Wo Morgenland und Abendland ineinandergehen, winzig klein, liegt das Land Kanaan. Und Mittagland, das uralte Mizraim, streckt seine Zunge vor, leckt hinein in die Bindung. Wo die Wege des Westens die Wege des Ostens treffen, liegt die Stadt Jerusalem, die Burg Zion. Und wenn sie sich zum Gotte Israels bekennen, dem Einen, Überwirklichen, Jahve, bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, dann stehen die Juden mit geschlossenen Füßen und schauen nach der Stadt Jerusalem, nach der Burg Zion, die des Westens schauen nach Ost, die des Aufgangs nach West, alle zur gleichen Stunde, alle nach der Stadt Jerusalem.

Vom Abendland her schlägt eine wilde, ewige Welle nach dem Lande Kanaan: Durst nach Leben, nach Persönlichkeit, Wille zum Tun, zur Lust, zur Macht. Raffen, an sich reißen, Wissen, Lust, Besitz, mehr Lust, mehr Besitz, leben, kämpfen, tun. So klingt es vom Westen her. Aber im Süden unter spitzen Bergen liegen in Gold und Gewürz tote Könige, der Vernichtung herrisch ihren Leib versagend; in die Wüste gesetzt, in kolossalischen Alleen höhnen ihre Bilder den Tod. Und eine wilde, ewige Welle schlägt von Mittag her nach dem Lande Kanaan: wüstenheißes Haften am Sein, schwelende Begier, nicht die Form und Bildung, nicht den Körper zu verlieren, nicht zu vergehen. Aber von Ost her klingt sanfte Weisheit: schlafen ist besser als wachen, tot sein besser als lebendig sein. Nicht widerstreben, einströmen ins Nichts, nicht tun, verzichten. Und die milde, ewige Welle verebbt von Morgenland her nach Kanaan.

Ewig fluten die drei Wellen über das kleine Land und münden ineinander; die helle, rauschende vom Wollen und Tun, die heiße, glühende vom herrischen Nicht-dem-Tod-sich-Fügen, die milde, dunkle vom Verströmen und Verzichten. Still und aufmerksam liegt das winzige Land Kanaan und läßt die Wellen über sich hin und ineinander fluten.

In dem winzigen Land, helläugig, hellhörig, saß das Volk Israel. Lugte nach Osten, lauschte nach Westen, spähte nach Mittag. Es ist ein so kleines Volk, und es sitzt zwischen Kolossen: Babel-Assur, Mizraim, Syrien-Rom. Es muß scharf aufpassen, will es nicht unversehens zerdrückt werden oder in den Riesen zergehen. Und es will nicht zergehen, es will dasein, es ist ein kluges, kleines, tapferes Volk, es denkt nicht daran, sich zerdrücken zu lassen. Die drei Wellen kommen, in ewigem Gleichmaß, immer wieder. Aber das kleine Volk hält stand. Es ist nicht dumm, es wehrt sich nicht gegen das Unmögliche; es duckt sich, wenn eine Welle gar zu hoch einherkommt, und läßt sich ruhig bis über den Scheitel überspülen. Aber dann taucht es wieder hoch und schüttelt sich ab und ist da. Es ist zäh, aber nicht töricht obstinat. Es gibt sich allen Wellen hin, doch keiner ganz. Nimmt sich aus den drei Strömungen, was ihm tauglich scheint, paßt es sich an.

Die ständige Gefährdung zwingt das kleine Volk, keine Bewegung der gigantischen Nachbarn zu übersehen, immer vorsichtig zu spüren, zu wittern, zu sichten, zu erkennen. Sichtung, Einordnung, Erkenntnis der Welt wird ihm zur Natur. Es wächst ihm eine große Liebe zum Mittel solcher Erkenntnis, zum Wort. Durch Religionsgesetz ächtet es den Analphabeten, Kenntnis der Schrift wird göttliches Gebot. Es zeichnet auf, was ihm die drei Wellen bringen. Wandelt in eigene, selbstschaffene Worte die helle, schmetternde Lehre vom Tun, die dumpfe, schwelende vom Trotz zur Unsterblichkeit, die linde, verrieselte von der Seligkeit des Nichtwollens und Nichttuns. Und das kleine Volk schreibt die beiden Bücher, die von allen am meisten das Gesicht der Welt veränderten, das große Buch vom Tun, das Alte Testament, und das große Buch vom Verzicht, das Neue. Trotz zur Unsterblichkeit aber bleibt der Grundton in allem seinem Leben und Wort.

Die Söhne des kleinen Volkes gingen aus in die Welt und leben die Lehre des Westens. Wirken, ringen, raffen. Doch sie sind trotz allem nicht recht heimisch im Tun, sie sind zu Hause auf der Brücke zwischen Tun und Verzicht. Und immer wenden sie sich, schauen zurück nach Zion. Oft wohl, in der Erfüllung des Siegs, in der Erkenntnis der Niederlage, mitten im rasendsten Lauf bleiben sie stehen, überschauert, hören aus tausend Schällen heraus eine ganz leise, verrieselnde Stimme: nicht wollen, nicht tun, verzichten auf das Ich.

Und mancher von ihnen schreitet den Pfad ganz aus: vom rasenden Wirbel des Tuns, aus Macht, Lust, Besitz über den Trotz gegen die Zerwesung zur seligen Ledigung und Lösung, zur Verebbung in Nichtwollen und Verzicht.

Durch Nacht, Wolken, Sturm jagten die Kuriere nach Stuttgart. Zu den Herren des Parlaments, zu Remchingen, zur Herzogin. Sie überholten die Kutsche mit den Deputierten, die beim Herzog gewesen waren. Vor den Deputierten schon passierte die Kunde vom Tod Karl Alexanders das Tor, flackerte schüchtern durch die dunkle, stille Stadt, in der doch überall Geraun und Fieber war. Auf die Straßen, zum Nachbarn, eilten die Bürger. Ist es wahr? Die Strafe Gottes, der sichtbarliche Finger des Herrn. So erschütternd groß und unwahrscheinlich die Erlösung. Aber ist es auch wahr? Ist es keine Falle? Zaghafte Lichter brannten auf in den Häusern. Verstärktes Geraun, erste, unterdrückte Freudenrufe. Auf einmal zuckte ein Gerücht auf, alles wieder austretend: es war nur ein Anfall, der Herzog ist zum Leben zurückgebracht. Wie sie nach Hause schlichen, sich duckten, die Lichter löschten. Bis endlich, endlich Gewißheit kam, unzweifelbare Nachricht, vom Rathaus herab verkündet wurde: der Herzog ist tot. Jetzt toste der lang gezügelte Jubel los. Umarmen, Beten. Freude auf allen Gesichtern als der Geretteten. Lichter und Feiertag. Der schweinsäugige Konditor Benz malte, mit seinen Kumpanen aus dem »Blauen Bock«, ein Transparent, auf dem über einer Kirche mit zwei Türmen ein geflügelter Teufel einen Menschen wegtrug. Untenhin mit riesigen Lettern setzte er den Reim: »Schaut, wie den Renegat ums Gold / Leibhaftig hier der Teufel holt.« Mit freudezitternden, schwitzenden Händen stellte er das Transparent ins kerzenstrahlende Fenster, jubelte, wie die Menge davor stehenblieb, den Reim durch die Stadt trug. Bald hieß es überall, den Herzog habe der Teufel geholt. Habt ihr nicht gehört, was für schwarzblaues, gräßlich entstelltes Gesicht die Leiche hat? Mit den Krallen erwürgt hat Beelzebub den ketzerischen Fürsten.

In flatteriger Fassungslosigkeit saß Marie Auguste in ihrem Kabinett. Um sie der Hofkanzler Scheffer, der General Remchingen, ihr Beichtiger, der Kapuzinerpater Florian. Sie saß in einem entzückenden Negligé, das heute früh erst durch Spezialkurier aus Paris angelangt war, und sie mußte immer denken, wie schade es sei, daß sie das Negligé nicht schon einen Tag vorher gehabt hatte. Dann hätte sie es in jener Abschiedsnacht getragen, und Karl Alexander hätte es noch gesehen. Nun war er gräßlich tot und wird sich nie an keinem Negligé und keiner Frau mehr freuen. Sie empfand es wie eine gute Tat, daß sie wenigstens in der letzten Nacht Karl Alexander so willig gewesen war. Von unten her dröhnte der Jubel der Stadt über den Tod des Herzogs.

Der massige Remchingen, in aller Angst und Betretenheit unwillkürlich und ohne Gedanken an den nackten Armen Marie Augustens fressend, knurrte, berstend vor machtloser Wut: Dreinhauen! Dreinhauen! Trotz allem das Projekt durchführen. Man habe die Soldaten. Er stehe für die Soldaten. Schön, ein paar Regimenter werden meutern. Er werde füsilieren lassen. Man vereidige eben auf die Herzogin. Semiramis. Elisabeth. Katharina. Dreinhauen! Dreinhauen! Ängstlich wehrte der schlotterichte Hofkanzler. Nur um Gottes willen jetzt kein Blutvergießen. Der Putsch sei erledigt und vorbei. Nur behutsam jetzt und legitim. Alles legitim. Das Testament gebe Handhaben. Ähnlich argumentierte Pater Florian, doch bestimmter und minder furchtsam. Die rasche Phantasie des Kapuziners spann an einer luftigen Kette. Er, der staatskluge Mann, als Beichtiger der regierenden Herzogin, an dieser vielleicht wichtigsten, aussichtshellsten Stelle im Reich. Er träumte sich schon, während er leise, vorsichtige Worte setzte, als deutschen Richelieu oder Mazarin. Aber Marie Auguste war, während ihr pastellfarbener, kleiner Eidechsenkopf aufmerksam zu lauschen schien, sehr abwesend, sie dachte an Karl Alexander, an das Negligé, an den zu bestellenden Witwenschleier – man konnte das sehr pikant und kleidsam machen, selbst die häßliche Herzogin von Angoulême hatte gut darin ausgesehen –, und nachdem die Herren höchst positive Vorschläge gemacht hatten, sagte sie unvermittelt mit kleiner, wichtiger Stimme: »Que faire, messieurs? Que faire?«

Der engere Ausschuß des Parlaments trat noch in der Nacht zusammen; auch anderen Parlamentariern konnte man es nicht verwehren, an der Sitzung teilzunehmen. Dieser wichtig sich gehabende Jubel, dieses Machtgespreiz. Die Herren taten so, als sei der Tod des Herzogs ihr persönliches Verdienst, als hätten sie umsichtig und staatsklug diese einfachste Lösung der Krise herbeigeführt. Der Parlamentarier Neuffer glaubte wirklich, er sei der Urheber der absonderlichen Errettung. Düster phantasierend spann er sich, Tatsächliches und Gehörtes umbiegend und geheimnisvoll belichtend, eine abenteuerliche Intrigengeschichte zusammen, und er saß als Spinne und Fadenlenker mitteninne. Hatten nicht seine dringlichen Reden den Kammerdiener Neuffer, seinen Vetter, von der Verderblichkeit des Despoten überzeugt, ihn, freilich ohne daß er es eingestand, zur Sache der Verfassungspartei bekehrt? Zweifellos hatte der vertraute Diener die Dosis des Aphrodisiakums so verstärkt, daß bei der Lebensweise und der Verfettung des Herzogs der Schlag mit Notwendigkeit eintreten mußte. Er hatte schon bei Medizinern herumgefragt; alle hatten es ihm bestätigt, daß unter so beschaffenen Umständen die Katastrophe eintreten mußte, wofern Gegenmittel nicht sogleich zur Stelle waren. Und sie waren nicht zur Stelle, Karl Alexander starb – war dies Zufall, ho?, oder hatte vielleicht eine sachte, kluge Hand es so eingerichtet? –, Karl Alexander starb ganz allein. Nicht einmal sein Beichtiger war da, seine Ketzerseele in den Ketzerhimmel zu steuern; kein Lakai war auf den Korridoren, alle Dienerschaft war – merkt ihr was? – im anderen Flügel des Schlosses, um dem Tanzen zuzuschauen. Einsam, wie ein Hund, verreckte der Despot. Diesen abenteuerlichen Roman, dem Wissenden schon dadurch hinfällig, daß der Schwarzbraune und nicht der Neuffer den Trank gemischt hatte, flüsterte, teuflisch und bedeutungsvoll grinsend, der finstere Mann seinen Parlamentskollegen zu, und der Tod des Herzogs just in diesem Moment war ja auch ein so unwahrscheinliches Glück, daß viele geneigt waren, der Erzählung des dunklen Fanatikers zu glauben. Schon rückten sie und doch bewundernd von ihm ab, und einsam sonnte sich der Stuttgarter Brutus in seiner düstern Größe.

Die anderen, geschwellt, machten Pläne. Schon war die Freude über die Errettung verdrängt von dickem Besitz-, Macht-, Rachegefühl. Ho! Jetzt war man obenauf! Ho! Jetzt wird man heimzahlen, dem Juden, den Ketzern, allen, vor denen man hat kuschen müssen. Es war klar, daß der Herzog Rudolf von Neuenstadt Obervormund des kleinen Herzog-Nachfolgers werden mußte, wie immer das Testament Karl Alexanders lauten mochte. Auf den konnte man sich verlassen. Der war guter Protestant und von ihrer Partei. Noch morgen wird man ihn beschicken. Und heute noch, heute nacht noch wird man den Ketzern und Landverderbern und Judenzern zum Tanz aufspielen. Ans Militär wagte man sich nicht heran; aber was an Zivil von der Süßischen Partei in Stuttgart, nicht in Ludwigsburg, war, packte man noch in derselbigen Nacht. Es war ähnlich wie nach dem Tode Eberhard Ludwigs beim Sturze der Gräfenitzischen. Die Büttel und Gerichtsdiener gingen herum, verhafteten, schleppten die Gestürzten, schief Blickenden, wild Fluchenden, giftig Schimpfenden, verächtlich Bettelnden und Lamentierenden durch das gaffende, höhnende, jubelnde Volk auf die Wache. In Haft die Bühler, Mez, Hallwachs, in Haft die Lamprechts, Knab, ja selbst der Hofkanzler Scheffer.

Knirschend schaute Remchingen zu. Ausdrückliche Ordre der Herzogin verbot ihm, einzuschreiten. Aber sollen sie sich nur ans Militär wagen! Einen einzigen von seinen Offizieren sollen sie anlangen mit ihren stinkigen Pöbelfingern! Dann ist er nicht mehr zu halten, dann haut er drein! Doch in weitem Bogen gingen die Beauftragten der Landschaft um die Militärs herum.

Von einem, merkwürdigerweise, sprach man in Stuttgart nicht oder nur leise, ihn streifend, den Namen nicht nennend. Und doch war der eine der letzte Untergrund all ihrer Gedanken, heimliche Hoffnung der Herzogin und der Militärs, heimliche Furcht des Parlaments und der Bürger. Was tat Süß? Wo setzte er an? Wird er angreifen? Oder wie, der Aalglatte, Teufelsgewandte, sich verteidigen? Er war in Ludwigsburg, man hatte keinen Buchstab Nachricht von ihm, keine Depesche, nichts. Der erste Schimmer des Tages graute herauf, ein warmer, regnichter Märzmorgen. Man war todmüde und zerschlagen nach der wirren Nacht mit ihrem Auf und Ab, streckte sich aufs Lager. Und noch immer keine Depesche von dem Juden. Es war hinterhältig, rücksichtslos, gemein. In die ersten Träume hinein glitt den verbissen Wütenden um die Herzogin, den triumphierenden Parlamentariern, den Gestürzten, Verhafteten dumpf Furcht und Hoffnung: Was tat Süß?

In Ludwigsburg diktierte der Doktor Wendelin Breyer den ärztlichen Befund. Zusammen mit den Kollegen Georg Burkhard Seeger und Ludwig Friedrich Bilfinger und in Gegenwart des Regierungspräsidenten von Beulwiz und des Hofmarschalls von Schenk-Kastell hatte er die Leichenöffnung vorgenommen. Alle drei hatten die Leibärzte, während sie an der Leiche herumschnitten, die gleichen Gedanken: Ei du! Jetzt liegst du fein still, stößt nicht mit dem Fuß, schmeißt mir keine Medizinflasche an den Kopf. Aber ihre Mienen blieben ernsthaft und voll gravitätischer Trauer, wie es Wissenschaftlern ziemt. Und jetzt diktierte der Doktor Wendelin Breyer mit seiner hohlen Stimme und mit großen, flatterigen Bewegungen das umständliche und gewissenhafte Judicium medicochirurgicum, den Befund des Kollegiums. »Aus diesem Viso reperto«, diktierte er, »erhellet genugsam, daß Seine Hochfürstliche Durchlaucht nicht an einem Schlagfluß, nicht an einer Inflammation oder Gangraena, nicht an einem Blutsturz, auch nicht an einem Polypo etc., sondern an einem Steckfluß verschieden und in dem Blut recht ersticket ist. Zu dieser so schnellen Veränderung hat ohne allen Zweifel Gelegenheit gegeben einesteils der ehemals öfters rekurierte, letzthin aber allzu heftig ausgebrochene Spasmus diaphragmatis etc. und der große, das Zwerchfell über sich pressende, mit vielen Blähungen angefüllte Magen, andernteils aber die ad stagnationem sanguinis plenariam, ob atoniam et debilitatem connatam (allermaßen die betrübte Erfahrung nur allzu deutlich zeigt, daß die meisten Durchlauchtigen Fürsten vom Haus Württemberg an Brustzuständen dahingehen) ohnehin disponierte Pulmones.«

In Stuttgart wurde unterdes, schon am Tag nach dem Tode Karl Alexanders, sein Testament eröffnet. Das Testament setzte in seiner ursprünglichen Fassung die Herzogin zusammen mit dem Herzog Karl Rudolf von Neuenstadt als Vormünder ein. Ein späteres, von den Geheimräten Fichtel und Raab veranlaßtes Kodizill bestimmte indes den Erzbischof von Würzburg als Mitvormund, ein zweiter, von Karl Alexander erst kurz vor seinem Tod unterschriebener Zusatz stattete den Bischof mit besonderer Machtvollkommenheit aus.

Sogleich fuhr eine Deputation des Elfer-Ausschusses nach dem stillen Neuenstadt zu Herzog Karl Rudolf, ihn um sofortige Übernahme der Regentschaft untertänigst zu bitten. Karl Rudolf war ein karger, hochbetagter Herr. Er hatte in Tübingen studiert, in jungen Jahren schon die Welt von allen Seiten berochen, war in der Schweiz, in Frankreich, England, in den Niederlanden gewesen. Er hatte dann venezianische Dienste genommen, in Morea gefochten, sich bei der Belagerung von Negroponte groß ausgezeichnet. Hatte als Freiwilliger in Irland gekämpft, im spanischen Erbfolgekrieg die zwölftausend dänischen Söldner geführt, den blutigen Sieg bei Ramillies hatte er entschieden. Prinz Eugen und Marlborough schätzten ihn hoch, sein Name glänzte unter den Heerführern Europas. Plötzlich dann, als durch den Tod seines Bruders ihm die Württembergisch-Neuenstädtischen Apanagegüter zufielen, legte der Fünfzigjährige alle Kriegsstellen nieder, zog sich in die kleine Stadt zurück, lebte als Bauer, als strenger, gewissenhafter Hausvater seines kleinen Volkes.

Er hatte keinen Verkehr mit Karl Alexander gehabt. Der prächtige Fürst mit seinem üppigen Hof, seinem frechen, gaunerischen Juden war ihm tief zuwider. Er war ein strenger, karger Herr und nun über siebzig. Er liebte seine kleine, versponnene, umblühte Stadt; sprach man von Marie Auguste, der Ketzerin, der frivolen Liebhaberin von Putz und Komödianten, verzog er sauer und angeekelt die harten Lippen. Er war klein, dürr, etwas schief, sein Wort von militärischer Kürze, seine Kleidung und sein Hofhalt streng geregelt, sauber, schäbig. Er sagte: Pflicht! Er sagte: Gerechtigkeit! Er sagte: Autorität! Er war trotz seines Alters ein starker Arbeiter.

Er hörte die Stuttgarter Herren schweigend an, ließ sie ihre umständlichen Sätze zu Ende reden und wiederholen und schwieg noch immer. Er war sehr betagt, er wäre gern seine wenigen Jahre noch in seiner kleinen, umblühten Stadt geblieben, hätte, ein alter Bauer, seine Felder inspiziert und seine Weinberge und die einzelnen seiner Untertanen beaufsichtigt, wie sie ihre Kinder hielten und ihr Vieh. Nun legte Gott ihm alten Mann diese harte Arbeit auf, das verlotterte Land zu säubern und auszumisten, sich vor seinem Sterben noch mit Kaiser und Reich herumzuschlagen, sich mit dem fetten, schlauen Jesuiten von Würzburg abzuärgern. Gott kommandierte; er war Soldat und kannte Subordination, hielt Disziplin, fügte sich. Er sagte den Stuttgartern, er nehme die Verweserschaft an, doch unter dem Beding, daß kein zweiter Vormund neben ihm sei, die Herzogin nicht, die Katholikin, die Regensburgerin, und gar erst nicht der Jesuit, der Würzburger. Er sagte, er werde schon anderntags in die Residenz kommen.

Sehr vergnügt fuhren die Stuttgarter zurück. Das war der Mann, den sie brauchten. Der wird mit dem Remchingen fertig werden und auch mit dem Juden, von dem man, seltsamerweise, noch immer nichts hörte.

Remchingen schlug sogleich wild um sich. Er haßte den dürren Neuenstadter von je, hatte sich öfters lustig gemacht über den Filz und Kleinkrämer. Jetzt stützte er sich auf das Kodizill des Testaments, auf die Vollmachten des Fürstbischofs von Würzburg, auf die Truppen, die ihm ergeben waren. Er verweigerte dem Herzog-Verweser die Handtreue, nahm von ihm keine Parole an, verbot beides auch seinen Untergebenen, vereidigte sie auf Karl Alexanders Testament. Verstärkte ohne Wissen und gegen den Willen des Herzog-Verwesers die Stuttgarter Garnison, gab den Kommandanten der Festungen und der Garnisonen im Land Weisung, keine Ordres anzunehmen als unmittelbar von ihm oder der Herzogin. Um die Armee gegen Karl Rudolf aufzureizen, sprengte er aus, der neue Herr gehe mit dem Parlament auf eine Verringerung des Heeres aus, große Entlassungen stünden bevor.

Unter solchen Umständen zog Karl Rudolf still und karg in Stuttgart ein, bezog Wohnung in einem Nebenflügel des Schlosses, wollte der Herzogin-Witwe seine Aufwartung machen, die nahm ihn nicht an. Er kümmerte sich nicht darum, saß, der Einundsiebzigjährige, andern Morgens schon um sechs Uhr, wie er es gewohnt war, bei der Arbeit. Er mistete, zunächst in der Hauptstadt, rücksichtslos aus, alle unzuverlässigen Beamten wurden entlassen, ihre Papiere beschlagnahmt, viele verhaftet. Die Mehrzahl der Führer der katholischen Partei war bereits geflohen.

Im Volk verhöhnte man laut und allenthalben den toten Herzog, der noch nicht unter der Erde lag, die Herzogin-Witwe, die grollend und zappelig und machtlos in ihren Zimmern saß. Der Herzog-Verweser ließ strenge Ordres ausgehen, die solche Äußerungen verboten. Er sagte: Pflicht! Er sagte: Gerechtigkeit! Er sagte: Autorität!

Mit anderen wurde auch der Konditor Benz, der das poetische Transparent mit dem Herzog und dem Teufel fabriziert hatte, infolge solcher Ordres drei Tage auf die Bürgerwache gesetzt. Hierbei holte sich der schweinsäugige Mann eine starke Influenza. Wieder in seinem Haus, mußte er sich ins Bett legen, er trank allerlei Tee, bald wußte man, er wird nicht mehr aufkommen. An seinem Lager standen seine Freunde aus dem »Blauen Bock«. Er feixte schief: »Unterm vorletzten Herzog regierte eine Hur, unterm letzten ein Jud, unterm jetzigen ein Narr.« Er tobte gräßlich, als er starb, spie scheusälige, kotige Flüche von sich. Im »Blauen Bock« sagten sie, der Ketzerherzog und sein Jud seien jetzt auch am Tod dieses guten Bürgers schuld.

Marie Auguste arbeitete mit Remchingen wild und fahrig gegen Karl Rudolf und das Parlament. Es schmeichelte ihr, sich als große Frau bewundern zu lassen. Die erste Dame Deutschlands war sie lange genug gewesen, jetzt reizte es sie, ein weibliches Gegenspiel zu dem jungen Preußenkönig zu werden, der eben den Thron bestieg. Ei, sie wird der katholische Widerpart dieses großen Protestanten sein. Hatte sie nicht den Kaiser, Kurbayern, ihren Vater, ja selbst Frankreich für sich? Sie sollte, die kluge, mondäne Frau, es nicht aufnehmen können mit diesem alten Kracher und Bauern und versauerten Trottel und Tappergreis, dem frechen Usurpator Karl Rudolf? Zusammen mit Remchingen, ihrem Kapuzinerpater Florian und ihrem Bibliothekar Hophan, den sie für einen großen Politikus ästimierte, spann sie unzählige, kleine, kindische Intrigen, schmollend, wenn etwas nicht sogleich gelang. Tausend Depeschen liefen, nach Wien, nach Würzburg, nach Brüssel zu ihrem Vater. Als trauernde Witwe zeigte sie sich dem Hof und dem Land, sehr ziervoll der kleine, langäugige, blasse Kopf in dem schwarzen Pomp. Ihr Söhnchen, den Herzog, ließ sie aus Brüssel kommen, wies die fürstliche Waise, das Kind mit den strahlend großen Augen, dem gerührten Volk.

Aber Karl Rudolf, der alte Soldat, ließ sich nicht irremachen. Er veröffentlichte eine Erklärung, er denke nicht daran, die Armee zu verringern, veranlaßte auch das Parlament zu einer ähnlichen Kundgebung. Tags darauf stellte er die Truppen unter den Oberbefehl des Generals von Gaisberg, diktierte dem schäumenden Remchingen Hausarrest, stellte Wachen vor seine Tür. Dies war kühn, es konnte Blutvergießen, Krieg, bewaffneten Widerstand von innen und von außen zur Folge haben, alles verderben oder alles retten. Es verdarb nichts. Die Truppen und mit ihnen das Land fügten sich, huldigten dem Herzog-Administrator.

