In den Städten des Mittelmeers, des Atlantischen Ozeans saßen die Juden groß und mächtig. Sie verwalteten den Austausch zwischen Orient und Okzident. Sie langten übers Meer. Sie rüsteten mit die ersten Schiffe nach Westindien. Organisierten den Handel mit Süd- und Mittelamerika. Erschlossen Brasilien. Begründeten die Zuckerindustrie des westlichen Erdteils. Legten zur Entwicklung New Yorks die Fundamente.
Aber in Deutschland saßen sie klein und kümmerlich. Im vierzehnten Jahrhundert waren sie hier in mehr als dreihundertundfünfzig Gemeinden erschlagen, ertränkt, verbrannt, gerädert, erdrosselt, lebendig begraben worden. Die Überlebenden waren zumeist nach Polen ausgewandert. Seitdem saßen sie spärlich im Römischen Reich. Auf sechshundert Deutsche kam ein Jude. Unter raffinierten Plackereien des Volkes und der Behörden lebten sie eng, kümmerlich, dunkel, hingegeben jeder Willkür. Untersagt war ihnen Handwerk und freier Beruf, die Vorschriften der Ämter drängten sie in verwickelten und verwinkelten Schacher und Wucher. Beschränkten sie im Einkauf der Lebensmittel, ließen sie den Bart nicht scheren, steckten sie in eine lächerliche, erniedrigende Tracht. Pferchten sie in engen Raum, verrammelten die Tore ihres Ghettos, sperrten sie zu, Abend um Abend, bewachten Einund Ausgang. Dicht zusammengepreßt saßen sie; sie mehrten sich, aber man gönnte ihnen nicht weiteren Raum. Da sie nicht in die Breite bauen durften, schichteten sie in die Höhe, Stockwerk um Stockwerk. Immer enger, düsterer, verwinkelter wurden ihre Gassen. Nicht Baum, nicht Gras, nicht Blume hatte Raum; ohne Sonne standen sie, ohne Luft, einer dem andern im Licht, in dickem, seuchenzeugendem Schmutz. Abgeschnürt waren sie von der fruchtbaren Erde, vom Himmel, vom Grün. Der wehende Wind verfing sich in ihren grauen, stinkenden Gassen, die hohen, verschachtelten Häuser versperrten den Blick auf die ziehenden Wolken, die blaue Höhe. Gebückt schlichen ihre Männer, ihre schönen Frauen welkten früh, von zehn Kindern, die sie gebaren, starben sieben. Totes, brackiges Wasser waren sie, abgesperrt vom flutenden Leben draußen, abgedämmt von der Sprache, der Kunst, dem Geist der anderen. Dick aufeinander saßen sie, in übler Vertraulichkeit, jeder kannte jedes Heimlichkeit, klatschsüchtig, mißtrauisch rieben sie sich, die gelähmten Beweglichen, scheuerten sie sich wund einer am andern, einer des andern Feind, einer im andern verfilzt. Denn jedes einzelnen kleinster Fehl oder Ungeschick konnte das Unheil aller werden.
Doch mit der sicheren Witterung, die sie für das Neue, für das Morgen hatten, spürten sie die äußere Umschichtung der Welt, den Ersatz der Geburt und Würde durch das Geld. Sie hatten es erfahren: in Unsicherheit, Rechtlosigkeit, Fährnis gab es einen einzigen Schild, zwischen lauter wankendem, versagendem Grund ein einziges Festes: Geld. Den Juden mit Geld hielten die Wächter nicht an den Toren des Ghettos, der Jude mit Geld stank nicht mehr, keine Behörde mehr setzte ihm einen lächerlichen, spitzen Hut auf. Die Fürsten und großen Herren brauchten ihn, sie konnten nicht Krieg und Regiment führen ohne ihn. Die Grävenitz und die schwäbischen Herzöge ließen Isaak Landauer und Josef Süß groß und stattlich werden; es wuchsen in der Sonne des brandenburgischen Kurfürsten die Lipmann Gomperz und Salomon Elias, am Hofe des Kaisers die Oppenheimer.
Aber die dicke Masse der Gedrückten, Rechtlosen und die einzelnen Mächtigen, die stolzen Juden der Levante und der großen Seestädte, die die Handelsstraßen Europas und der Neuen Welt beherrschten und in ihren Kontoren über Krieg und Frieden entschieden, und die verschmutzten, verkommenen, niedrigen, lächerlichen Juden der deutschen Ghettos, die jüdischen Leibärzte und Minister des Kalifen, des Perserschahs, des Sultans von Marokko in Herrlichkeit und großem Glanz, und in Dreck und Verachtung der lausige Pöbel der polnischen Judenstädte, die Bankiers des Kaisers und der Fürsten, umworben und umhaßt in ihren Kabinetten, und der Hausierjude der Landstraße, mit Hunden gehetzt, von den Straßenjungen und der Polizei in widerwärtige, komische Erniedrigung gepreßt, alle hatten sie ein sicheres, heimliches Wissen gemein. Vielen war es nicht klar, aussprechen hätten es nur wenige können, manche hätten sich gegen die deutliche Erkenntnis gewehrt. Aber im Blut stak es allen, im innersten Gefühl, es war da: das tiefe, heimliche, sichere Bewußtsein von der Sinnlosigkeit, der Wandelbarkeit, dem Unwert der Macht. Sie waren so lange klein und gering gesessen unter den Völkern der Erde, zwerghaft, lächerlich in Atome verspellt. Sie wußten, Macht üben und Macht erleiden ist nicht das Wirkliche, Wichtige. Zersplitterten nicht einer um den anderen die Kolosse der Gewalt? Aber sie, die Gewaltlosen, hatten der Welt ihr Gesicht gegeben.
Und es wußten diese Lehre von der Eitelkeit und Belanglosigkeit der Macht die Großen und die Kleinen unter den Juden, die Freien und die Beladenen, die Fernen und die Nahen. Nicht mit deutlichen Worten, nicht mit meßbarem Begriff, aber von Bluts und Gefühls wegen. Dies heimliche Wissen war es, das ihnen plötzlich jenes rätselhafte, milde, überlegene Lächeln um die Lippen legte, das ihre Feinde doppelt reizte, weil sie es als zersetzende Frechheit deuteten und weil all ihr Graus und Marter davor versagte. Dies heimliche Wissen war es, was die Juden einte und ineinanderschmolz, nichts sonst. Denn dies heimliche Wissen war der Sinn des Buches.
Des Buches, ja, ihres Buches. Sie hatten keinen Staat, der sie zusammenhielt, kein Land, keine Erde, keinen König, keine gemeinsame Lebensform. Wenn sie dennoch eins waren, mehr eins als alle anderen Völker der Welt, so war es das Buch, das sie zusammenschweißte. Braune, weiße, schwarze, gelbe Juden, große und kleine, prunkende und zerlumpte, gottlose und fromme, sie mochten in stillen Stuben ihr Leben verhocken und verträumen oder in farbigem, goldenem Wirbel herrlich herfahren über die Erde: tief versenkt in ihnen allen war die Lehre des Buches. Vielfältig ist die Welt, aber sie ist eitel und Haschen nach Wind; eins aber und einzig ist der Gott Israels, das Seiende, das Überwirkliche, Jahve. Manchmal wohl überwucherte ihnen das Leben dieses Wort, aber es stak in jedem, und in den Stunden, wo sie sie selber wurden, wenn sich ihr Leben gipfelte, war es da, und wenn sie starben, war es da, und was von einem zum andern flutete, war dieses Wort. Sie schnürten es sich mit Gebetriemen um Herz und Hirn, sie hefteten es an ihre Türen, sie eröffneten mit ihm ihren Tag, und sie schlossen ihn mit ihm; als erstes den Säugling lehrten sie das Wort, und der Sterbende verröchelte mit dem Wort. Aus dem Wort sogen sie die Kraft, die gehäuften Qualen ihres Wegs zu überdauern. Blaß und heimlich lächelten sie über die Macht Edoms, über seine Raserei und den Wahnsinn seines Geweses und Getriebes. Dies alles verging; was blieb, war das Wort.
Sie hatten das Buch mit sich geschleppt durch zwei Jahrtausende. Es war ihr Volk, Staat, Heimat, Erbteil und Besitz. Sie hatten es allen Völkern vermittelt, und alle Völker bekannten sich zu ihm. Aber die einzigen rechtmäßigen Besitzer, Erkenner und Verweser waren sie allein.
Sechshundertsiebenundvierzigtausenddreihundertundneunzehn Buchstaben hatte das Buch. Jeder Buchstab war gezählt und gewogen, geprüft und erkannt. Jeder Buchstab war bezahlt mit Leben, Tausende hatten sich martern und töten lassen um jeden Buchstaben. Nun war das Buch ganz ihr eigen. Und in ihren Bethäusern, an ihrem höchsten Feiertag, riefen sie, bekannten sie, die Stolzen, herrenhaft Schreitenden so überzeugt wie die Kleinen, Getretenen, Geduckten: nichts haben wir, nur das Buch.
Karl Alexander schickte Magdalen Sibylle prächtige Geschenke, flandrische und venezianische Gobelins, goldene Parfümfläschchen, spanische Arbeit, mit persischem Rosenöl, ein arabisches Reitpferd, ein Perlengehänge. Er war kein Filz, er ließ sich nicht lumpen, und er betrachtete Magdalen Sibylle als seine erklärte Mätresse. Täglich kam der Kammerdiener Neuffer, fragte förmlich im Auftrag des Herzogs nach dem Befinden der Demoiselle.
Magdalen Sibylle ließ sich alles kalt und wortlos gefallen. Sie ging stumm wie eine Tote, starr das männlich kühne, schöne Gesicht, verpreßt die Lippen, die Arme seltsam steif. Sie verließ das Haus nicht, sie sagte guten Morgen, guten Abend, sonst nichts, sie aß allein, sie kümmerte sich nicht um das Hauswesen. Sie hatte zu niemandem, zu ihrem Vater nicht, zu niemandem über die Sache mit dem Herzog gesprochen, es kam vor, daß sie ihren Vater tagelang nicht sah.
Weißensee wagte keinen Versuch, sie aus ihrer Starre zu wecken. Er war nobilitiert worden, er hatte jetzt den Rang eines Konferenzministers. Er war flatterig und sehr elend, er fühlte das Mißtrauen seiner Kollegen vom engeren landschaftlichen Ausschuß, er wollte sich aussprechen mit Harpprecht, dem Juristen, mit Bilfinger, der ein rechter, ehrlicher Mann war und sein Freund. Er wagte es nicht.
Magdalen Sibylle saß stundenlang und starrte. Sie war aus sich herausgeworfen, zertrampelt, zerfetzt, zerwüstet. Waren dies ihre Arme? Wenn sie sich stach, war das ihr Blut? Das Furchtbarste war: sie hatte keinen Haß gegen den Herzog. Sie suchte sich müd und nervös den Vorgang zurückzurufen. Sie roch in der Erinnerung den Weindunst und Schweiß Karl Alexanders, sie sah etwas Rotes, Widriges auf sie zukommen, das waren seine Hände und sein Gesicht. Zuweilen wohl stieg, wenn sie daran dachte, ein laues, übles Gefühl des Ekels in ihr auf. Was später kam, wußte sie nicht mehr recht. Sie wußte nur, daß sie den Herzog durchaus nicht haßte. Er war wie ein großes Tier, ein Pferd oder ein Stier, warm und mächtig groß und in sich eingesperrt. Manchmal spürte man in den Augen eines solchen Tiers, wie fremd und unerreichlich anders es war, manchmal fühlte man sich ihm nah. Aber man haßte es nicht und niemals.
Dies war das Grauenvolle und was ihre Welt und sie selber in einen dummen und lächerlichen Trümmerhaufen niederbrach: daß der andere ein Tier war, das man unmöglich hassen konnte. So war sie selber wohl solch Tier, sanfter vielleicht, nicht so rot und fauchend und dunstend, aber doch ein Tier. Und das, was sie geträumt hatte, von Gott und Schweben und Aufgehen in ihm und Seligkeit, das war alles dummes, kindisches, albernes Gespinst und Gefasel und Narretei. Ein Tier war man und keine Blume.
Sie ging zur Beata Sturmin. Sie hörte die frommen, gefriedeten, sicheren Reden des alternden, heiligen, blinden Mädchens, und sie hatte Mühe, nicht dreist und trocken herauszulachen. Was wußte denn die! Die war eben blind. Das war ja ahnungslos und Heu und Stroh, was die daherpredigte! Du hast vor dich hin gelebt, heilig und keusch und selig beflissen, und war kein schmutziger Gedanke an dir. Und nun kommt ein Tier, rot, weindunstend, schnaufend, und zertrampelt dich und wühlt seinen Schmutz und Glitsch in dich: und du kannst es nicht hassen. Erklär das doch! Deut das doch aus!
Der Herzog ließ Weißensee und seine Tochter zu sich bitten. Weißensee sprach, zaghaft, Magdalen Sibylle davon. Sie antwortete nicht, kam nicht. Der Herzog bat ein zweites Mal. Magdalen Sibylle hörte nicht. Der Herzog ließ dem Konsistorialpräsidenten durch den Neuffer seine Ungeduld und seinen Unwillen vermelden. Weißensee wagte es nicht, ihr darüber zu sprechen. Er steckte sich hinter die Beata Sturmin, machte dem heiligen Mädchen Andeutungen, die sie in ihrer Naivität nicht verstand. Immerhin bat sie die Magdalen Sibylle zu sich, sprach zu ihr, sagte, der Herzog habe nach dem, was ihr Vater erzähle, offenbar Wohlgefallen an ihr gefunden, und sie solle doch zu ihm gehen und ihm in seine Verstocktheit hineinreden. Vielleicht habe sie Gott auserwählt, wie Esther dem Ahasverus. Magdalen Sibylle lachte haltlos, höhnisch. Die Blinde richtete sanft und ohne Verständnis die erloschenen Augen auf sie.
Dennoch ging sie. Sie ging zu dem Tier in einer Art toter Neugier. Es war alles so fratzenhaft und lächerlich. Da hasteten alle herum und hatten sich wichtig und machten sich Gründe vor, aus denen sie so heftig und wichtig herumzappelten. Und in Wahrheit war alles ganz ohne Verstand, hatte nicht mehr Sinn als das Gekrabbel von Maikäfern, die ein Bub in eine Schachtel gesperrt hat.
Sie saß bei Karl Alexander. Sagte: Guten Tag, Durchlaucht, führte die Schokolade zum Mund. Er sprach zu ihr, nett, fröhlich, wohlwollend wie zu einem kleinen Kind. Sie erwiderte Belangloses, Mechanisches. Was sie tat, sagte, war wie angeschminkt, nicht zu ihr gehörig. Er bemühte sich weiter um sie. Sie dachte, er ist doch eher ein schweres Pferd als ein Stier, wartete darauf, mit einer stillen, angewiderten Neugier, ob er sie nehmen werde. Im Verlauf, wie gar nichts mit ihr anzufangen war, wurde er zornig. Gewiß, eine Jungfer hatte sich zu zieren und hernach beleidigt zu tun, das war in aller Welt so. Aber schließlich war es doch etwas, seine, des Herzogs von Württemberg, Herzdame zu sein. So kostbar wie die hatte keine getan, so ein kaltes, frostiges Gewese war ihm noch nie passiert. Er wurde heftig. Sie sah ihn an, nicht mit Vorwurf, auch nicht mit Hoheit; aber es war ein so abgründiger, ätzender Hohn darin, er fühlte sich unbehaglich, kam sich vor wie ein heruntergeputzter kleiner Fahnenjunker. Wurde wieder freundlich, zärtlich. Sie schwieg. Schließlich nahm er sie. Sie ließ es kalt geschehen, ohne sich zu wehren, und er blieb ohne Genuß. Als er sie die Treppe heruntergeleitete an den Wagen, starb den Lakaien das Grinsen auf den Gesichtern, so wie eine Tote oder eine Wahnsinnige ging sie.
Sie ließ es auch weiterhin, ohne sich zu wehren, geschehen, daß er sie hielt wie seine erklärte Mätresse. Sie kam, wenn er es befahl. Zeigte sich öffentlich mit ihm. Das Volk freute sich, daß sein Fürst so eine anständige, schöne und saubere Mätresse hatte, die noch dazu im Geruch der Heiligkeit stand und eine Einheimische war. Daß Karl Alexander zu seiner schönen Herzogin so eine schöne und anständige und schwäbische Mätresse hatte, versöhnte das Volk zwar nicht mit seinem Juden, aber es machte manches wieder gut, was seiner Popularität abträglich war. Die Bürger zogen die Mützen vor Magdalen Sibylle, und viele schrien »Hoch!«.
Auch dem Weißensee kam diese Stimmung sehr zustatten. Sein Ansehen stieg, sogar im Parlament. Und wenn man unter den Elf des engeren Ausschusses auch polterte, so wären doch bis auf zwei, drei alle gern an seiner Stelle gewesen und beneideten ihn herzlich um sein Glück. Neuffer gar sah zu ihm als dem gewissermaßen stellvertretenden Schwiegervater des Herzogs mit düsterer Ehrerbietung auf.
Langsam kehrte Magdalen Sibylle, nach Wochen, das Gefühl zurück. Wie wohl ein Erfrorener, wieder zum Leben gebracht, schmerzhaft fühlt, wie sein Blut neu zu kreisen anfängt, so spürte sie schmerzhaft Wallungen aufsteigen, fluten, immer wilder alle Poren anfüllen, Haß und Begier. Immer noch blieb Karl Alexander das gleichgültige, mit leichtem Widerwillen fremd angestaunte Tier, das sie litt: aber ihr Denken und ihre Triebe alle zielten auf einen andern, kreisten um den andern. Der Herzog, bah!, was wußte der!, was verstand der! Er war ein Unglück für sie. Man haßte ihn so wenig wie die Apfelschale auf der Straße, über die man ausgeglitten war. Aber der andere, der wußte, der war verantwortlich, der wußte besser als jeder andere, sah klarer, wog, zählte genau, war hassenswert, war in Wahrheit der Teufel und alles Böse. Es war ein rechtes Gefühl und große, gnadenhafte Warnung gewesen, die sie damals im Wald von Hirsau so grauenhaft bei seinem Anblick aufgeschüttert hatte. Er wußte sehr gut, der freche, glatte, gescheite, ruchlose, eiskalte Teufel, der er war, wußte so gut wie sie, daß sie um ein ehrliches, warmes Wort erlöst zu ihm hingeglitten wäre, daß alle ihre kindischen, geheimnisfrohen, nebelhaften Gott- und Teufel-Träume sich in ein heißes, menschliches Gefühl gelöst hätten, wenn er nur die Kraft gehabt hätte, zu seinem Gefühl zu stehen, seine wahrhafte Neigung nicht preiszugeben für ein Lächeln und einen Brocken Geld oder Titel von dem Herzog. Denn er liebte sie. So schaute einer nicht, so sprach und neigte sich einer nicht, wenn sein Gefühl nicht echt war. Wenn einer aus einem Trieb heraus Soldaten preßte, seine Untertanen verelendete, Frauen vergewaltigte, das war das Tierhafte, da war keine Verantwortung. Aber jener andere, der sein Gefühl verschacherte, pfui! pfui!, das war das wahrhaft Jüdische und Teuflische.
Sie wußte nicht, wie versprenkelt und wie eingesprenkelt in tausend anderes das Gefühl war, mit dem Süß an sie dachte. Vielleicht hatte er wirklich für den Bruchteil eines Augenblicks ehrlich und ganz und nur sie gespürt; doch er war viel zu zerspellt und in tausend Interessen zerteilt, war viel zu sehr Mann des Augenblicks, um solch Gefühl, selbst wenn er es gewollt hätte, halten zu können. Und die Grundmelodie seines Seins, seine Bindung mit dem Herzog, für eine Frau aufs Spiel zu setzen, auch nur der Gedanke daran wäre ihm absurd vorgekommen.
Einmal sah sie ihn. Das Herz stieg ihr hoch: was wird er tun? Wenn er es wagen sollte, sie anzusprechen! Aber er sprach nicht. Sondern grüßte nur tief und mit stillem, ernstem, ehrerbietigem Blick. Und sie haßte ihn doppelt.
Die Herzogin hatte sich vom ersten Abend an für Magdalen Sibylle interessiert. Das große Mädchen mit dem männlich kühnen Gesicht gefiel ihr, sie suchte an sie heranzukommen. Sie merkte gut, daß jener der Herzog sehr gleichgültig war, daß er sie nicht verstand, sie ihn nur kalt und leidend gewähren ließ. Das begriff nun sie wieder nicht, so betastete sie doppelt neugierig das Mädchen mit dem sonderbaren Widerspiel der blauen Augen und des dunklen Haars. Magdalen Sibylle spürte das Wohlwollen, das von Marie Auguste zu ihr herüberströmte, und ließ es sich lässig gefallen. Die Herzogin, wie getrieben, schmiegte und schmeichelte sich immer enger an sie heran, sie gab sich wie eine jüngere Schwester, legte den Arm vertraulich um die Taille der andern, zeigte, sie, die sonst an allen Frauen gern ihre selbstsichere, spitze Zunge übte, allen offen ihre Freundschaft für die schöne Herzdame ihres Mannes.
Sie machte sich klein, stellte hübsche Posen, machte Mündchen. Ach, sie war so kindisch und dumm! Magdalen Sibylle mußte ihr soviel erklären. Sie war ja so gescheit, sie hatte sich mit so abgründigen Dingen beschäftigt wie Gott, und dem Tausendjährigen Reich und der philadelphischen Sozietät. Es wäre nett, eine so gescheite Freundin zu haben. Sie, Marie Auguste, ging fromm zur Kirche und beichtete. Aber sie wußte von Gott eigentlich nur, was im Katechismus steht, und verstand sich so recht nur auf gesellschaftliche und modische Fragen. Die Ärmel müßte Magdalen Sibylle übrigens kürzer tragen und bauschiger, das hebe die braunen, schönen Arme. Auch mit der Frisur sei sie nicht ganz einverstanden.
Sie legte die kleine, fleischige Hand auf die große, warme Magdalen Sibyllens, lächelte ein spitzbübisches, amüsiertes Lächeln: »Haben Sie übrigens bemerkt, Liebe, gestern, als dem Lord Suffolk das Jabot verrutschte, daß er ganz verzottelt auf der Brust ist? Er hat soviel Haare wie der Herzog.«
Marie Auguste war um jene Zeit schöner als je. Wie schwarze Seide glänzte das Haar, matt leuchtete, ein kostbares Pastell, das Gesicht mit den länglichen Augen unter der sehr heiteren Stirn. Der Gang war harmonisches, zufriedenes Schweben. Ihr Tag war erfüllt und befriedet, ihr einziger Wunsch, immer so weiter zu leben. Es stand an ihrer Straße Remchingen, der so zornig und männlich war und den man so amüsant und mit leiser Furcht ärgern konnte; einmal hatte er ganz im Ernst nach ihr geschlagen. Und es stand an ihrer Straße der junge Lord Suffolk, der wortkarg war und der, trotzdem seine Obliegenheiten in seiner Heimat nach ihm schrien, sein Leben damit vertat, sie ernsthaft und unentwegt anzustarren. Vielleicht wird sie ihn eines Tages erhören. Warum soll man einem jungen Menschen nicht gnädig sein, der so seriöse Beweise seiner Neigung gibt? Vielleicht auch wird sie ihn schlecht behandeln, daß er, und das ist doch vielleicht das Interessantere, sich erschießt. Und es stand an ihrer Straße der Herr von Riolles, der entzückend häßlich war und mit seiner leisen, hohen Stimme die boshaftesten Witze machte, vor allem über plumpe Frauen. Und es stand ganz in der Ferne ihr Jud, auf den sie sehr stolz war und der ihr mit der größten Ehrerbietung die insolentesten Komplimente zu sagen wußte.
Und sie trieb die Männer an. Und sie jagte und sie hielt Feste und sie sah Komödie und sie spielte selber Komödie und sie fuhr spazieren und sie reiste ins Bad und nach Regensburg und Wien. Und sie war sehr glücklich.
Magdalen Sibylle aber schaute ihr zu wie einer kleinen, spielenden Katze. Ach, wer so hinhüpfen könnte über die Dinge, und nichts rührt viel tiefer als an die Haut, und man ist leicht und schwerlos und lächelt.
Als die Saat höher wuchs, als Felder, Wiesen, Blumenbeete Farbe und Gesicht bekamen, wuchsen Schriftzeichen aus dem Boden des Herzogtums. Es war wie eine geheime Verabredung. An den Rändern der Städte, überall im Land, hatten die Bauern in ihre Äcker, Wiesen, Gärten mit Kornblumensamen, mit Mohn- und Kleesamen, aber auch mit dem Samen edlerer Blumen Schriftzeichen gesät. Nun wuchs es hoch, nun wuchs es aus dem schwarzen Boden ans Licht, mit ungefügen Buchstaben und mit zierlich gedrechselten, nun schrie es rot mit Mohnblüten, blau mit Kornblumen, gelb mit Löwenzahn, aber auch mit Lilien weiß und sehr künstlich: »Süß Saujud.« Oder auch: »Josef Süß Saujud und Verderber.«
Da und dort griffen die Behörden ein, aber gegen die Gewohnheit läßlich und ohne Strenge. Man schmunzelte, der Herzog lachte, Marie Auguste fuhr eigens vor die Stadt, ein derartiges besonders kunstvolles Arrangement amüsiert zu besichtigen. Sie erzählte dann ausführlich Magdalen Sibyllen davon, die unter einem Vorwand nicht mitgekommen war.
Auch in dem Forst von Hirsau, in der großen Wiese der Lichtung nahe bei dem Holzzaun des Hauses mit den Blumenterrassen, hatte ein Bauer die Inschrift gesät. Es war ein junger Mensch, und er saß in der Brüdergemeinde des Magisters Jaakob Polykarp Schober. Hier in dem Bibelkollegium war es seit dem Weggang Magdalen Sibyllens lahm und fahl geworden. Wohl waren es stille, demütige und bescheidene Menschen, die da zusammensaßen. Aber daß die Tochter des Prälaten unter ihnen war, hatte sie doch eigentlich sehr stolz gemacht, und nun sie fehlte, ging es in dem kleinen Kreise recht trist und geduckt zu. Auch kamen so merkwürdige Gerüchte über Magdalen Sibylle aus der Residenz, und wenngleich es den frommen Seelen fernlag, von ihrer weiland Schwester Böses zu glauben, so trugen diese Gerüchte jedenfalls dazu bei, den Haß und den Abscheu zu nähren gegen den Herodes, den Herzog, und seinen Trabanten, den Juden, als welcher offenbar der leibhaftige Satanas war. Aus solchem christlichen Abscheu heraus hatte der junge Bauer säuberlich und gewissenhaft mit Blumen in die Waldlichtung geschrieben: »Josef Süß Saujud Und Satanas«.
Dem Magister Jaakob Polykarp Schober selbst war mit Magdalen Sibylle eine Tröstung und großes Licht erloschen. Bei aller Demut und Niedrigkeit spürte er doch zwischen sich und Magdalen Sibylle ein heimliches, einverstehendes Wissen, das ihn über die anderen hoch hinaushob. Sicherlich ahnte ihr von seinem großen, seligen Geheimnis, und so ging der fette, stille, pausbäckige Mensch sanft und gehoben neben ihr her. Es war so schön gewesen, jemanden mit solcher Ahnung neben sich zu wissen, es war gewiß kein unfrommer Stolz, sich auf diese Art gewissermaßen bestätigt zu fühlen. Er liebte die Einsamkeit mit Gott, aber Magdalen Sibylle ging ihm doch sehr ab, und jetzt erst war es ihm so recht leid, daß an der Geldforderung des Gratialamts seine Bewerbung um die herzogliche Bibliothekarstelle gescheitert war, und jetzt erst hob sich in ihm neben dem allgemeinen Abscheu gegen Süß ein höchst persönlicher, kräftiger Haß, dessen Unchristlichkeit er sich oft zerknirscht vorwarf. Er konnte ihn aber nicht loswerden, und wenn er im Wald seine sinnierenden Spaziergänge machte, so stand er oft in der Lichtung vor der Blumenschrift und verfolgte befriedigt die Linien: »Josef Süß Saujud Und Satanas«.
Einmal, wie es ihn wieder hingetrieben hatte, fand er, und das Herz stockte ihm, einen andern Gast vor der Blumenschrift, das Mädchen, das blauschwarze, mattweiße, die Prinzessin aus dem Himmlischen Jerusalem. Sie lag hingeworfen auf der Erde, verströmend. Eine dickliche Person von gutmütigem Aussehen bemühte sich ratlos und verstört um die wie ohnmächtig Hingestreckte.
Dem weichherzigen Magister schnürten sich die Eingeweide vor Mitleid. Es war keine Frage: hier einzugreifen war unbedingte Forderung christlicher Nächstenliebe. Dennoch brauchte er lange Zeit, bis er die Schüchternheit vor der ihm sehr jenseitigen Erscheinung überwand, und ganz heimlich fürchtete er bereits, die Prinzessin könnte aus ihrem Zusammenbruch auferstehen, eh daß er den Mut gefunden hätte, sie anzureden.
Aber schließlich überwand er sich, trat, über eine Wurzel stolpernd, näher, zog tief den Hut und äußerte unter mehrfachen Reverenzen: »Demoiselle! Demoiselle!« Die Dickliche fuhr erschreckt herum, die Prinzessin wandte ihm langsam Augen zu, die woanders waren und ihn nicht sahen. Er war kein großer Kombinierer, aber er begriff, daß die Verstörung der Dame mit der Blumenschrift zusammenhing, und froh über diese Erkenntnis sagte er hurtig, höflich und mit dem zärtlichst ergebenen Tonfall der Welt: »Ist er Ihnen auch zu nahe getreten, Demoiselle, der arge Jud? Ja, dieser ist wohl ein Verderber und stinkender Satanas.«
Aber seine freundlich gemeinte Anrede hatte eine erschreckende Wirkung, indem nämlich die Zarte aufsprang, ihn anflammte und mit unerwarteter Gewalt rief: »Verleumder! Niedriger, giftiger, schleichender Verleumder!« Der Magister tat einen bestürzten, unbeholfenen Sprung hinter sich; aber die Dame fuhr mit einer süßen, vorwurfsvollen Stimme unter stürzenden Tränen fort: »Und Blumen, unschuldige Blumen mißbrauchen zu solchem Gift und Niedrigkeit!«
Den Magister Jaakob Polykarp Schober, wie er die Liebliche aus dem Himmlischen Jerusalem so verloren weinen sah, überkam eine große Unsicherheit und Bedrängnis. Er stammelte ungeschickt: »Aber es war keineswegs böslich vermeint, Demoiselle. Es erweisen ihn doch seine Taten, Demoiselle. Es ist doch bekannt in allem Land, Demoiselle.« Er machte erneut etliche Reverenzen, während die Süße, Blauschwarze still und strömend vor sich hin weinte und die dickliche Person auf sie einsprach und sie wegzuziehen versuchte. Sie stützend, tröstend, führte sie sie endlich von den unseligen Blumen fort.
