Drei
Was ist menschliches Sein?
Unruhvoller Irrlichtschein, unruhvoller Irrlichtschein
Am Montagmorgen betrachtete ich zufrieden mein Spiegelbild. Der enge dunkelblaue Dienstrock und die mühsam glatt gebügelte Hemdbluse sahen ordentlich aus. Die Haare hatte ich zu einem straffen Knoten aufgesteckt, und das dunkle Make-up machte mich älter. So wirkte ich reif und sachlich, während ich in Jeans und Tennisschuhen automatisch fluchte und rannte. Ich trug noch etwas Lippenstift auf, es kam mir vor, als malte ich mir eine Maske ins Gesicht, hinter der ich mich verbergen konnte. Gut so, denn um zehn Uhr musste ich Jukkas Vater, Diplomingenieur Heikki Peltonen, gegenübertreten. Zuvor wollte ich mir die Ergebnisse der Laboruntersuchungen und den Obduktionsbericht ansehen.
Heikki Peltonen hatte mich am Sonntagabend noch angerufen. Die bei der Villa wartenden Polizisten und Antti, der nach Vuosaari zurückgekehrt war, hatten den Peltonens berichtet, was geschehen war. Maisa, Jukkas Mutter, hatte einen Schock erlitten, aber Heikki Peltonen wollte mich, das heißt die Beamtin, die den Tod seines Sohnes – er vermied es geflissentlich, von Mord zu sprechen – untersuchte, so bald wie möglich treffen. Er schien erbost darüber, dass der Bootssteg abgesperrt war und die Polizisten im Gebüsch am Ufer nach einer eventuellen Mordwaffe suchten. Sein kalter Zorn war vermutlich nur eine Reaktion auf die Erschütterung. Trauernde benehmen sich oft irrational, und Heikki Peltonen gehörte der Männergeneration an, die darauf gedrillt worden war, unter keinen Umständen Tränen zu vergießen.
Der Dezernatsleiter, mein nächster Vorgesetzter nach Kinnunen, hatte für den nächsten Morgen eine Besprechung angesetzt. Kurz angebunden hatte er erklärt, Kinnunen werde «wegen Magenverstimmung» vermutlich ein paar Tage nicht zum Dienst kommen, und bis dahin müsse ich die Ermittlungen über Jukkas Tod leiten.
Ich hatte mir überlegt, vielleicht einen Taucher einzusetzen. Vielleicht lag die Tatwaffe auf dem Meeresgrund. Vorläufig war noch unklar, unter welchen Umständen Jukka gestorben war. Wieso ging ich eigentlich davon aus, dass es sich um einen Mord handelte, obwohl dafür bisher noch keinerlei Beweise vorlagen? Vielleicht war es ja nur Totschlag, vieles sprach für eine Affekthandlung, daher waren auf der Tatwaffe sehr wahrscheinlich Fingerabdrücke – wenn sie nicht das Wasser abgewaschen hatte.
Nach dem Dezernatsleiter hatte dann Mahkonen angerufen, der Pathologe. Er bestätigte, dass die unmittelbare Todesursache Ertrinken gewesen war. Der Schlag auf den Kopf hatte vermutlich eine vorübergehende Bewusstlosigkeit verursacht, hätte aber für sich allein nicht zum Tod geführt. Jukka war entweder ins Meer gefallen oder hineingestoßen worden und hatte unglücklicherweise Wasser in die Lungen bekommen. Mahkonen konnte noch nicht mit Sicherheit sagen, ob die anderen Quetschungen an Jukkas Körper von einem Kampf oder von den Steinen am Ufer herrührten. Mindestens eine Prellung im Gesicht war einige Zeit vor seinem Tod entstanden. Der Blutalkohol war ziemlich hoch, daher war nicht auszuschließen, dass Jukka ausgerutscht und mit dem Kopf aufgeschlagen war. Aber worüber sollte er auf dem leeren Bootssteg gestolpert sein?
«Der Schlag ist gegen drei oder vier Uhr geführt worden, wenn wir davon ausgehen, dass das Opfer sofort ins Wasser fiel. Da in der Wunde keine Fremdstoffe zu finden sind, ist von einem massiven Gegenstand auszugehen.»
«Was willst du damit sagen?»
«Na, zum Beispiel, dass es kein bröckliger Stein gewesen sein kann. Andererseits war der Gegenstand stumpf, aber nicht unbedingt ganz glatt, den Wundrändern nach.»
«Wie viel Kraft hat der Schlag erfordert?»
«Das hängt von der Waffe ab. Mit einem großen, schweren Gegenstand hätte selbst ein Kind eine solche Verletzung zustande gebracht. Wenn alle deine Verdächtigen Erwachsene sind, solltest du keinen von ihnen ausschließen.»
Mahkonens Bericht enthielt keine Überraschungen, war aber auch nicht gerade erhellend. Nach seinem Anruf war ich nach Hause gegangen, es war schon nach neun. Ich konnte nicht einschlafen, lechzte nach einem Schnaps, hatte aber nur einen ekelhaft süßen Kiwilikör im Haus, den ich vor einem halben Jahr von einem Abstecher nach Schweden mitgebracht hatte. Ich spielte mit dem Gedanken, irgendwo noch ein Bier zu trinken, fürchtete aber, dass es nicht bei einem bleiben würde. Außerdem war ich nicht gerade in geselliger Stimmung, ich hätte mich doch bloß über die aufdringlichen Kerle geärgert, von denen es in der Eckkneipe immer genug gab.
Zum Glück rief dann noch ein alter Schulfreund an, und wir tratschten eine geschlagene halbe Stunde über gemeinsame Bekannte. Er war die reinste Nachrichtenagentur und hatte immer ein paar saftige Geschichten parat, neben denen sogar Morde verblassten.
Jetzt saß ich in der Straßenbahn, starrte zum Fenster hinaus und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Die Abendblätter waren noch nicht erschienen, aber ich fürchtete, dass mindestens in einer der beiden Redaktionen schon jemand über der Story saß. Der Sommer war zur Hälfte vorbei, ganz Finnland machte Urlaub, es war Sauregurkenzeit. Ich hatte keine Lust, mich in den Schlagzeilen zu finden. «Frau leitet Ermittlungen: Mord noch ungeklärt» und dergleichen.
