Zweiundsiebzig Städte zählte das Herzogtum Württemberg und vierhundert Dörfer. Getreide wuchs, Obst, Wein. Ein schöner, edler Garten im Römischen Reich hieß das Herzogtum. Bürger und Bauern waren heiter, gesellig, willig, geweckt. Geduldig nahmen sie das Regiment ihrer Fürsten hin. Hatten sie einen guten Fürsten, so frohlockten sie; war er schlecht, so war dies Fügung des Himmels, Züchtigung des Herrgotts. An zehn Goldgulden zinste jeder Württemberger, Mann, Weib, Kind, den herzoglichen Renteien.

War der Herzog gut, war der Herzog schlecht, Sonne kam und Regen kam, Weizen wuchs, Wein wuchs, gesegnet lag das Land.

Aber Fäden spannen sich von allen Seiten, Hände langten, Augen gierten, von allen Seiten wob sich Gespinst über das Land.

In Paris saß der fünfzehnte Ludwig und seine Minister. Ein Stück Württemberg, die Grafschaft Mömpelgard, war von seinem Gebiet eingezirkelt, er wartete nur darauf, sie zu verschlucken. In Berlin saß die Gräfin, zettelte mit der Reichsritterschaft, suchte hier und dort noch Letztes zu erquetschen, in Frankfurt und Heidelberg lauerten Isaak Landauer und Josef Süß, dem Herzogtum ihre Schrauben anzusetzen, der Staatssekretär des Papstes wob Fäden von Rom nach Würzburg zum Fürstbischof, das Land der Mitra zu unterwerfen, in Wien die kaiserlichen Räte ertiftelten von dem Erbprinzen, dem Katholiken, Feldmarschall des Kaisers, neue Verträge, Bindungen von Stuttgart nach Wien, in Regensburg der alte Fürst Thurn und Taxis blinzelte herüber, und in Belgrad der Feldmarschall Karl Alexander und Remchingen, sein Freund und General, wogen große Pläne.

Sie alle saßen, warteten im Kreis, beschielten sich mißtrauisch, warfen ihre großen, stummen Schatten über das Land.

Und Sonne kam, Regen kam. Weizen wuchs, Obst, Wein. Das Land lag gesegnet.

In den ersten Novembertagen starb so jäh, wie er zumeist beschlossen und gewirkt und gelebt hatte, Eberhard Ludwig, von Gottes Gnaden Herzog zu Württemberg und Teck, der Römischen Kaiserlichen Majestät, des Heiligen Römischen Reiches und des löblichen schwäbischen Kreises Generalfeldmarschall, auch Oberster über drei Regimenter zu Roß und zu Fuß.

Auf mächtigem Katafalk lag er nun, das Gesicht bläulichgelb vom Stickfluß, in großer Uniform mit vielen Orden, daraus der dänische Elefantenorden und der preußische Schwarze Adler hervorprunkten, viele Lichter um ihn, zu Häupten und zu Füßen auf Totenwacht zwei Leutnants. Kümmerlich hockte in dem großen, schweigenden Raum verstaubt und sauer Johanna Elisabetha, die Herzogin. Ihr Triumph hatte so kurz gedauert; und daß der Mann, der mit so zähem Warten, so blutigem Schweiß erkämpfte, jetzt nach den wenigen Monaten blau und tot und erstickt dalag, das hatte die andere ihm angewünscht, die Mecklenburgerin, die Hexerin, die Person. Aber sie saß da, sie allein, nicht die andere. Wer künftig in Württemberg herrschte, war ihr gleich. Der Katholik wahrscheinlich, mit seiner hochmütigen, leichtfertig aufgeputzten Frau. Aber sie war so ausgehöhlt, das interessierte sie nicht. Sie hatte nur mehr ein Geschäft auf der Welt: den zähen Brei ihrer Rache garzukochen. Noch saßen die Verwandten der Person an den Futternäpfen des Herzogtums, noch glänzte die Person in Reichtum und großem Glanz, noch zog sie durch hundert kleine Kanäle, durch die Verwalter ihrer Liegenschaften, durch ihre verfluchten Juden den Saft des Landes an sich. Jetzt, nun Eberhard Ludwig tot war, hatte sie keinen Schutz mehr, galt keine Rücksicht mehr. Sie, die Herzogin, wird sie von neuem peinlich anklagen, bei dem neuen Herzog, bei Kaiser und Reich. Die Person hatte ihr nach dem Leben getrachtet, sie hatte dem Erbprinzen, sie hatte dem Herzog den Tod angehext. Sie wird, die Herzogin, sich jetzt nicht im ersten Sturm ausgeben. Aber sie wird nicht ablassen von ihr; sie wird nicht schreien, aber ihre grämliche Stimme wird nicht schweigen, bis die andere bloß steht und in Lumpen und all ihrer Schmach. So saß sie an dem stolzen Katafalk, grau und kümmerlich, und drehte den armen Rest ihres Lebens in der Hand, und die schweren Blüten aus den Treibhäusern dufteten, und die großen Kerzen schwelten, und die Leutnants standen mit bloßem Degen und hielten Totenwacht.

Die Bürger, wie die Herolde den Tod des Herzogs verkündeten, nahmen die Hüte ab, waren ergriffen. Jetzt, wo der Herzog tot war, sahen sie nur mehr seine Stattlichkeit, Leutseligkeit, soldatische Tugend, Pracht, Eleganz, und sie waren geneigt, alles Elend seiner Regierung allein und ausschließlich der Gräfin und ihrer Hexerei zuzuschreiben. Nicht nur das Geld, das sie dem Land erpreßt hatte, wog man ihrer Schuld zu, man fluchte auch alle Verdammnis und Pestilenz auf sie herab, weil durch sie das alte festbegründete Ansehen des Fürstenhauses in Deutschland erschüttert und manche vorteilhafte Gelegenheit, neue Rechte und Vorzüge zu erlangen, verloren worden sei; denn man habe, um den kaiserlichen Hof nicht zu erzürnen, überall gar vorsichtig und behutsam agieren müssen, auch habe gewöhnlich gerade zur rechten Zeit das Geld mankiert. Und immer tiefer in den Kot sank das Bild der Gräfin, und immer leuchtender stieg der Herzog, und die Weiber wischten sich die Augen: und so prächtig war er, und so freundselig sprach er mit jedem, so ein guter Herr, so ein schöner Herr!

Und es liefen, fuhren, ritten die Kuriere. Einer nach Frankfurt, da wackelte Isaak Landauer mit dem Kopf, rieb sich die fröstelnden Hände und sagte: »Ei, da wird der Reb Josef Süß es wichtig haben und große Geschäfte.« Einer nach Berlin, da setzte der Gräfin das Herz aus, und sie fiel ohnmächtig auf den Estrich. Einer nach Würzburg, da lächelte der dicke, lustige Fürstbischof und rief seinen Geheimrat Fichtel zu sich, und einer nach Belgrad, da atmete der Prinz Karl Alexander, jetzt Herzog, Herzog jetzt!, hoch auf, und er sah sich den Krieg hineintragen tief nach Frankreich, und er sah seine Hände drehen an den Speichen der Welt. Über dem allem aber und gleichzeitig sah er trübgraue Augen, hörte er eine mürrisch knarrende Stimme: »Ich sehe ein Erstes und ein Zweites. Das Erste sag ich Euch nicht.« Und er betrachtete nachdenklich seine Hand, eine merkwürdige Hand, ihr Inneres war fleischig, fett, kurz, während ihr Rücken schmal, lang, behaart, knochig erschien.

Vor dem Spiegel aber stand Marie Auguste, da stand sie oft, und war nackt und lächelte. Mit den langen Augen unter der klaren, leichten Stirn beschaute sie ihren Leib, der weich war und schlank und von der Farbe alten, edeln Marmors. Sie dehnte sich wellig, der kleine, eidechsenhafte Kopf mit den sehr roten Lippen lächelte tiefer. Es war schön, jetzt nach Stuttgart zu fahren, durch huldigendes Volk, in goldenem Wagen, als Herzogin. Es war auch hier schön gewesen, in Belgrad, thronend über den wilden, begehrlichen, verehrenden barbarischen Menschen. Aber es war sehr willkommen, jetzt am Kaiserhof und an den andern deutschen Höfen Verehrung aufwölken zu sehen wie Weihrauch. Sie wird die Herzogskrone ohne Perücke tragen, es war gegen die Mode, aber sie wird es doch tun, und die Krone wird klein und hoch und sehr stolz auf dem strahlend schwarzen Haar sitzen. Sie hob, die nackte Frau, mit halb hieratischer, halb obszöner Gebärde beide Arme eckig zum Kopf, daß das schwarze Gekräusel in den Achseln sichtbar war, und feucht atmend, lächelnd, schritt sie mit biegsamen Schritten, tanzend fast, durch das Zimmer. Viele Herren werden an ihrem Hofe sein, deutsche, italienische, französische, nicht halbwilde wie hier; man wird ja nah an Versailles sein. Und viele, die halb frech, halb bewundernd die Prinzessin beschaut hatten, wie werden sie jetzt die Herzogin beschauen. Auch der Leibjude wird wieder am Rande ihres Kreises stehen, der hemmungslos galante, sie zuckte amüsiert die Lippen. Ah, es war gut, schön zu sein, es war gut, reich zu sein, es war gut, Herzogin zu sein. Wie herrlich, daß es Männer gab und schöne Kleider und Kronen und Lichter und Feste. Es war eine schöne Welt, es war schön zu leben.