Aber der Magister konnte doch den Vorwurf, er sei ein giftiger Verleumder, nicht so auf sich sitzen lassen. Er zottelte nebenher, gekränkt, sich immer wieder verteidigend, es sei doch bekannt in allem Land, und es sei nicht böslich vermeint gewesen. Doch das Mädchen, und ihre Augen standen groß und wild in dem sehr weißen Gesicht, eiferte: »Satanas! Er! Er Satanas! Weiß und rot ist er, hervorragend aus Myriaden. Sein Haupt feinstes Gold, seine Locken ringeln sich herab, rabenschwarz. Seine Wangen ein würziges Beet, getürmte Wohlgerüche, seine Lippen fließende Myrrhe. Goldene Ringe seine Hände, besetzt mit Chrysolith, sein Leib von Elfenbein ein Schaft, eingehüllt von Saphiren.« Und heiligste Hingerissenheit und Überzeugtheit lächelte von ihren Lippen, strahlte von der klaren Stirn, während sie so sprach.
Jaakob Polykarp Schober, wie er die Bibelverse hörte, fühlte sich sogleich wohler und gefaßter. Jetzt konnte er sich auch ihre Verstörtheit zusammenreimen. Aha! Dies war eine von denen, die der Jude mit seiner Zauberei und Hexenkunst verführt hatte. Es gab ja so viele Liebestränke und arge schwarze Künste, die auch den reinsten Sinn verwirrten und ihn dem Teufel zutrieben. Gegen die Mandragorawurzel hatte kein noch so weißes Herz eine Wehr, da hätte er für sich selber nicht einstehen können. Der Jude war arg aus auf Weiber; wenn auch an den Historien über Magdalen Sibylle nichts Wahres sein mochte, daß der Jude sie mit Zauberkünsten zu verlocken suchte, so viel war gewiß. Und diese also, die Prinzessin aus dem Himmlischen Jerusalem, war sicherlich ein Opfer von ihm. Wie rein und lauter sie war, erhellte daraus, daß sie jetzt noch, in ihrer Verstrickung und tiefem Fall, die Bibel zitierte. Die heiligen Worte flossen süß und lieblich von ihren Lippen; bestimmt war Beelzebub ihr in heiliger, englischer Vermummung genaht, als er sie verlockte.
Den pausbäckigen Magister hob es wie mit Himmelsflügeln, während er diese Erwägungen anstellte. Sein Leben war mit dem Weggang Magdalen Sibyllens doch eigentlich recht kahl und dürftig geworden. Jetzt schickte ihm die Gnade des Herrn die beglückende Aufgabe, diese zarte und feine Prinzessin aus den Zähnen des leckerischen und gefräßigen Satanas zu retten. Er begann weitschweifig und behutsam von der Freude, die im Himmel über reuige Sünder sei, kam dann auf die büßende Magdalena und endete schließlich bei den feinen und schlauen Schlingen, vor denen auch der Reinste und Zarteste nicht sicher sei. Denn der Feind, der Satanas und Buhler –
Aber da warf ihn die Entrüstung des Mädchens ein zweites Mal und noch viel schlimmer zurück. »Mein Vater ist kein Satan und Buhler«, glühte sie, während die Dickliche sie verzweifelt und dringlich zurückzuhalten suchte. »Das ist schwarze, niedrige, scheusälige Verleumdung.«
Das freundliche, pausbäckige Gesicht des Magisters wurde ganz gelb und fahl. Der Jude ihr Vater! Der moosichte Boden unter ihm hob und senkte sich, die Bäume fielen um, über ihn, stachen ihn, deckten ihn zu. Der Jude ihr Vater! Seine ganze Welt, Gott, Teufel, Offenbarung stand kopf.
Wie ihm langsam Überlegung und Verstand zurückkehrte, sagte er sich, wenn der Jude eine solche Tochter habe, sei doch wohl vieles Fabel und tückisches Geschwätz, was von ihm in Schwang und Gerede sei. Die Welt ist übel, die Zungen sind vergiftete Schwerter, manch einer wurde für einen Herodes und Barrabas hingestellt und war hernach nicht viel anders als unsereins. Immerhin, die Tatsache blieb, daß man ihm, der fromm und demütig war, die Bibliothekarstelle verweigert hatte, bloß weil er ohne Geld war. Und diese Institution war bestimmt eine Einführung des Juden. Und wenn auch die Jungfrau hier rein und unschuldig einherging, sehr viele andere Werke des Juden waren heillos und verrucht und ebenso mit Augen zu schauen wie dieses freilich sehr weiße und englische Bild.
Das Kind hatte die Verwirrung des Magisters sehr wohl bemerkt. »Ah«, rief sie, »jetzt erschreckt Ihr, weil Ihr hört, daß er mein Vater ist. Fürchtet Euch nicht! Er ist zu hoch, als daß er auch nur die Ferse rührt gegen seine armseligen Schwärzer und Verleumder.«
Aber das ließ sich nun wieder Jaakob Polykarp Schober nicht gefallen. Er sei demütig und sehr gering, sagte er. Aber Furcht vor Menschen kenne er nicht. Und wenn der Herr Jud und Vater der Demoiselle auch ein wütiger Nebukadnezar sei und ihn könne in einen feurigen Ofen werfen lassen, Gott werde er doch immer die Ehre geben.
Unter solchen Gesprächen waren sie an den Holzzaun gekommen, und die Dickliche sagte, er müsse jetzt gehen. Sie nahm ihn beiseit, und mit ungefügen, holperigen Worten in fremdartigem Akzent beschwor sie ihn, der Kleinen nicht zu glauben. Sie sei natürlich nicht die Tochter des Finanzdirektors, sie träume sich das nur so zusammen. Und er solle um des Himmels willen keinem Menschen von der Sache erzählen. Dem Magister, der sonst sehr langsam von Begriffen war und dem von der Begegnung und dem ganzen Auf und Ab wirbelte, sah, daß die ganze Seligkeit in wenigen Sekunden für immer vergehen werde, und da faßte er unerwartet einen gar nicht demütigen Entschluß. Er sagte, er sei es seiner christlichen Ehre schuldig, die Demoiselle ganz darüber aufzuklären, daß er kein schurkischer Verleumder sei, und er müsse sie zu solchem Behuf unbedingt noch einmal und ausführlich sprechen. Nur wenn ihm das eingeräumt werde, verpflichte er sich, reinen Mund zu halten. Die Dickliche, unter solchem Druck, sagte zaudernd für einen spätern Tag zu und verschwand mit der Prinzessin, die wieder klagte: »Und Blumen so zu vergiften, arme, unschuldige Blumen!«
Um Jaakob Polykarp Schober aber war von jenem Tag an viel Wichtigkeit und Gehobenheit. Gott hatte ihn an den Hebel großer und schwerer Ereignisse gestellt. Denn es war klar, daß die Prinzessin doch die Tochter der hebräischen Exzellenz war, und was das dickliche Frauenzimmer geredet hatte, war Schwatz, und er war klug, ihn führte man nicht so leicht hinters Licht. Und nun liegt es an ihm, die Seele der Jungfrau zu retten, ja, vielleicht wird er auf diesem Weg an den Juden selber gelangen und ihm ins Gewissen reden; denn es ist doch keineswegs ausgemacht, daß ein Jud von vornherein kein Gewissen hat. Und wenn der Herr Zebaoth seiner Rede Kraft verleiht, dann wird vielleicht durch ihn das ganze Herzogtum von seinem heillosen Druck Erlösung finden.
In solcher Erwartung ging der pausbäckige Magister herum, und er war voll Gehobenheit, und es war großes Licht um ihn. Er ließ sich auch in seiner Zuversicht nicht stören, als er hörte, daß die Bibliothekarstelle mit einem ganz Unwürdigen besetzt wurde, der außer seinen Talern keinerlei Eignung mitbrachte. Die Gnade war jetzt sichtbarlich über ihm, seine Rede floß ihm lieblich vom Mund, ja, es traf sich, daß sich ihm die Worte zu Reimen fügten. So dichtete er gerade nach der Botschaft von der Besetzung der Bibliothekarstelle ein Lied, das er »Nahrungssorgen und Gottvertrauen« betitelte und das mit den Versen anhub:
Solang es anoch eine Krähe,
Solang es einen Sperling gibt,
Solang ich andere Tiere sehe,
Solange bin ich unbetrübt.
Wenn die nicht ohne Nahrung sind,
Warum denn ich als Gotteskind?
Und ein anderes hieß »Jesus, der beste Rechenmeister« und bekannte:
Mein Jesus kann addieren
Und kann multiplizieren
Auch da, wo lauter Nullen sind.
Beide Lieder wurden im Bibelkollegium demütig bestaunt. Die Brüder und Schwestern lernten sie auswendig, sie sangen sie in allen Lebenslagen, wenn sie in großer Not waren und wenn sie günstig verkauften und wenn sie starben und wenn sie Kinder kriegten. Den Jaakob Polykarp Schober befriedigte das bei aller Demut sehr, und es tröstete ihn über den Weggang Magdalen Sibyllens.
Jantje, die fette Zofe, erzählte schuldbewußt Rabbi Gabriel von dem unglücklichen Zusammentreffen. Der Rabbi winkte ihr zu gehen, schwieg.
Die Zofe gegangen, verdüsterte sich noch schwerer das steinern mürrische Gesicht, zackten sich noch schärfer die drei senkrechten Falten über der Nase. Das Fragen verhindern. Das Kind durfte nicht fragen. Schütz ihn, Himmel und alle wohlwollenden Engel, daß das Kind nicht frage. Ihr lügen konnte er nicht. Ihr das Bild des Vaters zerhauen, das leuchtende, er hätte es auf sich genommen, aber damit wäre ihm ein letztes entglitten. Lieber hätte er seine Blumenterrassen in Jauchgruben verwandelt als das.
Und die Seraphim und Ophanim schützten den traurigen, mürrischen Mann. Naemi fragte nicht. Wohl, er sah es, öffnete sie einmal die Lippen schon, wölkte sich schon ihr Aug. Doch sie schwieg.
Wäre Frage nicht Zweifel gewesen? Nein, ihr Vater war herrlich und in großem Glanz, und die Verleumdung der Heiden und Philister schmutzte ihm nicht die Sohle. Die blockigen Buchstaben der hebräischen Schriften schichteten sich zu Quadern seines Ruhmes. Er war Simson, der die Philister schlug, er war Salomo, der weise war über alle Menschen, er war, und dies glitt immer öfter in ihre Träume, er war Josef, der milde, kluge, den Pharao setzte über alles Volk und der das Volk zinste für die künftige Hungersnot. Aber sie waren töricht und sahen seine Weisheit nicht ein. Oh, wenn er käme, endlich! An seinem Hals verströmen! Vor seinen feuervollen Augen verbrennt, verweht in Asche das Geschwätz des dicken jungen Menschen.
Rabbi Gabriel aber las in der Schrift des Meisters Isaak Luria Aschkinasi, des Kabbalisten: »Es kann geschehen, daß in einem Menschenleib nicht nur eine Seele das Erdendasein von neuem durchmacht, sondern daß zu gleicher Zeit zwei, ja mehrere Seelen sich mit diesem Körper zu neuer Wanderung verbinden. Der Zweck solcher Vereinigung ist ihre gegenseitige Unterstützung in der Sühnung der Schuld, derentwegen sie die neue Wanderung erleiden.«
Die Wange in die Hand gestützt, saß er, sann er, zwang er die Bilder zurück, die er auf seinen Wanderungen durchforscht. Sah die Linien der maßlosen Berglandschaft, des Steins, der Ödnis, des zerschrundeten Eises. Das zarte, höhnische Leuchten der klaren Gipfel darüber, die schattende Wolke, den Vogelflug, die finster tolle Willkür der übers Eis verstreuten Blöcke, die Ahnung tieferer Menschen, weidenden Viehs. Er suchte die Entsprechung in jenem Antlitz, daran er gebunden war.
Das Zimmer um ihn vernebelte, die Bücher vor ihm, so senkte er sich in jenes Gesicht, prüfte Zug um Zug. Er sah die wölbigen Augen, die kleinen, üppigen Lippen, das reiche, kastanienfarbene Haar. Er fand Haut und Fleisch und Haar, nichts sonst.
Da schüttelte er die Schultern, saß schlaff, müd, dicklich, atmete schwer, knurrend, wie ein Tier, das zu hoch beladen den Hang nicht weiter hinauf kann.
Bei Heilbronn lieblich zwischen Weinbergen lag das Schloß Stettenfels. Der Graf Johann Albrecht Fugger saß darauf, Jesuitenzögling, eifervoller Katholik, befreundet mit dem Würzburger Fürstbischof. Sein Schloß war der schwäbischen Reichsritterschaft inkorporiert, er besaß es ebenso wie seine Herrschaft Gruppenbach, das Dorf unterm Schloß, als württembergisches Lehen. Schon unter Eberhard Ludwig hatte der regsame Herr mehrmals um Gestattung katholischen Privatgottesdienstes nachgesucht, immer vergebens. Jetzt unter dem katholischen Herzog nahm er ohne Federlesen Kapuziner ins Schloß, begann auf seinem Berg weitläufig Kloster und Kirche zu bauen. Es unterstützte ihn der Fürstbischof von Würzburg, Kollekten liefen für ihn an den katholischen Höfen, er war auf vorgeschobenem Posten ein wackerer Kämpfer der Kirche, sehr in Sicht.
Offener Bruch der Gesetze, Sturm im Parlament, drohende Aufforderung an das Kabinett, dem frechen Unwesen zu steuern. Verärgert, mit gebundenen Händen der Herzog. Er hatte in jenen Religionsreversalien ausdrücklich auf alle Einmischung in solche Fragen verzichtet, hatte das Kirchenregiment dem Ministerium übertragen, auf seine bischöflichen Rechte über die Evangelischen, auf die persönliche Teilnahme an Konsistorialdingen in aller Form resigniert. Nirgends sollten, hatte er feierlich eingeräumt, katholische Kirchen errichtet werden, der katholische Gottesdienst sollte einzig beschränkt sein auf seine Privatandacht.
Der Fall lag klar. Harpprecht, der Jurist, hatte das Referat in der Kabinettssitzung, das Korreferat Bilfinger. Die beiden ehrlichen, geraden Männer waren im Innersten froh, daß diese Affäre der Kompetenz des Herzogs entzogen war. Mit tiefem Mißbehagen sahen sie das Land mehr und mehr verkommen, alle Ämter verlottert und korrupt. Wenn sie im Amt blieben, war es, weil sie nicht auch in ihre Stellen Kreaturen des Süß einrücken sehen wollten. Hier endlich war ein Fall, wo kein Herzog und kein Jud einreden durfte; hier konnte man den evangelischen Brüdern erweisen, daß das Land, so verkommen es von außen sah, sich in Gewissensdingen, in Religionssachen fest und bieder und ohne leisesten Flecken hielt. Gegen die zögernden und bedenklichen Schütz und Scheffer setzten Harpprecht und Bilfinger einen Beschluß durch, daß eine Untersuchungskommission, eine Lehensvisitation nach Gruppenbach zu dem Grafen entsandt wurde, an ihrer Spitze der Regierungsrat Johann Jaakob Moser, der Publizist, erst neuerdings wieder durch Wort und Tat und Schrift als unbeugsamer Protestant erwiesen. Er bekam weite Vollmacht.
Er fand den Grafen höhnisch, trotzig, durchaus nicht zur leisesten Unterordnung geneigt. Er ließ die Regierungskommission vor dem Schlosse stehen, in Wind und Wetter, schlecht und hochmütig grüßend. Als die Herren auf den Neubau von Kloster und Kirche wiesen, wo schon hoch am Turm gearbeitet wurde, fragten, wie er gegen das ausdrückliche gesetzliche Verbot und gegen ministerielle Verwarnung auf herzoglichem Boden katholische Baulichkeiten errichten könne, musterte der kleine, bewegliche, hagere Herr grimmig, stramm, hochmütig die Kommission, warf dann nachlässig, provokatorisch hin, das seien seine neuen Wirtschaftsgebäude. Näheren Zutritt verwehrte er. Kapuziner, paarweise, erschienen. Der kleine Graf, immer mit dem gleichen Hohn, erklärte, das sei seine neue Livree, er wünsche, die Mode möge recht bald überall im Land im Schwang sein. Unverrichteterdinge zog die Kommission nach Heilbronn ab. Erzwang schließlich die Besichtigung der Baulichkeiten. Schickte dem Grafen durch Gerichtsdiener ein grobes Schreiben mit gemessenem Befehl, Kloster und Kirche niederzureißen, binnen drei Tagen damit zu beginnen. Der Graf schmiß den Mann eigenhändig die Rampe hinab, hetzte ihn mit Hunden den Berg hinunter. Da erschien Moser, der stattliche, wichtige, komödiantische Mann, mit einem Detachement Soldaten, ließ Kirche und Kloster schleifen, zog erst ab, als der Graf, heiser vom Schimpfen, diese Arbeit sowie die militärische Exekution auf Heller und Groschen bezahlt hatte. Im Grundstein des Klosters fand man eine Schrift, nach der dieses Kloster Stettenfels der Verbreitung des alleinseligmachenden katholischen Glaubens und der Bekehrung des ketzerischen württembergischen Landes geweiht sein sollte.
Jubel im Land, im Parlament. Es polterte im engeren Ausschuß der massige, grobe Bürgermeister Johann Friedrich von Brackenheim: »Man ist noch wer. Wenn man recht will, zwingt man die ketzerischen Hunde noch immer, ihren eigenen Kot zu fressen.« Der finstere Neuffer sinnierte: »Viele Hemmungen sind auf den Wegen der Fürsten. Sie sind nur Reizungen; überwunden, würzen sie doppelt den Geschmack der Macht.« Unterm Volk lautes Frohlocken. Im »Blauen Bock« ließ sich der Konditor Benz noch einen Schoppen Wein geben, feixte: »Es gibt noch Dinge, wo weder keine Hur noch kein Jud einreden darf.« Herzinnige Freude der Harpprecht und Bilfinger. Stiller, demütiger Dank an den Herrn in den Bibelkollegien der Pietisten. Die Beata Sturmin, die blinde Heilige, hatte es vorausgewußt. Sie hatte gedäumelt, sie hatte die Stelle aufgeschlagen: »Verflucht sei der Mann, der ein gehauenes oder gegossenes Bild macht, den Greuel des Ewigen, ein Werk von Künstlers Hand, und aufstellt im geheimen.« Im Bibelkollegium von Hirsau aber sang der fromme Chor gleich dreimal hintereinander das Lied des Magisters Jaakob Polykarp Schober: Jesus, der beste Rechenmeister.
Aber auch weit hinaus über die schwäbischen Grenzen, im ganzen deutschen Reich erregte dieser Stettenfelsische Handel das größte Aufsehen. Der Würzburger Fürstbischof beschwerte sich offiziell beim Herzog durch seine Räte Fichtel und Raab. Der Herzog, im Glauben, man habe ihn bei seinen eigenen Religionsverwandten mit Absicht verdächtigt und verächtlich machen wollen, war schwer erzürnt. Dennoch stieß ihn der sehr kluge Würzburger Bischof nicht weiter. Er wußte, Karl Alexander war durch anderes sehr beansprucht, er sparte sich eine energische Aktion für später.
Karl Alexander hatte wirklich alle Hände voll mit lauter kleinen, mißlichen Angelegenheiten. Süß dachte nun ernstlich daran, sich nobilitieren zu lassen. Seine Stellung war gefestigt genug, er begehrte zum Besitz der Macht jetzt auch ihre Titel und Würden, er trug sich mit dem Plan, das Amt des Landhofmeisters in aller Form zu übernehmen. Hätte er sich taufen lassen, so wäre das von heute auf morgen möglich gewesen. Aber es war sein Ehrgeiz, diese höchste Stelle im Herzogtum trotz seines Judentums vor Kaiser und Reich innezuhaben. Der Herzog hatte auch, nachdem Süß bei seiner Redoute ihm Magdalen Sibylle zugeführt hatte, durch seinen Wiener Gesandten, den Geheimrat Keller, das Gesuch seines Hoffaktors unterstützt, ein Adelsdiplom für ihn verlangt und tausend Dukaten dafür geboten. Aber nicht nur das württembergische Parlament, auch die Ministerkollegen des Süß intrigierten am Wiener Hof, so geriet die Angelegenheit ins Stocken. Süß, um den Herzog zu spornen und sich unentbehrlich zu zeigen, stoppte seinen Eifer für Karl Alexander, erbat unter dem Vorwand dringlicher persönlicher Geschäfte einen Urlaub ins Ausland. Sofort klappte die Rekrutierung nicht mehr, die Geldmittel fürs Heer kamen nicht mehr herein, die Weiber wurden schwieriger, tausend kleine Mißhelligkeiten, die die Gewandtheit seines Finanzdirektors bisher ihm ferngehalten, zeigten dem Herzog jetzt ihr widerwärtiges Gesicht. Unzuträglichkeiten bei der Deckung seines ungeheuren persönlichen Geldbedarfs, von Süß künstlich gesteigert, bei den Militärlieferungen. Dazu reizte Karl Alexander die immer gleiche Festigkeit Magdalen Sibyllens, auch die beiden Damen Götz, Mutter wie Tochter, von Süß aus der Ferne klug und unmerklich so geleitet, leisteten unerwarteten Widerstand. Remchingen war langweilig, mit Bilfinger wollte er nicht zusammen sein, weil er sich über seine Haltung in dem Stettenfelser Handel ärgerte, der Franzose Riolles war ihm zu affig, zu gescheit und zu spitz. Er seufzte nach seinem Juden. Wäre der dagewesen, wäre bestimmt auch der Stettenfelser Handel anders gegangen; es war eine Schande, daß seine Minister die christlichen Affären nicht ohne den Juden glatt erledigen konnten.
Mit offenen Armen wurde der Rückkehrende empfangen. Er war in Holland gewesen, in England. Hatte sich in Frankfurt feiern lassen, hatte in Darmstadt den Bruder, den Baron, den Getauften, verhöhnt; er wird ohne so verächtliche Mittel das gleiche erreichen. Zudem hatte er in den Niederlanden eine portugiesische Dame kennengelernt, eine Madame de Castro, rotblond, stattlich, noch jung, fein, adlig, hochmütig von Ansehen und Haltung. Witwe des portugiesischen Residenten in den Generalstaaten, sehr vermöglich. Er wollte sie heiraten. Sie schlug es nicht ab; Voraussetzung blieb nur seine Nobilitierung. Auf alle Fälle wird sie ihn, und das schon in nächster Zeit, in Stuttgart besuchen. Marie Auguste lachte stürmisch, wie sie von dem Projekt hörte. Dem Herzog war die geplante Mariage seines Hofjuden nicht angenehm, er polterte, er erlaube ihm ja, sich Mätressen zu halten. »Du Jud schleckst mir sowieso in alle Teller«, brummte er. Aber Süß ließ bei aller lächelnden Ehrerbietung nicht von seinem Plan und erwirkte von dem widerstrebenden Herzog ein neues Schreiben nach Wien wegen der Nobilitierung. Karl Alexander schrieb eigenhändig und dringlich. Er betonte, wie er mit seinem Hofjuden allein weit mehreres als mit all seinen anderen Räten und Bediensteten ausrichten könne, wie er seines Genies und seiner vorzüglichen Geschicklichkeit halber zu allen nützlichen Vorkommenheiten zu brauchen sei; und wie er, der Herzog, ihm als einzige seiner fürstlichen Dignité angemessene Reconnaissance das Adelsdiplom geradezu schuldig sei. Nach solchem Schreiben glaubte Süß alles auf bestem Wege.
Er ritt durch die Straßen auf seiner Schimmelstute Assjadah. Er sah zehn Jahre jünger aus, als er war, er war weitum in Schwaben der erste Kavalier. Schmeidig und rank, nicht groß saß er zu Pferde, die sehr roten Lippen leicht offen in dem weißen Gesicht, die kastanienfarbenen Haare drängten gefallsam unter dem breiten Hut vor, mit edlen Steinen besetzt blitzte die Peitsche, unter der heiteren Stirn wölbten sich die fliegenden Augen. Die Köpfe der Frauen wurden herumgerissen: Er ist wieder da! Die Damen Götz lagen im Fenster, himmelten, während er voll Ehrfurcht hinaufgrüßte. Er ist wieder da! Er ist wieder da! knurrte das Volk, aber er gefiel ihm. Und Dom Bartelemi Pancorbo sah an der Hand, die seinen Gruß erwiderte, den riesigen, strahlenden Solitär. Er ist wieder da! lächelte er mit den entfleischten Lippen, und über der zeremoniösen Halskrause der altertümlichen portugiesischen Hoftracht schickte er begehrlich und lauersam die starren, schmalen, wandernden Augen dem entschwindenden Reiter nach.
Die Stute Assjadah aber reckte den Kopf hoch auf, und sie wieherte hell und triumphierend den aufhorchenden Bürgern, den höhnisch neidvollen Kavalieren, den gekitzelten Weibern zu: Er ist wieder da!
Der Aufenthalt des herzoglichen Paares in Ludwigsburg wurde mit einer Festvorstellung beschlossen. Die Herzogin spielte mit, der junge Götz, der mittlerweile Expeditionsrat geworden war, der Geheime Finanzienrat Süß. Alles Schwierige und weniger Dankbare hatten die Sänger und Schauspieler der herzoglichen Truppe übernommen.
Théâtre paré. Allongeperücke der Herren, nackte Schultern der Damen Vorschrift. Schon von der vierten Reihe an konnte durch den Wald der mächtig getürmten Perücken nur spärlich über die Lichtung einer nackten Damenschulter ein Stückchen Bühne erspäht werden.
Auf der Bühne die Herzogin. Wie ist sie schön in der spanischen Tracht, der goldene Pfeil hebt den schwarzen Glanz der Haare über dem Profil, das in der Farbe alten edlen Marmors leuchtet. Remchingen, wie er sie sieht, stößt einen merkwürdig knurrenden Laut aus wie ein Tier, der Herzog kann sich nur mühsam beherrschen, nicht zu schnalzen, der junge Lord Suffolk wird ganz blaß bei ihrem Anblick.
Man spielt das Stück eines alten großen spanischen Meisters. Das Werk ist durch viele Hände gegangen, italienische Komödianten haben es auf ihre Wanderschaft mitgenommen und umgemodelt, man hat Arien und Ballett eingelegt. Jetzt hat der Tübinger Hofpoet sich darübergemacht, er hat alles in gewissenhafte, säuberliche Alexandriner gegossen. Aber die gelbe, kleine Napolitanerin, der naturgemäß die wichtigste und schwerste Rolle übertragen war, hatte darauf bestanden, ihre Hauptszenen italienisch zu spielen und zu singen. Da hatte sich der schwäbische Poet grollend zurückgezogen, Süß, der Tausendhändige, hatte in aller Eile aus dem Kreis seiner Mutter einen anderen Dichter und Regisseur beschafft, und jetzt wurden einzelne Szenen deutsch, einzelne italienisch gespielt, was von vornherein für Abwechslung sorgte und keine Langeweile aufkommen ließ.
Aber es war überhaupt eine spannende und anregende Komödie. Ein Held stand oben auf der Bühne, ein Kavalier und wilder Liebender. Sein Metier war Krieg und Liebe. Er hatte bloß die Eigenheit, daß ihm jede Frau, erst einmal genossen, sogleich zum Ekel ward.
»Die Schönheit, die uns lockt,
Ist Huld und süßes Wunder;
Die Schönheit, die gekost’t,
Ist wüster Dreck und Plunder«,
äußerte er, und die Allongeperücken der Zuhörer nickten nachdenklich Zustimmung. Der Held oben auf der Bühne handelte indes nach seiner Maxime, er hatte ein immer wüsteres Gewese mit den Frauen, in jeder Szene entführte er, stach er Liebhaber tot, ließ er Frauen sitzen. Nur die Herzogin, die sehr edel war, tat ihm den Willen nicht, sondern gab es ihm immer wieder und das gründlich, wie es sich eben für eine so hohe Dame schickt. Marie Auguste machte das sehr stolz; doch Herr von Riolles, der unter den Zuschauern das schärfste Aug für so etwas hatte, merkte, daß sie heimlich lächelte über die geschraubte und gespreizte Sprödigkeit, die sie spielte. Kaum abgetreten, stieß sie denn auch lächelnd den Expeditionsrat Götz in die Seite: »Den hab ich fein abfahren lassen, nicht?« Der Expeditionsrat verneigte sich mehrmals tief und respektvoll. Er war eigentlich bereits tot. Denn er war einer von den Nebenbuhlern des Helden und gleich zu Beginn des Stückes abgestochen worden. Er hatte aber dem Komödianten die Sache verflucht sauer gemacht, denn er wollte, wie sich das für einen jungen schwäbischen Herrn aus so gutem Hause geziemt, durchaus nicht so ohne weiteres fallen, er zeigte alle seine Fechtkünste, hätte um ein Haar den Komödianten schwer verletzt und mußte schließlich, sonst wäre das Stück nie zu Ende gegangen, fast mit Gewalt zur Bühne hinausgeschleift werden.
