Ein Netz von Adern, schnürten sich Straßen über das Land, sich querend, verzweigend, versiegend. Sie waren verwahrlost, voll von Steinen, Löchern, zerrissen, überwachsen, bodenloser Sumpf, wenn es regnete, dazu überall von Schlagbäumen unterbunden. Im Süden, in den Bergen, verengten sie sich in Saumpfade, verloren sich. Alles Blut des Landes floß durch diese Adern. Die holperigen, in der Sonne staubig klaffenden, im Regen verschlammten Straßen waren des Landes Bewegung, Leben und Odem und Herzschlag.

Es zogen auf ihnen gewöhnliche Postwagen, dachlose Karren, ohne Polster, ohne Lehne, humpelnd, oft zusammengeflickt, und die schnelleren Wagen der Extrapost, viersitzige, mit fünf Pferden, die bis zu zwanzig Meilen im Tag fahren konnten. Es zogen auf ihnen die Eilkuriere der Höfe und Gesandten, auf guten Pferden, oft wechselnd, mit versiegelten Taschen, und die langsameren Boten der Thurn-und-Taxisschen Post. Es zogen Handwerksburschen mit Ranzen, biedere und gefährliche, und Studenten, hager und sanft die einen, die andern fest und verwegen, und eng schauende Mönche, verschwitzt in ihren Kutten. Es zogen die Planwagen der großen Kaufleute und die Handkarren hausierender Juden. Es zog in sechs soliden, etwas schäbigen Kutschen der König von Preußen, der den süddeutschen Höfen Besuch gemacht hatte, und sein Gefolge. Es zogen, ein endloser Wurm von Mensch und Vieh und Wagen, die Protestanten, die der Salzburger Fürstbischof geifernd aus seinem Land verjagt. Es zogen bunte Komödianten und Pietisten, nüchtern von Tracht und in sich verloren, und in prächtiger Kalesche mit Vorreiter und großer Bedeckung der hagere, hochmütig blickende venezianische Gesandte am sächsischen Hof. Es zogen auf dem Weg nach Frankfurt unordentlich auf mühsam zusammengestapeltem Fuhrwerk vertriebene Juden einer mitteldeutschen Reichsstadt. Es zogen Magister und Edelleute und seidene Huren und tuchene Referenten des Kammergerichts. Es zog behaglich in vielen Kutschen der dicke, schlau und fröhlich schauende Fürstbischof von Würzburg, und es zog abgerissen und zu Fuß ein Professor der bayrischen Universität Landshut, der wegen aufsässiger und ketzerischer Reden entlassen worden war. Es zogen mit den Agenten einer englischen Schiffahrtsgesellschaft und mit Weib, Hund und Kind schwäbische Auswanderer, die nach Pennsylvanien wollten, es zogen fromm, gewalttätig und plärrend niederbayrische Wallfahrer auf dem Weg nach Rom, es zogen, den huschenden, scharfen, behutsamen Blick überall, Silberaufkäufer und Vieh- und Getreideaufkäufer des Wiener Kriegsfaktors, und es zogen abgedankte kaiserliche Soldaten aus den Türkenkriegen und Gaukler und Alchimisten und Bettelvolk und junge Herren mit ihren Hofmeistern auf der Reise von Flandern nach Venedig.

Das alles trieb vorwärts, rückwärts, querte sich, staute sich, hetzte, stolperte, trottete gemächlich, fluchte über die schlechten Wege, lachte, erbittert oder behaglich spottend, über die Langsamkeit der Post, greinte über die abgetriebenen Klepper, das gebrechliche Fuhrwerk. Das alles flutete vor, ebbte zurück, schwatzte, betete, hurte, lästerte, bangte, jauchzte, atmete.

Der Herzog ließ die prunkende Kalesche halten, stieg aus, schickte Kämmerer, Sekretär und Dienerschaft voraus. Auf die verwunderten Blicke seiner Herren hatte er nur ein ungeduldiges Prusten. Da, wo der Weg den sanftgrünen Hügel hinanstieg, hielten nun die Wagen, warteten. Kammerherren und Sekretär krochen vor dem feinen, endlosen Regen ins Innere der Kutsche, Jäger, Diener, Leibhusar sprachen gedämpft aufeinander ein, tuschelten, zoteten, pruschten heraus.

Der Herzog Eberhard Ludwig, fünfundfünfzig Jahre, ein dicker, großer Mann, vollwangig, starklippig, blieb zurück. Er stapfte schwerfällig, den Samthut in der Hand, daß der feine, warme Regen die Perücke stäubte, und er achtete nicht der Pfützen, die ihm die glänzenden Stiefel bespritzten und den tiefschößigen, silbergestickten, kostbaren Rock. Er ging langsam, beschäftigt, blieb oft stehen, in unmutiger Nervosität durch die starke, fleischige Nase schnaubend.

Er war in Wildbad gewesen, der Gräfin den Abschied zu geben. War das jetzt erledigt? Eigentlich nicht. Er hatte nichts gesagt. Die Gräfin hatte auf seine halben Worte nur verschleierte Blicke gehabt, keine Antwort. Aber sie mußte doch gemerkt haben, sie war ja so gescheit, sie mußte, mußte gemerkt haben, was er wollte.

Eigentlich war es gut, daß es so ohne Wetter und Geschrei gegangen war. An dreißig Jahre waren es jetzt, daß er mit ihr zusammenlebte. Was hatte seither die Herzogin gejammert, geschrien, gezetert, gewinselt, intrigiert, ihn von der Frau zu lösen. Was hatten seine Geheimräte angestellt, der Kaiser, die Prälaten, das verfluchte Gesindel vom Parlament, die Gesandten von Kurbraunschweig und Kassel. An dreißig Jahre war die Frau verhaftet mit allem, was das Land und er erlebt hatten. Sie war er, sie war Württemberg. Dachte man Württemberg, so dachte man: die Frau, oder: die Hure, oder: die Gräfin, oder: die Maintenon von Schwaben. Ob kühl oder hassend, wie immer interessiert, jeder Gedanke an das Herzogtum war ein Gedanke an die Frau.

Bloß er, er allein, und er lächelte, konnte die Frau denken, gelöst von Politik, gelöst von dem Herzogtum. Nur er konnte denken: Christl, und es war kein Gedanke an Soldaten, Geld, Privilegien, Zänkereien mit dem Parlament, verpfändete Schlösser und Herrschaften, sondern nur die Frau, allein, lächelnd, sich im entgegenräkelnd.

Und jetzt war es also aus, er wird sich wieder mit der Herzogin versöhnen, und die Landschaft wird jubeln und ihm ein großes Präsent machen, und der Kaiser wird zufrieden mit dem schlaffen Kopf wackeln, und der grobe, schlecht angezogene König von Preußen wird ihm Glückwünsche schicken, und die europäischen Höfe werden den Skandal vermissen, über den jetzt bereits die zweite Generation klatscht. Und dann wird er der Herzogin einen Sohn machen, und das Land wird einen zweiten richtigen Erben haben, und im Himmel und auf Erden wird Wohlgefallen sein.

Er blies heftig durch die Nase. Ein dumpfes Wüten stieg in ihm auf, wenn er an die Freude dachte, mit der das Herzogtum, das ganze Deutschland den Sturz der Frau feiern würde. Er hörte, hörte, wie das Land aufatmete, er sah die fetten Bürgerkanaillen seines Parlaments, wie sie triumphierend grunzten, breitmäulig, sich die Schenkel schlagend, er sah die nüchternen, steifleinenen, korrekten Verwandten der Herzogin und ihren magern, sauern, höhnischen Jubel. Das ganze Geziefer wird herfallen über die Frau wie über ein Aas. Sein Leben lang hat er die Frau gehalten gegen das Gesindel; jetzt, wenn er sie läßt, er ist fünfundfünfzig, wird es ihm das Gesindel als Greisenschwäche ausdeuten. Er hat zahllose Reskripte erlassen, die jedes unehrerbietige Wort gegen die Gräfin schwer bestrafen, er hat sich mit dem Kaiser brouilliert, er hat seinen Jugendfreund und Ersten Minister aus dem Land gejagt wegen eines frechen Wortes über die Frau, er hat sich herumgeschlagen mit seinen Räten, seinem Parlament, mit dem ganzen Land um Steuern, immer neue Steuern, um Geld, Geld, Geld für die Frau. Er hat sie gehalten, gegen Land, Reich und Welt gehalten an dreißig Jahre.

Was war das für ein Sturm damals durch ganz Europa, als er sich gleich zu Beginn ohne lange Umstände die Gräfin als zweite Gemahlin neben der Herzogin hatte antrauen lassen. Es regnete kaiserliche Bitten, Beschwörungen, Drohungen, die Stände kläfften wie tolle Hunde, die Verwandten der Herzogin, die Baden-Durlachischen, sahen grün und blau vor Wut und Verachtung, man wetterte von den Kanzeln gegen ihn, verweigerte ihm das Abendmahl, das ganze Land war ein Gischt und Strudel. Nun gut, er hatte sich gefügt, er hatte das Eheverlöbnis mit der Gräfin aufgehoben, hatte sich mit der Herzogin wieder ausgesöhnt. Was freilich die Zuneigung betraf und die daraus entstehende eheliche Beiwohnung – er lächelte, wie er sich der hübschen Phrase erinnerte, mit der er den Kaiser abgespeist hatte, der Bruder der Gräfin hatte sie ihm gedrechselt –, die Zuneigung also und die daraus entstehende eheliche Beiwohnung war eine Sache, die von Gott und ihm selbst abhing und zu der ein Reichsfürst durch Fremde nicht gezwungen werden konnte. Und dann auf frische, scharfe Befehle des Kaisers hin hatte er die Christl wirklich weit außer Landes geschickt und sich von seinem dankbaren Parlament viel Geld dafür bezahlen lassen, und das ganze Land hatte gejubelt. Aber dann – er schmunzelte, dies war doch der beste Streich seines Lebens – hatte er durch seine Agenten in Wien einen mürben Trottel von Grafen auftreiben lassen, und mit dem hatte er die Christl verheiratet und ihn zu seinem Landhofmeister gemacht, und als Landhofmeisterin kehrte die Frau zurück unter dem Toben des betrogenen Württemberg, dieweil der Kaiser ohnmächtig und bedauernd die Achseln zuckte: wer wollte es einem Reichsfürsten verwehren, die Frau seines Ersten Ministers an seinem Hof zu haben? Und wie hatte die Christl gelacht, als er ihr für das Geld, das ihm sein Parlament für die Trennung bewilligt hatte, die Herrschaften Höpfigheim und Gomaringen kaufte.

Jetzt war es ruhig geworden. Wohl erschien da und dort noch ein Pasquill gegen die Gräfin, aber seine Verbindung mit ihr war nun an dreißig Jahre eine gegebene Tatsache deutscher, europäischer Politik. Die Stände knurrten, aber sie hatten gewissen Landverschreibungen an die Gräfin zugestimmt. Die Herzogin residierte kahl, sauer und resigniert im Stuttgarter Schloß, ihre Verwandten, die steifleinenen Markgrafen, hatten sich in ein ägriertes, hochmütiges Schweigen zurückgezogen. Man fand die Tatsachen unerhört, aber das tat man schon seit dreißig Jahren, man hatte sich hineingewöhnt, fügte sich.

Und jetzt also, eigentlich ohne bestimmten Anlaß, sollten alle Verbindungen mit der Frau sich lösen, fallen, nicht mehr da sein.

Sollten sie? Er hatte nicht gesprochen. Wenn er nicht wollte, war nichts geschehen.

Der Herzog stand auf der kotigen Landstraße, allein, barhaupt, in dem feinen, rieselnden Regen. Er zog den rechten Stulphandschuh ab und schlug ihn mechanisch gegen den Schenkel.

Oder war ein Anlaß gewesen? War ein Anlaß? Der polternde Preußenkönig hatte ihm, wie er jetzt in Ludwigsburg war, Vorstellungen gemacht. Er solle sich doch mit der Herzogin versöhnen, dem Land und sich einen zweiten Erben machen, sein Haus nicht auf die zwei Augen des Erbprinzen stellen, wo schon die Katholischen auf das Erlöschen der evangelischen Schwabenherzöge spitzten. Das war es nicht. Nein, das war es nicht. Soll sich der Preuße nach Haus scheren, zu seinem Sand und seinen Kiefern, mit seiner faden Nüchternheit und seinem kahlen, moralischen Sermon, der in jedem dritten Satz von Tod predigte. Er, Eberhard Ludwig, mit seinen Fünfundfünfzig, war Gott sei Dank noch in Saft und Schuß. Mag doch nach seinem Tod wer will das Land und seine Schulden auf den Buckel nehmen und sich mit dem lausigen Gesindel vom Parlament herumärgern. Darum der Christl den Abschied geben? Daß er ein Narr wäre!

Er nahm den Stapfschritt schneller, pfiff falsch und heftig eine Melodie aus dem letzten Ballett. Was hatte der Preuße weiter angeführt? Die Gräfin sei ein schlimmeres Unglück für das Herzogtum als alle Franzoseneinfälle und höchst beschwerlichen Reichskriege. Alle Drangsal, Jammer und Verwirrung in Württemberg, des sei sie Ursach und Stifterin. Sie schröpfe und quetsche gottserbärmlich, und aller Schweiß des Landes sei für ihre Taschen. Das kannte er. Kotz Donner! Die Melodie pfiff ihm aus hundert Schmähschriften entgegen, die Sauce servierten ihm seine Stände jede Woche zum Braten. Wenn Dürre war und Hagelschlag, war nicht auch daran die Frau schuld? Sollten froh sein, die Querulanten und filzig greinenden Pfeffersäcke, daß ihre lumpigen Batzen so prächtig in Glanz und Herrlichkeit umgemünzt wurden. Sie brauchte Geld, ja, ja, und immerzu, soviel Geld gab es im ganzen Römischen Reich nicht, wie sie brauchte, sie schmeichelte darum, bettelte, winselte, drohte, zürnte, schmollte, trotzte darum, es war oft ein Jammer und eine Verzweiflung, wenn er nicht wußte, woher mehr nehmen und immer mehr. Aber was war besser, die kahle, schäbige Haushälterei der Herzogin, wo kein Pfennig zuviel vertan wurde, oder der rauschende Glanz der Frau, wo die Schlösser und Forsten und alle Einkünfte der Kammer wie bunte Funken verprasselten?

Nein, mit solchen Argumenten konnte man ihm die Frau nicht verekeln. Er hatte auch dem Brandenburger fein heimgeleuchtet, und er wäre dem Grobian noch viel schwäbischer übers Maul gefahren, hätte er nur die paar tausend Soldaten mehr gehabt, die ihm seine Stände niemals, ach niemals verwilligen würden. Nein, das alles hatte ihm gar keine Impression gemacht, und wenn doch vielleicht der Knauser, der ungehobelte, den Anstoß zur Verabschiedung der Gräfin gegeben hatte, so war es mit etwas ganz anderem, mit einem viel leiseren Wort, auf das er wahrscheinlich selber kaum Gewicht gelegt hatte. Sie waren, der König und er, auf einen Aussichtspunkt hinaufgefahren, und wie der Brandenburger das weiche, wellige Land sah, die sanften, grünen, gesegneten Hügel mit Korn und Frucht und Wein und Forst, da hatte er vor sich hin geseufzt: »Wie schön! Wie schön! Und zu denken, daß ein altes Weib darüberliegt wie Meltau und Nonnenfraß.«

An dem Meltau und Nonnenfraß wäre nun Eberhard Ludwig nicht viel gelegen. Aber: ein altes Weib. Das biß sich ihm ins Herz. Er, Eberhard Ludwig, einem alten Weib verhaftet? Alle Flüche, Drohungen, Beschimpfungen waren an ihm abgeglitten wie Wasser von geöltem Körper. Aber: ein altes Weib?

Der Herzog erinnerte sich gewisser verjährter Geschichten. Trotz scharfer Edikte hatte sich immer wieder Geschwätz erhoben, die Frau habe ihn mit Zaubermitteln behext. Einer Sache vornehmlich entsann er sich bis in jede Einzelheit. Eine Zofe der Gräfin, sogar den Namen wußte er noch, Lampert hatte sie geheißen, war zu dem Hofprediger Urlsperger gelaufen und hatte dem von gottlosen, widerlichen und hexerischen Hantierungen erzählt, die die Gräfin treibe, um den Herzog an sich zu ketten. Der Hofprediger hatte ein Protokoll aufgenommen, von der Lampert unterschreiben lassen, versiegelt, das Geheimnis in seinem Sekretär verwahrt. Der Herzog war daraufgekommen, eine Untersuchungskommission hatte den Urlsperger seines Amtes entsetzt, die Lampertin mit Ruten peitschen lassen, sie des Landes verwiesen. Aber der Herzog war überzeugt, daß nicht nur das Volk, daß die Untersuchungskommission selber den ruchlosen, scheußlichen Unflat glaubte, der in dem Protokoll vereidet war. Darnach habe die Gräfin in Genf ein Hemd der Herzogin in kleine viereckige Stücke geschnitten, in den mit Branntwein präparierten allerfeinsten Wismut getunkt und hernach auf freche und obszöne Manier zu Wischläppchen gebraucht. In Urach habe sie sich das neugeborene Kalb einer schwarzen Kuh bringen lassen und ihm eigenhändig den Kopf abgehauen, ebenso habe sie es mit drei schwarzen Tauben gemacht, einem Bock aber habe sie die Hoden abgeschnitten, anderer ekelhafter und unsittlicher Hantierung nicht zu gedenken. Durch solche Mittel, hieß es, habe sie ihn dahin gebracht, daß er seine Gemahlin durchaus nicht ausstehen, ohne sie selbst aber nicht mehr habe leben können, indem er Beklemmungen bekommen, sobald er von ihr entfernt gewesen.

Die Esel die, die dürren, saftlosen! Faseln von Zauberei, können sich’s nicht ohne Hexenhantierung zusammenreimen, wo jedem gesunden Mann auf die natürlichste Art das Blut ins Herz und zwischen die Schenkel schießen muß! Wenn er an Genf dachte, wie die Christl ihm entgegenlachte, damals, in dem blaßblauen Zimmer im Gasthof Cerf d’Or, auf dem breiten Bett lagernd, prangend. Da brauchte sie, weiß Gott, keine Kälber zu schlachten und keine Tauben, um sich ihm ins Blut zu brennen. Aber jetzt? Ein altes Weib? Er hatte doch Hände zu greifen, Augen zu sehen. Sie war etwas beleibt, ja, litt an Asthma: aber war es Teufelei und ruchlos hexerische Manipulation, was ihn weiter an sie kettete? Ihre grauen Augen waren immer noch bei aller Lindigkeit so groß zwingend wie vor zwanzig Jahren, ihr nußbraunes Haar hatte sich nicht verfärbt, und in ihrer Stimme läuteten noch alle Glocken vom ersten Tag. Freilich, die kleinen Narben, die ihn damals so ohne Maß gereizt hatten – die Lästerer behaupteten, die Spuren einer schlechten Krankheit –, die versteckte sie jetzt hinter Puder und Schminke. Ein altes Weib? Sie war diesmal so schwermütig gewesen, so elegisch. Sie hatte ihn nicht verlacht, ihm keine Szene gemacht, nicht einmal Geld hatte sie verlangt. Spürte sie was? Aber wenn sie sanft wäre wie ein eintägiges Lamm: ein altes Weib liebte er nicht. Er, Eberhard Ludwig, nicht. Da könnte er gleich zu seiner sauern Herzogin zurückkehren und dem Land den zweiten Sohn machen und mit Gott und dem Kaiser und dem Reich und seinem Parlament in Frieden sein.

Dann freilich hatte sie Lux zu ihm gesagt, Eberhard Lux, und die Glocken hatten geklungen wie am ersten Tag. Und dann hatte sie sich über die Landschaft mokiert, die aus ihren, der Gräfin, Dörfern und Herrschaften die Juden verjagt haben wollte, ihre Juden, von denen jeder einzelne am Werktag mehr Hirn im kleinen Finger hatte als die ganze Landschaft am Feiertag im Kopf. Und wie sie sich über die dumm giftige, sackgrobe Petition der Landschaft lustig machte, so keine zweite helle, kluge, heitere Frau, ob jung, ob alt, hatte er nicht mehr erlebt, von Türkenland bis Paris, von Schweden bis Neapel. Es war doch gut, daß er nichts Entscheidendes zu ihr gesagt hatte.

Er winkte, unmittelbar vor ihm hielten seine Wagen. Er ließ wenden, er wollte jetzt doch nicht nach Stuttgart fahren, auch nicht nach Ludwigsburg. Nach Neßlach, dem kleinen, verlorenen Jagdhaus. Er wollte Ruhe haben, sich auslüften. Er schickte einen Läufer um den Geheimrat Schütz, mit dem wollte er die Affäre in aller Ruhe nochmals durchsprechen.

Ein altes Weib?

Noch auf dem Weg nach Neßlach schickte er auch den zweiten Jäger fort. Die neue, blutjunge, ungarische Tänzerin, die vor acht Tagen in Ludwigsburg eingetroffen war, soll ungesäumt ins Jagdhaus fahren. Donner und Türken! Er wird sich den preußischen Besuch vom Leib spülen.

Der herzoglich württembergische Hoffaktor Isaak Simon Landauer war in Rotterdam gewesen, wo er auf Rechnung des kurpfälzischen Hofes gewisse Kreditgeschäfte mit der niederländisch-ostindischen Gesellschaft geregelt hatte. Von Rotterdam berief ihn ein Eilbote der Gräfin Würben dringlich zurück nach Wildbad zur Gräfin. Unterwegs hatte er einen Geschäftsfreund getroffen, Josef Süß Oppenheimer, kurpfälzischen Oberhof- und Kriegsfaktor, zugleich Kammeragenten des geistlichen Kurfürsten von Köln. Josef Süß, der eine Reihe aufregender und anstrengender Geschäfte hinter sich hatte, wollte sich in irgendeinem Badeort ausruhen und ließ sich von Isaak Landauer leicht bestimmen, mit nach Wildbad zu gehen.

Die beiden Männer fuhren in dem eleganten Privatreisewagen des Süß. »Kostet mindestens seine zweihundert Reichstaler jährlich, der Wagen«, konstatierte mit gutmütiger, leicht spöttischer Mißbilligung Isaak Landauer. Hintenauf saß des Süß Leibdiener und Sekretär, Nicklas Pfäffle, ehemaliger Notariatsgehilfe, ein blasser, fetter, phlegmatischer Mensch, den er in Mannheim während seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Advokaten Lanz kennengelernt hatte und den er, den Vielverwendbaren, seither für seine persönlichen Dienste auf alle Reisen mitnahm.

Isaak Landauer trug jüdische Tracht, Schläfenlocken, Käppchen, Kaftan, schütteren Ziegenbart, rotblond, verfärbt. Ja, er trug sogar das Judenzeichen, das ein Jahrhundert vorher im Herzogtum eingeführt war, ein Jagdhorn und ein S darüber, trotzdem keine Behörde daran gedacht hätte, von dem angesehenen, mächtigen Mann, der bei dem Herzog und der Gräfin groß in Gunst stand, dergleichen zu verlangen. Isaak Landauer war der geschickteste Geldmann im westlichen Deutschland. Seine Verbindungen reichten von den Wiener Oppenheimer, den Bankiers des Kaisers, bis zu den Kapitalisten der Provence, von den reichen Händlern der Levante bis zu den jüdischen Kapitalisten in Holland und den Hansestädten, die die Schiffahrt nach Übersee finanzierten. Er lehnte in unschöner, nicht natürlicher Haltung im Polster zurück und barg, der unansehnliche, schmutzige Mann, fröstelnd die magern blutlosen Hände im Kaftan. Leicht schläfrig vom Fahren, die kleinen Augen halb geschlossen, beobachtete er mit gutmütigem, kleinem, ein wenig spöttischem Lächeln seinen Gefährten. Josef Süß, stattlich, bartlos, modisch, fast ein wenig geckenhaft gekleidet, saß aufrecht, besah, den Blick rastlos, scharf, rasch, jedes Detail der Landschaft, die noch immer in feinem Regen wie hinter einem Schleier lag.

Isaak Landauer schaute mit wohlwollendem Interesse und amüsiert den Kollegen auf und ab. Den elegant geschnittenen hirschbraunen Rock, silberbordiert, aus allerfeinstem Tuch, die zierlich und präzis gekrauste und gepuderte Perücke, die zärtlich gefältelten Spitzenmanschetten, die allein ihre vierzig Gulden mochten gekostet haben. Er hatte immer ein Faible für diesen Süß Oppenheimer gehabt, dem die Unternehmungslust und die Lebgier so unbändig aus den großen, rastlosen, kugeligen Augen brannte. Das also war die neue Generation. Er, Isaak Landauer, hatte unendlich viel gesehen, die Löcher der Judengasse und die Lustschlösser der Großen. Enge, Schmutz, Verfolgung, Brand, Tod, Unterdrückung, letzte Ohnmacht. Und Prunk, Weite, Willkür, Herrentum und Herrlichkeit. Er kannte wie nur ganz wenige, drei, vier andere im Reich, den Mechanismus der Diplomatie, übersah bis ins kleinste den Apparat des Kriegs und des Friedens, des Regiments über die Menschen. Seine zahllosen Geschäfte hatten ihm das Auge geschärft für die Zusammenhänge, und er wußte mit einem gutmütigen und spöttischen Wissen um die feinen, lächerlichen Gebundenheiten der Großen. Er wußte, es gab nur eine Realität auf dieser Welt: Geld. Krieg und Frieden, Leben und Tod, die Tugend der Frauen, die Macht des Papstes, zu binden und zu lösen, der Freiheitsmut der Stände, die Reinheit der Augsburgischen Konfession, die Schiffe auf den Meeren, die Herrschgewalt der Fürsten, die Christianisierung der Neuen Welt, Liebe, Frommheit, Feigheit, Üppigkeit, Laster und Tugend: aus Geld kam alles und zu Geld wurde alles, und alles ließ sich in Ziffern ausdrücken. Er, Isaak Landauer, wußte das, er saß mit an den Quellen, konnte den Strom mit lenken, konnte verdorren lassen, befruchten. Aber er war nicht so töricht, diese seine Macht herauszukrähen, er hielt sie heimlich, und ein kleines, seltenes, amüsiertes Lächeln war alles, was von seinem Wissen und seiner Macht zeugte. Und eines noch. Vielleicht hatten die Rabbiner und Gelehrten der Judengasse recht, die von Gott und Talmud und Garten des Paradieses und Tal der Verwünschung als von Tatsachen mit genauen Einzelheiten erzählten, er persönlich hatte nicht viel Zeit für solche Erörterungen und war eher geneigt, gewissen Franzosen zu glauben, die derartige Dinge mit elegantem Hohn abtaten; auch in seiner Praxis kümmerte er sich nicht darum, er aß, was ihm beliebte, und hielt den Sabbat wie den Werktag: aber in Tracht und Aussehen klammerte er eigensinnig an dem Überkommenen. In seinem Kaftan stak er wie in seiner Haut. So trat er in das Kabinett der Fürsten und des Kaisers. Das war das andere tiefere und heimliche Zeichen seiner Macht. Er verschmähte Handschuhe und Perücke. Man brauchte ihn, und dies war Triumph, auch in Kaftan und Haarlöckchen.