Auf Schloß Winnenthal, vier Stunden nur vor Stuttgart, fiel Karl Alexanders Bruder, der sanfte Prinz Heinrich Friedrich, in tiefe Verwirrung, als er den Tod des Vetters erfuhr. Er lebte still in dem schönen, kleinen Schloß, las, musizierte. In den letzten Jahren hatte er eine Geliebte zu sich genommen, ein ruhiges, dunkelblondes Geschöpf, die Tochter eines kleinen Landedelmannes, mit weichen Bewegungen, schönen, tiefbefriedeten Augen und etwas schwer von Verstand. Als der Prälat Weißensee zu ihm gekommen war mit dem Projekt, ihm an Stelle des katholischen Bruders den Thron zuzuwenden, hatte der verträumte Mann mit beiden Händen zugegriffen. Aber der kluge Prälat mußte bald erkennen, daß der Prinz in seiner fahrigen, unsachlichen Manier politische Dinge als Phantasien betrachtete und sich in Farbig-Nebelhaftes verlor. Nein, mit diesem Prätendenten konnte man gegen den energischen, zufahrenden Karl Alexander nichts ausrichten. Nach dem Tod des Erbprinzen, als die Nachfolgerschaft aus müßigem Geträum greifbare Wirklichkeit hätte werden können, traf gar aus Belgrad – weiß der Himmel, woher der Feldmarschall von den Zetteleien mochte erfahren haben – ein unzweideutiges Schreiben ein, darin Karl Alexander den Bruder ernstlich vermahnte, von solchen Umtrieben und schnöder Aktion abzulassen. Erschreckt und verschüchtert zog sich der sanfte Prinz von allen Unternehmungen zurück, ja, er vermied in großer Angst jeden Umgang mit Weißensee. Jetzt, wie er den Tod des Herzogs erfuhr, stand all das bunte, phantastische Geträume wieder auf. Schwitzend, mit zittrigen Gliedern, groß erregt, ging der schwächliche Mann in dem fahlen Morgen herum, dichtete sich zusammen, was alles sein könnte, wenn er nur ein bißchen mehr Initiative hätte, wie er von der Macht Besitz ergriffe, an den Kaiser schriebe, Minister bestellte, entließe, mit Frankreich Verträge schlösse, zündende Reden an das Volk hielte. Aufseufzend kehrte er schließlich wieder in das Schlafzimmer zurück, er hatte seine liebe Geliebte nicht erst wecken wollen, leise und vorsichtig zog er sich aus, streckte sich bekümmert über seine Schwäche an ihrer Seite aus, umarmte tastend ihre großen, warmen Brüste, bis sie ihre schönen, dummen Augen aufschlug, tröstete sich an ihrer sanften Jugend und schlief endlich, seufzend, nachdenklich und befriedet, wieder ein.

Der Prälat Weißensee, auf die Todesnachricht hin, ging in kribbelnder Erregung durch seine weiten Räume mit den weißen Vorhängen. Wieviel Probleme, Komplikationen, Konflikte! Der katholische Fürst in dem stockprotestantischen Land: eine neue, unerwartete, noch nie dagewesene Konstellation im westlichen Deutschland. Er, Weißensee, hatte sich rechtzeitig eingestellt, es gab viele Möglichkeiten, er wird bei keiner ausgeschaltet werden können. Er hat sich nirgends exponiert, er hat überallhin Fäden geknüpft. Er ging auf und ab, konzipierte Pläne, verwarf, genoß wohlig Spannung, Bewegung, das Glück des großen Intrigenzettlers und Projektenmachers.

Magdalen Sibylle aber, seine Tochter, saß, und die blauen Augen in dem bräunlich kühnen Gesicht arbeiteten und wechselten zwischen Hell und Dunkel. Ein Katholik, ein Heide auf dem Thron. Jetzt brach Verwirrung und große Not über das Land herein. Hilf, Herr Zebaoth, daß das Land fest bleibe gegen die Versuchungen, mit denen der Götzendiener es locken, gegen die Drohungen, mit denen er es der reinen Lehre wird abspenstig machen wollen. Der heidnische Fürst fuhr einher mit Glanz und großer Gloire, er hatte Schlachten gewonnen, stand beim Kaiser in Gunst, seine Gemahlin trug sich hoffärtig und frivol. Hilf, Herr Zebaoth, daß das Volk fest bleibe in all der Not und Versuchung. Und ihr Vater, ihr Vater stand ganz vorne im Kampf, ihm lag es ob, Schild des bedrohten Evangels zu sein. Ach, sie wollte nicht sündigen gegen das vierte Gebot; aber sie hatte große Angst, ob er auch die rechte Festigkeit habe vor Gott und den Menschen. Sie flüchtete sich, wie immer in solcher Not, zu Gott, sie schlug die Bibel auf und betete um ein Orakel. Aber sie fand nur den Spruch: »Jeglichen reinen Vogel dürft ihr essen. Dies aber ist, was ihr nicht essen dürft von ihnen: den Adler und den Strauß und den Sperber und den Pelikan.« Sie dachte lange nach, aber sie konnte bei aller Gewandtheit im Orakeldeuten keinen Zusammenhang finden zwischen der Not des Landes, der Sorge um den rechten, festen Glauben des Vaters und dem Strauß und dem Pelikan, den die Israeliten nicht essen durften. Sie beschloß, das Orakel ihrer Freundin Beata Sturmin vorzulegen, der Erweckten, der blinden Heiligen im Stuttgarter Bibelkollegium. Vorerst aber betrachtete sie, Kummer und schweres Nachdenken in dem männlich kühnen Antlitz, den Vater, der gar nicht umwölkt, sondern höchst angeregt, das feine, lebendige Gesicht arbeitend, in wohliger Spannung auf und nieder ging.

Schon eine halbe Stunde, bevor die Sitzung beginnen sollte, hatten sich die elf Herren des engeren parlamentarischen Ausschusses im Landschaftshause zusammengefunden. Es stand nur Belangloses auf der Tagesordnung; aber alles war so ungeklärt, man saß in dicker Finsternis, man wollte wenigstens einen Nebenmann tasten, Antworten aus der Nacht hören.

Ach, daß man damals dem Prinzen das Darlehen abgeschlagen hatte, ach, daß man mit seinem jüngeren Bruder gezettelt hatte. Jetzt saß man in Dreck und großer Not. Der Prinz müßte ein Heiliger sein, wenn er jetzt, an der Macht, die Landschaft das nicht entgelten ließe. Und er war durchaus kein Heiliger. Ein Soldat, ein Feldmarschall, gewohnt an stumme, blinde Subordination. Man hörte, daß er in Belgrad mit seinen Räten durchaus nicht glimpflich verfuhr, daß er oft und abermals mit seinen Beigeordneten in wilde, tobende Zerwürfnis geraten war, bestialisch fluchte und tobte, keine Widerrede duldete und Geschirr und Zerbrechliches an den Schädeln seiner Räte zerschmiß. Kurz, daß er ein Despot war wie nur je ein heidnischer Cäsar. Man wird seine Not und Höllensabbat haben mit diesem Leviathan.

Denn man war nicht gewillt, auch nur ein Tipfelchen aufzugeben von seinen Rechten und Freiheiten. Ah, die süße Macht! Sie Elf, sie leckten den Honigseim der Verfassung. Der Rest des Parlaments war nur dazu da, zu bestätigen, was sie beschlossen. Aber sie, sie Elf, sie thronten über dem Land, sie tagten hinter verschlossenen Türen, wie die venezianische Signoria, sie spannen, handelten, schacherten unter sich und banden dem Herzog und seinen Ministern die Hände. Wohlig war es und süß, sich so wichtig und in der Macht zu fühlen. Da soll keiner herkommen und daran rühren. Man wird sich breit und kräftig hinstellen und das Land schützen vor Tyrannei und katholischer Knechtung. Denn man hat ja seinen festen Schutz und gute Verwahrung. So fest und gut ist das Gesetz, wonach der Herzog schwören muß, ihre und der protestantischen Kirche Rechte zu wahren. Von diesem Gesetz kann Rom mit all seiner schlauen Interpretierungskunst nichts wegtifteln. Diesen Riegel durchfeilt auch nicht der feinste Jesuiter. Soll er nur um sich beißen, der Heide und wütige Tyrann! An diesem Eisen wird er sich die Zähne ausknirschen. O klares Gesetz! O gesegnete Religionsreversalien! O gute, feste Verfassung und Tübinger Vertrag! O weise, heilsame, gepriesene altväterliche Vorsicht, die bissigen Herzogen solchen Maulkorb angehängt.

Pünktlich um zehn Uhr eröffnete Johann Heinrich Sturm, der Präsident, die Sitzung. Aber ehe man noch in die Tagesordnung eintreten konnte, erschien vor den verblüfften Herren der Regierungsrat Filipp Jaakob Neuffer, Bruder des Konsulenten. Er wies Dokumente vor, denen zufolge Karl Alexander als legitimer Nachfolger den württembergischen Thron übernehme und bis zu seiner Ankunft im Herzogtum die Räte von Forstner und Neuffer als amtierende Minister mit der Leitung der Staatsgeschäfte beauftrage.

Lächelnd und höflich erklärte der Rat den sehr betretenen Herren weiter, dem Herzog sei bekannt, daß man im Parlament gewisse Besorgnisse hege, die Religion und die ständischen Freiheiten anlangend. Er sei glücklich, den Herren im Auftrag Seiner Durchlaucht beruhigende Bestätigungen und Versicherungen jetzt schon überreichen zu können. Der Herzog habe Gelegenheit gehabt, noch als Prinz Fühlung zu nehmen mit einigen Mitgliedern des engeren Ausschusses über den damals möglichen, jetzt wirklich eingetretenen Fall, und die Herren hätten die abgegebenen Versicherungen für höchst wünschenswert erachtet, das nötige Vertrauen zwischen Herzog und Landschaft herzustellen.

Stumm und tief verwirrt hörten neun von den Elf diese Rede an. Selbst der ruhige, gefaßte Präsident Sturm zwang sich nur mit Mühe einige Sätze ab, in denen er die Vollmacht des Rates, jetzt also Konferenzministers, anerkannte, für die übergebenen Papiere dankte und erklärte, man werde sie in Ruhe prüfen.

Der Minister gegangen, blieben die Herren bestürzt, ratlos, mißtrauisch, tief erbost. Es gab also unter ihnen Männer, die auf eigene Faust zettelten? Die Nachbarn des Weißensee und des Neuffer rückten fast unmerklich ein wenig von ihnen ab.