Und die Komödie ging weiter. Der Held hatte durchaus kein Glück mit der Herzogin. Er wollte sie entführen. Aber die kleine gelbe Napolitanerin, die er in wildem Gebirg hatte sitzenlassen, war zwar den Mauren, die dort streiften, in die Hände gefallen, doch sie war wieder befreit worden, und infolge einer besonders kunstvollen Verwicklung des Dichters muß nun der Held in der Dunkelheit, ohne sie zu erkennen, wieder sie entführen an Stelle der Herzogin. Er bringt sie in die Berge, dort merkt er den Irrtum, schäumt, beschließt, die Unselige an die Mauren zu verkaufen. Doch die kleine gelbe Napolitanerin, hingeworfen, jammert und fleht zu ihm. Dies war die schönste Szene des Stückes, der große spanische Meister hatte all seine Kraft darangesetzt, und selbst unter der Verschmutzung und Vernüchterung der langen Wanderschaft waren noch Reste ihrer Schönheit geblieben. Die Napolitanerin also kniete vor dem geschminkten, hochmütig und gelangweilt sich spreizenden Komödianten zwischen Öllampen und drei braunen, primitiv geschnittenen Versatzstücken, die wildes Gebirg darstellten, und sie sprach: »Du schworst dich mir zum Gatten. So es dich verdrießt, gern lös ich dich des Eids. Sperr mich für alle Zeit ins Kloster! Oder mache mich, soll ich denn Sklavin sein, zu deiner Magd! Nie will ich dir anderes als Glück erflehn. Bist du im Krieg, in deinem Zelt will ich dir kochen, dir die Kleider säubern. Oder führe mich zu deiner Liebsten, gib mich ihr als Magd! Wenn ich sie kämme, und du stehst dabei, will ich nicht klagen, sie am Haar nicht zerren, und sprichst du sanfte Worte dann zu ihr, zärtliche, kosende, wie ehmals zu mir, will ich die Lippen pressen, will ganz stumm dies schlimmste Weiberschicksal auf mich nehmen: ihr Sklavin sein, die der Geliebte liebt. Doch nicht verkaufen! Nicht den Mauren mich verkaufen!«
Sie war aber durchaus nicht mehr die kleine, gelbe, fette, verderbte Napolitanerin, während sie dies sprach, sondern die Verse trugen sie, und sie war eine arme, preisgegebene, mißbrauchte und klagende Kreatur. Es wurde ganz still im Saal, man hörte einen Tropfen von einer Öllampe auf die Bühne niederfallen, und in ihren Leuchtern an den Wänden sangen die Kerzen.
Die blonden, zarten, feinen Damen Götz waren sehr gerührt, ja, die Tochter schluchzte ganz laut, aber sie hütete sich, zu weinen, denn dann hätte sie eine rote Nase bekommen, und das stand ihr nicht. Doch Madame de Castro, die Portugiesin, die Süß heiraten wollte und die ihren Vorsatz ausgeführt hatte und nach Stuttgart gekommen war, war eine praktische Dame und suchte aus allem, was sie sah, hörte und erlebte, Nutzanwendungen für sich selber zu ziehen, und sie dachte Praktisches und überlegte: Ja, so sind die Männer. Sie versprechen alles, ehe sie einen haben, und nach der ersten Nacht werden sie brutal. Wenn ich ihn heirate, werde ich auf alle Fälle mein Vermögen sicherstellen, und was er mir auszusetzen hat, so hoch veranschlagen, daß ich bei allen Eventualitäten auf meine Rechnung komme. Überhaupt werde ich mir das Für und Wider noch reiflich überlegen.
Man muß die Weiber in Kandare halten, sinnierte der Herzog, das ist richtig. Aber der da oben treibt es doch zu toll. Ich würde ihn stäupen lassen. Die Welsche ist sehr gut. Sie hat mir gleich gefallen. Merkwürdig, daß ich sie noch nicht ins Bett kommandiert habe. Daran ist die Magdalen Sibylle schuld. Ich bin ein Esel, über der einen so den Blick für die anderen zu verlieren. Aber das werd ich heute nacht noch nachholen.
Remchingen fraß mit seinen stieren Augen an der Komödiantin. Er hatte sie gehabt, aber da er sie schlecht entlohnt hatte, denn er war filzig, hielt sie ihn kurz. Ich werde noch ein paar Dukaten springen lassen müssen, seufzte er. Ich werde mich an dem Juden schadlos halten. Er muß mich an den neuen Stiefellieferungen beteiligen. Dieser verfluchte Jud ist eigentlich an allem schuld. Er verwöhnt einem die Weiber, daß sie einem nicht auf eins, zwei parieren und soviel verlangen für etwas, das sie nichts kostet.
Aber ganz hinten in der Ecke war der Schwarzbraune. Er stand aufrecht und sah über die Perücken hinweg, und er hob sich noch auf die Zehen, um nichts zu verlieren. Mit seinen großen Tieraugen schlang er die Aufgelöste, Hingegossene. Und er konnte einen dunklen, heisern Kehllaut nicht unterdrücken, als die Schauspielerin endete: »Mein süßer Herr! Mein Glück! Mein Himmel! Kehr zurück in dich! Du selber werde wieder! Finde dich! Noch ist die Reu Verdienst und nicht Verbrechen. Denn tätst du’s nicht, sieh, Himmel, Mond und Sterne, Menschen und Tiere, Berg und Wald und Baum, die Elemente selbst verweigerten den Dienst dir, stünden auf, empört ob solchen Frevels, wider dich. Hör mich! Steh ab! Señor Gomez Arias! Sieh mich im Elend hie! Verkauf mich nicht dem Mauren nach Benamegi!« Dieses Letzte sang sie mit einer kleinen, stillen, rührenden Stimme. Remchingen und andere bezogen ihre Bewegtheit in irgendwelchem vagen Zusammenhang auf sich selber; niemand ahnte, daß die Komödiantin, während sie sprach, an den ungelenken, semmelblonden Expeditionsrat Götz dachte.
Doch dann trat Süß auf. Er war der Maurenfürst, an den der schurkische Spanier die Napolitanerin verkaufte. »Natürlich«, sagte Remchingen zu seinem Nachbar, »wo es was zu kaufen gibt, ist der Jud da.« Aber Süß benahm sich sehr edel und ritterlich. Trotzdem er sie heiß liebte, rührte er die Frau, die er als Sklavin gekauft hatte, nicht an. Er äußerte:
»Schlecht gilt die Liebe mir,
Die nicht durch innern Wert,
Die sich durch Zwang erwirbt,
Was glühend sie begehrt.«
Wobei er, über und über von Edelsteinen strotzend, in den seidenen maurischen Hosen, die allerdings mit flandrischen Spitzen geziert waren, sehr glänzend aussah.
Der Braunschwarze freute sich, daß der Moslem auf der Bühne sich so nobel aufführte. Der Herzog lachte: »In Wirklichkeit würde mein Jud nicht so lange Faxen machen.« Aber Dom Bartelemi Pancorbo dachte: Da deklamiert er und macht groß Gemauschel um das Weib, was alles er für sie gäbe. Wenn ich sie wäre, ich würde den Solitär verlangen. Aber da würde er sich drücken. Und er reckte den dürren Hals mit dem blauroten, entfleischten Kopf und blinzelte aus tiefen Höhlen nach dem Stein.
In der Schertlinschen Manufaktur in Urach war ein gewisser Kaspar Dieterle beschäftigt gewesen, ein vierzigjähriger Mensch, gedunsenes Gesicht, wasserblaue Augen, rötlicher Seehundsbart, kein Hinterkopf. Als die Manufaktur an die Sozietät Foa-Oppenheimer überging, wurde der Mann als Webmeister beibehalten. Er führte sich unterwürfig und geduckt, schimpfte aber im geheimen um so unflätiger gegen die jüdische Sauwirtschaft. Zettelte gelegentlich kleine Meutereien, machte, selber höchst servil, die anderen aufsässig. War dabei roh und gemein gegen die ihm Unterstellten. Wurde schließlich, als seine zweideutige Haltung aufkam, entlassen.
Er konnte sich nicht entschließen, außer Landes Arbeit zu suchen. Verkam mehr und mehr. Brachte sich sehr elend durch einen erbärmlichen Hausierhandel fort und durch gelegentlichen Schmuggel verbotener, nicht gestempelter Waren. Wurde mehrmals ins Gefängnis gesperrt, einmal auch gestäupt.
Er hatte eine kleine, verwaiste Base zu sich genommen, die ihm zusammen mit dem alten Hund den Hausierkarren schob und sonst behilflich war; fünfzehnjährig, ein verschmutztes Kind, klein, breit, scheu, frech, lauersam, verbockt, diebisch, dabei auf eine primitive Art kokett. Er hielt die Kleine schlecht, prügelte sie grausam, daß sie zuweilen lahm und blutig liegenblieb. Aber als die Behörde einschreiten, ihm das Kind wegnehmen wollte, hielt sie zu ihm, leugnete alle Mißhandlungen, ließ sich nicht von ihm trennen. Es war so, daß der Mann das verwahrloste, struppige, kleine Geschöpf durchaus als sein Weib hielt. Sie war ihm verbunden, sie liebte ihn auf eine gewisse Art, seine Roheit und sein verfranster Seehundsbart waren ihr Zeichen hoher Männlichkeit, sie liebte ihn, wenn er zärtlich zu ihr war und wenn er sie schlug. Sie wurde ihm allmählich immer unentbehrlicher, er begnügte sich, auf Messen und Märkten zu grölen, mit knauserigen Kunden und solchen, die nichts kauften, Händel anzufangen, zu saufen, ihrer beider Unterhalt lag schließlich allein auf ihren Schultern.
Als sie sah, wie sie ihm nötig war, und ihre Macht über ihn spürte, begann sie widerborstig zu werden, ihn zu verhöhnen, vor allem reizte sie es, wenn er betrunken war, ein gefährliches Spiel mit ihm zu treiben. Immer öfter kam es, daß er sie prügelte, bis sie besinnungslos liegenblieb. Ein paarmal lief sie fort; aber sie kehrte doch immer zu ihm zurück, schließlich war er der einzige Mensch, über den sie eine gewisse Macht hatte und der an ihr hing.
Auf solche Manier strolchte das seltsame Paar auf den Landstraßen herum, stahl, hausierte, lumpte sich mehr als kläglich durch. Der Kaspar Dieterle konnte gräßlich fluchen, unflätiger als sonst jemand im Land. Dies imponierte dem Mädchen ungeheuer und schien ihr besonders kraftvoll und männlich. Am schönsten war er, wenn er auf die Juden fluchte. Kaskaden von Gift und Dreck wälzten sich dann unter dem rötlichen Schnurrbart vor, das fahle Gesicht wulstete sich um die wasserblauen Augen, und das Mädchen hörte begeistert zu. Manchmal auch, in guter Laune, um die Kleine zu belohnen, mimte er einen Juden, ging krumm, mauschelte, versuchte sich, unter dem kreischenden Jubel des Kindes, den Schnurrbart als Schläfenlöckchen um die Ohren zu hängen. Ein Festtag aber war es, wenn er auf Märkten und Messen mit Juden zusammenstieß. Auf herzoglichem Gebiet zwar nahmen gewöhnlich, wenn auch widerstrebend, unter dem Einfluß des Süß die Polizeidiener die Juden in Schutz. Aber in den freien Städten konnte er die Hilflosen fest zwacken und ihnen alle sauren Possen spielen, die sein armes Hirn auszukochen imstande war.
Nun hatten sie auf die Ostermesse in Eßlingen große Hoffnungen gesetzt. Dort aber war ein Jud Jecheskel Seligmann erschienen, früher Schutzjude der Grävenitz, jetzt mit Stillschweigen in Freudenthal, einem ehemaligen Grävenitzschen Besitz, geduldet. Der handelte mit Erzeugnissen der Manufakturen Süß-Foa und machte, da er eine viel größere Auswahl hatte als der andere, dem primitiven Kram des Kaspar Dieterle unbesiegliche Konkurrenz. Jecheskel Seligmann Freudenthal war ein älterer, dürrer, krummer, häßlicher Mensch. Kaspar Dieterle fand tausend Gründe, ihn zu verspotten, er beschmierte ihm die Bank seiner Meßbude mit Schweinefett, das dann an seinem Kaftan hängenblieb, er hetzte die Kinder auf ihn, er ließ ihn springen und Hepp-Hepp machen, und er hatte die Lacher auf seiner Seite. Der Jude ließ sich alles gefallen, er sah häßlich, dürr und erschöpft aus und hatte, kam er dann endlich unter seinen Waren zu Atem, ein japsendes, verzerrtes Lächeln. Die Leute hatten zwar an den Späßen des Kaspar Dieterle ihre Freude und verlachten den Juden weidlich mit, aber sie kauften doch bei ihm, da trotz der Sonderabgaben seine Waren billiger und mannigfaltiger waren als der arme Plunder des anderen. Kaspar Dieterle hatte eine dumpfe, unsinnige Wut auf den Jecheskel Seligmann, er beschloß, ihn des Nachts halbtot zu schinden und zu treten, aber er hatte nicht genug Geld, um noch das Nachtquartier bei dem Meß- und Judenwirt zu bezahlen, wo der andere wohnte, und er mußte vor Torschluß die Stadt verlassen.
Das Paar übernachtete in einem dünnen Wald. Sie waren, der Mann wie das Mädchen, erbittert und grimmigster Laune. Dazu setzte Regen ein, sie froren und waren hungrig. Er hatte ihr versprochen, auf der Eßlinger Messe eine Korallenkette für sie zu kaufen, sie hatte die kleine Einnahme, die sie gehabt, auch zu solchem Zweck zurückgelegt, aber er hatte ihr das Geld entrissen und Schnaps dafür gekauft. Jetzt verlangte sie, er solle sie wenigstens davon trinken lassen. Er höhnte sie, schimpfte, sie lausiges Hurenbalg sei schuld, daß man nicht mehr verdient habe. Sie schimpfte zurück, sie werde ihn anzeigen, er habe sie genotzüchtigt, auch sonst geraubt und gestohlen, der Galgen sei ihm sicher. Er schlug zu, sie schrie und schimpfte weiter, der Hund kläffte, er schlug heftiger, sie biß ihn. Er, da sie nicht abließ und sich trotz aller Schläge nur wilder in ihn verbiß, haute sie schließlich wuchtig mit der Schnapsflasche vor die Stirn. Sie fiel um, streckte sich, blieb liegen. Öfters schon war das geschehen, so ließ er sie liegen, schnaubte befriedigt. Leckte aus der zersplitterten Schnapsflasche. Hüllte sich in etliches Tuch, schlief wie ein Klotz, wüst schnarchend. Aber der Regen drang durch und weckte ihn bald wieder. Er rülpste, sie solle zu ihm rücken, ihm eine andere Decke geben, ihn wärmen. Da sie nicht antwortete, stieß er nach ihr, fluchte. Wie sie sich noch immer nicht rührte, stand er froststarrend auf, trat sie. Entzündete endlich, seufzend, rülpsend, umständlich, nach vielen vergeblichen Versuchen die blinde, zerschlagene Laterne. Leuchtete die Reglose auf und ab. Sah sie, Kiefer herunter, Augen groß auf, naß, starr.
Er stand lange im Regen, in dem dünnen Wald, frierend, blöde, ohne Sinn, allein mit der Toten und dem leise winselnden Hund. Die Laterne hatte sogleich der Wind gelöscht, es war dunkel und frostig. Aus dem Baum, an dem er lehnte, tropfte es auf ihn herab, es rann ihm den armen, platten Hinterkopf herunter in den Nacken, sein rötlichblonder Seehundsbart tropfte gleichmäßig. So stand er lange und begriff durchaus nicht, wie und warum die Babett, das einzige Wesen, an dem ihm lag, jetzt tot war. Schließlich begann er ein widriges und furchtsames Heulen, der Hund fiel ein, er hob den Fuß, nach ihm zu treten, unterließ es.
Nach einer Weile kniete er neben die Leiche; entkleidete, nicht ohne Mühe, den starren, häßlichen, schmutzigen Körper, machte überall Schnitte in die Haut, mit stumpfer, nicht zu rascher Geschäftsmäßigkeit. Er verwandte hierzu den Scherben der Schnapsflasche, trotzdem er es mit einem Messer leichter hätte tun können. Er lud dann, es regnete noch immer, die Nackte, Verstümmelte auf den Karren, umstapelte sie hoch mit Decken und Kram, zog mit dem Hund den Karren wieder in die Stadt. Kam dort mit dem frühesten Morgen an, als das Tor geöffnet wurde. Der Torwache sagte er, er habe noch einen Handel mit dem Juden Seligmann. Man ließ ihn passieren.
Er zog seinen Karren in die Herberge, wo der Jude Jecheskel Seligmann Freudenthal wohnte. Alles wie getrieben, mit einer seltsamen, gleichmütigen Zielbewußtheit. Im Hof der Herberge stellte er seinen Karren ein. Veräußerte um ein Spottgeld auch sein Notwendigstes. Soff. Lief dazwischen immer wieder nach seinem Karren. Bis er endlich, während nur die jungen Schweine zuschauten, die Leiche in dem Unrathaufen notdürftig begraben konnte. Es regnete noch immer. Dann ging er wieder in das Schankzimmer. Soff. Zog die Kleider seiner kleinen Base heraus. Erzählte eine Geschichte. Langsam, verworren, in Stücken. Ja, man habe doch gehört, wie gestern er und die Babett mit dem Juden Jecheskel Seligmann Freudenthal ihre Händel gehabt hätten. Aber der Jud habe dem Kind doch eine Korallenkette versprochen. Sie hätte zu ihm zurückgewollt. Er, der Kaspar, habe sie gehalten. Geprügelt. Nachts, vielleicht hatte der Jude ihr was eingegeben, sei sie dann auf einmal doch weg gewesen. Manchmal müsse der Mensch auch schlafen; da könne er dann den andern nicht halten, ja. Und jetzt habe er unter den Waren des Juden draußen ein Bündel Kleider gefunden, seien die Kleider der Babett. Müßt das Kind jetzt wohl nackend herumlaufen, nur mit dem Korallenkettlein. Ja, und jetzt sei den Juden ihr Osterfest.
Dies erzählte der Kaspar Dieterle, während er seine letzte notwendige Habe versoff. Er erzählte es mehrmals, und immer mehr Leute hörten zu. Und immer gekitzelter hörten sie zu, und immer gebannter und entsetzter starrten sie auf den Mund des Menschen, wo unter dem ausgefransten rötlichen Schnurrbart schnapsstinkend, aus den fauligen, schwärzlichen Zähnen weinerlich und tückisch die grausige Geschichte hervorkroch.
Und dann fand man auf dem Unrathaufen die zerschnittene Leiche, die Schweine fraßen schon daran. Fledermausflügelig, mit phantastischen Greueln ausgeschmückt, flog der Bericht von der Untat durch die Stadt. Zusammen liefen die Leute, alles Tagewerk in Haus und auf der Straße hörte auf, die Tore wurden geschlossen, der Rat zusammenberufen. Greuel über Greuel! Ein unschuldiges Christenkind scheußlich gemartert von den Juden, ihm das Blut abgezapft für die Osterkuchen, die verstümmelte Leiche den Schweinen vorgeworfen. So weit war es gekommen durch die Judenwirtschaft des württembergischen Herzogs, daß so schwarze Mordtat arrivieren konnte in der freien Reichsstadt Eßlingen zur Schmach und Schande des ganzen schwäbischen Kreises.
Tosende Erregung in der ganzen Stadt. Seit vierzig, nein, seit genau dreiundvierzig Jahren hat man keinen so grauenvollen Kriminalfall mehr erlebt im Römischen Reich. Fast schon wußte man nur mehr aus Büchern davon. In dieser Gegend war seit dem Ravensburger Kindermord nichts mehr dergleichen arriviert. Oh, wie klug waren die Väter gewesen, daß sie die Juden ausgeschafft aus dem Eßlinger Bannkreis! Seit dem Salomo von Hechingen, dem Arzt, hatte man nicht mehr zugelassen, daß einer von ihnen mit seinem Schelmenatem die ehrsame Luft der guten Stadt verstinke. Stolz und stark konnte man, als der Kaiser die Judensteuer einverlangte, erwidern, seit zwei Jahrhunderten sei keiner mehr in diesen Mauern gesessen. Jetzt hat der Herzog, der Ketzer, der Herodes, die Schelme und schwarzen Mordbuben ins Land gezogen, die den unschuldigen Christenkindern auflauern und ihnen das Blut abzapfen. Ängstlich verwarnen die Mütter ihre Kinder. Immer schrecklichere Einzelheiten gehen um. Was heut dem fremden Kind geschehen ist, kann morgen dem eigenen geschehen. Auf lange hinaus werden die verschreckten Würmer vor jedem Fremden davonlaufen und gräßlich von Blut und Messern und wilden Bärten träumen.
Der Jude Jecheskel Seligmann Freudenthal ging indes in der Vorstadt herum, seine Geschäfte besorgen. Er wurde verhaftet, wie er gerade demütig und beharrlich von einem säumigen Schuldner Geld eintreiben wollte. Er hatte durchaus keine Ahnung, worum es ging, und beteuerte immerzu, er habe gestern weder dem Kaspar Dieterle noch sonstwem zurückgeschimpft, er habe überhaupt nicht den Mund aufgetan. Denn dies war ein beliebtes Mittel dem jüdischen Konkurrenten gegenüber, daß man ihn durch Wort und Tat zu einer Erwiderung reizte und ihn dann einsperren ließ unter der Anklage, er habe durch freche Beschimpfung Christen um ihres Glaubens willen verunglimpft. Aber die Büttel schlugen ihn übers Maul, faßten ihn hart an, fesselten ihn. Draußen wurde der dürre, zitternde, entsetzte Mann von einer Menge Volkes empfangen, er sah hundert erhobene Arme, tobende Mäuler, Kot und Steine flogen gegen ihn, er wurde zu Boden gerissen, getreten, bespien, Haar und Bart wurden ihm gerauft. Er suchte immerzu auf seine Bedränger einzureden: japsend noch unter den Mißhandlungen, während ihm Speichel und Blut aus den Mundwinkeln rann, beteuerte er, er habe kein Schimpfwort, überhaupt kein Wort geredet. Erst aus dem Gezeter einer Frau, die ihn immerzu mit einer Spindel in die Weichen stach, erkannte er jäh die Beschuldigung, verlor die Sinne. Ohnmächtig wurde er in den Turm gebracht.
Aber unter den Ratsherren war eine große, grimmige, höhnische Freude. Die Herzoglichen, die Judenzer, sind schuld an der scheußlichen Moritat. Wie wird man es ihnen vorreiben, wie wird man es ihnen zu schlucken geben! Endlich jetzt kann man dem Herzog und seinem Juden eins versetzen. Hat man nicht ständig Händel mit ihnen und Schikanen? Während einem die herzoglichen Wildsäue und Hirsche und all das Viehzeug die Felder verderben, klagt der freche Ketzer, die Eßlinger Bürger wilderten – ja, wie sonst sollen sie sich helfen? –, und nimmt sie hoch. Und queruliert er nicht ständig, die Eßlinger Straßen seien schlecht wider den Vertrag? Ho, ihr hochmögenden Herren!, was ist ein Loch in der Straße gegen einen so grauslichen Mord? Auch über die Neckar-Regulierung ist nicht mit ihm eins zu werden. Hat er nicht sogar die Einkünfte des Eßlinger Spitals aus dem Württembergischen gepfändet? Und sein Jud erst, der freche Malefizer und Schelm! Da hat etwan die Stadt, pro forma natürlich nur und um gewisse Erleichterungen zu erzwingen, den Schirmvertrag mit dem Herzog aufgehoben. Tut da dieser lausige Saujud nicht gleich, als nähme er die Geschichte ernst? Läßt einfach, als gäbe es wirklich keinen Schirmvertrag, die Eßlinger ganz wie andere Fremde behandeln! Schikaniert auf Schritt und Tritt ihren Handel und Wandel. Jedem einzelnen der Ratsherren hat er mehrere tausend Taler gehindert. Aber wart nur, Herr Jud! Jetzt wird man’s dir heimzahlen! An deinem schwarzen und verruchten Glaubensgenossen wird man es dir heimzahlen. In spanische Stiefel schnüren wird man ihn, das Blut aus den Nägeln herausquetschen, ihn mit glühenden Zangen zwicken. Jetzt schon freuen sich unter den Ratsherren die Anwohner des Marktes darauf, wie man ihn dort solenn verbrennen wird, und versprechen den Verwandten und Befreundeten Fensterplätze. Nur schade, daß man es bei einer einzigen Hinrichtungsart bewenden lassen muß. Man sollte ihn können zugleich hängen und rädern und vierteilen und verbrennen.
Der Älteste unter den Ratsherren war Christoph Adam Schertlin, der seinerzeit die Uracher Manufaktur begründet hatte und der, auf Altenteil in seinem Eßlinger Patrizierhaus, sein Werk langsam und unrettbar hatte versinken, dem Juden in die Hände gleiten, seine Söhne hatte verkommen und verlottern sehen. Er war hoch in den Siebzig. Dies war eine wilde und unvermittelte Freude vor seinem Grab. Tief aus der Brust holte er malmende Worte gegen die jüdische Verruchtheit, spie sie vor den Rat, einem ach! Unsichtbaren ins Gesicht. Hoch trug er den großen, verwitternden Kopf, starken Schrittes ging er durch die Straßen; heftig, als rennte er ihn dem Feind in den Leib, stieß er den Rohrstock gegen den Boden, den goldenen Knopf fest umschließend mit dürrer, doch nicht zitternder Hand.
Bei dem Meßwirt aber saß der Kaspar Dieterle. Er hatte es nicht mehr nötig, was zu verkaufen, um Schnaps zu kriegen. Immer saß ein dicker Haufe Menschen um ihn herum, bänglich und gekitzelt. Der früher als ein Lump und Aushauser von jeder Schwelle gejagt worden war, galt jetzt als wichtiger Mann und wurde groß hofiert. Immer buntere Einzelheiten erzählte er, längst glaubte er selber, daß ihm die argen Juden seine letzte Stütze tückisch geschlachtet hätten. Als stärksten Beweis führte er die Tatsache an, daß das Kind in der Christnacht sei geboren worden, und alle starrten verstrickt und grübelnd auf seinen Mund, wenn er, die wasserblauen Augen geheimnisvoll weit auf, dies vorbrachte. Denn das war ein bewiesenes Faktum und stand in vielen Büchern zu lesen, daß, wer in der Christnacht geboren ist, besonders gefährdet ist, von den Juden umgebracht zu werden.
Vor allem die Weiber hatten groß Mitleid mit dem Mann. War er doch Ursach und Warnung, ihre armen Kinder um so ängstlicher zu hüten. Sie steckten ihm Gebackenes und Gebratenes zu, Schinken und Schmalznudeln. Seine gedunsenen Wangen nahmen Farbe an, sein rötlicher Seehundsbart war ausgekämmt und weniger verfranst; nur seine fauligen, schwärzlichen Zähne blieben. Und eine Bäckerswitwe trug sich ernstlich mit dem Gedanken, den armen, verwaisten Mann, dem die Juden so übel mitgespielt, zu heiraten.
Der Leibarzt Doktor Wendelin Breyer untersuchte den Herzog. Ein dürrer, langer Mensch, ungeheuer beflissen, ängstlich und liebenswürdig, mit weiten, entschuldigenden Bewegungen, die hohle, angestrengte Stimme tief aus der Brust hervorgrabend. Er lächelte viel und furchtsam, bat unzählige Male um Pardon, suchte seine Mitteilungen durch kleine, schüchterne, unbehilfliche Scherze zu erhellen. Der Herzog war ein schwieriger Patient, den Kollegen Georg Burkhard Seeger hatte er mit dem flachen Degen halbtot geprügelt; auch zerschmiß er gerne Medizinflaschen an den Köpfen seiner Ärzte.
»Also dann?« herrschte der Herzog den Arzt an. Der Doktor Wendelin Breyer suchte sich mit etlichen flatternden Bewegungen aus dem Bereich Karl Alexanders zu bringen. »Eine Goutte militaire!« wimmerte er dann mit seiner angestrengten Stimme und meckerte ein wenig. »Eine ganz kleine, unbedeutende Goutte militaire.« Da der Herzog finster schwieg, fügte er eilig hinzu: »Euer Durchlaucht mögen sich ja keine Melancholie und schwarze Gedanken darüber machen. Solche Goutte militaire hat nichts gemein mit der bösen Lustseuche oder französischen Krankheit. Denn während letztgenannte Krankheit aus einem in der weiblichen Scheide präexistierenden Gift stammt, so der Teufel dort hineingebannt hat, ist Eurer Durchlaucht Indisposition nur als etwas Beiläufiges, gewissermaßen als ein leichter Schnupfen der Allerhöchsten Harnblase anzusprechen. Euer Durchlaucht werden mit Gottes Hilfe in etwa drei Monaten davon befreit sein. Ich erlaube mir noch submissest anzumerken, daß besagte kleine Indisposition bei allen großen Heerführern der Christenheit gang und gäbe ist. Nach den Chroniken haben auch die großen antikischen Generale Alexander und Julius Cäsar daran laboriert.«
Der Herzog winkte dem Arzt finster Entfernung, und der zog sich unter vielen weiten und entschuldigenden Bewegungen zurück.
Der Medikus fort, schnaubte Karl Alexander durch die Nase, hieb mit dem Marschallstab zornig eine kleine Porzellanfigur entzwei. In jüngeren Jahren hatte er zweimal diese schmutzige Krankheit gehabt, damals wußte er nicht, von wem. Diesmal wußte er es. Das Saumensch, das dreckige! So zier und lecker schaute sie von der Bühne her, so flink zappelten ihre Augen, so erfahren und angenehm züngelte sie, so appetitlich sah das ganze Frauenzimmer. Ein Wind, ein Hui, ein wohliges Parfüm. Und hatte den Dreck und Gift und Teufel im Leib. Metze, gottverfluchte! Aber er wird sie stäupen lassen, sie mit Ruten aus dem Land jagen.
Er begnügte sich dann, sie eine Fuhre Kot durch die Stadt fahren zu lassen, wie man es mit Weibspersonen hielt, die der Unzucht überführt waren. In grobem Kittel wurde die kleine, leicht fette, gelbe Napolitanerin durch die Straßen geführt, schwer schleppte sie an ihrer Fuhre Mist, ratlos und verhetzt schauten die lebendigen Augen, ein großer Zettel mit der Inschrift »Metze« hing ihr um den Hals. Die Bürger schnalzten bedauernd, das hätte man eher wissen sollen; der Most wäre, eh daß er sauer ward, einem gewiß sehr süffig eingegangen, da hätte man sich gern sein Schöpplein geholt. Die Frauen aber spien sie an und warfen sie mit Abfall. So wurde sie krank und ohne Geld aus der Stadt gejagt.
Es litten aber an der gleichen Krankheit wie der Herzog der General Remchingen und der Schwarzbraune.
Remchingen und Karl Alexander saßen zusammen und fluchten auf die Weiber. Mit grimmigen Späßen verfolgte der Herzog den Süß. Der hatte sie doch auch gehabt, als erster wahrscheinlich, und der war heil davongekommen. Weiß der Satan, durch was für schwarze, jüdische Kunst.