Aber da war nun dieser Josef Süß Oppenheimer, die neue Generation. Da saß er stolz prunkend, mit seinen Schnallenschuhen und seinen Spitzenmanschetten, und blähte sich. Sie war plump, diese neue Generation. Von dem feinen Genuß, die Macht heimlich zu halten, sie zu haben und nichts davon zu zeigen, von diesem feineren Genuß des Still-für-sich-Auskostens verstand sie nichts. Berlocken und Atlashosen und ein eleganter Reisewagen und Diener hintenauf und die kleinen äußeren Zeichen des Besitzes, das galt ihr mehr als in wohlverwahrter Truhe eine Schuldverschreibung der Stadt Frankfurt oder des Markgräflich Badenschen Kammergutes. Eine Generation ohne Feinheit, ohne Geschmack.

Und dennoch mochte er den Süß gern leiden. Wie er dasaß, immer jede Fiber gespannt, gierig, sich aus dem Kuchen Welt sein mächtig Teil herauszufressen. Er, Isaak Landauer, hatte damals des jungen Menschen Schifflein ins Wasser gestoßen, als der trotz aller Mühe und wilden Getriebes nicht von Land kommen konnte. Nun, jetzt schwamm das Schifflein, es schwamm in vollem Strom, und Isaak Landauer schaute neugierig und geruhig zu, wie und wohin.

Eine Extrapost kam ihnen entgegen. Ein feister Mann saß darin, behäbig, das Gesicht stark, reckenhaft, daneben fett, rund, dumm eine Frau. Es mochte ein Ehepaar sein auf einer Reise zu einer Familienfestlichkeit. Während die Wagen umständlich und unter lärmenden Gruß-, Scherz- und Fluchreden der Kutscher einander auswichen, schickte der Mann sich an, mit Süß ein kleines, gemütliches Reisegespräch zu beginnen. Wie er aber Isaak Landauer sah in seiner jüdischen Tracht, lehnte er sich ostentativ zurück und spie in weitem Bogen aus. Auch die Frau suchte ihrem dummen, gutmütigen Gesicht Strenge und Verachtung aufzusetzen. »Der Rat Etterlin aus Ravensburg«, sagte Isaak Landauer, der alle Menschen kannte, mit einem kleinen, glucksenden Lachen. »Mögen die Juden nicht, die Ravensburger. Seitdem sie den Kindermordprozeß gehabt haben und ihre Juden gemartert, gebrannt und geplündert, hassen sie uns mehr als das ganze andere Schwaben. Das sind jetzt dreihundert Jahr. Heute hat man humanere Methoden, weniger komplizierte, dem Juden sein Geld zu stehlen. Aber wem man solches Unrecht getan hat, versteht sich, daß man weiter gegen den gereizt ist, auch nach dreihundert Jahr. Nun, wir werden’s überleben.«

Süß haßte den Alten in diesem Augenblick. Die schmuddeligen Haarlöckchen, den fettigen Kaftan, das gurgelnde Lachen. Er kompromittierte einen mit seinem albernen, altmodischen, jüdischen Gehabe. Er verstand ihn nicht, den da, mit seinen senilen Marotten. Der hatte nun Geld wie Heu, einen unermeßlichen Kredit, Beziehungen zu allen Höfen, Vertrauen bei allen Fürsten, er, Süß, saß vor ihm wie eine Eidechse vor einem Krokodil: und solcher Mann ging in dem schmutzigen Rockelor, forderte Hohnrufe und Gespei heraus, begnügte sich, Geld zu häufen, das Schreiberei in seinen Kontoren blieb. Was war denn Geld, wenn man es nicht wandelte in Ansehen, Pracht, Häuser, Pferde, prunkende Kleider, Weiber? Verspürte dieser Alte nicht Lust, auf andere herunterzuspucken, wie man auf ihn herunterspie, Fußtritte weiterzugeben? Wozu schuf sich einer Macht, wenn er sie nicht zeigte? Der Ravensburger Kindermordprozeß! Solches Zeug lag ihm im Sinn! Verstaubt, vermodert, vergraben. Heute war es, Gott sei Dank, besser, gesitteter, zivilisierter. Heute, wenn es der Jud nur schlau anfing, saß er mit den großen Herren an einem Tisch. Hatte nicht sein Großvetter, der Wiener Oppenheimer, vor dem römischen Kaiser darauf pochen können: wenn jetzt gegen die Türken die kaiserlichen Waffen siegreich waren, so war des er, der Jud Oppenheimer, mit die vornehmste Ursach. Und die kaiserliche Kriegskanzlei und der Feldmarschall Prinz Eugen hatte das in bester Form und mit Siegel und Dank bestätigt. Brauchte sich einer nur nicht in alberne Capricen verbeißen und mit Kaftan und Schläfenlöckchen herumlaufen. Dann hätte auch der Ratsherr Etterlin aus Ravensburg seinen Diener und Kompliment gemacht.

Isaak Landauer saß immer in der gleichen unbequemen, aufreizend uneleganten Haltung. Er las dem Süß wohl die Gedanken von der Stirn; aber er schwieg, schloß halb die spähenden Augen, mummelte.

Süß hatte wirklich die Absicht, sich in Wildbad zu erholen, auszuruhen. Er hatte zwei gefährliche, aufregende Affären hinter sich. Einmal die Einführung des Stempelpapiers in der Kurpfalz. Der Kurhut hatte sich eine verdammt hohe Pacht zahlen lassen. Das Volk hatte sich gegen die neue Steuer gewehrt wie ein bissiger Hund. Je nun, er hatte sich nicht einschüchtern lassen, er hatte wider die Beschimpfungen, Drohungen, Aufläufe vor seinen Büros, Pasquille, Tätlichkeiten das Siegel und die Handschrift des Kurfürsten, er hatte von seiner Schrift kein Jota abgelassen, und das hatte sich auch gelohnt, er hatte den Vertrag mit einem Gewinn von zwölftausend Gulden weiterverkauft. Und er hatte sich dann nicht etwa Ruhe gegönnt, nein, die zwölftausend Gulden mußten sogleich weiterarbeiten. Entschlossen, schnell und gesammelt – man ließ ihm nur zwei Tage Bedenkzeit – war er in den Münzakkord mit Hessen-Darmstadt hineingesprungen. Ein gefährliches Geschäft. Sein Bruder, der Baron, der Getaufte, der doch in Darmstadt zu Hause war und das Terrain genau kannte, hatte es nicht gewagt; selbst Isaak Landauer hatte mit dem Kopf gewackelt und sein Lächeln eingestellt. Die Rentämter von Baden-Durlach, Ansbach, Waldeck, Fulda, Hechingen, Montfort waren erbitterte Konkurrenten und prägten, was sie konnten. Noch schlechtere Münze zu prägen, dazu mußte man verdammt kaltes Blut haben und eine Stirn, eisern bis zur Verzweiflung. Süß hatte sie. Und wußte auch dieses Geschäft mit Profit und zur rechten Zeit abzustoßen. Mochte sich jetzt sein Nachfolger mit den tausend Widerwärtigkeiten herumschlagen. Er war gedeckt durch ein Dekret des Landgrafen, er war mit gutem Profit, in Gnaden, aus seinen Diensten entlassen worden. Jetzt hatte er sein schönes Haus in Frankfurt, in Mannheim, beide schuldenfrei, dazu gewisse Liegenschaften, von denen niemand eine Ahnung hatte, in den östlichsten Teilen des Römischen Reiches. Kapital, Verbindungen, Titel, Kredit. Den Ruf eines findigen Kopfes, einer glücklichen Hand. Er durfte sich, weiß Gott, Ruhe und ein Leben aus dem vollen gönnen. Er wollte der Welt zeigen, wer der kurpfälzische Oberhof-und Kriegsfaktor war. Der Luxus selbst seiner Muße wirkte ja für sein Geschäft, empfahl ihn den großen Herren.

So fest er entschlossen war, die Tage in Wildbad seiner Erholung zu gönnen, so falsch ihm Isaak Landauers Grundsätze schienen – seine eigene Art, mit Fürsten und großen Herren umzugehen, sich ihnen anzuschmiegen, war sicher die zeitgemäße, einzig richtige –: es wäre Wahnsinn gewesen, von diesem Genie der vorigen Generation, diesem personenund sachkundigsten Finanzmann nicht auf der Reise zu profitieren. Er fragte also geradezu nach der Gräfin, ihren Aussichten, Hoffnungen, Schwierigkeiten, ihrer geschäftlichen Bonität.

Isaak Landauer schüttelte, sowie von Geschäften die Rede war, die Schläfrigkeit ab und richtete kluge, sehr wache, spähende Augen auf den Gefährten. Es war ihm Geschäftsprinzip, wenn möglich, bei der Wahrheit zu bleiben. Gerade durch seine gewagten und verblüffenden Offenheiten hatte er die größten Profite gemacht. Er wußte, der Süß mochte die Gräfin nicht leiden; ihre Geldgier schien ihm unfürstlich, ordinär. Was sollte er den Kollegen nicht ein wenig ärgern, indem er die Sicherheit, die Chancen des Geschäfts ins vollste Licht rückte. Er analysierte kurz, klar, sachlich. Eine gescheite Dame, die Gräfin. Sinn für Realitäten. Sie hat sich jede Steigerung in der Liebe des Herzogs mit Terrains und Privilegien zahlen lassen, und nahm er ab in der Liebe, dann mußte er, wenn er wiederkam, mit Bargeld und Juwelen zahlen. Was hat sie in das Geschäft hineingesteckt? Ein hübsches Gesicht, einen kleinen Adelstitel, ein bißchen problematische Jungfräulichkeit. Nicht einmal Kleider hat sie gehabt, wie sie an den Hof kam. Und was hat sie herausgewirtschaftet? Die Gräfin von Würben, die Gräfin von Urach, die Landhofmeisterin Exzellenz, Präsidentin des Conseils. Die Oberaufsicht der herzoglichen Schatulle. Achtzehntausend Gulden Apanage. Die Stammkleinodien und Hausjuwelen. Alle Honneurs, Emolumenta und Privilegien einer reichsunmittelbaren Fürstin. Barkapital und Tratten auf Prag, Venedig, Genf, Hamburg. In ihren Schatullen, sagt mir der Sekretär Pfau, dreihunderttausend Gulden. Sollen es nur zweimalhunderttausend sein, ist auch mitzunehmen. Die Rittergüter Freudenthal, Boihingen, die Dörfer Stetten und Höpfigheim, die Herrschaften Wilzheim, Brenz mit Oggenhausen, Marschalkenzimmern. Eine gescheite Frau, eine liebenswürdige Frau, eine Frau, die weiß, worauf es ankommt. Sie verdiente, Jüdin zu sein.

»Sie soll in Disgrace sein«, meinte Süß. »Sie hat sich brouilliert mit ihrem Bruder. In der Landschaft tuschelt man, ihr eigener Bruder habe dem Herzog geraten, sie abzuschaffen. Auch der König von Preußen hat auf ihn eingeredt. Sie wird alt, störrisch, schwer traktabel. Und so fett. Der Herzog ist nicht mehr für soviel Fett in letzter Zeit.«

»Sie kennt sich aus«, erwiderte Isaak Landauer. »Sie weiß, die Bank von England hält sicherer als der Liebesschwur eines geilen Herzogs. Sie ist assekuriert, sie ist besser wie mancher Reichsfürst. Glaubt mir, Reb Josef Süß.«

Süß verzog den Mund. Was sagte er: Reb Josef Süß? Warum nicht: Herr Hoffaktor oder: Kollega oder so? Es war schwer, mit dem Alten zu verkehren. Er kompromittierte einen. »Wenn der Herzog sie fallenläßt«, sagte er nach einer Weile, »wird sie wenig retten können. Sie ist im Herzogtum angesehen wie Pest und Nonnenfraß. Sie hat den Haß des ganzen Landes gegen sich.«

»Haß des Landes!« sagte Isaak Landauer amüsiert, geringschätzig, wiegte den Kopf, kämmte sich mit den Fingern den rotblonden, verfärbten Ziegenbart, lächelte. Und Süß spürte, er hatte recht. »Wer, so er was taugt, hat nicht den Haß des Landes gegen sich? Wer anders ist als die anderen, hat den Haß des Landes. Haß des Landes hebt den Kredit.«

Süß wurde gereizt durch den friedfertig überlegenen Ton des anderen. »Eine Hure«, achselzuckte er, »geizig, unfürstlich von Manieren, dazu fett und alt.«

»Gered, Reb Josef Süß«, sagte Isaak Landauer gelassen. »Hure! Ein Wort. Trösten sich die tugendhaften alten adeligen Fräuleins damit, die ihr neidisch sind. Hat auch die Königin Esther zuerst nicht wissen können, ob sie nicht des Ahasverus Kebsweib wird. Ich sag Euch, Reb Josef Süß, die Frau ist gut für fünfmalhunderttausend Gulden. Sie ist gescheit, sie weiß, was sie will. Hat sie nicht die Juden zugelassen in ihre Dörfer und Herrschaften? Nicht aus Sentimentalität, bewahre. Aber sie ist klug, sie riecht, wer klug ist, mit wem man reden kann, handeln, klar, und es kommt was heraus. Fünfmalhundert? Sie ist gut bis zu fünfmalhundertundfünfzigtausend!«

Mittlerweile fuhr der Wagen beim Gasthof »Zum Stern« in Wildbad vor. Der Sternwirt stürzte heraus, zog die Kappe. Aber wie er den Kaftan Isaak Landauers sah, warf er patzig hin: »Hier ist kein Judenwirt«, und wollte in den Torgang zurück. Doch der blasse Sekretär stieg von seinem Sitz. »Das sind die Herren Hoffaktoren Oppenheimer und Landauer«, sagte er gelassen und über die Achsel, während er den Herren beim Aussteigen half. Und schon dienerte der Sternwirt mit tiefem Bückling voraus in die Zimmer.

Josef Süß hatte sich grimmig bewölkt bei den Grobheiten des Gesellen; aber er schritt schweigend neben Isaak Landauer. »Nu«, lächelte der, »auch vor einem galonierten Geheimratsrock hätte er nicht können mit seinem Fuß weiter nach hinten auskratzen.« Und er lächelte und kämmte sich mit den Fingern den schüttersträhnigen, verfärbten Bart.

Die Gräfin hatte den Herzog an den Wagen geleitet; während der schwere Mann umständlich in die Kutsche stieg, stand sie in der liebenswürdigen Sicherheit der an Bewunderung gewöhnten Frau, schwatzte gleitend, freundlich, lächelte, winkte. Noch als sie sich wandte, die Stufen zu dem blauen Kabinett hinaufstieg, war Schritt und Haltung leicht, elastisch. Dort erst entspannte sie sich, die Schultern fielen, Arme, Hände hingen kraftlos, der Mund stand halb auf, das Gesicht erschlaffte jäh und erschreckend.

Aus, es war also aus. Sie hatte geschickt laviert, er hatte nicht zu sprechen gewagt, aber es war ja klar, es lag zutage, mit der Absicht, ihr aufzusagen, war er gekommen, und wenn ihm auch das entscheidende Wort steckengeblieben war, seine verlegene Höflichkeit sprach deutlich, war hundertmal schlimmer als gelegentlich früher Geraunz oder Zornausbruch oder beleidigtes Schweigen.

Sie saß schlaff, sie war so müde und ausgehöhlt; die gefaßt liebenswürdige Haltung, der elegische Hauch darüber, während ihr Herz tobte, fluchte, geiferte, diese Gefaßtheit war so aufreibend gewesen. Jetzt saß sie betäubt, in einer entsetzlichen Art bis zur Lähmung ausgeschöpft, auf dem niedern, breiten Lager. Puder und Schminke auf ihrem Antlitz klaffte, das heitere Feuer, das sie in ihren großen Augen angezündet, losch hin, der mächtige gestickte Atlasrock hing in toten Falten, und unter der kunstvollen, mit kleinen Rubinen besetzten Sbernia – sie hatte die Mode aufgebracht, und sogar in Versailles ahmte man sie nach –, unter der kunstvollen Sbernia verlor selbst das fröhliche, nußbraune Haar seine sorglose Frische.

Aus also. Und warum? Der Preußenkönig hatte gebohrt, der Hund, der schäbige, mit seinem schalen Geschwätz von Pflicht und Blödsinn. Ihr Bruder hatte gehetzt, der Intrigant, der verfluchte, tückische, eiskalte. Er brauchte sie nicht mehr, seine Stellung beim Herzog war fest genug; es war klüger, sie abzuschütteln, ehe er in ihren Sturz hineinverwickelt würde. Sie war ein Hindernis, kostete Rücksichten in der Politik gegen den Kaiserhof, kostete Geld, viel Geld, das man ohne den Umweg über sie bequemer und reichlicher in die eigenen Kassen lenken konnte. Oh, wie sie ihn durchschaute, den Rechner, den hundsföttischen. Pfui, pfui, pfui! Aber sie wollte es ihm heimzahlen. Noch stand sie, lebte sie, der Herzog hatte noch nicht gesprochen, noch regierte sie, sie, sie im Land. Aber das alles konnten für den Herzog keine Gründe gewesen sein. Sie hatte ganz andere Stürme bestanden. Sie hatte den Kaiser, das ganze Reich, Volk und Landschaft und Konsistorium zu Gegnern gehabt und hatte geatmet und war gestanden. Ihr Bruder! Der Preußenkönig! Bah, das waren keine Gründe. Und sie sah den wahren Grund auf sich zukriechen, sah ihn schleimig ihre Gedanken umklammern, wußte ihn und wußte ihn nicht, schlug wie die Raupe an der Nadel dagegen, daß er aus dunklem Gefühl Bewußtsein werde. Ihr Blick suchte den Spiegel, mied ihn. Sie sank, die schwere Frau, noch hilflos tiefer in sich zusammen, ein Haufe schlaffen Fleisches in den prunkenden Stoffen.

»Auf deiner Stirne wohnt

Minerva hoch in Ehre,

In deinem Auge Zeus,

In deinem Haar Cythere«,

so hatte der Hofpoet gesungen, vor dreißig Jahren. Sie brauchte keinen Spiegel, sie wußte den Grund.

Sie stöhnte, lehnte vornüber, die Augen geschlossen, die Hand nach dem Herzen. Luft! Luft! Ihr Asthma preßte sie. Erholt, raffte sie sich auf, raste durchs Haus, befahl, widerrief, ohrfeigte die Zofe, schrie, sandte Kuriere nach allen Richtungen.

Noch war sie da. Man sollte sehen, daß sie noch da war. Er hatte nicht gesprochen. Das hatte sie verhindert, glücklicherweise. Sie hatte sich gezähmt. Übermenschlich war es gewesen, so an sich halten, aber sie hatte es gekonnt. Und jetzt hatte er nicht gesprochen, ah!, und jetzt mußten sie ihren schmutzigen Jubel noch zurückhalten in ihren Därmen, und jetzt war sie noch da und wird es zeigen, wie sie da war.

Sie hatte zuverlässige Korrespondenten um den Herzog. Eberhard Ludwig war noch immer in Neßlach, in seinem Jagdschloß. Das war gut, sehr gut war das. Sie erhielt täglichen Bericht. Täglich ritt ihr Kurier von Neßlach nach Wildbad. Um jede kleinste Anordnung des Herzogs wußte sie, was er aß und trank, wann er zu Bett ging, jagte, tafelte, spazierenging. Er hatte nur die Ungarin um sich, und die nur im Tag eine halbe Stunde. Sonst sah er niemanden, niemanden von seinen Räten ließ er vor. Gut, gut. Er schämte sich wohl, daß er das Wort nicht gewagt hatte, wollte nicht weiter in sich drängen lassen. Die Regierungsakten wuchsen, warteten auf seine Unterschrift. Der schwierige Handel mit Baden-Durlach wegen des Kostenbeitrags für die Festung Kehl stand vor einem günstigen Vergleich, der Geschäftsträger der Markgräfin drängte, aber der Herzog war nicht zu erreichen. Auch das Abkommen mit Heilbronn und Eßlingen über die Neckarregulierung forderte dringend Resolution: und kein Herzog, kein Herzog. All gut, all gut. Dafür ließ er jetzt die Ritter seines Hubertusordens kommen und soff mit ihnen herum. Er selber legte das Ordenszeichen nicht ab, das goldene Kreuz mit dem rubinroten Schmelzwerk, den goldenen Adlern und dem Jägerhorn und der Devise: Amicitiae virtutisque foedus. Auch die ungarische Tänzerin mußte in Neßlach bleiben, die blutjunge, heillos törichte, makellos gewachsene. All gut, all gut. Mochte er mit den Jagdkumpanen saufen, mit dem blitzdummen Geschöpf huren, aber keine Räte, keine Hetzer, keine Intriganten.

Sie gönnt sich nicht Ruhe mittlerweile. An ihre Verwalter und Intendanten gehen verschärfte Ordres, aus ihren Gütern und Herrschaften den letzten Groschen herauszupressen. Sie schafft zwanzig neue Beamtenstellen, höchst überflüssige, und ihre Zutreiber müssen diese Ämter von heute auf morgen verkaufen, die Kaufgelder und Kautionen in die gräfliche Schatulle einliefern. Das herzogliche Kammergut, trotzdem ihr Holz, Wein, Früchte geliefert waren, erhält eine ungeheure Rechnung über Spesen, die ihr die letzten Besuche Eberhard Ludwigs verursacht hätten. Wie ein ausgehungerter Hund am Knochen nagt sie an allen Einkünften des Herzogtums, gierig und verbissen, und täglich geht Geld außer Landes, große Summen, an ihre Bankiers in Genf, Hamburg, Venedig.

Und der Herzog ist noch immer in Neßlach. Er hat sich aus dem Marstall die drei großen Gespanne kommen lassen, jedes von acht Pferden, mit denen kutschiert er jetzt alle Künste der Reitschule. Die Ungarin kreischt, die Herren vom Hubertusorden applaudieren in ehrlicher Bewunderung.

Endlich, hergewünscht, hergeflucht, heiß erwartet, kommt Isaak Landauer nach Wildbad. In seinem schmierigen Kaftan saß er im Arbeitskabinett der Gräfin inmitten von Lapislazuli und Zierat, Spiegeln und goldenen Putten. Die Gräfin ihm gegenüber, prächtig, am Sekretär, zwischen ihnen in hohen Stößen Akten, Tabellen, Rechnungen. Er schaute durch, prüfte, die Gräfin gab ihm hemmungslos Auskunft, er entdeckte hier und dort noch Lücken, wies schärfere Schrauben, Pressungen. Die Gräfin, den zu fetten Nacken wie die makellosen Arme nackt, hörte aufmerksam zu, machte Einwendungen, notierte. Schließlich verlangte sie auf drei ihrer Dörfer ein ungeheures Darlehen.

Isaak Landauer schaute sie an, wiegte den Kopf, sagte vorwurfsvoll: »Habe ich das verdient, Exzellenz?« – »Was verdient?« – »Daß Sie mich für einen ausgemachten Narren halten.« Sie, auffahrend: »Was will Er, Jud? Wohin zielt Er? Hätt Er mir vor zwei Jahren das Geld nicht geliehen? Bin ich jetzt weniger gut?« Der Jude, behutsam: »Wozu braucht Euer Exzellenz das Geld? Es aus dem Land zu schaffen. Weshalb es aus dem Land schaffen? Doch nur, weil Sie Eventualitäten fürchten. Wenn aber Eventualitäten zu fürchten sind, dann sind die Güter keine Garantie. Wollen Sie, daß ich soll an Ihnen Geld verlieren?« Die Gräfin schaute vor sich hin, hilflos; dann zu ihm, und ihre Augen sagten ihm, daß es um viel mehr ging als das Geld, ihre Augen bekannten ihm all ihre Ängste, Hoffnungen, Zweifel. »Er ist klug, Jud«, sagte sie nach einer Weile. »Glaubt Er, daß ich es wagen darf, die Güter« – sie stockte – »nicht zu beleihen?«

Er hätte ihr gern etwas Freundliches gesagt. Aber sie war eine gescheite, feste Frau, sie brauchte, sie wollte keine Vertröstung und Verschleierung, es war geradezu unanständig, ihr mit so was zu kommen. Er schaute sie auf und ab, und sie war bedenkenlos offen zu ihm, er sah ihr entspanntes Gesicht, den gelösten, feisten Leib, und er wußte auf ihren dringlich fragenden Blick keine andere Antwort als ein Schweigen und ein Achselzucken. Da ließ sie sich vollends fallen. Sie brach in ein lautes, haltloses Weinen aus wie ein kleines Kind. Dann begann sie unflätig zu schimpfen auf die Minister, ihren Bruder, ihren Neffen und die andern alle, ihre Kreaturen, die sie fallenließen und keine Hand rührten, die sie noch stießen. Die Kanaillen, die schmutzigen! Sie hatte sie in ihre Stellungen gebracht, an ihr waren sie heraufgeklettert. Jeden Groschen, jeden Knopf an ihren Uniformen dankten sie ihr. Zudem hatten sie einen förmlichen Vertrag mit ihr, hier in der Schublade hatte sie das Papier, einander in günstigen und in widrigen Umständen nach Kräften beizustehen. Die Hundsfötter, zu schlecht für die Hölle und den Schinder! Denn selbst jeder Pracher, Teufel und Spitzbub hält solche Verträge und Kumpanei.

Der Jude sah still zu, wie sie wütete, ließ sie sich ausschäumen. Schließlich hustete sie, ihr Gesicht lief rot an, sie schnaufte, röchelte, weinte zuletzt haltlos, still vor sich hin. »Ach Jud«, jammerte sie, »ach Jud«, zerbrochen, geschüttelt, hemmungslos, die stolzen Stoffe hingen tot an ihr herunter.

Isaak Landauer kämmte sich mit den Fingern den strähnigen Bart, wiegte den Kopf. Dann ergriff er, behutsam, ihre große, warme Hand, murmelte vor sich hin, streichelte sie.

Gerüchte, niemand wußte woher, stoben im Lande auf von dem nahen Fall der Gräfin, hier, dort, an allen Ecken. Niemand wagte ein lautes Wort, aber flüsternd ging es durch alle. Es war ein großes, heimliches Aufatmen. In einzelnen Dörfern wurden schon Glocken geläutet, Dankgebete gesprochen, man verkündete nicht wofür, beließ es bei dem allgemeinen: für eine gnädige Fügung.