In Pasila herrschte schon Hochbetrieb, als ich ankam. Auf meinem Schreibtisch lag eine Notiz, ich solle meinem Vorgesetzten über den Fall Bericht erstatten. Ich setzte mein Dienstgesicht auf und marschierte in das verqualmte Chefbüro. In nüchternem Zustand vertrug ich weder Zigarren- noch Zigarettenrauch, und ich scheute mich nicht, meine Aversion zu zeigen. Vielleicht fühlte er sich mit seinem Riesenschreibtisch und seiner Zigarre wie der Held einer amerikanischen Detektivserie. Ob er wohl auch eine Kognakflasche im Büro hatte?
Ich versuchte optimistisch, den Fall loszuwerden, indem ich erwähnte, dass ich das Opfer gekannt hatte. Das nutzte mir aber gar nichts, weil von meinen Kollegen niemand frei war.
«Vom Rauschgiftdezernat haben sie heute früh schon angerufen und um Unterstützung gebeten. Offensichtlich sind sie einem größeren Dealerring auf der Spur, aber mit ihren Verhaftungen ein bisschen voreilig gewesen. Die kleinen Fische, die sie geschnappt haben, bringen sie nicht weiter. Denen habe ich auch keinen zusätzlichen Mann geben können. Kinnunen ist die ganze Woche krankgeschrieben … Ich habe gerade das Attest bekommen. Alle ranghöheren Ermittler sind völlig ausgelastet … Wenn du also jetzt diesen Fall übernehmen würdest …» Der Chef kaute verlegen auf seiner Zigarre herum. Für die älteren Mitarbeiter des Präsidiums war Kinnunens Alkoholismus offenbar ein Thema, an das man nicht rühren durfte.
«Du hast doch jetzt schon Erfahrung. Und Saarinen ist bis Ende September wahrscheinlich noch nicht wieder gesund, sodass wir dich auch noch länger beschäftigen können. Wenn du mit diesem Fall gut zurechtkommst, lässt sich vielleicht auch über eine feste Anstellung reden … An Frauen herrscht in unserem Beruf ja nicht gerade Überfluss …» Er zerdehnte die Worte, als spräche er sie ungern aus.
«Na ja, darüber können wir ja später noch sprechen.» Ich wollte keine Zusage machen, eigentlich hatte ich nämlich vor, meinen Job so bald wie möglich aufzugeben, aber gerade jetzt wollte ich meinen Boss nicht mehr verärgern als unbedingt nötig.
«Der Vater des Opfers aus Vuosaari, Diplomingenieur Peltonen, kommt doch heute zu dir? Sei vorsichtig mit ihm, das ist nicht irgendwer, er sitzt sogar im Aufsichtsrat vom Neste-Konzern. Und sein zweiter Sohn nimmt gerade an dieser großen Regatta teil, das kann unangenehme Publicity geben.» Sein Gesicht war drei Stufen grauer als sonst. Wenn Leute sich aufregen, werden sie im Allgemeinen rot im Gesicht, aber er wurde immer grauer, bis seine Gesichtsfarbe das genaue Gegenteil aller existierenden Farben zu sein schien.
Ich fragte mich, woher er wusste, wie bedeutend Peltonen war. Jedenfalls steckte ich ganz schön in der Tinte. Ohne die Autoritätsgläubigkeit des Chefs wäre die Arbeit im Dezernat leichter gewesen. Ich hatte am Rande miterlebt, wie er in der Angst um seine eigene Position die Voruntersuchung gegen einen aufstrebenden Politiker gebremst hatte, der der Vergewaltigung beschuldigt wurde. Zu guter Letzt hatte das Opfer seine Anzeige zurückgezogen. Ich selbst hatte mit den Ermittlungen nichts zu tun gehabt, obwohl bei Vergewaltigungen glücklicherweise in aller Regel weibliche Beamte eingesetzt wurden. Dafür kannte ich aber Kriminalhauptmeister Männikkö ganz gut, der bei den Ermittlungen assistiert hatte. Was er über den Fall berichtete, hörte sich an wie aus einer Seifenoper. Das Opfer war eine Frau in mittleren Jahren, die den Abendblättern zufolge mehrere Liebhaber hatte. Schließlich war die ganze Geschichte so hingebogen worden, dass der Politiker als Opfer einer Intrige erschien. Er spielte den Märtyrer und behauptete, die Frau habe den ganzen Vorfall inszeniert, um ihn in schlechten Ruf zu bringen. Die Boulevardblätter hatten sich seine Version zu Eigen gemacht, und seither hatte der Chef noch mehr Respekt vor hohen Tieren.
«Karppanen ist seit heute in Urlaub. Wir haben ein ziemliches Personaldefizit, aber wenn nötig, kannst du dir Koivu als Assistenten nehmen, und Miettinen arbeitet mal für dich und mal für Savukoski. Savukoski hat zwar noch mit dem Raubmord zu tun, aber wir wollen zusehen, dass wir deinen Fall möglichst schnell abschließen können.»
Das Cheftelefon klingelte, was mir die Gelegenheit gab, mich zu verdrücken. Ich wollte nicht über eine Verlängerung meines Arbeitsvertrags nachdenken. Natürlich wäre das eine bequeme Lösung für meine Berufswahlprobleme: Ich könnte meine Entscheidung wieder ein halbes Jahr vor mir herschieben.
Auch mein Telefon schrillte heftig, als ich in mein Büro kam.
«Hallo, hier ist Hiltunen aus Vuosaari.» Einer der Polizisten, die gestern bei der Villa im Einsatz gewesen waren. Ich erinnerte mich an ihn, ein blonder, energischer Bursche, dessen Stimme jetzt ganz aufgeregt klang. «Ich glaub, ich hab die Tatwaffe gefunden …»
«Was?!» Ich erschrak über meine eigene Lautstärke. «Was hast du gefunden?»
«Das ist so eine Axt, wo Blut dran ist … Sie hat unter der Sauna gelegen, im Gestrüpp. Soll ich sie nach Pasila rüberbringen?»
