V
Preising schlüpfte also zu gebotener Zeit wieder in den Seersucker-Anzug, dabei an den verblüffend grünen Rasen denkend, auf dem jenes Gartenfest in den Hamptons stattgefunden hatte, in dessen Verlauf ihn die Freundin, die er begleitete und die ihm zu diesem Anlass ebendiesen Seersucker gekauft hatte, mit einer beträchtlichen Anzahl in beschlagenen Silberbechern gereichten Mint Juleps betrunken machte. Und deren eindeutigen Avancen mit allen unvorhersehbaren Konsequenzen Preising nur entkommen war, weil ihr zu später Stunde eines der zahlreichen anwesenden sowohl völlig übermüdeten wie auch gleichermaßen aufgedrehten Kinder, ein achtjähriger Bengel mit Bügelfalte und Pennyloafers in Größe 34, mit einem Crocketschläger aus Versehen zwei Zehen zertrümmert hatte.
Das weiße Hemd mit den Rosenwasserflecken am Rücken roch etwas streng, was daran lag, dass Preising bei seinem Versuch, Saida für Nabokovs lepidopterologische Spaziergänge oberhalb des Genfer Sees zu interessieren, recht ins Schwitzen geraten war. Er unternahm einen halbherzigen Versuch, dem mit der Applikation einer größeren Menge Rasierwasser unter den Achseln entgegenzuwirken, und umschiffte die schwierige Frage nach dem zweiten Hemdknopf, indem er während des Zuknöpfens versuchte, im Kopf die Anzahl der Circonflexe in der Originalfassung von Prousts Madelainesequenz zu ermitteln, eine Sequenz, die er sich die Mühe gemacht hatte, auswendig zu lernen, weil er im Laufe seines Lebens die Erfahrung gemacht hatte, dass Schmelzbrötchen und, vielleicht etwas allgemeiner, mit Nahrungsmitteln verknüpfte Kindheitserinnerungen in so mancher gesellschaftlichen Situation als beliebtes Gesprächsthema aufkamen.
Derart angetan trat er also aus dem Zelt und ging mit gestrafften Schultern durch den Palmenhain auf den Lärm zu, der von der Poolbar herüberschallte, an der sich die Gesellschaft mit Champagner und Garnelentempura an Harrissamayonnaise für die bevorstehende Zeremonie stärkte. Schon von Weitem löste sich aus dem vielstimmigen Geschwätz und Gelächter ein einzelnes meckerndes Lachen, welches Preising mühelos einem Mann zuordnen konnte, der ihm schon früh aufgefallen war, einem Mann, der ein paar Jahre älter war als der Rest und sich von den anderen auf den ersten Blick dadurch unterschied, dass er sich als Einziger einen deutlichen Bauchansatz leistete, den er selbstbewusst unter seiner breiten Brust zur Schau stellte. Preising hatte gehört, wie er von den jüngeren «Quicky» gerufen wurde, und es schien ihm, dass sie ihm trotz des äußerst albernen Namens einen gewissen Respekt entgegenbrachten und es vermieden, ihm kumpelhaft auf die Schultern zu schlagen, es aber im Gegenzug wie eine Auszeichnung hinnahmen, wenn Quicky sie mit einem seiner großzügig verteilten angedeuteten Leberhaken bedachte. Dem Personal erteilte er in einem bellenden rudimentären Arabisch Befehle. Quicky, noch keine vierzig, wie Preising schätzte, hatte in unbeobachteten Momenten ein müdes Gesicht und legte ansonsten eine aggressive Virilität an den Tag, die Preising unangemessen sexuell und schmuddelig vorkam. Eine Hyäne unter Tigerbabys hatte Pippa gedacht, ein Oberarschloch unter gewöhnlichen Arschlöchern, hatte Sanford gesagt, als er ihn mit zwei Bierflaschen in der Hand eine Arschbombe hatte vorführen sehen.