Der Kaiser zögerte mit der Bestätigung dieser gewaltsamen Regelung. Die Jesuiten der Herzogin drängten darauf, daß der Wiener Hof Karl Alexanders letztes Testament für rechtsgültig erkläre, den Fürstbischof und die Herzogin als Vormünder sanktioniere. Der Fürstbischof selber reklamierte, protestierte in eigenhändigen Briefen an den Kaiser, ließ durch seinen Hofrat und Professor Ikstatt eine ausgezeichnete Deduktion verfassen, die »Württembergische Grundfeste«, in der mit scharfsichtigen Argumenten die Legitimität des letzten, angestrittenen Testaments erwiesen wurde. Man bewunderte allgemein, selbst unter den Gegnern, die Subtilität dieser Beweisführung. Aber praktische Folgen hatte sie nicht. Karl Rudolf saß, nach der Ausschaltung Remchingens, fest im Besitz der Macht, war ohne Krieg, den niemand wollte, nicht zu beseitigen. Die Proteste, Reklamationen blieben platonisch.

Der kluge Würzburger hatte anderes wohl auch nicht erwartet. Er ließ seine Maschinerie ohne inneren Schwung arbeiten, nur um das Gesicht zu wahren. Er hörte den Vortrag seines höllisch schlauen, unscheinbaren Rates Fichtel. Er pflichtete ihm durchaus bei. Hier war für jetzt mit Gewalt gar nichts auszurichten. Die Kirche hatte Zeit, die Kirche arbeitete auf lange Sicht. Es galt, nun auf den jungen Herzog zu rechnen, ihn fest im katholischen Glauben zu erziehen; er freilich, der Bischof, wird diese Frucht nicht mehr reifen sehen. Im übrigen, armer Karl Alexander! Guter, fester, angenehmer Freund! Requiescas in pace. Er wird selber Messen für ihn lesen. Was im Augenblick zu tun blieb war nur, auf gute Manier aus der württembergischen Affäre herauszukommen, unkompromittiert.

Mit größter Umsicht wurde alles, was Würzburg und die Katholischen bloßstellen konnte, aus Stuttgart vertuscht und wegpraktiziert. Einige Dokumente, die am meisten belastenden, lagen bei Remchingen in Verwahrung. Nachdem der General unerwartet in seiner Wohnung verhaftet war, glitt, nach mißglückten Bestechungsversuchen an den Wachtposten, ein Kaminfegerjunge über die Dächer der an Remchingens Wohnung anstoßenden Häuser durch den Schornstein in das Zimmer, wo jene Akten lagen, überbrachte sie glücklich den Patres der Herzogin, die Dokumente verschwanden nach Würzburg.

Unterdes hatte der alte Regent die Armee durch seine soldatische Art ganz fest in die Hand bekommen, er verschärfte jetzt die Haft des Generals, ließ ihn mit seinem Adjutanten, dem Hauptmann Gerhard, auf den Asperg schaffen.

Diese Behandlung ihres lieben, wichtigsten Helfers riß Marie Auguste aus ihrer stolzen Reserve gegen den Herzog-Vormünder. Sie bequemte sich, Karl Rudolf um eine Unterredung zu ersuchen. Der alte Herr erschien ohne Zeremonien, stand schäbig, schlottericht, dörfisch, schief vor der geschmückten, mit allen Mitteln moderner Kosmetik hergerichteten, lieblich duftenden Dame. Er war allein; sie hatte ihren Pater Florian bei sich, den Beichtiger, und ihren Bibliothekar Franz Josef Hophan, den Politikus, einen jungen, katzenhaft sanften, literarischen, modisch gekleideten Menschen; er war nach dem Fall Remchingens neben dem Kapuziner ihr vertrautester Berater. Karl Rudolf beäugte kalt und vorsichtig das unsympathische dreiblättrige Unkraut, das leider Gottes den guten Garten Württemberg so betrübt überwucherte. Marie Auguste ihrerseits beschaute hochmütig und leicht amüsiert den schäbigen, dürftigen, kleinen Soldaten, der sicherlich die raffinierte Manier ihres Trauerkleides nicht zu würdigen wußte. Stumm hörte Karl Rudolf ihre vielen Beschwerden an. Seine Stummheit reizte sie, sie wurde hastiger, zählte neben Bedeutsamem lächerliche Kindereien auf, verhaspelte sich; ihre Beiständer mußten ihre Reden wieder ins rechte Garn bringen. Verächtlich und angewidert hörte Karl Rudolf zu, wie sie, gewöhnlich am falschen Ort, mit wichtigem Gehabe juristische Fachworte gebrauchte. Die heiligen Begriffe Reversalien, bürgerliche Freiheiten schienen ihm profaniert in diesem kleinen, törichten, dirnenhaften Mund. Er antwortete kurz, behutsam, grob, griff geschickt auf, was sie Unsinniges gesagt hatte, die Einwände und Korrekturen des Kapuziners und des feinen Bibliothekars überhörte er hart und verächtlich; er hatte, der Fürst, nur mit der Fürstin zu tun. Er schalt Marie Auguste, sie sei übel beraten und es stehe ihrer Dignité nicht an, Remchingen, den schlechten, landesverräterischen Mann, zu verteidigen. In allen kleinen Etikettefragen, die sie groß und wichtig vorgebracht hatte, versprach er ungesäumte Abhilfe, um so fester bestand er auf allem politisch wirklich Wichtigen. Der Kapuziner und der Bibliothekar rangen die Hände, wie die Herzogin triumphierend diese kleinen Konzessionen einstrich, um dem schlauen, groben Usurpator dafür alles Wesentliche preiszugeben. Man kam schließlich noch auf die finanziellen Dinge zu sprechen. Davon verstand nun Marie Auguste gar nichts; sie stammte aus einem der reichsten europäischen Häuser, warf mit Herrschaften um sich wie andere mit Pfennigen, fand es plebejisch, von Gelddingen auch bloß zu reden. Karl Rudolf seinesteils gab sich zwar ungeheuer rechenhaft, wenn es um die Interessen des Landes ging; für sich selbst aber war er durchaus bedürfnislos, er war ein alter Herr, Kinder hatte er nicht, so war es gewiß, daß er sehr reichlich hinauslangen wird. Es fiel beiden nicht schwer, sich nobel zu zeigen, sie verständigten sich auf diesem Gebiet ohne Mühe, schieden in leidlichem Einvernehmen. Der Herzog war erstaunt und befriedigt zu der Überzeugung gekommen, Marie Auguste sei gar keine große Babel, sondern eine Gans, und die Herzogin hatte erstaunt und befriedigt wahrgenommen, Karl Rudolf war eigentlich gar kein stiernackiger, bäurisch zäher Usurpator, sondern schlechthin ein Esel. Auf Grund solcher Erkenntnis trennten sich die beiden fast mit einem gewissen überlegenen und verächtlichen Wohlwollen.

Es kam natürlich auch späterhin noch zu zahlreichen kleinen Streitereien. Doch der Herzog-Administrator war durch diese einzige Entrevue sich hinreichend klargeworden über die einzuschlagende Politik. Wollte er von Marie Auguste ein ernstliches Zugeständnis in Verwaltungsfragen erreichen, so kränkte er sie in Dingen der Etikette. Stritt ihr etwa einen Titel ab, schickte ihr einen Subalternoffizier statt des bisherigen Stabsoffiziers als Wache, schikanierte ihren Liebling, den feinen, modischen Bibliothekar. Reklamierte sie, so verlangte er mit Erfolg als Kompensation für die Abstellung solcher Mißlichkeit Konzessionen in politischen Fragen.

Zu einem ernsthaften Streit kam es anläßlich der Vorbereitungen zu Karl Alexanders Leichenbegängnis. Marie Auguste freute sich durch zwei Monate darauf, bei diesem Anlaß als die schönste und mondänste Witwe des Reichs, als die vielumstrittene große Fürstin, auf die Rom und die ganze katholische Welt ihre Hoffnung setzten, vor den Augen Europas zu paradieren. Allein der Herzog-Administrator verbot als aufreizend die Ausübung katholischer Riten bei der Bestattung; die katholischen Fürsten und Herren drohten daraufhin, der Feier fernzubleiben. Marie Auguste ärgerte sich krank und alt vor Wut. Der Kaiser mußte durch persönliches Handschreiben Karl Rudolf zur Nachgiebigkeit bringen. Die Trauerfeier wurde dann auch mit ungeheurem Gepräng vollzogen. Die endlosen Reihen der Trauerwagen, Kerzenträger, Gugelmänner, die schwarze Gala der Fürsten und Herren, Beamten, Livree. Der stundenlange Aufmarsch der Truppen. Die Glocken, Reden, Gesänge, Ehrensalven für den Toten. Und viele tausend bewundernde, begehrliche, heiße Augen auf der wunderschönen Herzogin-Witwe. Dünnstielig und geschmeidig über dem weiten schwarzen Brokat des Rockes die Taille; unwahrscheinlich weiß und edel Gelenk und Hände aus den schwarzen Spitzen der Ärmel heraus; kein Schmuck außer Stern und Kreuz des päpstlichen Ordens und eine Kette von sechzehn erlesenen schwarzen Perlen. Der Witwenschleier so gesetzt, daß sein Schwarz stumpf blieb vor dem strahlenden Schwarz des Haares. Der kleine Eidechsenkopf, klarstirnig, von der Farbe alten edlen Marmors, äugte bei aller fernen Hoheit ziervoll und begierdenweckend. So sonnte sich Marie Auguste in Trauer und großem Glanz.

Es war übrigens ein leerer Prunksarg, für den die Glocken läuteten, die Reden klangen, die Gesänge feierlich hochstiegen, die Salven der Geschütze krachten. Der tote Karl Alexander war während des Streites seiner Witwe mit dem Herzog-Vormünder trotz der Balsamierungskünste seiner Ärzte so zerwest und stinkend geworden, daß man ihn lange vor der offiziellen Trauerfeier in aller Stille in der neuen Gruft von Ludwigsburg hatte beisetzen müssen.

Die Diplomaten und Militärs, die in Ludwigsburg vom Tod Karl Alexanders überrascht worden waren, blieben zunächst sehr still und abwartend. In der Person des verhafteten Süß hatten sie für alle Fälle einen Beweis ihrer staatstreuen Gesinnung. Schon nach wenigen Tagen war auch den Schwerfälligen klar, daß die Verfassungspartei selbstverständliche Siegerin bleiben mußte und daß an Militärrevolte und katholisches Projekt nicht mehr zu denken war. Nur ganz wenige völlig Verbohrte unter Führung eines Prinzen Waldeck lehnten es ab, sich auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Die anderen hatten nie an gewaltsamen Umsturz gedacht, alle ihre Maßnahmen waren natürlich immer im Rahmen der Verfassung und unter Voraussetzung parlamentarischer Billigung geplant gewesen. Es gab einen einzigen Verbrecher und Gewaltmenschen, Urheber alles Schlechten, Hebel allen Unheils, Ratgeber allen Übels, der den guten Fürsten verleitet und alle seine edlen Pläne ins Gegenteil verkehrt hatte, Landverderber und Schelm und Schurken, einen einzigen, den Juden. Und wie rein und staatstreu man sich selber fühlte, erhellte daraus, daß man sotanen Juden nicht hatte entwischen lassen, daß man ihn sogleich gepackt hatte.

Nun war ja die Verhaftung des Süß eigentlich sehr einfach gewesen und nicht gerade sehr glorios und dem Prestige der Herren förderlich. Man mußte also die simple Manier, wie man in Ludwigsburg seiner habhaft geworden, ein weniges ausstaffieren und nobler und romantischer machen. Durch Stuttgart ließ man das Gerücht wispern, schon ward es lauter, war Gewißheit, Süß habe sich gleich nach dem Tode des Herzogs aus Ludwigsburg fortgestohlen, sich in die Hauptstadt in sein Haus geschlichen, sich dort verborgen gehalten, schließlich unter Mitnahme von Preziosen und belastenden Papieren ins Ausland zu fliehen versucht. Aber die braven Offiziere, voran der wackere Major Röder, der Biedermann und gute Protestant, den die ganze Stadt liebte und ehrte, hatten Aufenthalt und Flucht des Kujonen gerade noch rechtzeitig ausgespäht. Man erzählte genaue Einzelheiten, Süß habe sich durch die Weinberge geschlichen, sei auf der hintern Kriegsbergstraße schon eine gute Strecke weit entkommen. Da aber hatte der Major Röder seine besten Stadtreiter genommen – sogar die Namen wußte man, Guckenberger, Trefts, Weis, Mann, Meier –, und so zu sechsen seien sie ihm nachgebraust. Auf der Kornwestheimer Höhe hätten sie den Flüchtling eingeholt. Mit gespannter Pistole habe der wackere Röder ihm sein Halt! entgegengedonnert. Nichts habe dem Juden seine Unverschämtheit, sein Geschrei und seine Drohungen geholfen. Die wackeren Stadtreiter hätten seinen Wagen gewendet, und jetzt, jetzt gleich werden sie ihn über die Galgensteige durch das Ludwigsburger Tor einbringen.

Eine festlich grölende Menge erwartete die Kutsche mit dem Häftling. Derbe Witze, frohe Erregung, Lausbuben hoch auf den Bäumen, auf den Vorsprüngen des Tors. In dem Wirtshaus »Zum Blauen Bock«, hart am Tor, saß mit anderen wohlhabenden Bürgersöhnen der junge Langefaß, ein aufgeräumter, fetter Bursch, sehr blond, rotes Gesicht mit blauen, kleinen Augen. Der bewirtete seine Kumpane mit altem Uhlbacher, scherzte lärmend mit den Mädchen, es war eine lustige Gesellschaft, angeregt wie beim letzten Karneval. Als endlich unter gellendem Geschrei die Kutsche mit Süß das Tor passierte, von Röder und seinen Reitern eskortiert, stürzten sich etliche vom Tisch des jungen Langefaß auf den Wagen, rissen den Gefangenen heraus, stauchten ihn hin und her, pufften ihn, schlugen ihn, stießen ihn, zerrten ihn. Der junge Langefaß ließ derweilen den Major Röder hochleben, der nahm das Glas an, tat schmunzelnd Bescheid, während das Volk den Juden verprügelte. Süß benahm sich übrigens keineswegs geduckt und ängstlich, er hieb kräftig zurück, einem Knirps, der sich in seine Wade verbiß, gab er eine Maulschelle, daß der Junge unter die Beine der Nachdrängenden kollerte; auch erwiderte er kräftig die Flüche und Beschimpfungen seiner Angreifer. Es war keine fanatische, sondern eine sachliche, saftige Rauferei. Aber schließlich wäre der Jude, trotzdem es dem Volk eine im Grund harmlose Angelegenheit war, aus purem Gaudium totgeschlagen worden, wenn nicht Stadtgrenadiere dazugekommen wären und ihn mit Hilfe der Stadtreiter dem Volk entrissen hätten. Erschöpft und atemlos hockte er im Wagen, zerrauft und zerrissen, voll Schmutz und Blut. Der junge Langefaß, der ein Spaßvogel war und deshalb bei den Frauen sehr beliebt, hatte witzigerweise die Perücke aufgehoben, die dem Juden bei dem Geraufe entfallen war, und trug sie zum allgemeinen Ergötzen auf seinem Stöckchen voraus. So fuhr unter Kreischen und Jubel Süß auf den Markt in das Herrenhaus.

Da dieser ihm entzogen war, fing sich der Pöbel unter Anleitung des jungen Herrn Langefaß die anderen Juden zusammen und trieb seine Kurzweil mit ihnen. Besonderen Spaß machte es, einem alten Juden, der sich verzweifelt wehrte, das grauweiße Haar und den Bart auszurupfen, wobei Langefaß unter dröhnendem Beifall etliches Witzige über Läuse von sich gab. Ein junges, zitterndes, nicht hübsches Mädchen, eine gewisse Jentel Hirsch, wurde unter vielem Gewieher nackt ausgezogen und nach Flöhen abgesucht. Alle Stuttgarter Juden, vom Greis zum Säugling, wurden auf solche Art von dem geschäftigen Pöbel zusammengefangen und unter einer riesigen Eskorte von Straßenjungen, unter Steinund Kotwürfen, dem Stadtvogt überstellt. Zwei Prager Juden kamen just während dieser Vorgänge mit Eilpost an, um mit dem allvermögenden Finanzdirektor gewisse Bankgeschäfte zu regeln. Sie waren nicht sehr vertraut mit schwäbischer Politik, sie hatten insbesondere keine Ahnung, wieso das katholische Projekt mit ihren Landbankgeschäften zusammenhing; sie wußten nur, daß Süß der mächtigste Jud Europas war und daß die Judenheit Württembergs besonderen Schutz genoß. So mehr waren sie erstaunt, als sie, kaum dem Postwagen entstiegen, gepackt, geschüttelt, geprügelt, in Verhaft gebracht wurden und als sie hörten, in welchen jämmerlichen Zustand der großmächtige Finanzdirektor gestürzt war. Es kamen übrigens bei diesen Verfolgungen verschiedene Juden ums Leben, darunter drei Frankfurter Schutzjuden, weshalb die freie Reichsstadt bei der württembergischen Regierung energische Klage führte. Der Herzog-Administrator sagte denn auch: Pflicht! Autorität! Gerechtigkeit! und setzte drei von den Schuldigen für zwei Tage auf die Wache.

Ein rascher Poet brachte die Gefangennahme des Süß in eingängige Reime. Bald flog seine Dichtung durch Stuttgart und durchs ganze Land; insbesondere zwei Verse wurden allenthalben zitiert und prägten sich jung und alt fürs Leben ein: »Da sprach der Herr von Röder: / Halt! oder stirb entweder!« Die Popularität des Majors Röder hatte überhaupt durch die umsichtige Art, wie er die Flucht des arglistigen und gottlosen hebräischen Landverderbers verhindert hatte, womöglich noch zugenommen, und wo er mit seinem harten Mund, seiner niederen Stirn, seiner knarrenden Stimme auftauchte, brachten ihm begeisterte Bürger Ovationen.

Am Tage, an dem Süß nach Stuttgart eingebracht wurde, versuchte man auch sein Palais in der Seestraße zu stürmen und zu plündern. Führerin bei diesem Unternehmen war die Sophie Fischerin, die Tochter des Expeditionsrats, frühere Mätresse des Süß. Die träge, schöne, üppige Person hatte sich seltsam verändert. Sie schrie, glühte, arbeitete sich ab, dicke, blonde Strähnen zottelten ihr, Schweiß troff ihr übers Gesicht. Die Häuser der anderen Juden waren schutzlos geblieben, und manches gute Stück Hausrat, auch Schmuck und bares Geld, kam bei diesem Anlaß unter die Leute. Das Haus des Süß hingegen war durch ein starkes Militäraufgebot geschützt, Nicklas Pfäffle hatte rechtzeitig Vorsorge getroffen. Noch ein anderer hatte sich kräftig und mit Erfolg um den Schutz des Hauses bemüht, Dom Bartelemi Pancorbo. Als Regierungskommissar erschien er mit Polizei und Militär und beschlagnahmte Haus und Habe. Geleitet von Nicklas Pfäffle schlurrte er langsam durch die weiten, glänzenden, sehr geordneten Räume, äugte aus entfleischtem, blaurotem Kopf in alle Winkel. Verächtlich ging er vorbei an edlen Teppichen, Möbeln, Bildern, Nippes. Gerade von den kostbaren Steinen, nach denen sein Herz und seine Finger hungerten, war nichts da. Behutsam und mißtrauisch forschte er Nicklas Pfäffle aus; unbewegt, phlegmatisch antwortete der blasse, fette Mensch. Der Portugiese wurde drohend, aber seine modrige Stimme glitt wirkungslos ab an dem Gleichmut des Sekretärs. Schließlich verhaftete man Nicklas Pfäffle, forschte ihn peinlich aus, durchschnüffelte seine Korrespondenz. Man fand nichts und mußte den langsamen, schweigsamen, unbewegten Burschen bald wieder freilassen.

Süß wurde zunächst auf die Festung Hohenneuffen gebracht und dort nicht schlecht gehalten. Er wurde auf eigene Kosten reichlich und nach seinem Geschmack verpflegt, durfte Besuch empfangen, sich nach Belieben Garderobe und Hausrat bringen lassen. Er machte von diesen Freiheiten nicht übermäßigen Gebrauch. Er war gern und viel allein. Dann ging er wohl auf und ab, vergnügt, schmunzelnd fast, unmelodisch vor sich hin brummend, den Kopf geruhsam listig hin und her wiegend wie ein alter Kaftanjude. Ei, wie war es gut und lieblich, in Ruhe zu sein und zuzuschauen. Rings um ihn zappelten sie sich ab. Die einen zappelten sich ab, um ihn möglichst tief zu ducken und einzutauchen, er selber zappelte, um ihnen zu entwischen, wieder an die Luft zu kommen. Hoho! Mochten sie zupacken, mochten sie ihn fangen! Die Narren die! Sie wußten nicht, daß das gar nicht er selber war, der da zappelte, den sie haschen wollten. Daß das der alte Süß war, der törichte, unwissende Süß, der noch nicht gelernt und erkannt hatte. Der wirkliche Süß, der neue Süß, hoho! – er lachte in einem wilden, hohnvollen Behagen –, der war jenseits aller Lebenszappelei, den fing kein Herzog, kein Kaiser, kein Gericht.

So hatte es die Kommission nicht eben leicht, die konstituiert war, um die vielen arglistigen, gottlosen, landesverderblichen Gewalttaten und Streiche zu untersuchen, die Josef Süß Oppenheimer, Jud und gewester Finanzienrat, mit seinen Genossen verübt hatte. Es war eine gewichtige Untersuchungskommission. An ihrer Spitze stand der Geheimrat von Gaisberg, Bruder des Generals, ein im Grunde träger Mann, der allen Dingen mit einer gewissen jovialen Barschheit beizukommen suchte; Beisitzer waren der Geheimrat von Pflug, ein hagerer, bitterer, hochmütiger Herr, angefüllt von Haß und Ekel gegen die Juden, die Professoren Harpprecht und Schöpf, die Regierungsräte Faber, Dann, Renz, Jäger, strebsame, karrierebeflissene Beamte in mittleren Jahren; Sekretäre waren der Assessor Bardili und der Aktuarius Gabler. Es bestand für diese Kommission kein Zweifel, daß Süß eine ganze Reihe todeswürdiger Verbrechen begangen hatte. Aber es zeigte sich bald, daß man ihm streng juristisch wenig anhaben konnte. Die Hauptschwierigkeit, ihn nach den Gesetzen zu verurteilen, lag darin, daß er nicht vereidigter Beamter, ja nicht einmal Staatsuntertan war. Er hatte lediglich unter dem Titel eines Geheimen Finanzienrats völlig als Privatperson dem Herzog Ratschläge erteilt. Wenn die vereidigten Minister und Räte diese verderberischen Projekte ausführten, so waren sie die Hochverräter, nicht er. So verzettelte sich die Untersuchung in der Prüfung von tausend Einzelheiten, aus denen man die Möglichkeit der Verurteilung zu konstruieren suchte. Man verzögerte die Inquisition, schleppte sie endlos hin. Warum auch sollten die Richter Eile haben? Man fühlte sich so angenehm wichtig in dieser Untersuchungskommission. Alle Bekannten fragten einen: »Nun, was habt ihr wieder Neues aus dem Juden herausgekriegt?« Es waren gewissermaßen die Augen des ganzen schwäbischen Kreises auf einen gerichtet. Dann war auch die Teilnahme an der Kommission mit sehr hohen Extrabezügen verbunden, die natürlich aus dem beschlagnahmten Vermögen des Angeklagten bezahlt wurden. Vor allem den strebsamen Beamten in mittleren Jahren kamen diese Sondereinnahmen sehr gelegen.

Die Herren verhörten Süß bald einzeln, bald in korporativen Sitzungen. Man inquirierte auf Münzverbrechen, Majestätsverbrechen, Hochverrat. Der biedere, streng rechtliche Professor Harpprecht, überzeugt, daß Süß ein Schuft, aber im Sinn des Gesetzes nicht schuldig sei, angewidert von dem Bestreben, den Juden haftbar zu machen für Verbrechen, für die andere rechtlich einzustehen hatten, zog sich bald zurück, beschränkte sich darauf, die Akten zu begutachten; sein Kollege, der Professor Schöpf, folgte ihm. Der Präsident der Kommission, der Geheimrat Gaisberg, kam allein zu Süß, haute ihm auf die Schulter, sagte in seiner barschen, jovialen Art: »Was macht Er uns und sich das Leben sauer, Jud? Daß Er auf dem Schinderkarren muß zur Hölle fahren, ist sicher. Nehm Er nicht zuviel Gepäck mit! Leg Er ein anständiges Geständnis ab!« Süß lächelte, ging auf seinen Ton ein, meinte schließlich, höher, als der Galgen sei, könnten sie ihn doch nicht hängen. Er spielte mit dem plumpen, gemütlichen Grobian, warf ihm Dinge hin, daß der schon glaubte, zupacken zu können, entzog sich ihm wieder, höflich lächelnd, ließ ihn mit langhängender Zunge stehen.

Auch die anderen versuchten, jeder für sich, ihr Glück an dem geschmeidigen Sünder. Sie besuchten ihn immer wieder, beschlichen ihn, redeten ihm gut zu, bedrohten ihn. Süß, aus seiner jenseitigen Sicherheit heraus, trieb ein fast sportliches Spiel mit ihnen, voll mildspöttischer, kopfwiegender Überlegenheit. Wie aus einem andern Erdteil, wie aus einem späteren Säkulum schaute er seinem Prozeß zu, amüsierte sich still über die Herren, ihre Besonderheiten, ihre Kniffe und Listen, ihn zu fangen. Die Armen! Wie sie sich abmühten, jagten, schwitzten! Wie sie schnüffelten, hetzten, besessen auf den Weg stierten, von dem sie glaubten, er führe hinauf. Karriere! Karriere! Und wie neugierig sie alle waren, und wie ganz fern und ohne einen Schimmer Lichtes sie ihn beschauten, wie ohne Gefühl sie ihn betasteten, ohne Witterung ihn berochen. Dabei war der eine oder andere guten Willens, gewann im Lauf der langen Untersuchung sogar ein gewisses Wohlwollen für den Mann, der sicher ein Spitzbub, aber mit seinem behenden Witz, seiner scharfen Geistigkeit etwas sehr Ungewohntes, Aufrüttelndes war. Mit fast zärtlichem Spott sah Süß, wie sogar die beiden Sekretäre kamen, jung, dumm, schlau, streberisch, ihr Glück und ihre Geschicklichkeit an ihm zu versuchen. Die Armen, Stumpfherzigen! Süß ließ sie an sich heraufklettern wie junge Hunde und streifte sie dann sanft und lässig wieder ab.