Aber es wurde nichts anders vorläufig, im Gegenteil, der Druck wurde härter, erbitterter. Alte Beamte wurden ihrer Stellen entsetzt, weil ein neuer Bewerber ihr Amt höher bezahlte. Die Generalvisitation wütete gegen Gemeinden und Privatleute mit Anklagen und Inquisitionen, von denen man sich nur durch hohe Zahlungen lösen konnte; alle Staatsstellen, selbst das Kirchengut und die Witwen- und Waisenkassen wurden zu hohen und sehr unsichern unverzinslichen Darlehen an die Schatulle der Gräfin gezwungen; die Agenten der Gräfin schalteten herrischer und maßloser als je zuvor. Und als gar ein scharfes herzogliches Reskript erschien, das von neuem und nachdrücklich alle übeln Reden gegen die Gräfin mit schweren Strafen bedrohte, sanken auch die leichtestflügeligen Hoffnungen lahm zur Erde.

Der engere Ausschuß des Parlaments, der Landschaft, hielt alle drei Tage Sitzung. Die Herren waren vom König von Preußen empfangen worden, sie wußten um das Zerwürfnis der Gräfin mit ihrem Bruder, sie spürten den nahen Fall der Gräfin, wollten ihn beschleunigen. Man beriet über die Möglichkeit einer neuerlichen Anklage bei Kaiser und Reich, über neue Beschwerden beim Herzog gegen gewisse Maßlosigkeiten der Grävenitzschen aus der letzten Zeit. Die elf Herren saßen beisammen, acht Mitglieder des engeren Ausschusses, die beiden Konsulenten, der Vorsitzende und Erste Sekretär. Sehr verschieden die einzelnen, von dem plumpen, massigen Johann Friedrich Jäger, Bürgermeister zu Brackenheim, bis zu dem feinen, eleganten, weltläufigen Konsistorialrat und Prälaten von Hirsau, Philipp Heinrich Weißensee; aber alle einig pochend auf die Rechte und Privilegien der Landschaft. Es polterte von wüsten Verwünschungen der Gräfin, mit Ruten müsse das Saumensch aus dem Land gepeitscht werden, und Johann Friedrich Bellon, Bürgermeister zu Weinsberg, haute auf den Tisch, wenn es soweit sei, werde er seine kleinen Kinder mit auf die Gassen nehmen und sie heißen, das Luder, das pockennarbige, von der Lustseuche zerfressene, ins Antlitz speien. Es dröhnten stolze Reden, wo in Europa gebe es noch ein Land mit soviel Freiheiten, nur Württemberg und England habe sich soviel parlamentarische Sicherungen erkämpft, und die Luft im Hause des Landtags war voll von Bürgerstolz, Schweiß und Demokratie. Aber es kam nur zu schwächlichen Beschlüssen, und da Eberhard Ludwig nicht zu erreichen war und die Geheimräte nur höflich verzögernde Antworten hatten, kamen auch diese Resolutionen ins Hinken und blieben nach drei Wochen vergilbende Akten.

Auch die Herzogin Johanna Elisabetha, die in dem verödeten Stuttgarter Schloß saß und wartete, hatte von der nahen Ungnade der Gräfin gehört. Die Herren von der Landschaft gingen bei ihr ein und aus, der Kaiser sandte ihr Spezialbotschaft, der König von Preußen hatte ihr in besonders feierlicher Form aufgewartet. Wie spottete man in den Kreisen der Gräfin über diese zeremoniöse Visite des schäbigen Königs bei der verschlissenen Herzogin. Die Herzogin hörte aufmerksam auf alle Stimmen, verzeichnete sorglich jede Schwankung Eberhard Ludwigs, aber ihre Hoffnung stieg nicht hoch, und ihre Enttäuschung fiel nicht tief, als sich der ersehnte Umschwung verzögerte. Sie hatte so lange gewartet. Dreißig Jahre saß sie jetzt in dem kahlen Schlosse, in dem der Herzog ihr nur den nötigsten Hausrat belassen hatte, saß trübselig, verstaubt, eigensinnig, sauer, wartete. Wohl machten auch ihr die fremden Gesandten untertänige Besuche, aber sie wußte, es war langweilige Pflicht, und man zeichnete sie nur aus, wenn man mit dem Herzog brouilliert war, ihn ärgern wollte. Das Leben war drüben in Ludwigsburg, in der Stadt, die Eberhard Ludwig der Rivalin gebaut hatte, als sie, die Herzogin, verbissen in Stuttgart aushielt, Demütigungen, Drohungen nicht achtend. Das Leben war drüben in Ludwigsburg, wohin der Fürst seine Residenz verlegt hatte, wohin er die widerstrebenden Ämter, Kollegien, Konsistorium, Kirchenrat zwang. Dort hatte er für jene, für die Mecklenburgerin, die Mätresse, die Person, das prunkende Schloß gebaut, dorthin aus dem Stuttgarter Palais alle Kleinodien, Prunkmöbel schaffen lassen.

Johanna Elisabetha erinnerte sich der Mecklenburgerin – auch in Gedanken nicht nannte sie den Namen der Verfluchten – vom ersten Tag an. Sie hatte ihren Gatten in Liebe und Ehren gehalten, sie war stolz auf den Kriegshelden und Kavalier, sie wußte auch, daß sie nicht schön genug war für ihn, und verdachte es ihm nicht, wenn er mit ihren Hoffräulein herumscharmutzierte. Auch als sie ihm einen Sohn und eine Tochter gebar und man ihr andeutete, die Schwächlichkeit der Kinder rühre von dem wilden Leben des Herzogs her, trug sie es ihm nicht nach. Wie die Mecklenburgerin an den Hof kam – ihr Bruder hatte sie hergebracht, der intrigante Kuppler, um durch sie seinen Weg zu machen –, begriff sie zwar nicht, was viel an der Person sei, aber wenn Eberhard Ludwig sie wollte: sie hatte zu so vielem die Augen zugedrückt, sie gönnte sie ihm. Überdies hatte sich der Herzog zuerst gar nichts aus ihr gemacht, erst später bei einer Liebhaberaufführung, in der er mit ihr spielte, entzündete er sich. Sie sah noch die frechen, nackten Brüste, mit denen die Person in dem koketten Phyllis-Kostüm sich an ihn drängte. Und seither war kein Tag vergangen, daß die Person sie nicht angehaßt hätte. Sie hatte den Herzog mit Hexerei an sich gelockt, das war ja klar; sie hatte auch versucht, sie, die Herzogin, zu vergiften; daß ihr damals auf die Schokolade so schlecht geworden war, da war das Gift der Mecklenburgerin schuld, und nur eine gnädige Fügung hatte sie vor Schlimmerem bewahrt und sie von dem Kuchen nichts genießen lassen. Für jeden, der Augen hatte, lag es am Tag, daß sie eine verfluchte Hexe, Giftmischerin und Teufelsbuhle war. War sie nicht auch vor der Zeit eines blauschwarzen, behaarten, verschrumpften Wechselbalgs genesen?

Aber sie, die Herzogin, hatte sich durch keine Untat, Kränkung und Hexerei aus ihrem Rechte treiben lassen. Es war längst kein saftiger Haß mehr in ihr, es war ein trockenes, dürres, scheeles, pedantisches, verstaubtes Warten auf den Zusammenbruch der Person. So saß sie in dem weiten, ausgeleerten Schloß, trübselig, kahl, sauer, und die Nachrichten, die zu ihr kamen, verloren ihre Farbe und wurden breiig, zäh, spinnwebfarben wie sie selber.

Um jene Wochen ward im schwäbischen Kreis bald hier, bald dort der Ewige Jude gesehen. In Tübingen sagte man, er sei in einem Privatwagen durch die Stadt gefahren, andere wollten ihn auf der Landstraße gesehen haben, zu Fuß, in der Post, der Torschreiber von Weinsberg erzählte von einem seltsamen Fremden, der einen sonderbaren Namen angegeben und ein merkwürdiges Gewese gehabt habe; wie er aber weiter in ihn gedrungen sei um gehörige Legitimation, habe ihn der Unheimliche mit einem so höllischen Blick durch und durch geschaut, daß er in seiner Verwirrung von ihm abgelassen habe, und jetzt noch spüre er den Teufelsblick wie Reißen durch alle Glieder. Überall ging das Geraune, die Kinder wurden gewarnt vor dem Aug des Fremden, und Weil die Stadt, wo er in der Umgebung zuletzt gesehen worden, gab ihrer Torwache verschärfte Instruktionen.

Kurze Zeit später erschien er in Hall. Am Tor erklärte er kecklich, er sei Ahasverus, der Ewige Jude. Der Magistrat, sogleich beschickt, verordnete, man solle ihn vorderhand in der Vorstadt belassen. Ängstlich neugieriges Volk sammelte sich. Er sah aus wie häufig Hausierjuden, mit Kaftan und Schläfenlocken. Er erzählte bereitwillig, gurgelnd, oft unverständlich. Vor dem Kreuz warf er sich nieder, heulte, schlug sich die Brust. Im übrigen handelte er mit Kleinkram, und man kaufte ihm viel ab, Amulette, Andenken. Schließlich vor den Magistrat gestellt, erwies er sich als Schwindler, wurde gestäupt.

Aber diejenigen, die ihn gesehen hatten, erklärten, das sei freilich nicht der rechte. Der habe nichts Besonderes an seiner Tracht gehabt, einen soliden holländischen Rock wie andere auch, leicht altmodisch, er habe ausgesehen wie ein hoher Beamter oder ein gutgestellter Bürger. Nur sein Gesicht und die Luft um ihn herum, sein Auge vor allem: kurz, man habe eben sogleich gespürt, das ist der Ewige Jude. So erzählten, an allen Ecken des Landes, übereinstimmend die Verschiedensten.

Die Gräfin fragte Isaak Landauer, was er von den Gerüchten halte. Er drückte herum, er sei kein Leibniz. Er sprach nicht gern von diesen Dingen, hier sah man nicht klar, er war geneigt, nichts zu glauben, aber seine Skepsis war ohne Sicherheit. Auch bekam, wer sich mit solchen Dingen befaßte, leicht mit der Polizei und den Kirchenbehörden zu tun. Sie, die Gräfin, glaubte fest an Magie und geheime Kunst. In Güstrow, als Kind, war sie viel mit der alten Johanne zusammengewesen, der Schäferin, die die Leute dann erschlagen hatten, weil sie das böse Wetter hergewünscht. Sie hatte manchmal offen, häufiger, wenn die Alte sie hinausjagte, heimlich zugeschaut, wie sie Salben und Tränke mischte, und ganz im Innern war sie überzeugt, ihr Aufstieg und ihre Macht rühre bloß davon her, daß sie sich nach dem Tod der Alten mit dem Bocksblut, das die zuletzt gerührt, heimlich Nabel, Scham und Schenkel bestrichen hatte. Sie unterhielt sich gern und voll prickelnd scheuer Gier mit den Alchimisten und Astrologen, die an den Ludwigsburger Hof kamen, und wenn sie auch in Gesellschaft die Philosophin spielte und den Freigeist, so mischte sie doch in der Stille gespannt und schwer atmend manches Rezept zur Erhaltung der Jugend, zur Gewinnung der Macht über den Mann. Daß die Juden ihre unerhörten Erfolge, ihre genialen Einfälle in allem Finanziellen magischen Mitteln verdanken, so dumm war sie nicht, das nicht zu durchschauen. Sie hatten solche Mittel übererbt bekommen von Moses und den Propheten her; weil Jesus diese Mittel allen Völkern verraten und sie dadurch wertlos machen wollte, darum hatten sie ihn gekreuzigt. Und wenn jetzt Isaak Landauer sich vor ihr wand und drehte und sie, die ihm soviel Vertrauen gezeigt, in ihrer Not verließ, so war das schäbige Konkurrenzangst und schweres Unrecht von ihm.

Die Gerüchte von dem Ewigen Juden hatten ihr von neuem den Vorsatz gefestigt, wenn alles andere versagte, den Herzog mit magischen Mitteln zurückzugewinnen. Sie drang mit Ungestüm in Isaak Landauer, sie zu dem Ewigen Juden zu bringen. Und wenn er dafür nicht zu haben sei – er solle keine Ausflüchte machen, natürlich könne er es bei einigem guten Willen –, dann solle er ihr doch wenigstens einen andern Kabbalisten beschaffen, der sich bewährt habe und an den sie glauben könne.

Isaak Landauer rieb sich leicht fröstelnd die blassen Hände. Ihr Ansinnen und ihre Heftigkeit war ihm sehr unbequem. Gott, er war ein zuverlässiger Kaufmann, er beschaffte alles, was man wollte, Geld, Ländereien, einen Adelstitel, eine kleine reichsunmittelbare Grafschaft, wenn es sein mußte, überseeisches Gewürz, Neger, braune Sklavinnen, sprechende Papageien: aber wo in aller Welt sollte er den Ewigen Juden hernehmen oder einen soliden Kabbalisten, mit dem man Staat und Effekt machen konnte? Natürlich dachte er einen Augenblick daran, einen geschickten Schwindler vor die Gräfin hinzustellen; aber er wollte schließlich diese gute Kundin, die sich so ganz auf ihn verließ, nicht übers Ohr hauen. Er war immer solid gewesen. Und dann war es auch zu riskant. Die Landstände haßten ihn sowieso, sie hätten ihn mit größter Freude vors Gericht und, Gott behüte, auf den Scheiterhaufen gebracht. Er beurlaubte sich von der Gräfin gegen seine Gewohnheit verstimmt und mit einem widerwilligen halben Versprechen.

Er ging zu Josef Süß Oppenheimer.

Der hatte sich mittlerweile redlich bemüht, müßig zu sein; aber er hatte nicht die Gabe, sich auf solche Art zu erholen. Er litt unter dem Nichtstun; er fühlte sich, der rastlose Mann, unbehaglich, krank, wenn er nicht Projekte anzetteln, mit großen Herren verhandeln, Bewegung auslösen, in Bewegtem wirbeln konnte.

Von klein auf hatte es ihn umgetrieben, ihm keine Rast gegönnt. Schon als Kind hatte er es durchgedrückt, daß er nicht bei seinem Großvater in Frankfurt bleiben mußte, dem frommen und stillen Reb Salomon, dem Vorbeter in der Synagoge. Seine Eltern, der Vater war Direktor einer jüdischen Komödiantengesellschaft, mußten ihn auf ihre Tourneen mitnehmen. So war er schon als Sechsjähriger an den Herzogshof von Wolfenbüttel gekommen und hatte große Herren kennengelernt. Der Herzog mochte den Vater und mehr noch die Mutter, die wunderschöne Michaele Süß, gern leiden, und die Herzogin fraß ihren Narren an dem hübschen, leidenschaftlichen, altklugen, koketten Knaben. Ah, wie war er anders als das flachsblonde Phlegma der Kinder am Wolfenbüttler Hof. Von daher schon rührte seine sehnsüchtige Neigung, mit großen Herren zu verkehren. Er brauchte Abwechslung, es mußten viele, viele Gesichter an seinem Wege stehen, er hatte Durst auf Menschen, eine wütende Lust, immer mehr Gesichter in sein Leben zu stopfen, er vergaß ihrer keines. Der Tag war verloren, an dem er nicht mindestens vier neue Menschen sah, er war stolz darauf, ein Dritteil aller deutschen Fürsten, die Hälfte aller großen Damen von Angesicht zu Angesicht zu kennen.

Er war kaum mehr in der Heidelberger Schule zu halten. Dreimal in vier Jahren brannte er durch, lief den Schauspielern nach. Und als gar der Vater starb, konnten alle Bitten, Tränen, Drohungen, Verwünschungen der Mutter ihn nicht zähmen. Der hübsche Junge, von der ganzen Stadt verhätschelt, frühreif, als Wunderkind im Rechnen angestaunt, stolz auf sein prinzliches Aussehen, machte die tollsten Streiche. Die jüdischen Nachbarn schlugen die Hände zusammen, die christlichen lachten amüsiert und wohlgefällig, die Mutter, unter Flehen, Flennen, Schimpfen, ward zwischen Stolz und Empörung hin und her geworfen. Auch in Tübingen, wo er die Rechte studieren sollte, hielt es ihn nicht in den Hörsälen. Mathematik und Sprachen bewältigte er im Spiel, die Rabulisterei der Jurisprudenz, die die Professoren sich in mühsamer Theorie zusammenklaubten, stak ihm in den Fingern. Viel wichtiger war es ihm, mit den adeligen Studenten zusammenzusein, und ließen sie ihn nur eine Stunde als Kavalier und Kameraden gelten, so machte er ihnen gern dafür die ganze übrige Woche den Diener und Bajazzo. Er erkannte mehr und mehr: dies war seine Profession, große Herren zu traktieren und mit ihnen umzugehen, ihr Efeu zu sein. Wer verstand es wie er, in die Launen und Lüste der Fürsten hineinzukriechen, still zu sein zur rechten Zeit, zur rechten Zeit den Samen seines Willens in sie zu senken wie der Obstspinner seine Saat in die reifende Frucht. Und wer gar konnte sich dem Frauenzimmer anschmiegen wie er und mit weicher und sicherer Hand auch die Sprödeste herumbiegen. Es brannte in ihm: mehr Länder, mehr Menschen, mehr Frauen, mehr Pracht, mehr Geld, mehr Gesichter. Bewegung, Geschehen, Wirbel. Nicht in Wien litt es ihn, wo seine Schwester in stolzer Ehe lebte, glänzte, verschwendete, nicht in den Kontoren seiner Vettern Oppenheimer, der kaiserlichen Bankiers und Armeelieferanten, nicht in der Kanzlei des Mannheimer Advokaten Lanz, nicht in den Büros seines Bruders, des Darmstädter Kabinettsfaktors, der jetzt, Christ geworden, Baron Tauffenberger hieß. Es trieb ihn, es jagte ihn. Neue Frauen, neue Händel, neue Pracht, neue Sitten. Amsterdam, Paris, Venedig, Prag. Wirbel, Leben.

Bei alledem schwamm er in seichtem, abgespaltenem Wasser und konnte nicht recht auf den vollen Fluß hinauskommen. Erst die Hilfe Isaak Landauers hatte ihm ernsthafte Geschäfte verschafft, die kurpfälzische Stempelsache und den Darmstädter Münzakkord, und erst der flinke Mut, mit dem er diese riskanten Affären gepackt und im rechten Moment aus der Hand gelassen, hatte seinen Namen vollwichtig gemacht. Er hätte gültige Ursache gehabt, jetzt in Wildbad die Arme zu breiten, auszuatmen.

Aber dies war ihm nicht gegeben, Müßiggang juckte ihm die Haut, und er zettelte, nur um seine Kraft spielen zu sehen, hundert kleine Amouren, Projekte, Geschäfte an. Sein Leibdiener und Sekretär, Nicklas Pfäffle, den er dem Mannheimer Advokaten Lanz abgespannt hatte, ein dicker, gelassener, undurchdringlicher, unermüdlicher, blasser Mensch, mußte den ganzen Tag auf dem Weg sein, ihm Neuigkeiten zu schaffen, Adressen, Hantierung, Lebensläufe der Badegäste zu erkunden.

Süß sah sehr jung aus, und er war stolz darauf, daß man ihn gemeinhin auf rund dreißig schätzte, zehn Jahre jünger fast, als er wirklich war. Er mußte Frauenblicke in seinem Rücken spüren, umgewandte Köpfe, wenn er auf der Promenade ritt. Die mattweiße Haut, die er von der Mutter geerbt, pflegte er mit hundert Essenzen, er ließ sich gerne bestätigen, daß seine Nase griechisch war, täglich mußte der Coiffeur ihm das reiche dunkelbraune Haar wellen, daß es ja nicht unter der Perücke leide; häufig auch trug er es ohne Perücke, trotzdem sich das eigentlich für einen Herrn seines Standes nicht schickte. Er achtete darauf, daß der kleine Mund mit den übervollen, sehr roten Lippen sich nicht durch viel Lachen verzerre, und ängstlich suchte er im Spiegel die freie Heiterkeit der glatten Stirn, die ihm das Zeichen des Kavaliers war. Er wußte, daß er auffiel, er brauchte Bestätigungen, immer neue, seiner Wirkung, und eine Frau, die er nach einer Nacht verabschiedet hatte, blieb ihm fürs Leben lieb, weil sie seine dunkelbraunen, blitzenden, raschen Augen unter den gewölbten Brauen fliegende Augen genannt hatte.

Wie die Mode und sein Behagen immer neue Speisen, Weine, immer anderes Kristall und Porzellan für seine Tafel forderte, so für sein Bett immer neue Frauen. Er brauchte sie und verbrauchte sie. Sein Gedächtnis, ein ungeheures Museum, das alles in zuverlässiger Konservierung hegte, hielt Gesichter, Leiber, Duft, Stellung in sicherer Treue fest; weiter rührte keine. Eine einzige hatte sich tiefer als nur in die Sinne in ihn hineingesenkt, das Jahr, das sie mit ihm zusammen war, das Jahr in Holland, stand fremdartig und sehr allein in seinem Leben, aber er hatte das Erinnern daran verkapselt, er sprach nicht davon, seine Gedanken gingen scheu an diesem Jahr und dieser Verklungenen vorbei, nur sehr selten schlug es große Augen auf und sah ihn bestürzend und verwirrend an.

Er hatte sich von Isaak Landauer auch deshalb so leicht bestimmen lassen, nach Wildbad zu gehen, weil die Kur in diesem Ort seit ein paar Jahren von jedem gebraucht werden mußte, der im westlichen Deutschland als Kavalier gelten wollte. Selbst von Frankreich kamen Gäste herüber, hier sah man das modischste Fuhrwerk, man hörte die eleganteste Konversation, man konnte an der Tenue von Versailles die Eckchen und Rauheiten abschleifen, die auch der modischste deutsche Hof nicht ganz zu vermeiden wußte. Hier war große Welt, man sah hier am deutlichsten die leisen Schwankungen in der Wertung der einzelnen und ganzer Schichten, wer hochkam und wer niederglitt, das lebendige Beispiel war hundertmal instruktiver als der »Mercure galant«. Nur hier in Deutschland konnte man mit Sicherheit feststellen, welches Fußgelenk der à-la-mode-Kavalier bei der Auswahl seiner Herzdame zu bevorzugen hatte, wollte er nicht als rückständig angesehen werden.

Da Süß in keiner größeren Aktion stand, ging er ganz in diesem Gewese auf, trieb sich mit flinken Stößen in den galanten Nichtigkeiten herum. Nicht ausgefüllt und hungrig nach Geschehnissen, sog er aus dem Leben der andern. Er konversierte mit dem Wirt und machte Projekte, wie der Gasthof, in dem er wohnte, rentabler werden könnte, er schlief mit der jungen Aufwärterin, er bestellte für den Besitzer des Spielhauses neue, elegantere Pharaotische, wobei er vierhundert Gulden verdiente, er war der am liebsten gesehene Gast beim Lever der Prinzessin von Kurland, er renkte die Liebeshändel des Badedieners ein, er beschaffte durch die Gewandtheit seines Nicklas Pfäffle aus den Ludwigsburger Treibhäusern Orangeblüten für die Tochter des Gesandten der Generalstaaten, er durfte, wenn sie im Bad saß und mit den Kavalieren konversierte, auf der Holzdecke, die, nur ihren Kopf freilassend, auf der Wanne lag, ihr zunächst sitzen, und viele sagten, er dürfe sich noch ganz andere Freiheiten nehmen. Er machte einen vorteilhaften Kontrakt mit einem Amsterdamer Juwelenhändler über die Schleifung gewisser Steine, bei einem Streithandel mit einem Grafen Tratzberg, einem plump frechen bayrischen Herrn, schnitt er so gut ab, daß der Bayer anderntags sich aus Wildbad trollen mußte, er erwirkte dem Gärtner Kredit für neue Parkanlagen beim Badehaus und gewann dabei hundertundzehn Taler. Er hielt am Spieltisch, als alle deutschen Herren sich ängstlich zurückzogen, dem jungen Lord Suffolk als einziger Widerpart und verlor lächelnd und höflich viertausend Gulden. Er ohrfeigte einen Modehändler, der ihn beim Kauf eines Strumpfgürtels um vier Groschen betrügen wollte. Er antichambrierte täglich beim sächsischen Minister – der sächsische Hof suchte eine Anleihe – und stand barhaupt und tief gebückt, während der Minister, den Blick steif und hochmütig gradaus, grußlos vorüberging. Er beneidete brennend Isaak Landauer, der unter dem Spott der Gassenbuben, den Verwünschungen des Volkes, der Verachtung der großen Welt ins Haus der Gräfin ging, rechnete, Geld bewegte, Land bewegte, Menschen ledig machte, unter Ketten begrub.

In solcher Laune fand ihn Isaak Landauer. Er begann behutsam von den seltsamen Kaprizen, mit denen Gott, gelobt sein Name, die Christen bedacht und bestraft habe. Der alte Ratsherr aus Heilbronn mußte immer seine sieben Hündchen um sich haben, und von genau gleicher Größe, das Fräulein von Zwanziger hatte das Gelübde getan, am Freitag kein Wort zu sprechen, und der Herr von Hohenegg hatte den Ehrgeiz, bei allen adeligen Begräbnissen in der Umgegend zugegen zu sein, und scheute zu solchem Zweck keine Strapaze. Dann kam er vorsichtig auf das Gerede vom Ewigen Juden zu sprechen und endete mit der beiläufigen Mitteilung, daß die Gräfin die seltsame Laune habe, den Ewigen Juden oder sonst einen Magus oder Astrologus, am liebsten einen zuverlässigen Kabbalisten bei sich zu sehen. Dann schwieg er, wartete.

Süß hatte sogleich gemerkt, der andere wolle etwas. Er zog sich zusammen, lauerte. Daß Isaak Landauer von dem Ewigen Juden anhub, warf ihn aus seiner Rechnung. Dies rührte einen Punkt, der nicht ins Geschäft zu ziehen war, sich nicht in Ziffern umsetzen ließ. Rührte an das Verkapselte. Auch er hatte natürlich von den Gerüchten gehört; aber sein eingeborenes Talent, sich abzuschließen gegen alles, was ihm die Sicherheit verwirren konnte, hatte ihn leicht und rasch über Ahnungen, Trübungen weggleiten lassen. Nicht stoßen an das Verkapselte. Jetzt aber, wie Landauer damit begann, kroch das unbehagliche Gefühl unweigerlich ihn an. Er sah den Vorschlag Isaak Landauers an sich herankommen wie eine ferne Welle, er fürchtete ihn und wünschte ihn herbei, und wie jetzt Isaak Landauer einhielt, saß er in quälend prickelnder Spannung.