Aber semmelblond und in dicker Ratlosigkeit saß der Expeditionsrat Götz. Er war der einzige, der die Zusammenhänge überschaute. Er hatte die Krankheit überkommen von der Kellnerin im »Blauen Bock«. Er hatte sie an die Welsche weitervererbt, die er in großer Unschuld als seine liebe Herrin und Geliebte ästimierte. Bei anderer Lage der Dinge hätte er es für seine unbedingte Pflicht gehalten, alles gutzumachen, ja vielleicht sogar die Welsche zu ehelichen. So aber, wie man in der Hofgesellschaft respektvoll lächelnd von dem kleinen galanten Leiden des Herzogs flüsterte, wie er langsam begriff, wie er erkannte, daß er, der allerdemütigste und ehrerbietigste Untertan, seinem Souverän die lästige und schmutzige Affäre angehängt hatte, brach seine Welt zusammen. Daß er bei seiner Loyalität seinem Fürsten diesen schmutzigen Tort antun konnte, daß es möglich war, schuldlos in solche Schuld verstrickt zu werden, warf ihn um. Er beschloß zunächst, sich zu erschießen. Später indes sagte er sich, daß eigentlich die Napolitanerin an allem schuld sei; sie hatte ihn in diese üble Verstrickung mit seinem gottgewollten Herrn gebracht, und er sprach sich aller Schuld ledig, wälzte sie auf die Sängerin und sah mit grimmiger Befriedigung zu, wie sie ihre Fuhre Kot schleppte.
Nun liebte aber die Napolitanerin den unbehilflichen, semmelblonden Menschen wirklich. Sie verriet ihn nicht, trotzdem sie sich vielleicht dadurch hätte retten können. Während sie in Schimpf und großer Not durch die Straßen geführt wurde, dachte sie nur an ihn. Sie rührte die Lippen, das Volk glaubte, sie bete, aber sie sagte nur tonlos und ziemlich ohne Sinn jene Verse vor sich hin, die sie in der Komödie gesungen hatte: »Mein Herr! Mein Glück! Mein Himmel! Sieh mich im Elend hie! Laß mich nicht dem Mauren in Benamegi!« Alte Märchen spukten in ihr von dem Prinzen, der die Bettlerin zu seiner Prinzessin erhöht. Jetzt wird er, jetzt gleich hervortreten, und all dieses Gröbliche ist nur ein Alp und arger Traum. Erst als sie über die Grenze geschafft war, ohne daß er auch nur das leiseste Wort hatte hören lassen, brach sie zusammen.
Das Gerücht sickerte durch von der Erkrankung des Herzogs. In den Bibelkollegien flüsterte man, das sei die Strafe des Herrn, und man erinnerte an Nebukadnezar, der zu seinem bösen Ende Gras habe fressen müssen wie ein Ochs. Aber in der Hofgesellschaft errang diese kavaliersmäßige Erkrankung dem Herzog nur größeren Respekt. Der Tübinger Hofpoet überreichte ein Poem, in dem er sagte, daß man zuweilen die Siege im Reiche Amors mit kleinen Wunden bezahlen müsse, die aber nicht minder ehrenvoll seien als die des Schlachtfeldes. Amor schieße manchmal mit vergifteten Pfeilen. Und da er der Napolitanerin nicht vergessen hatte, daß sie damals in der Komödie seine Alexandriner nicht hatte sprechen wollen, versäumte er nicht, sie mit allerlei Geziefer und Gewürm zu vergleichen und anzudeuten, er sei sich von einer solchen welschen Verächterin der deutschen Musen von jeher alles erwartend gewesen. Zum Schluß rief er aus, wer den Türken und Franzen überwand, werde auch diese kleine Molestierung überwinden und Schwabens Alexander bald wieder Schwabens Paris sein.
Die Herzogin sah in der Erkrankung ihres Gatten Wink und Fügung. Noch immer stand an ihrem Wege der junge Lord Suffolk, mit seinem roten, primitiven, unbegrenzt verliebten Gesicht. Er hatte sich an seinem Hof und in seiner Herrschaft durch sein Fernbleiben unmöglich gemacht, er verehrte sie hartnäckig, stumm und verzweifelt, es war nur mehr eine Frage von Tagen, wann er ein Ende machen würde. Daß jetzt ihr Gatte nicht zu ihr kommen konnte, war dies nicht ein Wink? Und sie erbarmte sich des armen, treuen, zähen Menschen, lächelnd und amüsiert.
Aber der junge Engländer war offenbar ein Pechvogel und zu jedem Unstern vorbestimmt. Karl Alexander neigte gemeinhin durchaus nicht zur Eifersucht, er kam gar nicht auf den Gedanken, daß man ihn, ihn! hintergehen könnte. Aber sei es, daß er durch seine Erkrankung mißtrauisch geworden war, sei es, daß andere ihn aufgehetzt hatten, er drang unversehens in die Gemächer der Herzogin ein; gerade noch, daß der junge Lord, schlecht bekleidet und unwürdig, sich retten konnte. Der Herzog machte einen Höllenspektakel, zerschlug Spiegel und Parfüms, zerschliß mit seinem Degen kostbare Wäsche, nannte Marie Auguste mit pöbelhaften Namen, ja er schlug sie in das ziervolle, kleine, eidechsenhafte Gesicht, das von der Farbe alten, edlen Marmors war. Die Herzogin erzählte weinend und empört Magdalen Sibyllen davon, sie beteuerte theatralisch ihre Unschuld, aber bald stahl sich in ihre Empörung ein kleines, amüsiertes Lächeln, sie machte spitzbübisch die lärmende Aufregung des Herzogs nach, divertierte sich an den merkwürdigen und gröblichen Schimpfworten, suchte sie ins Französische und ins Italienische zu übersetzen. Zuletzt meinte sie lächelnd, es sei seltsam; wenn etwa Riolles oder Remchingen zu ihr kämen, sie sei gewiß, die würden auch das vierundzwanzigstemal nicht erwischt werden; aber der arme, tapsige Junge natürlich gleich das erstemal, kaum zu Ende und nicht recht wissend, wie er es anstellen sollte.
Da es sich nicht schickte, daß der Souverän sich mit dem Lord schlage, sollte für alle Fälle, ob der Engländer nun schuldig oder nicht, Remchingen sich mit ihm duellieren. Remchingen brummelte vor sich hin, eigentlich habe er ja auch allen Grund dazu. Indes zeigte er, als es ernster wurde, keine sonderliche Eile. Schließlich reiste der Engländer ab, durchaus nicht heimlich, sondern umständlich und gemächlich, aber zweifelnd an Gott, sein simples, klares Weltbild in Scherben, zerfallen mit sich und den Menschen. Der kurze Genuß hatte ihn tief verstört, er konnte sich an nichts mehr recht erinnern, das einzige, was in seinem Gedächtnis haftete, war ein etwas beschädigter Strumpfgürtel der Herzogin, um den es sich eigentlich nicht gelohnt hätte, Leben, Ruf, Stellung in der Heimat zu gefährden.
Karl Alexander hatte eine Menge Indizien, aber keinen unbedingt handgreiflichen Beweis für die Untreue Marie Augustens. Unter sonstigen Umständen hätte er sich wohl bald beruhigt; jetzt machte ihn der Mißmut über seine Behinderung durch die Krankheit zänkisch und verbissen. Marie Auguste, der ständigen Beargwöhnung und Aufsicht bald überdrüssig, spielte zunächst die Genoveva, trumpfte aber bald groß auf, setzte den Grobheiten des Gatten eine bissige, aufreizende Ruhe und Ironie entgegen, drohte schließlich, sie werde zu ihrem Vater zurückkehren. Worauf Karl Alexander roh erwiderte, an diesem Tage werde er alle Glocken läuten lassen, Böller schießen und jedem Untertan Wein und Braten spendieren.
Dem alten, feinen Fürsten Thurn und Taxis kam das Zerwürfnis höchst ungelegen. Schön, seine Tochter hatte sich ein weniges mit einem englischen Herrn amüsiert. Warum soll man sich nicht mit einem Engländer amüsieren? Sie machen schlecht Konversation und sind hölzern von Figur, aber sie haben vor den Welschen Unverbrauchtheit, Gesundheit und vor allem Diskretion voraus. Wäre er eine Frau, er würde sich auch einen Engländer aussuchen. Darum braucht man doch keinen solchen Lärm zu machen und soviel Spanponaden. Aber freilich, sein Herr Schwiegersohn, Liebden, war ein Feldherr und als solcher gewöhnt, mit viel Geräusch aufzutreten. Auch verlangte man von einem Strategen Siege, aber keine Kinderstube. Seufzend schrieb er das seinem Freund, dem Fürstbischof von Würzburg, mit der Bitte, den kindischen Handel möglichst rasch einzurenken.
Dem klugen, schlauen, dicken Herrn kam diese Aufforderung sehr gelegen. Er hatte den Stettenfelser Handel nicht vergessen, die Niederlage der Kirche kratzte ihn sehr, er hielt den Grafen Fugger an seinem Hofe, er wartete nur auf einen Anlaß, sich unauffällig nach Stuttgart zu begeben und die Gewinnung des Landes für Rom persönlich auf glatteren, rascheren Weg zu bringen. So ließ sich die Eminenz nicht lange bitten, sondern hielt sehr bald mit den Geheimräten Fichtel und Raab in zahlreichen, stattlichen Kutschen behaglichen, fröhlichen und komfortablen Einzug in Stuttgart.
Fragte mit kleinem Schmunzeln den Herzog nach seinem Leiden, hörte mit Pläsier, daß es so gut wie geheilt sei, riet freundschaftlich, sich immerhin vorläufig noch mehr an den Kaffeetrank seines Rates Fichtel als an den Tokaier zu halten. Tätschelte onkelhaft die kleine, weiße, fleischige Hand der puppig schmollenden Herzogin. Hatte die Gatten bald so weit, daß sie sich ehrlich darauf freuten, bis sie nach völliger Wiederherstellung des Herzogs dem Land und sich und der Kirche einen Erben schenken könnten.
Der Fürstbischof drängte darauf, daß man ihm den famosen Geheimen Finanzienrat und Hausjuden etwas aus der Nähe besehen lasse. Karl Alexander tat das nicht gern. Er fürchtete sehr, man möchte ihm seinen unentbehrlichen Juden fortlocken. Aber er konnte schließlich dem Freunde den harmlosen Wunsch nicht auf die Dauer weigern. Süß erschien vor dem Fürstbischof, mit der geübten, grenzenlos demütigen Ergebung küßte er ihm den Ring, breitete geschickte Komplimente vor das große Weltorakel, den heimlichen Kaiser, Herz und Lenker aller Politik. Aber die Würzburger Eminenz war nicht so leicht zu fangen. Die beiden Füchse berochen sich anerkennend, und keiner traute dem andern. Glatt, harmlos, fröhlich, unverfänglich plauderte der schlaue, feiste Mann mit dem schlauen, schlanken, und keiner kam dem andern näher.
In unermüdlicher Arbeit förderten der Fürstbischof und seine beiden Räte ihre Projekte. Unablässig hetzten sie an dem Herzog, an Remchingen. Offene und heimliche Konferenzen mit Weißensee, mit den verschiedenen Ordensgeistlichen, die gegen die Verfassung, im geheimen angeknirscht, in Weil der Stadt, überall im Herzogtum sich eingenistet hatten. Als der Fürstbischof das Herzogtum vergnügt verließ, hatte er Stettenfels reichlich wettgemacht, für seine Pläne Großes erreicht, zu Größerem den Grund gelegt. Die Schloßkapelle in Ludwigsburg wurde jetzt für den katholischen Gottesdienst eingerichtet, die katholische Hofgeistlichkeit umfassend organisiert, Ordensleute offiziell ins Land gerufen. Katholische Feldgeistliche lasen öffentlich Messe, nahmen Kindstaufen vor. Es war ferner ein katholisches Militärreglement bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, vorbereitet war eine außerordentlich feine und knifflige juristische Interpretation der Religionsreversalien, die die parlamentarischen Freiheiten illusorisch machte. Vorbereitet war endlich die förmliche Gleichstellung der katholischen Religion mit der lutherischen. Solches Simultaneum hatte vor dreißig Jahren in der Kurpfalz zur Unterdrückung des Protestantismus geführt.
In geläufigem, elegantem Latein berichtete der Geheimrat Fichtel froh und fromm an Remchingens Bruder, Kämmerer am päpstlichen Hof zu Rom, was alles durch die Stuttgarter Visite des Fürstbischofs erreicht worden. Er kam dann auf den Anlaß der Reise zu sprechen, die Erkrankung des Herzogs, und schloß: »So siehst Du, hochzuverehrender Herr und Bruder, daß sich die göttliche Vorsehung oft seltsamer Mittel bedient, um die alleinseligmachende Kirche zu fördern und den rechten Glauben zu verbreiten.«
Den Süß nagte und zwickte es. Das Verfahren seiner Nobilitierung gestaltete sich umständlicher und langwieriger, als er erwartet hatte. Der Kaiser war den Wiener Oppenheimers sehr große Beträge schuldig. Immanuel Oppenheimer drängte, der Kaiser konnte nicht zahlen. Kein Wunder, daß die Wiener Kanzlei Ausflüchte machte, ehe sie einen Oppenheimer baronisierte. Zudem hetzte der Agent des württembergischen Parlaments. Madame de Castro blieb kühl, und Süß konnte die kluge, rechnerische Frau nicht dazu bringen, sich zu resolvieren.
Auch die Projekte des Würzburger Bischofs verdarben dem Süß die Laune. Er hatte sehr wohl gemerkt, daß es ihm nicht gelungen war, das Vertrauen der Eminenz zu gewinnen, und daß man ihn in dem gewaltigen Plan, der recht eigentlich als Eckpfeiler der schwäbischen Politik des nächsten Jahrzehnts gedacht war, nicht drinhaben wollte. Wohl ließ man ihn den einen oder andern Entwurf sehen, es fanden auch Zusammenkünfte bei ihm statt. Aber Remchingen lachte seine, des Süß, Vorschläge grob aus, und es lag zutage, daß die katholischen Herren sich des Weißensee als ersten Vertrauensmannes zu bedienen gedachten. Süß fühlte sich auch auf diesem Gebiete nicht so sachkundig und sattelfest wie sonst. Er mengte sich nicht gern in Ekklesiastika, die Fragen, die man so wichtig agierte, kamen ihm läppisch und erwachsener Männer unwürdig vor. Sein klarer, sachlicher Sinn erkannte scharf, daß dahinter höchst reale Dinge lagen, Beseitigung der Verfassung und des Parlaments, Militärautokratie des Herzogs; er verstand es nicht, warum man auch unter eingeweihten Politikern peinlich darauf hielt, sich auf so weitschweifige, skurrile und umwegige Andeutungen zu beschränken. Seine Mittel und Wege waren viel geradliniger, rascher und unmittelbarer, er konnte sich in die sehr weichen, langsamen, einschläfernden Methoden der Jesuiten nicht einfinden. Er sah staunend, daß die Herren auch im engsten Kreise es peinlich vermieden, die Dinge beim Namen zu nennen, daß sie, und wenn sie nur zu zweien waren, sanft und fromm alle möglichen demütigen und moralischen Umschreibungen anwandten, und wenn er oder Remchingen scharf und sachlich einem Ding sein rechtes Wort gaben, milde und mißbilligende Blicke in die Runde schickten.
So fühlte sich also der Jude leicht angezweifelt und brauchte Bestätigungen.
Er erreichte es bei Karl Alexander, daß der ihn beauftragte, ein besonders kostbares Geschenk Magdalen Sibyllen in seinem Namen persönlich zu überbringen. Er ließ sich den Tag vorher bei der Demoiselle melden, er erschien in großem Aufzug, mit Pagen und Läufern und Gepräng. Magdalen Sibylle hätte den Herzog beleidigt, wenn sie den auf solche Art Angekündigten brüskierte. Sie empfing ihn.
Magdalen Sibylle wohnte jetzt in einem Schlößchen vor der Stadt. Goldene Amoretten ließen Bänder von den Decken flattern, auf den kostbaren Gobelins ritten vornehme Jagdgesellschaften, glänzende Spiegel dehnten die prunkvollen Gemächer, die erfüllt waren von allem Zierat einer großen Dame. Zwei Kutschen, ein Schlitten, Portechaisen, Reitpferde warteten. Im Vorsaal spreizte sich, mit wertvollen Steinen übersät, aus Gold und Silber ein Pfau, Symbol des Reichtums. Überflüssige Dienerschaft gähnte vornehm und müßig auf den Korridoren. Karl Alexander hatte eine offene Hand für seine Herzdame; auch der König von Polen konnte seine Mätresse nicht besser in Prunk und Schimmer setzen.
Magdalen Sibylle hielt sich inmitten dieser Pracht mit gefrorener Ruhe. Sie fuhr aus, sie empfing Gäste, sie lachte und machte Konversation, alles maskenhaft starr. Der Glanz hing und stand leblos um sie herum; das Schlößchen war wie das Gehäuse einer pomphaft aufgebahrten Toten.
Mit starrer Höflichkeit empfing sie den Süß. Mächtiges, violettbraunes Kleid aus Brokat, lange, streng anliegende Ärmel, kleiner Ausschnitt. Die bräunlichen Wangen, die blauen Augen zu artiger Gemessenheit gezwungen wie etwa vor dem Baden-Durlachischen Geschäftsträger, mit dessen Hof man gespannt war, die schwarzen Haare unter der Perücke zeremoniös versteckt. Süß suchte ihrer Kälte zunächst durch ausschweifende, muntere Liebenswürdigkeit und hemmungslose Galanterie beizukommen. Sie hatte nur verächtlich knappe Antworten, war aus ihrer gepanzerten Frostigkeit nicht herauszulocken. Da versuchte er es anders, reizte sie zum Angriff, dankte ihr überschwenglich, daß sie sich resolviert habe, ihn zu empfangen. Sie erwiderte, sie habe es auf Ordre Seiner Durchlaucht getan. Schwieg ein kleines, konnte sich nicht enthalten, hinzufügen, nachdem sie so vieles hingenommen, könne sie auch das noch über sich ergehen lassen.
Jetzt war Süß in seiner Strömung. Hinnehmen! Über sich ergehen lassen! Des Herzogs von Württemberg Herzdame zu sein, welch Unglück! Die Töchter des ganzen schwäbischen Adels sehnten sich danach. Ein Prunkschloß, hundert Lakaien, Jagden, Assembleen befehlen können nach Belieben, arme Demoiselle, ach, wie schlecht es ihr erging!
Magdalen Sibylle nahm die Maske ab. Er wollte also den Kampf, er glaubte offenbar, sie habe schon vergessen, sich eingelebt, er könne da wieder ansetzen, wo er einhielt, bevor er sie, der schachernde, teuflische Jude, dem Herzog verkauft. Sie stand brüsk auf, ließ das kleine modische, asiatische Hündchen, ein Geschenk Karl Alexanders, unsanft, daß es bläffte, zur Erde gleiten, funkelte ihn an: Er solle nicht simulieren. Er wisse sehr genau, worum es gehe, was er ihr getan habe. »Sie sind ja schuld an allem!« rief sie, und in ihre bräunlichen, männlich kühnen Wangen stieg Blut, und der feine Flaum darauf belebte sich.
Süß sah den festen, glatten Hals, die Kehle sich heben, sich senken. Er hatte sie, wo er sie wollte. Sie solle sich nicht unterschätzen, meinte er mit seiner geschmeidigen, streichelnden, aufreizenden Stimme. Sie sei Seiner Durchlaucht schon von selbst ins Blut gegangen, da habe es seiner Nachhilfe nicht bedurft. Aber gesetzt den Fall, er sei wirklich die Ursache, und er schaute sie dreist lächelnd, einverständnisvoll auf und ab, was er ihr dann Böses getan habe. Sie wollten doch hier nicht nach dem Diktionär der Bürgermoral reden, sondern sachlich, als Leute von Welt. Ernstlich also, was er ihr Leides getan habe?
Sie atmete stark, machte raschere Bewegungen, als das feierlich stolze Kleid eigentlich erlaubte, ihre eingeborene Heftigkeit brach durch. Was er ihr getan habe? Versteller er und arger Jud! Gewandelt in Falschheit und Schminke alles, was sie redet, was sie tut! Erstickt den lebendigen Odem Gottes in ihr! »Wenn die Worte der Schrift«, rief sie, »wenn die heiligen Worte keine Farbe haben und keinen Sinn mehr: Sie sind schuld daran, Sie haben sie tot und fahl gemacht! Sie!«
Aber das war es doch nicht, was sie sagen wollte. Warum log sie denn und warf ihm nicht nackt und wahr seinen Gefühlsschacher und seine ganze klägliche Niedrigkeit ins Gesicht? Warum, um Gottes willen, log sie denn?
Und da hatte er auch schon das Unredliche ihrer Worte erkannt. Sie solle so nicht reden, sagte er, zu ihm solle sie so nicht reden. Das seien doch nur Ausflüchte, Selbstbetrug. Das Bibelkollegium von Hirsau und der Odem Gottes und Gesichte und Träume, das sei doch alles Schminke und Mummenschanz, gut für Schwächliche und Männer ohne Atem und ohne Schenkel und Bresthafte und häßliche Jungfern. Er sah sie auf und ab mit seinen frechen, dringlichen, abschätzigen Augen. »Wer gewachsen ist wie Sie«, rief er, »wer Ihre Augen hat, Demoiselle, und, wenn Sie es auch verstecken, Ihr Haar, der hat Gott nicht nötig. Seien Sie doch ehrlich! Belügen Sie sich nicht selber! Die Heiligkeit war ein Vorwand, solange Sie warteten.«
Sie wehrte sich, sie schlug zurück. »Sie haben mir stehlen können, was ich hatte«, sagte sie. »Aber es wird Ihrer teuflischen Kunst nicht glücken, es hinterher zu besudeln. Reden Sie! Reden Sie alle Ihre armen Ruchlosigkeiten und Frivolitäten. Sie werden mir meinen Gott doch nicht zum Traum einer mannstollen Närrin hinunterschwatzen.« Sie rief sich die erfüllten Stunden über dem Swedenborg zurück, das einfältig fromme Licht der Brüdergemeinde, die Gesichte von einst bekamen wieder Farbe, sie zwang sich zurück in den gläubigen Dunst der blinden Heiligen, sie zwang das Vergangene, wieder da zu sein, auf eine Minute war sie wie früher schlicht und ohne Zweifel, war ihr Gott lebendig. »Wenn er mich auch verschmäht«, rief sie, und der andere war erstaunt über das fromme Blühen in ihrer Stimme, »Gott lebt!« Und noch einmal: »Gott lebt!« rief sie, und er war ihr in Wahrheit auferstanden.
Doch ach! auf eine Minute nur. Der Jude schwieg, genoß ihr Eifern und ihr Glühen. Dann mit glatter Hand wischte er es weg. »Wenn das so ist«, sagte er leichthin, »warum flohen Sie dann vor mir, damals, im Wald von Hirsau? Warum dann half Ihnen Ihr Gott nicht gegen den Herzog? Ich glaube nicht viel; aber das glaube ich, daß man nicht Macht haben kann über eine Frau, die des Gottes voll ist. Wenn die Beata Sturmin schön wäre, niemand würde sich an sie heranwagen, kein General nicht und kein Herzog nicht. Aber wenn sie schön wäre«, lächelte er, »dann hätte sie eben nicht Gott.« Und während ihr Gesicht erlosch und während sie ihrem entflatternden Gott nachstarrte, trat er näher an sie, und jetzt sagte er ihr, was sie gefürchtet hatte, aber er sprach es nicht triumphierend, er sprach es gutmütig, mit seiner streichelndsten Stimme: »Ich will Ihnen etwas sagen, Magdalen Sibylle. Ich will Ihnen sagen, warum Sie damals im Wald vor mir geflohen sind. Weil Sie mich liebten. Und alles, was Sie seither getan und gefühlt haben, Haß und Verzweiflung und Gegenschlag und Starrheit und Klage, das alles haben Sie nur deshalb getan und gespürt. Und ich will Ihnen weiter sagen: auch ich habe seither keinen Tag gehabt, an dem ich Ihr Gesicht nicht sah und spürte.«
Magdalen Sibylle hatte geglaubt, sie werde vergehen, sowie er das Wort sprechen wird. Nun zog er sie nackt aus, nun nannte er alle ihre erhabenen Gefühle, ihren heiligen Eifer, den Satan zu Gott hinüberzuziehen, alles nannte er bei seinem rechten, kleinen und lächerlichen Namen. Es war ja alles auch so einfach auf seine simple und alberne Formel zu bringen: sie war eben ein kleines, dummes, schwäbisches Landmädel, das sich in den erstbesten Kavalier vergaffte, der ihr unvermutet über den Weg lief, und ihre Erweckung und Gottesminne war nichts als ganz ordinäre, armselige Geilheit. Aber merkwürdigerweise verging sie durchaus nicht, als er ihr das auf den Kopf zusagte. Sie bäumte vielmehr hoch, sie stand auf wider ihn, und auf einmal konnte sie reden, und in geraden, unverkünstelten, zornigen Worten schalt sie ihn: Ja, sie habe vielleicht ihr Gefühl verkleidet und maskiert, aber er habe das Niedrigste, Schäbigste, Jüdisch-Ekelste getan, was ein Mensch tun könne, habe sein Gefühl verschachert.
Er leckte aus ihren Worten nur den Honig, nach dem seine Eitelkeit gelüstig war, sah nur mit gesättigtem Stolz, wie ganz er sie erfüllte. Und er wollte sie wieder gläubig haben, um noch glänzender vor ihr zu paradieren. Mit geübter Sophistik, er war ja längst vorbereitet, entfaltete er denn auch sogleich das Argument, das sie schlagen, das sie ihm fangen mußte. Schmeichlerisch und gewandt breitete er es vor sie hin: Wie sie ihm unrecht tue! Ja, er wisse, er hätte damals leicht ihr Gefühl in seine Hand bekommen können, so daß sie sich ihm willig gegeben hätte. Doch er sei kein Freund der billigen Mittel. Mit seiner Macht und seinem Glanz auf das schwäbische Landmädel Eindruck zu machen, das sei ihm zu wohlfeil vorgekommen. So sei es ihm wie ein Wink gewesen, wie der Herzog nach ihr verlangt habe. Jetzt habe sie die Macht gekostet, jetzt stünden sie gleich zu gleich, und er kämpfe mit ehrlicher Waffe. Und er freute sich, wie fein und glänzend er den Handel zu seinem Vorteil gedreht hatte.
Im tiefsten wußte Magdalen Sibylle, daß es Phrasen waren, galante Ausreden. Aber seine Worte gingen ihr lieblich ein, sie hatte so lange gekämpft, sie ließ sich gerne so wohlig belügen. Er indes berauschte sich an seiner Rede, steigerte sich weiter. Er sah nicht oder befahl sich nicht zu sehen den Zwiespalt zwischen dem geraden, natürlich gewachsenen, durch seine Schlichtheit schönen Landmädchen und dem höfisch zeremoniösen, überfeinen Prunk an ihr. Nicht mehr sah er, daß mit dem unter der Perücke versteckten dunklen Haar ihr ein Wesentliches genommen war, daß der braunviolette Brokat das lebendige, atmende Mädchen zu einer Puppe weitete und schnürte, daß der schlanke Lauf ihrer Glieder, das unschuldige, unbeherrschte Feuer ihrer Augen, jetzt, artig gezügelt und eingeteilt, sie als gleiche unter die anderen herunterzog. Er wollte sie sehen, wie er sie brauchte, sich vor ihr zu spreizen, sein eigenes Denkmal auf ihrem Sockel zu postieren. Er sprach: »Wer gewachsen ist wie Sie, wer den Kopf wirft wie Sie, der ist nicht geboren, um Gott im Bibelkollegium von Hirsau fromme Lieder zu singen.« Er stand hinter seinem Stuhl, die Ellbogen auf der Lehne, beugte er sich vor zu ihr, sprach zu ihr, nicht laut, mit seiner dringlichen, eingängigen Stimme, die gewölbten Augen heiß auf ihr: »Haben Sie es nicht gespürt jetzt, was es heißt, Macht haben? Versuchen Sie es doch, kehren Sie doch zurück in Ihr Bibelkollegium! Trocknen Sie Birnen in Ihrer Freizeit, stricken Sie Strümpfe! Versuchen Sie es doch! Sie können es nicht mehr!« schloß er triumphierend. »Sie haben geschmeckt jetzt, was Ihre Bestimmung ist.«
Sie war aufgestanden, atmend, in halber Abwehr die Hand gehoben. Das Hündchen hatte sich ängstlich in einen Winkel verkrochen. Sich sträubend, ungläubig, doch, nun er schwieg, gierig nach mehr, erregt stand sie ihm gegenüber in der anderen Ecke des kleinen mit Zierat überfüllten Gemachs, von dem sie in dem mächtigen Prunkgewand einen großen Teil einnahm. Schlank, geschmeidig, unhörbar auf dem weichen Teppich kam er ihr nach und nahe.
»Lassen Sie doch Ihre naiven Träume hinter sich, Magdalen Sibylle! Die waren gut für den Wald von Hirsau. Jetzt ist das Schloß von Ludwigsburg Ihre Wirklichkeit. Schauen Sie sie an! Packen Sie sie fest! Es ist eine gute, schöne Wirklichkeit. Ich bin stolz, daß ich sie Ihnen wies.«
Er war jetzt ganz nahe an ihr, daß sie sich wie flüchtend in die Ecke drücken mußte. »Magdalen Sibylle!« beteuerte er, und er glaubte es beinahe selbst, während er sprach; sie jedenfalls, das sah er, von Anfang an geneigt, sich überzeugen zu lassen, war bracher Acker für solche Saat. »Magdalen Sibylle! Ich habe Sie, weiß Gott, nicht darum dem Herzog überlassen, einen Stein mehr im Brett zu haben. Ihretwillen hab ich es getan. Sie auf den Weg zu bringen. Wir haben nämlich einen Weg, Magdalen Sibylle, Sie und ich: er heißt Macht.«
Und während sie ihm, das letzte Mißtrauen in die fernsten Winkel gescheucht, zuschaute, ängstlich und bewundernd wie einem Seiltänzer, spielte er sich ihr vor. Seiner Mutter zu imponieren, die von Anfang an ihn glaubte, ah, das war leicht, das war keine Aufgabe. Aber diese hier, die Mißtrauische, sich Sträubende, zu sich herüberzuziehen, das lockte, das war, geglückt, Triumph, die ersehnte notwendige Bestätigung. Wie wohl auf erleuchteter Bühne ein großer Komödiant, gereizt durch ein kaltes, ungestimmtes Publikum, immer mehr von sich hergibt, gerade diese Widerspenstigen hinzureißen, so steigerte er sich immer höher, schwelgend an seinem eigenen Wesen, unvorsichtig geheime Wünsche preisgebend und Erkenntnisse und Urteile, die besser verschlossen geblieben wären. Auf und nieder ging er, sich berauschend an der eigenen Rede, immer glänzender den Spiegel reibend, in dem er sein Bild sah, ein eitler Schauspieler seiner selbst.