Alle waren diese Männer mäßig begabt. Mäßig begabt von Haus aus war auch der Geheimrat Johann Christoph Pflug, der Treiber und Hebel der Untersuchungskommission. Doch ihm schärfte Judenhaß den Witz, machte ihn spürsinnig. Wäre der ehemalige Süß in der Zelle gewesen, es hätte ihm die Seele zerfressen, wieviel tausend Nuancen der hagere, scharfe, bittere Herr erfand, ihn Ekel und Verachtung spüren zu lassen. Herr von Pflug atmete nur mit Überwindung den Dunstkreis des Juden, er fühlte leiblichen Widerwillen, Übelkeit, wenn er die Zelle betrat. Aber er hielt es für seine Pflicht, diesen Verkommenen, diesen Schlechtesten der Menschen immer neu zu demütigen, seine Menschenwürde zu zerfetzen, in der Schmach dieses Halunken herumzustochern. Daß ihm dies nicht gelang, machte ihn elend, erschöpft verließ er die Zelle, um doch immer wiederzukommen. Süß schaute ihm höhnisch und mit Erbarmnis zu. Hätte der adelsstolze Herr erfahren, daß der verworfene Jud und Lump den Heydersdorff zum Vater hatte, den Feldmarschall und Baron, seine ganze Welt wäre zusammengestürzt.

Kein Advokat gab sich freiwillig dazu her, die Sache des Juden zu führen. Seine Verurteilung stand fest. Man gefährdete bei solchem Handel höchstens das eigene Weiterkommen. So mußte das Gericht dem Angeklagten einen Verteidiger stellen. Die Kommission dotierte dieses Amt sehr reich, immer aus dem konfiszierten Vermögen des Finanzdirektors, und betraute damit einen Mann aus den herrschenden Parlamentarierfamilien, den Hofgerichtsadvokaten Lizentiaten Michael Andreas Mögling. Der mußte sich also nach Stuttgart setzen und die Verteidigungsschrift abfassen, wofür er ungewöhnlich hohe Diäten bezog. Man legte ihm nahe, er solle sich nicht anstrengen, alle Welt wußte, daß diese Verteidigungsaktion eine leere Geste war. Aber der Lizentiat Mögling, ein treuherziger Blonder mit rosigem, rundem, freundlich fettem Knabengesicht, war ein redlicher Mensch, er ließ sich nichts schenken, nahm seine Sache verflucht ernst, lief, schwitzte, schrieb. Die Herren des Inquisitionsgerichts lächelten, wenn sie ihn sahen, der Jude selber lächelte. Man erschwerte dem guten Menschen seine Arbeit sehr. Wichtige Aktenstücke wurden ihm vorenthalten, die Protokolle der einzelnen Verhöre ihm geradezu verweigert. Während man sonst den Süß kaum hinderte, ungestört Besuche zu empfangen, wurde der arme Lizentiat sehr schikaniert, wenn er mit seinem Klienten schriftlich oder mündlich kommunizieren wollte. Er aber ließ es sich nicht anfechten, sondern tat redlich, beflissen und ohne Talent seine Advokatenpflicht.

Süß war noch immer auf dem Hohenneuffen, gut gehalten. Um ihn herum waren die Herren des Inquisitionsgerichts, mästeten Leib und Seele und Geldbeutel an ihm. Er aber saß still und befriedet, in einer sonderbaren, wachen Rast, er saß wie in Watte, man konnte nicht heran an ihn.

Dies nagte vor allem an dem hageren, bitteren Herrn von Pflug. Man kam nicht weiter, die Untersuchung stockte, dieser Jud und Auswurf mokierte sich über einen. Er bat Herrn von Gaisberg, eine Plenarsitzung einzuberufen, er habe einen Antrag zu stellen. Die zehn Mitglieder der Kommission versammelten sich, sahen erwartungsvoll auf Herrn von Pflug. Der stand kantig schmal, geiernäsig, dünnlippig, mit trocken gierigen, harten Augen. Sagte, man habe bisher immer nur auf Majestätsverbrechen, Hochverrat, Münzfälschung inquiriert; es sei an der Zeit, die todeswürdigen Verbrechen zu untersuchen, die der Jud auf anderem Gebiet begangen habe. Das Reichskriminalgesetz bestrafe mit dem Tod den fleischlichen Umgang eines Juden mit einer Christin. Es sei aber männiglich bekannt, auf welch säuische Art der Inquisit christliche Jungfrauen defloriert, vornehme Damen und geringe Frauenspersonen profitiert habe. Es sei an der Reihe, die Untersuchung auch auf diesen Punkt auszudehnen.

Unbehaglich schwiegen die Herren. Das war eine kitzlige Sache. Wenn man hier hineinstocherte, wo endete das? Wen alles konnte man nicht kompromittieren, wenn man diese Affäre anschnitt? Es war ja sehr reizvoll, Vorhänge und Bettlaken zu lüpfen, am Wann und Wo und Wie und Vorn und Hinten sich zu erlustieren; schon malte sich auf den Gesichtern einzelner Herren eine leicht genierte Lüsternheit. Aber das ganze Römische Reich in diesen Sumpf schauen zu lassen, solche Courage wollte gut überlegt sein. Wer auch mochte wissen, wie viele Familien dahinein verstrickt waren, mit wem allem man sich im Lauf solcher Untersuchung verfeinden konnte. Es war eine kitzlige, eine sehr kitzlige Affäre.

Sehr ferne von solchen Erwägungen erwiderte endlich Johann Daniel Harpprecht, er sei nicht der Meinung, daß diese hohe Kommission genötigt sei, in diesen Dreck und Schweinerei ihre Nase zu stecken. Wohl sei es ein betrübtes Ding, daß so viele christliche Jungfern und Frauen sich dem Juden prostituiert hätten. Aber nur für die Fleischessünden des gewesten Finanzdirektors hätte gewiß weder der Herzog-Administrator noch das Kabinett noch das Parlament ein Sondergericht eingesetzt. Diese Vergehungen des Süß hätten Fürsten und Land nicht gefährdet. Auch sei jenes Kriminalgesetz, das auf die leibliche Vermischung von Jud und Christ den Tod setze, zwar nicht formaliter aufgehoben, aber seit zwei Jahrhunderten praktisch nicht angewandt und somit außer Schwang und Übung. Ferners gebe er zu bedenken, daß nach solchem Gesetz nicht etwan allein der Jud, sondern auch die betroffenen Christinnen Strafe des Verbrennens leiden müßten. Man möge also, eh daß man in dieser Richtung prozediere, sich die Konsequenzen gut überlegen.

Mit kaltem Fanatismus entgegnete der Geheimrat Pflug, er brauche den weisen und strengen Herren nicht zu sagen, daß sie nicht bestellt seien, hier Politik zu treiben, sondern das strenge Recht zu suchen. Hier gelte es nicht, staatsklug zu sein, sondern nur, ohne Ansehen der Person, gerecht.

Die anderen hatten mittlerweile das Für und Gegen weiter überdacht. Sie sahen sich an, erspähten prüfend heimliche Hintergedanken, geheimes Einverständnis einer im andern. Dehnte man die Untersuchung auf die Bettsünden des Juden aus, ei, den Ruf und das Schicksal wie vieler Frauen, wie vieler Familien würde man in die Hand kriegen. Man kannte Namen, es waren große, weitverzweigte Familien. Man konnte sich ja darauf beschränken zu inquirieren, konnte dann das weitere Prozedere dem Herzog-Administrator und dem Kabinett überlassen. Man brauchte ja auch nicht alles zu untersuchen, man hatte weite Vollmachten, konnte nach Belieben die hereinziehen, jene laufen lassen. Jedenfalls bedeutete solche Ausdehnung der Untersuchung für den einzelnen ungeheuren Zuwachs an Macht, Wichtigkeit, Einfluß. Man hing wie eine blitzschwangere Wolke über dem Land, konnte nach Gutdünken treffen und verschonen. Und wie viele Heimlichkeiten wird man zu hören kriegen, die man für den Augenblick gar nicht zu nutzen braucht, die man aber nach Gutdünken später verwerten kann. Wie ein spanisches Inquisitionsgericht war man mächtig und unheimlich, wie der verborgene Rat der Republik Venedig. Das zog an, das juckte, das lockte. Was wird man für verschlossene, vielsagende Gesichter machen können! Wie viele werden einen ängstlich demütig umschleichen, beklommen lauernd, ob man sie packen oder gnädig übersehen wird. Und wie viele pikante Details wird man erfahren, mit denen man einen Freund und Bruder, Frau oder Geliebte vertraulich erfreuen, später einem fröhlichen Zecherkreis Gaudium und Schall und Gelächter bieten kann. Ein leises Schmunzeln zog über das grob joviale Gesicht des Geheimrats Gaisberg, die jüngeren Herren ließen die Mienen schlaff werden und sich entspannen, senkten halb die Lider, blinzelten. Man beschloß nach dem Vorschlag des Herrn von Pflug.

Süß wurde zuerst in einer Plenarsitzung über diesen Punkt vernommen. Die Professoren Schöpf und Harpprecht waren ferngeblieben. Süß war beleibter geworden, weniger straff, der Rücken runder. Sein Gesicht schien breiter, seine braunen Augen waren weniger gewölbt, langsamer, milder. In die Stirne begannen sich über der Nasenwurzel Furchen einzuzacken. Seine Bewegungen waren sachter, es war eine milde und listige Ruhe um ihn.

Als man ihn fragte, ob er fleischlichen Umgang mit Christinnen gehabt habe, schaute er die Richter zunächst verwundert an. Das Gesetz, das solchen Verkehr mit dem Tode bestrafte, war ihm nicht gegenwärtig, so außer Übung war es. Er hielt die Frage für höhnische Neugier, lediglich bestimmt, ihn auf irgendeine Art zu demütigen, wußte nicht, worauf man hinauswollte, schwieg. Der Geheimrat von Gaisberg drängte ungestüm weiter, er solle keine Faxen machen, sondern unverweilt die Menscher herzählen, mit denen er geschlafen habe. Der Jude sah die Herren aufmerksam an, glitt mit wägendem Blick von einem zum andern, sagte sachlich, ohne Spott, er vermöge durchaus nicht einzusehen, was das solle mit Hochverrat und Münzfälschung zu tun haben. Scharf fuhr ihn Herr von Pflug an, das sei ihre, der Richter, Sache, er möge seine jüdische Frechheit zähmen.

Süß stand, wiegte den Kopf, überlegte. Da fiel ihm jener Artikel des Reichskriminalgesetzes ein, den man seit Jahrhunderten nicht ernst genommen, den man ihm vielleicht gelegentlich im Scherz zitiert hatte. Was? Mit dieser alten, rostigen Karnevalswaffe wollte man ihn hinmetzgen, auf solche Narrenweise sollte er sterben? Mit einem war der alte, glänzende Süß wieder da. Er straffte sich, schickte rasche, fliegende Blicke über die Richter, sagte schlank, höhnisch: »Daß ich mit christlichen Frauen geschlafen hab, leugn ich nicht. Wenn die Herren mich darum wollen zum Tod verurteilen, mögen sie es. Das ganze Römische Reich wird lachen. Nicht über mich.« Während die Empörten auf ihn losfuhren, über seine Frechheit keifend, grölend, durcheinanderschreiend, stand Süß kalt, unbewegt. Er sah seine Richter. Den tierischen, triumphierenden Haß, die Lüsternheit, die Grausamkeit, die geblähte Eitelkeit. Das freche, kalte, erpresserische Spiel, das mit den Frauen getrieben werden sollte. Er sah die menschlichen Masken abfallen, die nackten Fratzen darunter, Wölfe und Säue. Doch ehe sein geballter Zorn ausbrach, hatte er ihn schon hinter sich, Erbarmnis überkam ihn mit den Armseligen, Bösartigen da vor ihm. Das alte, milde, listige Lächeln auf den Lippen, sagte er: »Die Namen nenne ich nicht. Da müssen sich die Herren die Damen schon selber zusammensuchen.«

Die Richter, sogar die gutmütigeren und bisher wohlwollenden, ärgerten sich über ihn bis zur Erbitterung. Daß der Jude vielleicht aus Rücksicht auf die Frauen die Namen verschweigen könnte, den Gedanken ließen sie nicht hochkommen in sich selber. Denn es war doch ausgeschlossen, daß sie, die hochmögenden Herren, weniger kavaliersmäßig sein sollten als ein Jud, daß der Jude nobler sein sollte als etwa ein württembergischer Geheimrat. Nein, es war pure Bosheit und Verstocktheit von dem Halunken, eine Art jüdischen Geizes, daß er sie, die ein verbrieftes Recht darauf hatten, nicht an seinen Bettfreuden teilhaben lassen, ihnen die Namen verbergen wollte. Man hatte es sich schon so fein ausgemalt, die Sensation, den Kitzel, alles Drum und Dran, und nun wollte er es einem aus purer Bosheit verhunzen. Aber man wird den Kujonen kleinkriegen, wird dem Saujuden Respekt beibringen vor einem schwäbischen Gerichtshof.

Man hielt ihn härter, brachte ihn aus der Botmäßigkeit des freundlichen Kommandanten von Hohenneuffen. Überführte ihn in strenge Haft auf den Asperg. Hier regierte der Major Glaser, ein pedantischer Mann, dessen Atem Disziplin war. Süß wurde in ein enges, feuchtes Loch gesperrt. Der Tag war hier nicht viel anders als die Nacht, die Kleider stanken in der nassen, modrigen Luft, faulten am Leib. Er erhielt keine Lagerstatt, der Boden war nackt, kalt, bucklig, naß. Er wurde auf Wasser und Brot gesetzt, durch viele Stunden kreuzweis geschlossen. Dicke Ratten trippelten widrig über seinen verrenkten Leib, und er konnte ihnen nicht wehren.

Sein kastanienbraunes Haar verfärbte sich, seine weiche, geschmeidige Haut runzelte sich fahl, und graue, häßliche Stoppeln wuchsen aus den früher so straffen, glatten Wangen. Er ließ wohl seinen Wärtern gegenüber viele böse Worte von sich fließen, Flüche und Verwünschungen, wehrte sich auch körperlich, wenn man ihn krumm schloß. Doch wenn er allein saß, hungernd, die Glieder in Tortur verzerrt, hustend, frierend, dann sahen die Wärter, die durch den Türspalt lauerten, ihn manchmal sonderbar zufrieden den Kopf wiegen, sie hörten wohl auch, wie er vor sich hin sprach, mit häßlicher Stimme vor sich hin summte. Manchmal schien es, als spräche er mit einem zweiten, er nickte jemandem zu, wartete Antworten ab, gab Gegenrede. Es war aber niemand in der Zelle außer den Ratten. Die Wärter stießen sich an, grinsten, pruschten heraus, fingen an, ihn für gestört und irrsinnig zu halten.

Er war aber durchaus nicht irrsinnig. Es war dies. Er hatte Stunden so voll Ruhe, daß er jenseits des Hungers war und jenseits des Frostes und jenseits der ziehenden, zerrenden Schmerzen des gewaltsam verrenkten Körpers. Dann verwandelte sich ihm wohl das Rascheln der Ratten sogar in eine kleine, liebliche Stimme, und er sprach und erhielt Antwort und konnte gut lächeln.

Ein zäher Kampf begann zwischen ihm und dem Major Glaser. Dem Major hatte man gesagt, es komme alles darauf an, den Juden zum Bekenntnis der Weiber zu bringen, mit denen er Umgang gehabt; dann könne man ihn gebührend hinrichten, diese Wanze vor aller Augen zerquetschen. Der Major verhörte also den Juden täglich zwischen neun und zehn Uhr. Süß gestand zu, hohe und niedere Damen profitiert zu haben. Der Major sagte, das genüge nicht, er müsse Namen haben. Süß: er als Offizier müsse doch verstehen, daß er die Namen nicht und nie nennen werde. Der Major: was einem christlichen Offizier anstehe, zieme sich nicht für einen stinkigen Juden, und behandelte den Verstockten immer härter.

Süß legte es durchaus nicht darauf an, heroisch zu erscheinen. Er hatte nach Perioden lächelnder Resignation Wutanfälle und Depressionen. Es überkam ihn etwa solcher Ekel vor seinen übelriechenden, modrigen Kleidern, daß er sie abwarf, nackt herumlief; der Kommandant ließ ihm die Kleider mit Gewalt wieder anlegen. Der Major referierte über jede Regung des Gefangenen pedantisch genau an Herrn von Pflug mit einer erbitterten Sachlichkeit. Berichtete, weilen der Hebräer, die Bestie, von dem Wärter Hofmann Gift nicht habe erhalten können, habe er, sie für giftig ästimierend, sich die Nägel abgebissen und die Nägelabstöße verschluckt. Hätten alle weidlich gelacht über den Blödkopf. Oder, seit vier Tagen habe der Hebräer, die Bestie, nicht eines Kreuzers wert genossen und ihn in Sorge gestellt, er möchte liegenbleiben und krepieren. Heute speise er wieder, so daß er also wieder Hoffnung habe, ihn lebendig zum Galgen schicken zu können.

In arger Schwäche klagte Süß wohl auch, ob man denn nicht genug an seinem Vermögen habe, sondern ihn dazu auf so ruchlose Art ums Leben bringen wolle. Ein andermal meinte er listig, man könne ihm ja gar nichts anhaben, das alles sei eine stupide Farce, er wette fünfzigtausend Gulden, daß er nun bald frei werde. Einmal auch, unter johlender, schenkelschlagender Heiterkeit seiner Wärter, befahl er, drohte, tobte, man solle ihn sofort freilassen, das sei sein gutes Recht, er müsse nach Stuttgart, um nach seiner Haushaltung zu sehen. Der Kommandant kümmerte sich um das alles durchaus nicht, berichtete nur jedes Wort an Herrn von Pflug, verhörte den Delinquenten täglich zwischen neun und zehn Uhr, fragte nach den Namen der Weiber, wobei immer die gleichen Fragen und Antworten fielen, konstatierte die Hartnäckigkeit dieses Schurken und Landverbrechers.

Dann wieder kamen Wochen, in denen Süß still und befriedet war, in der Einsamkeit seiner Zelle zu den nassen Wänden und der modrigen Luft sprach. Er sah seinen Vater, sehr leibhaft. Er stand in der Zelle, im Habit des Kapuziners, die schlanke, elegante Gestalt verfettet und verfallen, aber mit stillen, friedlichen Augen. Und er sprach mit ihm und sie waren sehr einig und er ging Arm in Arm mit ihm, der gestürzte Marschall und der gestürzte Minister, der Bettelmönch und der gefolterte Häftling in seinen stinkenden Lumpen, und sie lächelten sich zu und sie gingen in gutem Gefühl auf und ab in dem engen, feuchten Geviert, und die Ratten raschelten über ihre Füße.

Die Herren von der Kommission untersuchten indessen weiter, stetig und sehr langsam, und sie bezogen ungeheure Diäten.

Marie Auguste, die Herzogin-Witwe, hatte solche Lust an politischer Kabale gewonnen, daß sie sogar ihre Toilette der Politik hintanstellte. Geleitet von ihrem Beichtiger, dem Pater Florian, und dem Bibliothekar Franz Josef Hophan, saß sie als Ate unzähliger Komplikationen, Ränke, Intrigen ziervoll und kokett im Stuttgarter Schloß oder auf ihrem hübschen Witwensitz Teinach und machte Karl Rudolf Schwierigkeiten. Der junge, katzenhaft sanfte, literatische, modisch gekleidete Bibliothekar entwarf, an seinem Schreibtisch phantasierend, die Projekte, der zähere Pater Florian, der Kapuziner, suchte sie auszuführen, und Marie Auguste griff überall mit blinder, liebenswürdiger Geschäftigkeit störend ein. Der geschweifte, geschnörkelte, feine Bibliothekar ging auf in seliger, wortreicher Bewunderung der Herzogin, er verglich sie in zahllosen modischen Gedichten mit allem Schönen zwischen Himmel und Erde, schrieb auch einen ungeheuer umfangreichen Roman, in dem sie als Semiramis ebenso staatsklug und heldisch wie tugendreich und herrlich von Ansehen über die Erde ging. Sie badete wohlgefällig in seiner beredten und eleganten Anbetung, ja sie nahm allmählich viel von seinem Vokabular und seinen Gesten an. Es war nicht ganz klar, war sie ihm fremd, weil er ihre Politik machte, oder machte sie Politik, weil er ihr fremd war. Das ging sehr ineinander.

Den kargen, sachlichen, soldatischen Herzog-Administrator behinderte es, daß er immer wieder Zeit verlieren mußte, um ihre albernen Gespinste zu durchhauen. Er beschloß, sich dieser lästigen Kabale-Macherin ein für allemal zu entledigen. Überall im Land tauchte plötzlich das Gerücht auf, die Herzogin-Witwe wolle nun doch mit Gewalt die Projekte ihres glücklich beseitigten Gatten durchführen, sie habe schon Anstalt gemacht, die Teinacher Kirche zum katholischen Gottesdienst einzurichten. Das Perfide lag darin, daß die Herzogin zwar tausend andere Händel angezettelt hatte, daß aber just an dieser Sache kein wahres Wort war. Es war klotzige Ironie, sie gerade darüber zu Fall zu bringen. Das Volk jedenfalls glaubte die Gerüchte. Wilde Reden, fliegende Blätter, auf der Straße, wenn sie vorüberfuhr, Stummheit, freche Verweigerung des Grußes. Als die Polizei einschritt, etliche, die den Gruß unterließen, verhaftete, wurden, wenn die Kutsche der Herzogin erschien, die Straßen leer, eilig verschwand alles in den Häusern, in den Nebengassen, um nicht grüßen zu müssen. Marie Auguste ertrug das nicht, Pater Florian und der feine Bibliothekar streuten große Summen aus, ihre Straße mit Hochrufern zu bepflanzen. Aber sie merkte, daß die Huldigung gekauft war, und litt doppelt. Pater Florian mußte an den Herzog-Administrator schreiben, die weiße Unschuld Marie Augustens vornehmlich in dem Teinacher Handel entrüstet betonen, die freche Ungebühr der aufgehetzten Bevölkerung mit scharfen Worten brandmarken, Abhilfe heftig und hochfahrend verlangen. Karl Rudolf erwiderte nicht. Marie Auguste, schäumend, ging zu ihm. Er sagte, er habe keine Zeit, Mönchsbriefe zu erwidern. Pater Florian hatte nach der Formel seines Ordens als unwürdiger Kapuziner unterzeichnet. »Soll ich einem Menschen erwidern«, fragte schief, schäbig und grob Karl Rudolf, »der nicht einmal würdig ist, Kapuziner zu sein?« Im übrigen, schloß er, könne er den Untertanen befehlen, nicht ungebührlich gegen die Herzogin zu sein, doch er könne sie nicht zwingen, ihr Liebe und Freude zu bezeigen. Er gebe Ihrer Durchlaucht den kollegialen Rat, sich ähnlich zu führen wie er, dann würden sie die Untertanen ohne weitere Ordre und sicherlich auch ohne Gage mit geziemender Huldigung begrüßen.

Nach dieser Demütigung beschloß die Herzogin, das dumme, undankbare Schwaben zu verlassen, in Brüssel, Regensburg, Wien Hof zu halten und schmollend, ein weiblicher Coriolan, abzuwarten, bis man sie zurückrufe.

Sie verabschiedete sich von Magdalen Sibylle. Die Expeditionsrätin Magdalen Sibylle Riegerin saß ernsthaft und hausbacken vor der ziervollen, beweglich züngelnden, äugenden Herzogin, die, angeregt von der bevorstehenden Abreise, sich doppelt jung und spitzbübisch launisch gab. Magdalen Sibylle saß breit und mächtig da, sie trug ein Kind, einen kleinen Rieger. Sie hatte der Freundin ein pedantisches, hölzern ehrliches Abschiedscarmen mitgebracht, Marie Auguste hörte es mit gebührender Rührung und Dankbarkeit an. Dann jedoch, froh, das notwendige Gravitätische hinter sich zu haben, begann sie sich über die tölpischen, klotzigen Schwaben zu mokieren, die sie nun, Gott sei Dank, bald im Rücken haben wird; über den schiefen, schäbigen, eselhaften Karl Rudolf, über Johann Jaakob Moser, den feuervollen, komischen Rhetor, über alle die grobe, ungehobelte Populace. Nur eines bedauerte sie: daß sie den treuen, guten, kräftigen Remchingen in Haft mußte auf dem Asperg sitzenlassen. Und, ach!, auch ihren netten, amüsanten, galanten Hausjuden. Den quälten sie und schlossen sie krumm, und sie, Marie Auguste, konnte gar nichts für ihn tun. Denn – und sie setzte ihr wichtigstes Gesicht auf – das hätte sie unpopulär gemacht und das hätte ihr lieber Bibliothekar aus politischen Gründen nie erlaubt. Nun hatte ja wahrscheinlich der Jud Kinder geschlachtet und weiß der Himmel was für schwarze Kunst getrieben. Aber er war ein galanter, gut gewachsener Mann und sicher der amüsanteste in diesem ennuyanten Stuttgart, und es war jedenfalls ein Jammer, daß diese plumpen Bestien ihn torturierten und verunstalteten. »Hélas, hélas!« machte sie mit gespitzten Lippen, wie es ihr feiner Bibliothekar zu tun pflegte.

Eine halbe Minute war Schweigen zwischen den Frauen. Beide dachten an Süß. Marie Auguste sah seine heißen, fliegenden Augen, die dringliche Ergebenheit seiner Mienen, seiner Haltung, seine einfühlende, kitzelnde, freche Galanterie. Und sie dehnte sich leicht und lächelte angenehm überrieselt. Magdalen Sibylle saß ganz still, die großen, schönen, fraulichen Hände im Schoß. Im Wald von Hirsau war sie ihm begegnet, da war er der Teufel; dann in Stuttgart hatte er sie nicht genommen, sondern sie dem Tier hingeworfen, dem Herzog; dann hatte er jenen Traum vor sie hingebreitet von Macht und Rausch und sie genommen; dann war er fremd und anders und verkrustet geworden und war höflich zu ihr. Und jetzt saß er auf dem Asperg, und sie quälten ihn und verrenkten ihm die Glieder. Sie aber trug ein Kind, es wird wohl ein braves Kind werden, denn es stammt von einem braven Mann, der sie hemmungslos verehrt. Es wird groß werden in den friedlichen, behaglichen Räumen von Würtigheim und auf Wiesen mit gepflegtem Vieh und zwischen Obstbäumen. Auf dem Asperg wird es nie sitzen, und auch dem Teufel wird es wohl nie begegnen. Vielleicht wird es dafür Verse machen, brave, redliche Verse, die jedem eingehen und manchen tröstlich erheben. Aber dem Teufel wird es wohl nie begegnen.

