Kapitel 23

Drei Tage gehen ins Land. Es fühlt sich an wie Ferien. Es fühlt sich toll an! Für eine Handvoll süßer Stunden vergessen wir alle, wo wir eigentlich sind. In was für einer absurden Situation wir uns nun schon seit Wochen befinden, und tun ... einfach nichts.

Mein Schießunterricht läuft gut. Gestern konnten wir allerdings ein paar Deadheads an den äußeren Umzäunungen ausmachen. Nicht viele, vielleicht ein halbes Dutzend. Trotzdem habe ich Sam vorsichtshalber gefragt, ob wir weitermachen sollen. Inzwischen hatte sich nämlich auch Gadget angeschlossen, um an seiner Trefferquote zu feilen. Wenn man unterwegs ist, bekommt man selten die Gelegenheit zu üben. Geschossen wird nur im äußersten Notfall und vor dem Ausbruch der Krankheit hat niemand von uns – Jaze anscheinend ausgenommen – regelmäßig mit Waffen hantiert. Jede Übungsstunde ist also wertvoll.

Wenn ich nicht gerade mit Jaze auf dem Rollfeld bin und Schießübungen mache, stromere ich gemeinsam mit Summer über den Stützpunkt. Es gibt einen Platz, nahe am Wasser, auf einer kleinen Grünfläche, wo wir gerne auf der Erde herumlümmeln und einfach nur reden. Von dort aus kann man in der Ferne die andere Seite der Bucht erkennen. Winzige graue Quadrate, die Umrisse von Häusern am gegenüberliegenden Ufer zeichnen sich ab. Wenn der Himmel gerade mal nicht strahlend blau leuchtet, verschwimmt alles zu einer milchigen Suppe. Früher muss der Rasen unter unseren nackten Füßen einmal ordentlich getrimmt gewesen sein. Doch jetzt versinken unsere Zehen im satten Grün. Während ich meinen Blick über das Wasser schweifen lasse, frage ich mich, wie es wohl wäre, ein Haus an der Bucht zu besitzen. Ich könnte mir gut vorstellen, den Sommer hier zu verbringen. Abwegige Überlegungen in einer abwegigen Situation.

Wir holen alles nach, was unterwegs buchstäblich auf der Strecke geblieben ist. Wir denken an unsere Familien, an unsere Freunde. Wir erinnern uns an lustige oder peinliche Geschichten und lachen darüber. Manchmal weinen wir auch, wenn die Geschichten zu lustig sind. Denn uns ist inzwischen klar, dass das alles ist, was von unserem Leben in Early übrig bleiben wird. Geschichten. Anekdoten und niedliche kleine Erzählungen über eine Zeit und eine Welt, die es vielleicht nicht mehr geben wird, wenn – sollten wir überleben und jemals neue Freunde oder sogar Kinder und Enkelkinder haben – wir sie irgendwann einmal jemandem erzählen.

Es sind schöne Stunden, da auf der Wiese mit meiner besten Freundin. Und es macht Spaß, mit Jaze zu üben. Meine Trefferquote kann sich schon nach Tag zwei sehen lassen. Ich verliere die Angst vor der Waffe – nicht aber den Respekt – und lerne, auch wenn es mal schnell gehen muss, damit umzugehen. So albern es klingt, aber Jaze gibt keinen üblen Deadhead ab. Wir tun mit der komplett entladenen Beretta so, als würde er mich angreifen. Dabei startet er seine mörderische Show ein Stück weit von mir entfernt und ich muss so tun, als würde ich die Knarre im Eiltempo laden und auf ihn zielen. Zuerst halte ich das für totalen Blödsinn, aber je näher Jaze mir mit seinen übertrieben wankenden Schritten und den bedrohlich erhobenen Armen kommt, desto hektischer mache ich an dem Ding herum und im Geiste kann ich schon das Magazin herunterfallen sehen.

Tot.

Ich sehe mich den Sicherungshebel vergessen und einen vergeblichen Schuss abfeuern.

Tot.

Ich achte zu sehr auf die kleine Ecke aufblitzenden Waschbrettbauchs, die durch die deadheadmäßig hochgerissenen Arme unter Jazes nach oben gerutschtem Shirt sichtbar wird.

Tot.

Mehrere Male proben wir diese irreale Szene und am Ende ist Jaze sich ziemlich sicher, dass ich auch in einer Extremsituation voll einsatzfähig und eine Tötungsmaschine sein werde. Ich selber bin mir nicht ganz so sicher, aber es fühlt sich toll an, vorbereitet zu sein.

Wenn ich also nicht gerade irgendwo herumliege und lache – oder weine – und wenn ich keinen als Zombie verkleideten Jaze erschieße, dann schleiche ich rauf aufs Dach. Der Ort, an dem Jaze und ich unsere kleine Unterhaltung am ersten Abend auf dem Stützpunkt hatten, ist wunderbar, wenn man mal eine Pause vom Leben in der Survival-Kommune braucht.