«Ich schick einen Fotografen hin. Du bist doch mit deinem Partner da? Okay, dann soll er bei der Villa bleiben, und du kommst mit der Axt her, sobald die Fotos gemacht sind. Seht zu, dass die Fundstelle möglichst unberührt bleibt, ich komm am Nachmittag raus, wenn ich es irgendwie schaffe.»
Eine Axt … das klang ebenso ekelhaft wie banal. Hiltunen schien sehr stolz zu sein. Gerade erst zwanzig, noch ein halbes Kind. Hoffentlich hatte er nicht alle Spuren zerstört. Wenn das Blut von Jukka stammte, konnten wir allen Ernstes von einem Mord ausgehen. Aber wie in aller Welt war die Axt ans Ufer geraten, so ein Werkzeug bewahrte man doch im Geräteschuppen auf?
Ich versuchte noch rasch, Jaana in Kassel anzurufen, kam aber nicht durch. Ihre Telefonnummer hatte ich auf einer alten Weihnachtskarte gefunden, die ich nur aufgehoben hatte, weil auf der Vorderseite ein gut gebauter Weihnachtsmann prangte, nur mit Rauschebart und Zipfelmütze bekleidet.
Heikki Peltonen war pünktlich. Nach unserem Telefongespräch hatte ich einen ergrauten älteren Herrn mit Bäuchlein erwartet, der sonntags gemütliche Segeltörns unternahm. Tatsächlich wirkte er fast zu jung, um Jukkas Vater zu sein, er sah aus wie vierzig, dabei musste er mindestens Anfang fünfzig sein. Sein Körper war voller Spannkraft, das Gesicht von vielen Wochenenden auf dem Meer gebräunt. Jukka hatte den blonden Wikinger-Look eindeutig von seinem Vater geerbt. Der Stoff des dunkelgrauen Anzugs sah verdächtig nach Seide aus. Der Händedruck und der Blick, der ihn begleitete, hätten mich unter normalen Umständen erröten lassen, obwohl ich nicht unbedingt für ältere Männer schwärme. Ich brauchte mir nicht den Kopf zu zerbrechen, wie ich das Gespräch eröffnen sollte, denn Heikki Peltonen übernahm die Initiative.
«Fräulein Kallio, oder Frau Kallio, ich hoffe sehr, dass der Tod meines Sohnes Jukka möglichst bald aufgeklärt wird. Ein solcher Unglücksfall ist auch ohne polizeiliche Vernehmungen schlimm genug. Es wäre einfach zu viel verlangt, meiner zutiefst erschütterten Frau irgendwelche Fragen zu stellen. Wie ich gehört habe, wurden selbst Jukkas Freunde aufs Präsidium zitiert und ausgefragt.»
«Es tut mir Leid, aber wir müssen alle Möglichkeiten ins Auge fassen. Einer seiner Freunde war möglicherweise dabei, als Jukka starb.»
«Sie behaupten also, dass mein Sohn ermordet wurde?»
«Ich behaupte vorläufig gar nichts. Aber wir müssen auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen.»
«Jukkas Freunde sind gebildete junge Leute, aus welchem Grund sollten sie jemanden umbringen? Wenn es tatsächlich ein Mord war, was ich nicht glaube, war der Täter mit Sicherheit ein Fremder. Im Frühjahr hat es hier viele Einbrüche gegeben, und in der Gegend hausen alle möglichen Landstreicher. Und es ist doch immerhin denkbar, dass Jukka einfach ausgerutscht ist … Die jungen Leute haben offenbar ein bisschen viel getrunken und der Bootssteg ist manchmal glatt.»
«Tja … Woran hätte er sich dann aber den Kopf aufgeschlagen? Der Bootssteg liegt so hoch über der Wasserfläche, dass ihn die Wellen nicht erreichen, daher müssten Spuren zu sehen sein, wenn Jukka mit dem Kopf gegen den Rand geschlagen wäre. Neben dem Bootssteg befinden sich auch keine Steine, die infrage kämen. Die nächsten Felsbrocken sind die, an denen er lehnte, als er gefunden wurde. Es ist unmöglich, an diese Felsen zu schlagen, wenn man vom Bootssteg fällt. Wir haben das überprüft.»
Die Jungs von der Technik hatten über das Experiment gelacht, das hauptsächlich darin bestand, im flachen Wasser zu planschen, hatten es aber trotzdem ausgeführt.
Peltonen wollte Fakten. Mit Theorien allein war er nicht zu überzeugen. Nicht zum ersten Mal wurde ich im Gespräch mit älteren, einflussreichen Männern selbst in die Rolle der Vernommenen gedrängt. Ich regte mich auch nicht mehr über die neugierige Frage nach meinem Familienstand auf und ließ mich ohne Protest als Fräulein titulieren statt als Kriminalhauptmeister. Egal. Ich hatte die Nase voll davon, in jeder Kleinigkeit die Welt verbessern zu wollen.
«Es hat meine Frau im Übrigen sehr schockiert, dass man ihr Fingerabdrücke abgenommen hat wie einer Verbrecherin. Damit hätte man zumindest noch ein paar Tage warten können!»
«Man hat Ihnen gestern Fingerabdrücke abgenommen? Das tut mir aufrichtig Leid, das ist irrtümlich geschehen.»
Da war wohl einer der Techniker übereifrig gewesen. Ich hatte gebeten, sicherheitshalber Fingerabdrücke von den Chormitgliedern zu nehmen, aber von den Peltonens war nicht die Rede gewesen. Ich versuchte, mir meine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen.
«Sie haben noch einen zweiten Sohn, Jarmo Peltonen? Er ist außer Landes, auf einer Regatta in den USA, bin ich da richtig informiert?»
«Ja. Jarmo fährt als zweiter Segelmacher auf der ‹Marlboro of Finland›, die an einem neuen großen Cup für Riesenjollen teilnimmt. Wir wissen nicht recht, ob wir ihn jetzt schon von dem traurigen Ereignis in Kenntnis setzen sollen oder erst nach dem Rennen. Diese Regatta bedeutet ihm sehr viel … Auf dem gleichen Boot fährt auch ein Bekannter von Jukka, Peter Wahlroos, dessen Frau Piia meines Wissens auch in der Villa Maisetta war. Hoffentlich wird den beiden nicht das ganze Rennen verdorben …»
Wieder dieses Festbeißen an Trivialitäten, eine typische Abwehrreaktion, dachte ich.