Mittlerweile stellte sich der andere Neuffer, jetzt Minister, im Kriegskommissariat vor, verlangte auf Grund herzoglicher Vollmacht ein Detachement Soldaten, erhielt sie nach Anfrage bei der Landschaft. Drang, noch lag der alte Herzog nicht unter der Erde, im Ministerrat ein, verhaftete im Namen Karl Alexanders die Häupter der Grävenitzschen Partei, ließ die Knirschenden, mit allen Himmels- und Höllendrohungen Protestierenden auf den Hohentwiel schaffen. In Haft Friedrich Wilhelm, der Bruder der Gräfin, der eiskalte, der seine Schwester aus der Politik ausgeschaltet hatte, sich um so fester zu setzen, Oberhofmarschall und Ministerpräsident, in Haft seine beiden Söhne, der Oberstallmeister und der Konferenzminister. Aufgehoben auch ihre kleinen Mitläufer und Kreaturen, der Kirchenratsdirektor Pfeil, der geheime Referendar Pfau, die Regierungsräte Vollmann und Scheid und die zahlreichen Subalternen ihres Anhangs. Wie sie sich gespreizt hatten! Wie sie groß und hochnäsig getan hatten und kaum gedankt, wenn man sie grüßte. Jetzt saßen sie in der Zelle und in dicker Finsternis, und kein Hahn krähte nach ihnen.

Dann wartete Neuffer der Herzogin auf, teilte der aus Staub und Gram Aufleuchtenden, Triumphierenden das Geschehene mit. Ließ durch Herold und durch Anschlag bekanntgeben, daß Karl Alexander die Herrschaft übernommen habe, binnen kurzem von Belgrad eintreffen werde, gegen ungetreue Beamte, so für eigenen Vorteil das Volk bedrückten, bereits habe vorgehen lassen, alle Freiheiten, insbesondere der Religion, fürsorglich schon im vorhinein mit fürstlich wahren und treuen Worten bestätigt habe.

Jubel im Volk. Das war ein Fürst. Der griff zu ohne Ansehen der Person. Genau wie auf dem Bild, wo er Belgrad erstürmt. Bänder her, Tannenreiser her, das Bild zu bekränzen! Ein Herr und Held. Mit dem wird man gut fahren.

In der Nähe von Hirsau führte von der Landstraße ab ein Karrenweg. Von dem Karrenweg ab zweigte ein Fußpfad, verlor sich in Wald, hörte ganz auf vor einem starken, sehr hohen Holzzaun. Bäume sperrten den Blick weiter. Von den Einheimischen hatte nur ein Gärtner Zutritt und ein alter Taglöhner, der Botengänge besorgte, beide mürrische Männer, die Ausfrager stehenließen. Man wußte nur, daß ein Holländer das verfallene kleine Haus von den Erben des früheren Besitzers erworben hatte. Den Behörden war er als Mynheer Gabriel Oppenheimer van Straaten gemeldet, er hatte den großen Paß der Generalstaaten. Der Kauf war in aller Form vollzogen, allen Anforderungen der Polizei- und Rentämter wurde mit peinlicher Gewissenhaftigkeit genügt. Der Holländer wohnte dort mit einem sehr jungen Mädchen, einer Zofe, einem Diener. Man erzählte eine merkwürdige Geschichte von einem Strolch, der einen Einbruch in dem einsamen Haus versucht hatte. Er sei abgefaßt, überwältigt worden. Der Holländer habe ihm nichts getan, den Abgebrühten, Höhnenden nur eine Nacht über in ein Zimmer mit Büchern gesperrt. Schlotternd, tief verwirrt sei der Strolch anderntags durch den Wald getorkelt, habe die Gegend für immer verlassen.

Gerüchte flogen auf, der Holländer sei der Ewige Jude, verstummten wieder. Er hielt sich fern vom Ort, machte einsame Spaziergänge, gewöhnlich im Wald, selten bekam man ihn zu Gesicht. Schließlich gewöhnte man sich an ihn. Da war nun eben ein Zaun mit gewaltigen Bäumen, und dahinter wohnte der Holländer, und wenn er verbotene Dinge trieb, so tat er das zumindest sehr still und ohne jemand zu molestieren.

Nun lebte aber in Hirsau jener Magister Jaakob Polykarp Schober, der dort das Bibelkollegium abhielt, an dem auch Magdalen Sibylle teilnahm. Der junge, etwas fette, pausbäckige Mensch, der still vor sich hin trieb und lange, sinnierende Spaziergänge liebte, geriet auf einem solchen Spaziergang, halb unwillkürlich einem Vogel folgend, der ihn von Baum zu Baum lockte, an den hohen Zaun, überkletterte ihn ohne viel Gedanken und ohne besondere Mühe, durchschritt den Wall der hohen Bäume, stand plötzlich am Rand einer Lichtung und sah, inmitten von Tulpen und terrassenförmig steigenden Beeten anderer ihm unbekannter, sorglich gezüchteter Blumen, das Haus des Holländers. Es stach fremdartig, ein blendend weißer, kleiner Würfel, in die pralle Sonne. Vor dem Haus aber war ein primitives Sonnenzelt aufgeschlagen, und darin lag, sich dehnend und verträumt, ein Mädchen, nach fremder Sitte gekleidet, mattweißes Gesicht unter blauschwarzem Haar. Der Magister stand still, starrte rundäugig, demütig, machte sich auf Zehen wieder fort. In Zukunft aber schlich sich in seine Vorstellungen vom himmlischen Jerusalem das Bild des Mädchens im Zelt vor dem sehr weißen Haus mit den Tulpen. Rabbi Gabriel ließ dem Mädchen jede Freiheit. Naemi blühte still und sanft und ohne viel Begehren. Sie hatte den alten, mürben, schweigsamen Diener und ihre holländische Zofe Jantje, die nun auch schon viele Jahre gutmütig, ergeben, geschwätzig und besorgt um sie herumwirtschaftete. Manchmal hätte sie gerne Menschen gesehen; aber da der Oheim sie fernhielt, war es wohl besser so. Geträumte Menschen, gelesene Menschen waren besser als die unten lebenden.

Sie erging sich mit Lust in den Büchern, die der Oheim mit ihr las. Es waren zumeist hebräische Bücher, die vieldeutigen, geheimnisvollen der Kabbala darunter. Sie dachte sie nicht, sie sah sie. Der kabbalistische Baum, der himmlische Mensch waren ihr wirkliche, greifbare Dinge. Es tanzten die Buchstaben-Ziffern des Gottesnamens einen heiligen Tanz, sie hatten ihre bunten, schimmernden Fahnen, es regten sich mit vielen Gliedern die Figuren der heiligen Wissenschaft, es klommen die Dreiecke, es sanken die Vierecke, es sprang von Gipfel zu Gipfel der fünfzackige Stern. Aber die Sieben- und Neunecke reckten viele Glieder, spießten bedrohlich nach einem, umschmiegten einen lieblich. Und alles schlang sich in vielwendigem, artigem Tanz.

Es lehrte der Oheim: Jeder Satz, jedes Wort, jeder Buchstabe der Schrift hat seinen heimlichen Sinn. Er öffnet sich, wenn du die Worte vergleichst mit anderen Stellen der Schrift, wenn du den Zahlenwert der Buchstaben zu neuen Gebilden destillierst. Sieh, hier ist Papier und ein wenig Schwärze darauf. Und ist lebendiger als ein lebendiger Mensch, ist sprechender Mund für die Ewigkeit. Ist dies nicht das Wunder der Wunder? Vor vielen tausend Jahren dachte einer, fühlte einer diesen Satz. Der Mund, der ihn zum erstenmal sprach, ist tot, das Hirn ist tot, das ihn zum erstenmal dachte. Aber seine Hand schrieb ihn nieder, und da er ihn niederschrieb, strömte Gott in die Buchstaben, und du denkst sie, spürst sie heute, nach den vielen tausend Jahren. In dem Geschriebenen ist Gott. Buchstaben leben, weben sich, Buchstab zu Zahl, Zahl zu Klang, in Ewigkeit. Was einer schreibt, das löst sich von ihm und lebt sein eigenes Wesen fort und spricht zu jedem andern. Aber wer sich heiligt, empfindet Gott in allem Geschriebenen.

So lehrte Rabbi Gabriel. Naemi hörte, mühte sich zu begreifen. Aber die heiligen Geschichten formten sich nur auf Augenblicke zu den strengen, mystischen Abgezogenheiten, die der Oheim ihnen abrang. Dann kehrten sie zurück und bekamen Farben und Fleisch und wurden in dem Blut des Mädchens zu bunten, lieblichen Fabeln und zu heroischen Abenteuern.

Sie las im Hohenlied: Mein Geliebter hebt an und spricht: Auf, meine Schäferin! Meine Schöne! Auf und komm! Sieh, der Winter ist vorbei. Junge Blüten erscheinen am Boden, die Zeit des Sangs ist da, der Turteltaube Stimme tönt in unserm Land. Auf, meine Schäferin! Meine Schöne! Komm! Meine Taube! Taube im Felsenriß, auf heimlichem Hang! Laß mich schauen deine Gestalt! Laß mich deine Stimme hören! Denn deine Stimme ist süß und lieblich deine Gestalt.

Sie saß, zart und aufmerksam, und glitt mit erfüllten Augen über die großen, blockigen, hebräischen Buchstaben. Das Gesicht, sehr weiß wie das des Vaters, drehte sich auf schlankem, stolzem Hals, die Augen trugen uralte Träume, den Kopf hatte sie in die Hände gestützt, sanft rundeten sich aus zarten Gelenken die Arme.

