IV

Die Rückkehr verlief weit glanzloser, als Preising sich das vorgestellt hatte. Saida schien keineswegs erleichtert, als sie ihn sah.

Zu seinem Glück war sie sehr mit den Vorbereitungen für das Hochzeitsfest beschäftigt und konnte ihm nicht mehr als ein paar Minuten ihrer Zeit widmen. Genug aber, um einen recht beschämten Preising zurückzulassen. Einen beschämten und desillusionierten Preising, denn sie machte deutlich, dass sein kindisches Verhalten – seine zaghaften Ausreden auf Sanford ließ sie nicht gelten – ihr wenig echte Sorge um ihn, aber einen Haufen Verdruss und, was sie besonders aufzubringen schien und ihm schmerzhaft vor Augen führte, dass er und die Gastfreundschaft, die ihm hier entgegengebracht wurde, doch nicht mehr als ein Buchhaltungsposten waren, recht hohe Kosten verursacht hatte. Wie sie durchblicken ließ, war es für sie, als Slim Malouchs Tochter, zwar jederzeit möglich, die Staatssicherheit um einen Gefallen zu bitten, solche Gefallen waren aber am Ende nie kostenlos, ganz im Gegenteil, da sie nie in barer Münze bezahlt wurden, sondern oftmals erst nach langer Zeit zu einer Gegenleistung in Form einer wie auch immer gearteten Hilfestellung verpflichteten, war die Zinslast unberechenbar hoch.

Preising schlich, den ehemaligen Messtechniker Prodanovic verfluchend, denn dieser hatte ihn ja eigentlich in diese Lage gebracht, am ehemaligen Schwimmweltmeister über die lange Distanz vorbei, der im Schatten einer Mauer mit einer mageren Windhündin und deren vier Welpen, die um ihn herumtollten, spielte und ihn mit demonstrativer Nichtachtung strafte.

«Nach einer erquickenden Dusche, die bei Weitem nicht so kalt war, wie jene, die ich eben hatte über mich ergehen lassen müssen, griff ich mir meinen Messadis, einen Krug Zitronenwasser und ein Körbchen Datteln und erklomm die Stufen zur Terrasse des Beys, wo ich auf Pippa traf, die ganz in ein Blatt Papier versunken war. Sie schien recht erfreut, mich zu sehen. Eben wäre ihr Mann bei ihr gewesen, habe ganz enthusiastisch von ihrem Ausflug berichtet, sagte sie. Sie sei froh, dass ich ihn auf seinen Ausflügen begleite und auf ihn aufpassen würde, Sanford neige gelegentlich zum Leichtsinn. Ich war mir gar nicht sicher, ob ich meine Aufgabe zu ihrer Zufriedenheit erfüllt hatte. Es schien mir, als ob ich ihn nicht von einer einzigen Leichtsinnigkeit hatte abringen können. Aber immerhin hatte ich ihn am Hosengurt gesichert, als er sich zum Fotografieren über den Erdwall lehnte.

Pippa forderte mich auf, neben ihr Platz zu nehmen, und ich erkundigte mich danach, wie sie ihren Tag verbracht habe. Sie habe, so sagte sie, und hob dabei den Bogen Papier in ihrer Hand, versucht, dieses Gedicht hier auswendig zu lernen. Sie beabsichtige, es am Abend als ihren Beitrag zur Hochzeit vorzutragen, aber es falle ihr offenbar immer schwerer, Gedichte auswendig zu lernen, das sei, so fürchte sie, eine Alterserscheinung. Doch, doch, entgegnete sie auf meine Beteuerungen, dass dies ja in ihrem Fall außerhalb des Bereichs des Möglichen sei, es schönzureden helfe nicht, früher sei es ihr außerordentlich leichtgefallen, Gedichte auswendig zu lernen, es sei ihr allerdings auch leichtergefallen, Gedichte öffentlich vorzutragen, ein Akt, den sie sich heute immer seltener zutraue, sie habe den Eindruck, die Momente, in denen ein Gedicht angebracht sei, würden immer seltener. Eine Beobachtung, deren Richtigkeit ich sofort zu bestätigen bereit war. Aber, so sagte ich, dagegen gelte es, unbeirrt anzukämpfen. Die Poesie und ihr öffentlicher Vortrag seien unverzichtbar, jener mache uns Menschen erst zu wahren Menschen.