«Casual», so klärte mich Preising auf, «bedeutete in jenen Kreisen offensichtlich, dass man die Krawatte weg- und das Jackett offen ließ. Die jungen Männer trugen schmale, maßgeschneiderte Anzüge und helle Hemden, nicht anders, als sie sich, eben mit Ausnahme der Krawatten und offenen Knöpfe, tagtäglich zur Arbeit kleideten. Die Mädchen hatten leichte Seidenkleider deutscher Modehäuser an, deren breite Ausschnitte wie zufällig über ihre knochigen Schultern glitten und dabei Schlüsselbeine entblößten, die mich an geröstete Hühnerkarkassen denken ließen. Die Säume», so betonte Preising, «endeten deutlich über dem Knie, welche in der Regel recht spitz, aber von der Sonne zart gebräunt waren.
Pippa, die in einem ärmellosen Leinenkleid, das geschickt die Farbe ihrer Augen aufgriff und einen kräftigen Kontrast zu ihren ergrauten Haaren bildete, bezaubernd aussah, stellte mich den Ibbotsons vor, ein reizendes Ehepaar, mit denen ich mich im Schatten eines großen Schirms, etwas abseits vom großen Trubel, aufs Lebhafteste über Liverpool unterhielt, während Mary Ibbotson viel Perrier trank und wenig sagte und ihr Mann, ein recht schweigsamer Gewerkschafter alter Schule, dem die Hitze zu schaffen machte, zögerlich am Rosé-Champagner nippte und seine blasse Frau zu einem Garnelentempura überreden wollte, von dem er fürsorglich die würzige Mayonnaise abgewischt hatte. Es sei, so versprach er ihr, mit dem für die Arbeiterklasse typischen gesunden Pragmatismus, eigentlich auch bloß Fish and Chips, nur ohne Chips. Und dann war es mir endlich beschieden, Marc kennenzulernen, der unter großem Jubel seiner Freunde im dunklen Anzug und leger aufgeknöpften Hemd an der Poolbar erschien. Leider hatte er von Pippas einnehmendem Äußeren nur wenig, dafür umso mehr von der hoch aufgeschossenen und in ihrer Magerkeit etwas Ungemütliches ausstrahlenden Puritanergestalt seines Vaters geerbt. Abgesehen davon, ich muss es gestehen, fand ich ihn einen ganz und gar einnehmenden jungen Mann von ausgesuchter Höflichkeit, und ich erkannte auf den ersten Blick, wie viel Pippa in jeder Hinsicht richtig gemacht hatte und wie viel ihres freundlichen Wesens in ihm steckte. Diese Beobachtung veranlasste mich zu der Bemerkung, sie habe sehr wohl gut Maß genommen und ebenso erfolgreich geschnitzt, was Sanford, der in unser Gespräch nicht eingeweiht war, eine ironisch hochgezogene Augenbraue entlockte, die ich diesmal geflissentlich übersah.
Ich hatte mich bei Marc sehr für die freundliche Einladung bedankt, und er schien recht froh, dass seine Eltern in mir einen vertrauten Gesprächspartner gefunden hatten, da er mitbekommen hatte, dass es zwischen seinen und Kellys Eltern etwas schwierig war. Wiewohl alle Beteiligten nicht müde wurden, zu beteuern, das liege nur am schwachen Magen der armen Mary Ibbotson und, wie mir Kelly später an diesem Abend erklärte, der mangelnden Fähigkeit ihres Vaters, zu transpirieren; er sei, so sagte sie, in dieser Hinsicht wie ein Nagetier. Wusstest du», wollte Preising von mir wissen, «dass Nagetiere nicht schwitzen, Schweine auch nicht und die meisten Raubtiere praktisch nur an den Fußballen? Kamele dafür umso mehr. Kamele haben eine erstaunliche Anzahl an Schweißdrüsen, eine Tatsache, die mich sehr erstaunt hat, denn ich hatte immer angenommen, Kamele seien wie eine Art Sack mit viel Wasser zu befüllen und darauf ausgerichtet, nur das Nötigste davon zu verlieren.»
