III

«Am nächsten Morgen stand ich zeitig auf, wie immer, du kennst ja meine Gewohnheiten. Und wenn ich ein Frühstücksbuffet befürchte, dann stehe ich noch etwas früher auf. Die Kühle der Wüstennacht hing noch in der Morgenluft. Ich fand Sanford ganz alleine an einem Tisch sitzend, mit Tee und pochierten Eiern ausgestattet. Das wird kein gutes Ende nehmen, prophezeite er über den Rand einer englischen Zeitung vom Vortag hinweg. Diese Kinder … Sie werden uns alle in den Abgrund reißen, und Jenny wird sich das Benzin für ihren Porsche nicht mehr leisten können. Sanford tropfte Eigelb auf den Tumult im idyllischen Ilfracombe und schüttelte besorgt den Kopf. Er sei, sagte er, fest entschlossen, heute die letzten Überreste der Vielkammerbauten der Berberstämme zu besuchen. Ob ich ihn begleiten wolle?»

Preising zögerte und entzog sich mit interessierter Nachfrage nach dem Charakter dieser geheimnisvollen Plätze einer sofortigen Zusage. Ins Erdreich gegrabene Wohnschächte, nur durch lange Tunnel zugänglich, jahrhundertealt und kaum erforscht. Alles am Einstürzen. Sozusagen letzte Gelegenheit, in einigen Jahren vom Erdboden verschluckt, schwärmte Sanford.

Preisings Begeisterung sank. Das klang ihm zu sehr nach Unberechenbarkeiten, nach Abenteuer, und er, der meinte, einen Blick für so etwas zu haben, glaubte, hinter Sanfords kultivierter Akademikerfassade verberge sich Waghalsigkeit und eine Tendenz zu spontanen, nicht reiflich überlegten Entscheidungen. Das machte ihm Sorgen. «Kommen Sie», versuchte Sanford, ihn zu überzeugen, «das wird ein Abenteuer.» Ja, ebendrum, dachte sich Preising. Andererseits, was wusste er schon, was sich ein englischer Soziologieprofessor unter einem Abenteuer vorstellte. Vielleicht war das genau die Sorte Abenteuer, die auch für ihn, Preising, die richtige war. Mehr in Richtung intellektuelles Abenteuer. Das mutige Durchschreiten von hermeneutischem Neuland. Aber wozu dann die vielen Taschen an Sanfords Hose? So was brauchte kein Mensch, wenn er nur vorhatte, seinen Geist aus dem Geländewagen heraus ins Fremde zu schicken.

Seine Abwägungen wurden von der gut gelaunten Saida unterbrochen, die sich am Buffet eine Tasse Kaffee holte und Sanford nach seinem Befinden an diesem wichtigen Tag fragte. An diesem Abend sollte Marc und Kellys großes Hochzeitsfest stattfinden. Sanford gab sich unbeeindruckt, unterrichtete stattdessen Saida davon, dass er sich in Begleitung von Preising auf die Suche nach den letzten Mehrkammerbauten machen würde. Saida setzte eine sorgenvolle Miene auf. Sie werde ihnen Rachid als Begleitung mitgeben. Sanford lehnte ab, Saida insistierte, er reagierte trotzig. Er sei die letzten drei Tage alleine durch die Gegend gefahren, außerdem habe er gutes Kartenmaterial, und das Auto sei überflüssigerweise auch noch mit einem GPS ausgerüstet. Saida blieb dabei. Sanford fühlte sich bevormundet. Preising schaltete sich schlichtend ein, es sei doch eventuell von Vorteil, einen Landeskundigen zur Seite zu haben. Ja, antwortet Sanford, das wäre es sehr wohl, aber Rachid sei der Bademeister des Resorts, ein netter junger Mann, aber in einem Vorort von Sfax aufgewachsen und extrem mitteilungsbedürftig. Saida blieb dabei. Rachid werde sie begleiten, andernfalls würde sie ihnen den Pick-up des Hotels nicht überlassen. Sanford begehrte auf, er sei durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Saida schnitt ihm das Wort ab: «I do not care what you do, Professor, but Mister Preising is in my responsibility. Take Rachid with you or join your family at the pool.» Sanford verschlug es für einen Moment die Sprache, Zeit genug für Saida, Preising einen schönen Tag zu wünschen und zu gehen.

