Vorwort zu »Der Ruf des Cthulhu« (The Call of Cthulhu)
Die Grundgedanken für ›The Call of Cthulhu‹ schrieb Lovecraft am 12./13. August 1925 nieder (einen Tag nach dem Abschluss der Erzählung ›He‹), aber für die tatsächliche Niederschrift ließ er sich bis zum August oder September 1926 Zeit. In diesem Jahr fand sein kurzer Aufenthalt in New York (1924–1926) sein Ende: Lovecraft hatte begriffen, dass er für sein seelisches Gleichgewicht die Umgebung seines geliebten Providence, Rhode Island benötigte, und die Metropole nur besuchsweise ertragen konnte. Das Jahr nach seinem Weggang aus New York war das kreativste in seinem ganzen Leben; Geschichte um Geschichte floss aus seiner Feder.
›The Call of Cthulhu‹ ist in vielerlei Hinsicht ein Schlüsseltext des Autors. Gerade für jene seiner Erzählungen, in denen seine artifizielle Mythologie eine zentrale Rolle spielt, hat sich ja der (freilich wenig glückliche) Begriff »Cthulhu-Mythos« eingebürgert. In der Tat tritt hier nun eine gewaltige, künstliche Mythologie in die erzählerische Mitte einer Novelle, wie es zuvor bei Lovecraft so noch nicht der Fall gewesen war. ›The Call of Cthulhu‹ gibt sich als Zusammenstellung einiger von Hause aus beziehungsloser Dokumente, deren scheinbar zufälliges Zusammentreffen eine schreckliche Erkenntnis ermöglicht, ein blitzlichtartig aufleuchtendes Wissen um die akzidentielle Stellung des Menschen in der Welt und sein letztendliches Schicksal.
Die Perspektive der Erzählung ist die zweier sich ergänzender Protagonisten. Professor George Gammell Angell ist ein fiktiver Emeritus für semitische Sprachen an der (realen) Brown University, an der zu studieren Lovecraft verwehrt, mit der er aber trotzdem verbunden war und auf deren Grund und Boden er zuletzt wohnte. Francis Wayland Thurston, der Neffe Angells, der eigentliche fiktionale »Herausgeber«, wird nur in der ersten Überschrift namentlich genannt (die in älteren Drucken seltsamerweise fehlt). Professor Angell hatte schon mehrere dieser Dokumente gesammelt: einen Polizeibericht aus den Sümpfen von New Orleans, die Traumberichte eines jungen, extravaganten Bildhauers namens Henry Anthony Wilcox, schließlich die Erinnerungen eines Anthropologen von einer Expedition zu den Eskimos (tornasuk »Geist, Dämon« und angekok »Magier, Schamane« sind genuine Begriffe aus dem eskimo-aleutischen Sprachraum, die Lovecraft aus der ethnologischen Literatur kannte).
Die Episode um Wilcox’ aus einem Traum heraus geschaffenes Basrelief geht auf einen echten Traum von 1919 zurück, in welchem Lovecraft sich selbst als Bildhauer sah. Thurston ergänzt den Bericht des Seemannes Johansen, der zufällig Zeuge des Erwachens Cthulhus auf seiner vom Meeresgrund heraufgekommenen Insel wird, den Tod seiner Kameraden miterleben muss, und schließlich durch einen mutigen Akt Cthulhu für einige Zeit wieder in sein Gefängnis bannen kann. Zwischen den Zeilen erfahren wir, dass sowohl Angell und Johansen als auch Thurston auf geschickte Weise von den Anhängern eines Kultes aus dem Weg geräumt wurden, der die apokalyptische Wiederkunft Cthulhus und das Ende der menschlichen Zivilisation vorbereitet. Mit dieser Erzählung ist die Keimzelle dessen gelegt, was sich dann weiter als eigene Mythologie entfalten sollte.