Nein, sagte ich, das habe ich nicht gewusst, aber jetzt wisse ich es, und ob diese Details zur Transpirationsfähigkeit verschiedener Säugetiere denn etwas zu seiner Geschichte beizutragen hätten?
Nein, so gab Preising zu, aber es handle sich dabei doch um eine höchst bemerkenswerte und erstaunliche Tatsache, und immerhin seien Kamele doch in seiner Geschichte so etwas wie ein Leitmotiv.
Tatsächlich sollte bald wieder ein Kamel auf der Bildfläche erscheinen. Nach dem Champagnerempfang am Schwimmbecken begab sich die Gesellschaft in der einbrechenden Dämmerung durch den Palmenhain auf eine kleine Lichtung, in der nach dem Vorbild Karthagos aus grob behauenem Stein und Säulenfragmenten aus Zement die Ruine eines Amphitheaters aufgebaut war, mitsamt einer kleinen Bühne, auf der gelegentlich folkloristische Darbietungen für die Gäste des Resorts stattfanden. Starke Strahler warfen ihr farbiges Licht vom Boden auf die Stämme und die Blätterdächer der Palmen, die die Lichtung begrenzten. Eine ganze Batterie Scheinwerfer, die an einer mit Gips verkleideten Traverse über der Bühne hingen, tauchte die Bühne und das Halbrund der Zuschauer in buntfleckiges Licht. Einige eiserne Feuerschalen warfen flackernde Schatten auf die Szenerie und vervollkommneten die Illumination, für die extra ein Spezialist aus Tunis angereist war, der sich allerdings fürchterlich mit der gefeierten burmesischen Floristin aus Antwerpen überworfen hatte, die ihm in sein Farbkonzept reinzureden versuchte, weil sich die lila Filterfolien angeblich nicht mit dem zarten Rosa der Alstroemeria vertrugen. Jenny, die Liebhaberin deutscher Sportwagen, beste Freundin der Braut und Organisatorin der Zeremonie, wies den Gästen ihre Plätze auf den steinernen Stufen und den bereitgestellten Stühlen mit den weißen Leinenhussen zu. Gedämpft spielte geheimnisvolle Trommel- und Schellenmusik von einer CD mit dem Titel Winds of the Desert, die sich Jenny von ihrem privaten Pilatestrainer geliehen hatte.
Quicky gab den Zeremonienmeister. Mit gereckter Brust erklomm er die Bühne, durchmaß sie ein, zwei Mal mit tigerndem Gang, bevor er mit ausgebreiteten Armen die Gesellschaft zur feierlichen Vermählung von Kelly Ibbotson und Marc Rajani Greyling willkommen hieß. Dann bat er Marc auf die Bühne, der sich zu Preisings Erstaunen seiner Schuhe und Strümpfe entledigt hatte und nun barfuß im dunkelblauen Anzug etwas verloren zwischen den Gipssäulen stand. Jenny drehte die Musik lauter. Im Hintergrund löste sich aus dem Palmenhain die hoch aufragende Silhouette eines Kamels. Kelly, auch sie barfuß, saß im Schneidersitz auf dem prächtig geschmückten Tier und versuchte trotz des Schwankens und Schlingerns eine sowohl würdevolle als auch verführerische Braut abzugeben.
Jenny hatte den Kamelführer, der das Tier am Zügel führte, gezwungen, sein Rooney-Trikot gegen ein Kostüm einzutauschen, welches eine Handelssaalpraktikantin, die sich davon vergeblich eine Einladung zur Hochzeit erhofft hatte, nach Abbildungen von Tuareg-Reitern aus einem Reisebürokatalog genäht hatte. Jenny war zufrieden. Kellys schlichtes weißes Kleid hob sich wunderbar gegen die indigofarbenen Tücher ab, genau der Effekt, den sie beabsichtigt und dessentwegen sie auch die Hinweise der Praktikantin, es gebe in Tunesien keine Tuareg, als irrelevant abgetan hatte.