Manchmal gehe ich morgens hoch und beobachte den Sonnenaufgang. Ich glaube, meine Zuschauer werden es mir danken, wenn in meiner blutigen Video-Doku auch mal etwas Schönes zu sehen ist.

Man hat einen guten Blick in Richtung Stadt. Auch wenn es mich nicht gerade fröhlich stimmt, ein paar verirrten Deadheads dabei zuzusehen, wie sie über die verlassenen Straßen streifen und sich nach neuen Opfern umschauen, ist es doch ein gutes Gefühl, hier oben und in Sicherheit auf die Welt herabblicken zu können. Zugegeben, so hoch ist es nicht, aber die Umgebung ist flach und man kann einen interessanten Rundumblick genießen.

Abends ist es auch nett hier. Man sieht natürlich nicht viel, jetzt, wo der Zivilisation die Lampen ausgeblasen wurden, aber mir gefällt die Stille auf meinem Dach.

Heute, an Tag fünf in Corpus Christi, an einem Morgen, wo sich die Sonne mit dem Aufgehen so richtig schön Zeit lässt, hocke ich auf der Dachkante und denke nach. Morgen habe ich Geburtstag. Wen interessiert’s. In zwei Tagen werden wir uns wieder auf den Weg machen. Am Plan hat sich nichts geändert, aber wir wissen alle, dass es nur eine wage Idee ist. Es fühlt sich anders an als vorher. Nicht so wie es war, als der Navy-Stützpunkt noch unser Ziel darstellte. Das war irgendwie real und allgemein akzeptiert. Die neue Strategie, sich ein Boot zu suchen und damit wer weiß wohin zu schippern, reißt niemanden wirklich vom Hocker. Mangels besserer Ideen sind trotzdem weiterhin alle dafür.

Ich glaube, ich werde Corpus Christi vermissen. Hier hatten wir es gut. Sicher, das wäre vielleicht nicht für immer so gewesen und der Gedanke hier zu leben, ohne zu wissen, wie es im Rest der Welt aussieht, erscheint abwegig, aber dennoch ... ich könnte problemlos noch eine Woche bleiben. Oder zwei.

»Gibt’s was Spannendes zu sehen?«

Ich widerstehe dem Impuls, erschrocken herumzuwirbeln, als Jaze mal wieder wie aus dem Nichts hinter mir auftaucht. Er ist der totale Anschleichkünstler. Ein richtiger Indianer. Ich kann mir gut vorstellen, wie er gemeinsam mit seinem Dad durch irgendeinen Dschungel stiefelt und exotische Tiere beobachtet. Nur beobachtet er nun mich. Und zehn Minuten nach dem Aufstehen ist das sicher kein sonderlich schöner Anblick und wenig reizvoll.

»Sonne«, entgegne ich knapp, aber keineswegs unfreundlich.

Seit wir hier sind, haben Jaze und ich uns gut verstanden. Im Gegensatz zum ständigen Hin und Her auf den Straßen dieses riesigen Staates hatten wir hier die Zeit und auch die Motivation, einander besser kennenzulernen. Nicht mehr die Frage nach dem nächsten Proviantbeutezug oder dumme Sprüche und Streitereien dominieren unseren Alltag, sondern Dinge, die wir vor der Katastrophe getan hätten, wenn neue Leute in unser Leben getreten wären.

Jaze und ich hatten auf dem Rollfeld Gelegenheit dazu, über alles Mögliche zu reden. So weiß ich inzwischen, dass er nicht auf eine öffentliche Schule, sondern auf eine Art Internat für reiche Kids gegangen ist, was auch seine überhebliche Art erklärt. Nicht allerdings sein rüdes und eher einzelgängerisches Verhalten. Ich hielt ihn immer für den typischen, mysteriösen Gegenpart des Footballcaptains. Den Typen mit dem geheimnisvollen Tattoo und den verrückten Hosen. Doch nun muss ich feststellen, dass es keine Schublade gibt, in die man Jaze stecken kann. Er ist so etwas wie die Kreuzung aus diesem durchgeknallten Kerl mit Kamera aus American Beauty und Taylor Lautner, dem Wolfsjungen. Er ist so ziemlich genau das, was sich jedes Mädchen wünscht, und noch genauer das, was Mädchen im Allgemeinen zum Verhängnis wird. Nur meine Meinung ...

