I

«Nein», sagte Preising, «du stellst die falschen Fragen», und um seinem Einwand Nachdruck zu verleihen, blieb er mitten auf dem Kiesweg stehen. Eine Angewohnheit, die ich nicht ausstehen konnte, denn dergestalt glichen unsere Spaziergänge den kurzatmigen Wanderungen alter, übergewichtiger Bassets. Und dennoch spazierte ich täglich mit Preising, denn an diesem Ort war er mir, trotz seiner zahlreichen ärgerlichen Eigenheiten, noch immer der liebste Gefährte. «Nein», wiederholte er und setzte sich endlich wieder in Bewegung, «du stellst die falschen Fragen.»

Dafür, dass Preising so viel redete, nahm er die Bedeutung seiner Worte erstaunlich ernst, und er wusste immer genau, was er gefragt werden wollte, damit der Strom seiner Worte seinen vorgedachten Weg gehen konnte. Mir, der ich hier gewissermaßen ein Gefangener war, blieb nicht viel anderes übrig, als ihm auf diesen Pfaden zu folgen.

«Pass auf», sagte er, «ich werde es dir beweisen, und zu diesem Behufe werde ich dir eine Geschichte erzählen.» Das war auch so eine von seinen Angewohnheiten, Worte zu verwenden, von denen er sicher sein konnte, dass er der Einzige war, der sie noch im Repertoire hatte. Allerdings war das eine Marotte, die, so fürchte ich, im Lauf der letzten Wochen auf mich abgefärbt hatte. Manchmal gab es guten Grund, daran zu zweifeln, dass wir uns guttaten, Preising und ich.

«Eine Geschichte», versprach er mir, «aus der sich etwas lernen lässt. Eine Geschichte voller unglaublicher Wendungen, abenteuerlicher Gefahren und exotischer Versuchungen.»

Wer jetzt eine schlüpfrige Geschichte erwartet, kann falscher gar nicht liegen. Preising sprach nie über sein Geschlechtsleben. Das brauchte ich nicht zu fürchten, dazu kannte ich ihn gut genug. Ob er überhaupt eines hatte, darüber konnte ich nur Vermutungen anstellen. Es war schwer, sich das vorzustellen. Aber das konnte täuschen. Schließlich wundere ich mich vor dem Spiegel stehend manchmal selbst, dass einer wie ich, in dem so wenig Leben steckt, ein solches zustande gebracht hatte.

Preising unterbrach, bevor er mit seiner Geschichte beginnen konnte, abermals unseren Gang, als werfe er einen Blick in die Vergangenheit, die er am Horizont – der in unserem Fall ganz nahe lag und von der Krone der hohen gelben Mauer gebildet wurde – auszumachen schien. Dazu kniff er die Augen zusammen, zog die Nase hoch und spitzte die schmalen Lippen. «Vielleicht», begann er endlich seine Geschichte, «wäre das alles nie geschehen, hätte mich Prodanovic nicht in den Urlaub geschickt.»

Prodanovic war, wiewohl für Preisings Einlieferung verantwortlich, nicht etwa sein Hausarzt. Prodanovic war jener ehemals junge und noch immer brillante Angestellte Preisings, der durch seine Erfindung der Wolfram-CBC-Schaltung, eines elektronischen Bauteils, ohne das keine Mobilfunkantenne dieser Welt ihren Dienst verrichten konnte, die von Preising geerbte Kommanditgesellschaft für Televisionsempfang und Dachantennen vor dem drohenden Konkurs gerettet und in ungeahnte Sphären der Weltmarktführerschaft für CBC-Schaltungen geführt hatte.

Preisings Vater, der sich mit dem Sterben gerade so viel Zeit gelassen hatte, dass Preising sein vor anderthalb Jahren an einer privaten Pariser Gesangsschule unterbrochenes Betriebswirtschaftsstudium abschließen konnte, vererbte seinem Sohn seine Fernsehantennenfabrik mit fünfunddreißig Angestellten zu einer Zeit, da der Kabelanschluss schon längst Einzug gehalten hatte. Die Firma, die aus der großväterlichen Drossel & Potentiometer Manufaktur hervorgegangen war, in der sich Preisings Vorfahren die Finger mit dünnen Kupferdrähten wund gewickelt hatten, machte damals beinahe ihren gesamten Umsatz mit der Herstellung jener meterlangen, aber, da fast ohne Verästelungen, recht preisgünstigen Antennen, die sich Hobbyfunker – leider auch eine aussterbende Gattung – aufs Dach zu pflanzen pflegten.

Preising kam also, ohne eigenes Verschulden, zu einer desolaten Firma, die ein paar tatkräftige Entscheidungen nötig gehabt hätte, und deswegen kann es als gesichert gelten, dass das Unternehmen heute nicht mehr existieren würde, hätte nicht jener junge Messtechniker Prodanovic die Wolfram-CBC-Schaltung entwickelt und die Zügel in die Hand genommen. Prodanovic war demnach nicht nur dafür verantwortlich, dass Preising mittlerweile vermögender Besitzer, sondern auch Vorstandsvorsitzender einer Gesellschaft mit tausendfünfhundert Angestellten und Niederlassungen auf fünf Kontinenten war. Zumindest nach außen hin, denn das operative Geschäft des dynamischen Unternehmens, welches nun den dynamischen Namen Prixxing trug, führte längst Prodanovic, zusammen mit einer Riege entschlussfreudiger Leistungsträger und Wertschöpfer.