Stumm, aufgewühlt, hörte sie, wie er sprach: »So, endlich, stehen wir gleich zu gleich, Magdalen Sibylle. Sie und ich, jeder die Hand am Hebel der Macht. Nicht dieser Herzog hat ein Recht auf Sie. Wer ist er denn, dieser Herzog?«
Der erhitzte Mann redete sich in eine Geringschätzung hinein, die er sich selber sonst nie eingestand und vor deren Enthüllung später dem Ernüchterten bangte.
»Dieser Herzog! Glaubt, ein Land mit dem Exerzierreglement regieren zu können. Hat keine Ahnung von den Zusammenhängen. Kein eigenes Aug, kein eigenes Gehirn, kaum ein eigenes Herz. Mißt den Genuß nach der Zahl der Weiber, nach der Zahl der Bouteillen. Hält das wüste Gegröl seines Remchingen für dionysische Lust. Es ist ein Zufall, es ist gutes Glück, daß er auf Sie gefallen ist. Er sieht ja nichts, er begreift ja nichts von Ihrem Reiz. Ich hab den Anspruch, ich! Ich hab Sie hingebracht, wo Sie jetzt stehen, ich hab Sie gesehen vom ersten Tag an, ich weiß um Sie. Ich bin hinaufgeklettert, selber, Jud und verachtet und gering, Griff um Griff, Schritt vor Schritt, daß ich jetzt vor diesen schwäbischen Tölpeln stehe wie meine Stute Assjadah vor ihren dicken Ackergäulen. Und so hab ich Sie höhergestellt als die anderen braven, wackeren, hausbackenen schwäbischen Fräuleins. So steh ich vor Ihnen, der Gleiche vor der Gleichen. So sag ich Ihnen meinen Anspruch und verlange Sie. Wären Sie unbewußt und dumpf in mein Bett geglitten, wie Sie aus dem Wald von Hirsau kamen, solcher Sieg wäre mir zu leicht gewesen und wie Betrug. Jetzt, erfahren, wissend, wer ich bin, wer Sie sind, sollen Sie sich entscheiden. Jetzt sollen Sie mir sagen: ich gehöre zu dir, ich komme.«
In tiefer Verwirrung stand sie, schwieg sie. Doch er, klug seinen Eindruck nicht scheuchend, kehrte plötzlich aus seiner Erhitzung in kalten Konversationston zurück. Und eh daß sie wieder recht zu sich selbst kam, hatte er schon, sich neigend, ihr zeremoniös die Hand küssend, die Zerrissene, Verwirrte, allein gelassen.
Leicht, heiter kehrte er mit seinem Gefolge in die Stadt zurück. Er hatte die Bestätigung, die er brauchte. Fühlte sich hoch und sicher über denen, die ihn gefährdeten. Ho! Soll es ihm doch einer nachtun, der plumpe Remchingen, der dicke Fürstbischof. Die anderen hatten die Geburt, er hatte die Frau vor ihnen voraus. Das andere war müheloser einzuholen. Er war der Stärkere.
Und die Stute Assjadah fühlte ihn auf ihrem Rücken leichter, beschwingter jetzt, da er zurückritt, als da er kam. Es war eine Lust, ihn zu tragen, und sie wieherte hell seinen Ruhm in die Stadt.
Der Eßlinger Kindermord erregte weithin im Reich das größte Aufsehen und Geschrei. Immer schauerlichere Einzelheiten wurden erzählt, wie der Jude dem Mädchen martervoll das Blut abgezapft und in seine Osterkuchen gebacken, um so Macht zu erringen über alle Christen, mit denen er zu tun habe. Alle die alten Historien wurden wieder lebendig, die Legende von dem heiligen Simon Martyr von Trier, dem Kind, so die Juden auf die gleiche Weise abgeschlachtet, und von dem Knaben Ludwig Etterlein in Ravensburg. Immer strahlender hob sich das Bild des toten Mädchens, was für eine süße, englische, kleine Jungfer sie gewesen. In den Schenken sangen die vagierenden Musikanten die Moritat, Zeitungen und fliegende Blätter erzählten sie in wilden Versen und blutrünstigen Holzschnitten.
Schon regte es sich im Volk, sich tätlich an den Juden zu rächen. Rottete sich zusammen an den Toren des Ghettos, wer sich zu zeigen wagte, wurde mit Steinwurf, Kot und unflätigem Schimpfwort empfangen. Der Handel stockte, der christliche Schuldner trat mit Hohn vor den jüdischen Gläubiger, raufte ihm den Bart, bespie ihn. Die Gerichte zogen die Prozesse in die Länge, versagten. Im Bayrischen, in der Gegend von Rosenheim, an der großen Handelsstraße von Wien nach dem Westen, hatte ein Getreidewucherer, dem Juden das Geschäft gehindert, zusammen mit einem entlaufenen Schreiber eine Bande organisiert, den jüdischen Handelsleuten aufzulauern und ihre Transporte zu plündern. Die kurfürstliche Regierung schaute untätig und wohlgefällig zu. Erst scharfe schwäbische Reklamationen und energische Vorstellungen der Wiener Kanzlei machten dem Unfug ein Ende.
Auch an den Höfen und in den Kabinetten verfolgte man den Eßlinger Handel mit größtem Interesse. Man sah, wie schwach und lückenhaft der Indizienbeweis aufgebaut war, man schmunzelte, auf welch primitive Manier die Reichsstadt dem württembergischen Herzog und seinem Finanzdirektor mit dem toten Kind zu Leibe wollte. Fand aber schadenfroh gerade diese Naivität sehr geschickt. Das Hauptstück des Beweises blieb die glückliche Spekulation auf den Volksglauben, daß in der Christnacht Geborene von den Juden besonders gefährdet seien und daß eben das ermordete Kind in der Heiligen Nacht geboren war.
Doch gegen die Juden zog es herauf, schwere, atemschnürende, lehmfarbene Wolken. Geduckt in ihre Winkel krochen die Verängsteten, stierten auf das gestaltlos Nahende. Ai! Ai! Immer wenn einer von ihnen gepackt wurde um so tückisch dumme Beschuldigung, wurden gemetzelt Tausende, verbrannt, gehängt Tausende, hin und her gehetzt über die Erde Zehntausende. Vergraust hockten sie in ihren Winkeln, es legte sich um sie eine Stille, entsetzlich, mordschwanger, unausweichlich, mit keinem Namen zu nennen, nicht zu tasten, als wiche die Luft aus ihren Straßen, daß sie vergebens um Atem japsten. Das Furchtbarste war die erste Woche. Dies Warten, dies schreckhafte, gelähmte Hocken und Nichtwissen: wer, wo, wie. Die Angesehensten liefen zu den Behörden. Sonst, wenn man sie brauchte, wurden sie umschmeichelt; jetzt wurden sie nicht vorgelassen. Dies Achselzucken in den Vorzimmern, diese Augen- und Herzensweide an ihrer Angst, dieser lauersame Hohn, dies Preisgeben, dieses Handzurückziehen von den Schutzlosen. Ai! diese Behörden, die sich das teure Geld zahlen lassen für ihre Schutzbriefe und keine Zeit haben für die Fährnis und hohe Not ihrer Juden. Ai! diese zwei kahlen und lässigen Stadtsoldaten am Tor des Ghettos, wie sollen die schützen vor einer Horde von tausend Räubern und Mördern! Ai! man sieht deutlich, wie die Ämter und Ratsherren die Augen und die Ohren zumachen und die Hände auf den Rücken legen, daß das Gesindel ungehindert kann herfallen über die Wehrlosen! Ai die grausige Not! Soll helfen der allgewaltige Gott, gelobt sein Name! Ai du armes Israel! Ai die schutzlosen, zerrissenen Zelte Jaakobs!
Schwarzgeflügelt, geierschnäbelig, herzlähmend flog die Nachricht durch alle jüdischen Gemeinden, von Polen bis ins Elsaß, von Mantua bis Amsterdam. Sitzt einer gefangen im Schwäbischen, in Eßlingen, der bösen Stadt, Brutstätte der Bosheit und Niedertracht. Sagen die Gojim, er habe geschlachtet eines von ihren Kindern. Rüstet sich Edom, will herfallen über uns, heute, morgen, wer weiß. Höre Israel!
Fahl und grau wurden die Männer da und vergaßen ihre Geschäfte, verschreckt, mit ratlosen, törichten Augen flatterten in die Winkel ihre schönen, geschmückten Frauen und sahen gläubig auf die Männer, bereit, blind zu befolgen, was sie rieten. Den Atem an hielt die ganze Judenheit des Römischen Reichs und weit hinaus über die Grenzen. In ihren Betsälen sammelten sie sich, schlugen die Brüste sich, bekannten ihre Sünden, fasteten den Montag, den Donnerstag und wieder den Montag vom Abend zum Abend. Aßen nicht, tranken nicht, rührten keine Frau an. Standen eng gepreßt in ihren übelgelüfteten Betsälen, eingehüllt in ihre Gebetmäntel und in ihre Totengewänder, den Leib fanatisch schaukelnd und werfend. Schrien zu Gott, schrien zu Adonai Elohim, schrien mit gellen, verzweifelten Stimmen, die an die gellen, mißtönigen Widderhörner erinnerten, die sie am Neujahrsfest bliesen. Sie zählten auf ihre Sünden, sie schrien: »Nicht unsertwillen, o Herr, begnade uns, nicht unsertwillen! Sondern um der Verdienste der Erzväter willen.« Sie zählten auf die endlosen Namenslisten der Vorfahren, getötet für die Heiligung des göttlichen Namens, die Gemarterten von den Syrern, die Gefolterten von den Römern, die Geschlachteten, Gewürgten, Verbannten von den Christen, die Märtyrer von den polnischen Gemeinden bis zu den Gemeinden von Trier, Speyer, Worms. Sie standen weiß eingehüllt in ihre Leichenlaken, den Kopf bestreut mit Asche, sie standen den ganzen Tag, alle Glieder ekstatisch geschüttelt bis zur Erschöpfung, sie schacherten und zeterten mit Gott, wenn der Tag graute, und wenn der Tag trüb wurde und sich neigte, standen sie noch und schrien mit ihren häßlichen, ausgeschrienen Stimmen: »Gedenke des Bundes mit Abraham und der Opferung Isaaks!« Aber auf hundert Umwegen mündeten alle Gebete immer wieder in den wilden, gellenden Chor des Bekenntnisses: »Eins und einzig ist Adonai Elohim, eins und einzig ist der Gott Israels, das Seiende, Überwirkliche, Jahve.«
Aber durch Gitter getrennt, den Männern unsichtbar, waren die Frauen. Verschüchtert, ängstlich, mit großen Augen, wie Vögel aufgereiht auf einem Stab im Käfig, saßen sie, plapperten sie leis und fromm und töricht aus ihren Andachtsbüchern, die, in rabbinischen Lettern, in einem Mischmasch von Deutsch und Hebräisch die biblischen Geschichten und andere fromme Legenden erzählten.
In allen Tempeln und Betsälen von Mantua bis Amsterdam, von Polen bis ins Elsaß standen die Männer so, fasteten, beteten. Zu gleicher Stunde, wenn der Tag kam und wenn er sich neigte, stand die ganze Judenheit, gewendet gegen Osten, gegen Zion, die Gebetriemen an Herz und Hirn, gehüllt in Leichenlaken, stand und bekannte: »Nichts ist uns geblieben, nur das Buch«, stand und schrie: »Eins und einzig ist der Gott Israels, das Seiende, Überwirkliche, Jahve.«
Doch wie die ersten Tage des großen Schreckens vorbei waren, zeigte sich, daß die Reichsstadt Eßlingen den Prozeß des Juden Jecheskel Seligmann Freudenthal in die Länge zog. Sei es aus politischen Gründen, vielleicht wollte man bei Gelegenheit in konkretem Fall den Prozeß gegen das herzogliche Kabinett ausspielen, sei es aus bloßer Lust an längerer, zögernder Quälerei, sei es, daß man hoffte, noch irgendein kräftigeres Indizium beizubringen. Monate vergingen, und der Jude lag noch immer im Turm, seine Sache war über Vorverhandlungen und den ersten Grad der Folter nicht hinausgediehen.
Die Juden aber, an jede Art von Verfolgung durch die Jahrtausende gewöhnt, aus der ersten lähmenden Angst sich aufraffend, liefen, rannten, bohrten in jede Ecke Schlupfwinkel, sich zu verkriechen, wenn der Graus losbrach. Besiegeln und bestätigen ließen sie ihre Schutzbriefe, Bewaffnete und Stadtknechte mieteten sie zu ihrer Verteidigung, auf allen Straßen liefen ihre Kuriere, gemeinsam den Schutz zu organisieren, an allen Höfen, in allen Ratsstuben arbeiteten ihre Agenten, die Gutgesinnten zu Maßnahmen zu bewegen; in Wechseln und Kreditbriefen ging ein Großteil ihres Kapitals ins Ausland, in Sicherheit.
Doch über allem, was sie dachten und handelten, lag die lehmfarbene Wolke. Der heranziehende Graus zerstückelte ihren Schlaf, machte ihre Speisen zu faden, schmacklosen Brocken, ihren Wein schal, nahm ihren Gewürzen den Duft, lähmte ihre flinken, heftigen, eifernden, liebevollen Dispute über den Talmud, daß sie mitten im Wort versanken und verstummten, blutwitternd vor sich stierten. Ja, hinein sogar hing die lehmfarbene Wolke, tief hinein in ihre stolzen, triumphierenden Sabbate, die sonst, träumend vom Glanz des versunkenen Reichs und des künftigen Messias, ihrer Bettler ärmster prinzlich feierte.
Man hatte jede Sicherung getroffen, aber das war wie Stroh, wie das Tannenreiser- und Palmendach ihrer Laubhütten. Die Wolke war da, und das half nicht gegen die Wolke. Und wenn sie ihren Alltag trieben, ihre Feste feierten, aus jedem Winkel sprang die schnürende Angst sie an.
Der Rabbiner von Frankfurt, Rabbi Jaakob Josua Falk, saß über der Schrift. Und ob er es gleich nicht wollte, rollten seine mageren, gerunzelten Hände jenes Kapitel auf im Fünften Buch Mose, die grausigste Verfluchung, die je ein Menschenhirn erdacht. Jene Verfluchung, die der Jude angstvoll zu überschlagen pflegt, über die der Vorbeter bei der alljährlichen Verlesung der Schrift scheu und eilig und mit halber Stimme hinweggleitet, sie nicht zu berufen. Aber die Augen des alten Rabbi blieben kleben an den drohenden, klotzigen Buchstaben, und er las:
»Senden wird Adonai gegen dich das Unglück, die Zerrüttung und das Verderben in allem Geschäft deiner Hand, das du unternimmst. Ein Weib wirst du dir verloben und ein anderer liegt bei ihr, ein Haus wirst du dir bauen und du wohnst nicht darin. Adonai wird dich geschlagen hingeben deinem Feinde; auf einem Wege wirst du ihm entgegenziehen und auf sieben Wegen wirst du vor ihm fliehen. Und er wird zum Haupte und du wirst zum Schwanze sein. Und er wird dich bedrängen und dich einengen, daß du aufissest deine Leibesfrucht, das Fleisch deiner Söhne und Töchter, die Adonai dir gegeben, in der Drängnis und Enge, in die dein Feind dich engen wird. Die Frau, die unter dir die weichlichste ist und sehr verzärtelt, deren Fußballen es nicht versucht, auf die Erde zu treten vor Verzärtelung und Weichlichkeit, deren Auge wird feindselig schauen auf den Mann ihres Schoßes und auf ihren Sohn und ihre Tochter. Wegen des Säuglings, den sie geboren zwischen ihren Füßen, daß jene nicht ihr zuvor ihn aufäßen aus Mangel an allem, im geheimen, in der Drängnis und Enge, in die dein Feind dich engen wird in allen deinen Toren. Und Adonai wird dich zerstreuen unter allen Völkern; und du wirst nicht rasten unter diesen Völkern, und es wird keine Ruhestatt sein für den Ballen deines Fußes. Und Adonai wird dir daselbst geben ein zitterndes Herz, ein bängliches Aug und ein schwächliches Geblüt; und du wirst Angst haben Nacht und Tag und nicht trauen deinem Leben. Am Morgen wirst du sprechen: Wer gäbe Abend!, und am Abend wirst du sprechen: Wer gäbe Morgen! vor Bangigkeit deines Herzens, die du bangen wirst, und vor dem Gesicht deiner Augen, das du sehen wirst.«
So las der alte Mann, und sein Herz war voll von grauer Furcht, und er schlug seinen Gebetmantel über den Kopf, die großen, drohenden Buchstaben nicht länger zu sehen, und er weinte und stöhnte. Seine Frau, die nicht wagte, ihn beim Studium zu stören, stand erschreckt an der Tür und hörte, wie er stöhnte, und sie zitterte, und ihr altes Herz schlug vor Angst bis hinauf in ihren dürren Hals. Aber sie wagte nicht, ihn zu stören.
Rabbi Jaakob Josua Falk aber weinte aus seinen eingesunkenen, müden, betagten Augen, und sein Gebetmantel war ganz naß von Tränen.
Der Kirchenratsdirektor Philipp Heinrich Weißensee, von Weißensee jetzt, hatte sich sehr verändert seit jener Nacht, da Magdalen Sibylle dem Herzog zugefallen war. Wohl gab es noch immer keine politische Affäre im Reich, und im schwäbischen Kreis im besonderen, darein er nicht seine gelüstig schnuppernde Nase, seine feinen, spielerischen Finger gesteckt hätte. Aber seine Flinkheit hatte jetzt etwas Fahriges, seltsam Lebloses, Mechanisches. Es kam vor, daß der gewandte, welt- und redekundige Mann mitten im Gespräch absprang, von Abseitigem zu reden begann. Oder daß er mitten im Wort einhielt, mit dem Kopf wackelte, mummelte, ganz schwieg. Dann wieder erschien etwa der peinlich nach der letzten Mode Gekleidete ohne Kniegürtel oder machte sonst einen unbegreiflichen Toilettefehler. Sehr merkwürdig war sein Benehmen zu den Frauen. Er sprach und bewegte sich vor ihnen mit größter Courtoisie, aber es konnte geschehen, daß er ihnen in aller Verbindlichkeit etwas dermaßen Zotiges sagte, daß selbst der General Remchingen darüber stutzte. Auch wollte man wissen, daß er, von dem früher nie dergleichen bekannt war, jetzt galante Liaisons unterhielt. Sonderbarerweise bevorzugte er solche Damen, die nach allgemeiner Meinung durch die Hände des Süß gegangen waren.
An den Süß attachierte er sich noch mehr als früher. Dies fiel auf. Denn in der nächsten Umgebung des Herzogs wußte man, daß der Jude nicht mehr so unmittelbar im Nabel der Macht saß wie vor Monaten. Auch hätte Weißensee bei der Vertrauensstellung, die er als Haupt des katholischen Projekts genoß, dieses Schwänzeln und Schmeicheln um den Finanzdirektor nicht not gehabt. Allein er ließ keine Gelegenheit ungenutzt, ihn zu sprechen, ihn zu betasten, ja er gab sich so vertraulich, daß der argwöhnische Süß glaubte, er wolle ihn ausholen, ihn stürzen, und sich vor ihm mit jeder Vorsicht spickte. Dann wieder geschah es unvermutet, daß der Kirchenratsdirektor mit unziemlichem Gespöttel auf des Süß Judentum hinwies, was er bisher sorglich vermieden hatte. Er fragte ihn etwa nach der Bedeutung gewisser hebräischer Worte, und trotzdem Süß sehr ablehnend betonte, er habe sein bißchen Hebräisch längst vergessen, wiederholte er diese Frage mehrmals, und dies in größerer Gesellschaft.
Für einen Abend bat er plötzlich und sehr wichtig Bilfinger und Harpprecht zu sich, seine beiden alten Freunde. Die Herren kamen auch sogleich, fragten besorgt, hilfsbereit, was es denn sei. Aber es war nichts; Weißensee brauchte irgendeine durchsichtig leere Ausflucht. Die Herren, verblüfft, sahen sich an, sahen ihn an, erkannten seine Not, blieben. Da saßen sie nun, Schulkameraden, sehr umgetrieben alle drei, begabt von Natur alle drei und wohlgefüllt mit allem Wissen der Zeit, geachtete Namen, in starker Position. Da saßen sie und tranken, und die beiden breiten und behäbigen Männer waren einsilbig, während der schlanke, elegante Weißensee sehr vieles und Gleichgültig-Geistreiches sprach und fast ängstlich bemüht war, kein Schweigen aufkommen zu lassen. Unvermittelt fragte ihn Bilfinger, wie weit sein Bibelkommentar gediehen sei. Die Bücher der Andreas Adam Hochstetter, Christian Eberhard Weißmann, Johann Reinhard Hedinger über diese Materie seien doch eigentlich bestenfalls braver Durchschnitt, und man entbehre sehr des Freundes vorhabendes Werk. Weißensee mit einem fahlen und fahrigen Lächeln und einer leeren Handbewegung meinte, es wäre vielleicht besser gewesen, er hätte sich nie von Hirsau weggerührt und wäre zeitlebens über dieser Arbeit gesessen. »Ja«, sagte Harpprecht, und eigentlich war dies keine Antwort, »es ist eine schmutzige Zeit, alle Wege sind schmutzig, und es ist verflucht schwer, sich sauberzuhalten.«
Die politische Stellung Weißensees wurde immer mehrdeutiger. Er vereinte Unvereinbares. Er saß im Elfer-Ausschuß des Parlaments, formulierte und stilisierte die Beschwerden der Demokraten gegen das Willkürregiment des Herzogs und war eben dieses Herzogs illegitimer Schwiegervater und Vertrauter. Er konferierte mit Süß, mit den Jesuiten, den Generälen und verfaßte schwungvolle Apologien der Konstitution und der evangelischen Freiheiten. Er hatte seine Töpfe auf allen Feuern, seine Schlingen in allen Wäldern. Der frühere Weißensee wäre selig gewesen, so vieler Komplotte, Intrigen, Konventikel, komplizierter Machinationen Hebel und Angel zu sein. Wäre selig aufgegangen in diesem atemlosen Betrieb, dieser zappelnd-wirbelnden, hunderthändig wichtigen Geschäftigkeit. Der Kirchenratsdirektor ließ wohl auch jetzt Aug und Hand in jeder Aktion, aber zum Staunen aller zog er sich plötzlich mitten im tollsten Getriebe zurück, erklärte, er müsse rasten, setzte sich nach Hirsau in sein verödetes Haus über seinen Bibelkommentar.
Er kam nicht voran damit. Verdrießlich sah er auf die dicken Kompendien der Weißmann, Hedinger, Hochstetter, die umständlich und wacker den gleichen Acker gepflügt hatten. Ach, noch lange werden die Studenten an dieser zähen Weisheit zu kauen haben. Ach, es wird noch gute Weile dauern, bis er diesen Riesenkörper wird mit Herz und Leben gefüllt haben.
Nein, es ging nicht voran mit dem Werk. Wohl brannte die Lampe tief in die Nacht über seinen Büchern; aber seine Augen sahen nicht die Buchstaben, nicht die krausen griechischen, nicht die festen deutschen, nicht die blockigen hebräischen. Sahen eine, die nicht da war; bräunliche, flaumige, männlich kühne Wangen, blaue, starke Augen in seltsamem Widerspiel zu dem dunklen Haar. Sahen sie im stillen Kreis der Lampe, verschlossen, mit kindhaft wichtigem Gesicht. Die Tage schlurfte er durch die Räume, wie waren sie weit und leer!, schlurfte in Pantoffeln, ohne Perücke, vernachlässigt, schnupperte in die Winkel, strich mit der feinen, dürren Hand zärtlich über eine Tischdecke, die Lehne des Sofas, abwesend, mit verrenktem Lächeln.
Dann ließ er den Magister Jaakob Polykarp Schober vor sich rufen. Der erschrak gewaltig. Sicher wird ihn der Kirchenratsdirektor wegen seines Glaubens zur Rede stellen, ihn der Sektiererei bezichtigen, vor Gericht schleppen, einkerkern, unstet und flüchtig über die Erde jagen. Jetzt, wo seine Tochter nicht mehr im Bibelkollegium sitzt, kann er ja alle Rücksicht fallenlassen. Dem pausbäckigen Mann brach der Schweiß aus, seine frommen Kinderaugen wurden sehr rund und ängstlich, er lief mit kurzen Schritten, bedrückt schnaufend, auf und ab. Aber sehr bald kriegte er seinen Schreck klein. Wenn Gott ihn zum Märtyrer bestimmt hat, so wird er solche Auserwählung dankbar auf sich nehmen. So trat er, wenngleich merklich schwitzend, so doch aufrecht und mannesmutig vor den Prälaten und hub sogleich an, streitbar von den drei Männern im Feuerofen zu sprechen. Doch Weißensee, zunächst erstaunt, unterbrach ihn bald, erklärte verbindlich, er habe ihn durchaus nicht in amtlicher Eigenschaft zu sich gebeten, er habe nur den alten Freund seiner Tochter wieder einmal sehen und sprechen wollen. Der Magister, sehr erleichtert, sprach einfältig, herzlich und ehrerbietig von Magdalen Sibylle, und wie der ganze Kreis diese fromme, edle und erlesene Schwester vermisse. Weißensee hörte gierig zu, der Magister machte sich im stillen Vorwürfe, daß er den aimablen Herrn für einen Wüterich und Holofernes habe ästimieren können, und taute mehr und mehr auf. Der Kirchenratsdirektor befriedete sich sichtlich an dem wohltuend schlichten Geschwätz, er kam öfters mit dem Magister zusammen, ja, die beiden machten gemeinsame Spaziergänge im Wald. Zaghaft begann schließlich Schober von seinen Versen zu sprechen, er rezitierte sein Poem: »Nahrungssorgen und Gottvertrauen« und jenes andere von Jesus dem besten Rechenmeister. Als Weißensee freundlich zuhörte, als er gar etwas von Drucklegung verlauten ließ, gewann diese Leutseligkeit des großen und gelehrten Herrn den jungen Menschen ganz ohne Vorbehalt. So, daß er, dem schon lange das Herz fast bersten wollte, ihm sein Geheimnis von der Prinzessin aus dem Himmlischen Jerusalem und dem argen Juden, ihrem Vater, anvertraute.
Aufhorchte da Weißensee. Abfiel seine Müdigkeit, Fahrigkeit. Tagelang streifte er mit dem über solche Ehre strahlenden Magister durch den Wald. Stand am Holzzaun, ließ sich jede Einzelheit wieder und wieder erzählen. Forschte nach dem Alten, dem Holländer, Mynheer Gabriel Oppenheimer van Straaten. Kombinierte. Bekam zwar Naemi nicht zu sehen, setzte sich aber aus all dem Mosaik die Wahrheit ziemlich getreu zusammen.
Lang in die Nacht hinein brannte auch jetzt seine Lampe. Aber nicht mehr schlurfte der Prälat mit unsicheren, vergreisten Schritten; federnd, jung ging er durch seine weiten, weißen Räume, seine regen Träume füllten sie mit Menschen und künftigen Begebenheiten. Tief und gekitzelt lächelten seine feinen und sehr beweglichen Lippen, und manchmal wohl sprach er, Akteur seiner Träume, vor sich hin: »Voyons donc, mein Herr Geheimer Finanzienrat!« oder: »Ei, ei, wer war sich das vermutend, Exzellenz?«
Ja, wer war sich das vermutend! Man war ein alter Fuchs, man hatte das Leben und die Menschen von allen Seiten bewittert und beschnuppert. Man bildete sich ein, sich auf Menschengesichter zu verstehen. Und mußte wieder einmal erkennen, daß auf diesem großen Welttheater doch immer noch mehr Schminke und Maske ist, als selbst der ausgekochteste Zweifler supponiert. Wer hätte das geahnt? Er rief das Gesicht des Juden vor sich in sein einsames, nachtstilles Zimmer. Er schloß die Augen und spähte es aus, Zug um Zug, den gelüstigen, sehr roten Mund, die weißen, kalten eleganten Wangen, das unbarmherzige, zufahrende Kinn, die lauersamen, raschen, fliegenden Augen, die glatte, unverträumte Stirn mit den Rechnerbuckeln über den Brauen. Wer hätte hinter diesem eiskalten, eisklaren Geschäfts- und Machtmenschen die sentimentalische Idylle im Wald von Hirsau gesucht! Ei, ei, mein Herr Finanzdirektor! Wie Sie vor mir gestanden waren an jenem üblen Abend in Ihrem Palais! Was für eine wache, mondäne, medisante Miene Sie hatten! Ei, ei, mein Herr Hebräer, ich hätte mich wohl sollen ein weniges mehr zusammennehmen. Ich war wohl ein wenig faselig und plapperig und habe mich nicht ganz à la mode geführt an jenem Abend. Ich saß wohl sehr elend und vertan auf meinem Stuhl, dieweilen Sie rank und schlank und schneidig vor mir standen, und das Mark krümelte sich kurios in meinem Gebein. Nun ja, ich wäre wohl neugierig, wie sich Euer Exzellenz führen in einem ähnlichen Fall.
Der Kirchenratsdirektor Philipp Heinrich von Weißensee hielt ein auf seinem Gang durchs Zimmer. Die Lampe brannte still durch den weiten Raum, plump surrte ein Nachtfalter, die vielen Bücher ringsum schauten stumm und gelassen, durch das offene Fenster drang stark der Hauch des nächtlichen Waldes. War das Rache, womit er sich da abgab? Waren das Rachepläne? Fi donc, er besudelte sich nicht mit so bürgerlich gemeinen Empfindungen. Er war nur – ja, was war er? – neugierig, neugierig war er, wie der Jude sich halten wird. Ob er auch plötzlich so schlapp und alt sein wird und was überhaupt er tun wird. Ei ja, sehr sehenswert wird das sein, höchst lehrreich wird das sein, viel interessanter, als was es gemeinhin in den Romanen zu lesen, auf den Komödienbühnen zu sehen gibt.
»Voyons donc, Exzellenz! Eh voilà, mein Herr Geheimderat!« sagte der feine, elegante Prälat vor sich hin, tief und gekitzelt lächelnd. Dann setzte er sich über seinen Bibelkommentar, sehr belebt; mit abschätzigen, spöttischen Augen glitt er über die wackeren Arbeiten der Hochstetter, Weißmann, Hedinger, der braven, umständlichen, gelehrten Männer, und flink und fröhlich ging ihm jetzt das Werk vonstatten.
