Kapitel 18

Als die Dunkelheit hereinbricht, wagen wir eine riskante Unternehmung.

Vom Anblick der am Rande der Stadt durchgeführten, unmenschlichen Hinrichtung noch immer wie betäubt, verlassen wir unseren Beobachtungsposten still und leise.

Gadget verzichtet darauf, die Scheinwerfer einzuschalten, was die Fahrt zu einer Art Deadhead-Bowling-Glücksspiel macht. Schon bei Tag müssen wir immer darauf achten, die umherstreunenden Infizierten nicht umzufahren, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Natürlich weinen wir um keinen unter die Räder gekommenen Infizierten, aber die Gefahr, mit dem Wagen liegen zu bleiben, weil sich ein Körper unter der Karosserie verkantet hat, ist gegeben. Höchst unwahrscheinlich, aber dennoch im Bereich des Möglichen.

Da wir nun aber nicht wollen, dass die selbst ernannten Milizgeneräle auf uns aufmerksam werden, verzichten wir auf jede Lichtquelle in und am Fahrzeug.

Sam, der neben Gadget auf dem Beifahrersitz Stellung bezogen hat, deckt jedes der riesigen Digitaldisplays mit Jacken und anderen Klamotten ab, um die Lichtabstrahlung weiter zu verringern. Mangels postapokalyptischer Straßenbeleuchtung fahren wir also praktisch blind.

»Ich glaube, da ist einer«, flüstert Summer, die ihre Hände ängstlich in mein rechtes Bein gekrallt hat.

»Nein«, meint Jaze beruhigend. »Das ist nur ein Baum.«

»Auch nicht unbedingt besser«, klage ich.

Wenn die Wahl zwischen einer Kollision mit einem Zombie und einer Kiefer besteht, wähle ich den Zombie. Der knickt wenigstens selbst bei unserer Schneckengeschwindigkeit ein.

»Krieg ich hin«, informiert uns Gadget.

Unbarmherzige dreißig Minuten dümpeln wir über das, was wir für eine Straße halten und entfernen uns von der Stadt. Wieder einmal müssen wir einen enormen Umweg in Kauf nehmen, aber anders geht es nicht. Auf keinen Fall dürfen wir riskieren, von den Leuten dort entdeckt zu werden. Zwar wissen wir noch immer nicht konkret, um was für eine Art Lager es sich handelt, aber herausfinden möchte es niemand von uns.

Wir halten schließlich etwas abseits der Straße und orientieren uns so gut es geht.

»Bis morgen sollten wir hier sicher sein«, verkündet Sam. »Dann müssen wir so schnell es geht ein paar Meilen zwischen uns und die bringen.«

Alle brummen zustimmend und auch ein wenig erleichtert. Keiner von uns hätte in unmittelbarer Nähe des Lagers auch nur ein Auge zubekommen und im Morgengrauen wäre es noch schwieriger gewesen, unbemerkt zu verschwinden.

»Wie steht es mit unserer Reichweite?«, frage ich Gadget und er antwortet wie aus der Pistole geschossen: »Ungefähr 125 Meilen.«

»Gut«, erwidere ich erleichtert, denn das sind eine Menge Meilen, die wir in den nächsten Tagen zwischen uns und diese Monster bringen können. Und Monster sind es wirklich. Spätestens seit Billy wissen wir, dass Deadheads einem sonderbaren Instinkt folgen. Sie sind keine Menschen mehr, entscheiden nicht bewusst, dass sie jemanden töten wollen. Sie sind wie diese Zombies aus den ganzen Filmen und Serien, nur dass sie keinen Hunger haben, sondern bloß eine Stinkwut. Die bewaffneten Männer in dem Lager haben überdeutlich gemacht, wie man sich bewusst für einen oder besser drei Morde entscheiden kann. Sie sind das, was man gemeinhin als Monster bezeichnen würde.

Es wird eine kurze Nacht, und bevor wir uns schlafen legen, unterhalten wir uns nicht mehr lange. Irgendwie sind alle mit sich selbst beschäftigt und auch ohne Digitalkameraaufnahmen läuft in jedem unserer Köpfe der Film von heute Nachmittag ab. Immer und immer wieder.