Preising aber war als Gesicht der Firma noch immer gefragt, denn Prodanovic wusste, wenn Preising etwas konnte, dann war es, Beständigkeit zu vermitteln, den unerschütterlichen Geist eines Familienunternehmens in der vierten Generation. Das war das Einzige, was Prodanovic, der Sohn eines bosnischen Buffetkellners, sich nicht zutraute, da er selbst der Meinung war, das Balkanhafte sei die Verkörperung der Instabilität, die es um jeden Preis als Eindruck zu vermeiden galt. Prodanovic hielt, wenn es ihm sein dicht gedrängter Kalender erlaubte, gerne kleine Vorträge an städtischen Problemschulen, wo er als Beispiel gelungener Integration auftrat. Jener Prodanovic also, der volle Prokura besaß, hatte Preising in die Ferien geschickt. Etwas, was er regelmäßig tat, wenn wichtige Entscheidungen anstanden.

Und damit, das hatte ich schon verstanden, war es Preising gelungen, sich bereits mit dem ersten Satz seiner Geschichte als Urheber der kommenden Ereignisse aus der Verantwortung zu stehlen.

Wohin es in den Urlaub ging, brauchte er auch nicht zu entscheiden. Prodanovic war effizient und versuchte demnach stets, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Was in diesem Fall bedeutete, dass Preising nach Tunesien fliegen sollte, wo in einem niedrigen Wellblechbau, in einem der vielen Gewerbegebiete am Rande von Sfax, an der Straße nach Tunis einer ihrer Zulieferbetriebe saß. Slim Malouch, der Besitzer des Assemblierungsbetriebes, war ein umtriebiger Kaufmann, der in so unterschiedlichen Branchen wie der Fertigung elektronischer Geräte, dem Phosphathandel und dem gehobenen Tourismus tätig war. Ihm gehörte eine Handvoll exklusiver Hotels. Preising sollte sein Gast sein.

Malouch suchte die Nähe von jedem, der in irgendeiner Weise mit der Telekommunikation zu tun hatte, denn in jener sah er nicht nur die Zukunft, das tat mittlerweile jeder, sondern die Rettung seines Familienunternehmens. Er hatte vier kluge und, wie Preising versicherte, recht ansehnliche Töchter, die er aber zu seinem Bedauern, so waren die Umstände in Tunesien, nicht mit der Leitung der Familienholding betrauen konnte, sodass diese Verantwortung ganz auf den Schultern seines Sohnes zu lasten hatte. Schultern, die sich Foued Malouch von der moralischen Gewichtigkeit eines Geoökologiestudiums in Paris hatte vorzeitig beugen lassen, sodass er sich nun außerstande fühlte, eine Firma zu führen, die ihren Hauptumsatz mit Phosphat machte, welches dann in Form von Kunstdünger auf den Salatfeldern Europas zu liegen kam. Foued drohte seinem Vater sogar damit, sein Glück auf einem Biobauernhof im Departement Lot zu suchen. Slim Malouch war nicht nur ein anständiger Mann, wie Preising erkannt zu haben glaubte, Malouch war auch ein vernünftiger Mann und versuchte, wegzukommen vom Phosphat, hin zur Telekommunikation, derentwegen er sich etwas erhoffte, von seiner Bekanntschaft mit Preising.

So sollte Preising also dem Seeländer Nebel in den tunesischen Frühling entkommen. Er tauschte sein Tweedjacket und die burgunderrote Manchesterhose gegen ein eierlikörfarbenes Hahnentrittjacket und eine Chino mit scharfen Bügelfalten, eine Garderobe, die er unmöglich fand, aber seine Haushälterin hatte sie ihm herausgelegt, und er hatte Angst, sie zu kränken, und setzte sich deswegen nachsichtig lächelnd neben sie und ließ sich von ihr, in ihrem Auto, denn er besaß selbst keins, zum Flughafen bringen.

«Der Flug war ausgesprochen angenehm», versicherte mir Preising. «Ganz gegen meine Angewohnheit trank ich Alkohol. Die Stewardess hatte mich falsch verstanden und brachte statt des gewünschten Safts einen Scotch, den ich ihr dennoch abnahm, da mich ihre plumpe Gestalt rührte, die in so hartem Kontrast zu den zahllosen stilisierten Gazellen, die ihre Uniform schmückten, stand. Sie war wirklich nicht hübsch, und die Passagiere, die sich um ein Erlebnis betrogen fühlten, welches sie mit dem Erwerb eines Flugscheins glaubten, mitgekauft zu haben, machten es ihr schwer. Es wäre nicht recht gewesen, nicht jede Chance zu nutzen, freundlich zu ihr zu sein, und so musste dem ersten ein zweites und dem zweiten ein drittes Glas folgen.»

Slim Malouch, in Begleitung seiner ältesten Tochter, empfing Preising in der heruntergekühlten Empfangshalle des Aéroport Tunis-Carthage, und als Preising sah, mit welch beneidenswert souveräner Geste Malouch in der Hitze vor dem Flughafengebäude die Taxifahrer davon- und seinen Chauffeur hinwedelte, war er für einen Augenblick bereit, dem Gerücht Glauben zu schenken, Malouch sei das uneheliche Kind Roger Trinquiers, des Verfassers des Standardwerkes La Guerre Moderne, und dessen algerischer Kurtisane, die in der Nacht, in der die Franzosen den Maghreb verließen, mit dem kleinen Slim im Arm durch die Wüste nach Tunesien geflohen war. Dort hatte sie es rasch, dank ihrer Reize und ihrer Kenntnisse im Maschinenschreiben, zur Sekretärin und bald auch Frau eines Néo-Destour-Hinterbänklers gebracht, der ein Attentat auf Präsident Bourguiba im Sinne hatte, an dessen Ausführung er nur durch einen Herzinfarkt inmitten einer Parlamentssitzung gehindert wurde, der ihm aber, weil im Dienst fürs Vaterland gestorben, posthum einen Orden und seiner Witwe, der ehemaligen Kurtisane des französischen Algerierfolterers, eine nicht unbeträchtliche Rente eingebracht hatte.