Marie Auguste unterbrach das erfüllte Schweigen. Daß sie es nicht vergesse, sagte sie mit einem kleinen, verschmitzten Lächeln, sie habe ja ein Abschiedsgeschenk für ihre liebe Magdalen Sibylle, ihre Freundin und gute Vertraute, ein, wie sie hoffe, gut gewähltes und apartes Abschiedspräsent. »Cara mia!« sagte sie. »Cara mia Maddalena Sibilla!« Es sei etwas für ihre schwere Stunde, flüsterte sie geheimnisvoll, rückte ganz nahe an sie heran, streichelte die große Frau. Ihr selber habe es geholfen. Daß es bei ihr so leicht gegangen sei und daß sie jung und ohne Entstellung geblieben sei, das danke sie nur dem, was sie jetzt ihrer lieben Freundin als Präsent verehren wolle. Sie selber, auch wenn sie nicht gerade die Intention habe, ins Kloster zu gehen, werde das Remedium ja kaum mehr benötigen. Und mit süßer, spitzbübischer, gekitzelter Geste zog sie das Amulett hervor, das Etui des Juden, der nun in feuchter, stinkender Zelle saß, kreuzweis geschlossen. Den Pergamentstreifen mit den roten, blockigen, hebräischen Buchstaben, mit den Namen der Engel Senoi, Sansenoi und Semangelof, den beunruhigend krausen Figuren dazwischen, den komisch und bedrohlich hockenden, primitiven Vögeln. Kichernd erzählte sie, wie sie das Etui von Süß bekommen habe, und die kleine, unanständige Geschichte von Lilith, der ersten Frau des Adam, der ihr beim fleischlichen Verkehr nicht so zu Willen war, wie es ihr gefiel. Magdalen Sibylle streckte die Hand nach dem Amulett, ließ sie wieder sinken, nahm es schließlich, unsicher, leicht übergruselt.

Dann verließ Marie Auguste Stuttgart. Sie reiste mit großem Gefolg, in ihrer unmittelbaren Umgebung der Pater Florian und, in einem modischen Reisehabit, der sanfte Bibliothekar. In unendlich vielen Wagen war der Riesenapparat ihrer Garderobe vorausbefördert worden. Die Straße war gesäumt mit Gaffern. Man war, nun die Herzogin abzog, wohlwollend gestimmt, riß gutmütige Witze. Ihre Rendanten und Almoseniers hatten mit Douceurs nicht gespart, die Hochrufe klangen geradezu herzlich.

Auch Johann Jaakob Moser stand an ihrem Weg, in Begleitung seiner Frau. Er war gerührt. »Da zieht sie hin«, sagte er zu seiner Frau. »Glaubt, sie werde der Versuchung nicht länger standhalten können. Flieht lieber aus dem Land. Großer Gott, wie dank ich dir, daß du mich hast stark und beherrscht sein lassen und mein Blut bezähmtest.« Und er drückte fest die Hand seines Weibes.

Als ihre Karosse fertig stand, erschien am Schlag schief, klein, schäbig der Herzog-Administrator, sich zu verabschieden. Ich habe geglaubt, schmunzelte er insgeheim, ich müßte einen Teufel austreiben, aber jetzt gackert mir eine Gans aus dem Haus. Doch Marie Auguste dachte spöttisch überlegen: Was da jetzt zurückbleibt, ist einander wert: Esel reibt sich an Esel. Und unter dem riesigen schwarzen Hut nickte das zarte, pastellfarbene Gesicht mit liebenswürdigem Spott dem alten Soldaten zu, der den Schlag zuwarf, militärisch grüßte, ungewohnt höflich schmunzelte.

Die Untersuchungskommission bekam aus Süß trotz aller Tortur nichts weiter heraus als ein allgemeines Geständnis, ja, er habe mit Christinnen verkehrt. So lud man denn Lakaien vor, Kammerzofen, befragte sie peinlich nach jedem winzigsten Detail. Etliche hatten durch Schlüssellöcher geguckt, andere Schreie, Kreischen, wollüstiges Gestöhn gehört. Das alles, wann, wo, wie lange, wurde gewogen, hin und her besprochen, zerkaut, in die Akten aufgenommen. Bettlaken, Hemden, Nachttöpfe wurden berochen, der Befund in den Protokollen erörtert. So kam man allmählich auf eine lange Liste von Frauen, hohen und niederen, ledigen und verheirateten. Alle wurden sie umständlich ohne Erlaß des minutiösesten Details von den gierigen Richtern ausgeforscht, wann, wie oft, wie lange, welcher Art der Jude sie beschlafen habe. Das wurde dann verzeichnet, schwarz auf weiß, in dreifacher Ausfertigung, bestimmt, als Staatsurkunde im Archiv niedergelegt zu werden.

Das Gericht ordnete das Erscheinen auch der Damen Götz an. Wieder einmal fand sich der junge Geheimrat Götz in der äußersten Verlegenheit. Er hatte es für gut befunden, Mutter und Schwester für eine Weile auf sein Landgut bei Heilbronn zu schicken. Sie hätten können einfach in die Reichsstadt Heilbronn gehen, dann waren sie der herzoglichen Jurisdiktion entzogen; aber dann auch mußte er von seinen Ämtern zurücktreten. Oder sie stellten sich dem Gericht; dann galt es, bevor einer einen schiefen Blick wagte, ihn so kühn und drohend anzuschauen, daß ihm der Spott erstickte. Dies war anstrengend, aufreibend, denn man wird sehr viele, ja fast alle so anschauen müssen. Aber er war tapfer und entschied sich dafür.

An einem strahlenden Sommertag erschienen die Damen vor den Richtern. Auskosteten die Männer die Pikanterie, erst die Mutter, dann die Tochter zu verhören. Sie hatten Mühe, Spannung, Gier, geile Freude an der Situation hinter der gleichmütigen Gravität der Richtermasken zu verstecken. Elisabeth Salomea, die pastellfarbene Lieblichkeit des blonden Gesichts mit den gejagten graublauen Augen durch ein schwarzes, einfaches Kleid gehoben, stand verstört und zitternd. Seltsam war, daß sie, völlig schmucklos sonst, den Ring mit dem Auge des Paradieses trug, gegen das ausdrückliche Verbot ihres Bruders, und die Blicke der Herren kamen nicht los von dem Stein. Sie wand sich unter der unerbittlichen Sachlichkeit, mit der diese Männer, durch den aufreizend wertvollen Stein vor sich selber doppelt gerechtfertigt, ihre zotig neugierigen Fragen stellten. Fröstelnd trotz der blanken Frühsommersonne bog sie sich peinvoll unter der brutalen Deutlichkeit dieser Fragen, von denen sie viele überhaupt nicht verstand, duckte sich, rückte zuckend den Kopf, den schamlosen Blicken ausweichend, bog und streckte krampfig die schmalen, knochigen Finger. Ihre Antworten kamen leise, aus gedrosseltem Kehlkopf, manche unhörbar; man beschied sich nicht, sie mußte sie wiederholen, der schwerhörige Regierungsrat Jäger machte: »Wie? Wie?« und verlangte manches dreimal. Ebenso eingehend dann kam man auf ihre Affäre mit dem Herzog zu sprechen. Vor allem der Geheimrat Pflug ließ nicht locker, er wollte daraus, daß der Jud dem Herzog vorgeschmaust, ein Majestätsverbrechen konstruieren. So krümmte sie sich, jung, blond, lieblich, an dem unsichtbaren Pfahl, und keiner schonte sie, alle drangen sie auf sie ein. Alle jagten sie. Voran der hagere, hochmütige, scharfe Herr von Pflug, der, voll Haß und angewidert wie von Gestank, immer wieder fragte, ob sie sich denn nicht vor dem Geruch des Beschnittenen geekelt habe; sodann die Regierungsräte Faber, Renz, Jäger, Dann, die strebsamen, karrierebeflissenen Beamten in mittleren Jahren, die, gekitzelt von diesem endlich einmal anregenden Amtsgeschäft, immer neue Umstände wissen wollten, erst genießerisch umschreibend, gleich als wollten sie sich sonnen, dann plump eindeutig; die Sekretäre, der Assessor Bardili, der Aktuarius Gabler, die mit übler Galanterie und fatalem Tonfall, wie wohl Männer ihre Gutmütigkeit an einer Hure repräsentativ betätigen, mildernde Umstände beizubringen suchten; der Präsident, der Geheimrat Gaisberg, der mit polternder Stimme auf sie losfuhr, sie solle sich nicht so flennerisch und zimpferlich haben, nun habe sie es getan und gekostet, jetzt solle sie sich nicht stellen wie ein zwölfjähriges Jüngferlein, sondern in Dreideibelsnamen das Maul aufmachen; sie habe ja auch andere Dinge aufmachen können. Mit fliegenden Gliedern lag sie schließlich und zuckenden Schläfen, halbtot vor Schande und Erschöpfung, in einem verdunkelten Zimmer ihres Hauses; ihr Bruder schritt grollend deklamierend auf und ab, seine Worte gingen quälend, doch ohne daß sie ihren Sinn verstand, in ihr Ohr.

Trotzdem die Herren der Untersuchungskommission verschlossene, geheimnisvolle Gesichter machten und sich verschwiegen gaben, drangen von diesen Vernehmungen viele Details in die Stadt, ins Land. Wiederum war das Haus in der Seegasse, das Prunkbett, die Leda mit dem Schwan in den Gedanken aller. Die Namen der Frauen wurden bekannt, sie konnten sich nicht heimlich genug verkriechen, sie wurden verfemt, man rief ihnen kotige Schimpfworte nach, spie sie an, schnitt ihnen die Haare ab. Auch andere Details drangen durch. Eine Welle von Geilheit schlug von den längst vergangenen Nächten des Süß aus über das Herzogtum. Die Männer zoteten in den Wirtshäusern, die Kellnerinnen konnten sich ihrer derben Liebkosungen kaum erwehren, die Huren machten gute Geschäfte. Die Frauen und jungen Mädchen kicherten, entsetzten sich, vieler Mienen wurden dürr, neidisch, bitter, andere atmeten schwerer, Gesicht und Glieder erschlafften. Ein englischer Sammler machte das Angebot, das vielumraunte Prunkbett des Juden um eine ungeheure Summe zu kaufen.

Natürlich hörte auch der junge Michael Koppenhöfer von der Schmach der Demoiselle Elisabeth Salomea Götzin. Die veränderten Läufte hatten den jungen Menschen nach Stuttgart zurückgeführt. Er war in der Verbannung männlicher geworden, er hatte für seine Überzeugung gelitten, galt als Märtyrer, vielen von den Jungen war er Führer und Ideal. Vielleicht wußte der eine oder andere von seinen Kameraden, daß ihm an der Demoiselle Götzin gelegen war, aber sie hatten darum nicht minder starke Worte des Hohns und der Verachtung gegen das Mädchen, sie dachten daran, sie zumindest durch irgendein kräftiges Symbol ihrer Erbitterung und ihres Spottes für alle Zeit zu bestrafen. Niemand hielt es für möglich, daß die Neigung Michael Koppenhöfers, des jungen, festen, tugendhaften Demokraten, eine solche Bloßstellung überdauern könnte. Michael Koppenhöfer sagte auch kein Wort zu ihrer Verteidigung. Doch auch kein Schmähwort, wie die anderen erwarteten. Er schwieg. Er litt. Er war durchaus nicht geneigt, schwächlich zu verzeihen. Aber er sah das reine, helle Gesicht, das blasse Haar und litt. Er bat den Onkel Harpprecht um die Akten. Für den hatte mit der Rückkehr des Jungen gute Zeit begonnen. Bücher, Recht, Demokratie, Vaterland, was und wofür er gelebt hatte, war jetzt lebendig, saß atmend vor ihm in dem jungen Menschen mit den bräunlich kühnen Wangen und den starkblauen Augen. Wie nun die Affäre der Demoiselle Götzin langsam in die Stadt drang, schaute der alte Herr besorgt dem Gewese des Jungen zu, er wußte, daß er schwerblütig war und daß sein Handel mit Elisabeth Salomea nicht von heut auf morgen vernarbte. Er sah das gespannte, mühsam gleichgültige Gesicht des Jungen, überlegte, gab die Akten. Michael begann zu lesen, er konnte es nicht lange, rote Wut stieg hoch in ihm gegen den Herzog, gegen den Juden, gegen die Richter, gegen diese Männer. Es erhellte aus dem Protokoll überklar, daß Süß nicht eben viel Gewalt hatte anwenden müssen. Aber Michael wollte das Mädchen mißbraucht sehen, er sah sie mißbraucht. Er sah sie hell, zart, lieblich vor den rohen, massigen Richtern. Er konnte sich nicht helfen, es war wahrscheinlich sentimental, aber das Herz stieg ihm hoch, wenn er an sie dachte, er konnte sie nicht herausreißen und mit festem Männertritt weitergehen. Er rang sich ab; wenn der alte Harpprecht ihm sanfte, andeutende Fragen stellte, bog er aus. Er suchte sich zusammen, was er alles Kühnes, Freigeistiges über den Unwert der Keuschheit gehört hatte, aber es blieb ihm Theorie, es wurde nicht lebendig, all sein Gefühl bäumte sich dagegen. Er bezwang sich schließlich. Er wird aller praktischen Politik entsagen, wird, und mag man sich noch so sehr über ihn, den Mann der Hure, lustig machen, Elisabeth Salomea zu sich emporheben, sie ehelichen, sie entmakeln, als stiller Wissenschaftler, von ihrer Reue und Dankbarkeit getragen, fern von der Welt, nur mit Büchern und ihr, auf dem Lande leben.

Er fuhr, ohne den alten Harpprecht zu verständigen, in die Nähe von Heilbronn auf das Götzische Landgut, wohin sich die Damen nach ihrer Vernehmung zurückbegeben hatten. Er wurde erst lange nicht vorgelassen. Dann fand er Elisabeth Salomea in raschen, heftigen Vorbereitungen zur Abreise. Er kam nicht dazu, sein großmütiges Anerbieten vorzubringen. Die Demoiselle war auf eine bestürzende Art verändert. Sie fuhr hastig herum zwischen Stapeln von Toilettedingen, Nippes, Büchern, Wäsche, schichtete, schnürte, packte, machte mit bitterer, höhnischer Lustigkeit frivole Konversation. Äußerte erschreckende Prinzipien. Moral sei etwas durchaus Relatives. In Stuttgart sei es vor einem Jahr guter Ton gewesen, höfisch und galant zu sein, jetzt sei das Gegenteil Postulat. Ihrer Meinung nach sei der Jud der beste Mann im Schwäbischen und der einzige Kavalier. Im übrigen gehe sie jetzt ins Ausland, zuerst nach Dresden und Warschau, dann nach Neapel und Paris. Und somit Gott befohlen. Sie winkte ihm mit der Hand, an der in verwirrendem Feuer das Aug des Paradieses strahlte.

Aufgewühlt, mit zerpreßten Lippen, kehrte Michael Koppenhöfer zurück. Später hörte er, Elisabeth Salomea führe an den europäischen Höfen das Leben einer großen, erfolgreichen Abenteurerin. In ihrem Gefolg befand sich als ihr Leibjäger und Vertrauter Otman, der Schwarzbraune.

In die Zelle des Süß trat der Magister Jaakob Polykarp Schober. Es war dunkel und feucht in dem engen Geviert, Moder und Gestank war in der Luft. Süß hockte gebeugt, sein Atem ging beschwerlich, er war verfettet und verfallen, das Gesicht wüst umstoppelt. Der Magister erschrak ins Innerste, als er, zunächst zweifelnd, in dem verlumpten Menschen seinen weiland so großen und mächtigen Herrn erkannte. Ihm selber ging es nicht gut. Er litt darunter, daß er den Finanzdirektor in diesen Zustand gebracht hatte, eigentlich hatte doch der den evangelischen Glauben im Herzogtum gerettet, es drückte den Magister in die Erde, daß er dem Juden Schweigen zugeschworen hatte, er wollte reden, dieses Verfolgten Unschuld offenbaren, ihn befreien. Kopfwiegend hörte Süß seine unbehilflichen, verwirrten Klagen, Bitten, Beteuerungen, sagte schließlich: »Er ist ein guter Mensch, Magister. Es sind nicht viele.« Und nach einer Weile, zwielichtig lächelnd: »Wenn Er es durchaus will, kann Er jetzt reden.« Der Magister küßte ihm die Hand, ging beglückt.

Lief zu den Herren vom Parlament, denen er damals, autorisiert von Süß, das katholische Projekt verraten hatte. Erklärte, setzte auseinander, beteuerte. Erstaunt, verständnislos hörte man ihn an. Glaubte, er wolle eine nachträgliche Entlohnung für seinen damaligen Verrat des Putsches, für die Mitwirkung an seiner Entlarvung. Ziemlich reserviert versprach man ihm, sich für ihn zu verwenden, ließ etwas fallen von Anstellung im Staatsdienst. Wie er eifrig berichtigte, aufklärte, darauf beharrte, er habe mit Willen, ja im Auftrag des Süß die ketzerischen Pläne offenbart, wurde man ungeduldig, sagte, er solle keine Witze machen, glaubte an Erpressungsversuche, an irgendwelche Manöver des Juden. Vor allem der Geheimrat Pflug witterte einen ganz verruchten Verteidigungsplan des Süß und bewirkte, daß man den Magister, als er nicht abließ und die Richter immer wieder mit seinen Märchen behelligte, ins Gefängnis setzte. Da der Jude selber aber nichts in der Richtung der Schoberschen Äußerungen zu seiner Verteidigung vorbrachte, hielt man den Magister schließlich einfach für geistesgestört, für einen harmlosen Verrückten, erklärte seinen Irrsinn aus seiner Pietisterei und Schwarmgeisterei und ließ ihn mit einer scharfen Verwarnung laufen. Erschöpft vom Entsetzen über die Verstrickungen und die Blindheit der Welt, zog sich der Magister nach Hirsau zurück und lebte der Tugend, der alten Katze und der Poesie.

Nach Hirsau auch folgte ihm bald Philipp Heinrich Weißensee. Weißensee hatte auf das Amt des Konsistorialpräsidenten resignieren müssen. Vielleicht hätte der frühere Weißensee sich halten können; der Geheimrat Heinrich Andreas Schütz etwa war im Grund viel enger verstrickt in das katholische Projekt und hatte sich doch, der geschmeidige Mann, unter dem Herzog-Administrator Karl Rudolf so gut behaupten können wie in jeder früheren Regierung, und Weißensee war zumindest ebenso schmiegsam wie er. Aber er war müde und ausgelaugt, er ließ sich fallen mehr, als daß er gestürzt wurde. Magdalen Sibylle war der Vater sehr fremd geworden. Jetzt in seinem Verfall zog er sie an, sie suchte wieder an ihn heranzukommen, sie fand, es sei ihm unrecht geschehen, schrieb Verse, in denen er als nicht durch Schuld, sondern durch Glücksspiel und Menschenhaß gestürzt hingestellt wurde. Doch der alte Weißensee ließ sie nicht an sich heran, er verkrustete sich gegen sie, sie war ihm in ihrer Verbürgerlichung tief zuwider, und ihre Schwangerschaft reizte ihn bis zu leiblichem Ekel. Was hatte er mit dieser dicken Frau gemein? Er fühlte nichts für sie, es kam nichts herüber von ihr zu ihm. Was sollte ihm ein Enkel aus ihr und dem Samen des Immanuel Rieger, des hageren, unansehnlichen, schnurrbärtigen, braven, pedantischen, leergesichtigen Mannes? Nein, nein! Das ging ihn nichts an, rührte ihm nicht im leisesten Herz und Blut auf. Dazu schämte er sich der albernen Dichterei der Tochter. Ein medizinischer und poetischer Freund, der Doktor Daniel Wilhelm Triller, hatte jetzt ihre Gedichte drucken lassen, der Göttinger Pietistenkreis hatte erwirkt, daß der Prorektor der dortigen Universität, der Professor Seldner, in seiner Eigenschaft als kaiserlicher Pfalzgraf Magdalen Sibylle zur gekrönten Dichterin erhob. Armer Kurfürst von Hannover, armer König von England, der für solche Universität und solche Ästhetik, einen solchen Kritikaster und Marsyas verantwortlich war. Nun zog das hin und her mit nüchternen, törichten, gereimten Gratulationen und Dankgedichten, und die Frau, die das trieb, dieweil sie ein Kind trug, diese armselige Poeta laureata, war seine Tochter! Der alte, feine Herr, dessen Leben Takt und Weltgefühl und Erlesenheit und Diplomatie war, schämte sich. Ihn ekelte, er zog sich, arm, kahl, zurück nach Hirsau zu seinem Bibelkommentar.

Unterdes blühte das Land auf. Atmete, reckte sich, nicht mehr von drosselnder Hand gewürgt. Die Preise gingen herunter, senkten sich unter das Niveau der ersten, guten Regierungsjahre Karl Alexanders. Sechs Pfund Brot kosteten neun Kreuzer, der Schoppen alter Wein im Ausschank sechs Kreuzer, das Pfund Ochsen- oder Schweinefleisch fünf Kreuzer, die Maß Bier zwei Kreuzer drei Heller, ein Klafter buchenes Holz zehn, tannenes fünf Gulden. Und wenngleich es sonst innerpolitisch nicht eben zum besten aussah – Pflicht! sagte Karl Rudolf; Gerechtigkeit! Autorität! und war nicht gewillt, dem Parlament gegenüber von seinen fürstlichen Rechten auch nur ein Tipfelchen abzulassen –, so berief er anderseits den klugen, festen, redlichen, umsichtigen Bilfinger ins Kabinett, und solche Sicherung der religiösen und bürgerlichen Freiheiten war zusammen mit der wirtschaftlichen Entspannung Ursach genug zu allgemeiner Zufriedenheit. Man suchte altmodische Bilder her, auf denen sich Karl Rudolf an der Spitze von Truppen in verschollenen Uniformen mit pumphosigen Türken und krummsäbeligen Sarazenen herumschlug, und wo der kleine, schiefe, schäbige Soldat erschien, schrie man »Hoch!«.

Die biedere, sachliche Art des alten Regenten imponierte vor allem dem Landschaftskonsulenten Veit Ludwig Neuffer. Aus einem düster glühenden Anbeter der Macht war er ein ebenso düster schwelender Tyrannenhasser geworden. Jetzt erkannte er, dies wie jenes war nur eine Farbe, eine Fahne, nicht der Kern, nicht das Wesen. Pflicht! Gerechtigkeit! Autorität!, das war der Sinn aller Staatskunst, das Rückgrat guten Regiments. Karl Rudolf fand Gefallen an dem mageren Menschen, an seiner schäbig trotzigen Art, sich zu kleiden, sich zu geben, an seinem dürren Fanatismus. Auch stand er in irgendeinem, freilich wußte man nicht recht welchem, Zusammenhang mit der Erledigung des letzten, schlechten Herzogs und des Juden. Karl Rudolf berief auch ihn ins Kabinett. Da saß nun der trocken glühende Mann und regierte, eisern pflichttreu, eisern gerecht, Autorität fordernd und Autorität gebend.

So war mit viel Wolken und Wind ein Frühjahr vergangen, ein strahlender Frühsommer, ein drückender, vielgewittriger Sommer, jetzt neigte sich ein klarer Herbst zu Ende, erster Frost setzte ein, und Süß stak noch immer zwischen den triefenden, engen Wänden seiner Zelle. Er war jetzt gedrückt und trüb. Es war nicht schwer, Folter zu ertragen, es war vermutlich auch nicht schwer zu sterben, aber es wurde mit jedem Tag schwerere Last, die stinkige Luft dieser Haft zu atmen, das ekle Brot dieser Festung zu schlingen. Sein Rücken war gekrümmt, seine Glieder verzerrt, seine Gelenke wundgescheuert von den Fesseln. Draußen war Luft, draußen war Sonne und Wind, draußen waren Bäume und Felder, Häuser und helle Stimmen, Männer gingen geschäftig und gewichtig, Kinder sprangen, Mädchen schaukelten die Röcke. Oh, einmal einen Mund voll freier, wehender Luft, einmal sieben Schritte machen dürfen statt der fünfeinhalb durch die Zelle. Er schrieb. Er schrieb an den Herzog-Administrator. Der war ein betagter Herr; vielleicht hörte er. Er schrieb ehrerbietig, nicht servil, sachlich. Wies sachlich, ohne Erbitterung, nach, daß er nach den Gesetzen des Herzogtums nicht schuldig sei. Selbst übrigens, wenn er sich da und dort gegen die Ordnungen des Landes verfehlt habe, schütze ihn sein von dem Herzog Karl Alexander ihm zugestelltes Absolutorium, nach dem er nicht könne verantwortlich gemacht werden. Dennoch sei er erbötig, zu ersetzen, was durch seine Tätigkeit jemand an Schaden zugefügt sei. Bereits sei er vierunddreißig Wochen im Arrest und zum Teil geschlossen. Er sei auf der Festung ein alter Mann geworden. Er hoffe daher, der Herzog-Administrator, dem er sich zu Füßen lege, werde für ihn Gnade haben.

Mit einer Spannung wie lange nicht mehr wartete er auf Bescheid. Morgen kam und Abend und wieder ein Tag und noch einer und eine Woche und aber eine Woche. Endlich, bei dem täglichen Verhör zwischen neun und zehn Uhr, nachdem der Major Glaser ihm triumphierend wieder ein paar Frauennamen genannt hatte, die die Kommission ausgeschnüffelt hatte, fragte er geradezu, ob keine Antwort vom Herzog-Administrator eingelaufen sei. Der Major fragte kalt höhnend zurück, ob er im Ernst glaube, daß man den Regenten mit seinen jüdischen Frechheiten molestiere; selbstverständlich habe man seine Expektorationen, als eines verstockten Schelmen und Juden, nicht an den Herzog, sondern nur an die Richter geleitet. An den Geheimrat Pflug berichtete er in seinem täglichen Referat, der Hebräer, die Bestie, sei ganz klein geworden bei diesem Bescheid.

Doch Süß hatte alle Räder der alten Zähigkeit und Tatkraft wieder angedreht. Er wollte atmen, er wollte am Licht sein. Seit den unglücklichen Versuchen des Magisters Schober durfte er keine Besuche mehr empfangen, selbst sein Verteidiger, der brave Lizentiat Mögling, wurde nicht mehr zugelassen. Doch in dem kranken, zerbrochenen Mann war die alte Schlauheit wach geworden. Er bat angemessen um Verstattung eines Geistlichen. Den konnte man nicht wohl verweigern. Den wollte er zur Mittelsperson machen, um durch ihn den alten Regenten zu erreichen. Allein seine Hoffnung war rasch vereitelt; man schickte ihm den Stadtvikar Hoffmann, den er als alten Anhänger der Verfassungspartei und erklärten Gegner kannte. Der Vikar glaubte natürlich, Süß in seiner jetzigen Lage sei leicht zu bekehren, und begann ihm sogleich höhnisch und salbungsvoll ins Gewissen zu reden. Der Jude sah achselzuckend durch diese unglückliche Wahl die letzte Hoffnung hinschwimmen, erwiderte, er denke nicht daran, überzutreten, gestand schlicht und klar, er habe ihn nur rufen lassen, um durch seine Vermittlung Audienz beim Herzog-Vormünder zu erwirken. Der Geistliche schnaubte, dies sei nicht seines Amtes, Süß erwiderte trocken, er danke für seinen Besuch.