Ich sage es den anderen nicht, aber in diesen ersten, dunklen Stunden der Nacht besteht für mich plötzlich kein Zweifel mehr daran, dass es kein rettendes Militär und keine Navy für uns geben wird. Und wenn doch, bin ich mir nicht sicher, ob ich mich in die Obhut von Menschen begeben will, die den Rest der Welt so im Stich gelassen haben.

 

Knapp zwei Tage rollen wir langsam durch das Land und lassen San Antonio hinter uns. Wir kommen richtig weit, dann ist der Tesla tot wie ein leeres Handy.

Beinahe wehmütig entfernen wir uns von dem Wagen, der uns ein ganzes Stück vorangebracht hat. Auch wenn man den notgedrungen eingeschlagenen Umweg nach der Sache in der Stadt mit einrechnet, haben wir gut hundertneunzig Meilen zurückgelegt. Eine beachtliche Strecke, aus der Sicht eines Fußgängers und das sind wir nun wieder. Schwerfällige Wanderer mit noch immer etwa dreißig Meilen verwüsteter Straße vor uns.

Die Fahrt hat uns die Geschehnisse ein wenig verdrängen lassen. Das ist gut. Es wurde viel gelacht und dank ausbleibender neuer Horrorszenarien entpuppte sich die Reise in der Elektrokutsche als entspannende Abwechslung. Das Ziel schon beinahe greifbar vor uns, sind alle frisch motiviert und können es kaum noch erwarten. Ich bilde mir sogar ein, bereits das Meer riechen zu können.

Bevor wir unser Nachtlager, dieses Mal auf dem Dach einer kleinen Autowerkstatt unweit der Route 37 aufschlagen, erbeuten wir eine erfreulich große Menge Wasserflaschen und Obst in Dosen. Ich bin richtig heiß auf die Pfirsiche und stopfe sie glücklich in meinen Rucksack.

»Wir sollten los«, meint Gadget und wirft einen besorgten Blick in Richtung untergehende Sonne. »Wo bleibt Sam?«, fragt er mich.

»Keine Ahnung«, entgegne ich wahrheitsgemäß. »Ich glaube, er wollte noch mal nach Vitaminen Ausschau halten.« Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Sam ist der festen Überzeugung, dass Vitamintabletten uns guttun in Anbetracht des überschaubaren Speiseplans. Beinahe wie eine herrische Mutter zwingt er uns, sie einzunehmen, wann immer er welche auftun kann.

»Oh Mann«, brummt Gadget und schüttelt ebenfalls lachend den Kopf. »Na dann hoffe ich, dass die Dinger dieses Mal nicht wieder so riesig sind. Ich hasse diese großen Tabletten! Kein normaler Mensch bekommt die runter!«

Alle lachen. Nur Jaze nicht. Der mustert ungeduldig den Eingang der kleinen Ladenzeile.

Summer knufft ihn in die Seite und verspricht: »Wenn du sie nicht nehmen willst, übernehme ich deine Ration«, doch Jaze ringt sich nicht mal ein kleines Lächeln ab. Er ist ganz offensichtlich nicht der Typ Mann, der gerne wartet.

Schließlich kommt Sam endlich durch die schief in den Angeln hängende Ladentür geschlüpft und nickt uns zu.

Das ist das Startsignal und wir setzen unseren Weg fort.

 

Nachdem wir uns auf dem Dach eingerichtet haben, erklärt Sam zufrieden: »Ich schätze, wenn wir uns ranhalten, könnten wir es in zwei Tagen bis ans Wasser schaffen.«

Zwar hatte ich mir das auch schon ausgerechnet, doch kann ich nicht verhindern, dass mir ein erleichtertes Seufzen entfährt. Was auch immer uns bei Corpus Christi erwartet, Küste klingt irgendwie gut. Keine Ahnung, warum wir darauf so pochen, aber es ist so. Vielleicht deswegen, weil es ein Ende ist. Weiter kommen wir auf herkömmlichem Weg nicht. Dort angekommen heißt es entweder Rettung oder Boot oder – und das wäre ätzend – weiter der Küstenlinie folgen und nach einem neuen Ziel suchen.

