir hören lasse, haltet ihr euch bedeckt. Lieber innerhalb des infizierten Areals und am Leben, als ohne Verstand direkt auf die Grenze zuzuhalten. Die Typen dort verstehen noch weniger Spaß als die Deadheads und sie haben vollautomatische Waffen.«

Und damit ist auch dieser Punkt geklärt. Zeit aufzubrechen.

Die anderen halten sich zurück, was eine ausführliche Verabschiedung angeht, aber ich umarme Sam inbrünstig und flüstere ihm zu: »Sei vorsichtig und mach nichts Verrücktes. Wir verlassen uns auf dich.«

Er hält mich ebenso ausdauernd fest und erwidert schließlich: »Keine Sorge. Das wird schon gut gehen.«

Ich studiere sein Gesicht prüfend. Die Ereignisse der letzten Tage haben ihn kein Stück seines Mutes einbüßen lassen. Er wirkt auf mich so gefasst und stark wie eh und je. Wie an dem einen Abend, als er zu uns gesagt hat, es ginge nur mit ihm. Wir hätten nur mit ihm an unserer Seite eine reelle Chance. Jetzt, wo sich unsere Wege trennen und er sich der wohl waghalsigsten Unternehmung seit Patient null stellen will, glaube ich es ihm. Ich glaube es wirklich! Er kann uns den Weg ebnen, weil Sam einfach so ist. Weil es ihm weder an Hirnmasse noch an Mut mangelt und weil er tatsächlich nur das Beste für uns will.

Ich schultere mein Zeug und werfe noch einen Blick auf die Autobatterie.

»Du kommst damit zurecht?«, frage ich sicherheitshalber. »Ich meine, auch ohne Gadgets Hilfe?«

Er grunzt spöttisch.

»Ich werde ja wohl noch eine Bluetooth-Box mit ’nem Handy koppeln können. Solange ist das jetzt auch nicht her!«

»Schon klar«, sage ich kleinlaut. »Dachte ich mir.«

 

Wir lassen Sam in der Werkstatt zurück und begehen die letzte Etappe unserer Reise in Richtung Grenze. Dabei achten wir sorgsam darauf, nicht von den zahlreichen Deadheads, die in und um Houston beheimatet sind, bemerkt zu werden. Im Grunde tun wir also genau das, was Sam später nicht tun wird. Wir sind Geister. Unsichtbare Besucher, die von Deckung zu Deckung sprinten, die Umgebung sondieren und den gammeligen Bewohnern der Metropole ausweichen.

Wie immer, wenn ich an unseren Plan und seine vermutlich spektakulären Folgen denke, wird mir ganz schwummrig. Hoffentlich weiß Sam, was er da tut.

Summer sieht die Sache scheinbar ähnlich. Bereits nach wenigen Meilen schüttelt sie immer und immer wieder den Kopf und gibt kleine Protestlaute von sich.

»Möchtest du uns irgendetwas mitteilen?«, fragt Jaze sie irgendwann ein wenig ungehalten. Ihr Verhalten macht ihn nervös und nervös sind wir schließlich ohnehin schon.

»Ich kann es einfach nicht fassen, dass er das wirklich durchziehen will!«, erklärt sie aufgebracht. »Es muss doch noch andere Möglichkeiten geben.«

Jaze bleibt gelassen und entgegnet: »Wir haben das hundertmal durchgesprochen. Wenn Sam, der Superspion, meint, dass es der beste oder gar einzige Weg ist, dann leben wir damit. Immerhin weiß nur er, womit wir es hier eigentlich zu tun haben. Und außerdem ist er immun«, schließt Jaze und setzt eine gleichgültige Miene auf.

»Aber nicht gegen den Tod, du Ignorant!«, schießt Summer zurück. »Tabletten hin oder her, gegen eine Horde von diesen Kreaturen hat er keine Chance. Niemals.«

»Er wird ja in Bewegung bleiben«, versucht Gadget, sie zu beruhigen. »Auf dem Bike hat er alle Möglichkeiten, Abstand zu halten.«

Man sieht Gadget an, dass er sich das ebenso einreden will wie meiner Freundin. Wir alle haben Angst um Sam. Doch nur wenige von uns sind bereit, das auch zuzugeben. Was er da vorhat, ist gelinde gesagt lebensmüde.