Unterdes hatten die Sendlinge des Würzburger Bischofs still und zäh in Stuttgart weitergearbeitet. Hell im Licht standen jetzt neue Männer, Militärs zumeist, die sich wenig um den Süß kümmerten und bei äußerlich gutem Einvernehmen ihre Verachtung des Juden nicht verbargen. Da war der General Oberburggraf von Röder, ein ungeschlachter Mann, dann der Kommandant vom Asperg, Oberstleutnant von Bouwighausen, ferner ein Rudel lärmvoller und farbiger Offiziere, die jetzt immerzu wie ein Zaun um den Herzog waren, die Obersten Tornacka und Laubsky, der Rittmeister Buckow. Ein anderer Offizier sodann, der dem Süß besonders zuwider war, der Major von Röder, Vetter des Burggrafen, Kommandant der berittenen Stuttgarter Bürgergarde, des Stadtreiterkorps, ein knarrender Mann, niedere Stirn, harter Mund, rohe Tatzen, doppelt unförmig in den Handschuhen. Doch am meisten zu Haß und Ekel blieb dem Juden jener Dom Bartelemi Pancorbo, der kurpfälzische Geheimrat, Tabakmanufaktur-und Kommerziengeneraldirektor, der Juwelenhändler, der jetzt wieder ins Licht rückte, die rechte Schulter wie stets kurios hochgezogen, immer in streng zeremoniöser, verschollener portugiesischer Hoftracht, über mächtiger Halskrause das blaurote, verdrückte, entfleischte Gesicht mit der Geiernase und dem gefärbten Knebelbart, hinter faltigem Lid nach dem Süß äugend mit länglichen, starren, schmalen Augen.
Diese alle, dazu die anderen alten Feinde, Remchingen, der Kammerdiener Neuffer, staken jetzt in dem katholischen Projekt. Süß, so klar und weit er das Ganze überschaute, viel klarer als die groben, großspurig törichten Offiziere, sah sich außerhalb dieses Planes. Er erfuhr Wichtiges nebenher oder gar nicht; nur wenn man seinen finanztechnischen Rat unbedingt brauchte, teilte man ihm lustlos, von oben her, beiläufig das eine oder andere mit. Ja, einmal, wie er sich leise etwas weiter vortastete, schnauzte ihn der Herzog grob an, er solle solche Spioniererei ein für allemal lassen. Wenn es Zeit sei, mit dieser Katze durch den Bach zu fahren, werde man es ihm, vielleicht!, sagen.
Karl Alexander, rascher als er erhofft und völlig wiederhergestellt, war groß tätig und gut gelaunt. Dazu kam, daß die von dem Würzburger erwirkte Versöhnung mit Marie Auguste die erwünschten Folgen gehabt hatte; die Herzogin war schwanger. Das Land hörte diese Botschaft mißvergnügt. Wäre der Herzog kinderlos gestorben, so wäre die protestantische Linie wieder ans Regiment gekommen; so aber sah man sich Rom und den Jesuiten aufs Unabsehbare ausgeliefert. Die angeordneten Bittgottesdienste für die Herzogin waren schlecht besucht; nur wer mußte, kam.
Aber der Herzog freute sich täppisch. Er sprach jedem von dem zu erwartenden Erben, breites Vergnügen über dem fleischigen, sanguinischen Gesicht, er machte derbe Witze, umgab Marie Auguste mit plumpen Rücksichten. Der war diese Schwangerschaft durchaus nicht gelegen gekommen. Sie fürchtete die Entstellung, sie fürchtete auch sonst Behinderung durch das Kind, sie hatte Angst und Ekel vor der Entbindung; überdies erschien ihr Mutterschaft an sich als etwas Genantes, Plebejisches, einer Aristokratin nicht Anstehendes. Sie dachte auch daran, die Schwangerschaft beseitigen zu lassen, ja, sie machte schon dem Doktor Wendelin Breyer Andeutungen solcher Art. Doch der Medikus verstand sie nicht oder wollte sie nicht verstehen. Mit weitläufigen, entschuldigenden Bewegungen sprach er mit seiner hohlen, angestrengten Stimme vom Glück der Mutterschaft, er bezog sich auf die Antike, erwähnte die Mutter der Gracchen und jene andere Heldenmutter, die ihren Sohn lieber auf dem Schild als ohne ihn zurückkehren sehen wollte. Seufzend, in Gedanken auch an die simpel generalsmäßige Einstellung des Herzogs, gab Marie Auguste es auf.
Gierig hingegen und angenehm übergruselt hörte sie zu, wie Süß gelegentlich von Lilith erzählte, der Dämonenkönigin. Diese, die langhaarige, geflügelte, Adams erste Frau, hatte Streit mit ihrem Gatten; denn er war ihr beim fleischligen Verkehr nicht so zu Willen, wie sie es verlangte. Da sprach sie mit schwarzer Kunst den verbotenen Gottesnamen und flog nach Ägypten, dem Land alles bösen Zaubers. Seither, hassend Eva und jede gesunde Ehe, bedroht sie Wöchnerin und Säugling mit Fluch und argem Schaden. Doch es ereilten sie in Ägypten die drei Engel, die Gott ihr nachgesandt, Senoi, Sansenoi und Semangelof. Zuerst wollten sie sie ertränken; dann aber ließen sie sie frei, nachdem sie mit dem Eid der Dämonen hatte schwören müssen, keine Wöchnerin zu schädigen und keinen Säugling, die durch die Namen der drei Engel geschützt sind. Deshalb schützen die jüdischen Frauen ihr Wochenbett durch Amulette mit den Namen der drei Engel.
Gekitzelt, leise überschauert, fragte die Herzogin vertraulich den Juden, ob er ihr nicht ein solches Amulett beschaffen könne. Gewiß könne er das, versicherte er eifrig ergeben. Sie erzählte dann bei Gelegenheit ihrem Beichtvater davon, dem Pater Florian. Der verwarnte sie wild und dringlich. Aber sie beschloß dennoch, sich das Amulett geben zu lassen. Besser war besser, und nach Benützung konnte sie es ja beichten.
Im übrigen nahm sie ihre Schwangerschaft nach der ihr gemäßen Art in einer leichten, spöttischen Manier. Sie gab sich wie jemand, der, in leichtem Sommergewand in ein Gewitter geraten, die durchnäßten Kleider gegen Bauerntracht vertauscht und sich jetzt über solche Mummerei überlegen amüsiert.
So saß sie am Weihnachtsabend gebrechlich und ziervoll, ganz in weißen, hauchenden Spitzen, aus denen überzart in der Farbe alten, edlen Marmors der Eidechsenkopf unter dem strahlend schwarzen Haar spitzbübisch züngelte. Um sie her die kleine Assemblee der Vertrauten, die für den Christabend geladen waren. Der Herzog hatte den Süß ausschließen wollen. Aber Marie Auguste hatte mit ihrem amüsanten und galanten Hofjuden, seitdem er ihr jene Geschichte von dem Amulett gegen die Lilith erzählt hatte, ein besonderes, heimliches und wortloses Einverständnis und wollte ihn auch an diesem Abend nicht missen. Er empfand es gerade in der Isolierung dieser Zeit als Genugtuung, zugezogen zu werden. In ehrlicher Dankbarkeit verehrte er der Herzogin als Präsent eine sehr hübsche Gemme, in die ein gefatschter Säugling geschnitten war, und eine ziervolle chinesische Kinderklapper aus Porzellan und Elfenbein; äußerst fein geschnitzte bezopfte Männer kletterten den Stiel hinauf mit beweglichen Köpfen, und winzig kleine Pagoden läuteten und klapperten. Als drittes aber mit einem Lächeln voll Geheimnis und Verehrung überreichte er ihr ein kleines goldenen Etui; sie wußte, darin war das Amulett.
Doch die anderen, mißvergnügt, daß Süß noch immer so fest in Gunst stand, empfanden ihn gerade an diesem Abend als Eindringling und fielen mit plumpen, bösartigen Späßen über ihn her. Der Herzog, ein Wort Remchingens aufnehmend, mahnte Marie Auguste, sie solle sich nicht an dem Juden versehen, daß Württemberg keinen krummnäsigen Herzog bekomme. Marie Auguste lächelte nur. Heimlich streichelte sie das kleine Etui; heimlich, von den anderen ungesehen, nahm sie das Amulett heraus, betrachtete es: ein Pergamentstreifen, mit roten, blockigen hebräischen Buchstaben beschrieben; dazwischen schlangen sich, zackten sich beunruhigend krause Figuren, hockten komisch und bedrohlich primitive Vögel.
Süß hörte indes Sticheleien und grobe Attacken mit der gleichen aufmerksamen und gelassenen Verbindlichkeit an. Später dann wandte er sich an den Herzog und Weißensee, er habe gehört, wie der Herzog und der Herr Kirchenratsdirektor gelegentlich über den katholischen und den evangelischen Text des Weihnachtsevangeliums debattiert hätten, ob die evangelische Lesart: »und den Menschen ein Wohlgefallen« oder die katholische: »den Menschen, die guten Willens sind« die richtige sei. Er freute sich, als kleines Weihnachtsgeschenk einen Beitrag zur Lösung dieses Problems beibringen zu können. Einigermaßen verblüfft sahen die Herren ihn an, auch die anderen schwiegen und horchten skeptisch und spöttisch auf, während Süß höflich und gleichmütig fortfuhr: seit dem Professor Baruch d’Espinosa, den der höchstselige pfälzische Kurfürst an seine Universität Heidelberg habe berufen wollen, hätten seine Glaubensgenossen sich eingehend mit dem wissenschaftlichen Studium auch des Neuen Testaments befaßt. Er habe nun wegen der besagten Textstelle an einen Geschäftsfreund nach Amsterdam geschrieben und folgende Auskunft erhalten. Im griechischen Text heiße es »eudokias«, was die Vulgata und die Katholiken richtig mit »bonae voluntatis, guten Willens« übersetzten. Erasmus aber habe seine Bibel nach einem Manuskript gedruckt, in dem fälschlich »eudokia«, ohne s, stand, und danach habe Luther: »ein Wohlgefallen« übersetzt. Erasmus wäre sicherlich auf den Fehler gekommen, wenn er nicht solche Eile gehabt hätte. Aber er hatte den Ehrgeiz, mit seinem Bibeldruck dem des Kardinals Ximenes zuvorzukommen. Darum also sei bei allem Respekt vor der Gelehrsamkeit des Herrn Kirchenratsdirektors das lutherische Weihnachtsevangelium hier nicht in Ordnung und Seine Durchlaucht hätten den rechten Text.
Süß brachte diese Erklärung bescheiden, höflich und sachlich vor. Was er sagte, war so einleuchtend, daß sogar von den Offizieren der eine oder andere es verstand; und Marie Auguste freute sich über die Gescheitheit ihres Hofjuden. Aber die anderen alle ärgerten sich, daß der Jude am Weihnachtsabend das Evangelium so sachkundig auseinanderblätterte, und Remchingen polterte, jetzt also schacherten die Juden nicht nur mit Wechseln und Juwelen, sondern auch mit dem Wort Gottes. Weißensee verbreitete sich über die Stellung der Frau im Alten und im Neuen Testament. Dies war ein Thema, in das er sich unter dem schmerzhaften Erkennen und Erleben der letzten Zeit auch in seinem Bibelkommentar wild verbissen hatte. Im Neuen Testament: die Madonna, im Alten: die tausend Weiber des Salomo. Er sprach glatt, elegant, geschmeidig, verbindlich, wie das seine Art war. Aber es klang irgend etwas Verstecktes, so Feindseliges durch, daß Magdalen Sibylle tief erblaßte und daß ihre Hand ganz kalt wurde.
Sie saß neben der ziervollen, launischen Marie Auguste schön und stattlich. Die Herzogin hielt ihre Hand, streichelte sie, es tat ihr wohl, mit ihrer kleinen, gepflegten, fleischigen Hand die große des Mädchens zu streicheln. Magdalen Sibylle rang von neuem und leidvoller um den Süß. Sie übersah nicht klar die politische Konstellation, aber sie sah, daß er sehr allein stand, sie sah lauter Feinde um ihn herum, er kam ihr vor wie ein schlanker, schmeidiger Panther unter plumpen, zottigen Bären. Und sie ahnte auch die seltsame Verstrickung zwischen ihm und dem Herzog und zwischen ihm und ihrem Vater.
Süß sagte leichthin, nach seinem Geschmack seien weder die Damen aus dem Alten noch die aus dem Neuen Testament. Die einen seien ihm zu heroisch, die anderen zu sentimentalisch. Und seine Augen glitten mit beredtem Schmeicheln von der Herzogin, deren neugierig lüsternes Wohlwollen ihn angenehm überrieselte, zu Magdalen Sibylle, die ihm willkommen fester Grund und Bestätigung war, von der rotblonden, pompösen Madame de Castro, der klugen Rechnerin, die, merklich kühler, die Mariage immer noch nicht ganz aufgegeben hatte, zu den süßen Damen Götz, die, genau nach dem Vorbild der Mutter die Tochter, sich dem Herzog noch immer weigerten.
Remchingen beharrte bei dem Thema von dem Alten Testament. In dem plärrenden Wienerisch, das er, der im Augsburgischen Geborene, sich angewöhnt hatte, weil er es für aristokratisch hielt, meinte er, nach dem Gemauschel, das man zuzeiten höre, müsse die Heilige Schrift im Urtext als recht ein ärgerliches und zuwideres Gequäke und Gegurgel klingen. »Glauben Sie, Exzellenz«, fragte sehr höflich Süß zurück, »daß unser Herrgott mit Adam im Paradies wird wienerisch oder daß er mit ihm wird hebräisch parliert haben?« Die Herzogin lachte, freute sich über ihres Juden feines Maulwerk, über Remchingens Abfuhr, streichelte verstohlen das Etui mit ihrem Amulett, ließ in ein Schweigen hinein die Glöckchen der Kinderklapper fein und zärtlich klingeln. Aber der Burggraf Röder erachtete es für nötig, dem Remchingen zu sekundieren. Er wandte sich an die Herzogin, es sei gut, daß Ihre Durchlaucht noch nicht soweit seien. Die Kinder, die heute nacht geboren würden, hätten nichts zu lachen. Und da war man denn endlich da, wo man schon lange hin wollte, und man sprach eingehend, umständlich und gewichtig, dieweil Süß zäh schwieg, von dem Eßlinger Kindermord. Die Offiziere vor allem hatte das Argument, daß das Mädchen in der Christnacht geboren war, durchaus überzeugt. Nur Herr von Riolles, der ein Freigeist war, meinte, wenn wirklich die Juden die in der Christnacht Geborenen gefährdeten, so hätte Jesus von Nazareth einfach eine andere Nacht sollen für seine Geburt wählen; dann wäre ihm das Kreuz, uns allen das Christentum erspart geblieben.
Indessen hatte der Geheimrat Pancorbo die Herzogin gebeten, die Geschenke des Süß näher betrachten zu dürfen. Mit seinen dürren, blauroten, gichtknotigen Fingern betastete er sie, nah an die Geiernase vor die starren, länglichen, tief in den Höhlen versteckten Augen führte er sie; dann äußerte er sich sachlich und eingehend über das wertlose Material der von Süß geschenkten Gemme und der Kinderklapper und daß es im Juwelenhandel Usus sei, solches Zeug umsonst dreinzugeben. Hämisch im Gegensatz wies er wieder einmal darauf hin, wie ungeheuren Wert der Solitär habe, den Süß selber am Finger trage, und aus ihren tiefen Höhlen blinzelten hinter faltigem Lid die schmalen Augen gierig nach dem Ring. Doch Marie Auguste verteidigte ihren Juden. Dies sei keineswegs alles, was er ihr geschenkt habe, sagte sie mit ihrer gleitenden, lässigen, leicht spöttischen Stimme, und sie wies das Amulett vor, und sie erzählte die Geschichte von Lilith, der Dämonenkönigin. Scheu und gekitzelt hörte man zu, beschaute man die primitiven, bedrohlichen Vögel, die blockigen, unheimlichen Buchstaben des Pergaments. Bis endlich Karl Alexander mit lautem, etwas gewaltsamem Lachen die Lähmung löste, gutmütig und lärmvoll spottend, sie werde noch Jüdin werden, und sie könne sich freuen, daß sie sich wenigstens nicht werde müssen beschneiden lassen.
Doch nach der Tafel nahm er den Süß beiseite, haute ihn auf die Schulter, war sehr gnädig. Das mit dem katholischen und evangelischen Text, wie er da eine so runde, einleuchtende Erklärung habe schaffen können, das sei sehr amüsant gewesen, und er sei doch ein Tausendsassa. Unvermittelt dann sprach er dem geschmeichelten Süß von dem Magus, ob man den nicht einmal könne wieder zu sehen kriegen. Er wisse schon, von wegen dem, womit er nicht habe herausrücken wollen. Süß, unbehaglich, wich aus. Karl Alexander bestand nicht, sagte, es sei ja wahr, dem Magus sei schwer beizukommen, er sei ein schwieriger Onkel. Aber eines müsse der Süß ihm schaffen: ein Horoskop von dem Magus über das, was er sich für die Zukunft von den Frauen Böses oder Gutes zu versehen habe. Nach der Affäre mit der Napolitanerin, nach dem Auf und Ab mit der Herzogin, bei dem blöden, zimpferlichen Getue der Damen Götz wolle er darüber was wissen. Es sei nur recht und billig, daß ihm der Süß von dem Kabbalisten das Horoskop darüber stellen lasse. Nachdem er der Herzogin das Amulett beschafft habe, werde er ihm wohl auch den Gefallen tun; und nachdem er so Schwieriges beigebracht habe wie jene Bibelerklärung, müsse ihm das doch ein leichtes sein. Süß konnte nicht wohl ablehnen, zauderte, gab nach.
Man trennte sich bald. Die katholischen Herrschaften wollten noch in die Schloßkapelle zur Mette. Weißensee bat den Süß, ihn begleiten zu dürfen.
Die Herren schickten die Wagen voraus, gingen zu Fuß. Die Nacht war lau, starker, erregender Wind ging. Weißensee kam auf sein Thema zurück, wie seltsam es sei, daß die morgenländischen Geschichten sich nun im ganzen Erdteil so fest angesiedelt hätten. Er sprach vom deutschen Wald, wie kurios es sein müßte, wenn man dahinein plötzlich so irgendein morgenländisches Gebäu stelle. In seiner Gegend, im Wald von Hirsau, habe ein Holländer diese sonderbare Intention gehabt. Unter solchen Reden war man vor dem Haus des Juden in der Seegasse angelangt, und der Kirchenratsdirektor verabschiedete sich besonders umständlich und verbindlich. Sowie sein Bibelkommentar, in dem die liebenswürdige Auskunft des Süß eine besondere Stelle finden werde, fertig sei, werde er sich die Ehre geben, dem Herrn Finanzdirektor mit als erstem ein Exemplar zu überreichen.
Süß schritt durch die matterleuchtete Vorhalle. Es klang ihm in den Ohren: O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Auf leisen Sohlen erschien der Kammerdiener, ob er Seine Exzellenz schon auskleiden dürfe. Süß winkte ab. Er konnte nicht schlafen. Lag ihm der Föhn im Blut? Und was der alte Fuchs da gesagt hatte von Hirsau, es klang ja sehr harmlos, auch war ja das Haus des Oheims eigentlich nicht morgenländisch; aber war in den Worten des Weißensee nicht doch ein Hinterhalt?
Er setzte sich an seine Akten. Allein die Ziffern schauten ihn nicht mit der kalten Sachlichkeit an wie sonst. Das krause Gerank des weißen Hauses mit seinen Blumen hängte sich an sie. Er warf den Kiel weg, ging auf und ab in splitternden, unbehaglichen Gedanken, während ringsum die Glocken der Mette läuteten.
Isaak Landauer saß in unschöner, unbequemer Haltung in einem der prunkvollen Sessel des Süß. Man hatte die geschäftlichen Dinge zu Ende gesprochen, und Süß, durch die schmuddelige Gegenwart des anderen gereizt, wartete nervös auf seinen Aufbruch. Doch Isaak Landauer traf keinerlei Anstalt, er strähnte sich den rotblonden, verfärbten Bart und sagte: »Ja, der Prozeß gegen den Reb Jecheskel Seligmann Freudenthal ist also in vier Wochen. Unbehaglich, Reb Josef Süß. Muß Euch sein besonders unbehaglich. Da habt Ihr Eure Lakaien, Eure Chineser, Euren goldenen Rock, Euren Papagei. Aber die Eßlinger spucken Euch drauf und bringen um den Reb Jecheskel Seligmann Freudenthal.« Da der andere schwieg, fuhr er fort: »Wenn ich Euch gesprochen hab von dem Ravensburger Kindermord, habt Ihr gemacht ein Gesicht, hoffärtig wie ein Goi, und habt gesagt: alte Geschichten. Jetzt seht Ihr’s mit Euren alten Geschichten, jetzt springt Euch das Schlamassel an den eigenen Hals.«
Aber Josef Süß schwieg zäh. Als die ersten Nachrichten gekommen waren von den Maßnahmen der Eßlinger, hatte er natürlich sogleich erkannt, daß sie gegen ihn gerichtet waren, nur gegen ihn. Er wollte zufahren, zwang sich, seinen Zorn zu überschlafen, das Für und Wider eines Eingreifens in aller Ruhe zu überdenken. Nahm er Partei für den Jecheskel Seligmann, so gefährdete er seine Nobilitierung und die Mariage mit der Portugiesin, beschwor tausend aufreibende Kämpfe mit dem Parlament herauf, mußte als Kompensation mannigfache Vorteile gegen die Eßlinger preisgeben. Somit war seine Taktik klar. Er kannte den Juden Jecheskel Seligmann nicht. Wenn die Eßlinger, bloß um ihn zu ärgern, ihre Justiz durch einen offenbaren Fehlspruch kompromittieren wollten, mochten sie es. Ihre Sache. Er wird sich nicht einmengen. Streng neutral bleiben. Eisern schweigen.
Demgemäß handelte er. Beschränkte sich auf wirksame Schutzmaßnahmen für die von ihm im Herzogtum zugelassenen Juden und ihre etwas zweifelhaften Rechte. Ließ sich im übrigen durch keine Stichelei und keinen Hohn aus seiner Passivität herauslocken.
Auch für die Reden Isaak Landauers, so sehr sie ihn ägrierten, hatte er keine Antwort. Doch der andere beharrte eigensinnig: »Ich hab aufgekauft mit ein paar anderen alle Schuldforderungen an die Stadt Eßlingen. Besteht sie auf dem Prozeß, komme ich acht Tage vorher mit meinen Obligationen. Läßt sie nach, laß ich nach. Drückt sie zu, drück ich zu. Aber man kann nicht wissen«, schloß er bekümmert und rieb sich die fröstelnden Hände. »Diese Gojim sind geschlagen mit aller Bosheit und Dummheit. Wenn es gegen einen Juden geht, wollen sie Blut lieber als Geld. Und Ihr, Reb Josef Süß?« fragte er endlich geradezu, da sonst kein Wort aus ihm herauszupressen war.
Süß, lang vorbereitet, erwiderte ablehnend: »Ich kenne den Juden Seligmann nicht. In meinem Bezirk werde ich mich zu schützen wissen.«
Aber Isaak Landauer erregte sich: »Kennt nicht! Werdet Euch zu schützen wissen! Was heißt das! Sitzt da mit seinen Lakaien, seinem goldenen Rock, seinen Chinesern und kennt nicht! Wird sich zu schützen wissen! Laßt Euch sagen von einem alten Geschäftsmann: Wozu ist gut das ganze Gelump, wer glaubt Euch das ganze Gelump, wer läßt sich dumm machen davon, wenn Ihr nicht könnt schützen den Reb Jecheskel Seligmann Freudenthal?« Und er schwenkte aufgebracht die Hände vor dem Gesicht des anderen, sein Kaftan flatterte zornig. »Papagei, Gobelins, Steinköpfe! Wozu sind gut Steinköpfe?« höhnte er giftig. »Moses der Prophet und Salomo der König haben ihrer Lebtage nicht ausgeschaut wie Eure weißen Steinköpfe! Und die Augen haben sie auch nicht immer zu gehabt. Sonst hätten sie es nie so weit gebracht.« Und er starrte, empört durch das gelassene Schweigen des anderen, hitzig vor sich hin.
»Ein guter Jud wird sich hüten, mit Euch in Zukunft zu machen Geschäfte«, spielte er plötzlich starr, lauernd, bösartig seinen letzten Trumpf aus. Aber Süß achselzuckte nur: »Ich lasse mir nichts abpressen«, und wandte ein feindseliges, hochfahrendes Gesicht weg. Es blieb Isaak Landauer nichts übrig, als vor sich hin kläffend, heftig den schütteren Bart strähnend, zu gehen.
Einige Wochen später, der Eßlinger Prozeß mußte nun bald stattfinden, standen im Vorzimmer des Süß zehn jüdische Männer, an der Spitze Jaakob Josua Falk, der kleine, welke Rabbiner von Frankfurt mit den eingesunkenen Augen, mit ihm der Pfleger und die drei angesehensten Vorstände seiner Gemeinde, und eine Deputation der Fürther Juden, gleichermaßen zusammengesetzt. Sie waren in Freudenthal zusammengetroffen, wo seit den Zeiten der Grävenitz eine kleine jüdische Gemeinde saß, sie hatten die Frau des Jecheskel Seligmann aufgesucht; doch die war stumpf und keiner Tröstung erreichbar. Sie waren dann, vom Volk bösartig angeknurrt, nach Stuttgart gefahren, bei dem widerwilligen Judenwirt abgestiegen. Sie hatten in großer und umständlicher Ordnung gebetet, früh, nachmittags und am Abend, denn zehn Männer bildeten eine Gemeinde, in der alle Feinheiten und Umwege der Gebetsordnung abgewandelt werden konnten. Sie waren feierlich vor der Rolle der Heiligen Schrift gestanden, die sie mit sich schleppten, sie hatten sie geküßt, erregt und gesammelt, eingehüllt in ihre Gebetmäntel, die Riemen an Herz und Hirn, das Gesicht gerichtet gegen Osten, gegen Zion. So hatten sie mit Händen, Lippen und allen Gebeinen in großer, flackernder Not und Andacht gebetet. Und nun standen sie matt und erregt, in Schläfenlocken und schwerem Kaftan, den spitzen Judenhut auf dem Kopf, den Fleck am Ärmel, im Vorzimmer des Süß zwischen Büsten, Stuck, Gobelins, Gold und Lapislazuli. Sie schwitzten und sprachen nur selten ein flüsterndes, heiser gurgelndes Wort. Eine Spieluhr schlug die volle Stunde und spielte eine dünne, silbern rieselnde Melodie, und sie warteten, bis der Geheime Finanzienrat sie vorlassen würde.
Es fasteten aber an diesem Tag alle Juden in Deutschland, so über dreizehn Jahr alt waren, achtzigtausend an Zahl.
Süß hätte die Deputation am liebsten nicht empfangen. Diese Leute waren töricht. Sie mußten sich doch selber sagen, wenn er hätte eingreifen wollen, hätte er es von alleine getan. So konnten sie ihn nur kompromittieren. Das Parlament wies immer energischer auf die längst nicht mehr beachteten, aber formal noch gültigen Gesetze hin, die die Anwesenheit von Juden im Herzogtum nur in Sonderfällen und mit vielen Verklausulierungen erlaubten. Von dem Herzog hatte er nicht mehr erlangen können als eine Erklärung, was seinen Finanzdirektor und die von diesem zugelassenen Juden anlange, so lasse er sich die Hände nicht binden; im übrigen möge es bei den alten Vorschriften bleiben. Die Landschaft hatte daraufhin, den Eßlinger Fall nützend, diese alten, strengen Vorschriften neuerlich und mit Nachdruck veröffentlicht. Seltsam war, daß an der Spitze dieser Agitation im Parlament Weißensee stand. Wollte er seine katholische Intrige hinter dem Kampf gegen die Juden verstecken?
Jedenfalls war unter solchen Umständen die jüdische Deputation überflüssig, wenn nicht schädlich. Andererseits waren es die angesehensten Männer deutscher Judenheit, die ihn zu sprechen wünschten; er mußte sie wohl empfangen. Hätte er ihrer Bitte stattgeben können, so hätte es ihm geschmeichelt, sie großartig als Schutzflehende anzuhören. So empfing er sie ungern, fest gewillt, sie mit einem hinhaltenden Bescheid zu entlassen.
Eintraten die zehn jüdischen Männer, ungelenk, scharrend, hüstelnd, umständlich, das kleine Kabinett sehr füllend. Schlank, elegant, gemessen stand Süß den Schwerfälligen, Schnaufenden, Sich-bewegt-Wiegenden gegenüber.
Es sprach Jaakob Josua Falk, der Rabbiner von Frankfurt: »Wir haben uns zusammengetan, die ganze Judenheit, und haben gewirkt mit Geld und mit Präsentern. Aber es hat nicht wollen fruchten. Denn das Volk ist sehr verhetzt, der Rat von Eßlingen will seine Judenheit schinden; es ist wohl auch, um Euch zu ärgern, weil Ihr so mächtig seid bei Eurem Herzog. Die Bosheit der Frevler ist groß, die Tücke Edoms hebt sich mächtig auf gegen Israel. Sie frißt Geld, aber sie wird nicht sanfter.«
Da Süß nicht antwortete, sondern abwartend schwieg, begann der Rabbiner von Fürth, ein beleibter, bekümmerter, behaarter Mann: »Es ist keine Hilfe mehr, Reb Josef Süß, nur bei Euch. Der Reb Jecheskel Seligmann Freudenthal ist zuständig nach Württemberg. Wir bitten Euch, daß Ihr verlangt seine Auslieferung an den Herzog, daß seine Sach kann verhandelt werden nach württembergischem Recht. Es ist keine andere Hilfe mehr«, schloß er, dringlich fordernd, gurgelnd, nah an Süß heranrückend.