»Unten reden sie schon wieder über die Abreise«, berichtet Jaze nun. »Wenn du mich fragst, kann man es mit dem Planen auch übertreiben. Ich meine«, sagt er und lacht, während er neben mir Position bezieht, »wie genau kann man eine Tour, die so ziemlich keine präzisen Eckdaten kennt und deren Ausgang total offen ist, ausarbeiten? Ich finde, die hängen sich alle viel zu sehr rein.«

»Es beschäftigt sie und lenkt sie ab«, entgegne ich und schalte die Kamera ein. Nur noch wenige Sekunden, dann wird eine glühend warme Welle Sonnenlicht über uns hinwegrollen und ich bin bereit für den großen Auftritt. Auch nach dem wochenlangen Marsch unter diesem unbarmherzigen Feuerball bin ich sie noch nicht leid geworden, die Sonne. Wenn morgens die ersten feinen Strahlen meine Haut kitzeln, fühle ich mich lebendig. Zu fühlen ist inzwischen unbezahlbar.

Wenn diese Aufnahme besser wird als die von gestern, lösche ich die erste Version. Nur das Beste für meine Produktion.

»Und du?«, fragt Jaze mich von der Seite. Ich spüre seinen Blick auf meinem Gesicht und klammere mich an der Digitalkamera fest, um nicht der Versuchung zu erliegen, mein Haar zu richten. Ein gänzlich zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, da ich meinen üblichen Aus-dem-Bett-Look trage. Auch bekannt als Steckdosen-Welle.

»Ich bin beschäftigt«, erkläre ich und nicke der schon vorwitzig am Horizont züngelnden Sonne entgegen.

»Vorschlag«, meint Jaze und schiebt sich vor mich. Wenn er so weitermacht, verpasse ich den Moment und muss bis morgen warten. »Wie wäre es, wenn ich das Ganze filme? Dann kommst du auch mal ins Bild.«

Bevor ich energisch verneinen kann, und das habe ich wirklich vor, denn auch wenn ich nicht kamerascheu bin, in diesem Augenblick fühle ich mich nicht filmstarmäßig, nimmt er mir das Gerät aus der Hand und geht ein paar Schritte zur Seite.

»Jaze!«, rufe ich empört aus und mache Anstalten, mir meinen Besitz zurückzuholen. Aber Jaze lässt sich nicht beirren und so leuchtet das kleine rote Licht vorne neben dem Objektiv stur auf und ich bin auf Sendung.

»Sehen Sie Naya, die treffsichere Apokalypsenüberlebende an einem ganz normalen Morgen im mörderischen Texas.«

Jaze umrundet mich und vollzieht einen gekonnten Schwenk auf das Areal unter uns. »Nayas Tag beginnt mit einem Sonnenbad, so wie es sich für eine Zombie-Amazone gehört«, erklärt Jaze untermalend und zoomt in Richtung Horizont. Erste, weiße Lichtflecken schimmern nun am Himmel und ich nutze die Gelegenheit, mich nun doch mal kurz mit meinen Haaren zu beschäftigen, bevor er sich wieder umdreht und erneut auf mich draufhält.

»Jaze«, sage ich kläglich, »hör auf mit dem Blödsinn!«

Mir ist natürlich klar, dass der Zoom nun dafür sorgt, dass mein Gesicht praktisch das gesamte Bild ausfüllt und die Kamera nimmt in HD auf. Das gibt eine super Nahaufnahme meiner müden Augen und vermutlich auch diverser Mitesser ...

»Naya?«, fragt er mich nun vorgetäuscht ernst, »wie schaffst du es, mit der Situation umzugehen?« Erleichtert stelle ich fest, dass er ein wenig wegzoomt. Leider wirklich nur ein wenig. »Die Lage ist heikel, nicht wahr?«, fragt er weiter in erstaunlich perfektem Journalisten-Tonus. Irgendwie erinnert er mich plötzlich an Noah Cole von Kanal Vier. In diesem Moment ähnelt Jaze dem Mann mit dem aristokratisch geschniegelten Look total. Fehlen nur noch Anzug und Krawatte.

»Du musstest deine Hello Kitty-Lunchbox zurücklassen und all deine Justin Bieber-Poster. Wie gehst du mit dem Verlust um? Wie schaffst du es, weiterzumachen?«

Ich stöhne auf und beschließe, diese Aufnahme nicht nur zu löschen, sondern am besten auch gleich die ganze SD-Karte neu zu formatieren.

»Ich habe keine Hello Kitty –«, setze ich an, doch Jaze ist jetzt voll in Fahrt.