Und da fuhr der andere auch schon fort. Zögernd, die tastende Erwartung unter der Beiläufigkeit des Tones versteckt, fragte er: »Ich hab gemeint, Reb Süß, vielleicht Rabbi Gabriel.«

Da war es. Er zielte also, dieser Mensch, der da vor ihm saß und schlau und behaglich mit dem Kopf wackelte, mit sicherem Kalkül auf das, was er zu ahnen widerwillig abgelehnt, von sich abgeschüttelt hatte. Er zwang ihn, sich damit auseinanderzusetzen.

»Ich meine«, tastete er wieder, der andere, der Lockende, Beneidete, »ich meine, der Ewige Jude, von dem sie schwatzen, das kann doch nur er sein.«

Ja, ja, das hatte natürlich Süß auch gespürt, als er von jenen Gerüchten gehört hatte. Aber gerade davor hatte er sich abschließen wollen, daß solche Ahnung nicht Wissen werde. Rabbi Gabriel, sein Oheim, der Kabbalist, der Unheimliche, für jeden in seltsamem und beängstigendem Nebel, der einzige Mensch, über den er nicht ins klare kommen konnte, der einfach durch seine Gegenwart sein farbiges Weltbild entfärbte, seine Wirklichkeit entweste, seine klaren, runden Zahlen zweideutig machte, auswischte, der sollte für sich bleiben, weit weg. Es war nicht gut, nein, nein, es war bestimmt nicht gut, den ins Geschäft zu mengen. Er wird an das Verkapselte rühren. Wirrung wird herausspringen, Druck, Zwiespalt, Dinge, die sich jeder Rechnung und jedem Kalkül entzogen. Nein, nein, die Geschäfte waren hier, und jenes andere lag dort, behütet, fernab, und es war gut so, und es sollte so bleiben.

»Ich verlang es natürlich nicht umsonst, Reb Josef Süß«, tastete der andre sich weiter. »Ich würde Euch mit hineinlassen in das Geschäft mit der Gräfin.«

Josef Süß hatte alle Räder seines Kalküls angedreht. Er saß in großer Versuchung. In ihm arbeitete es, scharf, rasch, mit ungeheurer Energie und Präzision. Er wog sachlich und schnell alle Vorteile solchen Angebots, rieb sie blitzblank, zählte, rechnete. Verbindung mit der Gräfin, das war viel, das war mehr als ein großes Geldangebot. Beteiligt an diesem Geschäft, konnte er an den Herzog heran, von da zum Prinzen Eugen war ein Schritt. Er sah hundert Möglichkeiten, schwindelnd Weites rückte ganz nah.

Aber es ging nicht, es ging nicht. Alles auf der Welt konnte man preisgeben für ein Geschäft. Frauen, Freuden, Leben. Aber das nicht. Den Rabbi Gabriel in ein Geschäft ziehen, ihn verschachern, das nicht. Er glaubte an nichts, an Böses nicht und an Gutes nicht. Aber das hieß sich in Dinge stürzen, wo alles Rechnen und Wägen zu Ende war, das hieß sich in einen Wirbel stürzen, wo aller Mut so unsinnig war wie alle Schwimmkunst vergebens.

Er atmete heftig, gedrängt. Hob, mit einer Bewegung der Abwehr, jäh überfrostet, den Rücken. Es war ihm plötzlich, als schaute ihm ein Mensch über die Schulter, ein Mensch mit seinem eigenen Gesicht, aber ganz im Dämmer, nebelhaft.

»Ihr sollt nichts von ihm verlangen«, lockte Isaak Landauer vorsichtig weiter. »Ihr braucht ihm keinen Vorschlag tun. Alles, was ich will, Reb Josef Süß, ist, daß Ihr ihn herschafft nach Wildbad. Ihr brauchtet ja nur Euern jungen Menschen zu schicken, den Pfäffle, der würde ihn gewiß auftreiben. Ich würde Euch gut assoziieren an dem Geschäft mit der Gräfin.«

Süß schüttelte die Benommenheit von sich ab, raffte sich zusammen. Die Dinge traten wieder ein in ihre Farbe, Umriß, Klarheit, Greifbarkeit. Das Nebelgesicht hinter seiner Schulter verschwand. Unsinn seine Bedenklichkeit. Er war doch kein verschwärmter, dummer Junge. Ja, damals, als man ihm den Vorschlag gemacht hatte, sich taufen zu lassen, am kurpfälzischen Hof, daß er da nicht zugriff, das waren verständliche Hemmungen gewesen. Er wußte zwar jetzt noch nicht recht, warum er es nicht gemacht hatte wie sein Bruder und sich auf so einfache Weise Glanz, Position und Baronie verschafft. Aber er tat es eben nicht damals und hätte es auch heute nicht getan und nie und für kein Geschäft der Welt. Doch jetzt, was dieser da von ihm verlangte, der Listige, Kluge, Gewiegte, was war da denn viel dabei? Kein Mensch doch verlangte von ihm, daß er den Rabbi, den Unheimlichen, den drohend Unbehaglichen, verschachere. Wie hatte ihm da wieder seine Phantasie, die galoppierende, viel zu rasche, die Begriffe gewirrt. Herrufen sollte er den Alten, nichts weiter. Und dafür die Verbindung mit der Gräfin, dem Herzog, dem Prinzen Eugen. Ein Narr wäre er, wenn er nicht zugriffe, weil es ein wenig, er suchte das Wort, ein wenig unbehaglich war.

Zögernd, in einem halben Satze, sagte er, nach dem Rabbi zu schicken, an sich ginge das ja allenfalls. Sofort hackte Isaak Landauer zu. Aber nun forderte Süß an dem Geschäft mit der Gräfin einen Anteil, den der andere unmöglich bewilligen konnte. Eingehend, scharf schachernd, besprachen sie die Einzelheiten. Nur Schritt um Schritt, heftig kämpfend, wich Süß zurück.

Als sie schließlich übereingekommen waren, dachte Süß, lebte, atmete er nur noch in diesem Geschäft. Rabbi Gabriel sank ihm in das Verkapselte, sowie er den Diener weggeschickt hatte.

Nicklas Pfäffle fuhr mit der Post. Der blasse, fette, schweigsame Mensch fiel nirgends auf. Gelassen, gelangweilt, leicht müde von Aussehen, versteckte er seine Betriebsamkeit hinter dem melancholischen Phlegma seines gedunsenen, blutleeren Gesichts. Die Aufgabe einmal übernommen, klebte er daran, harzzäh und gleichmütig.

Die Spur des Fremden führte kreuz und quer durchs Schwäbische, ohne erkennbares Ziel, willkürlich. Verlor sich dann, tauchte in der Schweiz wieder auf. Der blasse, fette Mensch folgte gewissenhaft, Wendung um Wendung, unentrinnbar, unerregt.

Das war eine seltsame Reise, die der Fremde machte, und sehr anders als sonst eine Fahrt. Selten, daß er die nächste Straße wählte, er schlug sich in die Nebenpfade, je rauher ein Weg war, so willkommener schien er ihm. Was in aller Welt suchte einer in Wüsten von Stein und Eis, die Gott mit seinem Zorn geschlagen hatte.

Die wenigen Bauern, Jäger, Holzfäller dieser Gegend waren stumpf, hart vom Wort. Stieg der Fremde höher als ihre höchsten Weiden, so wandten sie ihm wohl einen Blick zu, aber langsam und teilnahmslos wie ihr Vieh, und langsam und teilnahmslos wandten sie ihn wieder ab, war er vorbei. Der Fremde trug sich unauffällig, schwere Kleider von gleichgültiger Farbe, ziemlich altmodisch, wie sie in Holland vor zwanzig Jahren modern gewesen sein mochten. Klein, breit, dicklich, den Rücken leicht rund, wanderte er, schwer von Schritt und stetig. Hier in den Bergen, wo nie sonst ein Fremder hinkam, war es leicht für Nicklas Pfäffle, ihn nicht zu verlieren. In der menschenvolleren Ebene indes war es schwer gewesen, dem Unauffälligen zu folgen. Es war ein sehr Seltsames, schwer Deutbares, was trotz dem Mangel an äußeren Merkmalen seine Fährte kenntlich machte. Die Leute fanden die Worte nicht dafür, es war nicht zu fassen, und doch war es einmalig und nicht zu verwechseln, und es war immer das gleiche scheue Geraune, in dem man davon sprach. Sein Weg war gekennzeichnet durch seine Wirkung; wer ihn sah, atmete schwerer, das Lachen zerbrach vor seiner Gegenwart, sie legte sich wie ein schwüler, beklemmender Reifen um den Kopf.

Nicklas Pfäffle, blaß, fett, gleichmütig, fragte nicht weiter nach der Ursache. Ihm genügte die Fährte.

Drei Bauernhöfe lagen ganz in der Höhe, eine kleine Holzkapelle dabei. Weiter oben weidete Vieh. Dann war nichts mehr, nur Eis und Stein.

Der Fremde klomm die Schlucht entlang. Unten, dünn und laut, hastete der Bach, man sah deutlich bis dahin, wo er unter Gletscher und Geröll ans Licht brach. Auf der andern Seite krochen Zirben hinan, spärlich, zäh, erstickten am Stein. Gipfel, weiß leuchtend, der besonnte Schnee schmerzte das Aug, zackten scharf und bizarr in das flimmernde Blau, schlossen in starrem Bogen das Hochtal. Der Fremde klomm umständlich, vorsichtig, nicht sehr geschickt, stetig. Überquerte Sturzbäche, Glitsch, rutschende Erde. Stand endlich auf einem Vorsprung, vor ihm der sperrende Bogen der vereisten Wände. Unter ihm streckte ein Gletscher die nackte, breite, zerschrundete Zunge, von der Seite her mündete ein anderer, alles endete in Ödnis und Geröll, Felsblöcke, wild verstreut, bildeten geheimnisvoll starrende, zerrissene Linien. Hoch über allem leuchtete höhnisch besonnt und unerreichbar der adelig zarte Schwung der beschneiten Gipfel.

Der Fremde kauerte nieder, schaute. Das massige, bartlose, blasse Gesicht stützte er in die Hand. Über der kleinen, platten Nase sahen trübgraue Augen, sie standen viel zu groß in dem kurzen, fleischigen Kopf, sie standen in trübem Feuer und schwelten dumpfe, beklemmende, hoffnungslose Traurigkeit. Die Stirn lastete breit, schwer und nicht hoch auf sehr dichten Brauen. Den Ellbogen aufs Bein, die Wange in die Hand gestützt, kauerte er, schaute.

War hier das, was er suchte? Eines strömte ins andere, von der obern Welt in die untere, jedes menschliche Antlitz mußte seine Entsprechung haben in einem Stück Erde. Er suchte ein Stück Welt, aus dem ihm ein menschliches Antlitz entgegenschaute, größer, lesbarer, bedeutungsvoller, das Antlitz jenes Mannes, dem er verhaftet war. Er suchte den Strom, der jenen, und also ihn selbst, band mit Stern, Wort und Unendlichkeit.

Er kauerte tiefer, redete vor sich hin mit einer dunkeln, widrig gebrochenen, knurrenden Stimme, halb singend, Verse aus der heimlichen Offenbarung. Haut, Fleisch, Knochen, Adern sind ein Kleid, eine Schale, und nicht der Mensch selbst. Aber die Geheimnisse der höchsten Weisheit sind in der Ordnung des menschlichen Leibes. Siehe, die Haut entspricht den Himmeln, sie dehnen sich über alles und überdecken es wie ein Gewand. Siehe, das Fleisch entspricht dem Stoff der Welt. Siehe, die Knochen und Adern sind der Thronwagen Gottes, davon der Prophet singt, es sind die wirkenden Organe Gottes. Aber alles dies ist nur ein Kleid, und wie der wirkliche Mensch innen ist, so ist auch der himmlische Mensch innen, und alles ist in der unteren Welt wie in der oberen. Und wie am Firmament, so die Erde einschließt, die Sterne und Sternbilder sind und uns das Verborgene künden und tiefes Geheimnis, so sind auf der Haut unseres Leibes Linien und Falten und Zeichen und Züge, und sie sind die Sterne und Sternbilder des Leibes, und sie haben ihre Heimlichkeit, und der Weise liest sie und deutet sie.

Komm und sieh! Der Geist meißelt sich das Gesicht, und der Wissende erkennt es. Wenn die Geister und Seelen der obern Welt sich bilden, haben sie ihre Form und sichere Bildung, und sie spiegelt sich später im Gesicht des Menschen.

Er verstummte. Nicht denken. Diese Dinge wollten nicht gedacht sein, man zerdachte sie nur. Man mußte sie schauen oder sie ruhen lassen.

War dies das Antlitz, das er suchte? Ödnis, Eis und Geröll, der höhnisch blaue Glanz darüber, ein kleines Wasser, mühsam herausrieselnd? Felsblöcke, auf zerschrundetem Eis, tollfinstere Linien bildend, war dies das Antlitz, das er suchte?

Er versenkte sich tiefer in sich. Er tötete jede Regung, die fernab war von dem Gesuchten. Drei Furchen, scharf, tief, kurz, fast senkrecht über der Nase, zerschnitten seine Stirn, und sie bildeten den heiligen Buchstaben, das Schin, den Anfang des Gottesnamens, Schaddai.

Der Schatten einer großen Wolke dunkelte die Gletscher, die Gipfel in der unendlich zarten Linie ihres flimmernden Schnees leuchteten unerreichbar in mildem Hohn. Ein Geier schwamm in dem blauen Geflirr, ruhevolle Kreise über dem versteinert wirren Gezack des Hochtals.

Der Mensch, auf dem Vorsprung kauernd, winzig in der maßlosen Landschaft, sog die Linien in sich. Des Steins, der Ödnis, des zerschrundeten Eises. Das zarte, höhnische Leuchten, die Wolke, den Vogelflug, die finster tolle Willkür der Blöcke, die Ahnung tieferer Menschen und weidenden Viehs. Er atmete kaum, er schaute, ergriff, begriff.

Endlich, fast taumelnd von so gespannter Reglosigkeit, hob er sich, erschöpft, die Stirne lösend von dem gefurchten Zeichen, in tiefer, gefaßter Trauer. Stieg mühsam, halb gelähmt noch, zu Tal.

Unten, aus dem ersten der drei Höfe, kam ihm ein fetter, blasser Mensch entgegen, ein Unbekannter, schaute ihn prüfend an, das Gesicht gleichmütig, wollte sprechen, einen Brief in der Hand. Rabbi Gabriel schnitt ihm das Wort ab. »Von Josef Süß«, sagte er, so leichthin, als wäre ihm der Mensch und seine Sendung längst angesagt, als bestätigte er Erwartetes. Nicklas, unerstaunt, daß der Fremde ihn kannte, neigte sich. »Ich komme«, sagte Rabbi Gabriel.

Die Gräfin war nach zehn Tagen wütender Tätigkeit in stumpfes Warten gefallen. In trüber Lähmung saß sie zwischen Lapislazuli und Gold, fett, die energischen Wangen schlaff, die Arme gelöst. Gedankenlos ließ sie, die sonst hier jedes Kleinste angeordnet, kontrolliert hatte, von ihren Zofen sich massieren, schmücken, in Kleider und Prunk hüllen. Sie ließ in der Nacht die Kaspara Becherin holen, die als Hexin und Wissende galt; aber das schmuddelige Weib, ängstlich und verblödet vor der Pracht ringsum, stotterte nur verstörten Unsinn. Und der Magus und Kabbalist, den Isaak Landauer ihr versprochen, kam nicht und kam nicht.

Die Boten aus Jagdhaus Neßlach meldeten immer das gleiche vorerst. Der Herzog jagte, hielt Tafel, schlief mit der Ungarin. Dann aber, von einem Tag zum andern, überholten sich in jäher Wendung überraschende Depeschen. Der Geheimrat Schütz war, verbindlich und unermüdlich, zum Herzog vorgedrungen. Anderntags traf der elegante Prälat Weißensee in Neßlach ein, der weltläufige Diplomat des parlamentarischen Elfer-Ausschusses. Der Herzog konferierte zwei Stunden mit Schütz, die Ungarin ward den gleichen Mittag nach Ludwigsburg geschickt, und am Abend gar empfing Eberhard Ludwig den Prälaten Osiander, den stiernackigen Polterer, den entflammtesten Anhänger der Herzogin.

Diese Kunde in Wildbad, konnte die Gräfin sich nicht mehr halten. Ah, Osiander beim Herzog. Osiander! Sie tobte. Als sie verlangt hatte, ins Kirchengebet eingeschlossen zu werden, hatte der plumpe, hundsköpfige Schuft sich erdreistet, sie stehe ja schon drin: Erlöse uns von allem Übel! und war breit schmunzelnd auf dem Gelächter des ganzen Deutschland herumgeschwommen. Der Herzog hatte nicht gewagt, den populärsten Mann Württembergs zu entlassen, aber er hatte ihn nicht mehr empfangen. Und jetzt war er in Neßlach, polterte gegen sie mit bäurisch groben Späßen. Nein, nein! Warten? Unsinn. Sie wäre erstickt an längerem Zusehen. Nicht einmal für die Karosse hatte sie Geduld genug. Befehle in rasender Hast: Intendant, Sekretär, Zofen, Lakaien sollten folgen. Sie selber, nur mit einem Reitknecht, flog zu Pferde nach Neßlach, gönnte sich nicht die Zeit zum Essen, ritt wie ein Dragoner des Satans.

Traf den Herzog mitten im Hallo seiner Hubertusritter, kunstreich kutschierend, lärmend. Eberhard Ludwig, hilflos überrascht, zwischen den verstummten, höflich tief geneigten, heimlich feixenden Herren, hochrot, flatternd verlegen, schnaubte durch die fleischige Nase, führte die Gräfin ins Schloß, befahl ein Bad, Erfrischungen. Ein Teufelsweib die Frau! Solcher Ritt! Diese Christl! Ein Teufelsweib!

Die Gräfin zwang ihn, noch im Reitkleid, heiß von der Anstrengung, dick eingestaubt, zu einer Auseinandersetzung. Nicht durchgehen jetzt. Halten. Niederhalten. Fest den Dekkel der Vernunft auf das kochende Herz. Äugen, in das unsichtbare Dämmer hineinlugen, ruhig, ein kleiner Irrtum des Augs kann alles verderben. Das Tastende, sich Windende, Ausbiegende, Flatternde, Unklare da anpacken, wieder fest in die Hand kriegen. Jetzt es packen, wo es überrascht ist, nicht auskann, wo kein anderer dazwischenredet, ihm kluge, freche, hinhaltende Maßnahmen einflüstert. Ruhe, ihr zuckenden Nerven. Du stoßendes Herz, Ruhe.

Sie sprach leichthin, trank kleine Schlucke von der Limonade, scherzte über seine Anspruchslosigkeit; die Hubertusritter, die kleine Tänzerin, er gebe es billig mit seiner Gesellschaft. Dann sanfte Vorwürfe. Den Osiander hätte er nicht sollen empfangen. Sie verstehe ja, er wolle sich erlustieren an den groben Späßen des alten Tölpels, aber es werde falsch ausgelegt. Eberhard Ludwig, in dicker Verlegenheit, wußte nicht wohin vor dem grauen Glanz ihrer Augen, wand sich, schwitzte in seinem schweren Rock, schnaufte. Die Frau! Diese Christl! Solcher Teufelsritt! Kam da einfach angesaust auf eins zwei und leuchtete in sein zwielichtiges Nichtein und Nichtaus. Dann fragte sie geradezu, das mit der Herzogin, Versöhnung und so, das sei doch albernes Gerede. Oder nicht? Er, knarrendes Räuspern, ja, natürlich, es sei Geschwätz. Sie aßen vergnügt zu Abend, tranken, allein, ohne die Hubertusritter. Kein Schütz, kein Osiander. Die Gräfin erfüllte mit ihrer unbedenklichen, lärmenden Munterkeit das Zimmer, hüllte den erlösten Eberhard Ludwig ganz darin ein. Teufel! Dieser Ritt! Die Frau! Die Teufelsfrau!

Die Gräfin schlief eine traumlose Nacht, tief, froh, lang. Als sie erwachte, war der Herzog fort. In aller Heimlichkeit, im grauen Morgen, hatte er sich davongemacht. Sie, den devoten, achselzuckenden, innerlich grinsenden Kastellan geohrfeigt, dem Herzog nach, rasend, auf gehetzten Pferden. In Ludwigsburg das Schloß verödet. Kein Herzog. Der Herzog war fort, nach Berlin, den Besuch des Königs erwidernd. Das übliche Prunkgefolge erwarte er außer Landes.

Sie, entzügelt, verzerrt, die Reitpeitsche wippend, zwischen sich in die Wände verkriechenden Lakaien durch die leeren Säle. Endlich im letzten Kabinett, am Arbeitstisch des Herzogs, zwischen den Büsten des August und des Mark Aurel, vor dem Bild des italienischen Meisters, das sie mit den Insignien der Herzogin darstellt, ein Mann in der Perücke der hohen Beamten, unendlich höflich, tief gebückt, süß lächelnd: Schütz. Andreas Heinrich Schütz, ihre Kreatur, ihr Schütz, den sie nobilitiert, zum Geheimrat gemacht hat. Der Diplomat, peinlich nach der Mode die Uniform, nur Halbedelsteine an den Schuhen, was erst vor drei Wochen in Paris aufgekommen war, neigte wieder und wieder in tiefen Komplimenten die mächtige Hakennase, scharrte mit dem Fuß nach hinten aus und versicherte in geläufig näselndem, verbindlichst geschnörkeltem Französisch, ein Gott habe Serenissimus eine Ahnung eingehaucht von Ihro Exzellenz Ankunft, Serenissimus habe aber leider nicht warten können und seinen untertänigsten Diener durch den Auftrag beglückt, mit Ihro Exzellenz zu speisen und ihr dabei eine Eröffnung zu machen. Die Gräfin, hochrot, wild schnaufend, fuhr ihm übers Maul, er solle keine Faxen machen und ihr deutsch und rund sagen, was los sei, oder – und sie gestikulierte mit der Peitsche. Aber der Geheimrat, unbeirrbar höflich, blieb fest, er sei unglücklich, seiner hohen Gönnerin nicht dienen zu können, doch er sei an strikte Ordres gebunden.

Endlich, bei Tafel, mit hundert Komplimenten verbrämt, bestellte er ihr den Befehl des Herzogs, sie habe die Residenz zu verlassen, sich auf ihre Güter zurückzuziehen. Sie schlug ein großes, schallendes Gelächter auf. »Er Spaßvogel, Schütz!« rief sie. »Er Spaßvogel!«, immer haltlos lachend. Der alte Diplomat saß still, verbindlich, mit den scharfen, hellen Augen der Aufgesprungenen, auf und nieder Gehenden folgend. Heimlich bewunderte er sie, wie echt und gar nicht schrill ihr Lachen klang, wie gut sie spielte.

Die Gräfin blieb. Ah!, sie dachte nicht daran, Ludwigsburg zu verlassen. Sie hatte sinnlose Wutausbrüche, mißhandelte die Dienerschaft, zerschmiß Porzellan. Schütz, achselzuckend, er habe lediglich Ordre, ihr den Befehl Serenissimi zu übermitteln, freute sich mit vielen fein gedrechselten Worten, daß er noch weiter das Vergnügen und die Ehre ihrer Gegenwart habe, aber sie bleibe auf ihre Gefahr in der sichern Aussicht allerhöchsten Zornes und finstrer Ungnade. Sie nahmen die Mahlzeiten zusammen. Der alte, in allen Brühen gesottene Intrigant, der sich unter jedem Regime hielt, hatte ehrliche Sympathien für die Gräfin, für die Kühnheit ihres Aufstiegs, und sachkundige Bewunderung vor den komplizierten geschäftlichen Manipulationen, mit denen ihre Juden in aller Ruhe die geraubten Schätze der Gräfin außer Landes praktizierten. Der dürre, ausgeglühte Kavalier hätte nie geglaubt, daß er eine fette, alternde Frau je noch mit solcher Aufrichtigkeit und Beflissenheit hofieren würde. Sie machten bei Tafel geistreiche, mit hundert frechen Anspielungen gewürzte Konversation, und er wartete mit Spannung, wie weit sie die Auflehnung gegen den strikten Befehl Eberhard Ludwigs treiben würde.

Der Herzog blieb nicht lange in Berlin. Schütz konnte der Gräfin mitteilen, die Herzogin sei gebeten, nach Schloß Teinach zu fahren. Auch Deputierte des Landtags seien hinbeschieden, desgleichen die Gesandten von Baden-Durlach, Kurbrandenburg, Kassel. Der Herzog wolle sich mit seiner Gattin vor Volk und Reich aussöhnen. Lang, still sah die Gräfin den Geheimrat an, der sie ernsthaft und aufmerksam betrachtete. Dann, mit einem erstickten, kleinen Schrei wollte sie aufspringen, fiel ohnmächtig um. Er bemühte sich um sie, rief ihre Frauen. Des Abends ließ er sich wieder bei ihr melden, fragte nach ihren Dispositionen. Sie, ganz stille Hoheit, erklärte, sie gehe auf ihr Schloß Freudenthal, zu ihrer Mutter, die sie vor fünf Jahren dort hatte hinkommen lassen. Schütz fragte, ob er ihr keine Eskorte mitgeben dürfe, er hatte Angst vor Ausbrüchen der Volkswut. Sie, den Kopf zurück, die Lippen schmal, lehnte ab.

Andern Tages zog sie aus Ludwigsburg. In sechs Karossen. Der Geheimrat stand tief geneigt an der Rampe des Schlosses, während ihre Pferde anzogen. Hinter den Portieren der hohen Fenster lugten grinsend die herzoglichen Lakaien. Die Bürger schauten stumm, ohne zu grüßen; zu höhnen wagten sie nicht. Aber der krähende Spott der Straßenjungen flog ihrer Kutsche nach.

Vorausgeschickt hatte sie einen ganzen Wagenpark mit Möbeln und Nippsachen. Das Schloß war kahl nach ihrem Abzug. Selbst das kostbare Tintenfaß des Herzogs fehlte, und die Büsten des August und des Mark Aurel standen sehr nackt vor dem Prunkbild des italienischen Meisters, das die Gräfin darstellte mit den herzoglichen Insignien.

Schütz hatte sie lächelnd gewähren lassen.

Von den vier Zimmern, die Süß beim Sternwirt in Wildbad behauste, mußte er zwei abgeben. Der Prinz Karl Alexander von Württemberg, kaiserlicher Feldmarschall und Gouverneur von Belgrad, kam früher, als er sich angesagt hatte, und brauchte die Zimmer. Dem Prinzen war die Gräfin tief zuwider. Er war ohne jedes Vorurteil. »Eine rechte Hure, her damit!« pflegte er zu sagen: »aber eine filzige Hure, das ist der scheußlichste Sud des Teufels.« Und die Gräfin galt ihm als eine filzige Hure. So wollte er ihre Abreise abwarten, um ihren Anblick zu vermeiden. Nun sie früher gegangen war, konnte er seinen Würzburger Aufenthalt abkürzen.