 

In der Nacht wache ich auf. Wir haben auf den Wachdienst verzichtet, weil es unwahrscheinlich ist, dass uns hier oben jemand entdeckt. Es gibt keine Lichtquelle, die uns verraten könnte, und unsere kleine Gruppe ist von der Straße her nicht zu sehen. Doch offensichtlich macht mich die Tatsache, dass niemand aufpasst, so nervös, dass ich schlecht schlafe, und so lausche ich in die Dunkelheit hinein und versuche, herauszufinden, was mich geweckt hat. Außer ein paar Raschelgeräuschen von Summers Schlafsack und dem leisen Schnarchen aus Gadgets Richtung ist nichts zu hören.

Ich will mich gerade wieder einmummeln und einen neuen Einschlafversuch wagen, da dringt ein kaum hörbares Schaben an mein Ohr. So als würden schwere Schuhe über Kies schleifen. Nur ganz kurz, aber auffällig genug, dass ich mich erschrocken aufsetze.

Ich spähe über die Dachkante zu der eingezogenen Feuerleiter, an der wir am Abend hochgeklettert sind, und kann nichts entdecken. Doch dann ertönt erneut ein leises Geräusch und ich suche weiter links nach der Quelle. In der Finsternis kann ich kaum etwas erkennen, meine aber eine Bewegung zwischen den geparkten Autos auf dem Hof auszumachen. Vermutlich ein verirrter Deadhead auf nächtlicher Pirsch. Gruselig, aber kaum gefährlich. Er wird uns nicht bemerken, da bin ich mir ziemlich sicher.

Ängstlich schlüpfe ich zurück in meinen Schlafsack und lausche angestrengt weiter. Doch nach einer Weile entfernen sich die Schritte und ich kann aufatmen. Es wäre Unsinn, die anderen zu wecken. Es ist ja nichts passiert und wir brauchen unseren Schönheitsschlaf. Ich rolle mich auf die Seite und schließe die Augen.

 

»Nice!«, höre ich Gadgets Stimme an mein Ohr dringen. »Nice, wach auf!«

»Du sollst mich jetzt doch wieder Naya nennen!«, brumme ich.

Ich blinzele träge, doch als ich das besorgte Gesicht meines Freundes über mir wahrnehme, bin ich schlagartig wach. Im Hintergrund diskutieren Summer und Amelia gereizt herum.

»Was ist denn los?«, frage ich schlaftrunken und winde mich aus meinem Nachtquartier. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber der Himmel färbt sich bereits blau-gelb. Eigentlich ein schöner Anblick, wenn man die hektische Geräuschkulisse ausblendet.

»Du übertreibst total!«, meint Summer gerade und ich spitze die Ohren.

Amelia schüttelt energisch den Kopf. »Das ist noch nie vorgekommen. Wirklich nicht. Da stimmt was nicht!«

Ich bekomme auf einmal Angst, dass Gadget noch eine Flasche Giftwasser gebunkert und wir sie versehentlich getrunken haben. Werden wir uns auch verwandeln? Ist es das, was meine Freundin und die Lehrerin so aufregt?

»Jaze ist weg«, erklärt mir Gadget ohne Umschweife und ich begreife nicht ganz, was er mir damit sagen will.

Sofort springe ich auf und gerate leicht ins Wanken. Jetzt vom Dach zu stürzen, wäre ziemlich bescheuert, nachdem ich so lange überlebt habe. Also stelle ich mich breitbeinig hin und schließe kurz die Augen. »Was soll das heißen?«, frage ich, »Jaze ist weg?«

Als ich die Augen wieder öffne, ist Gadget bereits zu den anderen rübergewandert und beteiligt sich an der halblauten Unterhaltung. Ich klettere herüber und lausche nervös. Dabei kann ich mir nicht verkneifen, nach Jaze Ausschau zu halten, doch seine Sachen, sein ganzer Kram ist weg.

