Neun
Erde, Himmel und Meer, alles muss vergehn
Das Arbeitstempo blieb hektisch. In der zweiten Wochenhälfte beschlich mich das Gefühl, die Hälfte der Einwohner hätte sich in den Kopf gesetzt, ihren Ehepartner zu verprügeln. Nachdem ich innerhalb von drei Tagen fünf Fälle familiärer Gewalt untersucht hatte – eine getötete alte Mutter, zwei verprügelte Ehefrauen, ein im Suff vom Balkon gestoßener Ehemann und ein mit dem Jagdgewehr des Vaters zum Krüppel geschossener kleiner Bruder –, war ich bereit zu schwören, nie zu heiraten oder mir Kinder zuzulegen. Über den Fall Jukka hatte ich nur gelegentlich nachdenken können, aber immer wenn ich in den Akten las, tauchten neue Fragen auf.
Jukkas Vater hatte die illegale Vorauszahlung des Erbteils energisch bestritten, allerdings traute ich ihm nicht ganz. Eine Vernehmung von Jukkas Mutter hatte der Hausarzt der Familie bis auf weiteres untersagt. Gegebenenfalls konnte ich trotzdem ein Gespräch erzwingen, aber ich wollte die Frau nicht unter Druck setzen.
In Jukkas Auto war nichts Interessantes gefunden worden. Es gab zahlreiche Fingerabdrücke, von denen einige nicht identifiziert werden konnten, aber keine, die wir in unserer Kartei hatten. Vielleicht waren Abdrücke von dem geheimnisvollen ÄM darunter, womöglich handelte es sich aber auch um ein ganz anderes Auto. Keine Blutspuren, keine Geheimverstecke. Von mir aus konnte der Wagen den Peltonens ausgehändigt werden.
Obwohl es für die Ermittlungen nicht unbedingt erforderlich war, wollte ich an Jukkas Beerdigung teilnehmen. Ich ging zu Fuß von meiner Wohnung zur Felsenkirche. Mein altes schwarzes Kleid spannte an den Schultern. Ich hatte es zur Abiturfeier bekommen, und damals trieb ich noch kein Bodybuilding. Die schwarze Strumpfhose verdeckte die Härchen an meinen Beinen. Blumen hatte ich nicht gekauft, denn Jukka brauchte keine mehr, und die Lebenden würden es missbilligen, wenn eine Polizistin mit Blumen ankam. Außerdem wollte ich mich auf die anderen konzentrieren, die ihr Gebinde am Sarg niederlegen würden; vielleicht waren Tiina, Merike und der Mann namens ÄM unter ihnen. Zur Gedenkfeier wollte ich nicht mitgehen.
Der Himmel war bewölkt und sah nach Regen aus. Das passende Beerdigungswetter. Es lag kein Gewitter in der Luft, nur ergebenes, geradezu durstiges Warten auf den Regen. Das Kreuzkraut, das am Sockel eines Hauses ans Licht drängte, sah jedenfalls so aus, als ob es sich nach den langen trockenen Wochen nach Feuchtigkeit sehnte.
Unauffällig schlüpfte ich auf einen Eckplatz auf der Empore. Ich überlegte, wann ich zuletzt in einer Kirche gewesen war, und erinnerte mich an die Hochzeit meiner Freundin Annika im letzten Winter. Kirchen waren mir fremd. Ich wusste nicht, wie ich mich dort verhalten sollte, kam mir unbeholfen und laut vor, und die Worte der Pfarrer sagten mir nichts. Ich dachte selten über religiöse Dinge nach, meistens hatte ich dazu einfach keine Lust. Jetzt überlegte ich, wohin Jukka eigentlich gegangen war. Auf dem Präsidium lief das Gerücht um, vor zwanzig Jahren hätte einer der erfolgreichsten Ermittler unseres Dezernats regelmäßig einen Spiritisten aufgesucht, wenn er ein Tötungsdelikt aufzuklären hatte. Angeblich hatte das gut funktioniert. Es fiel mir schwer, an dergleichen Dinge zu glauben, aber was wusste ich schon. Möglich war alles – vielleicht war Jukka jetzt an dem Ort, den die Gläubigen Himmel nennen. Oder gehörte er eher in die Hölle?