Die Kurgäste des Wildbads begafften neugierig die Karosse des ankommenden Prinzen. Karl Alexander, Sieger von Peterwardein, rechte Hand des Prinzen Eugen, kaiserlicher Feldmarschall, zu Wien in hohen Gnaden. Überall in Deutschland, und besonders in Schwaben, hing sein Bild herum, wie er beim Sturm auf Belgrad unter türkischem Kugelregen mit siebenhundert Axtmännern die Höhe emporklimmt. Ein aufregendes Bild. Ein Held. Ein großer General. Bravo. Evviva. Im übrigen politisch völlig belanglos, ein kleiner Prinz aus einer Nebenlinie. Gänzlich ungefährlich. Galanter Herr nebenbei, gefälliger Kamerad, guter Kerl. Das allgemeine Wohlwollen flog ihm entgegen, die Damen vor allem interessierten sich für den Kriegshelden, und die Tochter des Gesandten der Generalstaaten warf ihm ein Lorbeerzweiglein in den Wagen.

Sein Aufzug war nicht gerade stattlich. Ein räumiger, solider, etwas abgebrauchter Reisewagen. Der Prinz selber freilich sehr elegant, das offene, fröhliche Gesicht, jetzt auf der Reise ohne Perücke, in dem schönen, langen, blonden Haar, die hohe, kräftige Statur imponierend in der reichen Uniform. Aber das Gefolge sehr dürftig. Der Leibhusar, ein Heiduck, der Kutscher, das war alles. Nur ein Auffallendes, Luxuriöses: auf dem Rücksitz ein braunschwarzer, schweigender, gravitätischer Kerl, ein Mameluck oder so was, der Prinz mochte ihn auf einem Feldzug erbeutet haben.

Süß und Isaak Landauer standen vor dem Gasthof unter gaffendem, »Hoch!« schreiendem Volk, als der Prinz ankam. Süß starrte neidvoll auf den riesigen, eleganten Mann. Mille tonnerre! Das war nun wirklich ein Prinz und großer Herr. Was sonst sich in Wildbad herumtrieb, reichte ihm nicht an die Achseln. Auch der Braunschwarze machte ihm Eindruck. Isaak Landauer aber taxierte abschätzig und mit gutmütigem Mitleid Kutsche und Livree. »Ein armer Schlucker, der Herr Feldmarschall. Ich sag Euch, Reb Josef Süß, nicht gut für zweitausend Taler.«

Der Prinz war in heiterster Laune. Er war jetzt drei Jahre nicht mehr im westlichen Deutschland gewesen, hatte lang unter den Heiden und Halbwilden seines Gouvernements Serbien gelebt, sich mit Tod und Teufel herumgehaut. So atmete der reife Mann, fünfundvierzig war er geworden, mit Behagen die heimatliche Luft.

Nach der langen Fahrt nahm er zunächst ein Bad, ließ sich von seinem Leibhusaren Neuffer den lahmenden Fuß – ein Andenken an die Schlacht von Cassano – mit Essenzen reiben, saß am Fenster, im Schlafrock, vergnügt, mit dem Kammerdiener plaudernd, während der Schwarzbraune auf dem Boden hockte.

Er war weidlich umgetrieben worden. Von seinem zwölften Jahr an war er Soldat, hatte in Deutschland gefochten, in Italien, den Niederlanden, in Ungarn und Serbien. Nächst dem Prinzen Eugen, den er herzlich verehrte, war er der erste General im Reich. Er hatte in Venedig und Wien die hohe Kavaliersschule durchgemacht, und seine stattliche Tenue, sein gutmütiger, etwas lärmender Humor waren beliebt bei Frauen, beim Wein, auf der Jagd. Was ein kleiner deutscher Prinz aus einer Nebenlinie erreichen konnte, das hatte er erreicht. Intimus des Prinzen Eugen, Wirklicher Geheimer Rat, Kaiserlicher Feldmarschall, Oberbefehlshaber in Belgrad und im Königreich Serbien, Inhaber von zwei kaiserlichen Regimentern, Ritter des Goldenen Vlieses.

In Belgrad war ein ewiger Wirbel von Offizieren und Weibern um ihn. Er fühlte sich wohl in dem unordentlichen Leben, dessen dürftige Regelung von Neuffer, dem Leibhusaren, und dem Schwarzbraunen besorgt ward und das die Belgrader Burg in ein Feldlager verwandelte. Er verdankte die serbische Statthalterschaft seinem Freunde, dem Prinzen Eugen. Er führte auch die militärischen Sicherungen dort unten so durch, daß man seine Methoden als Lehrbeispiele in allen Kriegsakademien rühmte. Und was die Verwaltung anlangte – Kreuztürken!, hier ließ er sich freilich oft mehr von seinem Impuls leiten als von Sachverstand: aber in dem gefährdeten Gebiet war ein Mann, auch wenn er manchmal sich verhaute, wertvoller als irgendein pergamentener Esel vom Hofkriegsrat in Wien.

Wenn den vergnügten, lebensvollen Soldaten eine Sorge ankroch, dann war es immer die nämliche: Geld. Sein Sold war gering, seine prinzliche Apanage lächerlich. Und er konnte nicht knausern. Da saß er als kaiserlicher Statthalter zwischen geschwollenen ungarischen Baronen und Paschas des Großherrn, die strotzten von allen Reichtümern der Königin von Saba. Er war nicht anspruchsvoll, er hatte schon gelebt wie der gemeinste Soldat, Dreck gefressen, daß alle Därme sich umkehrten, auf vereistem Kot geschlafen. Aber er konnte seine Kumpane nicht an leere Tafeln setzen, seine Weiber nicht in Lumpen laufen lassen, seinen Marstall nicht mit Schindmähren füllen.

Am Wiener Hof hatte man nur halbes Ohr für solche Klagen und Achselzucken. Gott, wenn es der Prinz nicht machen wollte, in den Erblanden gab es Herren und Reichlinge genug, die sich nach dem stolzen Posten des serbischen Statthalters sehnten und gern bereit waren, die Repräsentation aus eigener Tasche zu bestreiten. Die Wiener Bankiers hatten dem Prinzen gelegentlich mit kleinen Summen ausgeholfen; jetzt waren sie schwierig, beinahe unverschämt.

Ernsthafte Teilnahme fand er erst in Würzburg, beim Fürstbischof. Er kannte den dicken, lustigen Herrn seit langem, seit den frühen Jahren in Venedig. Dort hatten sie, der Prinz, der jetzige Fürstbischof und Johann Eusebius, jetzt Fürstabt in Einsiedeln in der Schweiz, gute Freundschaft geschlossen. Die drei jungen Herren, alle drei kleine Nebenäste großer Häuser, waren in Venedig, Leben und Politik zu lernen. Die alternde Republik, längst auf dem Abstieg, hielt, eine Kokotte, die nicht Schluß machen kann, noch immer die Allüren einer Weltmacht fest, hatte Gesandtschaften an allen Höfen, die Signoria zweigte über Europa und die neue Welt ein Netz von Intrigen, krampfhaft den Schein großer, lebendiger Politik wahrend. Gerade weil die Maschine leer lief, funktionierte sie um so besser, und der ganze junge Adel Europas studierte in den staatsmännischen Zirkeln der Republik die Routine der hohen Diplomatie.

Die beiden jungen Weltgeistlichen bewunderten sachverständig diesen vollendeten Mechanismus und warfen sich, groß geworden in der Schule der Jesuiten, mit wildem Eifer auf sein Studium. Der schwäbische Prinz aber stand, verständnislos lachend, in dem Wirbel; was er packte, entglitt ihm; so hielt er sich an das rauschende, glänzende Leben der Gesellschaften, Redouten, Klubs, an Theater, Spielsäle und Bordelle. Die jungen Jesuiten amüsierten sich herzlich über sein soldatisch naives Geradezu, gewannen ihn aufrichtig lieb wie einen gutmütigen, großen, täppischen Hund und setzten ihren Ehrgeiz darein, den unraffinierten, liebenswerten Menschen ungefährdet durch die Strudel des wilden und bedenklichen venezianischen Lebens zu steuern. Mit feinem Lächeln bestaunten die jungen Diplomaten der Kirche soviel laute Harmlosigkeit, soviel gläubiges, lustiges, vertrauensseliges Im-Kreise-Plätschern. Das gab es also noch. Da ging einer herum, machte Visiten, tanzte, spielte, liebte in den Kreisen der Staatsmänner, und alles ohne Zweck, er dachte offenbar gar nicht daran, Karriere zu machen. Und sie faßten zu ihm eine offene, leicht überlegene Zuneigung.

Auf solcher Basis gründete die Freundschaft des Prinzen mit den beiden Jesuiten. Die waren jetzt Prälaten geworden, gefürchtet, standen mitteninne in allen Fragen der großen Politik. Er, der Prinz, saß draußen an der Ostgrenze des Reiches, ein tapferer und berühmter General, von den Herren, die die deutschen Geschicke machten, leicht und wohlwollend belächelt. Er spürte nichts von diesem Lächeln, er ging behaglich und geradeaus seine Straße, und was ihn kratzte, das war allein sein Geldmangel.

In Würzburg, bei Tafel, auch der Fürstabt von Einsiedeln hatte sich eingefunden, sprach er offen mit den beiden Freunden über seine Bedrängnis. Kein Geld, freche Gläubiger, es war eine ewige Kalamität. Man hatte scharf gegessen und sich heiß getrunken, die Kirchenfürsten lüfteten sich, der Prinz knöpfte die Uniform auf.

Der Bischof hatte das Prinzip, eine Antwort niemals auf der Stelle zu geben. Er versprach, den Fall zu überdenken.

Die Prälaten, nachdem sich der Prinz zurückgezogen, saßen im Park, schauten von beschattetem Sitz auf Stadt und Weinberge. Man wird dem Prinzen helfen, natürlich; es war ja sehr leicht, ihm zu helfen. Vielleicht könnte man ihm helfen und zugleich der guten Sache dienlich sein. Sie schauten sich an, lächelten, sie dachten beide das gleiche. Sie hatten dem Prinzen oft in Venedig, in Wien, jetzt in Würzburg katholische Messen gezeigt, sich gefreut über seine naive Begeisterung an Glanz und Weihrauch. Ein kleiner Prinz aus einer Nebenlinie, es stand so viel zwischen ihm und dem Thron, es war keine große Angelegenheit; immerhin, wenn ein Glied des stockprotestantischen württembergischen Hauses für Rom gewonnen würde, der Ordensgeneral würde den Erfolg buchen, ohne ihn zu überschätzen.

Die Arbeit durfte natürlich nicht plump gemacht werden. Kunstgerecht, mit feinen Fäden. Es mußte sich alles geben wie von selbst. Die beiden geübten Herren verständigten sich mit halben Worten; es war ja so leicht, ein vorgezeichneter Weg. Man wird Karl Alexander zunächst an protestantische Stellen weisen, an seinen Vetter etwa, den Herzog, der war durch die Gräfin beansprucht, an die Landschaft, die war kleinherzig, knauserig; man könnte ja für alle Fälle nachhelfen, daß sie bestimmt ablehne. Der Fürstbischof hatte einen Herrn an seinem Hof, den Geheimrat Fichtel, Spezialisten in allen schwäbischen Dingen, der wird das sicher zu Rande bringen. Wenn dann der Prinz eingeklemmt sitzt, kahl, naiv erbittert über die evangelische Filzigkeit, dann läßt man eine katholische Prinzessin auftauchen, die reiche Regensburgerin etwa, die Thurn und Taxis, und die Kirche empfängt den Bekehrten mit Gold und Weihrauch und Gloria.

Ruhevoll und wohlwollend, mit halben, lässigen Worten, spannen die beiden Prälaten das Projekt; von dem beschatteten Sitz im Park, Eis schlürfend, schauten sie auf die schöne Stadt und die besonnten Weinberge.

Der Fürstbischof half somit Karl Alexander mit einer kleinen Summe aus, und der Prinz richtete, um für zwei, drei Jahre aus dem Gröbsten zu sein, ein Ersuchen an die württembergische Landschaft, seine Apanage zu erhöhen oder ihm wenigstens einen größeren Vorschuß darauf zu geben. Das Schriftstück war von dem Geheimrat Fichtel klug und umständlich formuliert, so daß dem Prinzen der Erfolg so gut wie gesichert schien.

Und nun saß er also in Wildbad, mit der gewissen Aussicht auf das Geld, in heiterster Laune. Gewelltes Land, freundlich bewaldet, schaute zu den Fenstern seines Zimmers herein. Er fühlte sich durch das Bad und die Massage des lahmenden Fußes wohlig erfrischt, der Ort schien ihm nach dem Schmutz und der Schlamperei serbischer und ungarischer Dörfer doppelt artig und sauber, und er erwartete gute Zeit. Während er so behaglich zum Fenster hinausschaute und sich von Neuffer rasieren ließ, kam ein Heiduck der Prinzessin von Kurland mit einer verbindlichen Einladung zu einem Kostümfest, einer Wirtschaft, die die Prinzessin anderentags veranstalten wollte. Karl Alexander hatte kein Kostüm, Neuffer befragte den Wirt, der meinte, der Hof- und Kriegsfaktor Josef Süß Oppenheimer werde vielleicht aushelfen können. Oppenheimer? Gegen den Juden hatte der Prinz nichts einzuwenden, ein so scheeles Gesicht der Kammerdiener zog. Aber Oppenheimer hießen die Wiener Bankiers, die ihn so schlecht behandelt hatten. Doch mittlerweile war der beflissene Wirt schon bei Süß gewesen, und jetzt brachte er ein sehr passendes ungarisches Bauernkostüm, das Neuffer mit leichter Mühe für die Statur des Prinzen zurechtschneidern konnte. Karl Alexander schickte dem Süß durch Neuffer einen Dukaten, den Süß dem Neuffer als Trinkgeld gab. Der Prinz wußte nicht, sollte er den Juden prügeln, sollte er lachen. Da er guter Laune war, entschied er sich zu lachen.

Auf dem Fest war die Neugier und die Bewunderung aller um ihn. Die Prinzessin, als ländliche Wirtin gekleidet, sah frischer und reizvoller aus, als er von der Alternden erwartet hätte, und strahlte ihm Wohlgefallen und Neigung entgegen, deutlicher, als selbst die Freiheit des Maskenfestes es erlaubte. Er hatte eine Wirtschaft noch nie gesehen – solcher Mummenschanz war erst vor einem halben Jahr am Dresdener Hofe aufgekommen –, die bäuerlichen Kleider, das grobianische, dörfische Wesen, das zu zeigen man sich mühte, die ganze derbe Luft dieses Abends behagte ihm. Er schwamm in der Achtung der Männer, in der koketten Anbietung der Frauen fröhlich herum. Dann trat man zu einem kleinen Zug an, paarweise, und ein Tübinger Professor und Poet im Kostüm eines Scherenschleifers begrüßte jedes Paar mit saftigen Reimen, deren lustiger Unflat mit Jubel und Gegröl aufgenommen wurde. Selbst der hochmütige sächsische Minister bekam sauer lächelnd seine Fuhre Mist ab, nur der junge Lord Suffolk, in einem prachtvollen römischen Kostüm, wollte zufahren, doch er wurde bedeutet. Des Prinzen Dame war die Wirtin, die Kurländerin. Ihn begrüßte der Reimschmied ernsthafter und nannte ihn unter dem Jubel der Gäste den württembergischen Alexander, den schwäbischen Skanderbeg, den deutschen Achill.

Es fiel Karl Alexander auf, daß alle Gäste ihr Sprüchlein abbekamen, nur einer nicht. Es war ein jüngerer Herr, sehr gut gewachsen, er trug wie ein paar andere eine Halbmaske. Das Kostüm des Florentiner Gärtners hatte er vermutlich mit der Dame verabredet, deren riesiger, bebänderter Strohhut seiner Tracht entsprach, der Tochter des Gesandten der Generalstaaten. Er schien nicht weiter erstaunt, daß man ihn von dem Vorbeizug der Paare an dem Reimschmied ausschloß, er nahm diese offensichtliche Mißachtung in guter Haltung hin, lehnte bescheiden in einem Fenster, sah zu. Der Prinz erkundigte sich nach dem Herrn. Achselzucken: es war der Jud, der Frankfurter Faktor, Josef Süß Oppenheimer.

Ach, das war ja der, der in seinem Gasthof wohnte, der ihm das nette Kostüm geliehen hat, der mit dem Dukaten. Der Prinz hat getrunken, ist gut aufgelegt. Man könnte dem Juden eigentlich ein paar Worte sagen, er lehnt da so bescheiden und allein. Vielleicht auch wird man ihn aufziehen, seinen Spaß mit ihm haben. Der Prinz geht auf Süß zu, viele Blicke folgen ihm: »Weiß Er, Jud, daß ich Ihn fast geprügelt hätte, mit Seinem Dukaten?« Süß nimmt sogleich die Maske ab, neigt sich, lächelt, schaut dem Prinzen von unten her mit einer gewissen schmeichlerischen Frechheit ins Gesicht: »Da wär man nicht in schlechter Kompanie. Wenn ich recht weiß, hat auch der Großwesir des Padischah von Eurer Hoheit Prügel gekriegt und der Marschall von Frankreich.« Der Prinz lacht schallend: »Hör Er, Er weiß Seine Worte zu setzen, als hätt Er’s in Versailles gelernt.« Die Florentinerin drängt sich herzu, eifrig: »Er war auch in Versailles, Hoheit.« Und Süß, bescheiden prahlend: »Ja, ich kenne den Marschall, der die Prügel gekriegt hat. Er spricht mit größtem Respekt von Eurer Hoheit. Ich kenne auch Freunde Eurer Hoheit. Den erhabenen Prinzen von Savoyen.«

»Ah, Er gehört zu den Wiener Oppenheimers?« fragte Karl Alexander interessiert. »Nur ein Vetter dritten Grades«, erwiderte der Jude. »Aber die Wiener mag ich nicht, sie haben nicht den rechten inneren Sinn für die großen Herren. Sie denken nur an ihre Ziffern.«

»Er gefällt mir, Jud«, und der Prinz schlug ihm die Achsel und nickte ihm zu, ehe er, einen Kopf größer als die meisten, wieder auf den Ring der Gäste zutrat, die sie umstanden.

Karl Alexander trank, tanzte, sagte den Frauen derbe Galanterien. Später saß er am Spieltisch, Gewinn und Verlust lauter kommentierend, als es Sitte war. Die Bank hielt der junge Lord Suffolk, steif, zeremoniös, schweigsam, mit sparsamen Gesten. Der Prinz gewann, ringsum verlor man. Schließlich hielt er allein dem Engländer Widerpart, heiß, mit etwas benommenem Kopf. Verlor plötzlich in wenigen Schlägen alles, was er hatte. Lachte, zu sich kommend, ein wenig unfrei. Ringsum ein Kreis gespannter Zuschauer. Man glaubte, der Engländer werde Kredit anbieten. Aber der saß, höflich, korrekt, stumm vor dem erhitzten, verlegenen Prinzen. Wartete. Plötzlich stand Süß halb hinter ihm, schmiegsam, gewandt, leise: wenn Seine Hoheit ihm die hohe Ehre vergönnen wolle. Der Prinz nahm an, gewann.

Bevor er ging, sagte er dem Juden, er habe dem Neuffer Auftrag gegeben, ihn beim Lever vorzulassen.

Süß stand verneigt, hoch atmend, küßte die Hand des Prinzen.

Isaak Landauer arbeitete mit Süß an den Geschäften der Gräfin. Die Energie der Gräfin, ihre Zähigkeit in dem Kampf um den Herzog würdigte er mit vielen Sympathien, und er mühte sich, ihren Handel möglichst schlau und sachgerecht zu Ende zu führen. Mit einer Berechnung, die Süß staunende Hochachtung abzwang, wußte er die schärfsten Gegner der Gräfin in dieses große Anleihegeschäft hereinzuziehen, so daß gerade ihre Feinde an der Erhaltung der gräflichen Güter geldlich interessiert waren. Sosehr Süß das geschäftliche Genie Landauers bewunderte, schränkte er dennoch seine Zusammenkünfte mit ihm nach Möglichkeit ein. Er fand, daß der Alte ihn vor dem Prinzen kompromittiere. Der lachte schallend über Kaftan und Löckchen, fragte gelegentlich den Süß, ob er nicht einmal seinem Freund den Neuffer schicken solle, daß er ihm die Perücke kämme. Landauer wiederum wiegte den Kopf, lächelte: »Ihr könnt doch sonst rechnen, Reb Josef Süß. Was steckt Ihr Zeit und Geld in den Schlucker, der nicht gut ist für zweitausend Taler?«

Süß wäre um eine Antwort verlegen gewesen. Gewiß, er sah in dem Prinzen das Ideal aristokratischer Haltung. Die Selbstverständlichkeit, die Sicherheit, mit der er sich gab, das Lärmende, Herrenhafte bei aller Gutmütigkeit, das fürstlich Ausfüllende bei der Dürftigkeit der Mittel imponierte ihm. Aber das war schließlich keine Erklärung. Es hatten ihm auch andere gefallen und imponiert, deshalb steckte man doch noch lange kein Geld in einen so unsicheren Kunden. Was ihn zu dem Prinzen trieb, war ein Anderes, Tieferes. Süß war gemeinhin kein Spieler. Aber er war gewiß, Glück war eine Eigenschaft. Wer jenes heimliche Wissen nicht besaß, jene Gabe, auf Augenblicke zu wissen, untrüglich, unumstößlich, dies oder jenes Unternehmen, dieser Würfel, dieser Mensch bringt Glück, der mochte von den Geschäften die Hand lassen, auf jeden Aufstieg im Leben verzichten. Und untrügliche Witterung band ihn an Karl Alexander. Der Prinz war sein Schiff. Das Schiff mochte abgetakelt aussehen jetzt, dürftig, nicht verlockend, kluge Finanzleute wie Isaak Landauer mochten die Nase rümpfen. Aber er, Süß, wußte, daß dies sein Schiff war, und er vertraute sich diesem unansehnlichen Schiff an, ohne Bedingung und mit allem, was er war und was er hatte.

Karl Alexander behandelte ihn vertraulicher als sonst große Herren, um ihn je nach Laune um so brutaler auszulachen. Keinen Morgen fehlte Süß beim Lever. Einmal, Neuffer ließ ihn ohne weiteres zu, kuschte sich erschreckt ein Mädchen unter die Decke. Der Feldmarschall, während der Braunschwarze ihn mit Kübeln Wassers übergoß, prustete lachend, sie solle sich vor dem Beschnittenen nicht genieren, und verlegen und beglückt tauchte in den Kissen die junge Aufwärterin auf, mit der auch Süß geschlafen hatte.

Süß nahm die Vertraulichkeiten des Feldmarschalls als Geschenke hin und ließ sich seine Ausbrüche nicht verdrießen. Hatte ihm der Prinz, nachdem er ihn für Mittag bestellt, durch Neuffer sagen lassen, heut stehe ihm der Humor nicht nach hebräischem Gestank, so erschien er des Abends dennoch mit der gleichen lächelnd beflissenen Dienstwilligkeit. Nie hatte ihn ein Mensch so gefesselt wie Karl Alexander, er studierte jede kleinste Geste von ihm mit stiller Aufmerksamkeit, seine Vertraulichkeiten beglückten ihn, seine Brutalitäten imponierten ihm, alles, was der Prinz tat und ließ, diente nur, den Juden fester an ihn zu binden.

Mittlerweile kam Nicklas Pfäffle zurück und meldete, Rabbi Gabriel werde kommen.

Die Gräfin war fort, für seine Geschäfte brauchte Süß den Kabbalisten nicht mehr, die Verbindung mit der Gräfin, die Beteiligung an der Aktion Isaak Landauers war hergestellt. Süß, der glückliche Mensch des Augenblicks, vergaß den Anlaß, aus dem er den Rabbi berufen, wußte nur mehr, daß er ihm keinen andern Anlaß genannt als den dringenden Wunsch, in sein Auge zu sehen, von seinen Lippen zu hören. Er kam sich edel vor und hochherzig, daß er es wagte, an das Verkapselte zu rühren, und hatte in sich jedes Erinnern weggewischt, daß er den Unheimlichen, Unbehaglichen aus sehr anderen Gründen beschickt hatte.

Aber wie Rabbi Gabriel vor ihm stand, war seine schöne, elegant federnde Sicherheit jäh und unerklärbar weg. Er dachte noch: Daß er sich immer so altmodisch trägt! Aber das dachte er eigentlich schon nur nebenher und unüberzeugt. Das scheue, dumpfe Gefühl war über ihm, das unentrinnbar wie die Luft, die man atmete, überall lag, wo Rabbi Gabriel erschien.

»Du hast mich wegen des Mädchens beschickt?« begann die knarrige, mißlaunige Stimme. Der andere wollte erwidern, heftig, sich wehren, er hatte mehrere flinke, schöne Sätze vorbereitet, aber die endlose, hoffnungslose Traurigkeit, die von den trübgrauen Augen ausging, lähmte ihn, wand sich um ihn wie Schnüre. »Oder ist es nicht wegen des Mädchens?« Und trotzdem die Stimme jetzt müde klang und ohne Hebung, schnitt sie wie Hohn, und Süß in seiner guten Haltung und in seinen prächtigen Kleidern schien merkwürdig klein und gedrückt vor dem dicklichen, unansehnlichen Mann, den man für einen höheren Beamten halten mochte oder für einen Bürger.

Er konnte doch sonst so sicher und überzeugend sprechen. Oh, wie behend hüpften ihm die Worte von den Lippen und sprangen an dem Partner hinauf und kletterten hoch an ihm und schmiegten sich in jede Lücke und schwache Stelle. Warum fiel seine Rede jetzt so matt und unüberzeugt, daß er halb im Satz verstummte, ehe er zu Ende war? Gewiß, gab er zu, er habe versprochen, das Kind zu sich zu nehmen. Aber es sei nicht gut, wenn er das jetzt tue. Für ihn nicht und für das Kind nicht. Er habe so tausend Geschäfte und sei so gehetzt und hin und her getrieben. Und bei Rabbi Gabriel sei Naemi doch ganz anders behütet, und wenn er, Süß, sich auch für Bildung interessiere und Geistiges, für das Mädchen komme doch das Weltmännische weniger in Frage als eben die Dinge, die der Oheim besser verstehe als er.