Er warf seine Zeitung auf den Tisch und verstieg sich aus lauter Ärger zur chauvinistischen These, die traditionelle Rolle der Frau in der muslimischen Gesellschaft müsse vielleicht aus westlicher Perspektive doch neu überdacht werden. Preising war ganz beeindruckt. Dieses Durchsetzungsvermögen, diese Schärfe. Und sie fühlte sich für ihn verantwortlich. Irgendwie gefiel ihm das. Er würde sich mit dem Engländer und dem Bademeister aus Sfax auf diese abenteuerliche Exkursion aufmachen, wohl wissend, dass Saida den ganzen Tag, während sie mit den Vorbereitungen für das Hochzeitsbankett beschäftigt sein würde, in einer kleinen Ecke ihrer Aufmerksamkeit sich ein wenig um ihn sorgen würde. Er war schon voller Vorfreude, wenn er sich ihre sorgfältig hinter ihrer Strenge verborgene Erleichterung ausmalte, wenn sie ihn staubbedeckt in der Dämmerung wiederauftauchen sehen würde.

Als Preising, angetan mit sandfarbener Hose – er hatte zur Sicherheit jene mit den meisten Taschen gewählt, obschon ein unansehnlicher Rosenwasserfleck beide Knie zierte – und dem schmalkrempigen Hütchen eines Fliegenfischers, am Toyota Pick-up ankam, war Rachid, ein schmalhüftiger Mann mit breiten Schultern, gerade dabei, eine Kühlbox auf der Ladefläche zu verstauen. Er war bester Laune, schien sich auf den Ausflug zu freuen. Sanford ließ sich missmutig die Schlüssel aushändigen und wies fragend auf die Kühlbox. «Proviant», gab Rachid zur Auskunft und öffnete den Plastikdeckel, als präsentiere er einen Wurf junger Welpen. Die Kiste war randvoll mit gefüllten Fladenbroten, Styroporverpackungen mit Salaten, Süßspeisen und flaschenweise Wasser. Es hätte für eine größere Expedition gereicht. Sanford, der sich ein selbst geschmiertes Brötchen vom Frühstücksbuffet und zwei Flaschen Wasser in seinen Rucksack gesteckt hatte, schnaubte verächtlich und setzte sich hinters Steuer. Preising zwängte sich mit Rachid auf den schmalen Doppelsitz auf der Beifahrerseite.

«Doch gerade als Sanford losfahren wollte», fuhr er in seiner Erzählung fort, «bat Rachid, einen Moment zu warten, er habe seine Sonnenbrille vergessen. Sanford ließ den Motor laufen und blickte grimmig aus dem Fenster, während Rachid nach seiner Brille lief. Plötzlich blitzte es schelmisch in seinen Augen. ‹Schließen Sie die Tür›, forderte er mich auf. Kaum war ich seiner Aufforderung nachgekommen, gab er zu meiner Überraschung Gas und preschte durch den Lieferanteneingang auf die schnurgerade Sandpiste. ‹Aber Rachid!›, warf ich ein und blickte über meine Schulter durch das schmale Fenster der Kabine auf den verdatterten Rachid, der bald hinter einer aufsteigenden Staubwolke verschwand. Sanford gebärdete sich wie ein Teenager. Schrie, johlte und hieb mit der Faust triumphierend an die Wagendecke. Ich muss gestehen, ich ließ mich anstecken und freute mich lauthals mit ihm über unser kleines Schelmenstückchen, warf jedoch mit schlechtem Gewissen noch einen Blick zurück und erschrak nicht schlecht, als mit breiter Brust voran, die bis zu den Fingerspitzen gestreckten Arme wie Messer den Staub durchschneidend, ein sprintender Rachid hinter uns auftauchte und offensichtlich schnell an Boden gewann. ‹Gas geben, Gas geben!›, schrie ich, ‹er holt auf!› Sanford stieß einen Fluch aus, der mich an meinen Bekannten, den Völkerkundler mit der scharfen Zunge erinnerte, warf einen Blick in den Rückspiegel, schaltete hoch und ließ den Motor aufheulen. Es schien, als nehme er die Sache nun persönlich. Doch denselben Eindruck machte Rachid, der sich mit unvermindertem Tempo und pumpender Brust durch die Staubwolke schob. Endlich schienen wir ihn abzuhängen, jedenfalls verschwand er nun ganz in dem hochgewirbelten Staub. Sanford lachte noch eine Weile hysterisch, um dann unvermittelt abzubrechen und drei Mal hintereinander zu verkünden, er könne schon selbst auf sich aufpassen und brauche keinen Führer. Mir war nicht ganz wohl bei der Sache. Vielleicht wäre ein Führer doch ganz gut gewesen, und es war nicht die feine Art, Rachid einfach stehen zu lassen. Zudem, ich muss es zugeben, fürchtete ich mich ein wenig vor Saidas Reaktion. Sie würde über unsere Eigenmächtigkeit gar nicht erfreut sein. Allerdings war es nun im Wagen auch wesentlich komfortabler, du weißt, wie ungern ich beengt sitze.»