Doch die Quelle, so erinnerte sich Preising, war zweifelhaft. Er hatte die Geschichte von einem Mann namens Moncef Daghfous, der nicht nur Malouchs schärfster Konkurrent war, sondern Preising auch angeboten hatte, die CBC-Schaltungen in seinem Werk am Stadtrand von Tunis zu weit günstigeren Preisen zu assemblieren, und ganz freimütig eingestand, der überaus günstige Preis sei vor allem durch den Einsatz geflüchteter minderjähriger Dinkas aus Darfur zu erklären. Geschickte kleine Kerle nannte er sie. Preising hätte nur zu gerne abgelehnt, aber die Geschichte mit der Kinderarbeit war so einfach nicht. Er erinnerte sich an ein Abendessen mit Prodanovics liberalem Unternehmerclub, anlässlich dessen ihm sein Tischnachbar erklärt hatte, wie schwierig das mit der Kinderarbeit sei. Viel schwieriger, als dies gemeinhin der Gutmensch gerne hätte, aber so einfach sei es eben nicht, und unter gewissen Umständen sei es vielleicht dann doch das kleinere Übel. Preising war sich nicht sicher, ob er es hier mit diesen gewissen Umständen zu tun hatte, denn er hatte damals Mühe, dem jungen Mann zu folgen. Jedenfalls schob er eine Entscheidung hinaus, er wollte erst mit Prodanovic darüber sprechen und hielt Moncef Daghfous mit fadenscheinigen Erklärungen hin.

Dieser schätzte Preising ganz falsch ein. Er hielt ihn für einen großen Zocker. Nachdem er seinen Konkurrenten Slim Malouch mit einer zweifelhaften Herkunft diskreditiert und mit einem unschlagbar billigen Preis geworben hatte und noch immer nicht Preisings Geschäftspartner war, fuhr er schweres Geschütz auf und ließ seine sechs Töchter rufen. Er habe die Wahl, sie seien alle zu haben und alle im heiratsfähigen Alter, nur die zweite von links sei bereits vergeben, doch wenn es unbedingt sein müsse, wäre es möglich, den Verlobten in einen Verkehrsunfall zu verwickeln, so etwas sei aber eine heikle Sache, und überdies stünden die anderen fünf der bereits Versprochenen in nichts nach. Voilà, sagte er in Richtung seiner Töchter, beide Handflächen vorweisend. Voilà, sagte Preising, weil er sonst nichts zu sagen wusste.

Sicherlich war Preising schockiert, aber er war auch erklärter Kulturrelativist, und zwar von einer gänzlich unchauvinistischen Sorte. Sein Liberalismus war ein Relativismus von der handwarmen Art eines Kinderbeckens. Gleichwohl war er auf unseren Spaziergängen immer bereit, die Tugendethik wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Preising, der große Anhänger der aristotelischen Mesoteslehre, der froh war, dass die Mitte keine arithmetische ist, sondern, nun eben ja, von Fall zu Fall entschieden werden musste. Und hier stießen Welten aufeinander. Hier war Vorsicht geboten. Das hier war für ihn ein ganz schwieriger Fall, bei dem es so viel zu bedenken gab.

Ich fürchtete bereits, diese maghrebinische Scheherazade sei der Punkt, auf den er hinauswollte. Die exotische Versuchung: Preising angesichts sechs minderjähriger Tunesierinnen, die ihm vom Vater angeboten wurden wie die Choix de fromage in der Kronenhalle. Die Geschichte drohte doch noch schlüpfrig zu werden.

«Doch justament als es eng wurde», fuhr er fort, «und der Mann anfing, mir Vorhaltungen zu machen, seine Töchter seien mir wohl nicht hübsch genug und ob es wohl Sinn habe, wenn er sie hinausschicke und stattdessen seine drei Söhne herbitte, und ich alle Mühe hatte, ihm zu versichern, es läge hier eher ein Dilemma der Qual der Wahl vor, so einzigartig ansehnlich sei jede Einzelne, während ich doch eigentlich innerlich nach einem Ausweg suchte, wie ich das Angebot gänzlich ausschlagen konnte, ohne ihn tödlich zu beleidigen, wurde er von einem Hausangestellten mit hektischen roten Flecken im Gesicht gerufen. Eines der Phosphatwerke Moncef Daghfous’ stand in Flammen. Daghfous ließ mich in der Obhut seiner Töchter zurück, die sich in anrührender Art und Weise um mich kümmerten, und versicherte, alsbald wieder zurück zu sein und dann meine Wahl zu erfahren.»

Doch dazu kam es nicht. Während die Töchter unter der Aufsicht einer Alten Tee und süße Speisen auftrugen, versuchte Daghfous, seine Arbeiter mit rudernden Armen und wüsten Drohungen zum Brandherd zurückzutreiben, damit sie sich dem Feuer stellten. Als alles Wedeln und Drohen nichts half, griff er sich einen Eimer Sand und einen Spaten und schritt, ein mutiges Vorbild abgebend, dem brennenden Lagerhaus entgegen, direkt in die Druckwelle hinein, die, ausgesandt von einer gewaltigen Explosion, Moncef Daghfous den Kopf vom Leib riss und sein Phosphatwerk, das Wellblech, die altertümlichen Förderbänder, die französischen Schaufelbagger und die amerikanischen Radlader zerlegte und in einem weiten Radius in der steinigen Landschaft verteilte.