Der lehnte an seinem Schreibtisch, höflich, elegant, unberührt. »Der Jud Jecheskel Seligmann«, erwiderte er sachlich, »hat keinen ordentlichen Konsens von mir, er steht nicht in meinen Listen; es ist zweifelhaft, ob er nach dem Herzogtum zuständig ist. Die Stadt Eßlingen wird opponieren bei Kaiserlicher Majestät in Wien, die Landschaft wird sich dreinmelieren. Es ist nicht opportun, daß ich seine Auslieferung verlange.«
»Nicht opportun!« eiferte der Rabbiner von Fürth. Aber der kleine, welke, milde Rabbiner von Frankfurt fiel ihm ins Wort: »Ihr habt viel für uns getan. So haben wir gehofft, daß Ihr uns werdet helfen auch diesmal, damit nicht vergossen werde dies unschuldige Blut.« Doch der dicke, hitzige Rabbiner von Fürth ließ sich nicht beschwichtigen. »Nicht opportun!« erregte er sich. »Ein Menschenleben retten, einen Juden retten, der nichts getan hat, nur daß er Jud ist, nicht opportun!«
»Ihr seht immer nur eins, Rabbi unser Lehrer«, erwiderte Süß, und er blieb höflich und ruhig und gab ihm seinen Titel. »Ich muß weiter sehen, Zusammenhänge sehen, Zukunft sehen. Gesetzt den Fall, ich könnte den Reb Jecheskel Seligmann retten, dann müßte ich solche Rettung bezahlen mit Konzessionen an die Stadt Eßlingen, an den Kaiser. Ich kann mir solche Mildherzigkeit nicht gestatten. Ihr habt Euer simples, klares Prinzip: da ist ein Jud, der soll nicht sterben. Ich darf nicht so einfach handeln; ich muß rechnen, zählen, wägen. Ihr habt bloß Eure jüdischen Sorgen, ich hab tausend andere.«
Mit seiner milden, zittrigen Stimme erwiderte Jaakob Josua Falk, der Rabbiner von Frankfurt: »Wie viele in Israel gäben ihr ganzes Hab und Gut und mehr als das, um zu verhüten, daß dies unschuldige Blut vergossen werde. Ihr könnt es hindern mit einem einzigen Federstrich. Sperrt Euer Herz nicht zu, Reb Josef Süß!« Und der feiste Rabbiner von Fürth fügte hinzu: »Wollt Ihr die ganze Judenheit im Stich lassen, weil Ihr Angst habt vor ein paar schalen Redereien, die sie könnten machen in der Landschaft?«
Süß lehnte noch immer am Schreibtisch, schlank, höflich, elegant, und seine Ruhe war ein Damm gegen die Erregung der anderen, die schnaufend und sehr bewegt das kleine Kabinett füllten. Aus seinen wölbigen, braunen Augen schickte er einen raschen, bösen, hochmütigen Blick zu dem dreisten, eifernden Rabbi; aber er hatte sich sogleich wieder im Zaum und erwiderte gelassen: »Ich hab genug für die deutsche Judenheit getan, daß jeder sieht, es fehlt mir nicht an gutem Willen. Wäre ich Christ geworden, hätte ich mich abgekehrt von der Judenheit, nach dem römischen Kaiser wäre ich heute der erste Mann im Reich. Aber ich war nicht feig, ich hab mich hingestellt vor die Judenheit, ich hab es nicht hinausgebrüllt, aber ich hab es auch nie geleugnet, daß ich ein Jud bin.«
»Dann bekennt Euch jetzt dazu! Jetzt, jetzt!« gurgelte zufahrend, drängend, den schweren, behaarten Kopf vorstoßend, der Rabbiner von Fürth.
Doch Süß, mit größerer Kälte, sagte: »Ihr könnt doch sonst wägen, messen. Meßt doch! Wägt doch! Schaut weiter als in den Augenblick! Den Reb Jecheskel Seligmann Freudenthal anfordern? Ich wäge in der rechten Hand seinen Tod, in der linken die Verdrießlichkeiten, Schimpf, Gefahr, Komplikationen, die mich treffen, wenn ich ihn salviere.« Er hielt ein, schaute ruhig in die zehn Gesichter, die aufmerksam, erregt, gespannt in seines starrten. Er schloß leichthin: »Ich will mich heute nicht entscheiden. Aber es ist leicht möglich, daß, wäge ich so, ich keinen Sturm riskiere wegen einer Lappalie.«
Auffuhren die Männer da. Empört fuchtelten Hände durch die Luft, öffneten sich Münder. Kleine Rufe: Ai! ai! Aufgebrachte, sich überstürzende, halbe Sätze. Gurgelnd, drohend darüber die unschmiegsame, ungebärdige Prophetenstimme des Rabbiners von Fürth: »Lappalie! Ein Mensch wie Ihr, ein Jud, Euer Bruder, wird gemartert, soll hingerichtet werden voll Qual und Schmach, um nichts und wieder nichts. Mir steht das Herz still, wenn ich dran denke, daß ich soll müßig zuschauen. Und Ihr achselzuckt: Lappalie!« Und er drang schnaufend, feist und zornig auf ihn ein.
Aber der kleine Rabbiner von Frankfurt schob ihn zurück. Mit seiner sehr alten, sanften Stimme sagte er: »Wir wollen Euch nicht drängen, Reb Josef Süß, wir wollten Euch nur bitten. Gott hat Euch sichtbarlich erhöht wie noch nie einen Juden in Deutschland. Er hat das Herz Eures Fürsten wie Wachs gemacht in Eurer Hand: wollet nicht das Eure verhärten vor der Not Eurer Brüder!«
Die anderen waren ganz still geworden, während der alte Mann mit seiner nicht lauten Stimme dies sagte. Auch der Rabbiner von Fürth schwieg. Süß, nach einem Schweigen, erwiderte, und seine Stimme klang weniger sicher als sonst: Er habe ja keineswegs abgelehnt, einzugreifen. Bloß, wenn er nach reiflichem Erwägen nicht intervenieren könne, sollten sie ihn nicht für bösen Willens halten und seine Gründe verstehen.
Damit gingen sie, und er geleitete sie höflich durch das Vorzimmer.
Allein geblieben, ärgerte er sich. Er war wärmer geworden, als er beabsichtigt hatte. Er hatte ihnen einen Teil seiner wirklichen Gründe gezeigt. Warum eigentlich und wozu? Er hätte kühler, höflicher bleiben sollen, wie er es in wichtigeren und schwierigeren Unterredungen hundertmal gewesen war. Hier war doch eigentlich jedes Wort klar vorgeschrieben gewesen. Er hätte mehr und unverbindlicher versprechen sollen. Sie sind ja doch nicht zugänglich für feinere Argumente. Sie stieren zäh und wie behext immer auf das eine: sie wollen ihren lumpigen Jecheskel Seligmann salviert haben.
Er ging in immer dickerer Verdrießlichkeit in seinem Kabinett auf und ab. Daß sie so gar nichts begriffen! Hatte er ihnen nicht in Frankfurt ungeheure Spenden zukommen lassen? Förderte er nicht, wo er konnte, ihren Handel? Schaffte hier, dort, überall Erleichterungen? Wenn heute gegen die Landesgesetze mehrere hundert Juden im Herzogtum saßen, des war er alleinige Ursach. Wie hatten sie damals in Frankfurt ihn hofiert und die Hände vor ihm zusammengeschlagen! Und jetzt galt das alles nicht mehr, und sie wollten seine Verdienste nicht sehen, nur weil er ihnen in dem einen Fall nicht zu Willen sein konnte. Die Undankbaren! Sie verstanden nicht und würden nie verstehen, welches Opfer er eigentlich mit seiner Zugehörigkeit zu ihnen brachte. Man sollte wirklich, weiß Gott, weiß Gott, schon um es ihnen zu zeigen, sollte man sich taufen lassen.
Immerhin, es wäre ein angenehmes Gefühl gewesen, ihnen seine Allmacht auch diesmal zu präsentieren. Es traf sich zu dumm, daß er den Eßlingern ihren Juden nicht ohne weiteres entreißen konnte. Sicherlich wird er in Zukunft der ganzen Judenheit viel weniger imponieren. Dies nagte an ihm.
Er beschloß mit aller Energie, nicht mehr daran zu denken. Stürzte sich in Arbeit. Entfesselte einen neuen Wirbel von Frauen um sich her. Aber seine Nächte waren schlecht. Er träumte, vor ihm gehe ganz langsam und feierlich der Hinrichtungszug mit dem Juden Jecheskel Seligmann Freudenthal. Er, Süß, brauste auf seiner Schimmelstute Assjadah hinterdrein, wollte den Zug zum Stehen bringen. Aber so langsam der Zug unmittelbar vor ihm dahinschlich und so sehr er seine rasche Stute spornte, er konnte und konnte ihn nicht einholen. Er schrie, winkte heftig mit den Einspruchsakten. Aber es war großer Wind, und die vor ihm gingen und gingen. Plötzlich war Dom Bartelemi Pancorbo da. Mit seinem entfleischten Gesicht, die eine Schulter hoch, in seiner großen, verschollenen Halskrause stand er vor ihm, sagte, wenn er den Solitär an seinem Finger gebe, werde er den Zug zum Halten bringen. Süß war, schwitzend und bekümmert, einverstanden. Aber wie er den Ring vom Finger ziehen wollte, saß der wie eingewachsen, und Dom Bartelemi sagte, ja, da müsse er eben die Hand abhacken.
Darüber erwachte Süß, unerquickt und mit Kopfschmerzen. Wenn er noch so müde war, hatte er jetzt Angst vor dem Schlaf. Denn der Reb Jecheskel Seligmann Freudenthal, der seine von Arbeit und Frauen berstenden Tage nicht behelligte, schlich sich in seine kurzen, unerfreulichen Nächte.
Vor dem erschreckten, in sich zurückgescheuchten Süß hockte mürrisch Rabbi Gabriel. Saß da, dicklich, vergrämt, die drei scharfen, senkrechten Falten in der Stirn. Erzählte mit kargen, altfränkischen, vieldeutigen, bedrohlichen Worten.
Es waren also Gerüchte zu dem Kind geflogen, böse, ätzende Gerüchte über Süß. Das Kind hatte nicht gesprochen, aber das Kind war aus seiner Ruhe, getrübt. Süß, erschreckt, ängstlich: Was er denn tun könne? Und Rabbi Gabriel mürrisch, grimmig: Hier nützten Worte nichts, Ausflüchte nichts. Stellen müsse er sich dem Kind. In seinem Gesicht lesen lassen müsse er das Kind. Vielleicht, setzte er höhnisch hinzu, entdeckte das Kind mehr als er, der Rabbi. Vielleicht finde es mehr in dem Antlitz des Süß als Fleisch und Haut und Knochen.
Den Süß, wie er allein war, hob es hoch, tauchte es hinunter. Warf es, den Umgewühlten, hin und her. Dabei war er, im Grund, von Anfang an entschlossen. Dabei kam ihm, im Grund, diese gefährliche und höhnische Forderung des Rabbi als Zeichen und großes Licht und sehr erwünscht.
Dem Kind sich stellen, dem Kind ein Gesicht zeigen, rein und leuchtend von innen her. Er war abgebrüht und hielt sich gemeinhin an das, was man sehen und tasten konnte, aber daß solche Nötigung just in diesem Augenblick kam, das mußte auch dem Zweifelsüchtigsten Wink und Zeichen sein. Er war kein Hundsfott, sicher nicht, er konnte sich sehen lassen, jederzeit und vor jedermann, und wenn es wirklich einen Gott geben sollte, der prüfte und Buch führte und Wechsel zog: er konnte beruhigt sein und brauchte vor Saldo und Tratten keine Angst zu haben. Immerhin, wenn er sich jetzt dem Kind stellen soll, so ein Kind hat sonderbare Augen, es sieht immer bloß Blumen und lichten Himmel, es hat keine Ahnung von menschlichen Komplikationen, und es sieht vielleicht Makel und Schmutz, wo unsereinem Herz und Hände leidlich sauber scheinen. Und wenn bereits Gerüchte zu ihr geflogen sind, wenn sie von vornherein voll Angst und Zittern ist, dann ist es sicher geraten, sich nochmals gründlich zu säubern, eh daß man vor sie hintritt.
Er geht, den Kopf gesenkt, die schlemmerischen Lippen aneinanderreibend, die Arme sehr straff, auf und ab. Er ist, Teufel noch eins!, nicht der Mann, Opfer zu bringen. Er schenkt ringsumher, er verstreut rings um sich, weil er generös ist und ein großer Herr und Kavalier. Aber Opfer? Ihm hat auch noch niemand Opfer gebracht, im Leben geht es hart auf hart und Keil auf Klotz, und wer Bangen hat und weichmütig ist, muß unten bleiben und sich auf den Kopf speien lassen. Er hat kein Bangen, vor murrender Populace nicht und vor frechen großen Herren nicht und vor keinem Parlament und keinem eventuellen Herrgott nicht. Dennoch: in diesem einen Fall ein Opfer zu bringen, es wäre ein kitzelnd wollüstiger Schmerz, man könnte dann vor das Kind hintreten, blitzblank, und auch ein Aug, das nur Blumen gewohnt ist und lichten Himmel, könnte kein winziges Staubkorn an einem finden.
Aber was alles schwämme hinunter, wenn er das Opfer brächte! Es war sinnlos, es war, nahm man es politisch, barer Widersinn, den Jecheskel Seligmann zu salvieren, nur um ein paar krause Gedanken des Kindes wegzujagen. Die Mariage mit der Portugiesin schwämme hin, die Nobilitierung schwämme hin, ein gut Stück Grund und Boden, darauf er stand, schwämme hin. Nein, nein! Und wenn es auch vielleicht Zeichen und Wink war, er wird sich nicht soweit nachgeben, er wird nicht um eine kindische Laune soviel blutig Erkämpftes einfach hinschmeißen.
Im Grund wußte er, daß er es tun wird. Im Grund wußte er es von dem ersten Augenblick an, da er Rabbi Gabriel sah. Während er sich bejammerte und sich sentimental streichelte, welche Opfer man von ihm postuliere, war in seinem heimlichsten Winkel ein großes Aufatmen. Und er hatte harte Mühe, gewisse nebelhaftige Vorstellungen, die immer wieder in ihm heraufdrängten, nicht allzu greifbare Bilder werden zu lassen: wie er nun doch fortan der ganzen Judenheit imponieren wird, wie er überall in Europa als erster der Juden im Römischen Reich wird erhöht und gepriesen werden, wie er das Einmalige und Unausdenkliche wird zu Rand bringen, als einzelner Jude einer ganzen christlichen Stadt einen verfallenen Menschen zu entreißen.
Und während dies eitel und schwellend in ihm hochdrängte, hatte er Mühe, sich selber die schwere Größe so opfermütigen Entschlusses vorzuspielen.
Andern Tages ging er zum Herzog. Er machte weniger Umschweife als sonst, war weniger servil, forderte dringlicher. Er betonte, es vertrage sich nicht mit der Dignité des Herzogs, daß er den Eßlingern seinen Juden so ohne weiteres überlasse; auch seine, des Süß, Autorität leide unter den kontinuierlichen Hohn- und Stichelreden der insolenten Eßlinger. Karl Alexander fuhr ihn barsch an, er solle ihn in Frieden lassen mit seinen blöden Judengeschichten, er habe genug Scherereien davon mit seinem Parlament, er sei als Judenzer im ganzen Reich verschrien, und jetzt solle er sein freches Maul halten. Doch Süß, gegen seine Gewohnheit, bestand auf seinem Thema, er ließ durchaus nicht locker, er häufte, trotzdem der Herzog ihn erneut anschrie, die Argumente. Er verlangte, daß zumindest Johann Daniel Harpprecht, der erste Jurist des Landes, gutachtlich gehört werde über die Kompetenz des Eßlinger Gerichts, wenn anders er, Süß, seine mühevollen und gefährlichen Arbeiten für den Herzog fortführen solle. Denn würde weiter seine Autorität durch die Eßlinger in gleichem Maße geschwächt, so müsse er submissest um Enthebung von seinen Funktionen bitten. Karl Alexander, hochrot und schnaufend, brüllte ihn an, er solle sich scheren.
Süß entfernte sich vergnügt und lächelnd. Er wußte, dies war Phrase; morgen wird der Herzog tun, als ob nichts gewesen wäre. Karl Alexander konnte ihn nicht entbehren, mußte ihm willfahren, mußte ihm den Gefallen tun. Er teilte also tags darauf dem Rabbi Gabriel mit, daß er die Befreiung des Jecheskel Seligmann so gut wie erwirkt habe, spreizte sich, prahlte, welch ungeheure Last er dafür auf sich nehme. Während er dies weitläufig prunkend dem steinern schweigenden Kabbalisten auseinandersetzte, polterte unwirsch, von der Parade kommend, in großer Uniform mit Stern und Band der Herzog ins Kabinett. War es Zufall, daß er hier mit dem Magus zusammenstieß? Hatte er von seiner Gegenwart gehört und wollte es machen wie damals in Wildbad? Jedenfalls war er nun da und füllte das Kabinett mit Lärm und Prunk und Getöse. Ei, wie habe er sich kostbar, schrie er mit gemachter Lustigkeit dem Magus zu. Oder ob er es überhaupt verweigere, Unbeschnittenen das Horoskop zu stellen? Süß vermittelte, beschwichtigte. Es handle sich um das Horoskop von wegen der Frauen, er habe ja dem Oheim mehrmals dringlich geschrieben. Er hatte zwar nur einmal geschrieben, und da nur tastend, leise andeutend; doch Rabbi Gabriel wußte, worum es ging. Allein er schwieg. Sah dem drängenden, langsam sich verdüsternden Herzog ins Gesicht und schwieg. Schließlich setzte Karl Alexander von neuem an und fragte, immer mit gemacht überlegener Scherzhaftigkeit, ob etwa seine Frauengeschichten zusammenhingen mit dem fatalen Ausgang, den der Magus bei ihrem Zusammentreffen vorausgesagt, oder recte, vorausverschwiegen. Der Herzog erwartete keine Antwort auf diese Frage, auch Süß vermutete, der Oheim werde ausweichen. Aber Rabbi Gabriel, immer die Steinaugen auf dem Herzog, erwiderte ein mürrisches, quarrendes, unzweideutiges: »Ja.« Karl Alexander, auf so runden Bescheid nicht gefaßt, langte nach dem Herzen, atmete schwer, Schweigen lag dick und beklemmend auf dem Zimmer. Schließlich sagte Karl Alexander noch mit mattem Scherz, sieh da, nun habe er ja Bescheid, brach ab und sprach von anderem. Warf dem Süß hin: Ja, weshalb er gekommen sei: er habe also dem Harpprecht ein Gutachten aufgetragen wegen seines lumpigen Eßlinger Juden. Sein Kreuz und lauter Schweinerei habe man mit ihm! Verlangte nach seiner Kutsche, entfernte sich mißlaunig, nach einem schlechten, verärgerten Witz über die Büste des Moses.
Der Herzog gegangen, trumpfte Süß groß auf. Nun habe er also den Juden Jecheskel Seligmann Freundenthal glücklich los aus den Händen Edoms. Was bisher niemals geglückt sei im Römischen Reich, habe er, Süß, jetzt erreicht. Ob der Oheim immer noch sein Leben und große Mühe für so eitel und Haschen nach Wind ansehe?
Widerwillig nur entgegnete der Rabbi dem sich Blähenden: Des Süß Leben sei kein Leben. Sei vor sich selber und der eigenen Leere fliehende Zappelei.
Gekränkt und fast kindlich schmollend, schwieg Süß zuerst. Holte, den Blick des Rabbi meidend, stumm vor dem Stummen auf und ab gehend, aus allen Winkeln Argumente zusammen. Ei, hatte er nicht eben erst einen edelmütigen Entschluß gefaßt und mit so gewaltigen Opfern durchgesetzt? Sein reiches, fruchtvolles Leben leere Zappelei? Angesichts der frommen Tat, die er soeben getan, sagte man ihm das? Ja, war nicht solche Tat allein Sinns genug für ein Leben? Und wenn diese Tat, dieses Erreichnis nur eine Perle in einer Kette wäre? Wenn sein ganzes Leben, von diesem Punkt aus zu erklären, nichts als Aufopferung, Auswirkung einer frommen, jenseitigen Idee wäre?
Er hielt inne in seinem Gang durchs Zimmer, kittete sich sofort fester an diesen Gedanken. Es gefiel ihm, dem Mann des Augenblicks, dem großen Komödianten seiner selbst, sein Leben sentimentalisch von diesem Punkt aus zu sehen. Es reizte ihn, seine leer wirbelnden Tage als die erhebende Vita eines großen Frommen zu kommentieren. Sein Leben sinnlos, gar verächtlich, von jemandem mit einer vagen Handbewegung wegzuschieben? Dies empörte seine Eitelkeit. Starkwillig entriß er sich dem lähmenden Ring, in den Rabbi Gabriels Gegenwart ihn band. Er zwang sich selber, an einen tiefen, schicksalhaften, frommen Sinn seines Lebens zu glauben, in seinem Aufstieg Lehre und Gleichnis zu sehen. Eifrig schritt er hin und her, flüsternd und geheimnisvoll mit seiner geübten Stimme auf den schweigenden Hörer einredend. Mit seiner ganzen fließenden, flutenden, ebbenden, advokatischen Beredsamkeit, mit der Beflissenheit, mit der er um eine große Staatsaktion warb, brannte er vor dem Rabbi ein brillantes Feuer frommer Eitelkeit ab.
Wenn er nur hätte Karriere machen wollen, ei, warum dann sei er Jude geblieben? Warum dann habe er sich nicht taufen lassen wie sein Bruder? Nein, der Oheim tue ihm groß Unrecht, wenn er sein Leben so gar gering und verächtlich ansehe. Durchaus nicht aus bloßer Lust am Gold oder an der Macht stehe er hier, auf so hoher, umneideter und gefährlicher Stelle.
Er klammerte sich an die Idee, sie schmeichelte ihm, er suggerierte sie sich, um sie dem andern suggerieren zu können. Er flüsterte sie dem Kabbalisten zu als großes Geheimnis, er spielte, vor sich fast mehr als vor dem andern, Schicksal, Überzeugtheit, Sendung. Wie? Wenn er nun ausersehen wäre, Israel zu rächen an Edom? Das kann doch nicht blinder Zufall sein, daß er dasteht wie Josef, den Pharao erhöht hat. Wenn er jetzt so hoch ist und sehr in Glanz, daß die, welche sonst Israel anspucken und mit Füßen treten und sich den Ärmel wischen, wenn sie an einen Juden gestreift sind, den Rücken rund machen müssen vor ihm und seinen Staub lecken: ist das nicht Rache? Heut liegt er, der Jud, über dem Land und saugt von seinem Blut und wird fett von seinem Mark. Und wenn einer von den Seinen bedrängt ist, hält er die Hand über ihn, und Edom schleicht sich fort, den Schwanz gekniffen wie ein geprügelter Hund. Ist das nicht Kern und Sinn und Rückgrat für ein Leben?
Aber Rabbi Gabriel schwieg, und wie er den Schweigenden sah, wurden auch seine fliegenden Worte immer lahmer, und schließlich fielen sie ganz zu Boden. Er verstummte und stand da wie ein Schuljunge, der sein Pensum schlecht gelernt hat und nicht zu Ende weiß, und seine Worte waren wie schlechte, übelriechende Schminke, rasch eintrocknend und abblätternd.
Der Kabbalist erwiderte nicht auf die lange, feurige und empfindliche Rede des Süß. Er stand auf und sagte: »Bevor du dich dem Kind zeigst, fahr nach Frankfurt zu deiner Mutter.«
Damit ging er. Süß blieb in dumpfer Wut. Nun hatte er das Opfer gebracht, nun hatte er sich die Tat abgerungen. Was noch wollte der Alte von ihm? Was noch sollte er tun? Warum schwieg er seine Tat an mit seinem hochmütigen und klein machenden Schweigen? Und was war das mit Frankfurt? Ei, gewiß wird er nach Frankfurt gehen, zu seiner Mutter. Die Frankfurter werden mehr Verstand haben für das, was er getan. Seine Mutter wird ihm andächtig zuhören. Und die Frankfurter Juden, der weise, kleine Rabbi Jaakob Josua Falk und der Vorsteher und alle, wie wird er sich tragen lassen von ihrem Raunen, Segnen, Rühmen und Bewundern. Schweigt Rabbi Gabriel, so werden zehntausend andere Münder so lauter reden und Zeugnis ablegen für ihn und seine Tat.
In der Bibliothek des Professors Johann Daniel Harpprecht, über Akten und Urkunden, lächelte der Hausherr seinem Freunde, dem Geheimrat Bilfinger, mit verstehender und gütiger Abwehr zu. In das geräumige, solid möblierte Zimmer schrägte die Sonne eine Lichtsäule aus Myriaden Staubflöckchen.
Die beiden gewichtigen Männer hatten ernsthaft die württembergischen Dinge durchgesprochen, insonderheit das umständlich und mit großem Eifer vorgetragene, von Weißensee verfaßte Anliegen des landschaftlichen Ausschusses, sich unter keinen Umständen in den Eßlinger Judenhandel zu mengen. »Sieht Er, Herr Bruder«, sagte Harpprecht und legte dem Freund die Hand auf die schwere Schulter, »es wäre mir auch wärmer ums Herz, könnte ich den Juden Jecheskel in der Patsche sitzenlassen und dem Süß eins auswischen; auch dem Weißensee gönnte ich den Triumph. Und wenn ich denk, was wir zahlen müssen als Kompensation für die Auslieferung dieses Stinkjuden und was für Emolumenta und wohlverdiente Ansprüche wir den konfiszierten Eßlinger Krämern dafür müssen in ihren gierigen Schlund schmeißen und wie wir dafür nichts anderes haben, als daß wir im ganzen Reich als Judenzer werden verlästert und verlacht werden, Herr Bruder, ich brauch Ihm nicht zu sagen, wie es mir gallenbitter hochsteigt, wenn ich das denk. Aber der Herzog hat von mir ein juristisches Judizium verlangt, kein politisches. Und wenn’s mich noch so fest verdrießt und wenn ich dem Juden noch so gern möchte alle Kompendien und Kommentare um seine insolente Fratze schlagen: zuständig ist der Jecheskel zu uns; und wenn es Recht und Gesetz gelten soll, dann zählen alle die kleinen Formalia nicht, die man mit Rabulisterei ins contrarium kann kommentieren. Als Jurist muß ich judizieren: der Jecheskel muß ausgeliefert werden an die herzoglichen Gerichte.«
Bilfinger senkte den massigen Nacken. Gewußt hatte er das, gewußt hatten das alle; gewußt hatte es sicher auch der Herzog, und wie er ein Gutachten von Harpprecht gefordert hatte, war die Affäre eigentlich schon entschieden. Aber schön wäre es doch gewesen, wenn der Harpprecht anders judiziert hätte. Der Herzog hätte die Auslieferung wahrscheinlich doch verlangt, aber der Jud hätte einen derben Stoß gekriegt. »So steht er fest oben«, grollte er, »und lacht, wie wir uns müssen abzappeln, ihm den Gefallen zu tun.«
Aber er machte weiter keinen Versuch; er wußte, der Jurist wird sich eher die Finger abhacken, eh daß er in ein Judizium ein Wort hineinsetzt, das Recht um Fadenbreite zu krümmen. Er verabschiedete sich von dem Freund, verdüstert und ohne Hoffnung, aber mit festem, gutem Händedruck.
Allein geblieben, war Harpprecht nicht disponiert, sich sogleich wieder an die Arbeit zu setzen. Er schenkte sich das Glas neu voll, schaute in die schräge Lichtsäule aus tanzenden Stäubchen. Dachte. Er war gewohnt, die Dinge aus großer Höhe zu beschauen. Er reihte den Fall ein. Er sah über die Grenzen des Herzogtums hinaus. Er sah die Affäre des kleinen Handelsjuden als Welle im Fluß europäischen Werdens und Geschehens.
Denn der kleine Hausierjude, gefoltert, willkürlich um Mord verklagt, und Süß, der allmächtige, umneidete Finanzdirektor, wichtiger Faktor in den Kalküls der europäischen Höfe, schaukelten auf einer Welle. Wie sonderbar das Los dieser beiden sich ineinanderschlang. Wäre Süß nicht hoch und in Glanz, hätten die Eßlinger den armen Teufel sicherlich laufen lassen. Wäre Süß nicht hoch und in Glanz, könnte er den armen Teufel nicht erlösen. Was band den Finanzdirektor an den Hausierjuden? Das gemeinsame Blut? Dummes Zeug! Der gemeinsame Glaube? Schwatz! Nichts war gemeinsam zwischen den beiden, nur eines: der Haß, der anbrandete gegen den großen Juden wie gegen den kleinen.
Nachdenklich blätterte Harpprecht in den Chroniken und historischen Urkunden der Gabelkhover, Magnus Hessenthaler, Johann Ulrich Pregizer, in den Verordnungen, Reskripten, Landtagsabschieden, die vor ihm gestapelt lagen. Darin war verzeichnet, wie man es bisher mit den Juden im Land gehalten hatte, das war die Gesetzgebung der schwäbischen Herzöge und Stände, die Juden anlangend, war der schwäbischen Juden Geschichte und Recht.
Seit Urzeiten saßen sie da. Immer wieder waren sie verklagt worden um Mord, Brunnenvergiftung, Hostienschändung und vor allem um ihren unleidlichen, volksverderblichen Wucher. Immer wieder hatte man sie totgeschlagen und ihre Forderungen null und nichtig erklärt, in Calw, in Weil der Stadt, in Bulach, Tübingen, Kirchheim, Horb, Nagold, Öhringen, Cannstatt, Stuttgart. Aber immer wieder hatte man sie zurückgerufen. Man solle allenthalb im Reich ihr Gut nehmen, stand da in einer kaiserlichen Urkunde, und dazu ihr Leben und sie töten, bis auf eine geringe Anzahl, so verschont bleiben solle, um ihr Gedächtnis zu erhalten. Ein andermal, in einem Gutachten des Konsistoriums, hieß es, nächst dem Teufel hätten die Christen keine größeren Feinde als die Juden. In einem Vertrag zwischen dem deutschen König und dem Grafen Ulrich dem Vielgeliebten waren Maßregeln getroffen wegen der vielfältigen Klagen über die Jüdischheit, die nach ihrer gewöhnlichen Härtigkeit geistliche und weltliche Reichsuntertanen durch ihren Wucher unziemlich und unleidentlich beschwere und sich auch in anderweg so grob und unordentlich halte, daß dadurch Uneinigkeit, Krieg und Mißhelligkeit entstehe. Und im Testament des Grafen Eberhard im Bart wurden die Juden gescholten als Gott dem Allmächtigen, der Natur und der christlichen Ordnung gehässig, verschmäht und widerwärtig, als nagende Würmer, dem gemeinen armen Mann und Untertanen verderblich und unleidentlich, und sie wurden Gott dem Allmächtigen zu Ehren und des gemeinen Nutzens wegen hart und scharf des Landes verwiesen.