Rachid rannte, verborgen hinter der gigantischen Staubwolke, die Sanford durch seinen erregten Fahrstil verursachte, unbemerkt von den beiden, ganze drei Kilometer hinter dem Wagen her. Rachid, da hatte Sanford recht, war zwar der Bademeister des Resorts, aber Rachid war ein Bademeister mit Geschichte. Einer Geschichte, die mit einem Unfall auf einer Autobahnauffahrt an der Peripherie von Toulouse begonnen hatte, den der achtjährige Rachid als Einziger seiner Familie überlebt hatte und in dessen Folge er nach Tunesien zurückgeschickt worden war, wo sich seine Großeltern, die in Sfax lebten, um ihn kümmerten.

Sein Großvater, ein kleiner Mann, dessen salzgegerbte Haut wie angekohltes Krepppapier an ihm hing, war der letzte der berühmten schwimmenden Hafenlotsen von Sfax, zu jener Zeit, als der kleine Rachid in sein Haus kam, aber längst außer Dienst. Abgelöst von jungen Männern mit staatlichen Lotsendiplomen und stählernen Lotsenschiffen, mit denen sie den Frachtschiffen entgegenfuhren, statt zu schwimmen, wie es Rachids Großvater ein Leben lang getan hatte, bei jedem Wetter, auch wenn die Wellenkämme mannshoch über ihm aufragten, immer der Boje mit der großen Glocke entgegen, die meilenweit draußen im Mittelmeer dümpelte und an der er sich festklammerte, um manchmal stundenlang auf den angekündigten Frachter zu warten. Wenn sich die gewaltige Masse Stahl dann endlich in der Dunkelheit vor ihm erhob, ließ er sich an der Bordwand entlangtreiben, tastete nach der Strickleiter, kletterte diese behände hoch und stellte sich nass und tropfend neben den Steuermann, um mit sicherer Hand den Weg durch die tückischen Untiefen in den Hafen von Sfax zu weisen.

Jener Mann also, Rachids Großvater, hatte das Pech, eine böse Frau geheiratet zu haben, und so machte es ihm nichts aus, stundenlang wie ein Korken im Wasser an der gelben Boje zu treiben, sich mit wechselnden Händen an einem rostigen Haltegriff festzuklammern und gerade so schnell, wie unbedingt nötig, Wasser zu treten. Er schwamm gerne hinaus aufs offene Meer, weg von dem kleinen Häuschen auf der Klippe. Auch wenn er draußen an der Boje viel Zeit hatte, darüber nachzudenken, warum seine Frau böse war. Manchmal dachte er, dass sie vermutlich nur traurig war, und wenn der Frachter besonders lange auf sich warten ließ oder die Wellen besonders hoch waren und die Glocke besonders laut schlug, dachte er, dass er es war, der sie traurig machte. Gelegentlich nahm er sich vor, sie, wenn er wieder zu Hause war, zu fragen, was sie denn so traurig mache. Immer wenn er diesen Entschluss gefasst hatte, musste er sich sehr zusammenreißen, nicht sofort zurückzuschwimmen und zu fragen. Er schwamm nie zurück, und er fragte nie, zu sehr fürchtete er ihre Antwort.