«Als derselbe Hausangestellte die traurige Nachricht überbrachte, rechnete ich mit einem folkloristischen Trauerritual. Lautes Wehklagen, Haareraufen, expressives Zerkratzen der vom Schmerz verzerrten Gesichter, Schwächeanfälle und dergleichen mehr. Stattdessen sahen sich die sechs Töchter schweigend an, räumten die Teegläser und die silberne Kanne weg und stellten mich mit einem angebissenen Baklava in der Hand auf die Straße.»

Ob Preisings Geschichten wahr waren oder nicht, wusste man nie so genau, aber darum ging es nicht. Preising ging es um die Moral. Er glaubte, dass in jeder Geschichte, die sich zu erzählen lohne, eine solche stecke. Und meist waren seine Geschichten Zeugnis seiner eigenen Besonnenheit, auf die er sich viel einbildete.

Eine Besonnenheit, die Frau Doktor Betschart allerdings für behandlungsbedürftig hielt und für die sie auch drei Wochen nach Preisings Einlieferung immer noch nach der richtigen psychopathologischen Bezeichnung suchte. Die Diagnose schien schwierig, die Symptomatik unscharf, und auch die Uneinsichtigkeit des Patienten, die abwechslungsweise charmant und liebenswürdig, dann aber auch wieder mit ermüdender Starrköpfigkeit daherkam, vereinfachte die Sache nicht.

Meine ordinäre Depression war ungleich einfacher zu diagnostizieren und zugleich wesentlich weniger interessant. Doch in unserer Unfähigkeit, uns als Handelnde zu verstehen, waren wir uns gleich, Preising und ich. Ihm gelang es, diesen offensichtlichen Mangel als Tugend zu verstehen. Ich dagegen leide sehr darunter. Aber etwas daran zu ändern, hieße zu handeln.

«Jedenfalls», so fuhr Preising fort, «war die Quelle zweifelhaft, und Slim Malouchs Betragen gab auch sonst nicht den leisesten Anlass, an seiner tadellosen Herkunft zu zweifeln. Formvollendet platzierte er mich neben seiner Tochter Saida im Fond einer französischen Limousine, deren maritimes Fahrverhalten auf den löchrigen Straßen von Tunis mich an den Ritt auf einem Kamel gemahnte; doch von den Kamelen erst später», schob Preising ein, «schloss hinter mir den Schlag und kletterte selbst hinter das Lenkrad eines Geländewagens, der von mir ganz unbemerkt neben uns zum Stehen gekommen war. Mit dem Telefon am Ohr und einem charmanten Winken schoss er an uns vorbei. Ich würde ihn erst abends wiedersehen. Zu seinem größten Bedauern, wie er mir versichert hatte, war er ausgesprochen beschäftigt, doch Saida werde sich um mich kümmern und mich zu dem von ihr geleiteten Hotel bringen, welches mir für die erste Nacht als Unterkunft dienen werde.

Saida deutete mit nobler Geste, die mir die letzten Zweifel bezüglich der Familie Malouch nahm, auf die Sehenswürdigkeiten, die hinter den getönten Scheiben vorbeizogen. Ein Zipfel vom Lac de Tunis, ein paar Meter der Avenue Habib Bourguiba, das Magazin Général, ein paar pittoreske Türen. Ich verdrehte interessiert den Kopf. Tat, als sähe ich alles zum ersten Mal. Malouch brauchte ja nicht unbedingt zu erfahren, dass ich, vor kaum einem Jahr auf Einladung seines Konkurrenten Moncef Daghfous, bereits einige Tage in Tunis verbracht hatte.

Der Wagen hielt in einer Seitenstraße der Place de la Victoire vor einem vierstöckigen Gebäude, weiß gekalkt, mit blauen Fensterläden und einer Vielzahl schlanker Säulen und gemauerten Verzierungen im maurischen Stil. ‹L’Hôtel d’Elisha›, verkündete Saida, während der Wagenschlag aufgerissen wurde. Elisha, auch unter ihrem römischen Namen Dido bekannt, die Gründerin und Herrscherin Karthagos.»

«Ah, Dido», Preising spitzte kennerhaft die Lippen und unterbrach seinen Gang abermals. «Von all den Göttlichen und Gottgleichen», hob er an, «war mir Dido schon immer die liebste, ja vielleicht sogar die nächste. Sie, die die unbedingte Parole ausgegeben hatte, jeder habe fürs glückliche Fortbestehen des Vaterlandes – wiewohl, du wirst mir hier beipflichten», sagte er an mich gewandt, «Mutterland im Falle Karthagos der passendere Begriff ist – freiwillig in den Tod zu gehen oder aber die Weigerung mit dem Tode zu bezahlen. Und als sie selbst, die Königin, alsbald an der Reihe war und durch ihre Einwilligung in die Heirat mit dem despotischen und vermutlich charakterlosen Iarbas, dem Sohn der Garamantis, einer libyschen Nymphe, und des Jupiters, die Stürmung Karthagos zu verhindern hatte, zögerte sie nicht lange, sondern ließ einen Scheiterhaufen errichten und entfachen und dann, so ist es auf einer herzergreifenden Illustration im Vergilius Vaticanus zu sehen, stieß sie sich auf dem lodernden Holzstoß ein Schwert in die Brust. Und daraus», fuhr er fort, mich mit flacher Hand und sanftem Druck zwischen den Schulterblättern vorwärtsschiebend, als sei ich es gewesen, der unseren Gang unterbrochen hatte, «lässt sich fürs Geschäftsleben etwas lernen. Wenn man als Geschäftsführer eine Parole ausgibt, dann hat sie zuallererst und unbedingt für einen selbst zu gelten. Wenn die Kopierkosten zu hoch sind und man mahnt einen sparsamen Gebrauch der Kopiergeräte an, dann kopiert man eben selbst weniger, und wenn einem das zu schwerfällt, dann kopiert man eben gar nicht mehr.»