Ansonsten erfuhr ich nicht viel. Peltonen schien über das Leben seines älteren Sohnes nur sehr oberflächlich informiert zu sein. Jukka war ab und zu zum Essen in sein Elternhaus im Espooer Luxusviertel Westend gekommen, und in der Villa hatten sie sich häufiger gesehen, aber der Sohn war schon vor Jahren ausgezogen und lebte sein eigenes Leben.
«Jukka wechselte seine Freundinnen vielleicht ein bisschen zu häufig, und natürlich hofften wir, dass er allmählich eine feste Bindung eingeht. Aber ansonsten hatte er sein Leben im Griff. Seine Wohnung ist abbezahlt, er hat an der technischen Hochschule ein glänzendes Examen gemacht, seine Arbeit bei der Suomen Metalli AG schien ihm Freude zu bereiten, seine Hobbys, Segeln und Musik, waren ihm wichtig. Von seinen Frauengeschichten abgesehen, führte er ein normales, ruhiges Leben. Es ist mir unbegreiflich, wieso ihn jemand umgebracht haben sollte.»
Die Falten in Heikki Peltonens gebräuntem Gesicht waren tiefer geworden. Offensichtlich versuchte er sich um jeden Preis einzureden, dass der Tod seines Sohnes ein Unfall gewesen war. Das war leichter zu ertragen, es gab dann keine schmerzlichen Fragen und Antworten wie bei einem Mord.
«Hatte Jukka außer den Chormitgliedern noch andere Freunde?»
«Richtige Freunde wohl ziemlich wenig. Kollegen und Segelbekanntschaften natürlich. Ich bin über sein Leben nicht so genau im Bild. Vielleicht weiß Antti Sarkela mehr.»
«Wann haben Sie Jukka zuletzt gesehen? Wirkte er da irgendwie verändert?»
«Er hat uns am Dienstagabend angerufen und sich vergewissert, ob die Villa frei ist. Gesehen haben wir uns länger nicht, denn meine Frau und ich haben die letzten drei Wochen vor der schwedischen Küste gesegelt und sind erst am Montag zurückgekommen.»
Peltonen überlegte einen Moment. Mit seiner konzentrierten Miene sah er ganz genauso aus wie Jukka, der auch die Angewohnheit gehabt hatte, die Stirn zu runzeln.
«Ich weiß nicht, ob es irgendeine Bedeutung hat, aber vor ein paar Monaten hat Jukka mich gefragt, welche juristischen Möglichkeiten es gibt, einen Gläubiger zur Verantwortung zu ziehen, wenn kein rechtsgültiger Schuldschein vorliegt. Als ich nach Einzelheiten fragte, wich er mir aus. Um eine größere Summe wird es sich wohl nicht handeln, etwa zehntausend Finnmark, denke ich. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass jemand Jukka Geld schuldete und sich weigerte zu zahlen.»
«Danke. Das kann ein wichtiger Hinweis sein. Zum Schluss noch eine reine Routinefrage: Wo haben Sie in der Nacht von Samstag auf Sonntag vor Anker gelegen? Wir müssen nun einmal alles überprüfen …» Ich war auf wütenden Protest gefasst, aber er schien sich endlich in sein Schicksal ergeben zu haben.
«Ich verstehe. Wir waren in einem kleinen Bootshafen westlich von Barösund, und am Morgen haben wir in einem Café in der Nähe gefrühstückt. Jarl und Brita Sundström, ein befreundetes Ehepaar, waren mit an Bord, bei ihnen können Sie unser … hm … Alibi überprüfen. Ich kann Ihnen die Telefonnummer geben.»
Ich nahm mir vor, auf jeden Fall dort nachzufragen. Zu überprüfen gab es genug, obwohl ich bisher kaum Resultate hatte. Routine, Gespräche, Abwägen verschiedener Möglichkeiten. Im Prinzip fand ich diese Gedankenarbeit erfrischend, nur war das Faktenmaterial allzu mager. Auch mit Maisa Peltonen musste ich sprechen, sobald sie sich ein wenig gefangen hatte.
Ich wählte noch einmal die Vorwahl für Deutschland, und diesmal hatte ich Glück. Eine Frau Schön meldete sich, und ich brauchte eine volle Sekunde, um zu begreifen, dass es Jaana war.
«Hier ist Maria, Maria Kallio aus Finnland. Hallo, Jaana. Wie geht’s?»
«Maria! Wie schön, deine Stimme zu hören, nach so langer Zeit! Willst du uns besuchen kommen? Ich bin jetzt im Mutterschaftsurlaub, ich hab vor drei Monaten ein Baby gekriegt, Michael. Stell dir vor, ein Kind, ich! Manchmal weiß ich gar nicht, wie ich mit ihm umgehen soll.»
«Also, das wüsste ich auch nicht. Leider hab ich keine Reise zu euch geplant, ich ruf dienstlich an. Ich bin wieder bei der Polizei, frag nicht, warum, das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls geht es um Folgendes: Jukka, dein Exfreund Jukka Peltonen, ist tot, wahrscheinlich ermordet.»
Erst bei Jaanas erschrockenem Ausruf und ihrem Schluchzen dämmerte mir, dass ich ihr die Nachricht auch etwas weniger abrupt hätte beibringen können. Allmählich beruhigte sie sich, und ich konnte ihr den Fall in groben Linien schildern.
«Ich weiß ehrlich nicht, warum ihn jemand umbringen sollte. Du erinnerst dich doch, wie Jukka war, immer hinter den Frauen her. Deshalb hab ich ja mit ihm Schluss gemacht. Anstrengend war er, das schon. Jukka konnte so verdammt arrogant sein; wenn man ihm Untreue oder Verantwortungslosigkeit vorwarf, lachte er einem ins Gesicht und sagte, er lebt, wie er lebt. Als ob für ihn andere Regeln galten als für mich. Wehe, wenn ich mal zu eng mit einem anderen tanzte oder so. Manchmal kam es mir vor, als ob ihm die Gefühle anderer Menschen völlig egal waren. Andererseits war er einfach wundervoll, er konnte wahnsinnig charmant sein, wenn er wollte. Aber er spielte gern mit dem Feuer, er hat sich zum Beispiel irgendwo mit mir verabredet und kam dann mit der Frau von seinem vorigen Rendezvous da an und so weiter … Wartest du mal eben, Michael schreit. Ich geb ihm schnell seinen Schnuller.»