Vielleicht hatte jeder seinen eigenen Himmel. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Jukka sich mit wohlgeformten weiblichen Engeln vergnügte. Ein ungehöriger Gedanke in einer Kirche – hoffentlich hatte niemand gesehen, dass ich stillvergnügt lächelte, und das auf einer Beerdigung! Vielleicht hatte Jukka einfach aufgehört zu existieren. Ganz und gar. Die düsteren Töne in Anttis Brief kamen mir in den Sinn. Nach Anttis Ansicht gab es Jukka nicht mehr, in keiner Form. Nach dem Tod war nur schwarze Endgültigkeit.
Ich blickte von der Empore herunter. Es waren nicht besonders viele Menschen in der Kirche. Die Chormitglieder saßen bereits auf ihren Plätzen vor den Angehörigen, ich konnte ihnen geradewegs ins Gesicht sehen. Vor dem Altar stand ein schlichter Eichensarg. Er würde bald mit Jukka verbrennen. Heikki Peltonen saß in der ersten Bank, die schwarz verschleierte, zusammengesunkene Frau neben ihm war sicher Jukkas Mutter. Wie viele Beruhigungsmittel hatte man Frau Peltonen wohl vor der Trauerfeier eingeflößt?
Alle meine Verdächtigen waren anwesend. Piia und Tuulia saßen am rechten Rand der Sopranreihe. Piia, die jetzt schon gerötete Augen hatte, trug ein elegantes schwarzes Kleid aus einem Stoff, der für eine Beerdigung fast zu fein war. Tuulias enges schwarzes Trikotkleid ließ ihre Haare und ihr Gesicht beinah weiß erscheinen. Sirkku saß mit gesenktem Kopf auf ihrem Stuhl und hielt den hinter ihr sitzenden Timo an der Hand. Mirja dagegen betrachtete die Trauergemeinde, und als ihr Blick auf mich fiel, sprühten ihre Augen vor Hass.
Die Männer saßen in der hinteren Reihe, Jyri war so klein, dass er fast hinter den Altsängerinnen verschwand. Antti saß ganz am Rand, sein Kopf ragte über die anderen empor. Die Hosenbeine seines schwarzen Sonntagsanzugs waren zu kurz, über den schwarzen Socken war ein Stück des schmalen Knöchels zu sehen. Seine bis in den Nacken reichenden Haare hatte er mit einem schwarzen Zopfband zusammengebunden.
Toivonen saß an der Orgel. Ich sah, wie seine Hände zitterten, und merkte, dass ich um die Chormitglieder fürchtete, um Jukkas Mutter, um mich selbst. Ich fürchtete die Qual, die hinter all den geröteten Augen lauerte, fürchtete, dass sie außer Kontrolle geriet, dass der Gesang sich in Heulen und Wehklagen verwandelte. Ich hatte Angst, dass jemand laut «Wer?» und «Warum?» rief – Fragen, auf die ich noch keine Antwort wusste. Vielleicht hatte es Jukka von uns allen am leichtesten. Für ihn war alles vorbei.
Toivonen schlug die ersten Akkorde des Gemeindelieds an. Ich hatte immer gern Kirchenlieder gesungen, also nahm ich das Gesangbuch zur Hand und stimmte ein. Lied 613, Strophe eins und zwei. Schon bei der ersten Strophe wunderte ich mich über die Wahl dieses Liedes, und die Worte der zweiten Strophe schienen die Situation allzu genau zu treffen: Nicht hoher Mut noch Mächtigkeit, nicht Jugend kann da raten, nicht Klugheit und Geschicklichkeit uns von dem Grabe retten. Für einen jeden Menschen kommt das Ende seiner Zeit. Doch wann und wie es jedem frommt, der Herr allein entscheid’t. Ich merkte, dass meine Stimme zitterte. Wahrscheinlich nur, weil ich so lange nicht mehr gesungen hatte.
