Allmählich befürchte ich, dass diese Straße kein Ende hat. Es kommt mir vor, als würden wir in einer Endlosschleife festhängen. Ein Tag gleicht dem anderen. Die Landschaft ist immer dieselbe und wir machen immer dasselbe. Schlafen, essen, laufen. Hier und da füllen wir unsere Vorräte auf, dann geht es weiter.
Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt.
Seit dem Vorfall in der Hütte haben sich Koalitionen gebildet. Zumindest fühlt es sich so an.
Gadget hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich um Amelia zu kümmern. Im Wesentlichen bedeutet dies, dass er unzählige Endlosdiskussionen mit ihr führt. Meistens geht es um irgendwelche dubiosen Indizien, auf welche wir unterwegs stoßen. Tote Deadheads mit und ohne schwarze Augen. Solche Entdeckungen lassen unsere Möchtegernwissenschaftler stundenlang über die Frage diskutieren, ob ein frisch verwandelter Deadhead, der noch keine Gruselaugen hat, ebenso gefährlich wie sein knopfäugiges Pendant ist oder ob in ihm tatsächlich noch ein Rest Menschlichkeit schlummert. Leider werden sämtliche Thesen durch die Tatsache über den Haufen geworfen, dass es uns an dieser Stelle schlicht an Erfahrungswerten mangelt. Natürlich hat jeder von uns schon mal einen Deadhead ohne dunkle Glupscher gesehen. Allein in den Auffanglagern unserer Heimatorte haben sich so viele Menschen innerhalb kürzester Zeit verwandelt, dass so ziemlich alle von ihnen noch »buntäugig« waren. Trotzdem trachteten sie nach dem Leben ihrer Turnhallennachbarn, und wer hatte damals schon die Zeit, einen von denen zur Seite zu nehmen und mal ganz entspannt zu fragen, ob er sich nun wirklich als Deadhead fühlte oder doch eher noch ein bisschen wie Donny, der Eiswagenfahrer? Mal ehrlich? Amelias und Gadgets Theorien dienen doch im Grunde nur als Beschäftigungstherapie, denn der einzige, hautnah erlebte Vorfall, den es zu analysieren gilt, liegt erst ein paar Tage zurück und Billy hatte definitiv schwarze Augen und er war definitiv nicht mehr menschlich.
Die zweite Abspaltung bilden Summer und Jaze.
Meine Freundin hat die Gunst der allgemeinen Verwirrung über Jazes kühne – oder groteske – Tat in der Hütte ergriffen und weicht nicht mehr von seiner Seite. Sie hält energisch an ihrem offensichtlichen Plan, Jaze für sich zu gewinnen, fest. Ohne Unterlass scharwenzelt sie um ihn herum und gibt ihr Bestes, um selbst unter diesen erschwerten Bedingungen hinreißend auszusehen.
Als wir unsere Wanderung vor ein paar Wochen begonnen haben, wusch Summer sich stets in einem langen T-Shirt, wenn wir einen See oder Fluss aufgetan hatten. Um keinen Preis sollte einer der anderen sie in Unterwäsche oder gar ihre blanke Rückseite zu Gesicht bekommen. Nun ist auf einmal wie von Zauberhand ein Bikini aufgetaucht. Keine Ahnung, woher sie den hat. Ich habe meine Wellness- und Strandausrüstung damals jedenfalls nicht mit in die Sporthalle genommen, als es bitter wurde. Bei ihrem Exemplar handelt es sich um ein absolut winziges Stück Stoff mit superdünnen Bändchen und Trägern, die gefühlt durch bloßes Ansehen ihre Knoten lockern und meiner besten Freundin vom Körper fallen.
Einzige Erheiterung: Jaze wirkt nicht sonderlich beeindruckt. Seit wir das blutrünstige Ferienhaus hinter uns gelassen haben, redet er nicht mehr viel. Leider trägt das auch dazu bei, dass die anderen – also die, die ihn nicht mit quietschrosa Badebekleidung betören wollen – ihn noch misstrauischer wahrnehmen.
Aus unserer großen, eingeschworenen Wanderfamilie ist nun also eine Art Cliquenwirtschaft geworden. Und damit kommen wir auch zum letzten Pärchen der Runde.
Sam und mich.