Jaana legte den Hörer hin. Im Hintergrund hörte ich Babygeschrei und Jaanas mütterliches Gurren. Solche Geräusche hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Das Gewimmer verstummte.
«Wahrscheinlich hat Jukka wieder einem andern die Freundin ausgespannt», seufzte Jaana, als sie wieder an der Strippe war. «Er hat ja immer alle Frauen auf sich aufmerksam machen müssen. Manchmal hatte ich das Gefühl, ihm ist wirklich jede recht.»
«Du kennst doch praktisch alle, die in der Villa waren. Weißt du, ob jemand von ihnen eine Rechnung mit Jukka offen hatte?»
«Ja, ich kenn alle außer diesem Jyri. Eine Rechnung offen …» Jaana machte eine lange Pause. «Sirkku Halonen vielleicht. Nach der Deutschlandreise hat sie sich von ihrem Freund getrennt, weil sie unterwegs was mit Jukka hatte. Das war wieder so eine von Jukkas Demonstrationen. Ich hatte kurz vor der Reise mit ihm Schluss gemacht und dann bald den Franz kennen gelernt … Als wir wieder in Finnland waren, hat Jukka versucht, mich zurückzugewinnen, er wollte einfach nicht wahrhaben, dass ich mein Herz in Kassel verloren hatte … Jedenfalls hat Sirkku nicht ganz begriffen, was da los war, und Jukka später vorgeworfen, er hätte die Beziehung zu ihrem Freund kaputtgemacht.»
«Sirkku ist jetzt mit Timo Huttunen zusammen. Glaubst du, das hat was zu bedeuten?»
«Mit dem Huttunen? Das ist doch ein Gockel. Da ist Sirkku mit ihren Ansprüchen aber ganz schön runtergegangen. Ich hab keine Ahnung, was für leidenschaftliche Gefühle Timo in seinem Herzen trägt, der gibt sich immer so wichtig. Vielleicht ist er insgeheim eifersüchtig auf alle, die mal mit Sirkku befreundet waren.»
Zum Schluss trug mir Jaana Grüße an alle auf, besonders an Tuulia. Ich bat sie, mich anzurufen, wenn ihr noch etwas einfallen sollte, das ihr wichtig erschien. Nachdem sie aufgelegt hatte, ließ ich vom Passbüro überprüfen, ob sich Jaana oder Franz Schön am vergangenen Wochenende in Finnland aufgehalten hatte. In Jaanas Fall konnte man das nicht sofort ermitteln, weil sie die finnische Staatsbürgerschaft behalten hatte, aber jedenfalls war, zumindest über die Flughäfen, kein deutscher Staatsangehöriger namens Franz Schön nach Finnland eingereist. Ich bat darum, auch noch nachzuprüfen, ob einer der beiden aus Deutschland ausgereist war, obwohl ein Verdacht gegen die Schöns zweifellos an den Haaren herbeigezogen war.
Die «Marlboro of Finland» war die ganze vorige Woche über den Atlantik geschippert. Von der Crew hatte keiner den Fuß auf festen Boden setzen können, also waren sowohl Peter Wahlroos als auch Jarmo Peltonen aus dem Schneider – ich hatte es auch nicht anders erwartet.
Hastig schlang ich in der Polizeikantine das Mittagessen herunter. Mein Fall war glücklicherweise noch nicht in den Schlagzeilen der Boulevardpresse aufgetaucht. Dem Vernehmen nach hatten einige Journalisten versucht, mich zu erreichen, aber die Zentrale hatte Anweisung, alle Anrufe von der Presse zu meinem Chef durchzustellen, der lediglich die Auskunft gab, Kriminalhauptmeister Kallio leite die Ermittlungen. Wenn die Zeitungen herausfanden, dass ich eine Frau war, würden sie eine Riesenstory daraus machen, das war mir klar, denn weibliche Ermittler hatten Seltenheitswert. Ich begegnete dieser Aussicht mit zwiespältigen Gefühlen. Einerseits konnte mein Beispiel andere junge Frauen ermutigen, einen etwas ausgefalleneren Beruf zu wählen, andererseits war ich auf die Publicity nicht unbedingt scharf, weil ich gar nicht so genau wusste, ob ich wirklich Polizistin sein wollte. Die größten Schlagzeilen galten an diesem Tag einem estnischen Freudenmädchen: «Estnisches Freudenmädchen raubte Freier aus», ereiferte sich «Ilta-Sanomat», während das Konkurrenzblatt «Iltalehti» verkündete: «Luxushure knöpfte Männern Geld ab.» Das versteht sich bei solchen Geschäften doch wohl von selbst, dachte ich.
Nachdem ich den überbackenen Fisch verdrückt hatte, kehrte ich in mein Zimmer zurück. Schon auf dem Flur hörte ich mein Telefon schrillen, und dank eines Fünfzig-Meter-Sprints schaffte ich es gerade noch rechtzeitig, den Hörer abzunehmen.
«Huikkanen hier, vom Labor, grüß dich. Ich hätte jetzt was über die Axt, wenn’s dich interessiert.»
«Schieß los!»
«Sie ist offenbar im Meer abgespült worden, den Salzspuren nach, aber Blut ist auch noch dran. Zweierlei sogar. Die eine Sorte ist noch nicht identifiziert, vielleicht brauchen wir Blutproben von deinen Verdächtigen. Die andere stammt eindeutig von Peltonen. Ein ganz kleines Stück vom Hinterkopf war auch noch dran, Haare und so weiter. Und Erde. In welchem verdammten Wald hat dein Schutzmann das Ding bloß ausgegraben?»
«Peltonen ist also damit niedergeschlagen worden?»