Allein der Stadtvikar kam wieder. Er war ein eifriger Herr, er hatte wohl bemerkt, wie übel es um den Körper des Juden stand, und er vermeinte, in einem mürben Körper müsse auch eine mürbe Seele stecken. Süß lächelte, als er ihn wiedersah. Er hörte ihn ruhig an und mit Aufmerksamkeit. Am Ende sagte er, kopfwiegend: »Religion ändern ist Sache für einen freien Menschen und steht nicht wohl an einem Gefangenen.« Doch der Stadtvikar beschied sich nicht. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, diesen Mann, dessen Fama durch das ganze Römische Reich geflogen war, von den Wahrheiten der Augsburgischen Konfession zu überzeugen. Er brachte sogar einen Helfer mit, den Stiftsprediger Johann Konrad Rieger. Die beiden Herren Geistlichen arbeiteten sich ab; Johann Konrad Rieger breitete allen Samt seiner berühmten Rhetorik vor ihn hin, der Stadtvikar sekundierte, verstärkte, eine ganze Missionsgesellschaft konnte nicht mehr und gründlichere Argumente häufen. Aber Süß, als ein verstockter Jud, verharrte dennoch in seinem Irrtum.

Die anderen Gefangenen, die Scheffer, Hallwachs, Bühler, Mez wurden sehr viel glimpflicher behandelt. Sie hatten verwandtschaftliche Beziehungen zu den Familien der Parlamentarier; ihre Prozesse wurden sänftlich geführt; es wurde umgebogen, umschrieben, vertuscht. Ihre, der vereidigten Beamten, Taten, Majestätsverbrechen und Hochverrat nach dem Gesetz, erschienen als immer weniger beträchtliche Vergehen; die Untersuchung wurde zur bloßen Formsache. Zuerst wurde der Hofkanzler von Scheffer freigesprochen, lediglich zur Bezahlung der Untersuchungskosten verurteilt; mit Beibehaltung seines Geheimratstitels und voller Pension zog er nach Tübingen. Dann wurden Bühler und Mez aus der Haft entlassen, am spätesten Hallwachs. Sie wurden des Landes verwiesen. Vorsichtshalber hatten sie von den großen Summen, die sie an den Unternehmungen des Süß verdient, das Wesentliche ins Ausland geschafft. Es wäre nicht not gewesen; man tastete ihren Besitz selbst im Herzoglichen nicht an. Sie zogen nun mit anderen früheren Mitarbeitern des Süß anderthalb Meilen weiter in die freie Reichsstadt Eßlingen, lebten in der freundlichen, angenehmen Stadt in Ruhe von ihren großen Vermögen, ließen sich täglich Besuch aus Stuttgart kommen, verfolgten als behagliche Zuschauer mit wohlwollendem Interesse den Prozeß gegen Süß. Wohl murrte man in Eßlingen zunächst gegen diese neuen Kömmlinge. Aber die veränderten Läufte hatten viele Emigranten wieder zurück ins Herzogliche geführt, man spürte in Eßlingen den finanziellen Ausfall und war am Ende froh, statt ihrer die neuen, viel verzehrenden Flüchtlinge der Gegenpartei innerhalb der Stadtmauern zu wissen. So fühlten sich also die Genossen des Süß bald wohl und warteten ab, bis etwa ein Regierungswechsel sie zurückriefe; der junge Herzog blieb ja nicht ewig unmündig, und Karl Rudolf war ein alter Herr.

Das Vermögen des Süß, soweit es im Herzogtum gegriffen werden konnte, vor allem auch sein Palais, wurde vorläufig beschlagnahmt. Die Liquidierung der weitverzweigten, unübersichtlichen Geschäfte des Finanzdirektors machte ungeheure Schwierigkeiten. Dom Bartelemi Pancorbo mußte knirschend Nicklas Pfäffle zu Rate ziehen. Der blasse, fette Bursche fügte sich auch; doch stellte er in seiner gleichmütigen Art Bedingungen. Vor allem ließ er keine fremde Hand heran an Dinge, mit denen sein Herr in leiblicher Berührung gestanden war. Sowie der Portugiese hier anzutasten wagte, wurde Nicklas Pfäffle sogleich widerspenstig, verwirrte die Fäden der schwebenden Finanzangelegenheiten, übte passive Resistenz, und Dom Bartelemi mußte die dürren Finger wieder wegziehen von den Dingen, die ihm der stille Sekretär nicht erlaubte.

Die Stute Assjadah fiel ab, so gut sie gehalten wurde, seitdem sie nicht mehr die Hand ihres Herrn spürte. Der Major Röder wollte sie haben, und der Portugiese sagte sie ihm zu. Doch Nicklas Pfäffle verhinderte es. Das Angebot des Majors war plötzlich überboten; ehe der Major sich rückäußern konnte, war das edle Tier dem fremden, unbekannten Käufer überlassen worden, und Herr von Röder, dessen Lied: »Halt! oder stirb entweder!« noch immer in aller Munde war, mußte sich dem stets enthusiasmierten Volk auf seinem alten Fuchs zeigen. Die schöne Morgenländische tauchte dann bei der Demoiselle Elisabeth Salomea Götzin auf, wo der Schwarzbraune sie wartete. Später in starker Geldnot mußte die Demoiselle sich ihrer entäußern. Sie verkaufte sie an einen reichen Moslem, und die Stute Assjadah verschwand wieder nach dem Osten, aus dem sie gekommen war.

Auch den Papagei Akiba, der »Ma vie pour mon souverain!« rief und: »Wie geruhen Euer Durchlaucht geschlafen zu haben?«, entzog Nicklas Pfäffle den Händen des gierigen Siegers. Er selber brachte das Bauer mit dem Vogel nach Frankfurt zu Isaak Landauer, der einen dem Nicklas Pfäffle sympathischen Käufer ausfindig gemacht hatte. Der große Finanzmann empfing den Sekretär in dem dumpfen, schlecht gelüfteten Privatkontor seines häßlichen, schiefen, verwinkelten Ghettohauses. In unschöner, unbequemer Haltung saß er in seinem schmierigen Kaftan vor dem fetten, blassen Sekretär, beschaute gehässig den kreischenden Vogel, sprach schließlich: »Ich hab es ihm rechtzeitig gesagt: was braucht ein Jud einen Papagei?« Er strähnte mit den dürren Fingern hastig den rotblonden, verfärbten Ziegenbart, schickte schiefe, eilige, mißmutige Blicke herum. Nicklas Pfäffle schwieg. Aber dann blieben die Männer doch noch einige Stunden zusammen und besprachen sehr vieles, einsilbig und gleichmütig der eine, hastig, jammernd, drohend, anklagend, heftig, dringlich der andere.

Infolge dieser Unterredung machte sowohl Isaak Landauer wie Nicklas Pfäffle einige Reisen. Von Anfang an hatte die Judenheit für den gestürzten Finanzdirektor zu wirken gesucht. Jetzt wurde diese Tätigkeit organisiert. Bei den Ministern und großen Herren an den verschiedensten europäischen Höfen saßen jüdische Bankiers herum, besprachen den württembergischen Prozeß. Legten Gewicht nicht etwa auf die Person des Süß, auch nicht auf die üble Behandlung, die er leiden mußte. Betonten vielmehr, wie willkürlich und gegen römisches und deutsches Recht sowohl wie gegen die Landesgesetze dieser Prozeß geführt werde. Die vereidigten Beamten ließ man laufen, gegen den Privatmann und Nichtuntertan inquirierte man wegen Verrats an der Verfassung. Ein herzogliches Reskript war da, das ihn vor allen Verfolgungen durch Gesetzesakt schützte. Man setzte sich über diese höchste, heiligste Unterschrift hinweg und prozessierte um Majestätsverbrechen. War das Justiz? Hatte man Rechtssicherheiten, Garantien in einem solchen Staat? Konnte man verhandeln mit einer solchen Regierung, Geschäfte mit ihr abschließen? Gegen einen einzigen Gesetzesparagraphen hatte Süß sich vergangen. Er hatte – ei du Kriminalverbrechen! – mit christlichen Frauen geschlafen. Darum konfiszierte man sein Vermögen. Hieß das Recht? Hieß das Justiz? Konnte man solch einem Staat Kredit geben?

So ging es an allen Höfen. Man hänselte die württembergischen Gesandten, mokierte sich vor allem über die profitliche Staatsmoral, die das Schäferstündchen eines Privatmannes zur Deckung des Staatsdefizits ausnützte. Auch daß die Richter den Prozeß nur hinschleppten, um an den Diäten fett zu werden, wurde überall festgestellt. An jedem Beischlaf des Juden, hieß es, schnüffelten die Herren so lange herum, bis der einzelne seine tausend Taler verdient hätte.

Johann Daniel Harpprecht erschien bei dem Herzog-Administrator, ihm über den Verlauf der Untersuchung zu referieren. Er sprach frank und geradezu. Wenn das so kontinuiere, verliere die schwäbische Justiz jedes Prestige. Man habe sich jetzt zur Genüge blamiert. Er brauche nicht zu betonen, daß er den Juden für eine schädliche Wanze ästimiere. Aber es gehe nicht an, einen Menschen in einem modernen Rechtsstaat derart physisch zu torturieren. Man möge endlich die Argumente zusammenstellen und zu Deduktion und Spruch schreiten. Es sei ein Skandal, daß man die anderen größeren Schelme habe aus dem Netz gelassen. Er begreife die politische Notwendigkeit solcher Milde; aber dann solle man sich wenigstens nicht durch überflüssig barbarisches Traktament des Juden weiter bloßstellen. Vornehmlich die Geschichte mit den Frauenzimmern, wie sie die Kommission betreibe, sei eine landesverderberische Sauerei. Der alte Jurist redete sich rot und heiß und gebrauchte starke Worte. Man müßte, gehe man nach dem nackten und längst entwesten Buchstaben des Gesetzes, auch die Weiber verbrennen. Daran denke niemand. Was also in Dreiteufelsnamen der ganze Handel solle. Es würden jede Nacht hunderttausend Weiber im Herzogtum beschlafen. Im Bett, eine Frau beschlafend, gefährde kein Jud und kein Ketzer die Sicherheit des Staates, der Religion und der Verfassung. Es wäre gut gewesen, der Jud hätte sich all seine Tag und Nächte nicht anders betätigt. Übrigens wolle ihm der Jud, der sich keinen Namen entpressen lasse, nobler erscheinen als seine eifrigen Richter. Und man solle endlich aus dieser Sauerei Hände und Nasen herauslassen. Finster hörte der alte Regent zu. Harpprecht polterte nur klar und hart heraus, was er selber schon dumpf gespürt hatte. Pflicht! Gerechtigkeit! Und er gab Weisung, die Inquisition wegen der Weiber einzustellen. Etliche von den Frauen ließ er stäupen, die übliche Fuhre Mist durch die Stadt schleifen.

Den Süß befahl er nicht weichlich, aber als einen Menschen zu behandeln. Pedantisch genau befolgte der Major Glaser diese Instruktion. Nicht weichlich. Die Zelle des Juden maß nach wie vor nur fünfundeinenhalben Schritt, er wurde jeden zweiten Tag geschlossen, erhielt Fleisch nur des Sonntags, durfte nur einfachste Kleider tragen. Als einen Menschen. Das Verhör zwischen neun und zehn Uhr fiel fort, er bekam einen Tag über den andern Waschwasser, seine Zelle hatte Holzboden und eine Pritsche zum Schlafen.

Auf die Herren der Kommission wirkte die Ordre des Regenten. Auch wurde ihnen, trotzdem sie große Worte machten, bei der immer lauteren, klug geschürten Mißbilligung des Auslands unbehaglich. Es war wirklich nicht so ganz einfach, eine Verurteilung formal einwandfrei zu begründen. Daß Harpprecht und Schöpf nicht zustimmen würden, war gewiß; aber auch andere, vornehmlich die jüngeren Herren, wurden unsicher, bekamen Angst, sich zu blamieren. Der Lizentiat Mögling, der ehrliche Advokat, blühte auf. Er hatte das Gefühl, als sei die sanfte Behandlung des Süß und der Stimmungsumschwung einzelner Richter sein Werk. Zwar wurde ihm der Zutritt zu seinem Klienten immer noch erschwert, auch die Protokolle der Zeugenverhöre wurden ihm geradezu verweigert, so daß seine Defensionsschrift sachlich nicht recht weiter gedieh; aber formal feilte er sie immer schärfer durch, er setzte die Worte immer glatter und schöner, so daß er sich beruhigt sagen konnte, er verdiene seine Diäten mit Schweiß und redlich.

Voll Sorge und Erbitterung sah der Geheimrat Pflug, daß durch jüdische Machinationen die Verurteilung und Vernichtung des Süß ernstlich gefährdet und in Frage gestellt war. Sein trockener Fanatismus empörte sich, fraß ihm am Herzen, jagte ihn herum. Das Ziel war zu nahe gewesen; wäre es ihm nun doch entglitten, er hätte es nicht überwunden. Hager, bitter, besessen von seinem Zweck, keinem andern Argument zugänglich, saß er herum bei den Parlamentariern, die er als grimmigste Feinde des Süß kannte. Beriet unermüdlich mit Dom Bartelemi Pancorbo. Sparte nicht Geld, nicht Mühe. Flugschriften erschienen gegen den Juden, die Erbitterung des Volkes, daß die Mez, Bühler, Hallwachs so glimpflich davongekommen waren, wurde in ihrer ganzen Wucht gegen Süß gelenkt. Das Gerücht wurde ausgesprengt, auch Süß solle demnächst entlassen werden. Die Richter, von denen man annahm, sie würden milder sprechen, selbst der hochangesehene Harpprecht, wurden von allen Seiten bearbeitet, schließlich sogar im Wirtshaus belästigt. Es kam zu Rottierungen, Demonstrationen. »Der Jud muß hängen!« gaben Herr von Pflug und Dom Bartelemi die Weisung aus. »Der Jud muß hängen!« wetterte es im Parlament, von den Kanzeln. »Der Jud muß hängen!« brüllte das Volk, sangen es in einem eingängigen, gassenhauerischen Rhythmus die Buben, konstatierten schwerfällig und überzeugt in den einsamsten Höfen die Bauern.

Durch solchen Druck erreichte Herr von Pflug, daß einzelne von den Richtern aus der Kommission ausschieden. An ihre Stelle traten persönliche Feinde des Süß, deren Votum sicher in seinem Sinn ausfallen mußte. Die früheren Minister Forstner und Negendank, die Süß gestürzt hatte; der unter Karl Alexander überall von Süß gehemmte kalte, glatte Ehrgeizling Andreas Heinrich von Schütz; ja, Herr von Pflug drehte es, daß auch der junge Geheimrat von Götz in das Kollegium berufen wurde, an dem Verderber von Mutter und Schwester Wut und Rache auszutoben.

Diese alle waren nun zu Richtern des Süß bestellt. In ihnen brannte Haß viel heißer als Geldgier, das Volk drängte auf endliches Urteil, und sie waren sehr bereit, diesem Drängen stattzugeben. Sie beschleunigten die Untersuchung. Die Anklageakte des Regierungsrats Philipp Heinrich Jäger legte dem Süß ungefähr alles zur Last, was unter Karl Alexander Übles geschehen war, auch Dinge, von denen er unmöglich Kenntnis gehabt haben konnte. Machte ihn als einzigen voll verantwortlich für die Amtshandlungen sämtlicher Staatsbeamten von den Mitgliedern des Kabinetts bis zum letzten Subalternen. Die wackere Verteidigungsschrift des braven Lizentiaten Mögling wurde kaum gelesen. Haßblind setzten sich die Richter über den klaren Tatbestand hinweg, streiften in der Urteilsbegründung kaum die zahllosen Einwände, die sich gegen ihre Kompetenz erhoben und eine gesetzmäßige Verurteilung des Süß ausschlossen.

Sie erkannten den Juden für schuldig zahlloser Verbrechen: erstens gegen den Herzog, zweitens gegen dessen getreue Räte, Minister und die ganze Nation, die er bei dem Fürsten angeschwärzt und in Ungnade und Mißtrauen gesetzt habe; drittens und hauptsächlich gegen das Parlament und die Verfassung – hier mußten sehr viele Verordnungen des Süß herhalten, vor allem auch jenes Reskript wegen der Kaminfeger; und viertens gegen Gemeinden und einzelne Untertanen. Sie erkannten ihn für einen Majestätsverbrecher, Staatsverbrecher, Münzverbrecher, Hochverräter und Landverderber.

Aus diesen Gründen verurteilte das zur Untersuchung seiner Verbrechen eingesetzte Sondergericht den Josef Süß Oppenheimer, Juden und gewesten Finanzdirektor, zum Tod durch den Strang. Diese Hinrichtungsart wurde dem Angeklagten zuerkannt, weil sie ohnedies die gewöhnliche Strafe war bei verschiedenen dem Angeklagten zur Last gelegten Verbrechen; insonders aber, weil sie die Mitte hielt zwischen der gegen Majestätsverbrecher üblichen Strafe der Vierteilung, zwischen der gegen Falschmünzer zu verhängenden Strafe des Lebendigverbranntwerdens und zwischen der ehrenhafteren Hinrichtung durch das Schwert.

Die Herren gingen geschwellt herum. Sie hatten das Urteil in eine Form gekleidet, die einigermaßen passabel aussah. Mochten pedantische Juristen daran mäkeln, sie wußten, das Volk und sein gesundes Empfinden war auf ihrer Seite.

Unbehaglich und mit unruhigen Gliedern saß der Darmstädter Finanzienrat und Kabinettsfaktor Baron Tauffenberger in seinem mit Akten überstapelten Salon. Ihm gegenüber saß, ratlos, schön und töricht seine Mutter, Michaele Süß. Seit sieben Jahren, seitdem er nicht mehr Nathan Süß Oppenheimer hieß, sondern sich zum Baron Ludwig Philipp Tauffenberger hatte taufen lassen, hatte sie ihn nicht mehr besucht. Die schöne alte Dame, ihr leeres Leben mit Toilettensorgen, Korrespondenz, Theater, Protektion junger Künstler, Reisen, Geselligkeit ausfüllend, hatte Darmstadt, den Sitz ihres älteren Sohnes, immer ängstlich gemieden. Sie hätte es begriffen, wenn der jüngere, wenn Josef sich zum Glauben seines Vaters bekannt hätte, ja, sie hätte es vielleicht gern gesehen, sie suchte mit zärtlichem Schuldbewußtsein die Züge des Vaters in ihm. Aber daß Nathan, der Sohn des Kantors Isaschar Süßkind, zum Christentum übertrat, schien ihr ein großer Frevel, der sich gewiß einmal bitter rächen mußte. Scheu betrachtete sie sein Glück und seinen Aufstieg. Daß jetzt Josef, der fromme, edle, der den Jecheskel Seligmann Freudenthal gerettet hatte, der trotz Lockung und unerhörter Versuchung Jude geblieben war, daß der jetzt so grausam stürzen mußte, während der Frevler und Getaufte üppig und in Blüte stand, machte sie vollends wirr und hilflos.

Michaele Süß hatte ihren Mann, den Kantor Isaschar, auf ihre Art geliebt. Er war ein netter, betulicher Mann gewesen und ein großer Sänger und Komödiant und vor allem auch ein sanfter, bequemer Mann, der viel auf Reisen war und auf die bösen Dinge, die man ihm über seine Frau zutrug, nicht hörte, sondern immer gleich zärtlich und voll dankbarer Bewunderung ihrer Schönheit blieb. Sie hatte auch sonst in ihrem langen, reichen, leichten Leben viele Männer gern gehabt. Aber jene Monate mit dem strahlenden Georg Eberhard Heydersdorff waren doch die Krone ihrer Tage gewesen. Wie er in Schmach und Jämmerlichkeit stürzte, war dies der echteste Schmerz, den sie all ihrer Tage gespürt hatte. Sie hatte dann in ihrem Sohn Josef den Vater wiedererlebt, atemlos und schwach vor Bewunderung hatte sie seinen beglückenden Aufstieg mit angeschaut, alle Jugend und Süßigkeit, allen Glanz und Rausch liebte sie in dem Sohn, sie schwamm selig in hemmungslos gläubigem Aufblick zu seinem Genie, seinem Stern, seiner Herrlichkeit. Und nun wiederholte sich in ihm noch viel grausiger Wendung und Sturz des Vaters.

Sie hatte erst geglaubt, die Haft des Sohnes sei eine List, eine Vermummung, aus der er bald um so glänzender auftauchen werde. Aber jetzt mußte sie sehen, daß es gräßlicher Ernst war. Das Urteil war zwar noch nicht bekannt, aber immer drohender und bestimmter hieß es im ganzen Reich, daß die Württemberger ihren gewesten Finanzienrat in den allernächsten Wochen würden aufhenken. Das Liedchen: »Der Jud muß hängen!« wurde nicht nur am Neckar, sondern auch den ganzen Rhein hinauf, hinunter gepfiffen. Sie brachte den grausigen Gassenhauer nicht aus dem Ohr, wurde immer fahriger, ratloser. Machte ungeschickte Versuche, dem Sohn zu helfen, schrieb törichte Bittbriefe in die Welt hinein. Wenn wenigstens Rabbi Gabriel von sich hätte hören lassen! Sie schrieb einen drängenden, ratlosen Brief an ihn; aber sie wußte nicht, ob er ihn erreichte; denn sie hatte nur die Vermutung, keine Gewißheit, er sei in Holland. Sie schrieb ihrer verheirateten Tochter nach Wien, schrieb mit ihrer flatterigen, marklosen Schrift eine ganze Reihe von Briefen an die Wiener Oppenheimers, entschloß sich endlich zu diesem Äußersten, suchte ihren ältesten Sohn auf, den Getauften. Da saß sie nun, den Mund ängstlich, erwartungsvoll halb offen, schaute mit gescheuchten, törichten Augen auf ihn. »Was soll man tun? Was soll man tun?« jammerte sie.

Der Baron Tauffenberger rückte unbehaglich auf seinem Sessel, kramte nervös und mechanisch in seinen Papieren, zappelte herum. Er war ein fast kleiner, etwas zu feister Herr, die Haut hell und sehr gepflegt, die raschen Augen traten zu groß aus dem Kopf heraus, die Finger krümmten sich dick, weiß und beweglich, er war unelegant trotz reicher und sorgfältiger Kleidung. Sein Christentum war ihm unbehaglich bei aller gespielten Freigeisterei. Er mokierte sich gern über jüdische Sitte und jüdisches Wesen, verkehrte auch mit dem Helmstedter Professor Karl Anton und dem als Prediger nach Stuttgart versetzten früheren Propst von Denkendorf Johann Friedrich Paulus, die, beide frühere Juden, jetzt konvertiert und fanatische Verkünder der christlichen Heilslehren waren. Aber er neidete es dem jüngeren Bruder aus tiefster Seele, daß der es soviel weiter hatte bringen können als er selber und doch Jude bleiben. Auch hatte Josef ihn als einen Getauften unverhohlen und reichlich Spott und Verachtung spüren lassen, ihm, als sie einmal am kurpfälzischen Hof zusammengetroffen waren, kalt den Rücken gekehrt. Stießen sie geschäftlich aufeinander, so begannen sie ohne Vergleichsversuch zu prozessieren, und es reizte den Getauften bis aufs Blut, daß der Bruder voll Widerwillen und Ekel auch in importanten Affären es verschmähte, mit ihm persönlich zusammenzutreffen, und lieber, Verluste nicht scheuend, alles durch Agenten erledigen ließ. Der Sturz und die Schmach des Bruders traf ihn tief, auch wurde er darüber gehöhnt und gehänselt; gleichwohl konnte er, wie jetzt die Mutter ratlos vor ihm saß, für den geliebteren und bewunderten Sohn bei ihm zu betteln, ein leises Triumphgefühl nicht niederdrücken. »Da habt Ihr’s, da habt Ihr’s!« sagte er mehrmals mit seiner hohen, hellen Stimme. »Es geht nicht, daß einer da hinaufsteigt und Jud bleibt. Es schickt sich auch nicht«, eiferte er, heftig gestikulierend, »es soll nicht sein, es ist gegen göttliche Ordnung und menschlichen Fug.«

Aber Michaele ging nicht darauf ein. »Was soll man tun? Was soll man tun?« jammerte sie, immer im gleichen Ton.

Der feiste Mann stand auf, lief nervös herum, legte einen Stapel Akten von einer Seite des Tisches auf die andere. »Es gibt nur ein Mittel«, sagte er endlich. Da Michaele ihn gespannt und hoffend anschaute, nahm er Anlauf und warf es wie gleichmütig und selbstverständlich hin: »Er muß sich taufen lassen.«

Michaele überlegte. Dann sagte sie mutlos: »Er wird es nicht tun.« Und, nach einer Weile: »Rabbi Gabriel erlaubt es nicht.«

Der Sohn höhnte nach: »Erlaubt es nicht! Mir hat er es auch nicht erlaubt. Hätte ich ihm gefolgt, wäre ich jetzt vielleicht so weit wie jener. Erlaubt es nicht! Erlaubt es nicht!« ärgerte er sich, mit seiner hellen Stimme vor sich hin schimpfend, stark gestikulierend. »Was anderes weiß ich nicht«, sagte er plötzlich, mit einem Ruck stehenbleibend. Und da er die Mutter mutlos und erloschen sitzen sah, fügte er noch hinzu: »Ich will gern tun, was ich kann, von seinem Vermögen zu halten, was zu halten ist. Obzwar er es nicht um mich verdient hat. Was man in Heidelberg, Frankfurt, Mannheim für ihn retten kann, ich will die Hand darauf legen. Ich will auch mit Geld nicht sparen, Versuche zu machen in Stuttgart bei der Regierung, bei den Richtern, im Gefängnis. Aber wenn er sich nicht taufen läßt«, schloß er achselzuckend, »wird es schwerlich gut ablaufen.« Michaele setzte, als sie ging, die Füße schwerer als beim Kommen.