»Willst du unseren Zuschauern nicht erzählen, wie wir uns kennengelernt haben? Erinnerst du dich?« Er senkt die Stimme und beginnt theatralisch: »Es war ein lauer Sommerabend, als Jaze«, er dreht die Kamera herum und hält sie sich direkt in sein grinsendes Gesicht, »das bin ich – einsam durch die texanische Wüste schlurfte.« Die Kamera wieder auf mich gerichtet erzählt er: »Und da, in weiter Ferne, wie Julia auf dem Balkon, erblickte ich sie. Naya. Naya, die Furchtlose. Eine Schönheit, wie sie im Buche steht. Das Antlitz eines Engels in dieser Welt voller Tod und Leid.«

»Oh Gott«, jammere ich, »das darf doch wohl nicht wahr sein! Dafür jage ich dir später eine Kugel in den Fuß!«

Jaze lässt sich nicht verunsichern und rückt mir weiter auf die Pelle. Die Linse praktisch in meinem Auge verkündet er: »Seht sie euch an. Nach Wochen in der Wildnis, ohne Hoffnung und ohne porenverfeinernde BB-Cream, ist sie doch das Aufregendste, was man im Umkreis von hundert Meilen finden kann, habe ich recht?«

Ich gebe es auf, ihn von dem Unsinn abzubringen, und frage stattdessen: »Hundert Meilen? Hast du unterwegs etwa irgendeine Schönheitskönigin kennengelernt, die mir entgangen ist?«

Er lacht und lässt endlich die verfluchte Kamera sinken.

Wir stehen nun so nah beieinander, dass nicht einmal mehr eine Dose Cola Platz zwischen uns fände.

»Im Ernst«, sagt er und legt den Kopf leicht schief. »Ich mag dich, Naya. Sehr sogar.«

Das kommt jetzt doch etwas unerwartet und klingt so gar nicht nach einem Scherz. Mein Herz pocht aufgeregt in meiner Brust und ich schlucke schwer. Ich bin nicht gut in solchen Unterhaltungen, war es noch nie. Aber vielleicht muss ich auch gar nichts erwidern? Vielleicht ist das einer dieser Augenblicke, in denen man seine eigene, bewusstseinsinterne Aufnahme starten sollte und den Moment konservieren, ihn einfach abspeichern sollte. Beinahe befürchte ich, nein, hoffe ich, dass er mich nun küssen wird, doch da erregt eine kleine Bewegung hinter ihm meine Aufmerksamkeit.

Die Sonne taucht inzwischen alles in ein klares gelb-weißes Licht und über Jazes Schulter hinweg sehe ich wieder die Stadt in der Ferne. Aber mit den Lichtverhältnissen hat sich noch etwas verändert. Nur um ein paar Schattierungen, aber definitiv anders, irgendwie.

Ich schiebe ihn zur Seite und bewege mich an den Rand des Daches.

»Was zum ...?«

Jaze folgt mir und ich werfe ihm einen besorgten Blick zu. Er wiederum sieht irgendwie verletzt aus. So als hätte ich ihm gerade einen Korb gegeben und vermutlich verhält es sich aus seiner Sicht auch genauso. Als er jedoch meinem Blick in Richtung Corpus-Christi-Stadt folgt, verändert sich sein Gesichtsausdruck schlagartig.

Wir beobachten, wie sich etwas Großes, bräunlich Graues langsam vorwärts bewegt. Wie eine riesige, seitwärts kriechende Schnecke. Mit der aufgehenden Sonne ist auch die Temperatur gestiegen und durch das Hitzeflimmern über dem brüchigen Asphalt in der Ferne erkenne ich schemenhafte Bewegungen. Viele, kleine langsame und schnelle Bewegungen, die sich zu einer großen Masse zusammenfügen.

»Heilige Scheiße!«, wispert Jaze und hebt beide Arme über den Kopf. Beinahe rutscht ihm die Kamera aus der Hand, doch ich greife danach, schalte sie ein und halte voll drauf. Entsetzt tritt Jaze neben mir einen Schritt zurück. Die Augen tellergroß aufgerissen, löst er seinen Blick von dem Ding in der Ferne und sieht mich geschockt an.

»Was ist das?«, frage ich unsicher. Eine dieser Fragen, auf die man eigentlich gar keine Antwort haben möchte.

Er nimmt eine Hand runter und fährt sich damit über das Gesicht. Es scheint, als würde er fieberhaft nachdenken. So als entwickele er im Geiste bereits irgendeinen verrückten Plan, der auf die Situation passt. Nur habe ich diese noch nicht wirklich erfasst, also frage ich erneut: »Jaze? Was ist das?« Ich zoome und kneife die Augen zusammen, was das Zeug hält, aber es will einfach nicht in meinen Kopf. Ich kann visuelle und gespeicherte Daten nicht miteinander verbinden.

Meine Fragerei reißt ihn aus seinen Gedanken. Er schnellt vor und packt meine Hand. Dann zieht er mich in Richtung der Treppen. Während wir die Stufen herunterpoltern, ruft er mir über die Schulter zu: »Ein Schwarm. Und er scheint genau in unsere Richtung zu kommen.«