Er ließ sich also, die ersten Takte von Purcells Dido-Oper pfeifend, von der Geschäftsführerin Saida Malouch ins Hôtel d’Elisha führen, welches er konsequent als l’Hôtel Dido bezeichnete, dies sei schließlich der Name, unter dem die geliebte Königin ihrem Volk bekannt gewesen sei. Im Innern dieser kosmopolitischen Übernachtungsboutique, die in einer Vielzahl von Magazinen unter der Rubrik «Hideaway» abgebildet war, blieb das Maurische außen vor. Im Innern verließ man sich auf geschlämmte Wände und Böden aus taubenblauem Gusszement, die sich mit dunklen Dielen abwechselten, auf denen interessante Sitzgelegenheiten standen. Die Wände schmückten wenige Darstellungen der Dido aus allen Epochen.

Das Landestypische, oder das, was sich der internationale Versteckspielende als landestypisch vorstellte, tauchte hie und da als kleines ironisches Zitat auf. Ein Fez, der auf dem Nachtkästchen als Lampenschirm diente, ein paar ornamentale Kacheln, die wie zufällig liegen gelassen im Zementboden eingegossen waren, eine kleine Troddel hier, ein bisschen geschnitztes Holz da. Und als wiederkehrendes Motiv Ochsenfelle, wie Preising mit der besonderen Freude des Wissenden registrierte.

«Ochsenfelle», er war beim Erzählen noch ganz begeistert. «Ochsenfell, Dido, Ochsenfell? Dido und das Ochsenfell?» Ich zuckte mit den Schultern. Preising geriet in Fahrt. «Das isoperimetrische Problem oder eben auch das Dido-Problem genannt?»

Er hatte einen Bekannten, der ihm regelmäßig Bücher über die Rätsel und Wunder der Mathematik schenkte, Fermats letzter Satz, Goldbachs Vermutung, Das Problem eines Handlungsreisenden. Preising las die Bücher, weil er gerne las, sich aber ungern vor vollen Regalen in Buchhandlungen vor die Wahl gestellt sah und er überdies Leute wie mich mit überraschenden Geschichten aus der Welt der Zahlen verblüffen konnte.

Einer wie ich lässt sich aber nur schwer verblüffen. Das sollte er doch längst verstanden haben. Verblüffung bedeutet, die Welt als Widerstand zu erfahren, aber einer wie ich bietet zu wenig Angriffsfläche, und das galt im selben Maße auch für Preising selbst. Die Gelegenheit, die Geschichte mit Dido und dem Ochsenfell ganz en passant loszuwerden, wollte er sich dennoch nicht entgehen lassen.

«Dido und ihre Gefährten», dozierte er, «hatten Tyros aus Furcht vor Pygmalions Zorn verlassen, im Vorbeigehen auf Zypern fünfzig, manche Quellen sprechen von achtzig, Frauen geraubt und strandeten schließlich an der nordafrikanischen Küste. Dido erbat sich von den Eingeborenen ein Stück Land für sich und ihre Gefährten, nur so groß, dass sie es mit der Haut eines Ochsen umspannen konnte. Dieser Wunsch wurde der schönen Flüchtigen gewährt. Dido aber schnitt die Ochsenhaut in dünnste Streifen, sodass sie damit in einem Halbkreis ein großes Stück der Küstenlinie abtrennen konnte.»

So viel Erfindungsreichtum einer schönen mythologischen Frau – ich hatte den Verdacht, Preising zog die mythologische Frau der realen vor – ließ ihn schneller ausschreiten, und so nahmen unser Spaziergang und seine Geschichte Fahrt auf.

«Ich überspringe», sagte Preising, «das Dinner in Malouchs Haus, köstlich, elegant, exotisch. Seine Frau, très charmante, überraschend modern. Das Haus, ein Palast, ganz traditionell, aber viele Fernsehapparate. Alles sehr nett. Aber eben doch ein Geschäftsessen. Wiewohl wir übers Geschäft kaum sprachen. Ich überspringe, es tut nichts zur eigentlichen Sache. Genauso wenig wie der Besuch des Souk am nächsten Morgen, den ich in Begleitung Saidas unternahm. Abenteuerlich überwältigend. Die Gerüche. Aber das ist eine andere Geschichte. Die Farben übrigens auch, überwältigend.

Item, gegen Mittag verließ ich Tunis in einem Geländewagen. Einer von Slim Malouchs Angestellten saß am Steuer. Saida neben mir im Fond, ihr Assistent auf dem Beifahrersitz. Wir ließen alsbald die Vororte von Tunis hinter uns, und ich genoss die Fahrt durch die immer karger werdende Landschaft. Unser Ziel war die Oase Tschub, in der Saida ein weiteres luxuriöses Hotel im Besitz ihres Vaters leitete. Saida diskutierte mit ihrem Mitarbeiter die prekäre Lage des englischen Finanzsystems. Das Pfund war in den letzten Tagen massiv gefallen. Die Sorge, die englischen Gäste würden künftig ausbleiben, groß. Tatsächlich schien die Lage besorgniserregend und in jenen Tagen unübersichtlich. Fast täglich wurde über neue Skandale berichtet. Immer undurchsichtiger wurden die zahllosen Verstrickungen der englischen Banken untereinander und mit anderen vom Untergang bedrohten Institutionen. Saida und ihr Mitarbeiter, die beide sehr kompetent sprachen und etwas von der Sache zu verstehen schienen, fürchteten das Schlimmste. Ich selbst hatte vor einigen Tagen beschlossen, dem Ganzen keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Ich hatte es mir zum Grundsatz gemacht, undurchsichtige Dinge, die kaum zu verstehen waren und die außerhalb meiner Reichweite lagen, als Anlass zur Sorge auszuschließen, und damit bin ich bis zum heutigen Tag gut gefahren.