«Sieht ganz so aus. Mit der stumpfen Seite, bitte schön.»
«Von wem kann denn das andere Blut sein?»
«Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber da ich auch noch was Schuppenartiges gefunden habe, würde ich fast meinen, es stammt von einem Fisch. Von welcher Sorte, kann ich dir allerdings nicht sagen.»
Von einem Fisch … Mirja hatte einen Hecht gefangen. Hatte sie ihn vielleicht mit der Axt totgemacht?
«Sind Fingerabdrücke dran?»
«Jede Menge. Ich nehme an, der Mörder hat nicht die ganze Axt abgewaschen, sondern nur kurz die Klinge abgespült, am Griff sind nämlich überhaupt keine Salzspuren. Es sind Fingerabdrücke von zwei Leuten drauf: von Sarkela und Rasinkangas.»
«Wow! Wie sehen sie aus?»
«Die von der Rasinkangas sind ziemlich interessant. Sie stammen alle von der rechten Hand, und ihre Anordnung entspricht eigentlich nicht der Haltung beim Zuschlagen – sie sehen eher so aus, wie wenn man eine Axt aufhebt, mit der scharfen Seite der Klinge nach unten. Mag sein, dass man auch aus dieser Haltung heraus mit der stumpfen Seite zuschlagen kann, aber da müsste man das Handgelenk ziemlich verdrehen.»
«Die Position ist also ungefähr so, wie wenn man eine Axt von einer Stelle zu einer anderen trägt.» Ich versuchte mir das Ganze bildlich vorzustellen, packte mein dickes Lineal, das die Rolle der Axt spielte, und verdrehte den Arm. «Vielleicht hat sie ihre Hände die ganze Zeit geschützt und es nur einmal vergessen.»
«Kann sein. Von Sarkela sind massenhaft Abdrücke vorhanden. Er hat die Axt ungefähr in jeder denkbaren Position gehalten, unter anderem in der klassischen Holzhackerstellung. Und er hat ziemlich oft den Griff gewechselt. Das war alles, was ich gefunden hab.»
«Gut. Ich hab vor, heute nochmal nach Vuosaari rauszufahren, aber vorher muss ich noch ein paar andere Sachen erledigen. Den schriftlichen Bericht krieg ich doch sicher mit der nächsten Hauspost?»
Ich nahm mein Notizbuch und suchte die Telefonnummern von Mirja und Antti heraus. Mirja hatte einen Sommerjob ganz in der Nähe, auf dem Standesamt. Witzig.
«Kriminalhauptmeister Kallio, guten Tag. Ich würde gern so bald wie möglich mit dir reden, passt es dir um zwei?» Mirja äußerte keinerlei Verwunderung über meinen Anruf, sondern antwortete überraschend sanftmütig, sie würde versuchen, ihre Kaffeepause auf zwei Uhr zu verlegen. Antti an der Universität aufzustöbern war schon schwieriger, aber ich erreichte ihn schließlich in der Bibliothek des Mathematischen Instituts.
«Ich mach mir meinen Terminplan selbst, vor allem jetzt im Sommer, wenn wir keine Lehrveranstaltungen haben. Ich kann um drei Uhr da sein.» Auch er stellte keine weiteren Fragen.
Ich ließ mir einen Wagen reservieren, denn ich wollte hinterher noch nach Vuosaari, um mir den Bootssteg und den Fundort der Axt anzuschauen. Ich war müde und bezweifelte sehr, Mirja oder Antti heute noch festnehmen zu können, so willkommen mir ein Geständnis auch gewesen wäre.
Mirja erschien pünktlich um zwei. Der schwarze Rock und die weiße Bluse wirkten wie Trauerkleidung, aber in ihrem Verhalten war von Trauer nichts zu spüren. Sie gab sich, als wäre es ihr vollkommen egal, ob sie gerade Geld vom Konto abhob oder zur Vernehmung auf dem Polizeipräsidium saß.
«Hattet ihr gestern noch einen netten Leichenschmaus?», fragte ich geradeheraus. Ich wollte irgendeine Gefühlsäußerung provozieren.
«Es hat uns allen gut getan.» Ihr Gesicht blieb ausdruckslos.
«Inwiefern?»
«Keiner von uns wollte allein zu Hause sitzen – außer Antti, obwohl wir natürlich versucht haben, ihn zu überreden. Es hat uns gut getan, über die Sache zu sprechen und uns zu überlegen, wie das alles passiert ist.»
«Und zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen?»
«Es war wohl ein Unfall. Hoffentlich. Selbstmord kommt jedenfalls nicht infrage, Jukka mochte sich selbst viel zu gern, um so etwas zu tun. Aber sollte ihn tatsächlich jemand umgebracht haben? Das klingt so unwahrscheinlich, obwohl Jukka einem schon auf die Nerven gehen konnte. Natürlich ist uns allen klar, dass jeder von uns als potenzieller Mörder gilt, solange der Fall nicht aufgeklärt ist.»
«Habt ihr euch gegenseitig beschuldigt?»
«Ein paar haben natürlich Antti im Verdacht, sie finden, dass er sich so absondert, ist ein Beweis für seine Schuld. Aber so denken nicht alle. Jyri behauptet, er hätte ganz sicher gehört, dass Antti in der Nacht in Jukkas Zimmer war, aber so betrunken, wie er war, konnte Jyri definitiv nichts gehört haben … Wenn Jukka wirklich ermordet worden ist, tippe ich nach wie vor auf Tuulia. Sie hat manchmal entsetzliche Wutanfälle.»
«Ob es sich um Mord handelt, weiß ich noch nicht, aber in Vuosaari ist eine Axt gefunden worden, an der Jukkas Blut klebt. Deine Fingerabdrücke sind auch drauf. Hast du dafür eine Erklärung?»
Mirja sah mich einen Augenblick verblüfft an, dann lächelte sie belustigt.