Der falsche Wüstenkrieger, dem die ungewohnte Kopfbedeckung das Sichtfeld einschränkte, stolperte bei dem Versuch, sein Reittier die zwei Stufen auf die Bühne zu führen, über die viel zu langen indigoblauen Säume und verschreckte dabei das Kamel derart, dass es sich weigerte, auch nur einen weiteren Schritt zu tun, und auch nicht dazu zu bewegen war, sich in typischer Manier niederzuknien, um der Braut einen würdigen Abstieg zu ermöglichen. Der Kamelführer redete dem Tier gut zu und zog zunehmend ungeduldiger am Zügel, während Quicky begann, dem Kamel in die Kniekehlen zu treten. Kelly machte dem unwürdigen Spektakel ein Ende, in dem sie beherzt von dem hohen Höcker hinuntersprang, in die Arme ihres bereitstehenden Bräutigams, was zu einem zwar ungeplanten, aber ungemein romantischen Augenblick führte, der Kenneth Ibbotson dazu verleitete, die Arme hochzureißen und «bring her home, son» zu brüllen.
«Quicky hielt eine längere Rede, von der ich wenig verstand. Aber das», sagte Preising, «erstaunte mich nicht, denn er bediente sich dafür genau jenes Duktus, den ich von den Präsentationen der Unternehmensberater kannte, für die unsere Firma auf Wunsch von Prodanovic viel Geld ausgibt und denen zu folgen mir auch immer so schwerfällt. Es war von Merger die Rede und von Win-win-Situationen, von Gewinn und Bonus, von Teamwork und Investitionen in die Zukunft. Und das Ganze garnierte Quicky eloquent mit kämpferischen Kriegsmetaphern und Versatzstücken fernöstlicher Weisheiten. Mut und Durchhaltevermögen, Yin und Yang, Wille und Demut, die Kraft des fließenden Wassers, die Weisheit der Steine.
Dann verlasen die engsten Freunde des Paares emphatisch formulierte Wünsche, bei denen es viel um Gesundheit und Glück ging, aber auch Immobilienbesitz und Führungspositionen in Singapur eine Rolle spielten, und übergaben die Zettel, auf die sie die Wünsche geschrieben hatten, dem Feuer. Quicky erklärte die beiden zu Mann und Frau. Sie küssten sich. Ringe wurden getauscht. Dann folgte ein weiteres Ritual, bei dem wir uns alle an den Händen fassen mussten und einen Kreis um das Brautpaar bildeten. Du weißt, dass ich so etwas nicht mag. Wir riefen ihnen etwas zu, ich habe vergessen, was, dafür erinnere ich mich an die trockene Hand eines jungen Mannes, der furchtbar laut schrie, und an die winzige Hand einer winzigen Norwegerin, die viel Geld mit steigenden und fallenden Getreidepreisen machte und einen zarten Duft nach Ringelblumen und Avocado an meinen Fingern hinterließ. Das alles dauerte ziemlich lange, und es schien mir, als freute sich sogar Mary Ibbotson, als wir endlich zum Dinner schritten.»
«Der Koch, ein junger wilder Kärntner, in Tokyo und Sydney ausgebildet», begann Preising die Schilderung des Abendessens, die ich sogleich unterbrach, denn unser Spaziergang an der frischen Luft hatte mich hungrig gemacht, und ich war nicht gewillt, einen ausführlichen Bericht über die Menüfolge zu hören. Zumal ich mir in etwa vorstellen konnte, was ein junger, wilder Kärntner, der in Tokyo und Sidney gelernt hatte, in einem tunesischen Wüstenresort zu einer englischen Hochzeit, bei der Geld keine Rolle spielte – oder die allergrößte –, auftischen würde. Louisiana-Flusskrebse in Grünteegelee an Dattelcouscous; Baklava von Akazienhonig, Alba-Trüffeln, Stopfleber und tasmanischen Macadamianüssen oder Tafelspitz vom Wagyu-Rind an Süßkartoffelgröstl und ähnliche internationalisierte Späße. Preising schien etwas enttäuscht, aber er fügte sich meinem Wunsch, so gut er konnte.