Rabbi Gabriel erklärte, was sie da gelesen habe, deute die Schöpfung der Welt, und die Blumen seien die Erzväter, und die Stimme der Jünglinge, welche die Geheimnisse der Schrift lernen, erwirke, daß die Welt sich erhalte und die Erzväter sich offenbaren. Und er legte es auseinander und wieder zusammen, mit viel Tiefe und Scharfsinn; und schließlich versank er und verstummte. Sie hörte gläubig zu; aber kaum hatte er geendet, so wurden die Blumen wieder Blumen, und sie hörte die einfache, süße Melodie: Der Winter ist vorbei, der Regen flieht und ist vorbei. Junge Blüten erscheinen am Boden, die Zeit des Sangs ist da, der Turteltaube Stimme tönt in unserm Land. Und sie schließt die Augen und hört auf die lockende Stimme, und sie lauscht hinter die Bäume und hält den Atem an: jetzt wird, gleich wird, im nächsten Augenblick, der Schäfer sichtbar sein, der die feinen Worte läutet, die silbern klingenden. Doch niemand kommt.

Auch die Helden und Frommen der Bibel bedeuteten gewiß das, was Rabbi Gabriel ihr erklärte. Doch war er nicht da, so schaute sie Naemi mit ihren eigenen Augen. Sie selber war Tamar, die den Amnon liebte, sie war Rahel, die mit Jakob floh, sie Rebekka an der Tränke. Auch Mirjam war sie noch, die das Siegeslied tanzte über den vom Herrn ersäuften Ägyptern. Doch nicht war sie Jael, die dem Sisserah den Nagel in die Schläfe schlug, nicht Deborah, die richtete in Israel. Mit den wenigen Menschen ihrer Umwelt staffierte sie die Geschichten der Bibel aus. Hagar trug die Züge der geschwätzigen Zofe Jantje, die Propheten hatten die trübgrauen, steintraurigen Augen des Onkels und seine platte Nase, und sie redeten mit seiner knarrenden, übellaunigen Stimme.

Die Helden aber hatten die Haltung des Vaters, sein Gesicht, seine Augen, die großen, gewölbten, fliegenden, seine schmiegsame, beredte, beredende Stimme. Ach, der Vater! Der helle, glänzende! Oh, daß er so selten kam! An seinem Hals hängen, das war Leben, und was sonst war, das war nur die Erwartung, daß er wiederkommen werde. Und alle die Helden der Schrift sah sie in seinem Bild. Simson, der die Philister schlug, trug seinen olivgrünen Rock und stapfte eilig, glänzend und gefährlich in seinen klirrenden Reitstiefeln. David, wie er dem Goliath obsiegte, wiegte sich in dem roten, zierlich geschweiften Frack, in dem der Vater das letztemal gefahren kam, und der gehobene Arm mit der Schleuder warf artig gefältelte Manschetten zurück. Und ach!, auch dies sah sie mit einem heimlichen, lüsternen Grauen, das Haar, daran Absalom im Baume sich verfing, war das reiche, gelockte, kastanienfarbene Haar des Vaters, und wenn David wehklagte: O Absalom! Mein Sohn!, dann jammerte er mit der knarrenden Stimme des Oheims, und es waren die feuervollen, geliebten Augen des Vaters, die er zudrückte. Festlich fuhr der neue Herzog die Donau hinauf in der Jacht, die sein Schwiegervater ihm geschenkt hatte. Reglos am Kiel hockte unergründlichen Auges der Schwarzbraune. Neben der Herzogin saß massig der General Remchingen, hochrot das Weingesicht unter der weißen Perücke; schnaufend und modisch machte er in seinem plärrenden Österreichisch der schönen Frau seinen Hof. Der Soldat strahlte, hundert verwogene, draufgängerische Pläne blühten jetzt der Reife entgegen. Es war eine der ersten Handlungen des Herzogs, daß er den Freund zum Präsidenten des Kriegsrats und Höchstkommandierenden in Württemberg ernannte.

Glänzender Empfang in Wien. Die Majestäten äußerst huldvoll. Hochamt. Bankett in der Burg. Oper. Der alte Fürst Thurn und Taxis war dem Schwiegersohn nach Wien entgegengefahren; auch die beiden geistlichen Freunde hatten es sich nicht nehmen lassen, dem Herzog ihre Glückwünsche bis Wien entgegenzutragen. Als die Jacht anlegte, stand der Fürstbischof von Würzburg mit seinen Geheimräten Raab und Fichtel, stand der Fürstabt von Einsiedeln am Ufer, küßten den Herzog erfreut und herzlich, tätschelten blinzelnd Marie Augustens Hand.

Nach der Oper, die Majestäten und die Herzogin haben sich schon zurückgezogen, sitzen Karl Alexander, der Fürst von Thurn und Taxis, die beiden Prälaten noch zusammen. Dunkelgelber Tokaier leuchtet ölig, der Herzog hat sich in Belgrad an ihn gewöhnt, säuft ihn in großen Zügen, derweilen die Jesuiten sich an Schlücklein behagen. Die Luft ist schwer von Kerzen und Wein.

Karl Alexander, vor diesen Befreundeten und Vertrauten, kehrt sein Herz nach außen. Ah, er war nicht gewillt, als kleiner Dutzendfürst in seinem Land zu versauern. Sein Ehrgeiz ging nach mehr, als darüber zu wachen, daß seine Untertanen brav ihren Wein bauten, ihre Leinwand woben, ihren Kleinen den Rotz schneuzten und die Hemdzipfel rein hielten. Regieren lassen wird er seine Räte, er wird herrschen. Er war nicht umsonst so lange im Feldlager gewesen. Er war Soldat, ein Soldatenherzog. Hat er so lange für ein anderes, wenngleich befreundetes Haus gefochten und gesiegt, wieviel besser wird er können für sich selber fechten und siegen. Ludwig der Vierzehnte hat erobert, das kleine Venedig hat ein gut Teil Griechenland gefressen, von Schweden aus hat der zwölfte Karl seine Fahnen durch halb Europa getragen, in Potsdam rüstet man auf Eroberungen. Er spürt es, er ist der Mann dazu, aus seinem kleinen Staat einen größeren zu machen, vielleicht will’s Gott, einen großen. So, wie es jetzt ist, jedenfalls läßt er sein Land nicht. Da stößt man sich ja blau und kaputt an all den Ecken nach innen und außen und kann keinen Arm und kein Bein ausstrecken. So viel Strateg ist er und versteht er von der Kriegskunst, daß sein kleines Land der Lage nach der Kern ist zu einem größeren. Und auch die Zeit, der Krieg mit Frankreich, ist günstig. Wenn man nur richtig vorstößt nach den württembergischen Besitzungen jenseits des Rheins, nach der Grafschaft Mömpelgard, die so mitteninne liegt im Französischen, und von da aus weiter: für einen Militär ist das eine exzellente Basis. Dann das viele Kleinzeug mitten im Herzogtum und an den Grenzen, die Reichsstädte Reutlingen, Ulm, Heilbronn, Gmund, Weil die Stadt, er begreift nicht, wie seine Vorgänger das haben so üppig wuchern und florieren lassen. Er wird sorgen, daß das dem Herzog nicht wie Steine im Magen soll liegen, sondern wie gedeihlicher Fraß.

»Euer Liebden sind sehr kühn«, lächelte der alte Thurn und Taxis und schnupperte mit dem feinen Windhundgesicht an seinem Tokaier. Wohlgefällig hörte er auf die temperamentvollen Projekte des Schwiegersohns. Er hielt das alles für bare Utopie, er glaubte nicht, daß sich davon auch nur ein Jota werde durchsetzen lassen; aber mein Gott!, der Herzog war Soldat, man verlangte keine politische Einsicht von ihm. Es war nett, anregend, amüsant, daß er so soldatisch ins Zeug ging. Zwei Monate in seiner Residenz, und das Feuer legt sich.

Die beiden Kirchenfürsten lauschten aufmerksam den starken Worten Karl Alexanders. Sie hatten seine Katholisierung mit großem Eifer betrieben, einmal weil man jeder irrenden Seele zum Licht verhelfen soll, dann weil es ein starkes Propagandamittel war, den Württemberger herüberzuziehen, vor allem aber aus Spielerei. Große politische Pläne hatten sie wirklich nicht damit verfolgt. Nun Gott es aber so glücklich gefügt hatte und dem Neugewonnenen ein so mächtiges Relief gegeben, konnte man schmunzelnd die vielerlei Komplimente über die eigene weise Voraussicht einstecken. Vor allem aber galt es, die unerwartete Chance nach Kräften auszunützen. Solch Feuer, wie es der Herzog da abbrannte, war immer gut. Daran war manches Süpplein zu wärmen.

Sachte begann der dicke Würzburger Fürstbischof. Der Bruder Herzog trage sich mit großen Plänen, zu denen ihm jeder christkatholische Fürst Gutes wünschen müsse. Aber er vergesse, daß Gott ihn ausersehen habe, in einem rebellischen und ganz verstockten Babylon zu herrschen. Diese verfluchten Evangelischen hätten die gottgewollten Rechte der deutschen Fürsten beknabbert wie die Ratten, daß sie nun gottsjämmerlich ramponiert in Fetzen hingen.

Der Herzog: Der Württemberger sei nicht schlecht, sei ein loyaler Untertan und dem Fürsten treu. Es sei nur diese verfluchte Bande vom Parlament, die obstinate Kompanie von filzigen Eseln, die ihm seinerzeit die Apanage geweigert, diese sperrigen, hochverräterischen Hammel, die mit seinem Bruder gezettelt. Aber er sei auf dem Quivive gewesen und habe sich nicht um seinen Thron bescheißen lassen, und jetzt, an der Macht, werde er es ihnen heimzahlen und sie kuranzen, daß sie sollen Blut schwitzen. Und so wolle er kein Fürst sein und Soldat, so er ihnen nicht den Fuß werde auf den frechen Nacken setzen.

