Vorwort zu »Das Fest« (The Festival)

Am 17. Dezember 1922 besucht Lovecraft zum ersten Mal das Hafenstädtchen Marblehead, wenige Kilometer nördlich von Boston gelegen. An seinen Freund James Ferdinand Morton schreibt er einige Jahre später über diesen Besuch: »Gott! Werde ich jemals meinen ersten überwältigenden Blick auf MARBLEHEADS gedrängte und altertümliche Häuser vergessen, wie ich sie im Schnee im Licht eines irrwitzigen Sonnenunterganges gesehen habe, an jenem 17. Dezember 1922, 4 Uhr nachmittags!!! Eine Stunde zuvor habe ich nicht gewusst, dass ich jemals einen solchen Ort erblicken würde, und bis zu jenem Augenblick selbst war mir das schiere Ausmaß des Wunders nicht bewusst, vor dem ich stehen würde. Ich zähle diesen Moment – 4.05 Uhr bis 4.10 Uhr am Nachmittag des 17. Dezember 1922 – als die emotional bewegendste Klimax meines bald vierzigjährigen Lebens. Blitzlichtartig schlug die gesamte Vergangenheit Neuenglands – die gesamte Vergangenheit des alten England – die gesamte Vergangenheit der Angelsachsen und der westlichen Welt – über mir zusammen und identifizierte mich mit der stupenden Totalität aller Dinge, in einer Weise, wie es nie zuvor geschehen war und niemals wieder geschehen wird. Das war der Höhepunkt meines Lebens. Ich war damals 32 – und seitdem gab es nur ein Regredieren zu einer zahmen Senilität; nur noch den Versuch, die Wunder der Offenbarung und Andeutung und kosmischen Identifikation wiederzugewinnen, die der Anblick damals in mir geweckt hat. […]« (vom 12.3.1930).

Was Lovecraft hier beschreibt, ist eine echte mystische Erfahrung, eine Schau von Ganzheit und Totalität, von Konfrontation mit einer Geschichte der eigenen Kultur, welche für ihn zu einem prägenden Schlüsselerlebnis werden sollte, und zwar nicht so sehr wegen des emotionalen Gehaltes der Erfahrung (das ist das Missverständnis jener, die niemals etwas Vergleichbares erlebt haben), sondern wegen des Inhaltes, dessen, wessen er in der Schau Marbleheads ansichtig geworden war.

In der Kurzgeschichte ›The Festival‹ vom Oktober 1923 hat Lovecraft nun diese Erfahrung aus dem Vorjahr umgesetzt, aber in etwas völlig Neues verfremdet. Nicht mehr die Geschichte der Zivilisation steht im Mittelpunkt, sondern ihr Verfall, ihre Abgründigkeit, ihr »Kellergeschoss«. Aus Marblehead wird »Kingsport«, ein Name, den er freilich schon in ›The Terrible Old Man‹ (1920) benutzt hatte (bevor er Marblehead kannte). Aber die Atmosphäre ist doch erkennbar, und Lovecraft hat den Zusammenhang zwischen dem fiktiven und dem realen Ort später immer wieder in Briefen erwähnt.

Wie so oft geht es um die Konfrontation mit der Vergangenheit: »Nur die Armen und Einsamen erinnern sich«. Der Erzähler begegnet der Vergangenheit seiner Familie; der Schluss scheint nahezulegen, dass das ganze als eine Vision zu sehen ist.

Die in ›The Festival‹ erwähnte unheimliche Kirche hat Lovecraft in Briefen auch identifiziert: Es ist die sehr malerische St. Michael’s Episcopal Church in Marblehead (Frog Lane), 1714 erbaut und 1754 um den Glockenturm erweitert, die älteste Kirche am Ort. Das unterirdisch-chthonische Totenreich, in das der Erzähler durch seine Evokation der Vergangenheit gerät, gibt ihn nur im letzten Augenblick frei: Lovecraft lässt dem Leser die Freiheit, das ganze Erlebnis bis zum Sturz in den winterlichen Ozean als suizidale Fantasie zu interpretieren. Man beachte auch Lovecrafts Remythologisierung des Weihnachtsfestes (das ja in der Tat in vielen Punkten – nicht zuletzt im Datum – auf vorchristliches römisches Brauchtum zurückgeht). Das Motto der Erzählung stammt von dem lateinischen Kirchenvater Lactantius (ca. 250 – ca. 325 n. Chr.) und heißt übersetzt: »Die Dämonen bewirken, dass sie Dinge, die nicht existieren, die aber gewissermaßen sein könnten, vor den Menschen als Anschauung erscheinen lassen« (Lovecraft übernimmt das Zitat aus Cotton Mather, Magnalia Christi Americana, London 1702, S. 64; ein Buch, das er selbst besaß).

›The Festival‹ erschien zuerst in Weird Tales, Januar 1925 und noch einmal im Oktober 1933.