Er flickte diese Argumente zusammen, hastig, fahrig und ohne Kraft. Verstummte. Sah die trübgrauen Augen vor sich, in dem massigen, lustlosen Gesicht die kleine Nase, die breit wuchtende Stirn, senkrecht über der Nase zerschnitten von drei Furchen, scharf, tief, kurz, und er sah, diese Furchen bildeten den heiligen Buchstaben, das Schin, den Anfang des Gottesnamens, Schaddai.

Rabbi Gabriel nahm sich nicht die Mühe, auf die Einwürfe des andern zu erwidern. Er schaute ihn nur an, langsam, mit den trüben steinernen, wissenden Augen, und schwieg.

Und während dieses Schweigens sprang plötzlich schmerzhaft das Verkapselte auf, und das Jahr lag bloß, jenes seltsame und unbegreifliche Stück Leben, das Jahr in der kleinen, holländischen Stadt, das Süß geflissentlich und doch mit einem geheimen Stolz, etwas Störendes und höchst Unpassendes, vor sich und aller Welt versteckte. Er sah das weiße, verschlossene Antlitz der Frau, voll Hingabe und doch so unsagbar fremd, er sah die rührenden, gelösten Glieder, er sah die Tote, die verlöscht war, wie sie aufgeglommen, kaum die neue Kerze gezündet. Er sah das Kind, sich selber in einer seligen und gleichzeitig so entsetzlich drückenden Ratlosigkeit. Er sah den Oheim, den unbehaglichen, unheimlichen, der jäh da war wie selbstverständlich und wie selbstverständlich wieder mit dem Kind ins Dunkle zurücktauchte, sehr selten nur, in einem Zwischenraum von Jahren wieder am Tag.

»Das Kind ist jetzt vierzehn Jahr«, sagte endlich Rabbi Gabriel. »Es macht sich seinen Vater aus meinem Wort. Es ist nicht gut, wenn dann die Wirklichkeit und mein Wort so auseinanderklafft. Ich bin wie der Heidenprophet Bileam«, fuhr der Kabbalist fort mit einem mißgelaunten Lächeln, »ich sollte fluchen, wenn ich ihr von dir spreche, und ich muß segnen. Ich werde sie also ins Land bringen«, schloß er, »daß sie dich sieht.«

Süß erschrak strudelnd tief. Das Kind! Da saß dieser Mann vor ihm, ganz gleichmütig, und sagte ihm einfach: Ich werfe dein Leben um. Ich setze mitten in dein Leben voll Glanz und Frauen und Wirbel das Kind, die Tochter, Naemi. Ich hebe dein Leben aus den Angeln, ich reiße die Kapsel auf, ich reiße dein Herz aus den Angeln.

»Ich bleibe noch hier«, sagte der Kabbalist, »dich aus der Nähe zu beschauen. Wann ich sie bringe, wohin, wie, das sage ich dir noch.«

Als Rabbi Gabriel gegangen war, saß der andere in Wut und Wirrsal. Als kleiner Junge nicht einmal hatte er sich so schelten und dumm machen lassen. Aber er wird es dem Alten sagen, er wird schon die rechten Worte finden, er wird ihm schon dienen, dem alten Hexer in seinem schäbigen, unmodernen Rock.

Aber tief innen wußte er, daß er das nächste Mal genauso stumm und klein sitzen wird wie jetzt.

In Schloß Freudenthal stand vor der Gräfin ihre Mutter, ein gewaltiger Fleischkloß, der sich nur mit Mühe fortbewegen konnte. Erdiges Bauerngesicht unter eisgrauem Haar, äugte die Uralte mit harten, gierigen Blicken die Oberaufsicht über Schloß und Gut, Dienerschaft und Bauern schindend, Geld raffend, langsam, gierig, unersättlich.

Aufgelöst tobte, jammerte die Gräfin: »Aus, Mutter, es ist aus! Davongejagt. Des Hofs verwiesen. Er küßt die alte dürre Gans in Stuttgart, und alle Welt schaut zu. Er will ihr ein Kind machen. Davongejagt. Nach dreißig Jahren davongejagt wie eine Hure, die nicht fürs Bett getaugt hat.«

»Knet ihn, Tochter«, rief mit röchelnd tiefer, heiserer Stimme die Alte. »Laß ihn bluten. Hat’s ihn Geld gekostet, wie er heiß war, laß es ihn mehr kosten, wenn er kalt wird. Knet ihn! Walz ihn aus, bis kein Heller mehr herausgeht.«

»Und Friedrich hat dazu geraten!« empörte sich die Gräfin – Friedrich Wilhelm war ihr Bruder. »Gib’s ihm, Mutter! Zeig’s ihm! Mach ihn klein! Schlag ihn!«

»Ich werde ihn kommen lassen, ich werde hören, ich werd’s ihm zeigen«, versprach die Alte. »Aber das ist nicht wichtig«, schloß sie und saß da, quellend von Fett, kolossig wie ein asiatischer Götze, das erdfarbene Gesicht strotzend unter dem eisgrauen Haar. »Du hast Wagen hergeschickt mit Sachen. Das ist gut, Tochter. Schick mehr. Schick außer Landes. Haben, das ist es. Besitzen. Geld haben, Sachen haben. Das andere ist nicht wichtig.«

Die Gräfin wartete, verzehrte sich. Isaak Landauer kam, berichtete, brachte Papiere. Alles Geldliche lief glatt, glänzend. Sie fragte nach dem Kabbalisten. Ja, der war jetzt auf dem Wege nach Wildbad. Es war schwer, ihn zu dirigieren. Ihro Exzellenz möge sich gedulden, in zwei, drei Wochen werde er ihn in Freudenthal haben.

Kaum war der Alte weg, kam die Nachricht von der Zusammenkunft des herzoglichen Paares in Teinach. Es war groß und feierlich zugegangen wie bei einem Beilager. Die verschlissene Elisabeth Charlotte hatte sich und ihre Hofdamen – dies Kuriositätenkabinett von Vogelscheuchen, höhnte die Gräfin – neu und kostbar gekleidet. Die Gesandten der Höfe, die sich um die Herzogin verdient gemacht, waren zugezogen worden, das ganze Kabinett; ihr Bruder, der Gräfin Bruder!, der Schuft, der glatte, giftig züngelnde, hielt eine Rede bei der Festtafel. Auch der engere Ausschuß des Parlaments war geladen. Die Hofkapelle spielte:

»Der itzt den Feind vertrieben,

Nun danket Gott nach großer Not!«,

und ihr Bruder, ihr Bruder!, stand dabei, barhaupt und fromm, und Schütz senkte ergriffen die Hakennase. Am ersten Abend gab es Ballett: »Die Heimkehr des Odysseus.« Ah, wie mochten sie alle gegrinst haben, als die böse Circe sich in den Feuerberg stürzte, und wie mochten sich die zähen alten Hofschneppen die Triefaugen wischen, als die fromme Penelope am Spinnrocken saß. Aber sie konnten warten, sie konnten noch lange warten, bis sie sich in den Feuerberg stürzen wird. Dann zog sich das herzogliche Paar zurück, und vor der Tür des Schlafgemachs spielte das italienische Quartett während der Beiwohnung. Guten Appetit, Lux! Schmeckt’s? So was hast du lange nicht gehabt. Spieß dich nicht auf den Knochen! Am zweiten Tag gab es Feuerwerk, prasselnde Raketen schrieben die Initialen der Herzogin flammend an den Himmel, das Volk, den Wanst gestopft mit kostenlosen herzoglichen Würsten, die Blase voll kostenlosen herzoglichen Weins – da ihre Aufsicht fehlte, wird der Kellerer um etwa hundertachtzig Gulden betrügen –, schnupfte gerührt hinauf und grölte: Es lebe die Herzogin!

Als die Gräfin die Meldung erhalten hatte, schloß sie sich ein und schrieb. Den Brief schickte sie durch einen Kurier nach Stuttgart. Er ging an den Kammerdiener des Herzogs, enthielt eine Anweisung auf dreihundert Gulden und das Versprechen weiterer achthundert, falls er ihr vom Blut des Herzogs verschaffe.

Dieser Brief war übereilt und töricht, und schon wenige Stunden, nachdem der Kurier abgegangen, bereute die Gräfin. Niemals hatte sie dergleichen schriftlich aus der Hand gegeben. Zum erstenmal, daß sie sinnlose Wut nicht hatte zu Ende toben lassen, ehe sie handelte. Auch Isaak Landauer war schuld mit seinem verflucht zögernden Kabbalisten.

Als der Kammerdiener Eberhard Ludwigs den Brief erhalten hatte, rechnete er. Vor dem Fest in Teinach wäre er wahrscheinlich noch der Gräfin zu Willen gewesen. Jetzt nach dem Teinacher Zeremoniell war es ausgemacht, daß die Gräfin nichts mehr zu hoffen hatte. Es waren also von ihr die achthundert Gulden herauszuholen, vielleicht ein paar Hundert mehr, und sonst nichts. Der Herzog hinwiederum wollte vor der Gräfin Ruhe haben, er wäre sicher dankbar für einen Vorwand, sie aus dem Lande zu jagen. Es war also klar, wo der Vorteil lag. Der Kammerdiener ging somit zu dem Präsidenten der Landschaft, ließ sich von dem für seine Tapferkeit tausend Gulden zahlen und übergab den Brief dem Herzog.

Eberhard Ludwig stand, der schwere, dumpfblütige Mann, einen Augenblick starr gebunden vor dem Unfaßlichen. Winkte dann dem Diener heftig Entfernung, schluckte, keuchte, stapfte auf und nieder, schnaubte durch die Nase. Jedes Blutteilchen gor dunkle Wut. Er war also betrogen. Er, er!, der Herzog war dreißig Jahre von einer verfluchten Hexe und Vettel betrogen. Die andern, die Bürgerkanaille, die greinenden Pfeffersäcke von der Landschaft, die kahl und dürr predigenden Pfaffen vom Konsistorium, der schäbige Preußenkönig, die ewig beleidigte, zitronensaure Johanna Elisabetha, sie hatten recht, sie hatten dreißig Jahre, dreißig Jahre!, recht gehabt gegen ihn, den Herzog.

Mord und Marter! Er hat Frauen gehabt von allen Sorten, blonde, schwarze, kastanienfarbene. Hat sich in kleine, spitze Brüste vergafft und in mächtige, schwimmende, in massige Hüften und in knabenhaft gestraffte, in feine, lange, braunglänzende Schenkel und in weiche, rosig-fette. Er hat müde, schlaffe, lässige Weiber gehabt und rasende, die das Mark aus den Knochen holten bis auf den letzten Zoll. Haben sich Weiber in ihn vernarrt ohne Zahl, herrliche, üppige, umstrittene. Er ist ja auch, Teufel noch eins, ein Kerl in Saft und Schuß und steht in aller Gloria dieser Welt. Haben sich an ihn gehängt mit Herz und Schoß und allem Blut, haben erlöst gestöhnt unter seinem Griff. Waren bessere, Kreuztürken, waren bessere dabei als die Christl. Aber er hat sich an keine verloren. Er hat sie gehabt und hat gelacht und ist darüber weg.

Daß ihm gerade die Christl so im Blut stak, dieses dumpfe Verhaftetsein und Beklommenheit und Nicht-Wegkönnen, natürlich war das nicht mit rechten Dingen zugegangen. Und er hat’s nicht gemerkt und saß mit dem Gift und verruchten Zauber im Leib. Oh, oh! Das Hurenmensch, das vermaledeite! Die Zeilen jenes Protokolls krochen auf ihn zu, wandelten sich in fratzenhafte, scheusälige Bilder. Die schwarze Kuh mit dem abgehauenen Kopf, der Bock mit den abgeschnittenen Hoden. Sie mochte sich wohl eine Puppe von ihm gemacht haben, einen Teraph, sein Herz und lebendiges Blut in das Bild hineinzuzaubern, und der Satan, der neunschwänzige, mochte wissen, was für verfluchte und unflätige Hantierung sie mit dem Gebannten getrieben.

Aber jetzt war er ihr auf das Handwerk gekommen. Jetzt war es aus mit allem Zauber und vermaledeiter Hexerei. Er wird ihr zeigen, daß er auch den letzten Tropfen ausgeschwitzt von ihrem Höllengift und Satanstrank.

Er schrieb, siegelte, befahl Räte, Offiziere. Ein hastiges, heimliches, wichtiges Gewese hub an.

Schon andern Tages in aller Frühe erschien ein Detachement Husaren in dem Dorfe Freudenthal. Die Soldaten rückten vor das Schloß, besetzten alle Ausgänge. Der Führer, Oberst Streithorst, gefolgt von seinem Adjutanten, ging, an dem schlotternden Kastellan vorbei, in die Vorhalle. Hier trat ihm der Haushofmeister entgegen, an allen Türen tuschelte aufgeregte, ängstlich neugierige Dienerschaft. Die Exzellenz sei nicht zu sprechen, erklärte hastig der Haushofmeister, die Exzellenz sei noch zu Bette. So werde er einige Minuten warten, entgegnete gelassen der Offizier und setzte sich. Und der Haushofmeister dringlich, überhastet: die Frau Gräfin sei unpaß, sie bedaure sehr, überhaupt nicht empfangen zu können. Wenn der Herr Oberst Ordres von Seiner Durchlaucht bringe, möge er sie dem Sekretär übergeben. Der Oberst, immer korrekt und kühl, es sei ihm leid, er habe Befehl, unter allen Umständen die Frau Gräfin selbst zu sprechen.

Über dem erschien die Mutter der Gräfin. Kolossig stand die erdfarbene Uralte in der Tür, die zu den Zimmern der Tochter führte. Der Oberst salutierte, wiederholte, unerregt und sachlich, seinen Auftrag. Die Alte mit ihrer röchelnden, tiefen Stimme herrschte ihn an, er solle sich scheren; er wisse so gut wie sein Herr, ihre Tochter sei reichsunmittelbare Gräfin, nur der römischen Majestät unterstellt. Der Offizier achselzuckte, er sei kein Jurist, und so gehe sein Auftrag, und er gebe der Frau Gräfin eine halbe Stunde Zeit, sich anzukleiden; dann werde er die Tür sprengen lassen. Keifend und massig pflanzte die Alte sich hin: das sei Landfriedensbruch, und man werde sich bei schwäbischer Reichsritterschaft beschweren, und sein Herr werde es schwer büßen müssen, und er werde schimpflich kassiert werden. Es seien jetzt noch sechsundzwanzig Minuten, erwiderte der Oberst.

Die Gräfin indes, in rasender Eile, fegte in ihren Zimmern herum, verbrannte Papiere, schichtete, siegelte, übergab ihrem Sekretär. Als der Offizier bei ihr eindrang, lag sie in einem prunkvollen Nachtgewand zu Bett, richtete sich hoch, ganz empörte Unschuld. Fragte mit schwacher Stimme, was man von ihr wolle. Herr von Streithorst entschuldigte sich, er habe strikte Ordre von dem Herrn Herzog selbst, Ihre Exzellenz unter Bedeckung fortzubringen. Kreischen der Zofen, haßerfüllte, röchelnde Beschimpfungen der Alten, Ohnmacht der Gräfin. Der Offizier unerschütterlich. Als sie wieder zu sich kam, während die Alte den Oberst als Mörder begeiferte, sagte sie, die Stimme gebrochen und wie die eines kleinen Mädchens, sie sei in seiner Gewalt, sie wisse, daß er sie wegführen könne, ehe die Reichsritterschaft gewaffneten Widerstands fähig sei. Sie sei sehr ernstlich krank, dieser Überfall habe ihr schlimm zugesetzt, und wenn er darauf bestehe, sie in solchem Zustand wegzubringen, so werde das ihr Tod sein. Sie sprach mühsam, in Atemnot, ringsum flennten die Zofen. Es dauerte vier Stunden, bis der Oberst sie in der Kutsche hatte und sie inmitten der Reiter in den regnichten Tag wegführen konnte. Die Mutter und zwei Zofen begleiteten sie. An ihrem Weg standen dumm glotzend ihre Bauern. Aber die Freudenthaler Juden hatten sich in ihrem Betsaal versammelt, in großer Angst um Leib und Gut, und beteten für ihre Schützerin.

Die Gräfin wurde nach Urach gebracht und dort als Standesperson in allem Respekt gehalten, durfte aber Schloß und Park nicht verlassen. Sie gab sich hochfahrend, schikanierte die Dienerschaft bis aufs Blut und verblüffte sie durch ungeheure Trinkgelder. Den Kommissaren des Herzogs verweigerte sie jede Auskunft, sie habe als regierende Reichsgräfin nur dem Kaiser Red und Antwort zu stehen. Als gar die schwäbische Reichsritterschaft sich in die Sache mengte und über ihre durch die Verhaftung der Gräfin in dem reichsfreien Rittergut Freudenthal verletzten Rechte klagte, triumphierte sie, und ihr Sachwalter erhob in Wien Klage in einer Sprache, wie sie gegen das württembergische Haus noch nie geführt worden war. Überall im Reich sprengten ihre Agenten Gerüchte aus, wie groß die Rechtsunsicherheit sei im Herzogtum, wenn nicht einmal die Freiheit ritterschaftlicher Person gewahrt würde. Isaak Landauer erklärte, sacht den Kopf wiegend, dem Gesandten der Generalstaaten, unter solchen Umständen sei es eine mißliche Sache, in Württemberg Kapital stehenzulassen, seine Worte wurden in den Kontoren der großen Geldleute kolportiert und wirkten gefährlich weiter.

Im herzoglichen Kabinett verfolgte Geheimrat Schütz aufmerksam und bewundernd alle Schachzüge der Gräfin. Er ließ sie lange gewähren; dann aber bremsten er und der Bruder der Gräfin jäh und wirksam. Bei den Reichsrittern war einzusetzen. Der Herzog, selbstherrlich, haßte diese Körperschaft und lag ständig mit ihr in Fehde. Er lief rot an, nannte man nur den Namen, und hatte blindwütig mit eigener Hand aus dem Kirchenlied: »O heiliger Geist, kehr’ bei uns ein«, die Verse gestrichen: »Laß uns dein’ Salbungskraft empfinden, stärk’ uns zu deiner Ritterschaft«. Aber diesmal mußte er sich überwinden, er mußte nachgeben. War die Ritterschaft der Teufel, so war die Gräfin seine Großmutter. Er anerkannte also die Klage der Ritter, entschuldigte sich höflich und in bester Form und gewährte auch andere Genugtuung, vor allem war er bereit, in einer strittigen Frage über die Befreiung der Ritter vom Weinzoll nachzugeben. Da bei weiterem Widerstand nur Ehre, bei Nachgeben aber etwa siebzigtausend Gulden zu gewinnen waren, zog die Ritterschaft ihren Protest zurück. Damit war auch die Wiener Klage erledigt.

Der Wind war aus den Segeln der Gräfin genommen, überall flauten ihre Anhänger ab. Schütz benutzte ungesäumt diese Flauheit, dem Handel für alle Zeit ein Ende zu machen. Die Gräfin wurde nach der Festung Hohen-Urach gebracht in engeren Gewahrsam, niemand von ihren Freunden hatte Zutritt. Die Dämme, bisher der Volkswut entgegengestellt, wurden niedergerissen. Allerorts erschienen Pasquille und schmähliche Karikaturen, in Kannstatt wurde eine Puppe mit den Zügen der Gräfin unterm Gejohl des Pöbels erst ins Hurenhaus gebracht, dann gestäupt und auf den Schindanger geworfen.

Unterdes suchte die Mutter ihren ältesten Sohn auf. Der aalglatte, eiskalt hochmütige Minister saß vor der schimpfenden Greisin geduckt wie ein Hosenmatz. Er legte dar, der Übermut und politische Ehrgeiz der Schwester hätte auf die Dauer sie alle ins Unglück gestürzt, so habe er eingreifen müssen. Jetzt, wo sie politisch außer Spiel gesetzt sei, werde er sein Bestes tun, ihren Abgang zu retten. Er denke nicht daran, ihr Vermögen anzutasten.

Der Vergleich, den man der Gräfin vorlegte, war denn auch von Anfang an günstig. Es zeigte sich, wie fein Isaak Landauer alles eingefädelt hatte. Alle Welt war interessiert, der Gräfin in Württemberg liegendes Vermögen zu retten. Der kaiserliche Gesandte, ihr Bruder, der Sachwalter des Kammergutes, wer immer in der Affäre mitzureden hatte, wirkte in solchem Sinn. So mußte sie zwar ihre Güter Brenz, Gochsheim, Stetten, Freudenthal abtreten und sich zu der Zusage bequemen, keine Forderungen und Ansprüche weiter an das fürstliche Haus zu machen, desgleichen das Herzogtum nie wieder zu betreten: aber Isaak Landauer hatte eine letzte ungeheure Summe für sie erpreßt, deren Höhe selbst ihre Juden nur zu flüstern wagten, und die Nutznießung vieler Liegenschaften blieb ihr auf Lebenszeit. Sie zählte zu den vermögendsten Damen des Römischen Reichs, als sie das Herzogtum verließ.

Eine starke militärische Eskorte begleitete sie außer Landes. Ihre Straße war gesäumt von johlendem, Kot schmeißendem Volk. Vor ihr, hinter ihr, in endloser Reihe schleppten Wagen Kleider, Hausrat, Zierat.

Erst als das letzte Stück über der Grenze war, folgte, allein in der Kutsche, erdfarben, kolossig, unbeweglich die Alte.

Bei dem Prälaten von Hirsau, Philipp Heinrich Weißensee, Konsistorialrat und Mitglied des engeren parlamentarischen Ausschusses, war ein Gast eingekehrt, der Geheimrat Fichtel vom Hof des Würzburger Fürstbischofs. Die beiden Herren waren seit Jahren befreundet, der schlanke, weltmännische Protestant und der unscheinbare Diplomat des Fürstbischofs mit dem kleinen, klugen Gesicht. Beide passionierte Puppenspieler, undurchsichtig für ihre Umgebung, schlossen sie sich gegenseitig die Mechanik ihrer Künste auf, freuten sich kennerisch an dem feinen Getriebe der zahllosen Fädchen württembergisch-protestantischer Parlamentspolitik und höfischkatholischer Diplomatie. Der Jesuitenschüler wie der protestantische Prälat liebten die Politik um ihrer selbst willen; wenig lag ihnen am Ziel, viel an seiner kunstgerechten Verfolgung.

Im Herzogtum schätzte man Weißensee, aber er war den meisten unbehaglich. Seine gelassene Liebenswürdigkeit und die leicht skeptische Überlegenheit seiner weitschichtigen Bildung legten eine feine Wand von Fremdheit und Undurchdringlichkeit zwischen ihn und die zahllosen Bekannten, die seine großen, behaglichen Räume füllten. Er war ein ausgezeichneter Mathematiker, war eng befreundet mit den beiden besten Theologen des westlichen Deutschlands, dem stillen, ernsthaften, wahrhaft frommen Johann Albrecht Bengel und dem geraden, festen Georg Bernhard Bilfinger. Seine kritische Ausgabe des Neuen Testaments, bis jetzt freilich nur zum kleineren Teil erschienen, war weit über Württemberg hinaus berühmt, sein Wort mit ausschlaggebend im landschaftlichen Ausschuß.

Aber es fehlte seiner mannigfachen Beschäftigung die Wärme. Wohl erfüllte er alles, daran er Hand legte, bis in jede Ecke mit Tätigkeit und sachkundigem Betrieb. Doch ob es das Neue Testament war oder ein Referat im Landtag oder die Anpflanzung einer neuen Sorte in seiner Obstkultur, er nahm es spielerisch, es gab nichts, das ihm über die Nerven hinaus ins Herz drang.

In den weiten Räumen mit den mächtigen, weißen Vorhängen ging groß und schlicht seine Tochter Magdalen Sibylle herum, neunzehnjährig, bräunliches, männlich kühnes Gesicht, weite, blaue, erfüllte Augen, sehr merkwürdig und verwirrend unter dem dunkeln Haar. Die Mutter war früh gestorben, zu der immer gleichbleibenden, lauen Freundlichkeit des Vaters fand sie keinen Weg. Der Umgang mit der Tochter des Stuttgarter Landschaftskonsulenten, Beata Sturmin, und die Lektüre Swedenborgs hatten die Vereinsamte in pietistische Zirkel getrieben.

Denn es blühten die Konventikel im Land, die Bibelkollegien. Trotz aller Verbote und Strafen traten unter der Not der Zeit überall im Herzogtum Gläubige und Erweckte auf. Freilich gab es in dem kleinen Hirsau keine Heilige wie Magdalen Sibyllens Stuttgarter Freundin und Führerin, die blinde Beata Sturmin, die mit Gott im Gebet rang, ihm die Ohren mit Verheißungen rieb, die er erhören mußte, ihm durch wahllos zufälliges Aufschlagen von Bibelstellen Orakel abnötigte. Aber es lebte in dem stillen Ort ein gewisser Magister Jaakob Polykarp Schober, der die Schriften Poirets, Böhmes, Bourignons, Leades, Arnolds gelesen hatte, auch die verbotenen Bücher vom Ewigen Evangelium und der Philadelphischen Sozietät, ein gutmütiger, einfältiger Mensch, der sanft vor sich hin trieb und lange sinnierende Spaziergänge liebte. Der hielt in Hirsau ein Bibelkollegium ab, und daran nahm auch Magdalen Sibylle teil, die Tochter des Prälaten. Die weiten, blauen Augen unter dem dunkeln Haar in ein Fernes, Erträumtes versenkt, saß sie groß und schön mit dem männlich kühnen, bräunlichen Gesicht unter den Frommen, Armseligen, Gedrückten, Blassen, Verhutzelten des Collegium Philobiblicum, sie suchte durch zufälliges Aufschlagen der Schrift Orakel, sie kämpfte im Gebet mit Gott, daß er ihrem Vater Gnade und Erweckung fließen lasse.

Der würzburgische Geheimrat war ihr in tiefer Seele zuwider, und sie grämte sich ab, den Vater in dieser weltlichen, heidnischen Gesellschaft zu sehen. Der Katholik hatte von dem neumodischen Zeugs mitgebracht, das die Kannibalen erfunden haben, Kaffee hieß es, und von dem mußte man ihm einen schwarzen, stark riechenden Saft bereiten. Magdalen Sibylle schaute mit scheuen, angewiderten Augen, wie auch der Vater von dem Teufelstrank genoß, und betete mit aller Inbrunst, Gott möge ihn nicht daran vergiften lassen.

Da saßen nun die beiden Männer bei solchem Trank oder beim Wein und sprachen endlos über die eitlen Dinge des Reiches und ganz verruchten Kirchenbabylons, Politik und Geld und Verfassung und Titel und Militär und Prozesse. Statt von dem Gesicht Gottes und seiner Herrlichkeit, wie es Dienern Christi ziemte.