Es lächelte der Abt: So einfach sei das nicht. Fürs erste habe der Bruder Herzog Vorausversicherungen gegeben für die Religion und allerhand Reversalien. Das sei Papier, Papier, Papier, schrie schwer vom Wein und wild der Herzog. Und gelassen der Jesuit: Gewiß; aber vorläufig bindend. Auch die Bibel sei zuletzt nur Papier, und doch stehe auf ihr Rom und die Welt. Geschmeidig mischte der Würzburger sich ein: Karl Alexanders Kraft und Weisheit, die Hilfe und List seiner Freunde, seine Soldaten und die Güte seiner Sache würden das Papier schließlich zerreiben. Die Katholisierung des Herzogtums, Basis und Eckpfeiler all dieser Pläne, sei schwer, aber nicht unmöglich. Man denke an die vorbildlich kluge und geglückte Katholisierung von Pfalz-Neuburg. Nur katholische Offiziere und Soldaten zunächst. Da kann keine Landschaft einreden. Dann alle Hofchargen mählich nur mit Katholiken besetzt, und schließlich alle Beamtenstellen im Land. Die Protestanten werden entlassen ohne Rücksicht, alle. Ei, wie sprangen damals in der Pfalz die Seelen in den guten Glauben! Wie viele wurden auf so einfache Manier der ewigen Verdammnis entrissen. Zuerst die Beamten, die Familie hatten, die am meisten um ihre Existenz fürchteten. Ei, wie rasch sie von der alleinseligmachenden Lehre überzeugt waren, ei, wie sie die protestantische Ketzerei abschworen, ei, wie sie liefen, hasteten, die guten, wackeren Seelen, atemlos, in den Schoß der Kirche.

Man lachte, trank. Mancherlei Wege öffneten sich. Der Fürstbischof versprach, er werde durch seinen grundgescheuten Geheimrat Fichtel Richtlinien ausarbeiten lassen, speziell auf Württemberg zugeschnitten. Man trennte sich angeregt, voll Hoffnung.

Andern Tages erschienen bei dem Herzog drei kaiserliche Räte, mit ihm über den französischen Krieg zu beraten, in den der Kaiser unbesonnen hineingeglitten war. Karl Alexander, bis jetzt vor den kaiserlichen Räten immer nur Bittender, Lästiger, besoldeter General, blähte sich nun, umworben. Lässig, mit großer Geste, schmiß er den Ministern die zwölftausend Mann Subsidien hin, um die man ängstlich ihn bat. Mit vieler Verklausulierung und in dunklen Andeutungen versprach ihm dafür der kaiserliche Geheimvertrag Schutz und Mehrung seiner Souveränität gegen eventuelle Übergriffe seiner Landschaft.

Als der Herzog Wien verließ, küßte ihn die römische Majestät vor Hof und Volk auf beide Wangen.

Josef Süß, wie er den Tod Eberhard Ludwigs erfuhr, stand eine kurze Weile ohne Atem, den sehr roten Mund halb offen, die linke Hand gehoben wie in leichter Abwehr, alles Blut zum Herzen. Am Ziel. Er war am Ziel. Ganz plötzlich stand er oben. Er hatte es so heiß gewünscht, er hatte hochfahrend getan vor sich und den anderen, als stünde er längst oben, aber innerlich war er immer zernagt und zerschüttelt von Zweifeln gewesen. Und nun mit einemmal war es da, es war wie ein Treffer, ein einmaliger, unter hunderttausend Losen, er hatte die rechte Eingebung gehabt, und er stand stolz und geniehaft vor dem klugen Isaak Landauer, der gelächelt hatte und mit dem Kopf gewackelt über seinen Glauben an den kleinen Prinzen und sich die fröstelnden Hände gerieben.

Ah, nun wird er stolz und mächtig herschreiten. Hundert glänzende Säle taten sich auf vor ihm. Mit einem Ruck schnellte er hoch. Er wird jetzt, Gleicher unter Gleichen, mit den Großen der Welt an prunkenden Tafeln sitzen; die eben noch verächtlich den Fuß gegen ihn hoben, werden vor ihm den Rücken rund machen. Die ihn antichambrieren ließen, werden vor seiner Tür warten, bis er sie vorläßt. Und Frauen, weiße, glänzende, vornehme, die sich seine Liebe gnädig gefallen ließen, werden ihm jetzt bettelnd die stolzen Leiber zutragen. Mit Wucher wird er die Fußtritte zurückzahlen, die er hat hinnehmen müssen. Er wird sehr hoch thronen und wird sich weiden an seiner Dignité, er wird den großen Herren weisen, daß ein Jud den Kopf noch zehnmal höher tragen kann als sie.

Er verkaufte seine Häuser in Heidelberg und Mannheim, erließ in hochfahrendem Ton eine Bekanntmachung, wer im Pfälzischen Forderungen an ihn habe, möge sie präsentieren. Mittlerweile kaufte er unterderhand durch Mittelsleute in Stuttgart in der Seegasse das Palais einer heruntergekommenen Adelsfamilie, ließ es aufs prächtigste renovieren, ergänzte seine Dienerschaft, seine Garderobe, seinen Marstall. Traf umständliche Vorbereitungen, dem Herzog fürstlich und feierlich entgegenzufahren.

Unter solchen Anstalten fand ihn Isaak Landauer. Unansehnlich, schmuddelig saß der große Finanzmann in ungefälliger, eckiger Haltung in einem großen Sessel, wärmte sich die mageren, blutlosen Hände, durch seine Schläfenlocken, seinen Kaftan, seine verwahrloste Judentracht den Süß tief reizend. Er hatte, mußte Süß enttäuscht und geärgert konstatieren, offenbar weder Bewunderung noch Neid für ihn. »Ihr habt Glück gehabt, Reb Josef Süß«, sagte er, kopfwackelnd, gutmütig, leicht spöttisch. »Es hätte auch können schiefgehen, dann hättet Ihr Euer ganzes Geld an den Schlucker verloren.« – »Jetzt ist er jedenfalls kein Schlucker«, sagte Süß ägriert. »Das meine ich eben«, gab der andere bereitwillig zu. Und, vertraulich, autoritativ: »Was macht Ihr für Gewese und Gepränge und große Geschichten? Laßt Euch sagen von einem alten Geschäftsmann, es ist unpraktisch, es ist bloß zu Schaden. Was macht Ihr Euch dick und stellt Euch in die Sonne? Es ist nicht gut, wenn sich ein Jud hinstellt, wo ihn alle sehen. Laßt Euch sagen von einem alten Geschäftsmann, ein Jud stellt sich besser in den Schatten.« Und mit einem kleinen, gurgelnden Lachen: »Eine Schuldverschreibung in der Truhe ist besser als eine Goldbordüre am Rock.« Und gutmütig, mit sachtem Spott, prüfte er die Stickerei an den Ärmeln des Süß, während der andere, angewidert fast, sich ihm zu entziehen suchte.

So sind diese Jungen, dachte Isaak Landauer, als er den Süß verlassen hatte. Sie sinken, sinken bis zu den Gojim. Sie brauchen Lärm, Glanz, gestickte Röcke. Sie müssen sich bestätigt fühlen von den anderen. Von dem feinen, heimlichen Triumph in Kaftan und Schläfenlöckchen ahnen sie nichts, diese Flächlinge.

Süß höhnte vor sich: Wie feig er ist. Immer sich verstecken. Wozu denn Macht, wenn man sie nicht sehen läßt? Diese dummen, ängstlichen, altmodischen Vorurteile. Nur ja die Christen nicht aufmerksam machen. Nur ja sich in den Schatten dukken. Gerade ins Licht stellen werde ich mich und allen mitten ins Aug schaun.

Mit großer Pracht fuhr er nach Frankfurt. Besuchte seine Mutter, sich ihr in seinem Glanz zu zeigen. Die schöne alte Dame – von ihr hatte er das sehr weiße Gesicht und die wölbigen, fliegenden Augen – lebte in behaglichem Wohlstand ein leeres Leben. Ach, wie waren früher ihre Tage erfüllt gewesen. Mit gehetzten Pferden hatte die Schauspielerin Michaele Deutschland durchjagt, und alle Straßen waren voll von Männern, Abenteuern, Begierden, Triumphen, Kümmernissen, Wirbel gewesen. Jetzt ließ sich ihr Dasein nur mehr äußerlich mit den Farben von Erlebnissen antünchen, sie mußte jedes Nichts aufblasen, um den Schein von Wichtigkeit und Geschäftigkeit zu wahren, sie füllte die Stunden mit Körperpflege, unterhielt eine vielfältige, lärmende Korrespondenz, kroch in das Leben ihrer zahllosen Bekannten hinein. Süß blähte und spiegelte sich vor ihr, sie weidete sich an seinem Glanz, sog, die Augen groß und töricht, seine lärmenden, gedunsenen Prahlereien ein. Er, vor der willigen, bewundernden Hörerin, steigerte sich immer höher.

In den farbigen Schaum ihrer Reden hinein erschien Rabbi Gabriel. Eben noch hatte mit lüsternem Triumph Süß von den Frauen geredet, die sich in seinen Zimmern drängten, und Michaele hatte gierig zugehört. Jetzt zerdrückte das breite, steinerne, mürrische Antlitz des Alten alle diese leichten, bunten Gesichte wie ein gewaltiger Block. Ja, er wußte, daß der neue Herzog schon von Wien aufgebrochen war, bald eintreffen werde. Süß war natürlich auf dem Weg zu ihm. Er sprach mit so kaltem, müdem Spott, daß alles Errungene kahl und zweifelswürdig erschien. Dann fragte er beiläufig, wann endlich Süß nach Hirsau kommen werde, das Kind habe seinen Anblick not. Da Süß sich wand, ausbog, bestand er nicht weiter, nur die drei Falten vertieften sich in der Stirn. Er sah von der Mutter zum Sohn, vom Sohn zur Mutter. Ging bald.

Michaele war fahrig, flatternd, ängstlich wirr wie ein hirnloser Vogel gewesen, solang er da war. Süß hatte die Mutter noch nie in seiner Gegenwart gesehen. Auch er holte nur mühsam seinen in allen Ecken geschlagenen Stolz und großen Glanz wieder zusammen. Langsam und nicht ganz sicher stelzte er sich den alten Prunk wieder an und machte sich vorsichtig lustig über den Alten. Allein die Mutter stimmte nicht ein, und sein Abschied war nicht ganz so strahlend und befriedigt wie sein Auftritt.