Als sein einziger Sohn auf einer Schnellstraße in Frankreich starb und ihm seinen Enkel hinterließ, musste er eigentlich schon lange nicht mehr hinausschwimmen, aber mit seiner Frau war es nicht netter geworden, und eine andere Arbeit fand er nicht, also verbrachte er seine Tage auf der Hafenmole in der Gesellschaft anderer älterer, arbeitsloser Männer, und wenn er das Gefühl hatte, dass ihm das kleine weiße Haus immer näher rückte, bis er meinte, es in seinem Nacken zu spüren, sprang er ins Wasser und schwamm hinaus zur gelben Boje. Für Rachid war es bei seiner Großmutter auch nicht lustig, und so kam es, dass er bald seine Tage bei den alten Männern auf der Hafenmole verbrachte und versuchte, den kleinen Kopf seines Großvaters mit den grauen Haaren zwischen den Wellenkämmen auszumachen.

Rachid lernte schnell schwimmen. Sein Großvater brachte es ihm bei. Und bald begleitete er ihn immer weiter hinaus und schwamm dann alleine zurück. Als die Frau des alten Hafenlotsen starb, gab der Großvater das Schwimmen nicht etwa auf, denn er hatte oft das Bedürfnis, darüber nachzudenken, worüber seine Frau so traurig gewesen war, und sich selbst einen feigen, alten Schwachkopf zu schimpfen, weil er sich nie getraut hatte, zu fragen. Als Rachid zehn Jahre alt war, schwammen sie zum ersten Mal zusammen zur Boje. Eine Weile dümpelten sie im warmen Wasser und hielten sich dabei an den rostigen Griffen fest. Auf dem Rückweg verließ Rachid bald die Kraft. Er klammerte sich um den faltigen Hals seines Großvaters, der den ganzen Weg mit ihm zurückschwamm. An jenem Tag kamen sie erst lange nach Einbruch der Dunkelheit an Land. So etwas sollte Rachid nie wieder passieren. Zwei Tage später schwammen sie wieder hinaus, und Rachid schaffte den ganzen Rückweg alleine. Von diesem Tag an schwammen sie jeden Tag zur Boje, manchmal zwei Mal. Bald schon schwamm Rachid schneller als sein Großvater.

Eines Tages wurde ein Mann vom tunesischen Sportverband auf ihn aufmerksam. Rachid bekam einen Trainer, zog unter dessen Anleitung viele Stunden unermüdlich Bahnen im großen Becken des Sportvereins und schwamm dennoch fast täglich mit seinem Großvater zur Boje hinaus. Mit sechzehn wurde er ins nationale tunesische Kader berufen. Schwamm bei zwei Olympiaden und großen internationalen Wettkämpfen mit. Nie aber schaffte er es bei den prestigeträchtigen Wettbewerben im Becken auf die vorderen Plätze. Sein Metier blieb das Meer, die lange Distanz, fünfundzwanzig Kilometer und mehr. Hier brachte er es zu lokalem Ruhm. Wurde tunesischer Meister, afrikanischer Meister und schaffte es sogar auf das Podest einer Weltmeisterschaft. Sein Großvater begleitete ihn zu fast allen Wettkämpfen. Zusammen bereisten sie die Schwimmhallen der Welt, Schwäbisch-Hall, Fukuoka, Rom, Santa Fee, Helsinki. Der alte Lotse mit der gegerbten Haut starb am Beckenrand der städtischen Schwimmhalle in Samara, dreitausend Kilometer vom offenen Meer entfernt.

Rachid kehrte nach Sfax zurück. Verkaufte das kleine weiße Haus. Nie mehr wollte er das Meer sehen. Er heuerte als Dattelpflücker in der Oase Tschub an. Als Slim Malouch das Kommando über die Oase übernahm, blieb Rachid und ließ sich als Gärtner im Thousand and One Night anstellen. Doch weil er der Einzige der Angestellten war, der schwimmen konnte, verpasste man ihm bald eine weiße Badehose und kommandierte ihn an den Beckenrand ab. Rachid tat es nur widerwillig. Aber er hatte sich an die Wüste gewöhnt und wollte nicht mehr weg. Bald schon begriff er, dass der Pool des Thousand and one Night nicht das Meer war, und als nach drei Jahren immer noch keiner der Gäste zu ertrinken gedroht hatte und jeder Notfall ausblieb, der ihn gezwungen hätte, ins Wasser zu gehen, er sich also damit begnügen konnte, morgens die ertrunkenen Eidechsen mit einem langen Kescher aus dem Wasser zu fischen, akzeptierte er seine neue Rolle als Bademeister. Trotzdem hatte er sich gefreut, als ihm Saida den Auftrag erteilte, die beiden Touristen in die Wüste zu begleiten.