Ein Prototyp für Cthulhu ist Dagon in der gleichnamigen Erzählung aus dem Jahr 1917. Man erkennt hier gut die Entwicklung von Lovecrafts erzählerischer Begabung. In ›The Call of Cthulhu‹ steht nicht mehr das bedrohte Individuum im Mittelpunkt, sondern die Menschheit als Ganze. Das Verhältnis Dagon – Cthulhu zeigt sehr genau, wie sich Lovecrafts Götter in seiner Fantasie gebildet und entwickelt haben. Interessant sind die polypenhaften und amorphen Züge Cthulhus. Lovecraft hat hier wenig später einen berühmten Epigonen gefunden: Abraham Merritt verwendet 1931 in seinem Roman Dwellers in the Mirage einen Dämon Khalk‘ru, der offensichtlich von Cthulhu beeinflusst ist. Umgekehrt stammt die Szene mit der sich öffnenden gewaltigen Tür in R’lyeh geradewegs aus Merritts Novelle ›The Moon-Pool‹ (1918; von Merritt später zu einem Roman ausgebaut), die auf der Südseeinsel Ponape mit ihren rätselhaften vorzeitlichen Steinbauten spielt.
»Polypenhaft« heißt ja: lauernd, nicht jagend und kämpfend, sondern wartend und einfangend, mit einer unmenschlichen Kraft des Festhaltens versehen. Man darf natürlich nicht an die kleinen und harmlosen Polypen des Mittelmeeres denken, sondern an den unheimlichen und gigantischen Kraken der nordischen Seemannssage. Die Erzählungen William Hope Hodgsons (1877–1918), in denen krakenhafte Ungeheuer eine große Rolle spielen, hatte Lovecraft freilich erst 1934 für sich entdeckt; sie können daher nicht als Quellen gelten. Es ist auch gar nicht erforderlich, nach einer »Quelle« für Cthulhu zu suchen: Zu vollkommen entspricht er spezifischen Ideen und Bildern des Lovecraftschen Universums des Schreckens. Cthulhu ist aber weit mehr als ein riesiger außerirdischer Krake; dieser ist sozusagen nur seine ikonografische Vergegenwärtigung, während Cthulhu selbst so fremdartig bleibt wie das Schicksal, das er dermaleinst der Erde bereiten wird.
Während in ›The Shadow over Innsmouth‹ (1931) die Bedrohung aus dem Meer etwas Leises, Schleichendes hat und ihre Opfer nicht schlagartig vernichtet, sondern dekadent macht, ist Cthulhu dezidiert eine apokalyptische Größe. Sein Erwachen signalisiert den Zusammenbruch aller menschlichen Kultur. Die orgiastischen Kulte, die Cthulhu verehren, hoffen zwar auf eine Fortsetzung und Steigerung ihrer Feste: »Dann würden ihnen die Großen Alten neue Wege zu brüllen, zu töten, zu schwelgen und zu genießen zeigen, und die Erde würde in Vernichtung, Ekstase und Freiheit flammen«. Die orgiastische Anarchie der Anhänger des Cthulhu-Kultes ist aber doch auch nur eine menschliche Interpretation der völligen Umwertung aller Werte, die das Wiedererwachen Cthulhus mit sich bringt. Mit einer genialen Metaphorik des Amorphen gelingt es Lovecraft, das Kommen Cthulhus als den Siegeszug einer völligen Auflösung des dem Menschen verstehbaren Universums anzudeuten (auch seine primitiven Anhänger »verstehen« Cthulhu nicht, sondern machen ihn sich nach ihrer Manier zurecht!).
Die »falsche Geometrie«, die auf der Insel R’lyeh herrscht, erinnert auf den ersten Blick an die Evokation des Wahns durch den konsequenten Verzicht auf rechte Winkel und »normale« Perspektiven in dem Robert-Wiene-Film Das Cabinet des Dr. Caligari (1919). Aber Lovecraft will nicht so sehr eine schizoide, wahnhafte Sehweise evozieren, sondern unser alltägliches Bild von Raum und Zeit und ihren Gesetzen hinterfragen. Weder seine Anhänger noch der Erzähler können letztlich sagen, was Cthulhu ist.