«Wie du willst», sagte er, «ich werde das Dinner überspringen. Jedenfalls war es, nun ja, wie soll ich sagen … wild, das trifft es am besten. Speisen aus aller Welt. Nur Delikatessen. Ganz Ausgefallenes. Nun, ich werde nicht ins Detail gehen. Und wunderbar angerichtet. Aber ich bin ja eher ein Freund der bürgerlichen Küche, bürgerlich im besten Sinne, also eher Citoyen als Bourgeois. Und Weine, ich sage dir, Weine … Aber du willst es ja nicht hören», unterbrach er sich nach einem prüfenden Seitenblick in meine Richtung.
«Item», fuhr er fort, «ich saß also an einer runden Tafel am hinteren Ende des Speisesaals mit fünf der jungen Leute, alle nicht zum engsten Kreis gehörend. Die Lage etwas abseits vom Zentrum des Geschehens, mit der ich mich selbstredend zufriedengab, schließlich war ich ein nahezu Fremder, dessen Bekanntschaft mit der Familie des Bräutigams nicht anders als in der ersten Blüte stehend beschrieben werden konnte, hatte einerseits den deutlichen Vorteil, dass wir so weit wie nur möglich von der Bühne entfernt saßen, auf der eine Combo eine Art diskothekentauglichen Tango auf elektrischen Instrumenten spielte, und ich mich so besser auf die angeregten Gespräche mit den jungen Leuten konzentrieren konnte, andererseits war ich doch gar weitab vom Geschehen, als Pippa vor dem Auftragen des Desserts – ein Pistazien-Semifreddo mit Bitterorangenröster –, zu dem ein gehaltvoller Sauternes gereicht wurde, sich ein Herz fasste, die Bühne erklomm und aufs Trefflichste mit den Kastanien rasselte, sodass bereits nach zwei, drei Zeilen eine andächtige Stille die Festgesellschaft erfasste und ich lauter ergriffene Gesichter um mich herum erblickte. Pippa schlug sich wundervoll. Ich hätte ihr mit geschlossenen Augen eine Ewigkeit lauschen können, und der, ja, ich würde sagen: frenetische Beifall, den das Ende von Pippas Vortrag auslöste, holte mich unsanft von weit her wieder zurück.»
Der frenetische Beifall hatte eher den Charakter einer Übersprunghandlung, dazu geeignet, das betretene Schweigen zu vertreiben, das Preising als andächtige Stille beschrieben hatte.
Eigentlich hatte sich Pippas Auftritt ganz gut angelassen. Sie hatte mit Sanford, dem Brautpaar, deren Trauzeugen Jenny und Rob, einem jungen Mann, ebenfalls aus der Finanzbranche, mit dem Marc viele Jahre zusammengewohnt hatte, bevor er und Kelly sich zum Dreißigsten das Reihenhaus in Barnsbury geschenkt hatten, und den Ibbotsons an einem Tisch gesessen. Jenny, froh, dass die Zeremonie einigermaßen glatt über die Bühne gegangen war, erheiterte die Gesellschaft mit einer langen Geschichte über die technischen Unzulänglichkeiten ihres neuen Arbeitsplatzes, dem neu errichteten Hauptsitz einer großen Bank, der sich neben anderen architektonischen Markenzeichen in der Londoner City zu behaupten versuchte und die dazu nötigen Distinktionsmerkmale vor allem in einer ungewöhnlichen, die Grenzen des Machbaren ausdehnenden Statik suchte, die allerdings zu ganz ungewöhnlichen Fallwindphänomenen führte. Die Revolvertüren am Haupteingang entwickelten bei bestimmten Wetterverhältnissen trotz Motorbetriebes ein Eigenleben und begannen sich immer schneller und schneller zu drehen. Bei Ostwind und gleichzeitigem Tiefdruck konnte das Gebäude nur durch die Notausgänge, die in eine enge und