Im ersten Moment war es ein Reflex, dem Toyota hinterherzurennen. Als er aber sah, wie der Engländer triumphierend die Faust zum Himmel reckte, nahm er es als Wettkampf. Drei Kilometer rannte er der Staubwolke hinterher. Manchmal holte er auf, dann wieder fuhren sie ihm etwas davon. Aber nie gelang es ihnen, ihn abzuhängen. Er spürte es, er konnte ewig laufen, seine gewaltigen Lungen sogen die heiße Wüstenluft ein, er hatte so viel Kraft, so viel Ausdauer, er dachte an seinen Großvater, den alten Lotsen, wie sie sich an dem rostigen Griff festgeklammert hatten und den großen Schiffen zusahen, die in der Ferne vorbeizogen, und wie über ihnen die Glocke hämmerte, im Takt des Wellengangs, so laut, dass sie einander anschwiegen. Er konnte ewig rennen. Ihn würden sie nicht abhängen. Aber dann musste er an seine traurige Großmutter denken, und eine große Melancholie bemächtigte sich seiner, sodass er stehen blieb. «Hurensöhne, verfickte», schrie er den beiden Touristen hinterher und trabte zurück ins Hotel.

«Obwohl», so fuhr Preising in seiner Erzählung fort, «wir bald wieder eine befestigte Straße erreichten, war die Reise doch recht unkomfortabel. Allerdings gab sich Sanford alle Mühe, ein angenehmer und unterhaltsamer Reisegefährte zu sein, und versorgte mich mit allerlei Informationen über die Geschichte der Berber. Ich war nicht unglücklich, als nach zwei Stunden Fahrt an einem Berghang ein kleines Dorf auftauchte und mein Begleiter vorschlug, dort ein Glas Tee zu trinken. Tatsächlich gab es inmitten der staubigen Hütten so etwas wie einen Dorfplatz mit einer kleinen Kneipe, deren Blechtischchen und Hocker im Schatten der gegenüberliegenden Gendarmerie lagen.»

Während Sanford über die Feinheiten der berberischen Dorfstrukturen und die Rolle der Frau referierte und auch Preising das Seine dazu beitrug, denn auch er hatte einiges gelesen über fremde Völker – Sanford, vom süßen Kräutertee milde gestimmt, ließ es ohne größere Einwände gelten, wenn Preising die Erbfolgetradition der guatemaltekischen Bergsippen mit den blutigen Initiationsriten der westafrikanischen Stämme, oder waren es doch die Ureinwohner Surinams?, verglich und ihm dies nur ganz fadenscheinig mit den Berbern in Bezug zu setzen gelang –, öffnete sich in der Fassade der Gendarmerie, direkt über den Resten der heruntergeschlagenen Insignien der Republik, ein Fenster, und ein kahlköpfiger Beamter mit dichtem Schnurrbart und goldener Fourragère, ein Telefon am Ohr, erschien. Preising sah hoch, ihre Blicke trafen sich. Stets überzeugt, es lohne sich, mit den lokalen Autoritäten auf gutem Fuß zu stehen, winkte er leutselig hinauf. Der Beamte hob zur Antwort militärisch zwei Finger ans kahle Haupt, beendete sein Telefonat, nestelte eine Packung Boussetta aus der Brusttasche und machte es sich rauchend am Fenster bequem, indem er seinen Bauch auf der Fensterbank ruhen ließ.

Sanford bemühte sich, Preisings Aufmerksamkeit wiederzuerlangen und tischte die Geschichte vom traditionellen berberischen Hochzeitsmahl auf, welches im Wesentlichen aus einem gebratenen Kamel mit Couscous bestand. Das am Stück gebratene Kamel allerdings, so dozierte er, sei aufs Raffinierteste in der Art einer russischen Matroschkapuppe gefüllt mit einem ganzen Hammel, welcher mit einer Ziege, die wiederum mit einer Trappe und jene mit einem Dutzend mit Berberitzen und Datteln gefüllten Wachteln gefüllt sei. Preising misstraute der Geschichte. Er hatte das Gefühl, er habe sie oder Varianten davon schon anderswo gehört, und eher in humoristischen Zusammenhängen.