Da die anderen ihren fragwürdigen Beschäftigungen nachgehen, gleichermaßen von keinerlei Erfolg gekrönt, widmen Sam und ich uns praktischeren Themen. Im Genauen bedeutet dies Routenplanung, Nahrungsbeschaffung, Lagerplatzauswahl und Wachdienst.
Zwar konnte Amelia Sam mit ihrer Wassertheorie nicht vollends überzeugen, doch fährt er lieber die vermeidlich sichere Tour und so werden weiterhin nur abgefüllte Getränke geplündert. Was bleibt auch anderes übrig. Fließend Wasser ist uns vor und nach der Hütte ohnehin nirgends untergekommen. Aber im Gegensatz zu unseren Beschaffungsaktionen vor Billys Verwandlung achten wir nun auf Sams Ansage hin genauestens darauf, nur Flaschen zu bunkern, die anderswo abgefüllt wurden. Amelia hat ihre Mutmaßungen nämlich ausgeweitet. Sie ist davon überzeugt, dass die Ursache der Krankheit im Wasser zu finden ist. Allerdings meint sie auch, dass es eine Art Ausgangspunkt geben muss. Eine Kläranlage oder Gegend, in welcher der Erreger zum ersten Mal aufgetreten sein muss. Und da sie es für unwahrscheinlich hält, dass dies zeitgleich in ganz Amerika geschehen ist, glauben wir, dass Wasser und andere Getränke, die zumindest ein paar Hundert Meilen oder gar auf einem anderen Kontinent abgefüllt worden sind, eine prima Sicherheitsstrategie abgeben. Nur ist es leider gar nicht so einfach, immer die richtigen Produkte zu finden. Die Auswahl ist ohnehin schon begrenzt, da direkt nach Beginn der Katastrophe unzählige Supermärkte und Drugstores geplündert wurden.
Aber wenigstens wird uns so nie langweilig. Was wären wir nur ohne unsere halbseidenen Theorien?
Auch heute sammeln wir uns nach einem mittelmäßig erträglichen Raubzug vor einem heruntergekommenen Kmart und prüfen unsere Beute. Während Summer und ich die Flaschen und Plastikverpackungen auf verschiedene Rücksäcke verteilen, verabschiedet Sam sich diskret.
»Warte«, ruft Jaze ihm nach und wirft seine Tasche zu den anderen, »ich komme mit.«
Sam starrt ihn missmutig an. »Sorry, ähm ... ich stehe nicht so auf Partner-Pinkeln. Das ist doch eher Ladysache.«
Jaze zuckt mit den Achseln und winkt ab. »Kein Problem.«
Damit verschwinden beide in unterschiedliche Richtungen. Nur das Packteam bleibt zurück.
»Was hast du da?«, fragt Summer mich und ich zeige stolz meine erbeutete Packung Reese’s Pieces.
»Yummy!«, ruft sie erfreut aus und grapscht danach. Ich ziehe mein Fresschen zurück und hebe mahnend den Finger.
»Meins!«, gurre ich und grinse sie fies an.
»Echt jetzt? Ach, komm schon!«, bettelt Summer und ich gebe nach. Eigentlich mag ich Butterfinger ohnehin lieber, aber wer kann dieser Tage schon noch wählerisch sein.
Ich reiche ihr eine der einzeln abgepackten Portionen und Summer reißt sie sofort auf. Dann beißt sie genüsslich in das erste muffinunterteilförmige Schokoteil und schließt freudig seufzend die Augen. Ich sortiere weiter Wasserflaschen, Konserven und Minisalamis, während sie ihre Ration restlos wegputzt.
»Sag mal«, frage ich und gebe mir Mühe, die Frage so belanglos wie möglich klingen zu lassen, »was läuft da eigentlich zwischen dir und Jaze?« Ich deute auf die Häuserecke, hinter der er vor einer Minute verschwunden ist.
Sie setzt eine wehleidige Miene auf und seufzt.
»Wenn man es genau nimmt ... nichts!« Summer lässt den Kopf hängen und schnappt sich ein paar Müsliriegel, um sie zu verstauen. »Ich find ihn echt süß, du etwa nicht?«
Die Frage trifft mich unvermittelt und so kann ich es nicht verhindern, knallrot anzulaufen.