schmutzigen Gasse führten, betreten und verlassen werden, bis man schließlich die Drehtüren durch elektrische Schiebetüren ersetzte. Und dennoch, so erzählte Jenny, gab es Tage, an denen man das Gebäude nur zwischen zwei Windböen verlassen konnte, sodass sich zur Mittagszeit ganze Trauben von Bankangestellten im Foyer vor der Tür versammelten, um im richtigen Moment, fluchtartig, einander beinahe tottrampelnd, aus dem Gebäude zu stürzen. Bei starkem Regen allerdings könne es vorkommen, dass beim Öffnen der Schiebetüren wie Gischt das schmutzige Wasser von der Straße ins Foyer aus grünem Marmor fege und gegen das monumentale Rakelbild von Richter spritze, sodass man dieses bereits aufwendig habe restaurieren und mit einer gigantischen entspiegelten Glasscheibe versehen müssen. Damit war ein dankbares, Klassen- und Altersunterschiede überwindendes Thema gefunden. Zur Dysfunktionalität moderner Architektur wusste jeder am Tisch eine Geschichte zu erzählen, außer vielleicht Mary Ibbotson, die nie über Architektur nachdachte. Aber selbst ihr Mann taute auf und berichtete von den unmöglichen Urinalen im neuen Stadion seiner Fußballmannschaft.
In derart gelöster Stimmung, selbstsicher, vom Alkohol angewärmt und noch Preisings aufmunternde Worte im Ohr, hatte Pippa dem Bandleader ein Zeichen gemacht und zielstrebig die Bühne erklommen. Sie hatte sich ans Mikrofon gestellt und in aller Ruhe das Verstummen der letzten Gespräche abgewartet, bevor sie mit fester Stimme, ohne auf das handgeschriebene Blatt in ihrer Linken zu blicken, zu rezitieren begann. Sofort bekam sie die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Publikums. Wie junge Hunde, die auf einen saftigen Knochen spekulierten, wie Gläubige, die die weisen Worte von den Lippen des Predigers tranken, blickten sie zu ihr hoch. Pippa schrieb es der Kraft der Poesie zu, weil sie nicht wusste, dass diese jungen Leute genau darauf konditioniert waren, selbstsicheren Leuten zu lauschen, die etwas zu verkünden hatten. Bankdirektoren, die die Gewinnziele bekannt gaben, Teamleitern, die die Tageslosung beschworen, Investmentgurus, die mit Headsets ausgestattet Erfolgsrezepte ins Auditorium warfen, Professoren, die ihnen mathematische Modelle erklärten, Unternehmensberatern, die neue Strategien anpriesen, Personal Trainers, die Durchhalteparolen und Tipps zur geistigen und körperlichen Fitness von sich gaben. Es kümmerte sie nicht, wer, es kümmerte sie nicht, was, es ging um eine bestimmte Haltung dessen, der da sprach. Selbstsicherheit, Präsenz, eine gewisse Lautstärke, ein Siegerlächeln und gute Kleidung halfen auch, dann waren sie bereit, zu lauschen und frenetisch zu applaudieren. Selbst wenn ihnen ein Gedicht eines alten buddhistischen Beatniks und Tiefenökologen präsentiert wurde, selbst dann.
Aber dann verlor Pippa die Kontrolle, indem sie nur für die Dauer eines Wimpernschlages ihre Selbstsicherheit einbüßte. Schwer zu sagen, was der Auslöser war. Vielleicht Sanford. Vielleicht war es einer jener Momente, in denen man seinen vertrauten Gefährten von einer unbekannten Warte aus sieht und er einem für einen Moment ganz fremd erscheint. Der magere Hals, der zuckende Adamsapfel, und dann ist man sich plötzlich selbst ganz fremd. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks.