So weit war sie dann doch nicht bereit mir zu folgen, aber sie erwähnte einen dem Tode geweihten amerikanischen Philosophen, seinen Namen habe ich bedauerlicherweise vergessen, der die Fähigkeit, Gedichte zu zitieren, mit der etwas rätselhaften, aber wie Pippa und auch mir schien, doch sehr treffenden Wendung ‹to be able to rattle off some old chestnuts› beschrieb. Das ‹rattle off› bedeute sowohl etwas ganz schnell aufzusagen, also eigentlich das deutsche ‹Herunterrasseln›, erinnere aber auch an das warme, rasselnde Geräusch, welches zwei in der hohlen Hand geschüttelte Kastanien erzeugten. Das sei, so sagte Pippa, in vielerlei Hinsicht ein gutes Bild, das Herunterrasseln verhehle nicht das Wissen um die Lächerlichkeit, die darin liege, zu jeder Gelegenheit ein Gedicht spruchbereit in der Hinterhand zu haben, die Kastanien aber verwiesen doch deutlich auf den Herbst des Lebens, in dem sich der amerikanische Philosoph, dessen Namen mir leider entfallen ist, befunden hatte, als er jene Zeilen schrieb, denn er habe damals bereits mit einer tödlichen Diagnose gelebt. Und es sei ja wohl offensichtlich, dass das Aufsagen von Gedichten doch eher zum Herbst des Lebens und nicht zur Blüte der Jugend gehöre. Sie seufzte schwer und versenkte einen melancholischen Blick in das Meer aus Palmwedeln zu unseren Füßen.

Es tat mir redlich leid, dass sie sich nun unversehens im Herbst ihres Lebens wiederfand, nur weil ihr Sohn in den Bund der Ehe eintreten wollte. Wiewohl ich zugeben muss, dass diese jungen Leute ein Talent dafür besaßen, einem das Gefühl zu geben, man sei alt.»

Das lag aber nicht an ihrem unverschämt jugendlichen Aussehen, wie Preising fälschlicherweise annahm. Nicht an ihren vollen Haarschöpfen, ihren flachen Bäuchen und schmalen Hüften. Auch nicht an ihrem ausgelassenen Treiben, ihrem lauten Tun, dem Spielerischen ihrer Gesten, dem ironischen Unterton, der jede ihrer Äußerungen begleitete. Letzten Endes lag es daran, dass es ihnen gelang, dieses Spiel, das sie da spielten, als Ernst zu verkaufen. Und das gelang ihnen natürlich nur, weil es so wirkmächtig war, dieses Spiel. Und die Kraft lag im Geld, in den ungeheuren Summen, mit denen sie tagtäglich hantierten, und in den obszönen Gehältern, die sie bezogen. Wie konnte etwas, das so große Auswirkung auf die Gesellschaft hatte, als Spiel abgetan werden?

Wie sinnlos dieses Unterfangen war, hatte selbst Willy, nach der dritten Flasche Heineken in seinem gelben Schwimmring treibend, eingesehen. Wo das Geld ist, ist die Wahrheit. Darum, so dachte sogar Mary Ibbotson mit dem staubigen Geschmack von Kohletabletten auf der Zunge, ist sich der Volksmund auch nicht einig, was sich am Ende des Regenbogens finden ließ. Auf den Kanalinseln, so wusste Mary Ibbotson, die auf Guernsey eine Cousine hatte, erzählten sich die Leute, am Ende des Regenbogens sei die Wahrheit zu finden. Bei ihr zu Hause aber, in Liverpool, da sagte ein altes Kinderlied, am Ende des Regenbogens warte ein Schatz. Und weil sie ihren analytischen Fähigkeiten nicht traute, dachte sie den Gedankengang nicht zu Ende, und es blieb eine diffuse Vorstellung, dass sich am Ende des Regenbogens vermutlich beides finden ließe, sowohl Geld wie auch die Wahrheit. Oder, was noch wahrscheinlicher war, dass beides eins und somit Geld auch Wahrheit sei, was ihrer Cousine recht gegeben hätte. Das wiederum ergab Sinn, denn von Geld verstanden sie auf Guernsey schließlich was. Es gelang ihr aber, den Gedanken beiseitezuschieben, da sie jene Cousine noch nie gemocht hatte.