In rascher Fahrt nach Regensburg. Lärmend, in heiterster Laune empfing ihn der Herzog. Sehr rot unter der weißen Perücke fiel ihn Remchingen mit groben Witzen an; er mochte die Juden nicht leiden, der da mit seiner überhöflichen, geschmeidigen Art war ihm doppelt zuwider. Auch der alte Thurn und Taxis verhielt sich reserviert; er hatte es dem Juden nicht vergessen, daß er damals in Monbijou mit seinem blaßgelben Salon seinen blaßgelben Frack geschlagen hatte.

Sehr wohlgefällig aber und amüsiert lächelte ihm die Herzogin entgegen. Ziervoll hob sich die schmale Taille mit dem spöttischen Kopf aus dem mächtig ausschweifenden, dunkelblauen Samtrock, in dem das winzige Hündchen fast verschwand. Gnädig reichte sie dem Juden zum Kuß die kleine, fleischige, gepflegte Hand, während sie mit der andern artig und preziös, wie es die Sitte vorschrieb, die obersten Falten des Rockes hielt. Ei, was mochte er für dunkle und ruchlose Gedanken mit in ihre Hand hineingeküßt haben. Er hatte noch immer diese Augen von hemmungsloser, beredter Ergebenheit. Und wie modisch bis ins letzte Härlein er sich trug. Es war amüsant, so einen Juden um sich herum zu haben, der aussah wie der galanteste Herr von Versailles und sein arges jüdisches Herz, das doch sicherlich voll war von jeder Bosheit und giftigem Gewürm, hinter so einem feinen, hirschbraunen Rock verbarg.

Hernach dann, als sie nur zu zweien waren, fragte ihn der Herzog nach der Stimmung im Land. Er fragte etwas von oben her und beiläufig; aber Süß durchschaute sofort und innerlich erheitert über so primitive Methoden seine Unsicherheit und wie sehr ihm an seinem Urteil lag. Sogleich stellte er sich auf Geschäft ein, auf Sachlichkeit, Konzentration, sorglichste Witterung. Saß, der kluge Finanzmann, mit gespannten Nerven, in Tätigkeit jede Sicherung. Drehte alle Räder seines Kalküls an, zerteilte rasch und präzis für alles zu Sagende Gründe und Gegengründe, rieb sie blitzblank, zählte, wog, rechnete. Holte den Herzog mehr aus als dieser ihn.

Drei Dinge, sah er, wollte dieser Herzog hören: daß das Volk, unzufrieden, von ihm Erlösung aus aller Not erwarte, daß er der größte deutsche Feldherr sei, dem das Land die Mittel zu einer stattlichen Kriegsmacht als etwas Selbstverständliches schulde, daß das Parlament sich zusammensetze aus einer Bande filziger, eigensüchtiger, querköpfiger, rebellantischer Lumpen. Klug richtete Süß seine Antworten so ein, daß sie alle hinausliefen auf Bestätigung solcher Grundsätze.

Unvermittelt schlug ihn der Herzog auf die Schulter: »Mit Seinem Magus hat Er mich nun doch nicht angeschmiert, Er Sapperlotter von einem Juden.« Süß zuckte zusammen, antwortete gegen seine Gewohnheit schleppend, unfrei, gezwungen, er habe sich die kabbalistischen Berechnungen auch was kosten lassen; kein Wunder, daß sie solid seien und stimmten. Der Herzog, lauernd und auch seine Laune nicht sehr echt: der Rabbi habe doch aber ein schlimmes Ende prophezeit. Wenn die Berechnungen so solid seien, warum Süß dann sein Geld und seine Dienste an ihn kette. Und Süß, nach einer Weile: was der Rabbi für gut und schlecht halte, das liege auf einem andern Gebiet, und nicht spintisierende Menschen wie Seine Durchlaucht und er brauchten sich um dergleichen subtile, metaphysische Dinge nicht hinter den Ohren zu krauen.

Er verstummte plötzlich, behindert am Atem, den Kopf seitlich gezogen. Es war ihm, als schaue ihm ein Mensch über die Schulter, ein Mensch mit seinem eigenen Gesicht, aber ganz im Dämmer, nebelhaft. Auch der Herzog schwieg. Die Dinge um ihn verloren ihm ihre Farbe, der Jude vor ihm verfahlte. Er sah sich schreiten in einem seltsamen, unwirklichen Tanz, vor ihm im Reigen schritt der Unheimliche, der Magus, Rabbi Gabriel, die eine seiner Hände haltend, die andere hielt Süß.

Aus dem Gesicht riß ihn der Jude. Lenkte auf anderes. Der Herzog hatte verächtlich und erbittert von seinem Bruder gesprochen, dem Prinzen Heinrich Friedrich, und seinen Zetteleien mit der Landschaft. Hier hakte er ein, machte sich behutsam lustig über den sanften, untüchtigen Verschwörer, sprach dann von seiner Geliebten, dem stillen, dunkelblonden, dümmlichen Geschöpf. Der Herzog hörte interessiert, belustigt, boshaft zu. Ei potz! Das Geschöpf hatte ein mageres Fressen an dem sanften Heinrich, das war ein dünner Braten ohne Sauce. Er lachte maßlos, in seine Augen stieg ein arges, planendes Glitzern. Der Jude kannte das Mädel natürlich, er solle sie schildern. Süß beschrieb sie vorsichtig, zerlegte sie kennerisch, die Tochter des kleinen Landedelmanns, sanft, groß, schwer, ihre Blondheit, ihre warme, dumpfe Jugend. Der Herzog lauschte hämisch, gierig, befriedigt; sein Plan war offensichtlich reif geworden. »Er ist ein Kenner, Jud«, lachte er. »Er versteht sich auf Christenfleisch, Er Filou.«

Süß, allein, lächelte tief, siegreich, überdachte seinen Weg. Er war klar. Dem Herzog schmeicheln, unbedenklich, ohne Furcht vor Übertreibung. Dem Herzog Geld schaffen, und durch Geld Weiber, Soldaten, Gloire. Mehr, immer mehr. Nicht übermäßig daran verdienen, aber so viel schaffen, daß man reich wurde, blieb auch nur ein kleiner Teil kleben. Keine Rücksichten auf die Landschaft. Sich klar und offen gegen sie stellen. Sie en canaille trätieren. Einziges Ziel: Geld für die herzoglichen Kassen.

Er hatte Karl Alexander von der rechten Seite genommen. Er hatte auch gut getan, das Palais in Stuttgart zu kaufen. Als er Regensburg verließ, dem Herzog voraus, war er herzoglich württembergischer Geheimer Finanzrat. Der Bestallung beigefügt war ein Dekret der Herzogin, das ihn zu ihrem Schatullenverwalter ernannte. In Stuttgart ungeheure Vorbereitungen zum Empfang des neuen Fürsten. Drei Ehrenpforten mit stolzen lateinischen Inschriften und vielen allegorischen Figuren, unzählige Fahnen, Girlanden. Die Straßen gesäumt mit Volk, frostrot und angeregt durch den hellen, lustig klaren Dezembertag. Überall Ausrufer, die das Bild des Herzogs feilbieten, das berühmte Bild, wie er an der Spitze der siebenhundert Axtmänner höchst kriegerisch unter regnenden Kugeln die Festung Belgrad erstürmt. Süß hat das Bild in vielen tausend Drucken herstellen lassen, dem Herzog und dem Volk zur Freude und sich zum Verdienst, und nun balgen sich Bürger und Bauern um den billigen, patriotisch herzwärmenden Wandschmuck. Die ganze Stadt getaucht in Musik, Böllerschüsse, Geschrei. Endlich, zwei Meilen lang, der Festzug: Beamte, Offiziers, Soldaten zu Fuß und zu Pferd, Läufer, Pagen. Sechzehnspännig die Galakarosse des Herzogs. So fuhr er ein auf schneeglitzernden Straßen unter einem strahlend hellblauen Dezemberhimmel, und tausend bunte Fahnen wehten in die fröhliche Luft.

Herzen und Mäuler offen, freuten sich die Stuttgarter ihres imposanten Souveräns, der, den Pelzmantel über der breiten, vielbesternten Brust zurückgeschlagen, mit mächtigem Schädel und herrischen Augen dasaß, und mehr noch vielleicht ihrer wunderschönen Herzogin, die unter vielem weißen Rauchwerk, den kleinen, fremdartigen Eidechsenkopf unter dem Diadem, mit gelassener Neugier ziervoll und lächelnd auf sie niederblickte. Ei, was spottete sie innerlich über die Schwaben, die ihr zujubelten, ei, wieviel Lächerliches entdeckte sie an dem Sprecher der Tübinger Universität, dem dicken, befangenen, schwitzenden Professor, der sich abarbeitete an der schwäbelnden Deklamation der schwungvollen Verse, mit denen er das fürstliche Paar begrüßte. Sie hörte ernsthaft und aufmerksam zu, als er von den Völkern sprach, die der Herzog mit seinem Zepter zu weiden berufen sei, als er pathetisch verkündete, Karl Alexanders Name fasse alles zusammen, was man von Karl dem Großen und anderen Karlen spreche, was sich am Griechen Alexander weise, was Gottes Volk an Simson preise, was Herkules besessen habe, als er ihn schließlich mit dem römischen Cäsar verglich. Und nicht einmal da zeigte sie ihr Amüsement, als er den Herzog rühmte, er sei schon deswegen ewig in der Zeit, weil wie der Prinz von Ithaka sein Geist nach einem Mentor sah. Aber innerlich fragte sie sich, wer wohl dieser Mentor sei, der kleine, behutsame Geheimrat Fichtel mit seinem schwarzen Kaffee oder mit seiner Fuchsschläue und seiner Galanterie der elegante Jud.