Wie wenige andere Geschichten Lovecrafts ist ›The Call of Cthulhu‹ von der numinosen, schrecklichen Präsenz eines Numens, eben Cthulhus, beherrscht. Hier steht tatsächlich ein Gott im Mittelpunkt, wenn man Cthulhu so verstehen will. Allerdings nicht ein Gott einer tröstlichen oder sonst wie humanen Religion, sondern einer unmenschlichen Andersartigkeit, die unsere Zivilisation nur hinwegfegen kann. Lovecraft gelingt es, in der Gestalt Cthulhus eine mythische Chiffre zu schaffen, die gerade die Infragestellung all dessen bedeutet, was dem Menschen lieb und wert zu sein pflegt. Dabei ist Cthulhu nicht böse: Er ist ganz und gar kein Dämon; wenn er von primitiven Kulten so verstanden (und verehrt) wird, liegt das an deren begrenzten Verständnismöglichkeiten. Lovecraft versucht hier bereits anzudeuten, was ihm dann in ›The Colour Out of Space‹ (abgeschlossen März 1927) unüberbietbar gelungen ist: die Manifestation des Numens zum Symbol für die angesichts der Fremdartigkeit des Kosmos zerbrechende Rationalität zu machen.
Obwohl Cthulhu im Meer wohnt, ist er doch kein »Meeresgott« wie Poseidon, Neptun oder Aegir. Nirgends beherrscht er das Meer wie ein Elementarnumen; viel wichtiger ist seine Gewalt über die Träume, durch die er Menschen als seine Diener anwirbt – und über das Vehikel des Unbewussten nach ihnen greift. Doch ist Cthulhus Aufenthalt in den Tiefen des Meeres natürlich nicht beliebig: Das Meer ist der Bereich der Erde, der am ehesten zum Träger des Unbekannten werden kann, und das in fast allen symbolischen Bezügen am ehesten in Affinität zum Unbewussten des Menschen tritt. Cthulhu ist aber gewiss nicht einfach eine Chiffre für ein bedrohliches, übermächtiges Es in einem Freudschen oder Jungschen Sinn und seine mögliche destruktive Wirkung: Lovecrafts Schöpfung ist primär als kosmologisches, nicht als psychologisches Symbol zu interpretieren.
Die Zahl der erklärungswürdigen Anspielungen in ›The Call of Cthulhu‹ ist Legion; ich kann nur Beispiele auswählen. Eine einzige Gestalt aus der Untergrundreligion Cthulhus wird etwas näher profiliert, der »alte Castro«. Früher dachte man (auch ich habe diese Ansicht seinerzeit vertreten), Lovecraft habe hier seinem jüdisch-polnischen Korrespondenten Gustav Adolf Danzinger (1859–1959), der es im Zuge der amerikanischen Feindschaft gegen Deutschland vorzog, sich Adolphe de Castro zu nennen, ein witziges und skurriles Porträt geschaffen. Aber diese These ist mittlerweile widerlegt, da Lovecraft de Castro erst nach Abschluss der Erzählung kennenlernte. Der alte Castro, »der behauptete, er sei in fremde, ferne Häfen gesegelt und habe in den Gebirgen Chinas mit den todlosen Führern des Kults gesprochen«, ist auch ohne erkennbares Vorbild eine plausible Gestalt, in der Lovecraft nicht zuletzt ein Stück zeitgenössischen Okkultismus karikiert. Man wird sich daran erinnern, dass mehrere bedeutende okkulte Vereinigungen der Jahrhundertwende behaupteten, mit geheimnisvollen unsichtbaren Führern in Verbindung zu stehen bzw. von diesen gegründet worden zu sein. Vor allem ist hier an die Theosophen zu denken, auf die vielfach in ›The Call of Cthulhu‹ angespielt wird (schon in den