Es waren aber nicht nur die Ibbotsons, die sich mit diesen Gedanken plagten, auch Sanford, der seinen analytischen Fähigkeiten sehr traute, kam nicht umhin, zu einer beunruhigenden Einsicht zu gelangen, dass nämlich eine pervertierte Gesellschaft zu einer pervertierten und ordinären Version von William James’ Barwertthese gelangt sei, ein Gedanke, der ihm einen Schauder den Rücken hinunterjagte. Denn wenn James recht hatte, und er war bei Weitem noch nicht bereit, daran zu zweifeln, dass das Nützliche wahr sei, dann sei die Problematik der sich seit den Tagen Margaret Thatchers immer weiter öffnenden Einkommensschere nicht nur eine der ungleichen Verteilung von Geld, sondern auch eine der ungleichen Verteilung von Wahrheit. Eine Einsicht, die ihm auf gesellschaftlicher Ebene Furcht einflößte und ihn auf privater Ebene mit dem Gefühl zurückließ, sein Leben, sein Beruf, seine Überzeugungen seien marginalisiert, zu bloßen Spielen degradiert, aber, da er sich in jenem Moment keinesfalls jünger fühlte, nicht zu Kinderspielen, sondern zu Rentnerspielen, zu frivolen Pensionärshobbys; Soziologie, Golf, Pétanque, Kommunitarismus und Bingo: alles dasselbe. Kurzum, er kam sich in der Gegenwart seines Sohnes und dessen Freunden alt vor, ebenso wie seine Frau, die, etwas weniger analytisch veranlagt, deutlich spürte, dass die ebenso breitbrüstige wie schmalhüftige Erzählung der Finanzmärkte ihren Englischunterricht, ihre Lesekreise und ihre Leidenschaft für Poesie für nutzlos erklärte.

Was Preising anging, verhielt sich die Sache etwas anders. Wenn Geld Wahrheit war, dann hatte er jede Menge Wahrheit auf seiner Seite. Was die Finanzkraft anging, so hätte die Deutungshoheit darüber, was als Spiel und was als Ernst betrachtet werden soll, bei ihm liegen müssen. Weshalb also ließ sich Preising vom Selbstbewusstsein der anwesenden Derivathändler und strukturierten Produktentwicklerinnen derart einschüchtern?

Ganz einfach, dachte ich und hob eine Handvoll Kieselsteine auf, weil Preising nicht mit Geld umgehen konnte. Nicht etwa, dass es ihm durch die Finger rann, dass er es verprasste, nein, im Gegenteil, er gab kaum etwas davon aus, und gerade deshalb war sein Umgang mit Geld verantwortungslos.

Er fürchtete sich vor Geld, so, wie er sich vor allen Werkzeugen fürchtete. Nicht davor, dass er sich aus Versehen in den Finger schneiden oder etwas einzwicken könnte. Preising fürchtete die Wirkkraft der Werkzeuge – er erinnerte sich mit Schaudern, wie er beim Skifahren in Les Diablerets zwei Männern dabei zugesehen hatte, wie sie für einen neuen Schlepplift ein armdickes Stahlkabel mit einer, wie ihm schien, winzigen Maschine, die eine ungeheure Hebelwirkung entfaltete, durchtrennten –, und er glaubte zu wissen, dass das Geld letzten Endes nichts anderes als ein besonders wirkmächtiges Werkzeug war – nichts als ein Werkzeug zur Verwirklichung von Größerem, ja sogar Höherem, wie mir Prodanovic letzten Freitag erklärte, als er Preising besuchte und ich ihm bei dieser Gelegenheit vorgestellt wurde.

Preising war natürlich nicht bereit, sich allzu viele Gedanken über das Größere und Höhere zu machen, zumindest war er nicht bereit, über das Gedankenmachen hinauszugehen, er war nicht bereit, die damit verbundene Verantwortung auf sich zu nehmen, und unterlief die an ihn gestellten Erwartungen damit, dass er sich einfach damit begnügte, reich zu sein, ich vermute, sogar stinkend reich, und ansonsten das Leben eines Durchschnittsbürgers führte, mit Ausnahme seiner Haushälterin, die er sich leistete, weil sie ihm viele Entscheidungen des Alltags abnahm.