Eine ganze Weile gehen wir etwas langsamer, weil sich etwa eine Meile vor uns eine kleine Gruppe Deadheads versammelt hat. Immer wieder scheint es so, als würden sie jeden Moment im Unterholz verschwinden, doch dann trotten sie einfach weiter die Straße entlang. Sie scheinen uns nicht zu bemerken. Wir verhalten uns natürlich auch ganz leise. Auf einen nachmittäglichen Fight hat keiner von uns Lust.

Hier in der Gegend gibt es viele Bäume. Mehr als ich in den anderen Gebieten, die wir in den letzten Wochen durchstreift haben, gesehen habe. Gut, um sich zu verstecken, jedoch auch gut für fiese, kleine Deadheads, die im Schatten auf uns lauern. Glücklicherweise verziehen sich die Infizierten vor uns nach einer Weile, ohne dass es zur offenen Konfrontation kommt.

»Wo lang müssen wir jetzt?«, fragt Jaze, als wir eine unbeschilderte Weggabelung erreichen. »Nach links«, gebe ich an und brauche dafür nicht auf die Karte zu sehen. Sie hat sich in meinen Kopf gebrannt. Ich werde uns mühelos bis zu dem Ort dirigieren, den Sam mir genannt hat. Nur, was danach kommt, bereitet mir Kopfzerbrechen.

 

Es wird dunkel und wir rasten bei Liberty.

Ich weiß, dass Sam noch immer in der kleinen Werkstatt hockt und seinem Einsatz entgegenfiebert. Lange dauert es nicht mehr. Sobald er morgen die Hand vor Augen erkennen kann, wird er sich auf den Weg machen.

»Wer hält Wache?«, fragt Summer. Sie spielt darauf an, dass sie als Letzte dran war und so biete ich mich an.

»Ich mache mit«, informiert uns Jaze. »Hier sind so viele von den Dingern, besser, wenn vier Augen offen bleiben.«

»Weckt mich in ein paar Stunden«, bietet Gadget an. »Dann übernehme ich meinen Part.«

Jaze und ich beziehen Posten, während die anderen sich einrichten.

In der Ferne sehe ich die Skyline Houstons. Wie ein riesiges, verwesendes Gerippe ragen ihre Bauten in den Himmel. Irgendwo dort tummeln sich Tausende, nein, Hunderttausende Deadheads. In den Gassen, in Kellern und auf Dächern. Überall schlurfen und wandern sie umher. Auf der Suche, nach etwas, das sie töten oder wenigstens ein wenig ankratzen können. Die Stadt ist eine einzige, gefährliche Menschenfalle und Sam ist im Begriff, sich hineinzuwagen.

»Hör auf, dir so viele Gedanken zu machen«, rät Jaze mir. Er hat die Karte vor uns ausgebreitet und fährt mit den Fingern die Route 90 entlang. Eine Straße, die auf direktem Wege an unserer Position vorbei und dann geradewegs nach Beaumont führt. Laut Sam ist die komplette Ortschaft unter der Fuchtel des Militärs. Eine Geisterstadt. Evakuiert, noch bevor es hier so richtig losging. Ein vormals ziviles Fleckchen Erde mit Eisdielen, Supermärkten und Kinos, welches nun als südlichster Eckpfeiler der neuen, künstlichen Grenze fungiert. Beaumont liegt ebenfalls unweit der echten, angeblich deadheadfreien Staatsgrenze. Unser Ziel ist also zum Greifen nahe.

»Machst du dir denn keine Gedanken?«, frage ich träge.

»Sicher. Aber man sollte es nicht übertreiben, denke ich.«

Sein Finger zieht eine Linie und er murmelt: »Morgen schlagen wir uns hier durch. Das ist alles unbebautes Gebiet. Kaum Deadheads. Nervig wegen der nicht asphaltierten Straßen, aber wir sollten ein ganzes Stück vorankommen.«

Ich nicke und stelle mir vor, wie wir uns der Grenze nähern, während Sam unsere Verfolgung aufnimmt. Nur dass er auf der Straße bleiben und erst im letzten Moment nach links ausbrechen wird. Ich weiß, wie es ablaufen soll, aber ich tue mich schwer damit, es mir tatsächlich bildlich vorzustellen.

Jaze faltet die Karte zusammen und lehnt sich gegen einen der knorrigen Bäume hinter uns. Dann macht er eine winzige Bewegung mit seinem Kopf. Ich krieche zu ihm herüber und schmiege mich in seine Arme. Mit dem Rücken an seiner Brust betrachte ich die Umgebung. Er legt die Arme um mich und verschränkt die Finger an meiner Taille. Es gab schon schlimmere Wachdienste, das steht fest.