Der Geheimrat kam natürlich auch auf den Prinzen Karl Alexander zu sprechen, der jüngst bei dem Fürstbischof zu Gast gewesen. Weißensee kannte den Prinzen auch. Ein scharmanter Herr. Sein Ruf drang von der untern Donau bis an den Neckar. Ein edles Blatt am Zederbaume Württembergs. Der Geheimrat sprach von den finanziellen Schwierigkeiten des Prinzen, er habe ja auch eine Eingabe an die Landschaft gemacht, soviel er wisse, um Erhöhung seiner Apanage. Ja, Weißensee hatte die Eingabe gelesen, der Stil sei ihm bekannt vorgekommen. In der Kanzlei des Prinzen jedenfalls sei das Schriftstück nicht entstanden; jetzt, nachträglich, sei es ihm, als erkenne er in gewissen Wendungen die Manier seines verehrten Freundes, schloß er lächelnd.

Die Herren saßen bequem in dem lauen Abend, tranken. Aber seitdem die Rede auf diese Affäre gekommen war, fiel Rede und Antwort in längerem Abstand, gewogener, und unter der lässigen Maske barg sich Bereitschaft. Wie die Dinge jetzt lägen, meinte Weißensee, vorsichtig, ausholend, sei es sehr erwägenswert, dem verdienten Prinzen die kleine Summe zu gewähren.

Das würde den Bischof menschlich gewiß sehr freuen, antwortete langsam der Geheimrat Fichtel, und man konnte seinem klugen, kleinen Gesicht ablesen, wie er vorsichtig die Worte formte, daß sie nichts sagen, doch alles bedeuten sollten. Der Bischof sei ja dem Prinzen sehr befreundet. Aber der bischöfliche Stuhl als solcher habe gar kein, sein verehrter Freund möge ihn wohl verstehen, aber auch gar kein Interesse daran, ob die Landschaft dem Prinzen helfe oder nicht. Die bischöflichen Kassen seien wohlgefüllt; wenn Seine Eminenz den württembergischen Herren den Vorrang gelassen habe, dem Prinzen aus der Not zu helfen, so sei das eine höfliche Geste, sonst nichts. Der Geheimrat verstummte, schlürfte seinen Kaffee.

Weißensee betrachtete ihn aufmerksam, sagte sacht: »Wenn ich Sie recht verstehe, Lieber, liegt dem Bischof wirklich nichts daran, ob wir das Geld geben oder nicht.«

Die Herren sahen sich an, behutsam, freundlich. Dann sagte der Katholik: »Wenn ich im Ausschuß säße, ich würde dagegen stimmen. Gerade jetzt, nach dem Zusammenbruch der Grävenitz, keine Konzession an das fürstliche Haus.«

Und die beiden Diplomaten lächelten sich zu, höflich, verständnisvoll, einander sehr gewogen, mit dünnen, feinen Lippen.

Als das Gesuch des Prinzen im landschaftlichen Ausschuß zur Sprache kam, war man geneigt, es zu bewilligen. Nach dem Sturz der Gräfin waren die Elf gemütlichen Humors, gebelustig. Das Referat hatte der plumpe, polternde Bürgermeister von Brackenheim, Johann Friedrich Jäger. Er führte aus, der Prinz Karl Alexander sei ein großer Herr und Feldmarschall, trage die württembergische Gloire über den Erdkreis und verbreite den Respekt vor schwäbischer Courage und Maulschellen bei Mohren, Türken und sonstigen Heiden; auch habe der Herzog das Saumensch, das pockennarbige, abgeschafft. So könne man sich nobel zeigen und die paar tausend Gulden spendieren. So ungefähr ging auch die Stimmung der andern. Da erhob sich Weißensee, und mit seiner feinen, höflichen, geschmeidigen Stimme warf er wie beiläufig hin, die Großmut und noble Manier der wohllöblichen Herren Kollegen sei hoch zu schätzen, auch gönne er dem verdienten Helden das Geld. Nur sei die Frage, ob es praktisch sei, gerade jetzt den Herzoglichen entgegenzukommen. Der Herzog habe endlich mit der Gräfin Schluß gemacht, gut. Aber das sei ja schließlich nur seine vermaledeite Pflicht und Schuldigkeit gewesen, und wenn man jetzt durch besonderes Entgegenkommen danke, so stemple man dadurch die Selbstverständlichkeit gewissermaßen zur Gnade und sanktioniere auf solche Art hinterher die Halsstarrigkeit, die der Herzog die dreißig Jahre hindurch bewiesen. Er stimme also dafür, das Gesuch Karl Alexanders abzulehnen, ohne daß dies eine Gehässigkeit gegen den sympathischen Prinzen bedeuten solle.

Die Mitglieder des Ausschusses wiegten die schwerfälligen Schädel, schwankten, waren schon überzeugt. Weißensee hatte sie gepackt, wo sie am schwächsten waren. Ja, das war es! Dem Herzog zeigen: keinen Schritt geben wir nach. Unsere Privilegien sind nicht auf dem Papier, wir brauchen sie. Das war etwas.

Das Gesuch des Prinzen Karl Alexander, Kaiserlichen Feldmarschalls, Hoheit, wurde abgelehnt.

Rabbi Gabriel hielt sich in Wildbad still, zurückgezogen. Gegen Abend pflegte er in der Umgegend spazierenzugehen. Regenwetter hatte eingesetzt. Er ging durch die feuchte, laue Luft, den Schritt schwerfällig, den Rücken leicht rund, den Kopf geradeaus, den Blick auf niemand. Er ging, so unauffällig er war, zwischen Verstummenden, Aufschauenden, Betroffenen. Geraun stand auf hinter ihm, das Gerede vom Ewigen Juden war wieder da. Dreimal durchforschten die Behörden die Papiere des gleichmütig mürrischen Herrn. Sie waren in Ordnung. Er war legalisiert von den Generalstaaten als Mynheer Gabriel Oppenheimer van Straaten, er hatte den großen Paß, der alle Behörden ersuchte, ihm jeden Vorschub zu tun.

Der Prinz Karl Alexander hatte natürlich auch von dem seltsamen Badegast gehört und daß er mit seinem Leibjuden, dem Süß, zusammenstecke. Es kam den Prinzen nachgerade eine leise Ungeduld an, wie er da so endlos auf das Geld von der Landschaft wartete, und er begann sich zu langweilen. Er hatte sich in Venedig und auch sonst wie so viele andere große Herren mit Sternlesekunst und anderer Magie abgegeben, vor allem sein Freund, der Fürstabt von Einsiedeln, beschäftigte sich viel mit solchen Dingen. Erst in Würzburg hatte er wieder von einem Magus erzählt, den er jetzt an seinem Hof hielt und in den er großes Vertrauen setzte. Der Prinz verlangte also von Süß geradezu, er solle ihm den Kabbalisten beibringen und vor ihn hinstellen. Süß wand sich und drehte sich. Er wußte, Rabbi Gabriel wird sich zu solcher Schaustellung nie hergeben. Schließlich fand er einen Ausweg. Wenn der Rabbi bei ihm sei, werde er dem Prinzen Botschaft schicken. Suche dann der Prinz ihn auf, so ergebe sich zwanglos eine Zusammenkunft mit dem Rabbi. Karl Alexander erklärte lachend sein Einverständnis.

Der Kabbalist sagte zu Süß: »Ich werde also das Mädchen ins Schwäbische bringen. In der Nähe von Hirsau hab ich ein kleines Landhaus gefunden, ganz abgelegen. Laß das Haus kaufen. Es ist mitten im Wald, weitab von den Menschen. Nichts Schlechtes kann dort an sie hin.«

Süß nickte stumm. »Es wäre gut«, fuhr Rabbi Gabriel mit seiner knarrigen Stimme fort, »wenn auch du dich wegmachtest aus dem Leben hier und deinen Geschäften. Wenn du in der Stille bist, am Ufer, dann siehst du, daß dein Rauschen und Getrieb wirbelndes Nichts ist. Es ist Narrheit, daß ich an dich hinrede«, schloß er unwirsch. Er sah das Gesicht des Süß, er sah Fleisch und Knochen und Blut und kein Licht, und er war zornig auf jene tiefe und heimliche Bindung, die ihn gerade an diesen Menschen zwang zu immer weiteren Niederlagen. Oh, wieviel Ströme mußten kreisen, bis aus diesem Stein Leben sprang.

Wie er gehen wollte, ward die Türe aufgerissen, und an Dienern in Haltung vorbei kam der Prinz ins Zimmer, leicht hinkend, lärmend: »Ah, Er hat Besuch, Süß?«, und warf sich in einen Sessel. Rabbi Gabriel neigte sich, nicht tief und ohne Hast, und beschaute gleichmütig und aufmerksam den Prinzen, während Süß in tiefer Verbeugung stand. Vor dem ruhigen, trübgrauen Auge des Kabbalisten verlor der Prinz seine polternde Sicherheit, ein peinliches Schweigen legte sich zwischen die drei, bis Süß es löste: »Dies ist Seine Hoheit, Oheim, der Prinz von Württemberg, mein erhabener Gönner.« Da Rabbi Gabriel noch immer schwieg, sagte der Prinz, und sein Lachen klang nicht ganz frei: »Er ist wohl der geheimnisvolle Fremde, von dem hier alles schwatzt? Er ist Alchimist, kann Gold machen, was?«

»Nein«, sagte Rabbi Gabriel, unerregt. »Ich kann kein Gold machen.«

Der Prinz hatte den Handschuh ausgezogen, wippte ihn gegen den Schenkel. Aus dem massigen, bartlosen Gesicht mit der kleinen, platten Nase starrten ihn unbehaglich die viel zu großen grauen Augen an mit traurigem, trübem Feuer. Er hatte sich den Magus ganz anders vorgestellt; er erinnerte sich des amüsierten Kitzels, mit dem er gewissen magischen Séancen sonst beigewohnt hatte. Das hier war so dumpf, als wiche langsam die Luft aus dem Zimmer.

»Ich habe viel Interesse für alchimistische Experimente«, sagte er nach einer Weile. »Wenn Ihr zu mir ziehen wollt, nach Belgrad« – er gebrauchte jetzt das höflichere Ihr –, »ich bin nicht reich, Euer Neffe weiß das wahrscheinlich besser als ich, aber ein auskömmliches Jahrgehalt wird zu beschaffen sein.«

»Ich bin kein Goldmacher«, wiederholte der Kabbalist.

Wieder das Schweigen, das trist rinnend, lähmend das Zimmer füllte, sich um die Menschen legte, ihre Sicherheit, Unbedenklichkeit wegdrängte. Plötzlich, mit einer jähen Bewegung, als wollte er Fesseln mit Gewalt zerhauen, riß der Prinz die linke Hand hoch, dem Kabbalisten vors Auge. »Aber das könnt Ihr mir nicht abschlagen, Magus!« lärmte er mit einem bewölkten Lachen. »Sagt mir, was Ihr drinnen lest!« und drängte ihm die Handfläche vor das Gesicht. Es war eine merkwürdige Hand. Während ihr Rücken schmal, lang, behaart, knochig erschien, war ihr Inneres fleischig, fett, kurz.

Rabbi Gabriel hatte einen Blick auf die Hand nicht vermeiden können. Eine wilde, erschreckte Bewegung kaum unterdrückend, wich er einen halben Schritt zurück. Beklommenheit, grauer noch, enger, drückender, nebelte herab. »Sprecht doch!« drängte der Prinz. »Ich bitte Euch, erlaßt es mir!« entgegnete, kaum noch gefaßt, der Kabbalist.

»Wenn Ihr mir Schlechtes zu prophezeien habt, glaubt Ihr, ich falle in Freisen wie eine blutarme Jungfer? Ich bin in hundert Schlachten gestanden, ich habe mich übers Sacktuch duelliert, der Tod ist mir um Fingerbreite vorbeigepfiffen.« Er versuchte zu lachen. »Glaubt Ihr, ich kann’s nicht hören, wenn ein alter Jud mir Unheil wahrsagt?« Und da der andere schwieg: »Kriecht nicht in Starrsinn wie eine Schildkröte in ihr Haus! Heraus mit der Sprache, mein Kalchas, mein Daniel!«

»Ich bitte Euch, erlaßt es mir!« sagte der Kabbalist. Er hob nicht die Stimme, aber seine Augen schauten, vereiste Seen, auf den Prinzen, daß der einen Augenblick kein Wort fand. Scharf, tief, kurz zackten die drei Furchen in die breite Stirn des Rabbi wie ein fremder, unheimlicher Buchstab. Aber da sah der Prinz den Süß, der gespannt und verängstigt zurückgewichen war, und er bäumte hoch, daß er so lächerlich und klein vor dem Alten stehe, und, ihm nochmals die Hand vor die Augen drängend, schrie er herrisch: »Rede!«

Rabbi Gabriel sagte, und sein mürrischer Alltagston fiel unheimlicher in die Erregung des Prinzen, als alle großen Gesten und magisches Gewese es hätten tun können: »Ich sehe ein Erstes und ein Zweites. Das Erste sag ich Euch nicht. Das Zweite ist ein Fürstenhut.«

Der Prinz, verblüfft, lachte durch die Nase. »Mille tonnerre! Ihr gebt’s dick, Herr Magus. Ganz Gold und Purpur. Nicht so obenhin wie sonst ein Chiromant und Astrologus: großer Glanz und Gloire oder so. Sondern rund und nett und klar ein Fürstenhut. Kotz Donner! Da kann sich mein Vetter freuen.«

Rabbi Gabriel erwiderte nicht. »Ich reise heute abend«, wandte er sich an Süß. »Es bleibt bei dem, was ich dir sagte.« Er neigte sich vor dem Prinzen, ging.

»Er ist nicht sehr höflich, Sein Oheim«, sagte Karl Alexander zu Süß und versuchte, seine Betretenheit zu zerlachen. »Sie müssen ihn entschuldigen, Hoheit«, beeilte sich der Jude zu erwidern und mühte sich, auch er, seiner Erregung Herr zu werden. »Er ist knurrig und ein Sonderling. Und wenn auch seine Manier zu beklagen und zu tadeln ist«, schloß er, wieder beherrscht und der alte, »was er zu sagen hatte, war um so erfreulicher.«

»Ja«, meinte der Prinz, vor sich hin schauend und mit dem Degen Linien des Fußbodens nachzeichnend, »aber das, was er verschwieg.«

»Er hat so seine Kauzgedanken«, beschwichtigte Süß. »Was er für wichtig hält und für ein großes Malheur, darüber lacht unsereiner, der das Leben anschaut, wie es wirklich ist. Ein Fürstenhut ist was Reales. Das Unheil, von dem er nichts verraten wollte, ist sicher Geträume für unsereinen und überhirnisch Zeug.«

»Der Fürstenhut!« lachte der Prinz. »Sein Oheim sieht bedenklich weit. Muß der Tod noch groß reine waschen, ehe daß ich an der Reihe bin. Vorläufig lebt mein Vetter noch und dann sein erwachsener Sohn und denken nicht daran, um die Ecke zu gehen. Hat vielmehr mit seiner Frau Herzogin Friede geschlossen, daß er ihr noch mehr lebendige Kinder mache.« Der Prinz stand auf, streckte sich. »Ho, Jud! Will Er mir eine Hypothek geben auf den württembergischen Thron?« Und schlug ihn laut lachend auf die Schulter. Süß schaute ihm ehrerbietig ins Auge: »Ich stehe Eurer Hoheit zur Verfügung mit allem, was ich habe. Mit allem, was ich habe«, wiederholte er. Der Prinz hörte zu lachen auf und schaute den Finanzmann an, der sehr ernst und mit größerer Ehrfurcht noch als sonst vor ihm stand. »Genug der Spaß!« sagte Karl Alexander plötzlich, rückte die Schultern, als würfe er etwas Fremdes und Lästiges von sich, und strammte sich. »Die kleine Kosel hat mich um türkische Schuhe gebeten«, sagte er dann in seinem alten Ton, »mit kleinen blauen Steinen. Schaff Er sie mir, Jud! Und das Beste!« Und während er hinausging, leicht hinkend: »Aber daß Er mich nicht mehr bescheißt als um drei Dukaten.« Und er lachte schallend.

Rabbi Gabriel verließ Wildbad mit der gewöhnlichen Post. In seinem soliden, etwas altfränkischen Rock, wie man ihn in Holland vor zwanzig Jahren getragen hatte, dicklich, den Rücken leicht rund, sah er aus wie ein verdrießlicher Bürger oder wie ein mürrischer hoher Beamter. Bevor er kam, hatte in der Postkutsche muntere Unterhaltung geflattert, jetzt saß man stumm und ungemütlich, und Rabbi Gabriels Nachbar rückte unmerklich von ihm ab.

Kaum aus dem Ort, begegnete die Post einer prunkhaften Reisegesellschaft. Es war der Fürst Anselm Franz von Thurn und Taxis, der Regensburger, der mit Glanz und großer Suite das Waldschlößchen Eremitage bezog, das er gemietet hatte. Der Fürst, ein feiner, älterer Herr, der Schädel lang, sehr aristokratisch, an den Kopf eines Windhundes gemahnend, Witwer, war begleitet von seiner einzigen Tochter, Marie Auguste. Die Prinzessin, über Deutschland hinaus um ihre Schönheit gefeiert, auf zahllosen Bildern, Pastellen Bewunderer lockend, saß neben ihrem Vater mit der gewohnten Teilnahmslosigkeit der schönen Frau, die weiß, daß viele Augen jeder ihrer Bewegungen folgen. Mit lässiger Neugier schaute sie in den besetzten Postwagen, und ihr kleines, leicht spöttisches, hochmütig liebenswertes Lächeln verflog nicht vor dem Blick des Kabbalisten. Ihr Vater hatte ihr in seiner sachten Art Andeutungen gemacht, in Wildbad werde sie wichtige und, wie er hoffe, angenehme Entscheidungen zu treffen haben. So fuhr sie jetzt in der blinkenden Kutsche, bereit, zu jedem Erlebnis lieber ja als nein zu sagen, jung, lässig und doch hungrig. Unter strahlend schwarzem Haar äugte klein, ziervoll, eidechsenhaft das Gesicht, von der matten Farbe alten, edlen Marmors, spitz zulaufend, langäugig, klare, leichte Stirn, feine, gegliederte Nase, klein, geschwellt, spöttisch der Mund.

Die Damen in Wildbad waren erbittert über die neue Gastin. Die Prinzessin von Kurland, die Tochter des Gesandten der Generalstaaten, an die Wand gedrückt, verzogen hochmütig die Lippen und fanden die Thurn und Taxis männersüchtig und kokett. Die aber ging, den kleinen, ziervollen Kopf sehr hoch, mit lässigem, schwer deutbarem Lächeln ihre Straße, die gesäumt war von Bewunderern.

Der erste Abend, an dem die Prinzessin Marie Auguste in Gesellschaft erschien, war ein guter Abend für Josef Süß. In betontem Gegensatz zu den andern Herren machte er nicht den leisesten Versuch, den Regensburger Fürstlichkeiten vorgestellt zu werden. Während etwa der junge Lord Suffolk durch seine starre, großäugige, verblüffte Verliebtheit lächerlich wurde, hielt sich Süß an die jetzt vernachlässigten Damen, denen er bisher gehuldigt und bei denen er heute in doppelter Gnade stand. Selten nur und wenn es seine Damen nicht bemerken konnten, flogen seine großen, braunen Augen zu der Prinzessin, dann aber starrte aus seinem sehr weißen Gesicht so hemmungslos ergebene Bewunderung, daß Marie Auguste den stattlichen, eleganten Herrn mit ungenierter Neugier auf und ab sah. Im übrigen schritt sie mit ihrem leisen, erregenden Lächeln ziervoll und ein wenig spöttisch durch die Huldigungen des Abends.

Der sonst Gipfel solcher Feste war und auf den man ihre Spannung gelenkt hatte, Karl Alexander, Prinz von Württemberg, Kaiserlicher Feldmarschall, Held von Belgrad, Peterwardein und sonst vieler Schlachten, blieb wider Erwarten dem Abend fern. Grimmig saß er in seinem Zimmer beim Sternwirt, allein, auf dem Tisch eine einzige Kerze. Er saß im Schlafrock, den verwundeten, gichtischen Fuß, der heute besonders schmerzte, mit Tüchern umwickelt, er saß vor Flaschen und Karaffen. Aus dem Dunkel tauchte zuweilen Neuffer, der Kammerdiener, das Glas aufzuschenken, und im Schatten hockte der Schwarzbraune. Der Prinz saß, soff, fluchte. Die Flüche aller Sprachen, allen Unflat des Feldlagers fluchte er gegen die Landschaft. Am Nachmittag, mit der gewöhnlichen Briefpost, hatte er ein Schreiben des parlamentarischen Ausschusses erhalten, das nackt und ohne Umschweife sein Gesuch um ein Darlehen ablehnte.

Karl Alexander schäumte. Er wußte sich populär im Herzogtum, sein Bild hing in zahllosen Stuben, das Volk schrie ihm »Hoch!«. Und nun schickten ihm diese Kanaillen vom Parlament, diese ausgefressenen Rotzbuben und hochnäsigen Populace, einen solchen Dreck und Geschmier.

So saß er, soff, fluchte. Riß dann die Felle weg, mit denen Neuffer ihm den Fuß umwickelt, stapfte auf und nieder. Eine Krone! Da hatte ihm dieser alte Jud eine Krone geweissagt. Der Scharlatan! Eine nette Krone! Ein Lump und hergelaufener Bettler war er, dem die Bande einen solchen Scheißbrief hinzuschmeißen wagte. Er lärmte so grausam und lästerlich, daß der vom Fest heimkehrende Süß tief erschreckt noch in der Nacht den Kammerdiener befragte, was denn los sei. Aber Neuffer, der den Juden nicht leiden konnte, wich aus.

Andern Tages, gegen Mittag, er hatte schon zweimal vergeblich angefragt, machte Süß dem Prinzen seine Aufwartung. Er trat behutsam ins Zimmer, er trug neue Strümpfe von besonderer Art, die er dem Prinzen zeigen wollte; Seine Hoheit hatten immer für modische Dinge großes Interesse. Auch wollte er ihm von dem gestrigen Fest erzählen. Aber so grimmig hatte er ihn nie gefunden. Nackt und mächtig stand er da, während Neuffer und der Schwarzbraune ihn mit Kübeln Wassers übergossen und immer wieder abrieben. Er schmiß ihm den Brief der Landschaft hin, und während Süß geduckt und hurtigen Auges ihn überflog, polterte er triefend, prustend auf ihn ein: »Ein netter Magus, Sein Oheim! Mit dem hat Er mich sauber angeschmiert! Schaut gut aus, meine Krone!«

Süß war ehrlich erbittert über die grobe Ablehnung der Landschaft und schickte sich an, dem Prinzen in gewandten Worten seine zornige Verachtung solcher Flegelei und seine tatbereite Ergebenheit zu versichern. Aber der Prinz, gereizt gegen jedermann, wie er den Süß elegant, mit dem gemeinen Brief in der Hand stehen sah, befahl plötzlich: »Neuffer! Otman! Taufts den Juden! Er soll schwimmen lernen!« Und der Kammerdiener und der Schwarzbraune gossen sogleich in mächtigem Schwall das Waschwasser gegen Süß, kläffend drang der Hund des Prinzen auf ihn ein, und der Jude retirierte eilends und erschreckt, die Hosen und die neuen Strümpfe patschnaß, die Schuhe verdorben, hinter ihm das schallende Lachen des Prinzen und der Diener.

Süß nahm es dem Feldmarschall nicht weiter übel. Große Herren hatten solche Launen, das war nun einmal so. Sie hatten das Recht dazu, man mußte sich darein finden. Und während er die nassen Kleider wechselte, überlegte er, er werde sich das nächste Mal ebenso höflich präsentieren, ja noch devoter als bisher, und vermutlich besser aufgenommen werden.

Am gleichen Tag traf der würzburgische Geheimrat Fichtel ein. Der unscheinbare Mann mit dem kleinen, klugen Gesicht suchte noch am Nachmittag den Prinzen auf. Ja, am Würzburger Hof wußte man bereits von der unvermuteten und ganz besonderen Insolenz der Landschaft. Der Herr Fürstbischof sei tief ergrimmt und voll Verachtung für solch erbärmliche und freche Knauserei, die diese dummdreiste Populace einem so großen und hochberühmten Feldherrn zu Schimpf getan habe. Aber sein Herr habe in seiner Weisheit ein anderes Heilmittel gefunden, das der Not des Prinzen abhelfen könne und der arroganten Rotüre zum Exempel und großem Ärger dienen werde.

Bevor er sich aber weiter explizierte, bat er um gnädige Erlaubnis, sich den Kaffeetrank bereiten zu dürfen, den er gewohnt war. Als er dann, neben dem stattlichen Prinzen doppelt unscheinbar, vor der heißen schwarzen Brühe saß, setzte er sacht und sachlich das Heiratsprojekt mit der Thurn-und-Taxisschen auseinander, der schönsten Prinzessin im Römischen Reich und immens begütert. Desgleichen werde sich eine insolente und rebellantische Landschaft gelb ärgern, wenn der Prinz katholisch werde. Der Herr Fürstbischof sei selbstverständlich bereit, dem Prinzen auszuhelfen, auch wenn er die Mariage ausschlüge. Aber er halte diese Lösung für die beste und gönne Seiner Hoheit von Herzen das viele Geld und die schöne Frau und der Landschaft den schönen gelben Ärger. Und der Geheimrat trank in behaglichen kleinen Schlucken seinen Kaffee.

Karl Alexander, wie er allein war, stapfte auf und nieder, den Schädel noch benommen von dem einsamen Gelage der Nacht, atmete, fuhr sich durch das starke blonde Haar. Die Füchse! Schau an die Füchse! Katholisch wollten sie ihn haben. Der Schönborn, der Friedrich Karl, der gute, lustige, freundhafte Kumpan. So ein Fuchs!

Er lachte. Ein Spaß. Kotz Donner! Ein exzellenter Spaß. Die weitaus mehreren hohen Offiziere waren katholisch, die Katholiken waren die besseren Soldaten. Er für sein Teil dachte seit Venedig sehr frei in Religionssachen, die katholische Messe hatte ihm immer gefallen, für den Soldaten war das Katholische mit seinem Weihrauch und Heiligenbildern und Skapulieren eigentlich das Passendere. Und wenn er seinen Freunden in Würzburg und Wien damit einen Gefallen tat, so besser. Sich tat er jedenfalls keinen Tort damit. Eine schöne, reiche Prinzessin. Zu Ende das ewige blödsinnige Lamento und Abschinderei um den Taler. Und der Possen, der herrliche, exzellente Possen, den er der aufsässigen Landschaft spielte. Kreuztürken! Anschauen wird er sich die Regensburgerin auf alle Fälle.