Nach dem Gemeindelied war der Chor an der Reihe. Ich erkannte das Lacrimoso aus Mozarts Requiem. Die Melodie war qualvoll und roh, auch in den Worten lag keine Hoffnung, sondern trotziges Aufbegehren: Tränenreich ist jener Tag, an dem ersteht aus dem Staube, gerichtet zu werden, der Mensch. War Jukka ein schlechter Mensch gewesen? Gleichgültig und mit Menschen spielend, das ja, aber schlecht? Ich konnte die Augen nicht vom Chor lösen, ich hörte Jyris flötenden Tenor und Mirjas herrlichen, dunklen Alt heraus. Die Stimme war wohl das Schönste an ihr. Die Bässe hielten die dräuende Unterstimme, die Soprane stiegen immer höher, keine Stimme versagte. Tuulias bleiches Gesicht bekam beim Singen ein wenig Farbe.
Die Gebete und die Lesung zogen an mir vorbei. Der Pfarrer, ein junger Mann, der so ernst dreinblickte, wie es dem Anlass angemessen war, richtete seine Worte direkt an Jukkas Eltern. Piia holte offenbar ein Taschentuch hervor. Ich musste möglichst bald mit ihr sprechen. Sirkku klammerte sich wieder an Timos Hand. Für diese beiden war mir noch kein einleuchtendes Mordmotiv eingefallen. Ich konnte mir allerdings vorstellen, dass Timo wütend auf Jukka losgegangen wäre, wenn der sich über Sirkku lustig machte, und dass er dann vielleicht fester zugeschlagen hätte, als er eigentlich wollte. Timo sah aus wie einer von den Männern, die der Ansicht sind, es sei die Sache des Mannes, sich an einem anderen Mann zu rächen, wenn seine Frau beleidigt wurde. Mich hatte noch niemand auf diese Weise verteidigt. Nicht, dass ich mir das etwa gewünscht hätte. Im Gegenteil, einmal habe ich in der Schlange vor einer Würstchenbude einen besoffenen Idioten geschlagen, weil er Harri, den Vogelmann, als langhaarigen Schwulen bezeichnet hatte.
Aber hätten Timo und Jukka einen Grund gehabt, sich heimlich des Nachts zu treffen? Und wenn das T in Jukkas Kalender nun Timo bedeutete? Und wenn sich die Gerätschaften zum Schwarzbrennen bei einem der beiden Liebenden befanden … Der Pfarrer beendete seine Ansprache, Toivonen verließ seinen Platz an der Orgel und stellte sich vor dem Chor in Positur, die Sänger standen auf. Hain der Toten, nächtiger Hain … Offensichtlich hatten sie die Fassung für Männerchor gewählt, weil die Frauen einfach nicht imstande waren zu singen. Es waren nur sechs Männer, die extremen Stimmlagen schienen Antti und Jyri jeweils allein zu tragen.
Die Tränenflut begann bei Jukkas Mutter, setzte sich dann wellenartig durch die nächsten Reihen fort, erfasste Verwandte und Bekannte, schwappte auf die Frauen im Chor über. Tuulia versuchte gar nicht erst, die wie Sturzbäche fließenden Tränen zurückzuhalten. Ich wäre am liebsten zu ihr gegangen, um sie zu trösten. Piia verbarg ihr Gesicht hinter ihrem schwarzen Haar, ein mir unbekanntes Mädchen schnaubte sich so laut die Nase, dass ich es bis auf die Empore hörte. Nur Mirja saß ruhig und ausdruckslos da, als ob die Trauer, die sie von allen Seiten umgab, sie überhaupt nicht berührte. Konnte diese Teilnahmslosigkeit gespielt sein? Oder hatte Mirja Jukka so gehasst, dass sie sich über seinen Tod freute? Warum?
Ich bewunderte die Selbstbeherrschung der Sänger. Männern war es in unserer Gesellschaft immer noch nicht erlaubt, vor Trauer hysterisch zu werden. Aber wie brachten sie es fertig zu singen, während alle um sie herum weinten und Jukkas Mutter trotz aller Beruhigungsmittel laut heulte? Jyri sang den Part des ersten Tenors wohlklingend und weich. Seine grelle Sprechstimme wurde beim Singen körperlos, verwandelte sich in ein Instrument. Die Zwischenlagen klangen ein wenig rau, und das Gesicht eines Bassisten zuckte verdächtig. Antti sang seinen unglaublich tiefen Part an Jukkas Mutter gewandt, als wollte er ihr mit seinem Blick die Gewissheit vermitteln, dass die Worte von Aleksis Kivi zutrafen. Fern von allem Hasse, Streite … Als das Lied zu Ende war, schmeckte ich Blut. Ich hatte meine sonnenverbrannte Unterlippe aufgebissen.