Aber letztlich, so dachte ich, ist das mit dem Gedankenmachen so eine Sache. Ich bezweifelte nämlich, dass sich Prodanovic damit besonders viel Mühe machte. Eine Sache, die ich ihm unterstellte, obwohl ich ihn nur aus Preisings Erzählungen und einer kurzen Begegnung im Schatten der gelben Mauer kannte. Aber damit tat ich ihm vermutlich kein großes Unrecht, sondern reihte ihn nur ein in die Masse seiner Mitleistungsträger, Großentscheider und Vielverdiener, die alleweil bereit waren, auf Nachfrage zu beteuern, Geld sei nicht ihr Antrieb, sie würden ja nicht Geld um des Geldes willen verdienen, als würde ihnen irgendjemand absurderweise unterstellen wollen, sie würden ihr Geld in einen quadratischen Speicher füllen und ihren Bürzel darin tunken. Nein, nein, Geld sei ja nur Mittel zum Zweck, es würde Möglichkeiten eröffnen, Möglichkeiten, Großes zu tun, wobei sich dann die Größe der Taten meistens doch in Quadratmetern Wohnfläche in Cap Ferrat oder Rumpflängen in St. Barth manifestierte oder bestenfalls im Zukauf noch einer BH-Bügelfabrik in Bangladesch, die noch mehr Geld abwarf, mit dem man «Dinge in Bewegung setzen konnte», wie sie sich gerne ausdrückten. Dass Geld nicht für sich selbst steht, lag in der Natur der Sache, das war die Idee dahinter. Warum nur versuchen sie, uns das als ihre eigene Entdeckung zu verkaufen, und warum glaubten sie, würde das irgendetwas besser machen?

Nun hatte ich mich in Rage gedacht und hielt es, auf meinem Gartenstuhl sitzend, nicht mehr länger aus. «Kommen Sie, weiter», sagte ich zu Preising in rüdem Ton, ließ die Kieselsteine fallen und nahm unseren Gang wieder auf.

Preising, der meine Aufforderung nicht auf unseren Spaziergang, sondern auf seine Geschichte bezog, bemühte sich, den Faden wieder aufzunehmen.

«Nun, jedenfalls», fuhr er fort, «schien Pippa in etwas melancholischer Stimmung, und ich versuchte, sie daraus zu befreien, indem ich nachfragte, welches Gedicht sie denn für die Hochzeit ihres Sohnes ausgewählt habe. Es handelte sich um ein längeres Poem eines mir damals unbekannten und, wie mir schien, etwas obskuren amerikanischen Dichters namens Snyder, eines Beatpoeten, Zen-Anhängers und Mitbegründers der amerikanischen Tiefenökologie. Eine recht eklektische Mischung, wie du zugeben musst. Jedenfalls bat ich sie, da mir das Gedicht nicht bekannt war, es mir doch vorzutragen, was sie, nachdem sie sich eine geraume Weile geziert hatte, dann auch in wunderbarstem britischen Englisch tat.»

Er machte einige schnelle hüpfende Schritte, trat, den Weg versperrend, vor mich hin, holte tief Luft und deklamierte getragen:

«The Axe Handle

by Gary Snyder.

Ja, ich kann es auswendig, denn ich hatte mir in den Wirren des nächsten Tages, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, Pippas Zettel in einem geistesgegenwärtigen Moment angeeignet und so vor den Flammen gerettet. Er ist das Einzige, was mir von jenem Abenteuer geblieben ist, und ich habe ihn so oft angeschaut, dass ich nun das Gedicht auswendig kann.» Er breitete die Arme aus, sei es, um mich an der Flucht zu hindern, sei es, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, und begann mit starkem Akzent, jedes «the» als «sse» aussprechend, aber doch irgendwie die Englischlehrerin imitierend, mit seiner Rezitation:

One afternoon the last week in April
Showing Kai how to throw a hatchet
One-half turn and it sticks in a stump.
He recalls the hatchet-head
Without a handle, in the shop
And go gets it, and wants it for his own.
A broken-off axe handle behind the door
Is long enough for a hatchet,
We cut it to length and take it
With the hatchet-head
And working hatchet, to the wood block.
There I begin to shape the old handle
With the hatchet, and the phrase
First learned from Ezra Pound
Rings in my ears!
«When making an axe handle
the pattern is not far off.»
And I say this to Kai
«Look: We’ll shape the handle
By checking the handle
Of the axe we cut with –»
And he sees. And I hear it again:
It’s in Lu Ji’s Wen Fu, fourth century
A.D. «Essay on Literature» – in the
Preface: «In making the handle
Of an axe
By cutting wood with an axe
The model is indeed near at hand.»–
My teacher Shih-hsiang Chen
Translated that and taught it years ago
And I see: Pound was an axe,
Chen was an axe, I am an axe
And my son a handle, soon
To be shaping again, model
And tool, craft of culture,
How we go on.[1]

Auf der Terrasse des Beys ließ sich Preising von der metaphorischen Kraft des amerikanischen Dichters mitreißen und versank ganz in den bemerkenswert blauen Augen der Englischlehrerin, ohne ihre immer steiler werdenden Stirnfalten zu bemerken. Als sie geendet hatte, herrschte ein Moment der Stille zwischen ihnen. Es rauschten nur leise die Palmwipfel, bis Pippa die Stille mit einem kurzen englischen Kraftwort mit einem scharfen F unterbrach. Preising, der meinte, sich auf seinem Tagesausflug mit Pippas Mann an die der englischen Akademikerklasse offenbar eigene raue Ausdrucksweise gewöhnt zu haben, glaubte, sie bekräftige damit nur ihre Zustimmung zum eben Rezitierten und rang nun seinerseits um Worte, die ihm alle unzureichend erschienen und es vermutlich auch waren, immerhin verständigten sie sich in einer für ihn fremden Sprache. Schließlich probierte er es mit einem «Ja, freilich …» (Yes indeed …), um gleich wieder abzubrechen und neu anzusetzen und, so gut es ging, zum Ausdruck zu bringen, that the apple does not fall so far from the stem, wie man bei uns sagt, und dass diese allseits bekannte Wahrheit hier doch in unnachahmlicher Weise zur Geltung komme.

Pippa, der diese Analyse etwas zu kurz gegriffen schien, schaute düster an ihm vorbei ins Leere. Niemals werde sie sich damit zum Affen machen. Was sie sich denn nur dabei gedacht habe? Es sei ja offensichtlich, dass sie beim Herstellen des Axtgriffes schlecht Maß genommen habe, sodass sie jetzt auch nicht davon ausgehen könne, dass ihr Sohn die feine Botschaft der Verse verstehen werde, geschweige denn ihre Leidenschaft teilen würde, wie sie doch überhaupt keine Leidenschaft für gar nichts teilten. Und überhaupt sei es nun doch wohl etwas zu spät, um erzieherisch einzugreifen. Man, und darin schloss sie Sanford ausdrücklich mit ein, habe zu viel falsch gemacht. Es sei einem nicht gelungen, das weiterzugeben, was einem selbst als wichtig erschien. Preising schwieg. Überhaupt, so fuhr sie fort, könne man die Sachlage doch auf zwei verschiedene Weisen interpretieren, entweder habe sie schlecht geformt, oder sie habe doch kein so gutes Vorbild abgegeben. Das Erstere sei aber wahrscheinlicher, da sie sich in ihrem Sohn kaum wiedererkenne. Jedenfalls, so befand sie, sei das mit dem Rezitieren eines Gedichts an der Hochzeit ihres Sohnes auch nicht mehr zu ändern.

Preising fühlte sich aufgefordert, diese Bitterkeit nicht einfach so stehen zu lassen. Sicherlich, so begann er, falle es ihr im Moment schwer, zu sehen, und das könne durchaus an der Umgebung und den Umständen liegen, dass sie ihrem Sohn doch mehr habe mitgeben können, als sie glaube.

«Aber Pippa, vergessen Sie nicht, dieses Gedicht, es reicht weit zurück, zurück in die Geschichte, in die Geschichte vieler Generationen, und es weist voraus, auf zukünftige Generationen. Es reflektiert», ließ er sich von seinen eigenen Worten mitreißen, «die große Kette der Wesen. Ihr Sohn, er wird selbst eines Tages Vater sein, und dann wird er sich ihrer Worte erinnern. Dieses Gedicht, es ist wichtig. Pippa, rezitieren Sie es heute Abend.»