Sofort huschte eine gequälte Unruhe über die Gesichter. Eine wellenförmige Bewegung, die den Saal ergriff, deutlich genug, um von Pippa registriert zu werden und sie in eine Abwärtsspirale zu reißen, der sie erst entkommen wird, wenn sie in zwei Jahren von der Höhe der Eingangstreppe eines englischen Gymnasiums, ihres neuen Arbeitsplatzes, auf den jungen Referendar hinunterblicken wird, wie er lässig, die Hände in den Taschen seines Kapuzensweaters, an ihrem Prius lehnt und sie in diesem Moment begreift, dass sie diese Liebe nicht zu leben braucht, ihn aber dennoch einsteigen lassen wird. Eine Abwärtsspirale, deren erste Umdrehungen begleitet wurden vom schabenden Rotieren der Farbwechsler, die, geschaltet von einem bösen elektronischen Geist oder einem wohlmeinenden Hotelangestellten, das warme Licht, welches ihr kurzes graues Haar hatte scheinen lassen und einen goldenen Schimmer auf ihre Wangen gelegt hatte, in ein fahles Blau umkippen und jeden Glanz erlöschen ließen. Eine Abwärtsspirale, die an Fahrt gewann, als Pippa ins Stocken geriet und auf dem Zettel in den mit königsblauer Tinte geschriebenen Worten nach den richtigen suchte. Als die Zeilen in ihrer regelmäßigen geschwungenen Lehrerinnenschrift nicht an Schärfe gewannen, auch nicht, als sie das Blatt so weit von sich entfernt hielt, wie es ihr Arm zuließ. Eine Abwärtsspirale, die sich bereits in unaufhaltsamer Fahrt befand, als Kenneth Ibbotson aufsprang und ihr zu Hilfe eilend seine kleine klappbare Lesebrille aus einem Drogeriemarkt an einer Straßenecke in einem Vorort von Liverpool aufdrängte und damit der rasenden Fahrt zusätzlichen Schwung verlieh. Pippa, fahl im blauen Licht, steifhüftig, von Kenneth Ibbotsons Drogeriemarktbrille zur alten Jungfer entstellt, rasselte immer schneller mit den Kastanien, aber das Gedicht schien zu keinem Ende zu kommen. Lähmendes Entsetzen griff um sich.
Sie hätte nackt, ihre Schwangerschaftsstreifen, den schlaffen Bauch, die mit weißen Haaren durchsetzte Scham ausstellend, nicht nackter sein können, als sie es hier war, ihrer Selbstsicherheit beraubt. Ihre abhandengekommene Souveränität war eine Obszönität, und dort, im fahlen blauen Licht, wurde sie zur Monstrosität, die sich störend in eine Feier des Selbstbewusstseins gedrängt hatte und zum Partyschreck Sellers’schen Ausmaßes zu mutieren drohte.
Pippa brachte es hinter sich. Zeile für Zeile, Wort für Wort, und hastete von der Bühne unter dem erlösenden Applaus, der sie traf wie Peitschenhiebe. Peitschenhiebe, die sie verdient hatte, für das Begehen der Sünde, sich seiner selbst nicht sicher zu sein und die Hochzeitsgesellschaft diesem Anblick auszusetzen.
Preising hätte das durchaus auch an seinem abgelegenen Tisch sehen können, hätte er sehen wollen, was es zu sehen gab, und nicht, was er sehen wollte. Aber so stimmte er lauthals ein, in das, was er später als frenetischen Jubel beschrieb.
Seine Beobachtungsgabe versagte aber nicht in jeder Hinsicht. Er bemerkte nämlich ganz richtig, dass sich das Fest in seiner weiteren Entwicklung nicht wesentlich von anderen Hochzeiten unterschied, bei denen er zu Gast gewesen war. Es wurde viel geredet, viel getrunken, viel getanzt. Was aber alles, so war es Preising aufgefallen, wiewohl es in einem Maß geschah, welches sich immer am Rande des Exzesses bewegte, in einer seltsam abgeklärten Stimmung stattfand. Man trank sich um den Verstand, als müsse es getan werden, erleichterte sich brechenderweise im Palmenhain, als arbeite man sich an einem Schema ab. Steckte sich gegenseitig die Zungen in die Münder, wie Preising indigniert bemerkte, als sei es eine Nebensächlichkeit. Getanzt wurde zugleich mit einem Übermaß an Körperlichkeit und Coolness, gelacht wurde kurz und ironisch.