Zum Glück holte mich die Predigt in die Realität zurück. Vor allem brachte sie mich auf. Der Pfarrer krümmte und wand sich, als er auf die Umstände von Jukkas Tod einging. Sicher war es nicht leicht, darüber zu sprechen, da der Fall noch nicht aufgeklärt war und der Mörder wahrscheinlich in der Kirche saß. Nach den Worten des Pfarrers hatte Gott in seiner Weisheit beschlossen, Jukka entschlafen zu lassen. Ich hasste diese Euphemismen rund um den Tod. Wenn der Pfarrer Jukkas Leiche gesehen hätte, wären ihm diese Worte gewiss nicht in den Sinn gekommen. Von friedlichem Schlaf konnte wahrhaftig nicht die Rede sein.
Wieder erhob sich der Chor. Stromab treibet mein Boot. Der Einsatz der Soprane klang ein wenig zittrig, Piia wirkte furchtbar gequält. Dieses Lied hatten sie in Vuosaari sorglos eingeübt. Wie anders es für sie jetzt klingen musste. Alles muss vergehn, dröhnten die Bässe. Strahlt einstmals neuer Frühling und neues Morgenrot, hieß es bald darauf hoffnungsvoll. Ist es Selbstbetrug nur?, zweifelten die Bässe. Für Jukka würde es keinen Frühling mehr geben.
Dann wurden die Kränze niedergelegt. Meine Wut loderte hell auf, als ich die vielen prächtigen Blumen betrachtete, die dem, der im Sarg lag, keine Freude mehr bereiteten. Jukkas Mutter schaffte es nur mit Mühe und schwer auf ihren Mann gestützt, kurz am Sarg zu stehen. Es folgten die Verwandten, dann Jukkas Kollegen. Jukkas Sekretärin legte den Kranz nieder, und Marja Mäki verlas mit fester Stimme einen nichts sagenden Gedenkspruch.
Zum Schluss legten Toivonen und der Bassist mit dem zuckenden Gesicht den Kranz des Chors nieder. Interessiert stellte ich fest, dass keiner von Jukkas Freunden, Jyri, Antti oder Tuulia, mit dieser Aufgabe betraut worden war, auch nicht Timo, der Vorsitzende des Chors.
Soweit ich sah, hatten fast alle Trauergäste Blumen niedergelegt, aber keines der Gebinde kam von einer der in Jukkas Kalender genannten Frauen oder von einem Mann, der der geheimnisvolle ÄM sein konnte. Allerdings hatte Heikki Peltonen ja gesagt, dass die Familie eine Beerdigung im kleinen Kreis wünschte. Es hatte nicht einmal eine Todesanzeige in der Zeitung gestanden.
Ich war wohl vergebens gekommen.
Vergeblich war auch meine Hoffnung gewesen, der Mörder würde bei der Trauerfeier zusammenbrechen. Ich wurde noch zorniger, als alle meine Verdächtigen mit frommer Miene das Vaterunser sangen. Dein Wille geschehe, sollte der Mörder wirklich so denken? Die christliche Ethik forderte, dass der Mörder gefasst wurde. Auge um Auge und Zahn um Zahn – um Himmels willen, ich wollte Jukkas Mörder ja wirklich fassen! Wollte ich Rache üben, erfolgreich sein, der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen? Aber war ich auch fähig, den ersten Stein zu werfen?
In meiner ersten Zeit im Polizeidienst hatte ich mich gefühlsmäßig engagiert. Ich hatte Mitleid mit den Opfern gehabt, aber auch die Täter verstehen wollen. Kehrte ich jetzt zu dieser Haltung zurück? Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht schon wieder meine eigenen Moralvorstellungen an jedem neuen Fall messen, über die Verwerflichkeit der Taten und angemessene Strafen nachdenken. Ich hatte mir eingebildet, der Gerechtigkeit besser dienen zu können, indem ich von der jagenden zur strafenden Seite überwechselte. Polizisten mussten Halbwüchsige festnehmen, die die Betonwände eines Amtsgebäudes mit Graffiti beschmierten, oder Studenten, die aus Neugier Haschisch rauchten, während die Richter gerechte Strafen verhängen konnten. Aber war ich überhaupt fähig, eine solche Verantwortung zu übernehmen?