Der stand bescheiden und in höchster Ehrfurcht ganz hinten in einer Ecke beim Gesinde. Er hatte es für klug gehalten, still und ohne großes Aufsehen in Stuttgart einzufahren, er hatte sein stattliches Haus bezogen und war vorderhand nicht sehr aufgefallen. Aus seinem Leibdiener, dem stillen, phlegmatischen Nicklas Pfäffle, war nichts herauszukriegen; es war eben ein großer Herr vom Hofstaat des neuen Herzogs. Allgemach erst erfuhr man, daß der Geheime Finanzrat, trotzdem er aussah und sich hielt wie jeder andere große Herr, ein ganz gemeiner, ungetaufter Jud war. Nun war eigentlich den Juden der Aufenthalt im Herzogtum verboten. Die Herren von der Landschaft machten auch scheele Gesichter und hätten den neuen Finanzrat am liebsten aus dem Land geschafft; aber man wollte nicht um solch ein kleines Ding sogleich Hader mit dem neuen Herzog haben. Das Volk begaffte den Juden neugierig und mißtrauisch; allein man sagte sich, bei den verwickelten Finanzverhältnissen des Kammerguts und bei der Schläue der Juden, die die Grävenitzschen Finanzen verwalteten, müsse man dem Herzog billig auch seinerseits einen Hofjuden zugestehen. Ferner mußte man zugeben, daß der neue Jud sich vorläufig anständig und unauffällig führte, und jetzt bei der Erbhuldigung hielt er sich trotz seines großen Titels und seiner stolzen Uniform bescheiden im Winkel.

Aber drei Tage später, beim Empfang der Landschaft, war er schon ganz anders. Stolz, kalt, scharf stand er unter den Ministern und blickte ablehnend fremd auf das Gewimmel der Landschaft. Das kleine Häuflein des Kabinetts, unter ihm der Jude, stand in bunten, prunkenden Uniformen, hochmütig getrennt von der dichten, schwärzlichen Masse der Parlamentarier. Vierzehn Prälaten zählte diese Kammer und siebzig Abgeordnete der Städte und Ämter. Nur wenige wie der feine, kluge Weißensee und der verarbeitete Konsulent Veit Ludwig Neuffer hielten sich über der Lage; die meisten trugen besorgte, befangene, schwitzende Gesichter und standen trotzig und unsicher vor der kalt blickenden, hoffärtigen Gruppe der Minister. Unter denen war der Präsident des Conseils, Forstner, und der zweideutige, geschmeidige Neuffer, die schon bei Lebzeiten des alten Herzogs die Stützen Karl Alexanders gewesen waren und die Pläne der Landschaft mit dem Prinzen Heinrich Friedrich gestört hatten. Dann Andreas Heinrich von Schütz mit der mächtigen Hakennase, Kreatur ursprünglich der Grävenitz, der sich unter jeder Regierung hielt. Nichts Gutes versah sich die Landschaft von diesen dreien, nichts Gutes auch von dem Juden, dessen Beiziehung zu dem feierlichen Empfang eigentlich eine Anmaßung war. Wie eitel und üppig der Kerl dastand! Es war, weiß Gott, eine Herausforderung der löblichen Landschaft. Nun, wart Er nur, man wird noch Wege finden, Ihm Mores beizubringen.

Zutrauen hatten die Stände nur zu einem einzigen von den Ministern, und daß der Herzog den ins Kabinett berufen hatte, machten den Neuffer und den Juden wieder wett. Das war Georg Bernhard Bilfinger, der Philosoph und Physiker. Karl Alexander hatte den behäbigen Mann mit dem offenen, fleischigen, energischen Gesicht kennengelernt, als er gewisse Berechnungen und Festungsentwürfe von ihm nachzuprüfen hatte. Und so mißtrauisch er gegen alle Philosophie war, konnte er der Lockung nicht widerstehen, den zuverlässigen Mathematiker und Festungsbauer in sein Kabinett zu rufen statt eines Juristen.

Die beiden Gruppen, die kleine der Minister und die große der Parlamentarier, standen sich gegenüber wie zwei feindliche Tiere, das eine groß, plump, schwärzlich, hilflos, das andere klein, schillernd, bunt, beweglich, gefährlich. Aber trotz der betonten äußeren Distanz liefen Fäden von der einen Gruppe zur andern, Fäden von dem Parlamentarier Neuffer zu seinem Bruder, dem Minister, von dem ernsthaften, biedern, patriotischen Landschaftspräsidenten Sturm zu dem ernsthaften, biedern, patriotischen Geheimrat Bilfinger und schon von dem nervösen, feinen, neugierigen Diplomaten Weißensee zu dem merkwürdigen, zweideutigen, glatten, eleganten, neuen Finanzienrat, dem Juden, der hebräischen Exzellenz.

Die Versammlung wartete sehr lange, eine Stunde fast über die angesetzte Zeit. Und noch immer kein Huldigungsmarsch, noch immer nicht die Präsentierkommandos der Garden im Vorsaal, noch immer die Türen verschlossen, die aus den Privatgemächern des Herzogs führten. Schwitzend in dem überheizten Saal, knurrend, finster traten die Repräsentanten des Volkes von einem Fuß auf den andern, auch die Minister begannen unruhig zu werden. Daß der Herzog vom ersten Augenblick an das Parlament dergestalt brüskierte, kam unerwartet. War es Absicht? Laune? Zufall? Vergeßlichkeit?

Nur einer wußte es. Der Jude stand, lächelte, kostete den seltsamen Triumph, den sich Karl Alexander ausgedacht, verstehend und genießerisch mit. Die Landschaft hatte mit seinem Bruder gezettelt? Gut, so mochte sie sich jetzt die Beine in den Bauch warten, dieweilen er sich mit der Freundin seines Bruders, dem sanften, dunkelblonden, ruhevollen Geschöpf, vergnügte.

Der Geheimrat Andreas Heinrich von Schütz las die Verfassungsakte vor, die der Herzog beschwören mußte. Beigefügt waren auch jene Bestätigungen und Versicherungen, die Karl Alexander noch als Prinz abgegeben hatte und die Neuffer unmittelbar nach dem Ableben Eberhard Ludwigs den Herren vom Parlament überreicht hatte. Furchtbar umständlich, vorsichtig, langatmig war alles festgelegt. Nicht sehr laut, mit gleichmäßiger, gewandter Stimme, durch die mächtige Hakennase leicht französelnd, las Herr von Schütz das endlose Schriftstück, der Saal war überheizt, eine Winterfliege summte, von den vielen Menschen in ihren schweren Kleidern ging Dunst, Atem, leises Geschnauf aus. Unwirsch, verärgert sah Karl Alexander in die vielen stumpfen Werkeltagsgesichter, die sich bemühten, pathetisch zu blicken, unwirsch, verärgert hörte er auf den Vortrag dieser steifen, feierlichen Urkunden, von denen jedes Wort für ihn Bindung, frechen, anmaßlichen, rebellantischen Zwang bedeutete. Und das näselte so fort, endlos, endlos. Er mußte an sich halten, um nicht dreinzufahren, nicht plötzlich laut und verdrießlich zu gähnen. Er kam aus einer Umarmung, er spürte noch in allen Poren die sanfte, warme Haut des dunkelblonden Geschöpfs, er hörte noch ihr hemmungsloses, stilles, verströmendes Geflenn, das ihm Gesicht, Arme, Brust feuchtete, er war erfüllt von einem schlaffen, rohen Grinsen. Sehr anstößig schien es den Herren von der Landschaft, wie er mit belegter, heiserer Stimme – eine Nachwirkung des Genusses, aus dem er kam – asthmatisch, empörend gleichgültig und mit den Gedanken offensichtlich wo ganz anders die feierliche Eidesformel nachsprach. »Ich konfirmier und bestätige bei meinen fürstlich wahren Worten mit gutem, reifem Vorbedacht und aus freiwilligem Herzen.« Und das klang, als sage er seinem Kammerdiener, das Rasierwasser sei nicht warm genug.

Gedrückt und voll Besorgnis entfernten sich die Abgeordneten. Hätte er sie beschimpft wie der verlebte Fürst, der Eberhard Ludwig, wäre er mit unflätigem Gekeife über sie hergefallen wie jener, dagegen hätte man viel leichter aufkommen können als gegen diese formlos verächtliche, verblüffend nonchalante Manier. Wie er sie hatte warten lassen wie lästig lumpige Bettler! Wie gleichgültig er, mit gelangweiltem Gerülpse, die Akte beschworen hatte! O schöne Freiheit! Man wird noch hart für dich kämpfen müssen. O süße Macht der herrschenden Familien, man wird viel Ärger und Verdruß haben, dich zu wahren.

Karl Alexander, nachdem die Abgeordneten fort waren, streckte sich, warf sich in einen Sessel, war vergnügt. Denen hatte er es gegeben. Wie sie sich wegschlichen, die Schwänze eingezogen. Er schnaubte durch die Nase, sehr zufrieden mit sich. Ein guter Anfang, ein guter Tag. Erst dem sanften Heinrich Friedrich eins versetzt, dem Duckmäuser, dem Aufmucker, und dann das freche, filzige, schwitzende Pöbelpack heimgeschickt, begossen, würgend an dem hinuntergefressenen Verdruß.

Er entließ auch die Minister, schmunzelte, sie verabschiedend, zu Süß: »Hab noch was zu trösten, was Blondes, Flennendes. Hat Gusto, der Duckmäuser, mehr Gusto, als ich ihm zugetraut.« Lachte schallend und schlug den geschmeichelten Süß auf die Schulter.