Die Wüste an sich ist vielleicht die Landschaft, die mir am meisten entspricht. Die Leere, die Weite, die schnurgerade Straße, auf der wir dahinschossen. Sowie wir das hügelige Hinterland hinter uns ließen und vor uns die ersten Ausläufer der mächtigen Sandwüste liegen hatten, ließ auch ich alles hinter mir, den Lärm der Stadt, die unablässig schmeichelnden Reden Slim Malouchs, das immer sorgenvolle Gesicht Prodanovics.

Jäh rissen mich die toten Kamele aus meiner kontemplativen Betrachtung der vorbeiziehenden Dünen. Die Szenerie, die sich uns keine dreißig Meter entfernt bot, schien uns allen für einen Moment die Sprache zu verschlagen und veranlasste unseren Fahrer, scharf abzubremsen und den Wagen zum Stehen zu bringen. Ein silbernes Monstrum von einem Reisebus mit Seitenspiegeln, die wie Elefantenohren beidseitig auf die Fahrbahn hinausragten, stand regungslos, die Wüstensonne reflektierend, auf dem dunklen Asphaltband. Zehn, vielleicht fünfzehn Kamele lagen, teils einzeln, teils zu einem wilden Haufen aus knochigen Gliedern und erschlafften Höckern um den stehenden Bus ausgebreitet. Ihre verdrehten Hälse, aus denen jede Kraft gewichen war, boten einen obszönen Anblick. Eines der Tiere hatte sich buchstäblich um die eng stehenden doppelten Vorderachsen des Busses gewickelt. Der Hals, unnatürlich lang gedehnt, hing schlaff über dem heißen Gummi des mächtigen Reifens, die Zunge fiel zwischen den entblößten gelben Zähnen aus dem Maul, ein Bein ragte steif zwischen Rad und Karosserie in den Himmel, den schwieligen Fuß in einem spitzen Winkel abgeknickt. Der Leib, eingeklemmt zwischen den beiden Rädern, hatte dem Druck nicht standgehalten, und die Eingeweide ergossen sich auf die Straße.

Ein kleiner Menschenauflauf hatte sich rings um die leblosen Leiber versammelt. Die Stimmung war mehr als nur angespannt. Ein paar Soldaten im Tarnfleck mit grünen Baretts versuchten, fünf oder sechs aufgebrachte Beduinen, von denen einige ebenfalls Waffen trugen, zu beruhigen. Hinter den Soldaten, schwitzend und mit einer klaffenden Platzwunde auf der Stirn, stand im hellblauen Kurzarmhemd der Fahrer des Reisebusses, der seinerseits lauthals die Kameltreiber beschimpfte. Hinter den spiegelnden Scheiben des Reisebusses ließen sich schemenhaft die Gesichter zahlreicher Touristen ausmachen, die teils blass und mit offenem Mund auf die Szenerie starrten, teils ihre Gesichter an die Scheibe drängten und möglichst viel des Schlamassels auf ihre Speicherkarten zu bannen versuchten, damit sich die Geschichte daheim illustrieren ließ.»

Inzwischen waren wir mit unserem Spaziergang an der Außenmauer angelangt und wandten uns nach links, auf einen breiten Kiesweg, der dem Verlauf der gelben Einfriedung folgte. In Preising regte sich nun etwas Leben. Er gestikulierte lebhaft und legte gelegentlich ein, zwei schnelle, tänzelnde Schritte ein. «Saida stieß zwei Flüche aus, die man», fuhr Preising fort, «von ihr so nicht erwartet hätte. Einen in Englisch, einen in Französisch, beide brachten, wörtlich übersetzt, dasselbe zum Ausdruck. Dann stieg sie aus. Ihr Assistent und ich taten es ihr nach.»

Preising und seine Begleiter standen hinter den geöffneten Türen. Eine glühende Hitze bemächtigte sich ihrer Köpfe. Über den toten Kamelen und dem heißen Asphalt waberte die Luft, als bildeten sich in ihrer Viskosität die Schallwellen ab. Eine flimmernde Visualisierung der aufgeregten Stimmen und des enervierenden Klagelauts eines verendenden Kamels. Saida bat ihn, beim Wagen zu bleiben, dann schritt sie, ihren Mitarbeiter an der Seite, zielstrebig auf die tumultuöse Szene zu. Krachend durchdrang ein einzelner Schuss die vielstimmige Unstimmigkeit. Preising sah, wie Saida von ihrem Mitarbeiter zu Boden gerissen wurde, und sprang selbst, so flink er konnte, die Türe hinter sich zuschlagend, auf das kühle Leder der Rückbank. Gedämpft hörte man die entsetzten Aufschreie aus dem Reisebus, die lauten Rufe der Soldaten. Nur die Schreie des sterbenden Kamels waren verstummt. Alle Gewehre waren auf den einen Mann gerichtet, der im Rücken der anderen dem klagenden Kamel mit seinem Karabiner den Gnadenschuss zwischen die aufgerissenen Augen gesetzt hatte.

Saida stand schnell wieder auf, klopfte sich den Staub vom eleganten Hosenanzug und schaltete sich in die Diskussion ein. Preising blieb im Wagen sitzen und verfolgte den Gang der Dinge aus sicherer Entfernung. Saida hatte die Sache schnell an sich gerissen. Preising konstatierte, dass sie hier in der Wüste, genauso wie in den Straßen von Tunis, mit großem Selbstbewusstsein und einer anerzogenen Autorität auftrat.