Toivonen setzte sich wieder an die Orgel und spielte Händels Largo. Die Trauergäste saßen still in den Bänken und warteten darauf, dass die engsten Angehörigen als Erste die Kirche verließen. Jukkas Vater fasste seine Frau vorsichtig am Arm. Maisa Peltonen stand schwankend auf und fing plötzlich an, die Orgel zu überschreien:
«Du Monster, das meinen Sohn ermordet hat! Wie kannst du es wagen, in diese Kirche zu kommen, wie kannst du es wagen, an Jukkas Sarg zu singen, wie …» Ihre Stimme erstickte in heftigem Weinen, Heikki Peltonen drückte ihren Kopf an seine Brust, als wollte er ihr den Mund verschließen. Toivonen holperte durch das Largo, die anderen Kirchenbesucher starrten betreten an die Wand oder zu Boden. Die Chormitglieder sahen einander nicht an. Timo war feuerrot geworden und presste Sirkkus Hand, Sirkku biss sich auf die Knöchel, als wollte sie ihren eigenen Schrei ersticken. Piia vergrub ihr Gesicht im Taschentuch. In Jyris Gesicht zuckte es. Nur Mirja saß unbewegt da.
Die Trauergäste setzten sich erst in Bewegung, nachdem Jukkas Eltern die Kirche verlassen hatten. Die Gedenkfeier würde ein Albtraum werden, so viel stand fest. Der blumenbedeckte Sarg blieb vor dem Altar stehen, offenbar sollte er in aller Stille eingeäschert werden.
Ich versuchte, unbemerkt aus der Kirche zu entkommen, aber Antti war schneller als ich. Auf dem Vorplatz hörte ich seine Schritte hinter mir, dann packte er mich grob am Arm.
«Verflucht nochmal, tu was, und zwar schnell!», zischte er, die Augen zu Schlitzen verengt wie eine angriffsbereite Katze. «Maisa steht kurz vor dem Zusammenbruch. Sie hat geschworen, sich zu rächen, uns alle umzubringen. Sie hält nicht mehr lange durch.»
«Dann leg doch ein Geständnis ab!», fuhr ich ihn wütend an. Er ließ meinen Arm los und starrte mich entsetzt an.
«Da bist du aber gewaltig auf dem Holzweg! Kein Wunder, dass du nicht vorankommst, wenn du mich verdächtigst!»
«Zumindest könntest du ein bisschen kooperativer sein!»
«Ach nee, an meiner Kooperationsfähigkeit hängt also alles?»
Im gleichen Moment umringten uns die anderen Chormitglieder. Mir kam das alte Spiel in den Sinn, Blindekuh, wo der in der Mitte raten muss, auf wen sein Finger zeigt. Ob man mit dieser Methode einen Mörder entlarven konnte?
«Antti, wir machen noch eine kurze Probe vor der Gedenkfeier», sagte Toivonen. Die ersten Regentropfen landeten auf meiner Stirn. Während wir in der Kirche waren, hatten sich dunkle Wolken aufgetürmt.
«Wie oft soll ich noch sagen, dass ich da nicht hingehe. Ich hab eben meinen letzten Auftritt im IOL gehabt. Außerdem unterhalte ich mich gerade mit unserer Miss Marple.»
«Antti. Wir brauchen dich.» Mirjas Stimme war schneidend.
«Kommt, Leute. Lasst ihn in Ruhe.» Tuulia ging und zog die anderen mit sich. Plötzlich standen Antti und ich allein vor der Kirche. Nur Mirja drehte sich nach uns um.
«Ich hab jetzt wirklich keine Lust auf Kaffee und Kuchen oder auf Erinnerungen an Jukkas Kindheit», erklärte Antti und ging hinunter zur Runeberginkatu, offensichtlich in der Erwartung, dass ich mitkam.
«Wie bist du denn auf die Idee gekommen, dass ich Jukka umgebracht hätte?», fragte er, als ich ihn eingeholt hatte.
«Das hab ich doch nur so in den Raum gestellt.»
«Hast du die Technik schon an den anderen ausprobiert? Es hat wohl nicht funktioniert?»