berühmten Eingangssätzen). Aber während die Evokation unvordenklicher Vergangenheiten und gewaltiger Zeiträume in der Theosophie Helena Blavatskys (1831–1891) einen optimistischen Grundton aufweist, will ›The Call of Cthulhu‹ diesen gerade ad absurdum führen. Das wichtigste theosophische Buch, welches Lovecraft aus eigener Lektüre kannte und in ›The Call of Cthulhu‹ ja auch explizit nennt, ist W. Scott-Elliots The Story of Atlantis & The Lost Lemuria (1896 und 1904, 1925 in einem Band zusammengefasst und von Lovecraft so benutzt), ein theosophisches Konglomerat über angebliche dem Menschen auf der Erde vorangegangene intelligente Lebensformen und ihre evolutionäre Entwicklung. ›The Call of Cthulhu‹ ist eine antitheosophische Vision, welche deren Ideen noch einmal steigert, dabei aber auch in ihr Gegenteil verkehrt. Man beachte vor allem, dass es nicht um ein Gut-versus-Böse-Szenario geht. Narrativ nicht völlig befriedigend (warum geht R’lyeh noch einmal unter?), hat die Novelle doch die Fantasie unzähliger Leser beflügelt. Erschienen ist sie zuerst in Weird Tales, Februar 1928.
Auch an regionalen Anspielungen mangelt es nicht. So wohnt der hellsichtige Künstler Henry Anthony Wilcox (der Erschaffer einer Statue Cthulhus im Traum) im Fleur-de-Lys-Building (in der Nähe der Rhode Island School of Design). Dieses farbenprächtige Gebäude im bretonischen Stil (7 Thomas Street in Providence), das 1885 von Sydney R. Burleigh als Studio erbaut worden war, muss Lovecraft auf seinen Spaziergängen stets aufs Neue interessiert haben (obwohl er die Architektur der viktorianischen Epoche im Allgemeinen ablehnte), zumal es eigentümlich rätselhafte Froschfiguren als Verzierung trägt. Direkt gegenüber befindet sich die First Baptist Church von 1775 mit ihrem eleganten weißen Kirchturm, den Lovecraft für den schönsten in Neuengland hielt und auf deren Orgel er 1923 ›Yes, We Have No Bananas‹ (einen Schlager) zu spielen versuchte … Das schiere Maß autobiografischer topischer Anspielungen geht weit über das hinaus, was bei den meisten Schriftstellern in der einen oder anderen Weise dezent angedeutet wird. Tatsächlich ist Lovecrafts neuenglische Topografie nicht weniger ein augenzwinkerndes Insider-Spiel mit dem Leser als seine artifizielle Mythologie.
Last not least ein Wort zur Aussprache des Wortes Cthulhu. In einem Brief vom 23. Juli 1934 an Duane W. Rimel schreibt Lovecraft auf dessen Frage: »Das Wort soll den mühsamen menschlichen Versuch ausdrücken, die Phonetik eines absolut nicht-menschlichen Wortes zu artikulieren. […] Die Silben sind nicht für unsere physiologischen Voraussetzungen geschaffen, daher können sie auch nicht fehlerfrei von einer menschlichen Kehle ausgesprochen werden. Der Klang […] kann etwa durch Khlûl’-hloo wiedergegeben werden, wobei die erste Silbe guttural und sehr schwer klingt. Das U ist wie in full zu sprechen, und die erste Silbe ähnelt im Klang etwas klul, d. h., das H repräsentiert den gutturalen Tonfall.« Donald Wandrei, der Lovecrafts eigene Aussprache gehört hat, transkribiert sie als K-Lütl-Lütl, Robert H. Barlow als Koot-u-lew. Dies alles phonetisch umzusetzen, überlasse ich getrost dem werten Leser.