Warum aber, wenn man so urteilte, ließ man oder rief man gar sie immer wieder ins Herzogtum? Warum schützten sie Eberhard der Greiner, Graf Ulrich? Warum, wenn Eberhard im Bart, die Herzöge Ulrich, Christoph, Ludwig sie austrieben, riefen sie Friedrich der Erste, Eberhard Ludwig wieder ins Land? Es war zu billig, sie ein vermaledeites, von Gott verworfenes Volk zu nennen. Warum konnte man nicht gleichgültig vor ihnen bleiben wie vor anderen Fremden, den eingewanderten französischen Emigranten etwa? Warum stießen sie ab oder zogen an oder waren gar widerlich und reizvoll in einem?
Johann Daniel Harpprecht hob den Kopf von den Papieren. In den tanzenden Stäubchen der schrägen Sonnensäule formte sich ihm das Bild des Herzogs und das Bild des Juden, eines im anderen, eines ins andere rätselhaft übergleitend. Beide waren ein Unglück. Gegen den Herzog gab es ein Bollwerk: die Verfassung; aber es war löcherig und frommte nicht. Gegen die Juden gab es Gesetze, Reskripte; aber sie nützten nichts. Die nagenden Würmer, so stand in den Gutachten, Verboten. Das Land verkam, Armut, Elend, Verbitterung, Verlotterung, Verzweiflung riß ein. Die nagenden Würmer saßen im Land, fraßen in seinem Mark. Nagten, wurden fett. Obenauf, sich ineinanderringelnd, der Herzog und der Jud, sich spreizend in frecher, gemästeter Nacktheit, schillernd, üppig.
Dem festen, geraden, sachlichen Mann knäuelten sich die Gedanken. Hier war so schwer fester Boden zu gewinnen; diese Juden und alles, was mit ihnen zusammenhing, waren beunruhigend und voller Rätsel. Sie austreiben nützte nichts, man rief sie doch immer wieder zurück; ja selbst das primitive Mittel, sie totzuschlagen, brachte keine Lösung. Das Rätsel quälte doch weiter, hinterher; und dann plötzlich, von wo man sie nie vermutete, tauchten sie neu auf.
Du siehst einen Hausierjuden, er geht herum, wackelnd, häßlich, schmutzig, lauersam, geduckt, hinterhältig, krumm an Seel und Leib, du hast ein ekles Gefühl vor ihm, hütest dich, an seinen dreckigen Kaftan zu streifen; aber auf einmal schlägt in seinem Gesicht eine uralte, weisere Welt das Aug auf und schaut dich mild und verwirrend an, und der lausige Saujud, eben noch zu schlecht, als daß du ihn mit deinem guten Stiefel hättest in den Kot treten mögen, hebt sich wie eine Wolke, schwebt über dir, hoch, lächelnd, unerreichbar weit.
Es war widerwärtig und unbehaglich, zu denken, daß so ein schmutziger Trödeljude sollte aus dem Samen Abrahams sein. Es war ärgerlich und beunruhigend, daß ein Weltweiser wie Benediktus d’Espinosa dem verfluchten Stamm angehörte. Es war, als hätte an diesem Stamm die Natur beispielsmäßig wollen demonstrieren, wie bis zu den Sternen hoch ein Mensch sich heben, wie tief in Schlamm er einsinken kann.
Nagende Würmer. Nagende, schädliche Würmer. Der Professor Johann Daniel Harpprecht zwang sich zurück zu seinen Urkunden, aber sieh da!, der vernünftige, ruhige Mann hatte Gesichte wie ein Schwärmer. Die Buchstaben selber wurden zu Würmern, kriechend, ekel sich streckend, feucht, klebrig, schleimig, mit Köpfen des Herzogs und des Süß. Nagende Würmer, nagende Würmer. Er verzog den Mund, spie aus.
Rettete seine Gedanken in das Bereich, wo Wallungen und Gesichte am leichtesten konnten gehemmt werden, in sein eigenstes Bereich, ins Staatswirtschaftliche. Was die Juden am Leben erhielt, war die wirtschaftliche Notwendigkeit. Umschichtete sich die Welt. Früher war eines Mannes Wert bestimmt von Stand und Geburt, jetzt war er bestimmt durch das Geld. Als man die Verachteten und Gehaßten zu den monopolisierten Verwaltern des Geldes gemacht, hatte man selber ihnen das Seil zugeworfen, an dem sie hochkletterten. Jetzt war das Getriebe des Geldes das lebendige Blut des Staates und der Gesellschaft, und die Juden waren dieses Getriebes wichtigstes Rad, waren der ganzen komplizierten Maschinerie Angelpunkt und erster Hebel. Nahm man sie heraus, so brach Gesellschaft ein und Staat. Der Herzog, Zeichen und Symbol der alten Ordnung, des Standes und der Geburt, und der Jude, Zeichen und Symbol der neuen Ordnung, des Geldes, reichten einer dem andern die Hand, waren verknüpft miteinander, lagen auf dem Volk, einträchtig, sogen sein Mark, einer für den andern.
Nagende Würmer, nagende Würmer. Aufseufzend kehrte Harpprecht zurück zu seiner Arbeit. Zurück wandelte sich unter seinem festen Willen das ekle Geringel in klare, trockene Buchstaben, und sachlich, sorglich, gewissenhaft, umständlich schrieb er sein Gutachten.
Die Eßlinger, nach hartem Feilschen und gegen fette Kompensationen, übergaben den Juden Jecheskel Seligmann den herzoglichen Gerichten, nach außen gewaltig schimpfend, in der Seele heilfroh. Die württembergischen Gerichte ließen ihn schon nach wenigen Tagen ledig. Zerbrochen, fahrig, irr und verstört von dem Schreck, der Todesangst, der Folter kehrte Jecheskel nach Freudenthal zurück, auf den Rest seiner Tage von dem Ausgestandenen bis ins Mark zerwest. Oft fiel ihn nervöses Zucken an, schütterte ihn, riß ihm die Schultern, die Arme lächerlich zappelnd hin und her, zerrte sein Gesicht; oft auch, unversehens wimmerte er, heulte leise, tierhaft. Andere Juden sorgten für ihn, schafften ihn außer Landes, nach Amsterdam.
Ehe er Deutschland verließ, schrieb er dem Finanzdirektor, ob er bei ihm vorsprechen dürfe, ihm zu danken. Süß überlegte, schwankte. Es wäre Triumph gewesen, den Stuttgartern die Beute vorzuführen, die er den Eßlingern entrissen. Aber andernteils sah diese Beute doch gar zu schäbig und gerupft aus, die Stuttgarter hätten, wenn nicht laut geschimpft, zumindest grobe Witze gemacht, und dann wagte er nicht, den Herzog, den der ganze Handel arg verdroß, durch Aufführung des Jecheskel weiter zu reizen. Großmütig verzichtete er also darauf, persönlich den Dank des Befreiten entgegenzunehmen. Gestand sich aber, wie dies in letzter Zeit seine Art war, die wahren Gründe nicht ein, sondern spreizte sich vor sich selber, wie es sich nun erweise, daß er nicht um Dank, sondern nur aus reinen und edlen Motiven die Tat getan habe.
Um so fetter mästete er in Frankfurt seine Eitelkeit. Ei, wie drängten sich in den Gassen des Ghettos die Juden, ihn zu sehen, gurgelten Bewunderung, flehten allen Segen Gottes auf ihn herab, hoben ihre Kinder hoch, daß sie mit ihren fremdartigen, schönen, länglichen Augen sein seliges und beglückendes Bild einfingen. Wie über einen Teppich schritt er über hemmungslose Bewunderung und gute Wünsche. Ei, was für einen Retter und großen Frommen hat da der Herr, gelobt sein Name, Israel in seiner großen Not geschickt. Und in der Synagoge stand er, wurde aufgerufen zur Vorlesung der Schrift, und während das Gesumme, das den menschenvollen Raum immer füllte, so stumm ward, daß das ergriffene Schweigen der aus wildester Furcht Erlösten die Mauern fast sprengte, ließ mit seiner zittrigen Stimme der welke Rabbiner die schönen, milden, alten Segnungen wie aus edler Schale laues, wohlriechendes Wasser auf ihn niederrieseln.
Nur eine breitete ihre Bewunderung nicht so weich und willig vor ihn hin, wie er erwartet hatte: seine Mutter. Sie, sonst seine demütigste, seligste Anhängerin, schien dieses Mal eng, ängstlich, gehemmt. Wohl fand sie immer neu Lob und Preis, wie groß und herrlich und schlank und reich und edelmütig und elegant und gescheit und tief und mächtig er sei, wie begabt er sei an allen Gütern der Welt, an Geld und Gemüt und Schönheit der Gestalt und Edelsinn und Frauen. Aber sie ging nicht so auf in ihm wie sonst. Die törichten, großen Augen in dem schönen, weißen Gesicht wurden plötzlich wie in tiefster Angst erschreckt von ihm weggerissen; ihre Hände, die an ihrem gescheiten, eleganten, mächtigen Sohn herumstreichelten, hielten unvermittelt, ohne Anlaß, inne. Die schöne, heitere, gern plappernde, leichtlebige alte Dame hatte gegen ihre Art etwas Fahriges, Nervös-Verschrecktes, Gepreßtes.
Während sie so in dumpfer Luft unfrei zusammensaßen, trat Rabbi Gabriel in ihr Gespräch. Michaele fuhr mit einem kleinen Schrei hoch, hob wie flehend und in leichter Abwehr die Hände.
»Hast du sie ihm gegeben?« fragte der Kabbalist. Michaele, fahl, die Augen weit auf, trat einen Schritt hinter sich. »Gib sie ihm jetzt!« sagte der Rabbi, ohne die Stimme zu heben, doch so, daß Widerstand starb. Michaele, mit schlaffen Gliedern, gepreßt wimmernd, ging.
»Was soll das!« fragte betreten und unmutig Süß. »Warum quält Ihr sie? Was wollt Ihr von ihr?«
»Du hast mir gesagt«, erwiderte der Rabbi, »was du vor das Kind hinstellen willst als Sinn und Rechtfertigung. Ich nehme deine Rechtfertigung in die Hand und zeige sie dir, wie sie wirklich ist.«
Schleppend, wie gezogen, kam Michaele zurück. Brachte einen Pack Schriften, Briefe, wie es schien. Legte sie scheu vor den Erstaunten. »Muß ich bleiben?« fragte sie mühsam, und ihre Stimme war ganz klein und voll Furcht. »Geh nur!« sagte, fast gütig, der Rabbi.
Zögernd griff, nachdem sie eilig sich entfernt, Süß nach den Schriften, hielt sie in der Hand, unentschlossen, begann endlich zu lesen. Galante Briefe, leicht altmodisch, gleichgültiges Zeug. Er wunderte sich, verstand nicht. Was soll das? Sah schließlich Zusammenhänge, kombinierte rasch weiter, sah getroffen wie nach einer jähen, schlaghaften Erhellung von den Papieren auf, sah nach dem Rabbi. Der war nicht da, er war allein im Zimmer.
Auf sprang er, schritt, schleifte sich hin und her. Die Augen hell, wieder dunkel, wieder hell. Gehetzte Wolken, wieder Sonne, wieder Nacht überm Gesicht. Flatternde, ungereimte Armbewegungen, die Füße taumelig, wie trunken. Gelall, Wortfetzen, dann, während der ganze Körper sich straffte, ein klarer Satz. Und schon wieder zusammengefallen, schlaff, stammelnd, zerschlagen alle Gliedmaßen. Der beherrschte Mann wie ein Komödiant, der eine Rolle lernt, die ihn zu allen Sternen hochtreibt, in alle Schlünde hinunterstürzt. Bis er wie ein Sack zusammenfällt, sitzend, alle Arbeit tief innen wühlend, Gesicht und Glieder reglos. Eine lange, ewige Weile wie tot.
So also griff das ineinander. So waren auf einmal alle diese schattenden, düsteren Winkel hell. Man hatte ihn ja, der verfluchte, hexenmeisterische Rabbi und die Mutter, gemein, niederträchtig, infam betrogen, daß man ihm das so lange gehehlt und verheimlicht hatte. Es war ein arger Possen und echt jüdischer, tückischer Schelmenstreich, ihn so lange an diese schlechte, niedrige, gemeine, lächerliche und verachtete Gemeinschaft zu binden. Er hatte sich freilich, Gott sei Dank, vermöge seines Genies und seines eingeborenen adeligen Blutes doch nicht unterkriegen lassen. Sein Ingenium hatte strahlend floriert trotz allen gemeinen Hemmungen und Bindungen. Aber wie viele empörende, blutvergiftende Demütigungen, wie viele erniedrigende, krumme Schleich-und Umwege hätte er sich erspart, wie viele bizarre, alberne Kanten und Winkel wären glatt und gerade gewesen, hätte man ihn nicht verbrecherisch in diesem falschen und pöbelhaften Stand und Glauben belassen.
Aber wie das? Nur Ruhe! Nur keine Wallungen! Alles ruhig wägen und überdenken! Lag jetzt sein Weg wirklich so glatt und im Licht vor ihm?
Es war also nicht der kleine Kantor und Komödiant Issaschar Süß sein Vater. Es war klar und unumstößlich zu erweisen, daß Georg Eberhard von Heydersdorff sein Vater war, Baron und Feldmarschall. Er war nicht aus schlechtem Samen, seine Allüren, seine Tenue, sein Temperament war nicht willkürlich angenommen, war nicht erlernt und künstlich. Seine kavaliersmäßigen Neigungen, sein Aufstieg, sein herrenmäßiges, adeliges Gewese war selbstverständlich, brach notwendig durch alle Hemmungen; denn es kam aus dem Geblüt und innerster Natur. Er war Christ von Geburt und Kavalier.
Bastard? Je nun, das waren die Fähigsten und Besten, die in solchem wilden, von ungezügeltem Trieb bestimmten Bett gezeugt waren. Wo sich nicht erkältend und ernüchternd praktische Erwägung zwischen Blüte und Frucht gestellt hatte. Wenn nicht auf dem Thron selbst, so doch auf seinen höchsten Stufen saßen, überall in Europa, Bastarde. Es ehrte seinen Vater, daß er sich von keiner sauern Aristokratentochter, daß er sich von der schönen Jüdin den Sohn gebären ließ.
Heydersdorff sein Vater, Georg Eberhard von Heydersdorff. Ein schöner Name. Ein wilder Name. Ein blutiger, zerfetzter, unseliger Name. Er kannte Bilder dieses Mannes. In tapferer Schamlosigkeit hatte die Mutter das Bild in ihrem Zimmer hängenlassen, auch als der Mann diffamiert und in letzte Not gejagt war. Wie oft war er als Junge davorgestanden, vor dem Bild des prunkenden Generals, an seinem Namen hatte ihn die Mutter sprechen gelehrt, der umständliche Name Georg Eberhard von Heydersdorff war mit das erste gewesen, was das frühreife Kind fehlerlos hatte aussprechen können; die Mutter hatte ihm ein Zuckerlein in den Mund gesteckt, als er das erstemal damit zu Rande kam. Ah, von ihm also hatte er das kastanienbraune Haar, von ihm die herrenhaft schlanke Haltung, und die rote, stolze Uniform war es, was ihm vorschwebte, was ihn immer weiterlockte auf dem Weg, den er so märchenhaft hinaufgelangt war.
Georg Eberhard Heydersdorff: ein Schicksal, das in steilem Triumph hinaufführte und jäher hinab. Feldmarschall-Leutenant, hochverdient in den Türkenkriegen, Komtur des Deutsch-Ritterordens zu Heilbronn, Kommandant zu Heidelberg im französischen Krieg. Neid und Eifersucht schleppten ihn nach dem Fall der Festung vors Kriegsgericht. Er habe sie feig und voreilig übergeben, er hätte sie halten sollen bis zur Ankunft Ludwigs von Baden. Todesurteil. Der Kaiser begnadigt ihn. Doch wie! Der Knabe hatte Bilder gesehen, wie die Begnadigung vollzogen ward. Deutlich noch jetzt sieht er jede Einzelheit der fliegenden Blätter. Das rechte Neckarufer entlang hat der scheelsüchtige Markgraf die Truppen aufgestellt. Wie steif er sich hält auf seinem dürren Gaul. Das war also sein Vater, der da die Front des ganzen kaiserlichen Heeres entlanggeführt wird. Eine endlose Front; die Soldaten schlängeln sich das ganze Blatt hindurch in immer neuen Zeilen. Und sein Vater hockt auf dem Schinderkarren, schimpflich ausgestoßen aus dem Deutsch-Ritterorden, entsetzt all seiner Ehren, und der Heilbronner Scharfrichter und seine Knechte führen ihn.
Noch andere Stiche und Schnitte und fliegenden Blätter hat er gesehen. Doch die sind ihm minder klar in der Erinnerung. Auf einem sieht er noch ganz deutlich, wie jemand einen Säbel zerbricht. Das ist offenbar, wie dem Feldmarschall vor dem Regiment, das seinen Namen führt, sein Todesurteil vorgelesen wird und die Verwandlung in Verbannung. Als treuloser Schelm wird er verbannt aus Österreich und Schwaben. Der Henker reißt ihm den Degen von der Seite, schlägt ihn dem Delinquenten dreimal ums Maul, zerbricht ihn. Laut wehklagend wird der Verbannte über den Neckar geführt, in einem Nachen.
Das Weitere blieb Gerücht. Er soll zu den Kapuzinern geflohen sein nach Neckarsulm, als Kapuziner gestorben in Hildesheim. Die Mutter weiß wohl Näheres. Jedenfalls hat heute der Name nicht mehr schlechten Klang. Scheelsucht und Ungerechtigkeit soll das Urteil gefällt haben. Als Held gilt dem Volke Heydersdorff der Soldat, als Märtyrer Heydersdorff der Mönch.
Solcher Mann also ist sein Vater. Ein wilder Name, ein wildes Schicksal. Der Kabbalist mochte für sein Fatum allerlei herausdeuten aus dem sehr rastlosen Stern des Vaters. Waren da nicht bis ins kleinste geheime Relationen? Der Vater Kapuziner: und er ist hineinverwoben in das katholische Projekt Karl Alexanders. Der Vater Soldat: was Wunder, daß geheime Magie den Herzog, den Soldaten, und ihn aneinanderbindet.
Weg mit dem Geträume! Zugepackt! Was nun? Was wird nun sein? Was wird er jetzt tun?
Er wird vor den Herzog hintreten mit den Papieren, Legalisierung verlangen, Anerkennung seiner christlichen Geburt. Vielleicht wird er selber nach Wien fahren. Er wird die Nobilitierung mühelos durchdrücken, er wird dann in aller Form Landhofmeister werden, auch Präsident des Konseils. Dies also wird sein. Ja, und dann?
Ist er dann anderes, als er jetzt ist? Er wird es leichter haben, seine Hände in das katholische Projekt zu mischen. Der Fürstbischof von Würzburg wird sich nicht mehr vor ihm verschließen, die höhnischen Mäuler unter den Offizieren werden stumm bleiben. Er wird zum faktischen Besitz der Macht auch ihren Namen haben und ihren Schein. Ja, und dann?
Ist er dann mehr als jetzt? Er ist weniger. Ein Schock solcher Diplomaten gibt es im Reich, wie er dann einer sein wird. Das Singuläre, Einmalige, Besondere wird weg sein, das jetzt um ihn ist. Jetzt ist er der jüdische Minister. Das ist etwas. Man lacht, man höhnt; aber unter diesem Lachen steckt Staunen vermummt und Bewunderung. Daß ein Aristokrat Minister wird, was da weiter? Aber ein Jud, der so einsam hochklettert, das ist doch wohl mehr als ein Schock Aristokraten. Soll er das hinwerfen? Wofür? Wozu? Schließlich hätte er sich doch früher schon taufen lassen können. Hätte vielleicht sogar mehr erreicht, als wenn er jetzt als geborener Christ sich offenbarte. Christ sein, das war einer unter vielen sein. Aber Juden gab es auf sechshundert Christen nur einen. Jude sein, das hieß verachtet, verfolgt, erniedrigt sein, aber auch einmalig sein, immer bewußt, aller Augen auf sich zu haben, immer gezwungen, gespannt, gerafft zu sein, alle Sinne lebendig und auf der Hut.
Warum zeigte ihm der Rabbi diese Dokumente jetzt, so unvermittelt, wo er längst in der zweiten Hälfte seines Lebens stand? Gönnte man ihm den Triumph nicht, den er in der Affäre des Jecheskel Seligmann gehabt? Wollte man ihn arglistig um ein bestes Erbteil betrügen? Ihm schlau und verächtlich seine wertvollste Zugehörigkeit ablauern?
Der große Geschäftsmann sah sich in einen Handel verstrickt, wo man mit Ziffern und Kalkulationen nicht weiterkam, wo auch seine kluge Kunst, Menschen zu erraten, versagte. Was, zum Teufel, wollte dieser Rabbi damit, daß er ihm jetzt die Papiere vorlegte? Welche Absicht hatte er dabei? Wenn er, Süß, jetzt als Christ auftrat, was hatte Rabbi Gabriel damit gewonnen? Er konnte sich nicht losreißen von seinem Geschäftsprinzip, daß bei jeder Handlung der Mensch etwas gewinnen, den Partner um etwas prellen wolle.
Die polnischen Juden, wenn sie sich taufen ließen, der lausigste Dreckjude selbst, erhielten sie den Adel. Warum taten sie es nicht? Warum verschmähten sie, diese schlauen Geschäftsleute, so leichten Gewinn? Ließen sich totschlagen lieber, eh daß sie ihn nahmen? Frömmigkeit? Glaube? Überzeugung? Sollte doch etwas an diesen Worten sein? Und war es denkbar, daß solch ein dreckiger polnischer Jude das hatte, was sich hinter so tiefem und tönendem Schall verbarg? War es denkbar, daß solch ein Niedriger in seinem primitiven Gefühl weiser war, für ein dunkles Drüben besser vorbereitet, als er in seiner vielverschlungenen Klugheit? Er fühlte sich wie ein Kind unsicher und ohne Rat und Hilfe.
Heute war er der erste unter den deutschen Juden. Man hob die Kinder hoch an seiner Straße, flehte, aufgeregt und mit vielen dringlichen Gebärden, alles Heil des Himmels auf ihn herab. Er dachte, wie er in der Synagoge gestanden war, mitten in dem ergriffenen Schweigen der sonst so Lauten und Beweglichen, überrieselt von den milden, zitternden Segnungen des Rabbiners, und ein laues, süßes, schlaffes Gefühl überkam ihn. Es kostete Entschluß, man mußte die Zähne zusammenbeißen, auf dies alles zu verzichten. Wenn er einen Erfolg erzwungen hatte, gewiß, es war schön, ihn den höhnenden Gegnern paradierend in das verzerrte Gesicht zu werfen, es war schön, damit vor Frauen, vor Magdalen Sibylle zu strahlen, aber der satteste Triumph war es doch, ihn vor Isaak Landauer, in der Judengasse, vor der Mutter ihn auszubreiten. Hier konnte man behaglich, ohne Furcht vor hämischem Wort und Blick, an seinem Erfolg kauen, seinen letzten Saft auskosten, und wußte, im Grund freuten die anderen sich mit. Hier war man zu Hause, hier konnte man Miene, Geste, Wort lockern, ausspannen. Hier war man in Frieden und wohlgebettet.
Seine Mutter. Sie hat sich also, wie sagt man?, vergangen. Seltsam, daß sie dadurch nicht um ein Haar anders für ihn wird. Der, den er für seinen Vater gehalten, der sanftmütige, höfliche, geschwinde, liebenswürdige, betuliche Sänger und Komödiant, den sollte er jetzt wohl verachten. Merkwürdig, daß er kein anderes Gefühl für ihn aufbringen konnte als Zärtlichkeit. Wie muß dieser Mann seine Mutter geliebt haben, daß er sie den Bastard nie entgelten ließ. Er hatte kein häßliches Wort gehört von ihm zu ihr. Und wie war auch zu ihm selber dieser Mann zeitlebens zart und einfühlsam und väterlich gewesen. Ihn in Gedanken anders als Vater zu nennen gelang nicht.
Und die edlen Regungen in der Affäre des Jecheskel Seligmann, das Opfer, das war also alles Selbstbetrug, Schwindel? Das hat er sich selber vorgespielt? Er bäumte hoch. Die Gehobenheit, die er damals verspürt, als er sich die Tat abgerungen, dies selige Schwimmen und Sichlösen und Aufgehen und Verströmen: das soll alles Lüge und Eitelkeit gewesen sein? Und das mit Edom, die Rache an Edom, das war nur Schwatz, schöne Rednerei, den Rabbi hinters Ohr zu hauen? Aber es hatte ihn doch gehoben, aus seinen Grenzen, über sich selber hinausgehoben! Er hatte es doch geglaubt, er hatte doch gewußt, daß es wahr war! Und das Kind? Wenn man ihm die Papiere nicht gewiesen hätte, dann wäre er also mit der Lüge vor das Kind getreten, hätte selber an die Lüge geglaubt und durch den eigenen auch das Kind zum Glauben an die Lüge verführt. Nein, nein, das war nicht möglich. So war es, daß, was er damals gespürt hatte, Repräsentant Judas gegen Edom, Schutz und Rächer, daß dies ehrlich war und unverfälscht. Das war schon seines Lebens Sinn und Hebel. Er war eben seiner Mutter Sohn, nicht seines Vaters.
Aber daß er sich nur in Glanz und Macht zu Hause fühlte? Das war zu Recht, das war von Erb und Bluts wegen, daß die Dinge sich ihm schmiegten! Daß Gold, Glanz, Macht ihm zufiel wie von selbst, ihm stand wie ein Kleid, sorglich für ihn gefertigt, das war seines Vaters rechtens überkommenes Erbteil. Darum zog es den Herzog zu ihm, daß er sein Herz vertrauend in seine Hand legte. Er war seines Vaters Sohn. Es war Recht und Pflicht, herauszutreten aus den Reihen der Niedrigen und Verachteten, groß zu stehen im Licht, die Hand zu legen auf seinen Namen, Erbe und Stellung.
Die Gedanken wirrten sich ihm. Was tun? Wohin sich bekennen? An goldenen Fäden zog die Macht; doch auch die Lockung, unter den Verachteten zu stehen, war so zäh wie mild. Reizvoll war es, jede Rüstung abzutun; aber auch in dem goldenen Panzer zu prangen war Versuchung und starke Lust.
Mitten im Traum sah er sich, der zuweilen ihn anfiel. Sah sich schreiten in jenem gespenstischen Tanz, an einer Hand hielt ihn der Herzog, der Rabbi an der andern. Schritt da vorne nicht sein Vater, der Feldmarschall, abgerissen die Epauletten, im Takt klirrend mit dem zerbrochenen Degen, winkend mit den Urkunden seiner Abkunft? Aber der Mönch dort hinten, der Kapuziner, der ist doch auch wieder sein Vater! Sonderbar, daß man nicht erkennen kann, ob das der zerbrochene Degen ist oder der Rosenkranz, was ihm da herunterhängt. Aber wer dort vorne lächerlich im Kaftan hüpfend sich ihm zuneigt, mit dem strähnigen Bart, das ist Isaak Landauer. Nein, nicht Isaak Landauer ist es, sondern Jecheskel Seligmann. Er kommt sich zu bedanken, und er verbeugt sich albern, und er knickst tief und küßt ihm den Rock, und es sieht komisch und beklemmend aus, wie er immer wieder mit dem von der Folter zerrissenen Gesicht lächelt und dann wieder knicksend mit dem Kaftan den Boden schleift.
Mit Gewalt aus seiner Benommenheit und Dämmer reißt sich Süß. Er will jetzt seine Mutter sehen. Er will sich jetzt nicht entschließen; mit Ziffern und Kalküls kommt er hier nicht weiter. Und er hat jetzt diese Gedanken satt, und er will jetzt Ruhe haben vor diesen albernen Träumen, und er will jetzt das Gesicht seiner Mutter sehen.
Doch wie er geht, an der Schwelle des Zimmers, tritt ihm Rabbi Gabriel entgegen. Das massige Gesicht scheint minder steinern als sonst, weniger scharf über der platten Nase zacken die drei Falten, selbst sein Mißmut scheint gelöster, bewegter, menschlicher.
»Willst du mich anzeigen?« fragt er höhnisch. »Es kann deiner Karriere nur nützen, wenn du mich einem Kirchengericht übergibst, weil ich einen gebürtigen Christen so lang im falschen Glauben hielt.«
Und da Süß einen ungestümen Schritt vorwärts tut: »Oder willst du mit deiner Mutter rechten? Sie schelten, weil sie dir so lange schwieg? Ihr danken, daß sie dir einen so kavaliersmäßigen Vater gab?«
Eine wilde, unsinnige Wut steigt in Süß hoch. Wie kommt dieser Mann dazu, so ohne weiteres anzunehmen, daß er nun in ein bequemes Christentum schlüpfen wird? Wie steht er höhnisch da mit seinen trüben grauen Augen, die gipfelhoch auf einen niederschauen, wie ein Hofmeister, der den dummen Zögling über einer albern armseligen Ausrede ertappt. Will er ihm jetzt etwa seine jüdische Geburt abstreiten, sein Opfer, sein großes Spüren als Schaum und Lüge abtun, ihn um sein bestes Erbteil prellen?
Seine Empörung gegen den Rabbi, so dumpf sie war, war ehrlich. Zum erstenmal, spürte er, war er ohne Rabulistik gegen ihn im Recht, zum erstenmal verhöhnte ihn jener ohne Grund. Ganz fort war die lähmende Enge, die sonst von dem Kabbalisten ausging, und plötzlich war der Entschluß da, der so lang gestaltlos im Dunkel sich versteckt hatte, sprang klar und sicher ins Licht, war da, selbstverständlich, unumstößlich.
Die Stimme frei, sachlich, sagte er: »Ich fahre nach Hirsau. Zu Naemi.«
Näher an Süß riß es den Überraschten. Heller das Gesicht, halb ungläubig, mit fast gutmütigem Scherz: »Als Rächer an Edom?«
Doch Süß blieb ruhig. Ohne Gereiztheit, zuversichtlich und fest sagte er: »Sie will mich sehen. Ich stelle mich ihr.«
Rabbi Gabriel nahm seine Hand. Sah sein Gesicht. Sah Unreines, Unwahres, Schutt. Sah darunter anderes. Sah unter Haut, Fleisch, Knochen zum erstenmal Licht.
»Sei es!« sagte er, schon klang seine Stimme wieder mißlaunig wie sonst. »Komm mit zu dem Kind!«