«Nein, hat es nicht. Aber ich will wirklich rausfinden, wer der Mörder ist, und tue die ganze Zeit mein Bestes, versuch doch mal, das zu begreifen. Aber ich bin verflixt nochmal keine Superfrau, die bloß mit den Fingern zu schnipsen braucht, um einen Mord aufzuklären. Du solltest mir helfen, statt mich anzubrüllen. Ich weiß wirklich noch nicht, wer der Täter ist, aber ich hab einige Verdächtige. Alles muss überprüft werden, das braucht eben seine Zeit. Wenn du mir nichts zutraust, dann lass es bleiben. Ich muss jedenfalls versuchen, auf meine Fähigkeiten zu vertrauen.»
Antti trat mit der Spitze seines abgetragenen schwarzen Schuhs gegen eine flach gedrückte Bierdose und sagte verlegen:
«Tut mir Leid. Ich war so aufgewühlt von der Beerdigung … Ich bin der gleichen Meinung wie Maisa: Irgendwer hat in der Kirche einen Weltrekord im Heucheln aufgestellt. Wenn ich nur … wenn ich nur wüsste, was wichtig ist und was nicht.»
«Erzähl einfach alles und überlass mir die Entscheidung. Fang bloß nicht an, den Privatdetektiv zu spielen! Und vor allem, sag dem, den du verdächtigst, auf gar keinen Fall, dass du und nur du etwas weißt, was ihn belastet! Sonst kannst du Jukka bald Gesellschaft leisten – wo immer er jetzt ist.»
Ich fügte meine Vision von einem Himmel an, in dem sich Jukka mit dem «Playboy» entsprungenen Engeln amüsierte. Zum zweiten Mal seit Jukkas Tod sah ich Antti lachen. Sein angespanntes Gesicht wurde weicher, die tiefen Falten in den Wangen fächerten sich in viele kleine Lachfältchen auf.
«Du hast es gut, wenn du dir so was ausmalen kannst. Hübscher Einfall, aber ich kann an keinen Himmel glauben. Für mich hat Jukka aufgehört zu existieren, Punkt. Und auch wieder nicht. Immerhin war er mein bester Freund, trotz allem.»
«Trotz allem?»
«Na ja, unsere Wertvorstellungen sind in den letzten Jahren ein bisschen auseinander gedriftet – unsere Lebensweise auch. Ich hab sein Treiben manchmal nicht ganz begriffen. Er wollte immer in Saus und Braus leben. Vielleicht hat er geahnt, dass er nicht alt wird. Allerdings hat er immer behauptet, er würde an Aids oder Leberkrebs sterben. Aber wie es vorhin in dem Lied hieß: Der Herr allein weiß, wie wir aus dem Leben scheiden.»
Ich überlegte, was Antti dazu sagen würde, dass ich seinen Brief gelesen hatte. Mein Versuch, den Menschen mit professioneller Distanz zu begegnen, scheiterte auch in Anttis Fall. Inzwischen waren wir an der Straßenecke angelangt, an der ich zu meiner Wohnung abbiegen musste, und es regnete immer heftiger. Ich hatte keine Lust, nass zu werden.
«Wollen wir ins ‹Elite› gehen, bis der Regen aufhört?», schlug Antti vor.
«Ich wohn gleich da drüben in dem grünen Haus. Wenn du Zeit hast, kann ich uns einen Kaffee kochen, Kuchen hab ich keinen.»
«Geht auch ohne. Ich kann ja mal versuchen, von Jukka zu erzählen. Vielleicht hilft dir das weiter.»
Wir gingen hinauf in den zweiten Stock. Ich entschuldigte mich für die Unordnung, wie es sich gehört, wenn man Besuch bekommt, dabei war meine Wohnung ausnahmsweise aufgeräumt. Es ärgerte mich, dass ich plötzlich anfing, statt der Polizistin die Frau herauszukehren. Ich kochte Kaffee und stellte Brot auf den Tisch. Gestern hatte ich es endlich geschafft einzukaufen. Inzwischen begutachtete Antti mein Bücherregal und zupfte an der Bassgitarre herum, die in der Zimmerecke stand.
«Du hast mir am Sonntag gesagt, dass du Jukka dein ganzes Leben gekannt hast.»