Als Süß kam, den Tag darauf, rief er ihm schallend in guter Laune entgegen: »Bist trocken, Jud? Ist die Taufe gut bekommen?« – »Ja«, erwiderte Süß, »wenn Euer Hoheit Ihren Spaß daran gehabt haben.« – »Wenn ich jetzt dreißigtausend Gulden verlang, würdest sie mir geben?« – »Befehlen Sie!« – »Und würdest mir die Gurgel zudrücken, daß ich Blut schwitz! Ho! Ich hab jemand, der gibt mir das Geld ohne einen Heller Zins!« – »Sie wählen sich einen andern Geldmann?« fragte erschrocken der Jude. »Nein«, lachte behaglich der Prinz. »Fürs erste brauch ich dich mehr als je. Ich will noch wenigstens zwei Wochen bleiben; aber ich möchte heraus hier aus dem Loch von Gasthof. Miet er mir die Villa Monbijou! Installier Er sie, daß man in Versailles nicht daran mäkeln kann, mit Möbeln und Livree. Ich ernenne Ihn zu meinem Hoffaktor und Schatullenverwalter.« Süß küßte dem Prinzen die Hand, dankte überschwenglich.

Karl Alexander schickte den Schwarzbraunen nach dem Schlößchen Eremitage, zu fragen, wann er aufwarten dürfe. Fuhr dann, so kurz der Weg war, in seiner soliden Kutsche vor, die trotz der neuen Lackierung noch reichlich altmodisch aussah; den Neuffer und den Kutscher aber hatte Süß bereits in neue Livree gesteckt.

Auf Eremitage wurde der Feldmarschall mit größter Aufmerksamkeit empfangen. Außer dem Fürsten und Marie Auguste war noch der erste Thurn-und-Taxissche Intendant anwesend und der Geheimrat Fichtel. Franz Anselm von Thurn und Taxis war ein alter, erfahrener, sehr skeptischer Herr. Wohlwollend, heiter, neugierig, von umständlichen, sehr guten Manieren, liebte er Gesellschaft, medisierte gern und glaubte an nichts und niemand. Man hatte so viele gemeinsame Bekannte, am Wiener Hof, in Würzburg, in der Armee, im internationalen Adel. Der Fürst machte kleine, boshafte Anmerkungen, Karl Alexander sprach viel und lebhaft, stimmte bei, nahm in Schutz. Der Fürst hielt den feinen, langen Windhundschädel höflich hingeneigt, hörte aufmerksam zu. Karl Alexander gefiel ihm. Gewiß, er war etwas plump und erhitzte sich, was man nicht soll; auch hatte er wenig Urteil. Aber er hatte Temperament, und, mon Dieu, er war Feldmarschall, war Held, man verlangte Siege von ihm, keinen Verstand.

Marie Auguste sprach zunächst wenig. Sie saß da, sehr fürstlich in dem taubengrauen Samtkleid, mit den kleinen, fleischigen, gepflegten Händen artig und preziös, wie es die Sitte vorschrieb, die obersten Falten des mächtig ausschweifenden Rockes haltend. Sehr weiß rundeten sich aus feinen Gelenken die bloßen Arme, venezianische Spitzen fielen über den Ellbogen. Mit dem matten Glanz alten edlen Marmors leuchtete unter Spitzen Brust und Nacken, hob sich der schlanke Hals. Klein, ziervoll, eidechsenhaft äugte unter strahlend schwarzem Haar das pastellfeine Antlitz. Mit unversteckter, wohlgefälliger Neugier beschaute sie aus den lebhaften, fließenden, dringlichen Augen den Prinzen, der neben dem schlanken Vater ungeheuer breit und männlich wuchtete.

Der Geheimrat Fichtel sprach von einem Bravourstück Karl Alexanders. Marie Auguste erzählte, und schaute den Prinzen an, von einer welschen Opera in Wien, die sie gesehen, »Der Held Achilles«, wo Achilles, nachdem er die Leiche geschleift, etliches sehr Edle gesungen habe. »Ja«, bemerkte der Fürst, »in der Antike war man überhaupt edel.« Karl Alexander meinte, er handle nach dem Gefühl des Augenblicks und glaube nicht, daß er viel Anlage zum Edelmut habe. Worauf die Prinzessin, die Augen fest auf dem Errötenden, lächelte, es sei ja auch gar nicht von ihm die Rede gewesen. Und alle lachten.

Es wurden eisgekühlte Getränke gereicht, für den kleinen Würzburger Geheimrat Kaffee.

Dem blonden Württemberger gefiel die schwarze Prinzessin ausnehmend. Mille tonnerre! Wenn die in dem weiten Belgrader Schloß einem Ball präsidierte, da würden sie Augen machen, Türken und Ungarn und all das wilde Volk da unten. Das war eine Gouverneurin, mit der man Staat machen konnte, in Wien und überall. Und wo sie noch dazu die Dukaten mitbrachte, das wüste Belgrader Schloß zu renovieren. Ein Fuchs, der Würzburger, der Schönborn, und ein Freund, Kreuztürken, wirklich ein Freund und guter Kumpan, ihm so was zuzuschanzen. Und die war nicht nur repräsentativ. Ein Racker, da kannte er sich aus. Die Augen, der Mund! Das war was fürs Bett. Er strahlte übers ganze Gesicht und mußte an sich halten, nicht mit der Zunge zu schnalzen. Eine Prinzessin von der kleinen, geschmackvollen Agraffe in dem strahlend schwarzen Haar – Kotz Donner, die haben es dick, die Regensburger – bis zu dem Atlasschuh, der manchmal unter dem taubengrauen mächtigen Samtrock herauslugte, eine Prinzessin, und doch ein Staatsweib. Die war anders als die saure Durlacherin, die Frau seines Vetters, des Herzogs. Da brauchten sich nicht erst Kaiser und Reich bemühen, daß man der Kinder mache. Und wie gescheit sie schwatzen konnte! Wie sie züngelte, der Racker, und ihn aufzog und die Augen fließen ließ! Das wird gute Bilder geben, er und die da. Da wird Eberhard Ludwig Augen machen. Er, Karl Alexander, brauchte sich keine kostspielige Hure zuzulegen. Sein legitimes Weib wird schöner sein und ein besserer Bettschatz als die teuerste welsche Mätresse und ihm den Beutel füllen, nicht leeren.

Und das Parlament! Diese verfluchte Bürgerkanaille! Er mußte hochatmen vor geschwellter Befriedigung. Krank, gelb und krank werden sie sich ärgern. Da lohnte es sich, katholisch zu werden.

Er schaute Marie Auguste an, der Fürst sprach gerade mit den beiden andern Herren, er schaute sie an mit dem geilen, einschätzenden, gewalttätigen, leicht verwilderten Blick des Soldaten, der eine Frau ohne große Umstände aufs Bett zu werfen pflegt, und die Prinzessin tauchte ein in diesen Blick mit ihrem kleinen, schwer deutbaren Lächeln.

Als er ging, war Karl Alexander fest entschlossen, Katholik zu werden.

Josef Süß hatte das Schlößchen Monbijou mit großem Aufwand installiert, vor allem war er stolz auf die kleine Galerie und den anstoßenden gelben Salon. Den hatte freilich eigentlich Nicklas Pfäffle aufgetrieben, der dick und phlegmatisch Händler und Handwerker in weitem Umkreis durcheinandergewirbelt hatte.

So spreizte sich das neue Hotel des Feldmarschalls in großer Pracht, und der Prinz haute den Süß auf die Schulter: »Er ist ein Hexer, Süß. Und um wieviel bescheißt er mich bei dem Handel?« Der Braunschwarze nahm sich trefflich aus in diesem Rahmen, der Prinz glänzte Zufriedenheit, und selbst Neuffer, der einen Pick auf den Juden hatte und durch ständige kleine Intrigen den Nicklas Pfäffle aus seinem Gleichmut zu hetzen suchte, mußte zugeben, daß er es nicht besser hätte machen können.

Auch der Geheimrat Fichtel, dem Karl Alexander das neue Logis zeigte, bevor er darin die erste Fete gab, machte viel Rühmens. Im stillen aber fand er an allem einen Stich ins Überladene, Parvenühafte, und er veranlaßte den Prinzen, da und dort etwas wegnehmen zu lassen. An seinen Herrn, den Fürstbischof, berichtete er, der Prinz habe sich von einem Hebräer einrichten lassen; so sei es kein Wunder, daß er etwas östlich installiert sei und daß sein Wildbader Schlößchen mehr nach Jerusalem als nach Versailles schmecke.

Ähnliche Empfindungen hatte der alte Fürst Anselm Franz an dem Festabend, den Karl Alexander gab. Der alte Fürst, der Wert auf gutes Aussehen legte, war freilich auch gereizt, weil er einen blaßgelben Rock gewählt hatte, der sich in dem blaßgelben Hauptsaal von Monbijou nicht gut ausnahm. Karl Alexander hatte zu einer kleinen Spieloper eingeladen: »Die Rache der Zerbinetta«, da er wußte, Marie Auguste habe Freude an Komödie, Musik, Ballett. Süß mußte durch seine Mutter, die in Frankfurt lebte und noch viele Beziehungen zu Theaterleuten hatte, die kleine Truppe in aller Eile aus Heidelberg zusammenstapeln.

Die Gesellschaft war klein und glänzend. Der Prinz wollte erst den Süß ausschließen, aber den hungrigen und ergebenen Hundeaugen seines Faktors hatte schließlich seine Gutmütigkeit nicht standhalten können, zum großen Ärger Neuffers war der Jude erschienen. In hirschbraunem, silberbesticktem Rock, gewandt und glücklich, glitt er zwischen den Gästen herum. Als ob die ganze Fete nur für ihn gemacht wäre, giftete Neuffer.

Wie aber prangte, weinrot in Atlas und Brokat, Marie Auguste. Die Schärpe des Thurn-und-Taxisschen Hausordens schlang sich stolz um ihre Brust, an den Puffärmeln trug sie in Demanten den auszeichnenden Stern, den ihr der Kaiser anläßlich eines Patronats verliehen. Sie sprach wenig. Aber die Prinzessin von Kurland wie die Tochter des Gesandten der Generalstaaten – beide hatte sie mit devotester Liebenswürdigkeit als die Älteren begrüßt – glaubten in allen Ecken immer nur ihre lässige, kindliche Stimme zu hören. Sie schworen sich zu, in keiner Gesellschaft mehr zusammen mit der Regensburgerin zu erscheinen, überhaupt werden sie Wildbad in den nächsten Tagen schon verlassen. Unabhängig voneinander faßten sie diesen Entschluß, und Süß versicherte jede der beiden Damen mit den nämlichen Worten seiner Untröstlichkeit.

Man unterhielt sich über die neueste Nachricht, die von Stuttgart gekommen war: die Herzogin glaubte sich wieder schwanger zu fühlen. Hebammen und Ärzte bestärkten sie in diesem Glauben, das Konsistorium ordnete bereits Gebete für sie an, und Neugierige beschauten sich den Hagedorn in Einsiedeln, welchen einst Eberhard im Barte gepflanzt hatte nach seiner Rückkehr aus Palästina und der jetzt unerwartet neue Triebe bekam. Ein glückliches Zeichen!

Der Geheimrat Fichtel riß ein paar derbe, zotige Witze über den armen Eberhard Ludwig und seine sauren vom Kaiser befohlenen Bettfreuden; die Freundschaft Brandenburgs zu Württemberg sei immer eine bittere Angelegenheit gewesen, und der König von Preußen war der Brautführer dieses Beilagers. Es folgten körperliche Vergleiche zwischen der Herzogin und der abgeschafften Grävenitz. Die Herren in der Ecke um den Geheimrat pruschten heraus, das Gesicht des Fürsten war voll von lüsternen Fältchen. Die Damen erkundigten sich nach dem Grund der fröhlichen Laune. Süß übermittelte. Gekicher. Man hänselte den Juden wegen der Triebe des palästinensischen Hagedorns. Dröhnendes Gelächter. Selbst das schwer deutbare Lächeln auf dem Pastellgesicht Marie Augustens löste sich in herzhaft lauten Schall.

Karl Alexander höhnte: »Ein feiner Magus, dein Oheim! Der Erbprinz glücklich verheiratet, der alte Herzog setzt einen zweiten Erben in die Welt. Da hast du mich fein angeschmiert mit deinem Zauberonkel.«

Marie Auguste hatte niemals so in der Nähe einen lebendigen Juden gesehen. Mit gruselnder Neugier erkundigte sie sich: »Schlachtet er Kinder ab?« – »Nur ganz selten«, tröstete der Geheimrat Fichtel, »im allgemeinen hält er sich lieber an große Herren.«

Die Prinzessin meditierte angestrengten Gesichts, ob wohl die Juden so ähnlich ausgesehen hätten, die Christum gekreuzigt haben. Der sei bestimmt nicht dabeigewesen, versicherte der Geheimrat.

Süß drängte sich mit kluger Taktik so wenig wie möglich in ihren Bereich und begnügte sich, sie mit seinen heißen, gewölbten Augen aus ehrfürchtiger Ferne zu bewundern. Nach der Oper ließ sie sich ihn vorstellen. Seine hemmungslose Ergebenheit schmeichelte ihr. »Er ist ganz wie ein Mensch«, sagte sie verwundert zu ihrem Vater. Karl Alexander gewann bei ihr durch seinen netten, galanten Hof- und Leibjuden. Ja, noch in die Erregung seines ersten Kusses hinein, während er noch erfüllt war von der Wärme ihres kleinen und üppigen Mundes, lächelte sie, sich das Kleid zurechtstreichelnd: »Nein, was Euer Liebden für einen amüsanten Hofjuden haben!« Damit kehrten sie aus dem kleinen Kabinett in den Hauptsaal zurück.

Der Prinz hatte übrigens, ohne daß er es recht wußte, das dunkle Gefühl, dieser wilde und kennerische Kuß sei nicht ihr erster gewesen.

Im Elfer-Ausschuß des Parlaments war man schlechter Laune. Die Schwangerschaft der Herzogin hatte sich als Irrtum herausgestellt, und jetzt kam noch obendrein die Meldung von des Prinzen Karl Alexander bevorstehender Vermählung mit einer Katholischen und seinem Übertritt – Rücktritt hatten es frecherweise die Jesuiten genannt – in die römische Kirche. Wollte man ehrlich sein, so mußte man sich sagen, daß man an diesem höchst ärgerlichen Religionswechsel des populärsten Mannes im Herzogtum nicht ganz unschuldig war.

Der Prälat Weißensee hatte auf die ersten Meldungen hin von dem Verkehr des Prinzen mit den Regensburgern die Drähte erkannt, an denen der Würzburger Hof und sein Freund Fichtel den Württemberger zogen. Er war voll lächelnder Anerkennung für diese feine Strategie; aber bei dem spielerischen, blutarmen Interesse, mit dem er seine Politik betrieb, ging ihm der Abfall des Prinzen nicht sehr zu Herzen. Er sah natürlich voraus, daß er im landschaftlichen Ausschuß als der eigentlich Schuldige, der die Darlehensverweigerung vorgeschlagen hatte, scheel werde angeschaut werden. Aber er wußte, daß man sich von seiner Überlegenheit, wenn auch leicht unbehaglich, werde überreden lassen, und hatte sich wirksame Verteidigung zurechtgelegt. Des weiteren war er ehrlich überzeugt, daß praktisch der Übertritt des Prinzen nicht viel zu bedeuten habe. Wenn auch die Hoffnung auf die Schwangerschaft der Herzogin zerplatzt war, es stand noch so vieles zwischen dem Prinzen und dem Thron. Er fragte sich ernstlich, ob eine so vage Aussicht die viele Mühe lohne, die die Jesuiten an die Konversion des Prinzen gewandt. Je nun, das Herzogtum und sein Parlament war auf Tatsachen gestellt, seiner Politik war kurze Frist gegeben; aber die katholische Kirche, und er seufzte neidvoll, war so etwas Altes, Stein-Ewiges, die Jesuiten hatten es gut, sie konnten säkulare Politik treiben, mit langen Fristen für späte Generationen. Im Elfer-Ausschuß schimpfte man zunächst ein breites, grobes, blödes auf den Prinzen. Endlich machte Johann Heinrich Sturm, der Präsident und Erste Sekretär, ein ernsthafter, bedachter, ruhevoller Mann, dem ziellosen, unsachlichen Geschimpfe ein Ende und fragte nach positiven Vorschlägen. Der grobe Bürgermeister von Brackenheim erklärte geradezu, eigentlich sei Weißensee an allem schuld, und es sei seine verdammte Pflichtigkeit, das Verrenkte wieder gerad zu machen.

Weißensee, lächelnd und beiläufig, fand, es sei nicht viel verrenkt. Nachdem der Prinz so auf eins, zwei habe konvertieren können, sei wohl für den rechten Glauben wenig an ihm verloren. Der Übertritt habe für die Katholischen nur Propagandawert, den Feldmarschall könne man beglückwünschen, daß er jetzt aus der Geldklemme sei und die Landschaft nicht weiter behelligen müsse. An andere praktische Folgen denke in der wohllöblichen Versammlung doch selber niemand.

Aber der grobe Brackenheimer beharrte: wenn auch das Herzogspaar, Gott sei Dank, noch rüstig sei und der Aussicht auf Nachfahrenschaft nicht beraubt, wenn auch der Erbprinz da sei und gesund, nachdem Rom Politik auf so weite Sicht mache, müsse man rechtzeitig Gegenminen legen.

Warum nicht? meinte leichthin Weißensee. Man könne sich ja, durchaus unverbindlich und heimlich, ins Benehmen setzen mit des Prinzen Bruder Friedrich Heinrich. Für alle Fälle nur, akademisch mehr. Von diesem frommen und sanften Herrn drohe weder evangelischer noch ständischer Freiheit die geringste Gefahr.

Beklommenheit, Schweigen, Bedenken auf den Elf. Roch das nicht ein bißchen nach Hochverrat? Akademisch nur, gewiß, für alle Fälle nur, unverbindlich nur. Immerhin.

Der Vorsitzer und Erste Sekretär, Sturm, der gerade, ehrliche Mann, eng verhaftet seinem Vaterland, haßte so jesuitische Mittel. Er wußte schmerzhaft, es war ohne sie nicht auszukommen. Aber nur in der äußersten Not. Nur dann, nur dann.

Der Landschaftskonsulent, Hofgerichtsassessor Veit Ludwig Neuffer, wollte von solchen Plänen nichts wissen. Der noch junge Mann, knochiges, finsteres Gesicht, schwarzes, filziges Haar tief in die Stirn gewachsen, war ursprünglich ein wilder Fürstenhasser gewesen und entbrannter Verehrer aller Volksfreiheit. Seinem Vetter, der dem Prinzen Karl Alexander den Kammerdiener machte, hatte er mit Schimpf und Hohn die Freundschaft aufgesagt, trotzdem sie zusammen aufgewachsen waren in Haus und Spiel und Schule. Jetzt aber, er hatte zuviel gesehen, war er knurrig resigniert, das Böse war notwendig, er sehnte sich fast danach, mit dem grimmigen, zerstörerischen Wunsch nach Bestätigung, nach immer mehr Befestigung seines bitteren Wissens. Ja, anläßlich des Wildbader Aufenthalts hatte er seinen Vetter, den Kammerdiener, wieder gesehen, wenn er ehrlich sein wollte, hatte er ihn geradezu aufgesucht, und er hatte sich auf eine merkwürdige, höhnische, bissige Art mit ihm ausgesöhnt. Hatte der doch recht. Das war nun offenbar Naturgesetz, das mußte so sein: einige wenige standen droben, und die andern waren alle Hundsfötter, Stiefellecker. Ein Katholik auf dem württembergischen Thron? Gut so, das war eben Fürstenrecht, göttliche Schickung, und das Volk, Kotz Donner, hatte sich zu fügen.

Der geschmeidige Weißensee, immer sacht und beiläufig, explizierte weiter. Belgrad sei weit, es handle sich ja nur um Theoretisches, um Sicherungen für Eventualia, Problematisches. Selbstverständlich dürfe Geschriebenes nicht aus der Hand gegeben werden. Und das Corpus Evangelicorum habe man auf seiner Seite.

Die Schädel stierten, schwer, unbehaglich. Auch schon die entfernteste Möglichkeit eines katholischen Herzogs schien unfaßbar, unerträglich, machte krank. Ein katholischer Fürst war nicht anders denkbar denn als Despot, als Tyrann. Und dieser gar mit seinen Beziehungen zum Wiener Hof, dem Erzfeind aller Religionsfreiheit, jeder parlamentarischen Selbständigkeit. Die schönen Freiheiten! Sie Elf, die da saßen, rieten, tagten, sie waren diese Freiheit. Sie waren bedroht, sie selber, sie persönlich durch den katholischen Prinzen.

Man beschloß, Weißensee solle mit dem Bruder des Feldmarschalls verhandeln, mit dem sanften, protestantischen, ungefährlichen Prinzen Friedrich Heinrich. Aber ganz privatim und ganz unverbindlich und in aller, aller Heimlichkeit. In Regensburg, im Dom, bei der Trauung Karl Alexanders, Geläut, Weihrauch, eine glänzende Versammlung. Der Kaiser hatte einen Abgesandten geschickt, der päpstliche Nuntius Passionei war da mit einem Handschreiben des Heiligen Vaters, der Fürstbischof von Würzburg, die besten Repräsentanten der kaiserlichen Armee, unter ihnen Karl Alexanders vertrautester Freund, der General Franz Josef Remchingen, der Jesuitenzögling, rotes, wulstiges, gewalttätiges Gesicht, weinselig leuchtend unter der weißen Perücke.

Kein schöneres Brautpaar im Römischen Reich. Der Prinz ragend wie eine Zeder, prunkend mit dem Stab des Feldmarschalls, dem Orden des Goldenen Vlieses. Marie Auguste, den kleinen, ziervollen Kopf leuchtend im Glanz alten edlen Marmors über weißem Atlas und Brokat, um die Brust die Schärpe des Thurn-und-Taxisschen Hausordens, an den Puffärmeln in blassem Gold den Stern des Kaisers, im Ausschnitt das Kreuz des päpstlichen Ordens. Weich federnden Schrittes, unter der Brautkrone, einem Wunderwerk der Juwelierkunst, zu dem Süß die einzelnen Teile überall aus Europa zusammengestöbert, trug sie ihr junges, schwer deutbares Lächeln in den Dom.

Höchst unbefangen war sie und eher geneigt, in all der Feierlichkeit und Gravität überall einen Rest von Komik zu erspähen. Mit der lässigen Neugier ihrer fließenden Augen musterte sie die Gäste, und während der Bischof sie feierte, daß sie den großen Türkensieger, den Löwen in der Schlacht, dem christkatholischen Glauben rückgewonnen habe, dachte sie, daß sicher der Geheimrat Fichtel sich während des ganzen Banketts nur auf seinen Kaffee freuen werde. Und wie komisch es sei, daß jetzt der Jude feierlich im Dom stehe. Er sei übrigens ganz nett und amüsant und gar nicht werwolfartig, wie sie sich ursprünglich die Juden vorgestellt. Eigentlich seien seine Manschetten sogar mehr à la mode wie die ihres Mannes. Komisch, jetzt hatte sie also einen Mann. Und sicher wird jetzt der Jud mit seinen großen, fliegenden Augen aus dem weißen Gesicht ihren Nacken unter dem Brautschleier anstarren.

Und es flackerten feierliche Kerzen, es brauste die Orgel, es wölkte der Weihrauch, es leuchteten selige Knabenstimmen zum Himmel.

Andern Tages noch, während Trompeten aus Silber zum Bankett riefen, bestiegen die Neuvermählten die Jacht, die sie die Donau hinunterführen sollte, ein Geschenk des Fürsten. Sie reisten mit großem Hofstaat, Jägern, Dienern, Heiducken, Zofen. Am Kiel hockte, die Beine gekreuzt, Otman, der Schwarzbraune, starrte aus uralten, grundlosen Tieraugen die Donau hinunter.

Am Ufer standen der Fürst, der Würzburger Bischof, der Geheimrat Fichtel, weiter rückwärts zwischen ihnen und der Dienerschaft Josef Süß. Leichter Wind wehte, die Luft war hell und anregend, man war fröhlich gelaunt. Scherzworte flogen zum Ufer und zurück, während die Anker heraufgeholt wurden. Marie Auguste stand in einem hellen, heitern Reisekleid, beschattete die Augen, schaute auf den weichenden Hafen. Der Fürst und der Geheimrat hatten sich schon zurückgewandt, das Letzte, was sie sah, war das schlaue, zufriedene Antlitz des Jesuiten und, elegant und in einer Haltung hemmungsloser Ergebenheit, der Jude.

»Ich hätte nie geglaubt«, lächelte sie zu Karl Alexander, »daß jemand so elegant sein könnte und dabei so demütig wie dein guter Jud.« – »Der gute Jud!« lachte dröhnend der Prinz. »Städte und Dörfer könnte man sich kaufen um das, was der uns beschissen hat.« Und auf ihr erstauntes Gesicht erklärte er sachlich: »Das ist sein gutes Recht. Dafür ist er ein Jud. Aber er ist sehr verwendbar«, fügte er voll Anerkennung hinzu; »er schafft alles, Juwelen, Möbel, Dörfer, Menschen. Sogar Alchimie und schwarze Kunst.« Lachend erzählte er ihr die Geschichte von Rabbi Gabriel. »Da hat er mich schön beschissen, dein guter Jud. Eine Krone! Da sind noch zwei dazwischen. Der Erbprinz ist pudelgesund. Auf der Jagd war er, wie er mir seinen Gratulationsbrief schrieb. Und der Herzog, ob seine Herzogin noch so sauer ist, wenn’s der Teufel will, kann sie doch Kinder kriegen wie Kaninchen.« Und er lachte schallend und tätschelte ihre Hand, während das Schiff in leichtem Wind zwischen heiteren Ufern die blaugrünen Wellen hinunterglitt.

Vorne hockte reglos der Schwarzbraune und starrte über den Kiel nach Osten. In den Augen der Prinzessin waren die letzten Bilder der Heimat, das schlau fröhliche des Jesuiten und das servil elegante des Juden.

Noch bevor sie an der serbischen Grenze waren, erreichte sie eine Stafette des Süß. »Er hat es wichtig, dein Jud«, lächelte Marie Auguste. »Was hat er denn so eilig zu verkaufen?«

Karl Alexander riß die Depesche auf, las. Der Erbprinz war gestorben, unvermutet, während der Stuttgarter Hof einen Ball hielt.

Er reichte das Papier der Prinzessin. Das Blut schoß ihm zu Kopf, er hörte eine knarrende, mißlaunige Stimme, sah durch sein tanzendes Blut über trübgrauen, steintraurigen Augen drei kurze, tiefe Furchen, drohend, unheimlich wie ein fremder, verschlossener Buchstab.