Bald gesellte er sich zu einer Gruppe Männer an der Bar am Pool und ließ sich von Quicky, der das Wort führte, einen dickflüssig gekühlten französischen Wodka nach dem anderen aufschwatzen. Sanford trieb ethnologische Studien nach Bronislaw Malinowskis Methode der «Teilnehmenden Beobachtung», indem er eine Art Stammestanz um Jenny aufführte. Preising fiel auf, wie geschmeidig sie war, wie makellos straff, wie aus einem fremden perfekten Material geschaffen. Er registrierte es eher erstaunt als interessiert.
Pippa und auch die Ibbotsons waren bald verschwunden. Preising versuchte, ein paar der jungen Leute zu beeindrucken, indem er Sanfords Geschichte vom berberischen Kamelbraten zum Besten gab, worauf ihn zwei der Frauen nur noch mit Mister Mungo Park ansprachen. Darauf konnte er sich keinen Reim machen. Dafür verstrickte er sich in ein Gespräch mit Quicky, der sich, um nicht zu schwanken, an der Schulter eines rotgesichtigen Jünglings, der seine Funktion als Stütze selig lächelnd als eine Art Auszeichnung zu begreifen schien, festhielt. Preising konnte an Quicky ein seltsames, unergründliches Phänomen beobachten. Er erzählte stockend mit schwerer Zunge, Preising, der mit dem Rücken zur Wand gedrängt stand, mit einem feinen Spuckeregen eindeckend. Doch Worte wie Um Qasr, Nasiriyah, Rumaythah und Um Al Shuwayj kamen ihm klar und deutlich über die Lippen. Er sprach sie aus wie mystische Namen. Alles Orte, an denen er im Irak gedient hatte. Erst als Teil der Koalition der Willigen in einer SAS-Schwadron, später, weil, wie er nicht müde wurde zu bekräftigen, «way better» bezahlt, als Angestellter einer zivilen Sicherheitsfirma, die er ganz unumwunden als verrottete Söldnertruppe bezeichnete. Quicky gab einige kriegerische Schnurren von sich, von denen Preising hoffte, sie seien nicht wahr oder zumindest maßlos übertrieben. Und von der Söldnertätigkeit zur Anstellung im Handelssaal der Bank, schien es, wollte man Quickys Erzählung Glauben schenken, kein weiter Weg mehr, als Quicky, wie er sagte, genug von dem fucking Sand und den scheiß Sandalenträgern hatte. «Fragen Sie ihn nach seinem Namen, fragen Sie ihn, warum wir ihn Quicky nennen», wurde er von dem rotgesichtigen Jüngling aufgefordert. Preising tat wie geheißen, und Quicky hielt ihm seine Rechte vors Gesicht und knickte den Zeigefinger, als betätige er einen Abzug. «Deswegen», lallte Quicky, «quick trigger finger. Deswegen wollten sie mich alle, die Armee, die Firma und die Bank.» Er lachte meckernd. Im Hintergrund tanzte die geschmeidige Jenny.
Über Preising rauschte der Wind in den Palmwipfeln, als er schwankend zu seinem Zelt ging. Fetzen von Lachen und Musik drangen an sein Ohr, als er mit nichts als einer Unterhose und Strümpfen bekleidet auf seinem Bett lag. Der Seersucker lag in einem Knäuel auf dem Berberteppich. Preising hob einen Arm, zielte mit einer imaginären Pistole auf den Punkt, an dem die Zeltstangen zusammenliefen, krümmte den Zeigefinger, dann legte er die Hand auf seine Brust, wo ihn die Speiseröhre schmerzte, und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.