In Stuttgart wirkte unterdessen stetig und gleichmütig Nicklas Pfäffle für seinen Herrn. Große Gelder flossen an Regierungsstellen, Gerichtsbeamte. Da der Herzog-Administrator angeordnet hatte, daß peinlich genau untersucht werden müsse, was unzweifelbarer, legitim erworbener Besitz des Süß sei und daß dieser Besitz nicht angetastet werden dürfe, hatte der Sekretär reiche Mittel zur Verfügung. Kostbare Vasen, Teppiche, Steine gingen aus dem Haus des Süß in der Form von Andenken an einflußreiche Parlamentarier, Hof- und Staatsbeamte, die offiziell mit der Affäre nichts zu tun hatten, mittelbar um so mehr wirken konnten.

Durch alle Judenheit aber lief es, raunte es, schwoll an: »Er hat gerettet den Reb Jecheskel Seligmann Freudenthal, er hat seine Hand ausgestreckt und geschützt die Juden am Neckar und am Rhein. Jetzt haben sie sich zusammengetan, Edom und alle Frevler, und sind hergefallen über ihn. Er war ihnen zu groß, er hat ihnen zuviel Glanz gestrahlt über die Judenheit. Sind sie hergefallen über ihn wie Haman der Frevler und wollen ihn totschlagen. Helft und rettet den Reb Josef Süß Oppenheimer, der ein guter Jud war und seine Hand gehalten hat, wie er in Glanz war, zu gutem Schutz über alle Judenheit.« Da wurde gebetet und gefastet in den Bethäusern, da wurde gewirkt in den Kanzleien und Kabinetten, da wurde Geld gesammelt, viel Geld, immer mehr Geld, ungeheures Geld, alles zu Händen des Reb Isaak Simon Landauer, Hoffaktors und guten Juden, der bestellt war von den Rabbinern und den Gemeinden, zu schützen mit aller Kraft und Schlauheit und Vermögen den gefallenen Reb Josef Süß Oppenheimer, Retter Israels aus großer Not. Isaak Landauer aber hatte einen Plan, keinen besonders schlauen Plan, aber kühn und geradezu, für den Fall, daß sie es wirklich wagen sollten, den Süß zu verurteilen. Zu diesem Plan brauchte er Geld, märchenhaft viel Geld. Und märchenhaft viel Geld strömte in seine Kassen, blankes Gold, Wechsel, Verschreibungen, der Geringe gab gering, der Große gab groß, aus allen Ländern, aus allen Gemeinden, von den Juden aller Welt.

Johann Daniel Harpprecht saß in seiner Bibliothek, arbeitend. Der Herzog-Administrator hatte den Spruch der Kommission nicht bestätigt, hatte befohlen, ihn vorläufig geheimzuhalten, und hatte ihm, dem Harpprecht, das Urteil nebst dem ganzen zugehörigen riesigen Aktenmaterial zur Begutachtung schicken lassen.

Ingrimmig saß der alte Herr. Dies war der vierte Winter, seitdem er das Judizium über den Fall des Jecheskel Seligmann hatte abgegeben, den Stinkjuden wider Willen hatte retten müssen. Die nagenden Würmer hatten abgelassen jetzt und sich verkrochen; die obenan aufringelten, die fetten, gemästeten, der Herzog und der Jud, davon war der eine tot, der andere lag machtlos und unterm Fuß, und es stand bei ihm, zuzutreten. Ei, sie hatten gut genagt seither. Er, Harpprecht, war ein fester Mann gewesen, jetzt war er ein Greis durch sie, und viel Land und Wald und Acker und Menschenleib und Menschenseel war übel zerfressen und vertan durch sie, und der Junge, der Michael, war angenagt, und die sanfte, liebliche Elisabeth Salomea Götzin war eine Hur geworden durch sie. Und wenn auch jetzt das Gewürm gescheucht ist und sich verkrochen hat, es wird wiederkommen, wie es immer wiedergekommen ist, und das alte Gebäu wird vollends zusammenstürzen. Und nun also saß er und sollte judizieren, ob es rechtens sei, diesen nagenden und schädigenden Wurm zu zertreten.

Bilfinger kam. Er war jetzt der eigentliche Regent im Land, ein treuer, uneitler Regent, der arbeitete wie ein Roß und mit Erfolg. Die Arbeit schlug ihm gut an, der schwere, vollblütige Herr sah, der Gleichaltrige, zehn Jahre jünger aus als Harpprecht.

»Wie steht’s, Herr Bruder?« fragte er, den Blick auf dem Wust von Akten. »Ist es das gleiche«, setzte er langsam, unbehaglich hinzu, »wie damals bei dem Juden Jecheskel?«

Draußen schneite es weich und dick. Es war sehr still im Zimmer. Von nebenan hörte man den Schritt des jungen Michael Koppenhöfer. »Ja, Herr Bruder«, sagte Harpprecht. »Es ist das gleiche. Er ist formal, nach dem Buchstaben des Kriminalrechts, nicht genug überwiesen.«

Bilfinger nahm von den Papieren, zerteilte sie, schichtete sie wieder zusammen. »Ist nicht zu bedenken, Herr Bruder«, sagte er nach einer Weile, »daß er sich im Verfassungsstaat Württemberg so viel Ausnahmen permittiert hat vom Verfassungsmäßigen, daß er es sich muß gefallen lassen, wenn man jetzt auch mit ihm eine Ausnahm macht von der Rechtsform?«

»Das ist zu bedenken«, erwiderte Harpprecht. »Aber nicht von mir. Vom Herzog.«

Indessen war auch der Prozeß gegen den General Remchingen seinem Ende entgegengeführt worden. Der Freiherr, Jesuit und österreichische Oberst wurde nicht so glimpflich behandelt wie die eingesessenen Hallwachs, Mez, Bühler, Lamprechts, Scheffer, er hatte keine Verwandten in der Kanzlei sitzen, er hatte alles Zivil als Federfuchser, alles Nichtadelige, besonders das Parlament, stets nur als Kanaillen, Rotüre, Populace traktiert und war sehr verhaßt. Man inquirierte also scharf und trug Material zusammen, das, wenn nicht zum Todesurteil, so zumindest zur Bestrafung mit lebenslänglicher Festungshaft genügte.

Nun war aber um diese Zeit der Vergleich Karl Rudolfs mit der Herzogin-Witwe über die Vormundschaft bis in alle Details fertiggestellt worden, auf eine für den Regenten sehr günstige Art, und unterlag zugleich mit dem Regierungsreglement für die Administrationszeit der Prüfung und Bestätigung der kaiserlichen Kanzlei. In solchem Augenblick durch harte Bestrafung des Katholiken und Österreichers den Wiener Hof zu reizen schien höchst inopportun. So beschloß man, die Urteilsfällung hinauszuschieben, und ließ den General einstweilen frei, gegen Handtreue und Ehrenwort. Remchingen brach, wie erwartet, schnurstracks sein Ehrenwort, floh außer Landes, trat unter dem General Schulenburg in venezianische Dienste. Wurde in Kontumaz verurteilt, tat in mehreren Klageschriften an Kaiser und Reich, besonders in der »Innocentia Remchingiana vindicata« oder »Notgedrungenen Ehrenrettung«, erbitterten Einspruch. Spie noch durch Jahre Kot, Gift und Galle gegen Württemberg.

Das Volk war empört über Remchingens Flucht. Nun waren alle Bluthunde ungestraft entkommen, saßen in Eßlingen, anderthalb Meilen entfernt, lachten sich den Buckel voll oder machten gar noch wie Remchingen Stank und Diffikultäten. Den einzigen Juden hatte man noch. Aber der wenigstens sollte büßen. Wieder waren die Geheimräte Pflug und Pancorbo vornean, schürten, zahlten Demonstrationen. Wilder, heftiger, drohender, drängender ging es durch das Land: »Der Jud muß hängen!«

So lagen die Dinge, als Harpprecht dem Herzog-Administrator sein Gutachten abstattete. Der rechtliche, wahrhaftige Mann ließ sein Urteil nicht trüben durch den Haß gegen den Juden, nicht durch das tobende Volk, das laut und wie mit einer Stimme nach dem Tod des Juden brüllte, nicht durch die Gunst oder Mißgunst des Kabinetts und des Parlaments. Der Rechtslehrer urteilte: Die auf Verfassung und Amt vereidigten Räte und Minister, welche die angeklagten Befehle und Verordnungen signiert hatten, müßten prozessiert und gestraft werden, nicht der unvereidigte, in keinem Staatsamt stehende Ausländer. Jene seien nach römischem und deutschem Recht des Todes schuldig, dieser nicht. Einen einzigen Punkt ausgenommen, den fleischlichen Verkehr mit Christinnen. Und dieser Punkt könne aus mancherlei Ursach ernsthaft nicht herangezogen werden, auch habe ihn die Kommission gar nicht erst in ihre Entscheidungsgründe aufgenommen. Er kam zum Schluß, auf Grund der bestehenden Gesetze des Römischen Reichs und des Herzogtums könne Inquisit zum Tod nicht verurteilt werden; man solle ihm seinen Raub, soweit er erwiesen sei, abnehmen und ihn des Landes verbannen.

Klein, schäbig, schief saß der eisgraue, verwitterte Herzog und hörte aufmerksam dem schweren, treuen, sachlichen Mann zu. »Er vermeint also«, sagte er schließlich, »die Kommission hat den Juden mehr als den Schelmen verurteilt?« – »Ja«, sagte Harpprecht. Draußen pfiff einer den Gassenhauer: »Der Jud muß hängen!« Der alte Regent hielt die Lippen hart geschlossen. »Ich wollte, ich könnte tun nach Seinem Rat«, sagte er endlich. Damit entließ er den Juristen.

Andern Tages unterzeichnete er das Todesurteil. »Besser, der Jud wird zu Unrecht erwürgt«, sagte er, »als er bleibt zu Recht leben und das Land gärt weiter.« Auch sagte er: »Das ist ein seltenes Ereignis, daß ein Jud für Christenschelmen die Zeche zahlt.«

Durch die kahlen, dumpfen Gänge der Festung Hohenasperg, über verwinkelte Treppen, ein mürrischer Korporal mit einem ungefügen Schlüsselbund voran, flatterte Michaele Süß. Der alten, verzärtelten Dame beschleunigte sich das Herz, Mauern überall und klobige Waffen, ein großer, beklemmender, bedrohlicher Apparat. Der Korporal stapfte mit raschen Schritten voraus, sie konnte nur mit Mühe folgen und kam außer Atem, aber sie wagte nichts zu sagen. Endlich knarrte rasselnd eine niedrige, häßliche Tür auf. Sie schaute, schnaufend, in ein kahles Geviert, da saß auf einer Pritsche ein alter Mann, den Rücken krumm, schlaff und übel verfettet, mit schmutzigweißem, ungepflegtem Bart, und summte und döste vor sich hin mit einem abwesenden, törichten Lächeln. Sie sagte zaghaft zu dem Korporal: »Nicht zu dem, guter Mann; ich will zu Josef Süß.« Der Korporal sagte übellaunig: »Das ist doch der Jud, Frau.«

Angefüllt von tiefem, kältendem Schrecken, schaute Michaele Süß auf den eingesperrten Mann, der ihr jetzt langsam das Gesicht zuwandte, die braunen, blinzelnden, etwas entzündeten Augen. Der Korporal verschloß draußen umständlich rasselnd die Türe. Das ihr Sohn! Der häßliche, verwahrloste Mann, älter als sie, ihr strahlender Sohn! Oh, es war nichts mehr, nicht die leiseste Spur mehr war vom Heydersdorff in ihm, viel eher, merkte sie mit Grauen und Neugier, glich er trotz des Bartes dem Rabbi Gabriel. Sie beschaute ihn scheu, voll Grauen, sie spürte nichts von dem früheren fressenden, schmerzhaften Mitleid, sie spürte, wie er aus ihr glitt, wie sie leer wurde, es war ein fremder, schmutziger, verwahrloster Mensch, mit dem man, versteht sich!, Bedauern haben mußte, denn er war eingesperrt und es ging ihm schlecht und zudem war er ein Jud. Aber sie hatte sich schon wieder verkapselt, und ihr Inneres war umkrustet. Sie stand, eine fremde, elegante Dame, verlegen vor dem ungepflegten, in den Schmutz gerutschten Mann.

Als sie dann redeten, fand sie kein echtes Wort mehr. Er sprach mild zu ihr, mit einer leichten, überlegenen, fast scherzenden Güte, und streichelte ihre sehr weißen Hände. Sie weinte ein weniges. Aber keines seiner Worte drang zu ihr. Sie dachte immer nur: Dieser alte Mann ihr Sohn! und war umkrustet. Sie war eigentlich froh, als die Stunde um war, die sie bei ihm bleiben durfte, und der mißlaunige Korporal sie wieder abholte. Umschaute sie noch einmal aus der Tür voll scheuen Grauens nach dem alten Mann, der ihr Sohn war. Als sie dann die Festung verließ, war sie es, die den Schritt schneller nahm.

Bald darauf tauchte ein sanfter, stiller, trauriger Herr in die Zelle, neigte sich, war sehr höflich. Stille, große, weiße Hände, melancholische, fließende Augen in dem fleischigen, vom Rasieren bläulichen Gesicht. Er sprach leise, mit einer beredten, traurigen Stimme. Es war Johann Friedrich Paulus, früher Propst von Denkendorf, jetzt Prediger in Stuttgart, der Konvertit. Der Stadtvikar Hoffmann hatte ihn geschickt. Der Stadtvikar hätte zwar gern selber der Kirche diesen Verstockten gewonnen; aber er sah, hier war wenig Hoffnung, und lieber sollte ein anderer das Werk vollenden, als daß es gar nicht geschah. Der frühere Jude konnte sich vielleicht tiefer hineinschmiegen, hineintasten, hineinschmuggeln in die verhärtete Seele, sie aufzuweichen.

Still und höflich saß der Konvertit an der Wand, trotz seiner Fülle merkwürdig schattenhaft. Er ließ seine traurigen Mandelaugen herumgehen in der kahlen Zelle. Sprach leise, konversierend. »Dies alles sind nur Kleider und Masken«, sagte er. »Ihr Palais, diese Zelle, Ihr Judentum, mein Christentum: Kleider, Masken. Es ist nur dies, daß einer den Strom Gott in sich spürt. Es ist dies, daß einer ein Schein im Schein, ein Wort im Wort ist. Ich habe Sie steigen sehen, Herr Finanzdirektor, ich habe Sie in Ihrem großen Glanz gesehen und hoch im Blau. Ich bin ein Freund und Schüler des Rabbi Jonathan Eybeschütz, der wieder ein Freund ist Ihres Onkels, des Rabbi Gabriel. Ich hatte oft Lust, mit Ihnen zu reden, Herr Finanzdirektor. Nicht weil Sie mich vielleicht verachteten um meine Taufe und mein Christentum und weil ich Sie besser belehren wollte. Wie ich Sie jetzt sehe«, schloß er, und seine streichelnde Stimme war noch leiser, und er war fast erschüttert, »sehe ich sehr genau, daß ich um unser beider willen gekommen bin, für mich nicht weniger als für Sie.«

»Sie sind doch gekommen«, sagte Süß, »um mich zum Christentum zu bekehren? Der Stadtvikar Hoffmann hat Sie doch geschickt? Ist’s nicht so, ehrwürdiger Herr? Oder soll ich Sie Rabbi Unser Lehrer nennen?« lächelte er. Der stille Mann an der Wand sagte: »Es ist nicht schwer und es ist billig, zu trotzen und ein Märtyrer zu sein. Viele verachten mich, weil ich Christ wurde. Aber die Beschmutzung tut nicht weh. Ich rühre mich nicht und wische sie nicht weg. Denn ich hab es getan nicht um Brot und Kleid und Titel, nur für die Idee, für mein Gesetz. Sie haben Ihr Gesetz, Sie haben Ihre Idee. Ist es nicht vielleicht richtiger, dies Gesetz fertig zu leben, dieses Licht nicht verlöschen zu lassen, auch wenn man statt des Kleides Judentum das Kleid Christentum anziehen muß? In solcher Zelle zu leben« – sein sanfter, fließender Blick glitt über die kahlen Wände – »ist sicher hart. Aber wer sagt Ihnen, Exzellenz, daß alles, was hart ist, Verdienst ist?«

»Sie haben eine sehr liebenswürdige Manier, ehrwürdiger Herr«, sagte Süß, »die Heilslehren Ihrer Religion in eine komfortable Hülle zu verpacken. Ein weiches Bett, ein warmes Zimmer, Rehrücken, alter Madeirasekt sind unbestreitbare, eingängige, angenehme Wahrheiten; auch was Sie da sagen vom Wort im Wort und vom Schein im Schein, klingt gut und passabel. Aber sehen Sie, ich habe mein Palais in der Seegasse mit dieser Zelle vertauscht. Man hat mich in jedem Stück angezweifelt; aber nie hat jemand gezweifelt, daß ich ein tüchtiger Kaufmann bin. Ich muß also wohl« – er lächelte listig – »zu solchem Tausch meine guten Gründe gehabt haben. Sagen Sie dem Herrn Stadtvikar«, schloß er heiter und verbindlich, »und sagen Sie sich selbst: Sie haben getan und geredet, was einem Menschen möglich ist. Es liegt an mir, es liegt wirklich nur an mir.«

Allein, summte er, lächelte, wiegte den Kopf. Dachte an Michaele. Die liebe, törichte Frau. Er fühlte sich schwach, schwerlos, angenehm müde. Wie ein Kranker, wohlig im Bett, Genesung spürend. So saß er, dösend, auf der Pritsche. Da, ganz unvermutet, kam das Kind zu ihm, sprach zu ihm. Es war noch viel kleiner und jünger geworden, es war klein wie eine Puppe, und es setzte sich ihm merkwürdigerweise auf die Schulter und zupfte ihn zärtlich am Bart, und es sagte: »Dummer Vater! Dummer Vater!« Sie blieb etwa eine halbe Stunde. Sie sprach auch, aber lauter ganz kleine Dinge, sie sprach mit der Wichtigkeit und dem Ernst der Kinder, von den Tulpen, von der Auslegung einer Stelle im Hohenlied, von dem Futter seines neuen Rockes. Als sie fort war, atmete Süß wie ein Schlafender, den Mund halb auf, glücklich. So gerufen hatte er sie, und sie war nicht gekommen, mit wilden, heißen, törichten Taten sie gerufen, ein grelles, ungeheures Totenopfer ihr angezündet, und sie war nicht gekommen. Was für ein Narr war er gewesen! Sie war ja so klein, ein so kleiner, sanfter, befriedeter Mensch war sie. Was denn hätte sie sollen mit seinen großen, grellen, schreienden Taten und Opfern anfangen. Aber jetzt, nun er ganz still war und sich schon beschieden hatte, sie nicht mehr zu sehen, nun auf einmal kam sie, und es war ein großes, anfüllendes Geschenk. Er ging die Zelle auf und nieder, seine fünfeinhalb Schritte, und die Zelle war reich und voll und die ganze Welt, und er streckte die Arme aus und lachte, allein und jungenhaft und laut und glücklich, daß der Wächter draußen auf dem Gang aufschrak und mißtrauisch hereinspähte.

Der Major Glaser eröffnete dem Süß, er solle sich bereit halten, anderen Tages in der Frühe nach Stuttgart zu fahren. Der Major wußte, der Jude fahre nach Stuttgart, sein Todesurteil zu hören, aber er hatte nicht Ordre, ihm das zu sagen, und hielt es nicht für not. Süß, im linden Nachschmack der Worte Naemis, glaubte, es gehe in sein Haus zurück und in die Freiheit. Er hielt es nicht im entferntesten für möglich, man werde ihm gegen den klaren Buchstaben des Rechts ans Leben gehen. Gutmütig scherzend und in schwerloser Laune sagte er, er freue sich des schönen Wetters für die Fahrt, fragte den Kommandanten, ob er ihm, der ein großer Schnupfer war, eine Tabaksdose zum Andenken übersenden dürfe. Gemessen lehnte der Major ab; doch gestattete er, das harte Gesicht kaum vor dem Grinsen wahrend, daß Süß einen Galarock für die Fahrt anlege. Auch vor dem Wärter erging sich Süß in leichten, schwingenden Worten über Rückkehr und Freiheit und gab dem erstaunten Mann, der nicht wußte, was tun, eine Anweisung auf eine ansehnliche Summe als Trinkgeld.

Wie er sich des Abends auf seine Pritsche legte, fand er sich ganz entlastet und selig. Er wird jetzt irgendwohin ins Ausland gehen, an einen See oder ans Meer, in ein winziges, stilles Nest und ganz klein und mild leuchtend vor sich hin leben. Ein paar Bücher oder auch keine. Und bald wird er leicht und leise verklingen und unter den Menschen wird nur ein dummer, lauter Hall bleiben von seinem Leben und von seinem Gewese und der wird im Guten und im Bösen ganz anders sein und sehr verzerrt; bald aber wird auch sein Name gar nichts mehr bedeuten, wird nichts sein als etliche Buchstaben ohne Sinn; schließlich werden auch die verklungen und es wird große, reine Stille sein und nur mehr ein Schweben und sachtes Leuchten in der Oberen Welt.

Anderen Morgens, es war ein frostklarer, weißer, sonniger Tag, fuhr Süß bei guter Zeit. Trotz der Kälte im offenen Wagen. Er hockte schwach und froh im Fond, ein Wärter neben ihm, einer ihm gegenüber. Starke Wache auch zu beiden Seiten, vor, hinter dem Wagen. Er wollte erst mit seinen Begleitern sprechen, aber die hatten strenge Weisung, nicht zu erwidern. Ihn grämte es nicht. Er lehnte zurück, atmete, kostete, schluckte, sah, tastete nach den vielen dumpfen Monaten die reine, freie, beglückende Gottesluft. Blick, nicht an Mauer stoßend, wie köstlich! Bäume, sanfter, herrlich reiner Schnee darauf. Weites, weißes Feld, weich und zärtlich in den Himmel mündend. Weite Welt, feine, herrliche, reine, weite Welt! Luft! Freie, liebe Luft! Sie griff ihn an, den Eingesperrten, Entwöhnten, er lehnte ganz schlaff und schwach und erschöpft; aber er war selig. Er hatte den roten, goldbestickten Taffetrock mit dem zottigen Samtfutter aufgeschlagen, selbst das grüne, goldbordierte Kamisol der Luft geöffnet. Die Beine in den braunen Beinkleidern zitterten und waren sehr matt. Den Samthut und die auf dem schlecht gepflegten Haar übelsitzende Perücke hatte er abgenommen, er ließ wohlig den Luftzug der raschen Fahrt durch das weiße Haar streichen.

Aber in Stuttgart am Tor stand dick der Pöbel, wartete. Schrie, johlte, als die Kutsche kam, schmiß Steine, Kot. Stürzte sich auf den Juden, riß ihn heraus, stauchte ihn hin und her, zerrte ihn an dem weißen Bart. Hob Kinder hoch: »Lugt her! Da ist er, der Schinder, Judas, Mörder, Saujud!« Spuckte, trat. Zerrissen der feine, rote Rock, in Kot getreten der artige Samthut. Die aus dem »Blauen Bock« sagten in wehmütiger, sentimentaler Genugtuung: »Das hätte der selige Konditor Benz noch erleben sollen.« Nur mit Mühe gelang es der Eskorte, den Juden herauszuhauen. Mit fliegender Brust saß er jetzt im Wagen, das graue Gesicht zerschrundet, Rinnsel von Speichel und Blut langsam in den zerrauften Bart rinnend, Soldaten um ihn, drohend gegen die Menge, die Hand an der Waffe.

Das Geschrei und Gejohle drang auch in das große Zimmer, in dem Magdalen Sibylle lag, ein Kind des Immanuel Rieger gebärend. Der Expeditionsrat hätte gern gehabt, daß sie das Kind auf dem Land, auf ihrer schönen Besitzung Würtigheim, zur Welt bringe; aber da sie aus unerklärlichen Gründen durchaus in der Stadt bleiben wollte, fügte er sich. Da lag sie nun in Wehen, eine geschwätzige, betuliche Hebamme watschelte geschäftig herum, der Expeditionsrat ging blaß, dienstwillig, demütig und schwitzend ab und zu. Trotzdem sie breit schien und gebärtüchtig, war die Entbindung nicht so leicht, wie man gehofft hatte. Sie lag, schrie, stemmte sich, preßte, keuchte. Jetzt war eine Minute der Erleichterung gekommen, zurückgesunken, fahl, schweißüberdeckt bebte sie, immer wieder überschauert. In die Stille klang das Johlen der Volksmenge herein, ganz deutlich hörte man den Gassenhauer: »Der Jud muß hängen!« Der Expeditionsrat rieb sich die Hände. »Ein gutes Omen«, sagte er, »daß das Kind im Zeichen der Gerechtigkeit geboren wird.« Aber sie schaute voll Haß auf den hageren, unscheinbaren Mann und betete unhörbar, ohne Reim und Schnörkelei, dringlich und stark: »Herrgott im Himmel! Laß es nicht werden wie der da! Herrgott im Himmel! Du hast mir soviel verhunzt. Das gib mir, das wenigstens gib mir, daß mein Kind nicht werde wie der da!«

Süß wurde inzwischen auf das Rathaus gebracht. Der große Saal war gestopft mit Zuschauern, das Richterkollegium war versammelt, feierlich in schwarzen Mänteln. Der Jude sah das jovial brutale, massige Gesicht des Gaisberg, das feine, höhnische, hakennasige des Schütz, das harte, grausame, hagere des Pflug, das des jungen Götz sogar, sonst leer, fad, rosig, schien belebt von Haß, Rache, Triumph. Da erkannte er, daß er nicht zur Freiheit, sondern zum Tod bestimmt war. Und da begann auch schon der Präsident, der Geheimrat Gaisberg, mit seiner harten, dröhnenden, ungefügen Stimme, stark schwäbelnd, das Urteil zu verlesen. Süß hörte in monotonem Wechsel Landschaden, Plünderung, Beraubung, Hochverrat, Majestätsverbrechen, Staatsverbrechen und den Schluß, daß er mit dem Strang vom Leben zum Tod solle hingerichtet werden. Er sah in dem überheizten Saal die dichtgedrängte Menge, die großen Herren alle, die Minister, Parlamentarier, Generäle, dünstend, schwitzend, voll Hochgefühl. Er sah die kleinen, eklen Tiere, da das große sich hingestreckt hatte in freiwilliger Wehrlosigkeit, darüber herfallen, sich festbeißen, geschäftig übereinanderwimmeln, daß ja ein jeder noch sinnlos die Zähne hineinschlage in die verendende Masse Lebens. Da war plötzlich wieder in ihm der frühere Süß. Er bäumte hoch, er begann zu reden, der alte, verfallene Mann, überdeckt mit dem Blut und dem Kot der Mißhandlungen, richtete sich hoch, erwiderte seinen Richtern. Kratzte, eiskalt sachlich, schneidend, dem Urteil die pathetische Tünche herunter. Lautlos hörte man seine ersten Sätze an. Dann aber, rot angelaufen über solche Frechheit, stürzten sich, nicht anders als das Volk, die vornehmen Herren auf ihn, brüllend, mit den flachen Degen auf ihn einschlagend, und wie dem Volk konnte die Eskorte auch ihnen nur mit Mühe den Delinquenten entreißen. Wie er abgeführt wurde, über den tosenden Saal hin, packten ihn die harten, höhnischen Worte des Geheimrats Pflug im Nacken: »Er hat gesagt, Jud, höher als der Galgen ist, könnten wir Ihn nicht hängen. Wir werden’s Ihm weisen.«

Mit Eilwagen fuhren von Hamburg her Rabbi Gabriel Oppenheimer van Straaten und Rabbi Jonathan Eybeschütz. Die beiden Männer sprachen auf der langen Fahrt nur das Nötigste. Sie sahen die schaukelnden Schenkel der Pferde, oft gewechselt, braune, schwarze, weiße; sie sahen das vorübergleitende Land, flaches Feld, Berg, Wald, Fluß, Weinhügel. Aber nur ihre Augen waren darauf, nicht ihr Sinn. Meilenstein um Meilenstein tauchte auf, verschwand. Sie sahen nur das Antlitz, dem sie zustrebten, daß sie es erreichten, ehe es verlösche.