«Deshalb hast du mich also herbestellt? Die Axt hab ich sogar zweimal in der Hand gehalten. Irgendwer hatte sie mitten auf der Saunaterrasse liegen gelassen, da hab ich sie aus dem Weg geräumt, damit niemand drüber stolpert. Und später am Abend war ich doch angeln und hab den großen Hecht gefangen. Ich hab zum Haus hochgerufen, jemand soll mir was bringen, womit ich ihn totmachen konnte. Da hat Antti die Axt aus der Sauna geholt und den Hecht erledigt. Wahrscheinlich ist sie dann auf dem Steg liegen geblieben. Wenn ich einen umbringen wollte, wäre ich ja wohl schlau genug, Handschuhe zu tragen, das kann man ja in jedem Krimi nachlesen», schnaubte Mirja. «Wessen Fingerabdrücke habt ihr denn noch gefunden, sicher Anttis? Der hat an dem Abend noch Holz gehackt, von den Jungs hat sich natürlich sonst keiner dazu bequemt. Antti sagt, Holzhacken macht ihm Spaß, und sein Bizeps ist ja auch danach.» Mirja wurde plötzlich rot.
Ich erinnerte mich, dass Tuulia mir von Mirjas Schwärmerei für Antti erzählt hatte. Irgendwie erschien sie mir dadurch menschlicher. Einen schlechten Geschmack hat sie jedenfalls nicht, dachte ich, seufzte aber gleichzeitig enttäuscht. Für alles fand sich eine natürliche Erklärung. Natürlich musste Mirja nicht unbedingt die ganze Wahrheit gesagt haben. Es war durchaus möglich, dass Antti die Axt nach dem Holzhacken noch einmal benutzt hatte, er verfügte auf jeden Fall über genügend Kraft und die richtige Technik. Außerdem war der Schlag von oben geführt worden, und wenn Jukka im Stehen niedergeschlagen worden war, kam als Täter nur Antti infrage. Hatte Jukka allerdings gesessen, spielte die Körpergröße keine Rolle. Eigentlich fand ich Mirjas Bemühen, Antti zu schützen, ganz lustig. Immerhin schien sie es nicht für nötig zu halten, ihre Gefühle für ihn zu verbergen.
«War sonst noch was? Meine Kaffeepause dauert nicht ewig, aber ich bin ja in der Nachbarschaft, da kannst du mich jeden Tag antanzen lassen», sagte Mirja unfreundlich, als ob sie ihre Redseligkeit schon bereute.
Als sie gegangen war, fluchte ich wieder mal über meine Blödheit – als Entschädigung für die entgangene Pause hätte ich ihr wenigstens eine Tasse Kaffee anbieten können. Andererseits verwandelte so etwas eine Vernehmung schnell in familiäres Geplauder, und die Gefahr bestand bei diesem Fall nur allzu oft.
War Mirja ruhig und beherrscht gewesen, so sah Antti wenigstens so aus, als ob er trauerte. Schwarze Jeans und schwarzes T-Shirt mochten seine Standardkluft sein, aber in Verbindung mit dem blassen Gesicht und den rot geränderten Augen wirkten sie wie Trauerkleidung. Was war wohl der Grund für die geröteten Augen: eine durchwachte Nacht, Alkohol, Tränen – oder vielleicht alles zusammen?
«Grüß dich – wie war noch gleich dein Titel? Hauptmeister? Schon was ermittelt?», fragte er mit müder Stimme und ließ sich auf den Stuhl fallen.
«Ja. Die Tatwaffe ist gefunden worden, mit deinen Fingerabdrücken drauf», gab ich unwirsch zurück. Über Anttis Feindseligkeit ärgerte ich mich viel mehr als über Mirjas. Und noch mehr ärgerte ich mich, weil ich mich ärgerte. Jukka war hübsch anzusehen gewesen, aber mit Antti hatte ich mich früher immer gern unterhalten. Im Übrigen sah auch er nicht gerade schlecht aus, Männer mit großem Mund und Hakennase hatte ich immer schon sexy gefunden. Eine Kreuzung aus Mick Jagger und Dustin Hoffman, das wäre ideal. Mit gespielter Gleichgültigkeit betrachtete ich den Bizeps, von dem Mirja gesprochen hatte. Das schwarze T-Shirt umspannte gut geformte Schultern. Das war nicht zu leugnen.
«Was, zum Teufel! Willst du damit sagen, dass Jukka tatsächlich ermordet worden ist?» Es war ihm am Gesicht abzulesen, wie sehr ihn meine Worte erschreckt hatten.
«So sieht es jetzt langsam aus.»
«Von was für einer Mordwaffe redest du?»
«Von einer Axt, die unter der Sauna versteckt war. Die Laboruntersuchungen haben ergeben, dass es sich um die Tatwaffe handelt.»
«Ach, die Axt.» Ein zaghaftes Lächeln schlich sich in seine Mundwinkel. «Mit der hab ich am Samstagabend mindestens einen halben Kubikmeter Holz gehackt. Die Peltonens besitzen nur eine einzige brauchbare Axt. Typisch für sie – Rindenschäler haben sie mindestens vier verschiedene. Das kann dir jeder bestätigen – das mit dem Holzhacken meine ich, nicht das mit den Rindenschälern. Und wenn du noch einen Beweis brauchst, ich hab mir dabei Blasen geholt, hier, guck sie dir an!» Antti legte die Hände umgedreht auf den Tisch, und ich konnte nicht umhin, die langen, schmalen Finger zu betrachten. Und die Blasen auf der Handfläche.
«Ganz schön verweichlicht, wenn man von so einem bisschen Holzhacken Blasen kriegt. Natürlich sind meine Fingerabdrücke auf der Axt.»
«Später am Abend hast du sie dann nochmal verwendet, zum Töten.»
«Verdammt nochmal, was soll das denn heißen?»
«Du hast kaltblütig einen Fisch ermordet …» Anttis angespannte Gesichtszüge lockerten sich, er fing an zu lachen. Es schien ihm gut zu tun. Ich hätte beinahe mitgelacht, riss mich aber zusammen.
«Schon recht, den hab ich ermordet. Es half ja nichts, dabei hätte ich den armen Fisch lieber wieder ins Wasser gelassen.
Offensichtlich ist die Axt dann auf dem Steg liegen geblieben, und … O du verdammte Scheiße!»
«Hast du eigentlich deine Katze wieder gefunden?»