Noch ehe die beiden ihren Tee ausgetrunken hatten, ja, noch ehe der Schnurrbärtige seine Zigarette zu Ende geraucht hatte, kam vor der Gendarmerie ein schwarzer Geländewagen zum Stehen. Ein junger Mann im dunklen Anzug entstieg auf der Beifahrerseite und verschwand in der Gendarmerie. Preising blickte zum Fenster hoch, doch der Raucher war verschwunden. Dafür erschien bald wieder der Mann im dunklen Anzug, setzte sich zu seinem Kollegen in den Wagen und stierte durch dunkle Brillengläser nach vorn. Der Motor lief weiter.

Sanford zahlte, und sie verließen das Dorf auf einer schmalen Schotterstraße, die sie ins Gebirge führte.

«Es schien mir bald», so fuhr Preising fort, «als folge uns ein Wagen. Ich muss zugeben, alleine der Gedanke daran ließ mir Schweißperlen auf die Stirn treten. Ich hatte genug von entführten Touristen gehört.» Seine Augen weiteten sich selbst beim Erzählen noch vor Schreck, und er griff kurz zur Illustration seiner Beklemmung, die ihn dazumal zweifellos erfasst hatte, mein Handgelenk. «Ich blickte zu Sanford, sah, wie er immer wieder einen Blick in den Rückspiegel warf. Offenbar hatte er den Wagen auch bemerkt.»

«Man verfolgt uns», verkündete Preising. Ja, antwortete Sanford, diesen Eindruck habe er auch. «Sehen Sie, sehen Sie», stammelte Preising, «hätten wir nur auf Saida gehört, dann wäre jetzt Rachid bei uns. Mein Gott, wir hätten ihm niemals davonfahren dürfen. Wäre doch nur Rachid bei uns.» «Und was, bitte, versprechen Sie sich von der Anwesenheit eines Bademeisters?», fragte Sanford. Das wisse er nicht, aber die Anwesenheit eines Einheimischen sei sicher von Vorteil, wenn man entführt werde, antwortete er. Entführt, wer denn hier von Entführung spreche? Von wem denn?, wollte Sanford wissen. Al-Qaida vermutlich oder tunesische Unabhängigkeitskämpfer, war sich Preising sicher. Tunesien sei seit 1956 unabhängig, entgegnete Sanford ruhig. «Machen Sie sich nicht ins Hemd, mein Freund, das sind die beiden Anzugträger mit dem Geländewagen, die wollen uns bestimmt nicht entführen.»

«Wer sind diese Leute?»

«Was weiß ich, vermutlich TSWBS.»

Ti-es-dablju-bi-es? Das klang in Preisings Ohren gar nicht gut. «Was ist das?», wollte er wissen.

«Tunisian State Wankers in Black Suits», gackerte Sanford.

Preising, hätte er nicht derart Angst gehabt, wäre wohl ernsthaft entrüstet gewesen, hatte er doch in seiner Vorstellung mit der englischen Akademikerklasse immer einen zwar furztrockenen und nachtschwarzen, aber eben besonders distinguierten Humor verbunden.

«Kommen sie, old chap», Sanford boxte ihn auf den Oberschenkel, «relax, die sind von der Staatssicherheit, Inlandsgeheimdienst, SFNP, oder wie immer dieser Verein hierzulande heißt.»

«SFNP?», fragte Preising zweifelnd.

«Sadistic Fingernail Pullers.» Sanford wieherte und hieb auf das Lenkrad.

«Was wollen die von uns?», keuchte Preising. «Hat das etwas mit diesen Vielkammerbauten zu tun? Ist das verboten, diese Dinger zu besichtigen?»

«Die sind wegen Ihnen hier», grinste Sanford. «Ich vermute mal, der Bademeister hat unseren kleinen Streich gepetzt, und jetzt hat uns Ihre Freundin die Staatssicherheit auf den Hals gehetzt, damit Sie nicht verloren gehen. Dieser Frau scheint ja wirklich etwas an Ihnen gelegen zu sein. Und gute Beziehungen scheint Sie auch zu haben.»

Beide starrten in den Rückspiegel. In gleichbleibendem Abstand folgte ihnen der Geländewagen.

«Wollen wir sie abhängen?», fragte der abenteuerlustige Engländer.