«Von der Volksschule an. Tuulia auch. Die waren als Kinder beide so mutig. Ich war immer ein bisschen langweilig und vorsichtig, aber ich hab alle möglichen Abenteuergeschichten gelesen und hatte immer gute Ideen, was wir spielen könnten. Jukka war der geborene Anführer und Organisator. Und Showmaster. Irgendwie hart war er schon, hat Menschen ausgenutzt, immer gekriegt, was er wollte. Aber man kam mit ihm zurecht, wenn man ihm nicht nachgab.»
Antti wollte sich an Jukka erinnern, um sich zu befreien, das war nicht zu übersehen. Ich ließ ihn reden, ohne ihn zu unterbrechen, und prägte mir das Bild von Jukka ein, das er da zeichnete: freigebig in finanziellen Dingen, Frauen gegenüber erobernd und besitzergreifend, herrschsüchtig, abenteuerlustig. Fröhlich und egoistisch. Antti erzählte von Schulstreichen, von gemeinsamen Segeltörns mit Jukkas Bruder und Peter Wahlroos, vom Leben in der gemeinsamen Wohnung.
«Habt ihr euch mal gestritten, wegen seiner Frauengeschichten zum Beispiel? Hat er versucht, sich zwischen dich und Sarianna zu drängen?»
«Sicher, bei Sarianna hat er’s auch versucht, aber sie hat ihm von vornherein klar gemacht, dass es nichts bringt. Nein», fuhr Antti fort, als wollte er meiner Frage zuvorkommen, «wir haben uns nicht wegen Jukka getrennt. Wir hatten einfach keine Gemeinsamkeiten mehr. Das Motiv fällt also flach. Darauf wolltest du doch hinaus?»
Ich gab mir alle Mühe, nicht zu erröten. Trotz der ungezwungenen Atmosphäre hatte unsere Unterhaltung einen Beigeschmack von Verhör. Irgendwie stimmte es mich traurig, von Antti nur als Ermittlerin angesehen zu werden und seine Offenheit nicht als Freundschaftsbeweis nehmen zu können.
«Wie war es denn sonst mit Frauen, die anderweitig gebunden waren, mit Jukkas Chefin zum Beispiel?»
Antti grinste und stopfte sich ein großes Stück Brot in den Mund.
«Das weißt du also auch schon. Von einer so eleganten Frau konnte Jukka natürlich nicht die Finger lassen, sie von ihm übrigens auch nicht. Ich hatte den Eindruck, dass da auf beiden Seiten fair gespielt wurde.»
«Und mit Piia, war das auch ein faires Spiel?»
«Ich glaube, Jukka war heftiger in sie verliebt, als er sich eingestehen wollte. Wahrscheinlich lag es an ihrer Unerreichbarkeit – es ist ihm selten passiert, dass er nicht bekam, was er wollte. Das war sicher eine Herausforderung für ihn.»
«Ist zwischen den beiden etwas passiert, womit Jukka Piia hätte erpressen können?»
«Erpressen?» Antti war wie vor den Kopf geschlagen.
«Jukka hatte in letzter Zeit eine Menge überschüssiges Geld auf dem Konto. Vielleicht stammt ein Teil von Wahlroos?»
«Er war doch kein Erpresser … Oder? Ich blick allmählich nicht mehr durch.» Antti starrte nachdenklich in seine leere Kaffeetasse. Ich goss ihm den letzten Rest aus der Kanne ein. Er schmierte sich sein drittes Käsebrot. «Er hatte wohl seine Einnahmequellen.»
«Illegale?»
«Weiß ich doch nicht! Das artet ja langsam in ein Verhör aus!»
«Du kannst jederzeit gehen, wenn du keine Fragen beantworten willst», versetzte ich kühl.
«Sony, aber so einfach ist das nicht. Du bist immerhin Polizistin.»
«Genau. Und ich möchte dir Fragen stellen. Waren Timo und Jukka Freunde? Oder Jukka und Sirkku?»
«Na ja, Sirkku und Jukka hatten mal was miteinander, damals in Deutschland, vor langer Zeit … Freunde waren sie nicht gerade, aber sie sind ganz gut miteinander ausgekommen. Timo ist ein bisschen schwerfällig, dem hat Jukkas Art nicht gefallen.»
«Jukka und Mirja?»
«Einmal.»
Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich diese Information elektrisierte.
«Das war Mirjas verzweifelter Versuch, mich eifersüchtig zu machen», fügte Antti hinzu. «Nicht, dass ich Mirja hasse, wie Tuulia zum Beispiel, die kann Mirja nicht ausstehen, aber ihre Schwärmerei ist mir verdammt peinlich. Ich empfinde nun mal nichts für sie.»
«Zwischen euch ist also nie etwas gewesen?» Die Frage hatte mit dem Mord an Jukka nichts zu tun, aber ich wollte es wissen, auch wenn ich mich für meine Neugier hasste.
«Nee. Ich hab nicht die Angewohnheit, aus Mitleid mit einer ins Bett zu gehen. Mit einem Motiv kann ich dir also nicht dienen. Ich war nicht eifersüchtig wegen Mirja. Bloß wütend über Jukkas Verhalten.»
«Wie hat er sich denn verhalten?»
«Das musst du Mirja fragen. Ich hab schon viel zu viel über ihre Privatangelegenheiten geredet.»
Antti sah zum Fenster hinaus und merkte offenbar, dass es aufgehört hatte zu regnen. Nur allzu deutlich sah ich die dunklen Schatten unter seinen Augen. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, hätte es sich aber im letzten Moment anders überlegt. Es fuchste mich, nicht mehr aus ihm herausholen zu können als vage Andeutungen. Vielleicht sollte ich ihn wegen Beweishinterziehung festnehmen, aber dann würde er mich hassen. Ich hatte ein Problem: Ich wollte den Mörder finden, aber ich wollte nicht, dass es einer meiner Verdächtigen war.
«Du warst doch der zweite Buchprüfer des IOL. Hast du die Rechnungsbelege vom letzten Jahr jemals zu Gesicht bekommen?»
«Da hat sich Jukka drum gekümmert. Er hat gesagt, es wäre alles in Ordnung. Ich hab nur den Revisionsbericht unterschrieben. Wieso?»
«Guck dir das mal an.» Ich nahm das Kontobuch des IOL und suchte die fraglichen Belege heraus. Als Mathematiker entdeckte Antti die Unregelmäßigkeiten im Nu.
«Du meinst, dass Jyri …»
«Offensichtlich.»
«Dieser verdammte kleine Idiot! Aber hör mal, ich muss jetzt gehen. Meine Eltern kommen heute Abend vorbei und holen Einstein ab. Der langweilt sich in meiner engen Wohnung, und meine Eltern haben in Inkoo ein Sommerhaus. Da kann er Mäuse jagen.»
An der Tür drehte sich Antti plötzlich zu mir um und sagte hastig: «Du hast gesagt, ich soll nicht den Privatdetektiv spielen. Fass du das Ganze aber auch nicht als Spiel auf. Es gelingt uns nicht, dich als richtige Polizistin anzusehen, und einige von uns rechnen nicht damit, dass du überhaupt was rausfindest. Derjenige, der Jukka umgebracht hat, ist wahrscheinlich unberechenbar. Sei vorsichtig!»
Bevor ich etwas erwidern konnte, war er weg. Bald darauf sah ich seine lange, schwarze Gestalt, die Hände in den Taschen vergraben, mit weit ausgreifenden Schritten die Straße hinaufgehen.
Ich war unruhig und fühlte mich elend. Gegen solche Gemütslagen ging ich meistens mit Sport an, aber ich hatte am Tag zuvor im Fitnessstudio meine Muskeln überstrapaziert. Alkohol würde mich nur noch trauriger machen. Die einzige Alternative war Arbeit. Fragen gab es zur Genüge, und mit Mirja wollte ich als Erstes sprechen. Vielleicht war sie schon zu Hause.
Ich tauschte die Trauerkleidung gegen Jeans und Tennisschuhe und packte mein Tonbandgerät und einige Papiere aus Jukkas Schublade ein. Obwohl es nach Lintuvaara ziemlich weit war, wollte ich nicht vorher bei Mirja anrufen und mich vergewissern, dass sie zu Hause war. Überraschung war die beste Taktik. Ich ging zur Bushaltestelle an der Mannerheimintie und grübelte unterwegs darüber nach, vor wem Antti mich eigentlich warnen wollte. Etwa vor sich selbst?