Rabbi Gabriel saß wie immer massigen, mißlaunigen Gesichts, den dicklichen Leib in großbürgerlichen, etwas altmodischen Kleidern. Rabbi Jonathan, in seidigem Kaftan, mild leuchtend aus dem weißen, milchig fließenden Bart das listige, nicht alte Antlitz, war nach lüstern weltlichen Wochen wieder zurückgetaucht in Versunkenheit, Erkenntnis, Gott. Die letzte Zeit und Wandlung des Süß zog ihn mit grausamer Lockung an. Es war nicht das Schauspiel dieses Untergangs. Er und Rabbi Gabriel, ohne daß sie darüber gesprochen hätten, wußten, spürten die merkwürdige Verquickung von Freiwilligkeit und Zwang in diesem Ende. Die Entsprechung, das heimliche Band, der Fluß von jenem zu ihnen hatte nun auch den Rabbi Jonathan ergriffen, hob ihn, senkte ihn. Er stak in jenem, eine stärkste Wurzel von ihm starb in jenem. So fuhren die beiden Männer, gradaus das Aug, dem Tode des Josef Süß zu, wolkig schwer brütete um sie die Erkenntnis ihrer Bindung.

Auch auf anderen Straßen zog es nach Stuttgart, zu Süß, um Süß. Mit viel Wache und Bedeckung kam der Hoffaktor Isaak Simon Landauer; er hatte, trotzdem er sehr schlicht zu reisen pflegte, mit sich drei jüdische Kassiere und außer der gemieteten Polizeiwache ein paar sehr kräftige, verlässige Burschen. Es kamen der kleine, welke Jaakob Josua Falk, Rabbiner von Frankfurt, und der dicke, hitzige Rabbiner von Fürth. Die drei Männer trafen in der Nähe von Stuttgart zusammen, sie waren beim Herzog Vormünder zur Audienz gemeldet, und es war Sorge getragen, daß sie bei der Einfahrt nicht belästigt wurden.

Karl Rudolf empfing sie in Gegenwart Bilfingers und Pancorbos. Es sagte der Rabbiner von Fürth: »Euer Durchlaucht sind hochberühmt in der ganzen Welt um der Gerechtigkeit willen. Ist es gerecht, daß die Räuber sitzen ringsum in Reutlingen, in Eßlingen und lachen und fressen ihren Raub und daß der Jud, der weniger schuld ist vor dem Gesetz, muß zahlen ihre Zeche? Euer Durchlaucht sind gerecht gegen hoch und nieder, gegen Schwaben und Österreicher, gegen Katholik und Protestant. Seien Sie gerecht auch gegen Ihren Juden.« Es sagte der Rabbiner von Frankfurt: »Reb Josef Süß Oppenheimer ist gestanden vornean unter den Juden, er ist geboren aus einer alten, angesehenen jüdischen Familie. Was er getan hat, wird man sagen, hat die ganze Jüdischheit getan. Wenn man ihn wird aufhenken und die Christen, seine Konsorten, gehen frei herum, wird man sagen, die Judenheit ist schuld an allem, und es wird kommen neuer Haß und Verfolgung und Bosheit über die ganze Judenheit. Euer Durchlaucht sind ein gnädiger Herr und Fürst, Euer Durchlaucht wissen, daß der Jud ist nicht mehr schuld und nicht weniger als seine Genossen, die Christen. Es kommt Ärgernis in die Welt und neue Heimsuchung über die Getretenen und Gedrückten, wenn er wird anders gerichtet als die anderen. Wir bitten Euer Durchlaucht aus peinvollem und demütigem Herzen um Gnade für den einen und die ganze Judenheit.«

Es sagte Isaak Landauer: »Was getan hat der Reb Josef Süß Oppenheimer, hat gewirkt, daß Schaden hat genommen an Geld und Gut der und jener und das Land Württemberg. Was gesündigt ist durch Geld, kann gutgemacht werden durch Geld. Wir haben uns zusammengetan, alle Judenheit, und haben zusammengesteuert Geld, viel Geld, ungeheures Geld. Und so sind wir gekommen und bitten Euer Durchlaucht: lassen Sie ledig den Reb Josef Süß Oppenheimer. Wir wollen machen gut, was er kann haben gesündigt, wir wollen es machen gut und aber gut, daß das Land Württemberg kann kommen in Flor und Gedeih. Wir bieten an, wenn Sie lassen ledig den Juden Josef Süß Oppenheimer, eine freiwillige Buße von fünfmalhunderttausend Doppeldukaten.«

Schweigend hatten der Herzog-Administrator und die beiden Minister die Juden angehört. Bei dem Angebot des Isaak Landauer zuckten sie auf. Das Angebot war eine Frechheit. Aber die Summe war so ungeheuerlich, soviel größer als der höchste Betrag, der jemals im Budget des Herzogtums gestanden war, daß man diesem Angebot nicht wohl mit so simplen Worten wie Unverschämtheit und Arroganz beikommen konnte. Fünfmalhunderttausend Golddukaten! Den Josef Süß loskaufen wollen war eine Frechheit und eine Dummheit. Den Josef Süß mit einer so ungeheuren Summe loskaufen wollen war ein kühnes, geniales Projekt, das in seiner naiven Großartigkeit verblüffte. Damit auch hatte Isaak Landauer gerechnet, darauf baute er seinen Plan. Er war von Anfang an überzeugt, mit Listen, mit Argumenten, mit Pochen auf Gerechtigkeit, mit Flehen um Gnade war hier nichts auszurichten. Vielleicht wirkte so plumpes, naives Geradezu. Für Geld konnte man alles in der Welt kaufen: Boden und Vieh, Berg, Fluß und Wald, Kaiser und Papst, Kabinette und Parlamente. Warum sollte man nicht können abkaufen diesen schwäbischen Gojims ihre Rachgier und ihr albernes Gerede von Justiz. Sie war, seine dumme, schiefe Gerechtigkeit, diesem Herzog teuer. Gut, so bezahlte man sie eben teuer. Fünfmalhunderttausend Golddukaten. Damit konnte man zur Not ein kleines Herzogtum kaufen: es war ein guter Preis für ein Stückchen sogenannter Justiz.

Ehe die Herren sich von ihrer Überraschung erholen konnten, sprach Isaak Landauer weiter. »Wir zahlen nicht in Wechsel, wir zahlen nicht in Verschreibungen. Wir zahlen Gold, blankes Gold. Golddukaten, runde, unbeschnittene.« Er schlurfte zur Tür, er winkte seinen Leuten mit einem kopfwiegenden, überlegenen, Anstaunung einfordernden Lächeln. In stummer, gespannter Bannung schauten der Regent und seine Minister auf die eintretenden Burschen. Die trugen Säcke, kleine, sehr schwere Säcke, sie entleerten sie auf einen Wink des schmuddeligen Mannes. Heraus floß Gold, gemünztes Gold aller Währungen, rotes Gold, spanisches, afrikanisches, türkisches, aus allen Zonen. Häufte sich, türmte sich, hörte nicht auf, wuchs mannshoch, breitete sich dick wie eine ausgewachsene Eiche, ein Berg von Gold. Stumm schaute der kleine, schiefe, schäbige Herzog, der massige Bilfinger. Dom Bartelemi Pancorbo reckte den entfleischten, blauroten Kopf aus der verschollenen Krause, seine dürren Finger streckten sich, krümmten sich, konnten nicht länger widerstehen, streichelten das Gold, das liebe Gold, badeten in dem endlosen Fluß. Isaak Landauer stand daneben in seinem schmierigen Kaftan, die Schläfenlöckchen ungekämmt, in unschöner, unselbstverständlicher Haltung, lächelte fatal, hielt den einen Oberarm eng am Körper, die Handfläche hochgehoben nach außen, mit der andern Hand strähnte er den rotblonden, verfärbten Ziegenbart.

Das Angebot Isaak Landauers wurde abgelehnt. Aber die Worte der alten Männer klangen nach in dem Herzog. Er war ungerecht! Er war gezwungen, vor seinem Sterben ungerecht zu sein. Nicht nur gegen den Süß, auch gegen die anderen Juden. Besitz packte ihn nicht, Gold rührte ihn nicht an. Aber diese Leute hingen daran. Gold, Gold! war ihr Leben und ihr Sinn. Und dennoch hatten sie freiwillig so ungeheuer reich gesteuert und gezinst, sein Unrecht abzuwenden. Seine Pflicht war klar: er mußte vornächst seinen Schwaben recht, also den Juden unrecht tun. Aber dieser Berg von Gold drückte ihn, scheuerte ihn wund.

In einem dringlichen Brief bat er den Herzog Karl Friedrich von Württemberg-Öls um seinen Besuch. Er war gewillt, diesem die Vormundschaft und Regentschaft abzutreten. Er hatte sein Bestes getan, das Land aus dem ärgsten Dreck herauszuziehen, er hatte es wohl erreicht. Gerechtigkeit! hatte er gesagt. Pflicht! Autorität! Aber es war nicht möglich, in diesen Läuften das Regiment nach solchen Prinzipien zu führen. Er hatte müssen zusehen, wie man die todeswürdigen Schelmen hatte laufen lassen, jetzt mußte er zusehen, wie man den Juden, trotzdem es unrecht war, aufhenkte. Er war einundsiebzig Jahre alt und müde. Er fühlte seine Leibes- und Geisteskräfte merklich schwinden. Es sei ihm beschwerlich, schrieb er dem Kaiser, erklärte er den Geheimräten, dem völligen Detail einer so verwirrten als wichtigen Regierung nach eigenem Wunsche genugsam abzuwarten. Er sehnte sich, der schiefe, schäbige, ehrliche Soldat, nach der bäuerlichen Ruhe seines kleinen, umblühten Neuenstadt, nach einem stillen Sterben.

Nachdem Süß sich bei der Verkündung des Urteils so frech und widerspenstig erwiesen hatte, wurde er im Herrenhaus, wo er bis zur Vollstreckung des Urteils bleiben sollte, kreuzweis geschlossen und ohne Nahrung den Tag über in ein kahles, vollkommen leeres Gelaß gesperrt. Er war, nach dem Ausbruch vor den Richtern, sogleich wieder still geworden, beschaute, lächelnd, kopfwiegend, Blut und Schmutz, mit dem er überdeckt war. Hockte, in den Fesseln verkrümmt, auf dem Boden an der Wand des leeren, nicht dunklen Raumes. Haman, der Minister des Ahasver, besuchte ihn; er hatte die Hakennase des Herrn von Pflug und seine harte, hochmütige Stimme. Goliath kam, haute ihn mit der Bewegung des Herrn von Gaisberg plump, jovial und schmerzhaft kräftig auf die Schulter. Andere kamen. Freundlichere, machten halb schwäbisch, halb hebräisch Konversation. Der treue Elieser-Pfäffle war da, Abraham feilschte in Gestalt Johann Daniel Harpprechts mit dem Herrn um Gerechtigkeit. Und die Menschen kamen, die zu Naemi gekommen waren. Jesaja, der Prophet, knurrte und sänftete mit der übellaunigen Stimme des Oheims. An dem reichen Haar hing Absalom im Geäst; doch das Haar war weiß und das Gesicht darunter sein eigenes.

Aber da kläffte es hinein, schepperte, bellte. Ach, das war wieder der Stadtvikar Hoffmann, die Segnungen der Augsburgischen Konfession anpreisend. Ja, der eifrige Seelsorger war wieder zur Stelle, er glaubte, jetzt sei der Braten weich und mürb genug. Doch Süß war durchaus nicht gestimmt, heute mit ihm zu disputieren. Diese grobe Stimme verdrängte die sanfteren um ihn. Still und ohne Hohn bat er, von ihm abzustehen; er wolle gern, lasse man nur von ihm ab, der evangelischen Kirche zehntausend Taler für ihre Bemühungen testamentarisch verschreiben. Hoffnungslos zog sich der ergrimmte Geistliche zurück.

Anderer, unerwarteter Besuch kam. Ein feiner, älterer Herr, Windhundschädel, schnuppernd, ganz unauffällig und sehr vornehm gekleidet. Der Vater der Herzogin Witwe, der alte Fürst Thurn und Taxis. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen, es hatte ihn aus den Niederlanden hergetrieben. So ging das nicht, so konnte man den Süß nicht sterben lassen. Einen Mann, den seine Tochter besucht, dem er selbst die Hand gegeben hatte. Einen Mann, von dem die katholische Kirche zwar nicht offiziell, doch so, daß alle Höfe es wußten, Dienste angenommen hatte. Nein, nein, es vertrug sich nicht mit seinen Anschauungen von Höflichkeit, er hatte eine zu gute Kinderstube, das geschehen zu lassen. Ein Mann, mit dem man so weit gegangen war, war ein Herr. Takt, Anstand, Manierlichkeit gebot, daß man ihn nicht mit dem Galgen in Berührung kommen ließ. Der alte Fürst fuhr selber nach Stuttgart, inkognito, als ein Baron Neuhoff. Er hatte den Juden nie leiden mögen, er hatte es ihm nie vergessen, daß der gelbe Salon von Monbijou seinen gelben Frack, die weinrote Livree seiner Dienerschaft seinen weinroten Rock geschlagen hatte. Es wäre geschmacklos gewesen, sich jetzt an den üblen Umständen des andern zu freuen; immerhin, er brauchte jetzt nicht Angst zu haben, daß das Milieu des Juden die eigene Repräsentation beschatte.

Er kam mit einem festen Plan. Er wird dem Süß zur Flucht helfen, wie er den Remchingen hat fliehen lassen. Es wird im Fall des Juden nicht so einfach gehen; aber er war entschlossen, Geld und Mühe nicht zu sparen. Vielleicht wird es am Ende sogar diesem unsympathischen, alten, bäurischen Regenten und Töffel angenehm sein, den Juden auf diese Art loszuwerden. Jedenfalls: es wird gehen. Nur wird er eine Bedingung stellen. So viele Efforts zu machen für einen Juden, das ging auch wieder nicht. Es durfte eben kein Jud mehr sein. Der Jud mußte, und wird da in seiner Situation wohl auch keine Historien machen, der Jud mußte selbstverständlich übertreten. Es war Gewinn und Triumph für die katholische Kirche, diesen schlauen Finanzmann und gerissenen Politiker, der übrigens viel kavaliermäßiger war als die meisten schwäbischen sogenannten Herren, in ihren Schoß aufzunehmen.

Angewidert schreckte der elegante Fürst zurück, als er lächelnd, der Surprise sich freuend, die Schwelle überschritten hatte. Was war das? Da hockte ein alter, krummer Mauscheljude. War das der Finanzdirektor? War das der große Seladon? Unbehagen kroch ihn an, als wäre er selber schmutzig. Süß sah das Gesicht seines Besuchers. »Ja«, sagte er mit einem ganz kleinen Lächeln, »ja, Durchlaucht, ich bin es.«

Man hatte jetzt eine Pritsche, einen Stuhl und einen Tisch in das Gelaß gestellt. Der Fürst setzte sich vorsichtig, unbehaglich. Er konnte sich den Mann, der da vor ihm hockte, durchaus nicht zusammenreimen mit dem eleganten Herrn, den er im Gedächtnis hatte. Sollte der Jude die Welt wieder einmal übertölpeln wollen? Sollte das Ganze ein Trick sein? Er hatte das gleiche unangenehme Gefühl wie damals in dem gelben Salon und vor den weinroten Livreen. Sollte der Jude das Unmögliche fertiggebracht und ihn selbst unter solchen Umständen, in dieser Zelle, geschlagen haben? Aber, wenn alle darauf hereinfallen: er nicht. Er denkt nicht daran, dem Juden auf den Leim zu kriechen. Er, der welterfahrene, skeptische Herr und Fürst, er läßt sich nicht bluffen.

»Vor mir brauchen Sie nicht zu simulieren, Exzellenz«, tastete er glatt und höflich, als säße er im Salon. »Sie können mir unmöglich zumuten, daß ich Ihnen diesen Mummenschanz glaube. Es ist ein Trick. Unterm Galgen werden Sie plötzlich den widerlichen Bart abnehmen und der gescheite, mondäne, versierte Kavalier sein von früher. Es ist ein Manöver«, sagte er sieghaft. »Natürlich ist es ein Manöver. Aber, mein gewester Herr Finanzienrat, auf ein solches Theater fallen vielleicht die Herren vom Parlament herein. Ich nicht. Mir können Sie nichts vormachen.«

Süß schwieg. »Sie haben wahrscheinlich noch Trümpfe in der Hand«, tastete wieder der Fürst, »die Sie im letzten Augenblick ausspielen wollen. Sie wollen vermutlich jetzt den leidenden Heiligen spielen, um dann eine so glänzendere Auferstehung zu halten. Seien Sie vorsichtig! Die Stimmung ist gefährlich hier. Vielleicht wird man Sie gar nicht soweit kommen lassen. Vielleicht wird man Sie – entschuldigen Sie! – aufhängen mitsamt Ihren Trümpfen in der Hand.«

Da Süß noch immer schwieg, wurde er ungeduldig. »Exzellenz! Mann! Mensch! Begreifen Sie doch! Reden Sie doch! Ich meine es gut mit Ihnen. Es ist Ihnen schwerlich an der Wiege gesungen worden, daß ein deutscher Reichsfürst sich um Sie soviel Mühe geben wird. Hören Sie! Reden Sie!« Er setzte ihm, enerviert durch seine Haltung, schwunglos, seinen Plan und seine Bedingung auseinander. Als er zu Ende war, machte Süß keine Bewegung, tat nicht den Mund auf. Tiefer als je fühlte der feine Fürst sich geschlagen. Da hatte er die Reise gemacht, und nun saß der Jude da, refüsierte nicht einmal pathetisch, sagte einfach nichts. Der Fürst fühlte sich plötzlich alt und matt, er ertrug das Schweigen nicht mehr, sagte mit gemachtem Spott: »Sie haben im Gefängnis Ihre guten Manieren verlernt. Wenn man sich so für Sie abplagt, könnten Sie doch wenigstens Mille merci sagen.«

»Mille merci«, sagte Süß.

Der Fürst stand auf. Daß dieser Jude sich nicht von ihm retten, sondern sich lieber an den lichten Galgen hängen lassen wollte, empfand er als persönliche Kränkung. »Sie sind ein Narr in Folio, mein Lieber«, sagte er, und seine verbindliche Stimme wurde überraschend scharf. »Ihr Stoizismus ist durchaus veraltet. Man stirbt nicht mehr, um in den Historienbüchern der Schuljungen eine bessere Zensur zu kriegen. Besser ein lebendiger Hund als ein toter Löwe, bemerkte sehr richtig Ihr König Salomo.« Er stäubte sich den Rock ab, schloß, schon unter der Türe: »Lassen Sie sich wenigstens den Bart balbieren und ziehen Sie sich gut an, wenn Sie« – er rümpfte die Nase – »partout dahinauf wollen. Das kann man verlangen von jemandem, den man so freundlich in seinen Kreis aufgenommen hat. Sie haben ein zahlreiches und prominentes Publikum. Ihr ganzes Leben haben Sie gute Figur gemacht. Stellen Sie sich Ihrem Kavaliersruf nicht selber in den Schatten, wenn Sie von diesem Welttheater abtreten.« Damit ging er.

Der Galgen, an dem Süß gehenkt werden sollte, war hundertundvierzig Jahre vorher erbaut worden. Es war ein sehr kostspieliger Galgen, er hatte schon in jener frühen, wohlfeilen Zeit dreitausend oberländische Gulden gekostet, er war durchaus etwas Besonderes und sehr anders als der hölzerne Ordinarigalgen. Er war hoch wie ein Turm, fünfunddreißig Fuß war er hoch. Er war ganz aus Eisen erbaut, aus den sechsunddreißig Zentnern und achtzehn Pfund Eisen, die der Alchimist Georg Honauer ausgesucht hatte, um dem Herzog Friedrich Gold zu machen, wobei er den Herzog um zwei Tonnen Goldes schädigte. Diesem Georg Honauer zu Lieb und Leid war der Galgen errichtet worden, schön rot angestrichen, auch mit Gold verziert und der Honauer daran gehenkt.

Ihm waren rasch hintereinander mehrere andere Alchimisten gefolgt, von denen sich Herzog Friedrich hatte betrügen lassen. Der erste war ein Italiener, Petrus Montanus. Ein Jahr darauf Hans Heinrich Neuscheler aus Zürich, der blinde Goldmacher genannt. Wieder ein Jahr später ein anderer Hans Heinrich, genannt von Müllenfels. Sein Glück hatte länger geblüht; er hatte sich oft lustig gemacht über die drei in freier Luft schwebenden Kunstgenossen; nun schwebte er wie sie. Dann wurde der Galgen lange nicht benützt. Bis ein Schmied aus der Grafschaft Öttingen auf den Gedanken kam, ihn sukzessive abzutragen und zu stehlen. Schon hatte er drei Stangen losgemacht und über sieben Zentner Eisen nächtlicherweile entwendet, als er gepackt und mit dem Instrument seines Verbrechens justifiziert wurde.

Über ein Jahrhundert seither war der eiserne Galgen leergestanden. Jetzt bestimmte Herr von Pflug, der das Arrangement der Exekution übernommen hatte, dem Juden als sechstem den Tod auf diese besondere Manier. Seit Beginn des Prozesses hatte der hagere, harte Mann darauf gewartet, seinem Haß dieses Fest zu rüsten. Jetzt wollte er es so feiern, daß Europa es nicht vergessen sollte.

Mit allen Raffinements des Schimpfes bereitete er die Hinrichtung vor. Die Geilheit des Juden, seine Fleischessünden, die Schändung christlicher, deutscher Frauen durch den beschnittenen Hund hatte ja leider, sehr gegen seinen Willen, in den Urteilsgründen keine Stelle finden dürfen. Jetzt bei der Exekution hatte er freie Hand. Er wird dem Juden seine Wollust und freche Luderei anstreichen. Nicht einfach am Galgen wird er ihn hängen lassen, nein, die wüste Tätigkeit seiner liederlichen Nächte mit populärem Wortspiel verhöhnend, in einem Vogelbauer.

Das Untersuchungsgericht ließ sich die solenne Vollziehung des Urteils etwas kosten. Auf dem Richtplatz, der Tunzenhofer Steige, auch Galgensteige genannt, der Prag zu gelegen, wurden komfortable Logen gebaut für die Kavaliere und Damen. Das Militär, das den Delinquenten eskortieren und die Absperrmaßnahmen durchführen sollte, übte seine Manöver ein. Der eiserne Galgen wurde sorgsam repariert, der Schinderkarren wurde mit höheren Rädern, das Malefikantenglöcklein mit einem neuen Strick versehen, die Schinderknechte bekamen neue Uniformen.

Größtes Gewicht wurde auf die solide Ausführung der witzigen Pläne des Herrn von Pflug gelegt. Der Jud hat gespottet, höher, als der Galgen ist, könnte man ihn nicht hängen. Man wird ihm zeigen, was man kann. Man wird einfach den eisernen Käfig, das Vogelbauer, über den Galgen hinaufziehen.

Die Ausführung des Käfigs und des zugehörigen umständlichen Apparats wurde den Meistern Johann Christoph Faust und Veit Ludwig Rigler anvertraut. Der Käfig war in zwei Teile zerlegbar, acht Schuh hoch, vier Schuh weit, er hatte in der Rundung vierzehn Reifen und siebzehn Stangen in die Höhe. Eine sinnreiche Maschinerie ermöglichte es, ihn leicht über den Galgen hochzuziehen. Seine Herstellung war außerordentlich teuer. Zuletzt mußte das gesamte Schlosserhandwerk einen Streich an dem Käfig tun. Sechs Pferde schleppten zwei Tage vor der geplanten Exekution das monströse Ding die steile Tunzenhofer Steige hinauf. Die Schuljugend der Hauptstadt lief mit. Ganz Stuttgart zog in diesen Tagen hinauf zur Galgensteige. In rasch errichteten Buden wurde Wein und Bier verschenkt, Händler boten fliegende Blätter aus mit dem Bild des Juden und Spottversen. In der fröhlichen Kälte trieb man sich lärmend herum auf dem Richtplatz, schaute interessiert der Aufschlagung der Logen zu, bewunderte die Polierung des Galgens, den sinnreichen Käfig.