«Es war laut, es war hektisch, und es entbehrte nicht einer gewissen Aggressivität», berichtete Preising mit sichtbarer Missbilligung. «Und es zog sich dahin, ohne dass man sich auch nur im Geringsten zu einigen schien. In diesen Teilen der Welt, da hat der Disput einen ganz anderen Stellenwert. Und er funktioniert nach gänzlich anderen Regeln. Versuche niemals, dich einzumischen. Chancenlos, ich verspreche dir, du wirst immer das Falsche sagen. Und es hat etwas, ja, ich würde fast sagen, Sportives. Diskussionen um der Diskussionen willen. Und versuche nie zu sagen, ruhig Blut, regeln wir das doch ganz unaufgeregt. Dieses Aufgeregte, das ist der eigentliche Zweck.» Er schaute mich einen Moment sorgenvoll an, dann fuhr er fort: «Jedenfalls wird mir persönlich bei dieser Art aufgeregtem Disput schnell fad. Das führt ja meistens zu nichts. Also ließ ich mir von unserem Fahrer die Financial Times, die auf dem Armaturenbrett lag, nach hinten reichen.

Die Zeitung kannte nur ein Thema, das überraschende Wiederaufflammen der Finanzkrise, vor allem die mehr als prekäre Lage Englands, die durch den Zusammenbruch der Royal Bank of Scotland, an der die Regierung seit der Bankenkrise über achtzig Prozent Anteile hielt, ausgelöst wurde und innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu einem nationalen, ach, was sage ich, zu einem internationalen Chaos führte, da in ihrem Gefolge die Lloyds Banking Group, mit über siebzig Prozent der Anteile im Besitz der Regierung, kollabierte, weil die Institute, ohne dass die Regierung Kenntnis davon zu haben schien, über gemeinsame Beteiligungen an maroden Immobilienkrediten in Bangalore und Malaya verbandelt waren, sodass die Analysten führender Zeitungen sich überzeugt zeigten, dass die englische Regierung niemals in der Lage sein würde, die Einlagen ihrer Bürger zu sichern. Diese Analysen führten folgerichtig dazu, dass ein beispielloser Sturm auf sämtliche Bankfilialen des Königreiches anhob. Die Zeitung, die ich in den Händen hielt, zeigte die Abbildung einer Bankfiliale in Ilfracombe, einer Kleinstadt, die mir wohlbekannt ist aus einem Urlaub, den ich als junger Mann mit dem Fahrrad in der Grafschaft Devon verbracht hatte, und die ich als ausgesprochen friedlich in Erinnerung habe, eine Abbildung, gegen die sich die Szenerie mit den Streitenden und den toten Kamelen, die sich mir durch die breite Windschutzscheibe des Geländewagens bot, geradezu als Bild des Friedens und der Harmonie ausnahm. Der Mensch wird zum Tier, wenn es an sein Erspartes geht.»

Draußen gab der Schütze nun eine berührende Vorstellung. Er hatte sich über das endlich schweigende, weil nun tote Kamel geworfen und klagte, nicht minder laut und herzzerreißend, als es bis eben sein Tier getan hatte. Dann strich er ihm mit den Handflächen über die Lider mit den weibischen Wimpern und schloss ihm so die weit auseinanderstehenden Augen, die bereits gänzlich erloschen waren. Er erhob sich würdevoll, schritt zum nächsten Leib, brach über ihm zusammen, wehklagte und schloss dem Tier hernach die Augen. Dieses Ritual wiederholte er bei jedem einzelnen und ließ sich viel Zeit dabei. Preising stockte der Atem, und eine große Traurigkeit nahm von ihm Besitz.

Während Preising Zeitung las, hatte sich der Fahrer zu den anderen gesellt und ihn alleine zurückgelassen. «Ein Umstand, der mir in dem Moment sehr entgegenkam», erklärte Preising, «weil sich eine solche Ergriffenheit, wie sie mich überkommen hatte, in der Gegenwart eines Fremden schnell genierlich anfühlt.»

Gemeinsam mit dem Buschauffeur umschritt Saidas Fahrer mit professioneller Miene den blechernen Elefanten, inspizierte den zerbeulten Kühlergrill, unternahm einen halbherzigen Versuch, den herunterhängenden Stoßfänger an seinen Platz zu bugsieren, und zu zweit zogen sie sogar etwas an dem steifen Kamelbein, welches in den Himmel ragte. Dann wechselte er ein paar Worte mit Saida und kam zum Wagen zurück. Schwer atmend ließ er sich hinter dem Steuer nieder.

«Es ist», sagte Preising, «ja gar nicht meine Art, mich in fremde Angelegenheiten einzumischen, aber die Trauer und der Schmerz des Karawanenführers hatten derart Besitz von mir ergriffen, dass ich mich außerstande fühlte, die mir angemessene Distanz und Gelassenheit im Angesicht dieser undurchsichtigen, ja, für mich bislang gänzlich unverständlichen und fremd anmutenden Geschehnisse zu wahren, und so bat ich den Fahrer, der übrigens ein ausgezeichnetes Französisch sprach, mir die Lage draußen zu erklären. Es sei, so antwortete er, eine ganz und gar ungute Geschichte, aber der Mann gänzlich selbst schuld an seinem Unglück, es sei schließlich nicht umsonst strengstens verboten, Kamele auf der Straße zu treiben, und der Fahrer des Reisebusses hätte, über jene Kuppe kommend, die Tiere erst viel zu spät sehen können. Saida sei ausgesprochen verärgert. Einerseits gehöre der Bus Ibrahim Malouch, einem Cousin Slim Malouchs, und der Kamelbesitzer sei wohl kaum versichert, andererseits seien die Passagiere Gäste aus dem Hotel von Monsieur Malouch, die nun ihren Flieger in die Heimat verpassen würden und damit die Freude ihres Aufenthaltes in der Oase Tschub im Nachhinein getrübt sähen. Am schlimmsten sei aber, dass andere Gäste des Hotels nun vergebens auf ihren gebuchten Kamelritt in die Wüste warteten, denn die Kamele seien eben dahin auf dem Weg gewesen, und es sei nun völlig unklar, wer in den nächsten Tagen die Kamelritte für die Gäste übernehmen würde.»