«Ich sah mich gezwungen, ihn an seine Verantwortung als Vater zu erinnern, der es doch unmöglich darauf anlegen wolle, nur Stunden vor der Hochzeit seines Sohnes, notabene seines einzigen Kindes, in einem Pritschenwagen am Boden einer tunesischen Schlucht zerschmettert zu werden. Einen Hinweis, den ich lieber hätte bleiben lassen, denn nun schien Sanford tatsächlich in Erwägung zu ziehen, das Fahrzeug über die steile Böschung hinabzustürzen; sei es, um der abendlich dräuenden Zeremonie zu entkommen, oder weil ich ihn unvorsichtigerweise an den Verlust seiner Tochter Laura gemahnt und damit unvermittelt eine Todessehnsucht in ihm geweckt hatte.»

«Der Verlust eines Kindes», sagte Preising, ganz um Beiläufigkeit bemüht, «kann, so habe ich vor Kurzem gelesen, ich weiß allerdings nicht mehr, wo, die Betroffenen noch nach Jahren, in Momenten des Aufblühens ihrer Trauer, zu erstaunlichen Kurzschlussreaktionen verleiten.» Demonstrativ faltete ich die Hände im Schoß und stellte das leise Scharren meiner Füße im Kies ein, um ihm zu signalisieren, dass ich von einer solchen Gefühlsaufwallung weit entfernt sei, in der Hoffnung, er würde es dabei bewenden lassen und in seiner Erzählung fortfahren. «Jedenfalls», so nahm er nach einem letzten sorgenvollen Seitenblick seine Geschichte wieder auf, «trat Sanford das Gaspedal erbarmungslos durch, sodass die Hinterräder bei jeder Kurve auf dem Schotter ins Rutschen gerieten und wir mehrmals nur haarscharf einem Absturz entgingen.»

Preising konnte erst wieder aufatmen, als die Bergstraße eine schmale Hochebene erreichte und sich beinahe schnurgerade vor ihnen entrollte. Sanford, der Möglichkeit des nahen Todes entronnen, schien die Freude an der Verfolgungsjagd verloren zu haben und fuhr nun gemächlich, links und rechts nach den unterirdischen Vielkammerbauten Ausschau haltend, durch die zwar karge, aber reizvolle Landschaft. Der dunkle Geländewagen folgte ihnen in gleichbleibendem Abstand, und als Sanford am Straßenrand hielt, lenkten auch ihre Aufpasser aufs Bankett.

Der englische Soziologe schulterte sein Rucksäckchen und bestand darauf, den Weg zu Fuß fortzusetzen. Preising, dem niemand gesagt hatte, dass ein Rucksack vonnöten war, steckte sich zwei kühle Wasserflaschen in die Taschen seiner Trekkinghose und zwei gefüllte Fladenbrote unters Hemd, welche bald fettige graue Flecken hinterließen, die aufs Reizvollste mit den Rosenwasserflecken auf seiner Hose kontrastierten. Es fiel ihm schwer, dem zügig voranschreitenden Engländer zu folgen, zumal ihm die Wasserflaschen um die Beine schlenkerten und an den Hosen zogen und ihm die im Gehen hastig aufgetragene Sonnenmilch in den Augen brannte. Es schien ihm aber nicht ratsam, seinen englischen Gefährten um einen langsameren Gang zu bitten, da dieser ohnehin durch die Anwesenheit der Anzugträger, die sie schließlich Preising zu verdanken hatten, recht verärgert war und regelrecht in Wut geriet, als er sich zu dem stolpernden Preising umdrehte und hinter diesem ihre Aufpasser sah, die sich nicht etwa die Mühe machten, ihnen zu Fuß zu folgen, sondern ihren schweren Geländewagen von der Straße gefahren hatten und ihn nun, den Felsen ausweichend und die dornigen Büsche überrollend, gemächlich schaukelnd wie einen großen grasenden Büffel hinter ihnen herlenkten.

Preising konnte wieder etwas Boden gutmachen, als er im am Rande der Hochebene wieder sanft ansteigenden Gelände fünf kraterförmige Erhebungen ausmachte, die Sanford sofort als die einzig sichtbaren Teile eines Vielkammerbaus identifizierte. Der hagere Soziologe beschleunigte seine Schritte, dass die Trekkingsandalen nur so schnalzten, und Preising hastete ihm hinterher.