«Einstein? Ja, der lag schlafend auf dem Saunadach, als ich kam. Da liegt er nachmittags gern in der Sonne, wenn wir in Vuosaari sind. Einstein ist unter der Sauna geboren, er ist ein Junges von Peltonens Katze, die inzwischen schon nicht mehr lebt.»
Antti taute sichtlich auf, als er von seiner Katze sprach, aber ich musste wieder zum Thema kommen.
«Wie hoch waren deine Schulden bei Jukka?»
«Schulden bei Jukka? Was redest du denn jetzt schon wieder für einen Quatsch? Ich hab keine Schulden bei Jukka! Wieso?»
«Wer war denn bei ihm verschuldet?»
«Tuulia bestimmt, aber das kann keine große Summe sein. Jyri hat immer finanzielle Probleme, anders kenne ich ihn gar nicht. Jukka hat ihm ziemlich viel geliehen, glaub ich. Jyri kann überhaupt nicht mit Geld umgehen. Er spendiert schönen Mädchen Champagner in den besten Restaurants, so in dem Stil. Jukka hat sich ihm gegenüber immer wie ein großer Bruder gefühlt und wollte ihm bestimmt helfen.»
«Okay. Wir werden das nachprüfen. Du hast gestern die Beziehung zwischen Jukka und Piia erwähnt. Wie war die?»
Antti schaute verlegen.
«Wenn ich das wüsste … Im Allgemeinen war es Jukkas Frauen genau anzusehen, welche Funktion sie für ihn hatten. Er hat nur zwei ernst zu nehmende Freundinnen gehabt, Jaana und vorher in der Schule eine, die hieß Minna. Die anderen …» Antti breitete die Arme aus. «Piia war irgendwie ein besonderer Fall. Mit mir hat Jukka nicht viel über sie gesprochen, wahrscheinlich weil er wusste, wie ich darüber dachte. Vielleicht war er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich verliebt. Das werden wir wohl nie erfahren.»
«Wohl nicht. Ist dir noch irgendetwas eingefallen, was Licht auf diesen Fall werfen könnte?»
«Nein. Die ganze Geschichte ist völlig absurd. Ich hab Angst. Die ganze Nacht hab ich über meine alten Bekannten nachgedacht, über Piia und Tuulia zum Beispiel, und mich gefragt, ob einer von ihnen meinen besten Kumpel umgebracht haben könnte. Und heute kommst du an und erzählst mir, dass Jukka tatsächlich ermordet worden ist. Ist dir überhaupt klar, was jetzt passiert? Wir werden uns alle gegeneinander stellen, um unsere eigene Haut zu retten. Ich hab jetzt schon das Gefühl, dass ich dir schleunigst einen Mörder präsentieren muss, bevor du mich verhaftest.
Und dann der IOL …», fuhr Antti nach kurzem Schweigen fort. «Unser Chorleiter, Toivonen, heißt bei uns nur Herr Hoffnungslos. Er hat mich heute angerufen und seinem Spitznamen alle Ehre gemacht. Mirja hatte ihm schon berichtet, was passiert ist. Der beste Bass ist tot, ein gut bezahlter Auftritt fällt ins Wasser, der Chor macht negative Schlagzeilen, und obendrein ist wahrscheinlich eine der tragenden Kräfte ein Mörder … Kannst du es nicht so hinbiegen, dass Jukka sich das Loch im Kopf selbst beigebracht hat?»
«Du hast große Angst, dass sich eine ganz bestimmte Person als Täter entpuppt, nicht wahr? Oder als Täterin. Wer ist es denn?»
«Das musst du schon selbst herausfinden, du Meisterdetektivin. Die Beerdigung ist wahrscheinlich in zwei Wochen. Sieh zu, dass du vorher keinen verhaftest, der Kerntrupp soll da nämlich singen.» Antti vergrub das Gesicht in den Händen. Dann schüttelte er sich, als wollte er die dunklen Gedanken vertreiben. «Für Maisa … für Jukkas Mutter ist es das Beste, wenn Jukka möglichst bald beerdigt wird. Sie ist seelisch nicht ganz stabil, und ich fürchte, sie zerbricht an dieser Geschichte endgültig. Für sie ist das alles besonders schlimm.»
Seit ich in den Polizeidienst zurückgekehrt war, hatte ich ein knappes Dutzend Tötungsdelikte bearbeitet, alles Totschlag im Affekt. Jeder einzelne Fall war für einige Menschen eine schlimme Sache, nicht nur für das Opfer und den Täter, sondern auch für ihre Angehörigen, die von Unsicherheit, Selbstvorwürfen, Angst und Zweifel geplagt wurden. Auch mir hatte das immer wehgetan, obwohl ich mich bemühte, kühl und distanziert zu bleiben. Jetzt fühlte ich mich noch schlechter. Ich wünschte, ich hätte einen Schalter im Kopf, mit dem ich alle Gefühle abstellen konnte, damit nur noch der mechanisch ermittelnde Verstand übrig blieb.
«Nochmal zu der Axt … Wo hast du sie gelassen, nachdem du den Fisch geschlachtet hattest?»
«Ich hab die gröbsten Schuppen von der Klinge abgespült, und dann hab ich sie wohl am rechten Rand vom Steg liegen gelassen. Da lag sie dann ja gleich parat, verdammt nochmal! Wenn ich sie zur Sauna zurückgebracht hätte …»
«Zerbrich dir darüber nicht den Kopf!» Der freundliche Tonfall, den ich anschlagen wollte, misslang mir gründlich, es klang eher wie ein Befehl. Ich murmelte etwas von Eile und schickte Antti weg. Ich hatte es wirklich eilig, denn am Tatort war noch vieles zu überprüfen. Aber eins schien mir klar: Es handelte sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um Totschlag, sondern um Mord. Jedes der Chormitglieder konnte gewusst haben, dass die Axt am Bootssteg liegen geblieben war, und Jukka dorthin gelockt haben. Aber falls Mirja und Antti unschuldig waren, fehlten die Fingerabdrücke des Täters. Er war also darauf bedacht gewesen, keine zu hinterlassen. Und wer einen Mord beging, hatte vielleicht auch schon vorher geplant, wie er die Polizei in die Irre führen würde.