»Er hat uns noch nie allein gelassen. Nicht einfach so!«, erklärt Amelia aufgelöst. »Das würde er nie tun.«

»Entschuldige, Liebes«, sagt Summer mit erhobenen Augenbrauen und ganz offensichtlich ziemlich genervt, »das mag ja sein, aber wo ist er dann geblieben? Siehst du ihn irgendwo?« Sie deutet auf das leicht schräge Dach um uns herum und setzt eine fragende Miene auf. »Seine Sachen sind weg. Der Rucksack, die Machete, alles. Für mich sieht es so aus, als wäre er weg. Es sei denn, er nimmt sein komplettes Equipment mit aufs Klo!«

Amelia öffnet den Mund, doch ihr scheint keine plausible Erklärung einzufallen, also schweigt sie.

Sam wandert am Rande der Überdachung umher und hält Ausschau. Er wirkt weniger besorgt als wütend. Gadget hält sich komplett raus und beobachtet die anderen fast ängstlich. Unten, auf dem Parkplatz trottet ein Infizierter zwischen den staubigen Autos herum. Sam behält ihn mürrisch im Auge.

Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Und selbst wenn, würde mir sicher kein Grund einfallen, warum Jaze so einfach verschwinden sollte. Natürlich waren die Voraussetzungen ideal. Immerhin gab es in der Nacht keine Wache, er hätte also ... Die über und über mit Schmutz bedeckte Gestalt unten auf dem Asphalt lässt mich plötzlich wieder an die Sache von letzter Nacht denken. Ich erinnere ich mich sofort an die Geräusche in der Dunkelheit. Das war kein Deadhead. Das war Jaze! Jaze, der sich klammheimlich davonstiehlt.

Erschüttert wandere ich zurück zu meinem Schlafsack und krame in meinem Rucksack nach etwas Wasser. In meinem Kopf rotiert es. Wieso hat er das getan? Ich muss Amelia recht geben. Es scheint eigentlich nicht seine Art zu sein, einfach abzuhauen. Auch jetzt nicht, wo Billy nicht mehr da ist.

Meine Finger stoßen auf die Flasche zwischen meinen Klamotten und ich ziehe sie raus. Dabei fällt ein kleiner Zettel auf das Dach. Bevor der Wind ihn wegtragen kann, schnappe ich danach und starre ihn verwundert an. Es ist eine handschriftliche Nachricht. Eine Handvoll Worte auf einen Fetzen Papier gekritzelt.

 

Muss was erledigen. Bin bald zurück. Geht weiter. Ich hole euch ein.

Jaze.

 

Ich staune nicht schlecht. Es dauert ein paar Sekunden und ich lese die Nachricht noch zweimal, bis ich sie endlich zu Sam bringe, um sie ihm zu zeigen.

Er nimmt mir den Zettel ab und überfliegt die paar Zeilen. Seine Miene verfinstert sich zusehends. Schließlich reicht er mir das Papier zurück und brummt: »Was soll denn die Scheiße?« Dann dreht er sich zu den anderen um und berichtet von meiner Entdeckung. Eine Mischung aus Verständnislosigkeit, Wut und Erleichterung breitet sich auf den Gesichtern meiner Mitreisenden aus.

Ich inhaliere die halbe Flasche Wasser und horche in mich hinein. Während die anderen eine neue Diskussion entfachen und über Jazes Beweggründe spekulieren, stelle ich fest, dass mich Jazes Abwesenheit schwer trifft. In den paar Minuten, bevor ich die schnell hingekritzelten Worte entdeckt habe, ist eine seltsame Leere in meinem Inneren entstanden. Ich registriere fasziniert und auch ein wenig erschrocken, dass es mich richtig treffen würde, wenn Jaze plötzlich nicht mehr da wäre. Wenn ihm etwas zustieße oder er verschwinden würde. Nicht in diesem freundschaftlichen »wir sind eine Familie, ein Clan«-Sinne. Nein, er würde mir wirklich ernsthaft fehlen. Das ist nicht gut. Mir liegt dieser Kerl, den ich nun bereits zweimal mit einem Deadhead verwechselt habe, viel zu sehr am Herzen.