«Letztlich», so sagte Preising, «war es doch eine Enttäuschung. Ich meine, die ganze Aufregung, der zurückgelassene Bademeister, die vermeintliche Entführung, die rasende Fahrt am Abgrund, der entbehrungsreiche Fußmarsch. Versteh mich nicht falsch. Du weißt, wie sehr ich mich für fremde Kulturen begeistern kann, aber diese Vielkammerbauten waren in Relation zu den Entbehrungen und der ganzen Aufregung eine Enttäuschung. Das mag auch daran gelegen haben, dass wir die Anlage nur von außen, das bedeutet von oben, besichtigen konnten, da alle Zugänge zu den unterirdischen Kammern und den zentralen im Erdreich angelegten Höfen entweder verschüttet oder aber mit rohen Brettertüren und Vorhängeschlössern zugesperrt waren und Schilder in Arabisch und Französisch eindringlichst vor dem Betreten und der damit verbundenen Gefahr des Verschüttetwerdens warnten. Ich bin mir aber sicher, dass es nicht jene Schilder waren, sondern vielmehr die Anwesenheit der Herren vom Staatsschutz, die uns aus ihrem Wagen heraus mit dem Fernglas beobachteten, die Sanford daran hinderte, die rostigen Schlösser mit einem Stein aufzusprengen und die einsturzgefährdeten Gänge und Kammern zu erkunden.»

Sanford teilte allerdings Preisings Enttäuschung nicht. Er war euphorisch. Spähte durch die Bretterritzen in die dunklen Zugänge, eilte von Loch zu Loch und forderte den erschöpften Preising auf, den rings um die Höfe aufgeschütteten Aushub auf allen vieren hinaufzuklettern und flach auf dem Bauch liegend in die lehmigen Erdlöcher zu starren, von denen dunkle Nischen und Kammern abgingen, während er pausenlos das Leben der Berbersippen schilderte, die vor langer Zeit in jenen irdenen Vielkammerbauten gelebt hatten. Hier die einzelnen Kochnischen, für jede Frau der Sippe eine eigene, da die Kammer für die Männer, hier jene fürs Vieh. Dabei schoss er eine Vielzahl von Fotos und bat Preising, ihn doch bitte am Hosengurt zu sichern, damit er sich für einen günstigeren Aufnahmewinkel etwas tiefer über den Rand des Hofes beugen könne.

Preising ergriff also den speckigen Gürtel des Engländers, während dieser sich, auf dem Bauch liegend, gefährlich weit über den brüchigen Erdwall hinauswagte, und starrte zu gleichen Teilen fasziniert und indigniert auf den völlig haarlosen und erstaunlich weißen mageren Hintern, der sich nur einen Fingerbreit über seine um das Leder verkrampften Knöchel Zentimeter um Zentimeter aus der Funktionshose schälte. Und es war nun, da er den halb entblößten Hintern ihres Mannes vor sich hatte, naheliegend, sich den Hintern Pippas vorzustellen; eine Tätigkeit, die Preising beinahe schwindlig machte, da ihm dabei das Blut in die Lenden schoss, teils, weil es ihm gelang, sich den Hintern der Englischlehrerin äußerst wohlgeformt zu denken, und das in Anwesenheit ihres Gatten, teils, weil ihn die Anstrengung, den Soziologen zu halten, zum Pressatmen zwang und zu einer Empfindung führte, die er noch aus dem Turnunterricht an der Kletterstange kannte, aber auch, wie er zu seinem Erstaunen feststellte, weil ihn der halb entblößte Männerhintern unter der nordafrikanischen Sonne nicht ganz kaltließ. Diese ungewohnten und widersprüchlichen Empfindungen steigerten sich noch, als ihm bewusst wurde, dass dies alles unter den feldstecherbewehrten Augen der tunesischen Staatssicherheit geschah, und das angestrengte Keuchen seines fotografierenden Gefährten brauste in seinen Ohren wie ein Orkan.

Auf der Heimfahrt sprachen sie wenig. Kurz vor dem Resort überholten sie einen Einheimischen im Manchester United-Trikot – Rückennummer 8, Rooney –, der ein prächtig geschmücktes Kamel am Zügel führte. «Das Kamel für meine Schwiegertochter», sagte Sanford. «Sie wird zum Altar reiten.» «Auf einem Kamel?», fragte Preising. «Ja, auf dem Rücken eines Kamels.»