Sie warf ihm einen zweifelnden Seitenblick zu. «Meinen Sie wirklich? Ich werde mich damit lächerlich machen.»

«Nein», rief ein enthusiasmierter Preising, der nur wenig von der Beziehung zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern verstand, «rasseln Sie mit den Kastanien.»

«Rasseln Sie mit den Kastanien?» Der englische Soziologe, der ganz unvermittelt auf der Felsenterrasse aufgetaucht war, musterte Preising amüsiert, als habe jener seiner Frau gerade ein ebenso unanständiges wie nicht ernst zu nehmendes Angebot unterbreitet. Preising setzte zu einer längeren Erklärung an, bei der ihm der Name des Philosophen, den er bereits vergessen hatte, sehr fehlte, wurde aber bald von Pippa unterbrochen, die ihren Mann bat, den gemeinsamen neuen Freund nicht zu verschrecken.

Sanford war gekommen, um Pippa zu bitten, mit Saida einige letzte Details zu besprechen, da sich Mrs. Ibbotson noch immer unwohl befinde, hinsichtlich der Tischordnung aber noch Unklarheit herrsche und dies eine Sache sei, die Saida nur mit der Familie zu besprechen bereit war. Pippa weigerte sich erst; er, Sanford, könne das genauso gut übernehmen, doch nun hatte er seine Frau davon zu unterrichten, dass Saida nicht besonders gut auf ihn zu sprechen sei, weswegen wisse er auch nicht so recht, sie scheine ihm eine recht komplizierte Frau, ja, kompliziert und auf ihre Art auch recht empfindlich. Pippa schaute ihren Mann skeptisch an. Preising konzentrierte sich darauf, eine Zitronenscheibe aus seinem Wasserglas zu klauben, und war froh, dass sie es darauf beruhen ließ. Sie erhob sich, küsste ihren Mann auf den frisch rasierten, mageren Hals, und bevor sie ging, bat sie Preising, doch abends ihr Gast zu sein, sie und Sanford würden sich freuen, und Kelly und Marc hätten bestimmt nichts dagegen. Preising protestierte. Für einen solchen Anlass fehle es ihm an der richtigen Garderobe, doch die beiden überzeugten ihn, der Dresscode sei ganz casual, und Sanford befand, der Seersucker-Anzug eigne sich doch hervorragend. Was einer englischen Hochzeit in der tunesischen Wüste noch fehle, sei doch ein Schweizer Geschäftsmann im Kostüm eines Südstaatenjunkers.




1 Axtgriffe

An einem Nachmittag in der letzten Woche im April//Zeige ich Kai wie man ein Beil wirft//Eineinhalb Drehungen und es steckt in einem Stumpf.//Er erinnert sich an den Beilkopf//Ohne Griff, in der Werkstatt//Er holt ihn sich, und will ihn haben.//Ein abgebrochener Axtgriff hinter der Tür//Ist lang genug für ein Beil,//Wir sägen ihn in die richtige Länge und bringen ihn//Zusammen mit dem Kopf//Und dem Arbeitsbeil, zum Holzklotz.//Da fange ich an den alten Griff zu formen//Mit dem Beil, und dem Satz//Den ich zuerst von Ezra Pound gelernt habe//im Ohr!//«Wenn man einen Axtgriff schnitzt//ist das Muster nicht weit weg.»//Und ich sage zu Kai//«Schau: Wir formen den Griff//Indem wir den Griff//Der Axt, mit der wir schnitzen, prüfen –»//Und er versteht. Und ich höre es wieder://Es steht in Lu Jis Wen Fu «Essay über Literatur» aus dem//vierten Jahrhundert n. Chr. – im//Vorwort: «Beim Herstellen des Griffs//Einer Axt//Durch das Schnitzen von Holz mit einer Axt//Ist die Vorlage fürwahr nah bei der Hand.» –//Mein Lehrer Shih-hsiang Chen//Übersetzte dies und lehrte es vor Jahren//Und ich verstehe: Pound war eine Axt,//Chen war eine Axt, ich bin eine Axt////Und mein Sohn ein Griff, bald//Wird er selber formen, Vorlage//Und Werkzeug, Handwerk der Kultur,//So fahren wir fort.