»Klar, äääh. Schon irgendwie, so auf diese prollige, machetenmäßige Bandana-Art ...«
Meine Freundin mustert mich kurz. Ohne Zweifel hat sie bemerkt, dass ich meine Gefühle für Jaze – wenn man das überhaupt Gefühle nennen kann – herunterspielen will. Doch sie geht nicht darauf ein und meint bloß: »Ist vergebene Liebesmüh, fürchte ich. Egal, wie ich es auch angehe, der Junge ist praktisch immun gegen’s Baggern. Anfangs dachte ich, ja, er mag mich, aber mittlerweile glaube ich, die Sache mit Billy hat bei ihm was durchklinken lassen.« Sie lässt ihren Zeigefinger ein paar Mal neben ihrer Stirn kreisen und ich nicke verhalten.
»Ist doch auch kein Wunder«, entgegne ich knapp. Was hat sie denn gedacht? Dass ein bisschen Eyeliner und vulgäre Badebekleidung Jaze vergessen lassen, was er getan hat?
»Ja, mag sein. Aber schade ist es schon. Ich glaube, wir hätten ein tolles Paar abgegeben.«
Ich verschließe meine beiden Taschen und rappele mich vom Boden hoch. Eine seltsame Unterhaltung. Beinahe wie früher.
»Vielleicht braucht er nur etwas Zeit. Du weißt schon, um das Ganze zu verarbeiten und so. Wenn du ihm ein wenig mehr, na ja, Luft lässt, dann ergibt sich am Ende alles von ganz allein, würde ich sagen?«
Summer löchert mich erneut mit diesem kritischen Freundinnenblick, nickt dann aber anerkennend. »Könntest recht haben damit.«
Wir verstummen, als Jaze wieder auftaucht. Während alle ihre Taschen schultern und auf Sam warten, schlingert ein Deadhead über den Parkplatz. Obwohl wir zuvor nicht gerade leise gewesen sind, scheint er uns nicht zu bemerken. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass er eine kleine Axt im Kopf stecken hat. So eine, wie man sie mit zum Campen nimmt. Das Ding ragt, bis zum Anschlag im Kopf des Viehs vergraben, beinahe waagerecht in die Luft.
»Vielleicht hat das bei ihm irgendwas kaputt gemacht«, spekuliert Gadget. »Laufen geht ja scheinbar noch, aber möglicherweise sieht er nichts oder kann nichts mehr hören, sonst hätte der uns schon lange bemerkt.«
Ich schüttele fassungslos den Kopf.
»Aber wie geht denn das? Wie kann der bitte noch laufen?«
»Kommt immer auf die Art der Verletzung an«, erklärt Amelia, aber, bevor sie genauer ins Detail gehen kann, winke ich ab und erkläre: »Danke. Ist schon gut. So genau will ich das gar nicht wissen.«
In diesem Moment erscheint Sam auf der Bildfläche und hält geradewegs auf den Indianer-Deadhead zu.
»Na, der hat aber lange gebraucht«, stellt Jaze fest.
»Oh bitte, lasst uns jetzt nicht über Sams Stoffwechsel reden, Leute!«, jammert Summer angewidert. »Wenn man sich ins Gebüsch verabschiedet, ist das privat. Punkt!«
Wir folgen Sams Treiben und sehen gespannt zu, wie er zuerst seine Brechstange zieht und sie dem wankenden Ding in den Nacken rammt. Als der Deadhead zu Boden geht, schnappt Sam sich die Mini-Axt und reißt sie mit einem Ruck aus seinem Kopf. Dann befördert er sein Brecheisen wieder hervor und wischt beide Waffen am karierten Hemd des Toten sauber.
Alles wie gehabt. Ein Deadhead weniger, ein Tomahawk mehr im Gepäck. Sam, der Pragmatiker.
Als er sich uns nähert, fragt Jaze: »Was Schönes gefunden?«, und ich bin nicht sicher, ob er die Axt meint oder die Tatsache, dass Sams Pinkelgang so lange gedauert hat. Ganz schön urinalfixiert der Machetenmann heute.
Sam geht nicht darauf ein und sagt: »Ziehen wir weiter. Noch eine oder zwei Stunden, dann suchen wir uns was zum Schlafen, okay?«
Ich beobachte fasziniert, wie Summer sich Sam, ohne zu zögern, anschließt. Gadget und Amelia trotten hinterher, dann kommen Jaze und ich. Da hat meine Freundin meinen Ratschlag wohl bedacht. Es geschehen also noch Zeichen und Wunder.