Die Wirkung dieses Vogelbauers auf das Volk übertraf noch die Erwartungen des Herrn von Pflug. Ein ungeheures Gewieher und Gegrinse ging durch die Stadt, durch das ganze Land. Zahllose Reime mit Vögeln flogen auf, wurden von den Kindern auf den Straßen gesungen. Nur wollte man nicht glauben, daß Herr von Pflug der Autor dieses guten Witzes sei; das Volk schrieb vielmehr die ingeniöse Idee mit dem Vogelbauer seinem Liebling zu, dem allgemein geschätzten Major von Röder. Im Anschluß an die Vogelverse wurde denn auch gewöhnlich das Lied gesungen mit den Reimen: »Da sprach der Herr von Röder / Halt! oder stirb entweder!«

In der Zelle des Süß saßen Rabbi Gabriel und Rabbi Jonathan Eybeschütz. Der große Paß der Generalstaaten hatte dem Mynheer Gabriel Oppenheimer van Straaten das Gefängnis ohne weiteres geöffnet. Nun saßen die drei Männer und hielten Mahlzeit. Rabbi Gabriel hatte Früchte mitgebracht, Datteln, Feigen, Apfelsinen, auch Backwerk und starken, südlichen Wein. Süß trug den scharlachfarbenen Rock, ein Barett über dem weißen Haar, über der Nase zackten ihm wie den beiden Rabbinern in die Stirn die drei Furchen, bildend das Schin, den Anfangsbuchstaben des göttlichen Namens Schaddai. Er tauchte Feigen in den Wein. Dies war seine letzte Mahlzeit. Rabbi Gabriel zerteilte mit den dicklichen Fingern eine Apfelsine. Die drei Männer saßen, verzehrten die Früchte, schweigend und in großem Ernst. Aber ihre Gedanken gingen schwer und flutend vom einen zum andern. Rabbi Gabriel und Süß waren eins, und Rabbi Gabriel empfand zum erstenmal diese Bindung nicht als Zwang und böses Schicksal, sondern als Geschenk. Der dritte aber, Jonathan Eybeschütz, spürte den gleichen Strom wie sie, allein er war ausgeschlossen davon, er stand am Ufer, und die Welle trug ihn nicht. Er saß mit ihnen, er trank mit ihnen, er trug das Zeichen des Schin wie sie, er war wissend und erweckt wie sie: aber die Welle trug ihn nicht. Rabbi Gabriel bestreute umständlich die Schnitten der Apfelsine mit Zucker und verteilte sie. Er schenkte von dem südlichen, schwarzfarbenen Wein. Die Zelle war voll von ungesprochenem Wort, von Gedanke, Gesicht, Gott. Doch an Rabbi Jonathan nagte es, bitter, zerrend, bösartig. Er machte sich mit zynischem Witz lustig darüber: Es war leicht, Aufschwung zu haben, wenn man gehenkt wurde. Aber dieser schlimme Trost verfing nicht, er fühlte sich, der Reiche, Wissende, als kahlen Neidling und halben Verräter. Und als er den beiden anderen die Verse des Tischgebets zurückgab, prunkend in seidigem Kaftan und milchig fließendem weißem Bart, würdig, wissend, hochgeehrt, war er ein armer, trüber, vertaner Mann.

In der Eingangshalle des Rathauses, während ihm oben nochmals das Urteil verkündet und der Stab über ihn gebrochen wurde, wartete auf Süß der milde, welke Rabbiner von Frankfurt, der beleibte, sanguinische Rabbiner von Fürth und fröstelnd und erregt Isaak Landauer. Flockiger, sich lösender Schnee fiel, durch nebelige, trübe Luft brach, immer wieder verschwindend, blasse Sonne. Draußen vor dem Portal drängte sich neugierig und unabsehbar zahllos das Volk, Herr von Röder hielt auf seinem alten Fuchs vor der starken militärischen Eskorte, auf hohen Rädern ragte kahl der Schinderkarren, der Henker mit seinen Gehilfen in grellen Farben um ihn herum.

Endlich wurde Süß die Stufen heruntergeführt. Es war den Juden verstattet worden, ihn hier nochmals zu sprechen. Er beugte den Kopf nieder. Der kleine Rabbi Jaakob Josua Falk legte ihm die welken, milden Hände aufs Haupt und sagte: »Es segne dich Jahve und behüte dich. Es lasse leuchten Jahve sein Antlitz über dich und begnade dich. Es wende Jahve sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden.« – »Amen Sela«, sagten die beiden anderen.

Umständlich wurde der Jude auf den hohen Schinderkarren gesetzt und gebunden. Trotz Frost und Nässe stand der ganze Marktplatz dick voll von Volk. Alle Fenster des Herrenhauses, des Rathauses, der Apotheke, des Sonnenwirtshauses waren weiß von Gesichtern. Auf dem Röhrbrunnen, ja selbst auf dem Schnapsgalgen und dem Hölzernen Esel hingen die Buben. Stumm glotzte das Volk. Herr von Röder gab seinen Reitern mit seiner knarrenden Stimme das Kommando. In Bewegung setzte sich die Eskorte, Stadtreiter voran, zwei Trommler, dann eine Kompanie Grenadiers zu Fuß. Jetzt schwang sich ein Schinderknecht auf das Pferd des Karrens, schnalzte mit der Zunge, der Gaul zog an. Der kleine Rabbi Jaakob Josua Falk, mit fahlen Lippen, wiederholte: »Und gebe dir Frieden.« Doch der zornige Rabbiner von Fürth konnte sich nicht halten, wilde Flüche gurgelte er hinter dem Karren her gegen Edom und Amalek, die Feinde und Frevler. Isaak Landauer aber brach in ein gelles, ungezähmtes, tierisches Heulen aus. Es war sonderbar, den großen Finanzmann zu sehen, wie er den Kopf gegen den Torpfosten des Rathauses schlug und ohne Hemmung heulte. Nun begann auch die Malefikantenglocke zu läuten. Dünn, scharf, scheppernd mischte sie sich in das Geheul des Juden, drang durch die schneeige, dämpfende Luft, ins Mark reißend.

Schepperte in das Zimmer Magdalen Sibyllens. Sie hatte die Geburt gut überstanden, doch mußte sie noch liegen. Sie schaute auf das Kind, ein normales Kind, nicht groß, nicht klein, nicht schön, nicht häßlich. Sie hörte das scharfe Gewimmer der Glocke, sie krümmte sich nervös, sie schaute auf ihr und Immanuel Riegers Kind, und sie liebte es nicht.

Die Glocke schepperte auch ins Schloß, wo der alte Regent saß mit Bilfinger und Harpprecht. Die drei Männer schwiegen. Dann endlich sagte Harpprecht: »Das Läuten klingt mir nicht lieblich ins Ohr.« Karl Rudolf sagte: »Ich hab es müssen tun. Ich schäm mich, ihr Herren.«

Unterdes wurde Süß durch die Stadt geführt, der Galgensteige zu. Er saß auf dem Schinderkarren, hoch wie ein Götzenbild, in seinem scharlachfarbenen Rock, der Solitär glänzte an seinem Finger, der Herzog-Administrator hatte nicht erlaubt, daß man ihn des Ringes beraubte. Die Straßen waren gesäumt mit Menschen, es flockte, die Prozession schritt sonderbar lautlos, die Menge schaute sonderbar lautlos zu. Die Zehntausende zogen, war der Delinquent vorbei, zu Fuß, zu Pferd, zu Wagen, neben, hinter den eskortierenden Truppen her. In der blassen, nebligen Luft, in dem schmutzigen, sich lösenden Schneegeflocke war alles doppelt schwer und still. Man nahm nicht den nächsten Weg, man führte den Juden langsam und umständlich im Bogen. Viele Zuschauer waren von weither gekommen, das ganze Land wollte dabeisein, auch von jenseits der Grenzen waren viele gekommen, man wollte allen das Schauspiel zeigen. Süß thronte hoch auf dem Karren, gebunden, steif, Schnee fiel auf seine Kleider, auf seinen weißen Bart.

An seinem Weg stand der Lizentiat Mögling. Er war betrübt und bedrückt, daß seine Verteidigungsschrift so gar nichts genützt hatte. Er durfte sich zwar sagen, er habe alles getan, auch sprach die vox populi einheitlich und mächtig gegen den Verurteilten. Aber es war doch bitter und schnürend, daß dieser Angeklagte, der ihm anvertraut war, ohne juristisch zureichenden Grund gehenkt wurde. Er fühlte sich unbehaglich, angefrostet. Er veranlaßte einen Henkersknecht, dem Süß einen Becher Wein hinaufzureichen. Der nahm ihn zwar nicht, er dankte nicht einmal, er blieb vollkommen unbeweglich, aber der Lizentiat fühlte sich leichter und wärmer.

Am Wege des Juden stand auch die Frau des Schertlin, die Waldenserin. Sie sah den Süß gebunden, sonderbar still, reglos wie ein Heiligenbild, das in Prozession durch die Stadt gefahren wird, Schnee in seinem Bart, Schnee auf seinem Rock. Sie, als einzige vielleicht dieser Zuschauer, ahnte Zusammenhänge, ahnte die Freiwilligkeit dieser schimpflichen Schaustellung. Gierig starrte sie, in zerrissenem, hohnvollem Triumph, auf den Mann, ihre kurzen, sehr roten Lippen standen halb offen, ihre länglichen Augen brannten. Eine Frau neben ihr sagte halblaut, stark schwäbisch: »Er hat immer hoch hinauf wollen. Jetzt kommt er noch höher.« – »Sale bête!« sagte die Waldenserin vor sich hin in den flockenden Schnee.

An einer neuen Wegbiegung stand der Publizist Johann Jaakob Moser. Er begann, als der Zug in Sicht kam, eine kurze, markige, patriotische Ansprache. Aber seine feurigen Worte zündeten nicht, der Schnee löschte sie aus, die Leute blieben stumm, er tat den Mund zu, bevor er zu Ende war. Kurz ehe der Zug sein Ziel erreichte, stand am Wege Nicklas Pfäffle, der blasse, gleichmütige Sekretär. Wie sein Herr ein letztes Mal vorüberkam, grüßte er tief. Süß sah ihn, nickte zweimal. Nicklas Pfäffle, wie der Karren vorbei war, folgte nicht zur Richtstatt, ging abseits, schluckte.

Als der Zug vor dem Hochgericht ankam, hatte Nebel und Geflock aufgehört. Sehr klar im Frost unter dem hellen, weißlichen Himmel standen die Weinberge. Der Jude sah oben in den Rebenterrassen das kleine Wachhaus, sah unten den Wasserturm, das Andräenhaus, das Bad. Er wandte sich und sah Stuttgart. Die Stiftskirche, Sankt Leonhart, das alte Schloß und den Neuen Bau, für den er das Geld geschafft hatte. Zu seiner Linken ragte kahl der hohe Holzgalgen. Aber er schien unansehnlich vor dem abenteuerlichen, künstlichen, riesigen Eisengerüst, das für ihn bestimmt war. Eine gedoppelte Leiter mit zahllosen Sprossen, vielfach gestützt, türmte sich hinauf, Räderwerk, Ketten und Gewinde schlang sich, den Käfig hochzuziehen. Das weite Feld war besetzt mit Menschen. Das hockte gierig und gespannt auf allen Vorsprüngen, Zäunen, Bäumen. Von ganz weit her schaute es mit großen, plumpen Fernrohren. Auf dem Rock des Süß war der Schnee gefroren, in Frost und Helle schimmerten die kleinen Kristalle auf seinem Barett, in seinem weißen Bart.

Auf drei großen Tribünen, jede für sechshundert Menschen, saßen die Damen und Kavaliere, die Herren des Hofes, hohe Beamte und Militärs, die auswärtigen Gesandten, die Herren des Gerichts, des Parlaments. Der Geheimrat von Pflug vornean. Er hatte bis zuletzt gefürchtet, der Hebräer, die Bestie, werde doch noch durch irgendeinen ganz verschmitzten jüdischen Schlich entkommen. Jetzt war es an dem, jetzt war das Ziel seines Lebens erreicht. Jetzt wird, jetzt gleich, der Verhaßte hochschweben, erwürgt. Die harten Augen des Geheimrats suchten gierig unter dem Kragen des Rockes den Hals des Juden, den Platz für den Strick. Herrlich ist es, den Tod des Feindes mit anzuschauen, ein Bad für die Augen, angenehm und lieblich ist der Klang der Todestrommeln, das Scheppern des Glöckleins. Unter den Damen waren manche, die den Süß sehr genau kannten und trotzdem aus irgendwelchen Gründen der Untersuchung entgangen waren. Nun schauten sie auf den Mann, mit dem sie verstrickt waren, befremdet, angefrostet. Er hatte sich sehr jung gegeben, er hatte, weiß Gott, erwiesen, daß er die Kraft eines Jünglings besaß, er konnte auch allerhöchstens vierzig sein, und jetzt hatte er weißes Haar und sah aus wie ein alter Rabbiner. Man mußte sich eigentlich vor sich selber schämen, daß man mit ihm im Bett gelegen war. Doch merkwürdigerweise schämten sie sich nicht. Gierig und gelockt schauten sie auf den sonderbaren Mann. Jetzt wird er gleich tot sein, jetzt wird er gleich für immer stumm und alle Gefahr vorbei und ihre Verstrickung sehr gewaltsam und schauerlich gelöst sein. Sie warteten darauf, lüstern und zitternd, sehnten sich danach, fürchteten sich davor. Die meisten von ihnen hätten sich lieber für ihr ganzes ferneres Leben unter die Gefahr der Entdeckung geduckt, hätte er leben dürfen.

Auch der junge Michael Koppenhöfer war auf der Tribüne. Nun also wird der Mühlstein zermahlen, der dem Land so lang um den Hals hing, der Landverderber schimpflich justifiziert. Aber: diesen hätt die Demoiselle Elisabeth Salomea nicht verabschiedet, fahrig hin und her hastend zwischen Büchern und Stapeln von Wäsche, diesem war sie zugefallen, und er hatte sich wohl nicht einmal sonderliche Mühe zu geben brauchen. Der alte, krumme Jud, was war an ihm? Was war sein Geheimnis? Neidisch und bitter starrte er hin zu dem Mann auf dem Schinderkarren. Doch der junge Geheimrat Götz, unter den Richtern, schaute voll dummer, dumpfer Befriedigung. Jetzt wird die Schmach seiner Mutter und seiner Schwester ausgelöscht. Soll dann einer wagen, schief zu blicken. Wie wird er ihn niederblitzen! Wie wird er wissen, was er zu tun hat!

Aber fein und schwach saß auf der Tribüne der alte, verfallene Weißensee. Nenikekas, Judaie! Nenikekas, Judaie! Ach, der Jude hatte ihn wiederum besiegt. Hatte von allen Tafeln geschmaust, alle feinsten Leckerbissen dieser Welt mit Augen, Sinnen, Hirn geschmeckt, jeden Sieg und jede Niederlage ausgekostet, hatte sich angefüllt mit dem tragischen Ende des Kindes, hatte die bunte, farbige, überfeine, überwilde, höllenschweflige Rache gerüstet und vollendet, und nun starb er diesen Tod, die Augen der ganzen Welt auf sich, diesen abenteuerlichen und wahrscheinlich freiwilligen Tod, viel heroischer als etwa der Tod vor dem Feind. Umprasselt von Haß, umhegt von Liebe, zwielichtig, groß. Was blieb von ihm, von Weißensee? Ein paar jämmerliche Verse seiner armselig verbürgerten Tochter. Doch jener wird weiterleben. Immer wieder wird, was er war, lebte, sah, dachte, starb, von Späteren in die Hand genommen werden, nachdenklich beschaut, nachgelebt, nachgespürt, nachgestorben werden.

Süß war vom Schinderkarren losgebunden worden. Er stand, die Glieder steif, blinzelte. Er sah die Menschen in den Logen, die Perücken, die geschminkten Gesichter der Frauen. Er sah die Truppen, die den Platz absperrten. Ei, man hatte sich mächtig angestrengt; das waren allein um den Galgen mindestens fünf Kompanien. Selbstverständlich hatte, sichtbarlich vornean, der Major von Röder die militärische Oberleitung. Ja, ja, es brauchte viel Strategie, ihn, den Süß, jetzt vollends aus der Welt zu schaffen. Süß sah die Zehntausende von Gesichtern, neugierige Weiber, die Münder bereit zum Keifen, Männer, bereit, befriedigt zu schmatzen und zu knurren, Kindergesichter, pausbäckig, großäugig, bestimmt, so leer und bösartig zu werden wie die Fratzen der Eltern. Er sah den Atem der Menge, weißlich dampfend, sehr leibhaft in dem hellen Frost, die gierigen Augen, die gereckten Hälse, die sich vormals so devot vor ihm gebeugt hatten. Er sah das Vogelbauer, den umständlichen, schimpflichen Apparat seiner Tötung. Und während er dies sah, drang in sein Ohr etwas Plärrendes, Kläffendes. Der Stadtvikar Hoffmann hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn unterm Galgen zu erwarten, nochmals auf ihn einzureden, von Himmel und Erde, von Verzeihung der Menschen und Gottes, von Sühnung und Glauben. Süß sah dies und hörte dies, er schaute langsam den Stadtvikar auf und ab, wandte sich weg, spie aus. Aufgerissene Augen, leises, empörtes, rasch verstummendes Schnauben der Menge.

Jetzt machten sich die Schinderknechte in ihren neuen, grellen Uniformen an ihn heran, öffneten ihm den Rock. Er spürte die rohen, ungefügen Hände, Ekel stieg hoch, er reckte sich, seine Steifheit war weg, er schlug um sich, wehrte sich verzweifelt. Alle Hälse wurden länger. Es war kurios anzusehen, wie der Mann in dem weißen Bart, in den Galakleidern, den blitzenden Edelstein an der Hand, sich mit den Knechten herumschlug, zappelte. Die Kinder lachten, jubelten, patschten in die Hände; auf den Tribünen begann eine geschminkte Frau schrill und anhaltend zu schreien, man mußte sie wegbringen. Das Barett des Juden fiel auf die nasse Erde, wurde in Kot gestampft. Die Henker packten ihn hart an, rissen ihm den Rock auf, sperrten ihn in den Käfig, legten ihm die Schlinge um den Hals.

Da stand er. Hörte leisen Wind, den Atem der Menge, die scharrenden Hufe der Pferde, das Keifen des Geistlichen. War dies das Letzte, was er auf Erden hören wird? Er dürstete nach anderem, er tat Herz und Ohr weit auf, er wollte anderes hören. Doch er hörte nur dies, dazu den eigenen Atem und das Surren des eigenen Blutes. Schon schwankte der Käfig, hob sich. Da, durch die leeren, grausamen Geräusche ein anderer Ton, gellende, gurgelnde Stimmen, schreiende: »Eins und ewig ist das Seiende, das Überwirkliche, der Gott Israels, Jahve, Adonai.« Es sind die Juden, der kleine Jaakob Josua Falk, der dicke Rabbiner von Fürth, der schmierige Isaak Landauer. Sie stehen, in ihre Gebetmäntel gehüllt, sie und sieben andere, zehn, wie es Vorschrift ist, sie kümmern sich nicht um das Volk, das vom Galgen weg auf sie schaut, sie wiegen heftig die Leiber, stehen und schreien, gellen, gurgeln die Sterbegebete, über den weiten Platz hin: »Höre, Israel, eins und ewig ist Jahve Adonai.« Weißliche Wolken in dem starken Frost ziehen die Worte von ihren Mündern in die Ohren des Mannes im Käfig, und der Sohn des Marschalls Heydersdorff tut den Mund auf, schreit zurück: »Eins und ewig ist Jahve Adonai.«

Behend wimmeln, klettern die bunten Knechte die Leitern hinauf. Der Käfig hebt sich, die Schlinge drosselt zu. Unten flucht der Stadtvikar dem Sterbenden nach: »Fahr zur Hölle, verstockter Schelm und Jud!« Das gelle Adonai der Juden ist in der Luft und in den Ohren aller. Aus dem Käfig tönt es zurück, bis die Schlinge den Ton erdrosselt.

Ganz vorn auf der Tribüne hat sich der Geheimrat Dom Bartelemi Pancorbo erhoben, er stützt die dürren, knochigen Hände auf die Brüstung, reckt aus der riesigen Halskrause den entfleischten, blauroten Kopf. Gierig hinter faltigen Lidern äugt er dem Käfig nach, wie er hochschwebt und in ihm der Mann in dem scharlachfarbenen Galarock und an dem Finger des Mannes der Solitär, tausendfarbig blitzend in der hellen Winterluft.

Nachdem der Kordon der Truppen aufgelöst war, beschaute sich die Menge den Galgen genau, ein paar Buben erstiegen die Leiter bis zur halben Höhe, man befühlte das Gerüst, oben auf den Stangen des Käfigs saßen in dicken Scharen schwarze Vögel.

Langsam zog die Menge in die Stadt zurück. Man hielt den Tag als Feiertag, aß gut, trank gut, soff, tanzte und raufte in den Schenken. Der junge Bürger Langefaß hatte aus dem Kot das zertretene Barett des Süß erobert, er war ein lustiger Bruder, berühmt als Witzbold; er stülpte sich das Barett auf, er stülpte es auch Mädchen und Mägden auf, die vergraust kreischten unter dem Barett des gehenkten Juden. Dennoch kam die rechte Lustigkeit nicht auf. Man wußte nicht recht wie, aber man hatte sich den Tag anders, befreiter, heiterer vorgestellt. Man sang: Der Jud muß hängen, man sang: Da sprach der Herr von Röder: / Halt! oder stirb entweder! Doch das Adonai des Juden wollte nicht aus dem Ohr. Die Kinder spielten Hängen; und das Spiel ging so, daß einer oben stand und Adonai schrie und die anderen standen unten und schrien, brüllten, johlten, gellten: Adonai.

In der Nacht nach der Hinrichtung, gegen drei Uhr etwa, kam ein hagerer, großer Herr die Tunzenhofer Steige herauf zu dem eisernen Galgen. Der Weg war ein übles Gemisch von Dreck und schmelzendem Schnee, beschwerlich zu gehen. Der hagere Herr, sehr fröstelnd, hüllte sich tief in einen weiten Mantel von altmodischem, verschollenem Schnitt. Er hatte zwei Burschen mit sich, verkommene Bürgersöhne, in Stuttgart bekannt als beherzt und zu jeder Unternehmung willens, wenn sie nur Geld trug. Die beiden Burschen stiegen ungesäumt die Leiter zu dem Galgen hinauf. Sie hatten Mühe, die Sprossen waren glitschig und gefroren, sie fluchten leise vor sich hin. Um sie herum flatterten Vögel, die Tag und Nacht in dicker Menge auf dem Galgen hockten. Oben hielten sich die beiden Burschen ungebührlich lange auf. Der dürre Herr, der unten wartete, zog nervös die Schultern hoch, trat von einem Fuß auf den andern, murmelte unterdrückt und unwirsch vor sich hin. »Habt ihr ihn?« herrschte er sie, leise, an, als sie endlich wieder unten waren. »Er ist nicht da!« stammelten verstört die Burschen. »Ihr habt ihn gestohlen, ihr habt den Stein gestohlen!« bellte heiser, mühsam gedämpft, der Portugiese. »Ich lasse euch den Prozeß machen, ich lasse euch rädern!« Doch die Burschen, verängstet, versicherten: »Der ganze Jud ist nicht da. Es hängt ein anderer im Käfig. Der Teufel hat ihn geholt.« Dom Bartelemi, lang ungläubig, ließ schließlich noch in der Nacht durch Leibhusaren, amtlich, den Käfig untersuchen. Ja, die Leiche war gestohlen, ausgetauscht.

In aller Frühe schon war der wütende, geprellte Mann beim Herzog-Administrator. Das kam von der Güte Seiner Durchlaucht. Jetzt hatten die Juden den Solitär gestohlen. Den Solitär? Karl Rudolf dachte an den Berg von Gold, glaubte es nicht. Die Leiche, ja, die konnten sie gestohlen haben. Er überlegte, hellte sich auf, schmunzelte fast. Eigentlich waren sie Teufelskerle, diese Juden. Stahlen einfach die Leiche vom lichten Galgen weg; Christen und Soldaten hätten das nicht besser machen können. Er gönnte ihnen gern den Solitär als Entgelt, ließ sie nicht verfolgen. Blaurot, dumpf wütend, mit seiner moderigen Stimme grausige Flüche vor sich hin bellend, zog der hagere Portugiese ab in seiner verschollenen Hoftracht.

Die Leiche indes, in großer Eile in Rupfen gewickelt, unter Stapeln von Waren und Kram versteckt, fuhr auf einem Karren nach Fürth. Hausierjuden geleiteten sie, wechselten ab von einem Ort zum andern. Der Solitär stak am Finger des Toten; keiner von den Geleitern fürchtete, sein Nachfolger könnte ihn stehlen.

In Fürth wurde die Leiche gewaschen, in das weiße, lange Totenleinen gehüllt, eingesargt. Zeigefinger, Mittelfinger, Goldfinger gerichtet im Zeichen des Schin, des Anfangsbuchstabens des göttlichen Namens Schaddai; ein kleines Häuflein Erde unter das Haupt, schwarze, krümelnde Erde, Zions Erde. Den Aufsichtsbehörden war gemeldet, ein nicht weiter bekannter toter Jud aus Frankfurt, gestorben auf der Landstraße, werde beerdigt. Auch den Mitgliedern der Gemeinde wurde nichts mitgeteilt. Aber es raunte von Mund zu Mund.

Da lag der Unbekannte, das schwarzblaue erwürgte Gesicht sonderbar umrahmt von dem schmutzigweißen Bart, die Augen hatten sich nicht zudrücken lassen, sie quollen trüb bräunlich heraus, doch zwischen ihnen über der Nase zackten sich tief in die Stirn die drei Furchen des Schin. Aus dem weißen, einfachen Laken leuchtete riesig und verwirrend der Solitär. Die zehn angesehensten Männer der Gemeinde saßen zwischen großen Kerzen und verhängten Fenstern und hielten Wache.

Unter sie trat ein Fremder. Dicklich, bartloses, massiges Gesicht, graue, trübe Steinaugen, altfränkische Tracht. Wasser goß er hinter sich, da er das Totenzimmer betrat, Wasser zu Häupten, Wasser zu Füßen des Toten. Die Männer erkannten den Kabbalisten, flüsterten, gaben Raum.

An die Leiche trat Rabbi Gabriel, knarrte mit seiner mißtönigen Stimme den Segensspruch: »Gerühmt seist du, Jahve, Gott, gerechter Richter.« Mit den dicklichen Fingern, behutsam, rührte er die Lider des Toten, da schlossen sich die Lider. Dann setzte er sich auf den Boden, senkte zwischen die Knie den Kopf. Die zehn Männer waren bis zur Wand zurückgewichen. Sehr allein trotz ihrer Gegenwart, ein kleines, verlorenes Bündel, hockte Rabbi Gabriel bei dem Toten.

Alle Juden aus Fürth waren auf der Gräberstatt, als der Unbekannte beerdigt wurde. Sie senkten den Sarg in den Grund. Der Solitär war am Finger des Toten, unter seinem Haupt das kleine Häuflein Erde von der Erde Zions. Im Chor antworteten sie dem Vorbeter: »Eitel ist und vielfältig ist und Haschen nach Wind ist die Welt; doch eins und ewig ist der Gott Israels, das Seiende, Überwirkliche, Jahve.« Dann rissen sie Gras aus und warfen es hinter sich. Und sie sprachen: »Wie das Gras welken wir aus dem Licht.« Und sie sprachen: »Wir gedenken, daß wir Staub sind.« Dann wuschen sie sich die Hände in fließendem, dämonenscheuchendem Wasser und verließen den Friedhof.