Beide starrten sie nun auf die Straße vor sich, auf der einige der Männer die Kamele an den Beinen von der Fahrbahn zu schleifen begannen, während der Kamelbesitzer sich in den Staub gesetzt hatte und den in weißes Tuch gehüllten Oberkörper hin und her wiegend, teilnahmslos auf die Szenerie blickte.

Le Pauvre, il est ruiné. Complètement. Der werde wohl nie wieder auf die Beine kommen, meinte der Fahrer. Sämtliche Kamele auf einen Schlag verloren. Seine ganze Existenz. Die Einkommensquelle einer ganzen Großfamilie. Complètement ruiné. Wie viel denn so ein Kamel wert sei, wollte Preising wissen. Elfhundert, vielleicht zwölfhundert Franken. Und das mal dreizehn.

Preising überschlug. Vierzehntausend, fünfzehntausend Franken. Davon sollte also die Existenz dieses Mannes abhängen, die Existenz einer ganzen Familie. Er war ganz außer sich.

«Da saß nun dieser Mann vor mir im Staub und weinte um seine Kamele, um sein Leben, um fünfzehntausend Franken. Fünfzehntausend, das war die Zahl, die mir Prodanovic einmal stolz am Rande einer Bilanzpressekonferenz präsentierte. Fünfzehntausend Franken, so viel verdiene ich an der Firma. Täglich. Nur durch meine Firmenanteile. Ohne mein Geschäftsführergehalt, ohne meine anderen Beteiligungen, meine Immobilien und was sonst noch alles Geld abwirft. Fünfzehntausend Franken am Tag, und dieser Mann hier war ruiniert deswegen. Was hielt mich davon ab auszusteigen, zu ihm hinzugehen und ihm dieses Geld zu geben, damit er sich neue Kamele kaufte? Was hielt mich davon ab?»

Ich hatte keine Ahnung, was ihn davon abhielt, auszusteigen und dem Mann dieses Geld zu geben, aber ich war mir sicher, Er würde mir gleich seine Gründe nennen. Preising fand immer Gründe, nicht zu handeln.

«Zwei Dinge», erklärte er sich, «Prodanovic und Saida. Würde meine Gastgeberin eine solche Geste meinerseits nicht als Affront auffassen? Als unangemessene Einmischung? Hatte nicht gerade jener Mann, dem ich meine Großzügigkeit zukommen lassen wollte, mit seiner Unvorsichtigkeit ihr eine Menge Unannehmlichkeiten bereitet? Und was würde das für einen Eindruck hinterlassen, wenn ich ihn dafür nun auch noch belohnen würde? Das war eine diffizile Situation, die gut bedacht werden wollte. Und dann erinnerte ich mich an die Charity-Ausschusssitzungen, die Prodanovic leitete, bei denen wir jedes Jahr ein Prozent unseres Gewinns für Hilfsprojekte und Kulturförderung verteilen. Prodanovic weigerte sich Jahr für Jahr, auch nur einen Franken nach Afrika fließen zu lassen. Dieser Kontinent ertrinkt in unserer Fürsorge. Afrika ist wie gelähmt durch die Hilfsgelder. Dieser Kontinent muss sich an seinen eigenen Stiefelhaken aus dem Sumpf ziehen. Ich glaubte allerdings, mich erinnern zu können, dass Prodanovic damit vor allem das Afrika südlich der Sahara meinte. Doch galt das nicht auch für Tunesien? Würde ich diesen Mann mit meinem Geld nicht lähmen? Ihm die Möglichkeit rauben, sich selbst aus seinem Elend zu befreien und mit breiter Brust, aus eigener Kraft sich eine Zukunft zu schaffen? Es genügte jedoch ein Blick auf die bebenden Schultern dieses Mannes, um zu begreifen, dass in diesem Fall Hilfe geboten war. Prodanovic hin oder her. Auch auf die Gefahr hin, meine Gastgeberin zu düpieren. Es kostete mich so wenig, und ich war in der Lage, hier wirklich einen Unterschied zu machen. Ich hatte einen Entschluss gefasst. Selbstverständlich hatte ich keine fünfzehntausend Franken im Portemonnaie, und schon gar keine sechsundzwanzigtausend Tunesische Dinar. Sollte ich ihn bitten, mir seine Kontonummer aufzuschreiben, damit ich ihm den Betrag überweisen konnte? Aber hatte dieser Mann überhaupt ein Bankkonto? Oder sollte ich einfach mit ihm zum nächsten Kamelmarkt fahren und ihm dreizehn neue Kamele kaufen? Aber würde ich auf einem tunesischen Kamelmarkt mit Kreditkarte bezahlen können?»

Preisings Ringen wurde von Saida unterbrochen, die sich neben ihn setzte, sich in knappen Worten für die Unterbrechung entschuldigte und den Befehl zur Weiterfahrt erteilte. In getrübter Stimmung ließ er sich von dem gestrandeten Reisebus, den toten Kamelen und ihrem unglücklichen Besitzer, dessen Schicksal ihn noch sehr bewegte, fortchauffieren. Bald aber tauchten die ausgedehnten Dattelplantagen der Oase Tschub vor ihm auf. Der Wüstenwind ließ die dunkelgrünen Wipfel erzittern, und aus der Ferne sah es aus, als kräuselten sich die Wellen auf der Oberfläche eines kühlen Sees.