»Ich will selbst regieren«, sagte er zu einer Stuttgarter Deputation. »Ich will selbst mein Volk hören und ihm helfen.« Eine Flut von Bittschriften brach herein, mit eigener Hand nahm er sie. »Ich will dir und mir helfen«, sagte er einem Bittenden. Ins ganze Land ließ er ergehen, er werde sich durch keine Mühe und Schwierigkeit von dem, was zu wahrer Aufnahme und Flor des Herzogtums gereichen werde, abhalten lassen, werde sorgen, daß in allen Stücken ohne Schleich, Intrigen und Verwicklungen nach der altberühmten württembergischen Treu und Redlichkeit gehandelt werde. Wer immer eine Beschwerde in solchen Stücken gegen einen Beamten habe oder sonst in diesem Behuf ein Anliegen, möge es umständlich zu Papier bringen und ihm, dem Herzog, zu eigenen Händen kommen lassen.

Drei Sonntage nacheinander wurde dieser Wille des neuen Herrn von allen Kanzeln des Landes verlesen; gedruckt war er angeschlagen am Rathaus jeder Gemeinde. Es jubelte das Volk: das war ein Fürst; der ließ nicht durch seine Kanzlei regieren, der regierte selbst. Wie Schnee im Mai schmolzen die Grävenitzischen. Machten sich fort, wurden verbannt, auf Festung gesetzt. Der treibt unsere Treiber hinwiederum ein! schmunzelten die Bauern. Auf blühte an dem Sturz der Grävenitzischen die saure Herzogin-Witwe. Das Bild Karl Alexanders aber, wie er Belgrad erstürmt mit seinen Axtmännern, ging reißend ab, und als gar ein Reskript das Niederknien der Supplikanten vor dem Herzog verbot, denn nur Gott gebühre solche Ehrerweisung, da mußte Süß eine neue riesige Auflage drucken lassen, und es gab kein Bürger- und kein Bauernhaus im Herzogtum, darin das Bild nicht am besten Platze hing. Und die Herren vom Parlament machten scheele Gesichter.

Den Prozeß gegen den früheren Hofmarschall, den Grävenitz, und seine Schwester förderte der Herzog mit allem Nachdruck, doch ohne rechten Erfolg. Wohl saß der ehemals Allmächtige auf der Festung Hohentwiel; aber wollte man sich nicht Zwang und Ungerechtigkeit vorwerfen lassen, so mußte man vorsichtig und langsam vorgehen. Was gar die Gräfin anlangte, so war sie außer Landes, die evangelischen Höfe unterstützten sie gegen den katholischen Herzog, und die leise, behutsame Hand Isaak Landauers löste immer wieder alle Fäden, aus denen die plumperen württembergischen Räte der Gräfin ein Netz knüpfen wollten. Wohl wurde ein spezialiter verordnetes Kriminalgericht gegen sie eingesetzt, der erste Jurist des Herzogtums, der um seiner strengen Rechtlichkeit willen in ganz Deutschland angesehene Tübinger Professor Moritz David Harpprecht, erhob peinliche Anklage gegen sie wegen Bigamie, gedoppelten, wiederholten, durch viele Jahre forgesetzten Ehebruchs, wegen dreier Mordanschläge gegen Eberhard Ludwigs Gemahlin, wegen Majestätsverbrechens, wegen Kindsabtreibung, wegen Fälschung, Betrugs, Unterschleifs, auch erkannte dies Gericht die Todesstrafe gegen sie. Ein besonderer württembergischer Agent, der Baron Zech, wurde nach Wien gesandt, Bestätigung und Exekution dieses Urteils durchzusetzen, und er gab viel Geld aus, die kaiserlichen Räte zu gewinnen, an hundertunddreiundvierzigtausend Gulden. Aber sei es, daß Isaak Landauer noch mehr ausgab, sei es, daß er einfach geschickter war, die Geschichte wurde langwierig und versackte schließlich in einen umständlichen, komplizierten Geld- und Vergleichshandel.

Dem Herzog wurde diese Affäre wie überhaupt die ganze Regiererei vom Kabinett aus bald öde und unbehaglich. Er hatte schöne Manifeste erlassen, die Liebe seines Volkes errungen, und seine Räte, der polternde General Remchingen, der geschmeidige Diplomat Schütz, der schlaue Finanzmann Süß, versicherten ihm Tag für Tag, jetzt seien alle Mißstände abgestellt, Württembergs goldenes Zeitalter angebrochen. Wo in Deutschland gab es einen zweiten so pflichtbewußten Fürsten? Stolz vor Gott, den Menschen und sich selbst, geschwellt von dem Gefühl, den Titel, mit dem eine Adresse der Tübinger Universität ihn angeredet, den Titel: treuester Hirt und Wonne des Menschengeschlechts sich zu Recht verdient zu haben, überließ er die Erfüllung seiner Versprechungen seinen Räten und fuhr, sich freuend auf das Soldatenleben, hungrig nach neuer Gloire, zur Armee.

Süß hielt Konferenz mit dem Geheimrat Bilfinger und dem Professor Harpprecht über den Prozeß gegen die beiden Grävenitz. Die Herren saßen in dem prunküberladenen Arbeitskabinett des Süß, der Jude schlank, elegant; gewichtig, breit die beiden Württemberger. Der Prozeß stand nicht gut. Wien hatte nahegelegt, den früheren Oberhofmarschall von der Festung zu entlassen und seinen Vergleichsvorschlag anzunehmen; er wollte seine württembergischen Güter gegen eine niedrige Summe abtreten. Auch das peinliche Verfahren gegen die Gräfin war man in Wien zu bestätigen nicht geneigt, man verwies auf den Weg finanziellen Ausgleichs. Dieser Kompromiß schien den beiden Württembergern mager und der herzoglichen Dignité nicht entsprechend. Süß hingegen meinte, der greifbarste Erfolg sei der, der sich in einer hohen Ziffer ausdrücke, und eine so real denkenden Dame wie die Gräfin könne schwerer als mit einer hohen Geldbuße nicht bestraft werden. Die geldliche Regelung solle man ihm überlassen, er werde sie bestimmt zur Zufriedenheit des Herzogs erledigen. Die beiden ernsthaften und gerechten Männer fanden diese Anschauung frivol und jüdisch, auch wußten sie, daß Süß Geschäfte mit der Gräfin hatte, und trauten ihm nicht recht. Aber schließlich war der württembergische Agent erfolglos aus Wien zurückgekehrt, es blieb keine andere Lösung als ein Vergleich, der Jude machte das wirklich besser als jeder andere, und der Herzog glaubte bedingungslos an seine glückliche und geschickte Hand. Verdrossen fügten sie sich darein, daß Süß die weiteren Verhandlungen führe.

Dies durchgesprochen, bat Süß den Juristen noch um einige Deduktionen über umstrittene Befugnisse der Landschaft. Das war eine Frage, die den beiden Württembergern das Herz von Grund auf bewegte. Harpprecht, der Jurist, der langsame, bedächtige, umsichtige Mann, gewohnt, die Dinge rundum zu drehen, genau und von allen Seiten zu beschauen, und Bilfinger, der vertraute Freund des großberühmten Philosophen Wolf, von seiner Professorentätigkeit in Petersburg her über ganz Europa bekannt, geneigt, die Dinge ernsthaft und aus großer Höhe zu übersehen, aufrechte Patrioten beide, ruhevolle, sachliche Männer beide, verschlossen sich nicht der Erkenntnis, daß einige wenige herrschende Bürgerfamilien auf der Verfassung saßen wie auf privatem ererbtem Eigentum und die Repräsentantenstellen des Volkes gleichwie sonstigen persönlichsten Besitz, wie Häuser, Möbel, Wechsel, sich überkamen, unter sich verschacherten; sie wußten, daß die Fahne der Freiheit immer dazu mißbraucht wird, daß einzelne sich Fetzen daraus schneiden für ihren privaten Vorteil. Aber sie waren trotzdem tief und von ganzem Herzen überzeugt, daß das Landesgrundgesetz und die landständischen Freiheiten die Pfeiler des Staates waren, und sie interpretierten alle strittigen Grenzfragen zwischen Fürsten und Volk aus dem freiheitlichen und verantwortungsschweren Ernst heraus, aus dem der erste württembergische Herzog, in kleinem Land ein wahrhaft großer Fürst, die Verfassung testiert hatte. Sicherung der Volksfreiheit war sein erstes Prinzip gewesen, »Attempto! Ich wag’s!« seine Parole. Und daß der Fürst durch die Verfassung manchmal vielleicht selbst im Nützlichen, das er anstrebte, gehindert werden könnte, schien ihm nur ein kleines Übel gegen das große Gute, daß er durch ein Grundgesetz und seine Schranken vor vielen und großen Fehlgriffen bewahrt werde.

Es handelte sich um gewisse Steuerentwürfe und Monopolvorschläge des Süß, die zweifellos gegen den Geist der Verfassung verstießen; doch war der Wortlaut brüchig, und ein findiger und skrupelloser Tiftler konnte allenfalls durch die Bresche dringen. Harpprecht, sekundiert von Bilfinger, redete sich warm, und Süß hörte aufmerksam und höflich zu. Aber plötzlich sah der Gelehrte die Augen des Finanzmanns, diese großen, gewölbten, süchtigen, klugen, lauernden, gewissenlosen Raubaugen. Gesehen hatte er sie oft, aber jetzt mit einemmal erkannte er sie. Was waren vor diesen Augen Freiheit, Verfassung, Gewissen, Volk? Ein Mittel für etliche Jobber, emporzuklimmen, wo er stand, an dem Baum zu rütteln, auf dem er saß, an seinem Baum, dem Herzog. Der Gelehrte sah, daß dieser Mann in der Verfassung und ihren Vertretern nichts erblickte als die Konkurrenz, daß er sie haßte mit dem bedenkenlosen Haß des Konkurrenten. Vor dem klugen, raffenden, lauernden, giervollen und von keiner Idee gereinigten Blick des Juden zerwesten alle diese großen Dinge zu Dummejungenträumen, wurden angeschleimt, lächerlich. Er kam sich albern vor, wie er vor diesem Handelsmann vom Geist der Gesetze sprach, von ihrem schönen und würdevollen Sinn. Er sprach wie an eine hohle, farbige Larve hin; der andere klaubte aus seinen Worten sich nur das heraus, was er für seine schmierigen und selbstsüchtigen Projekte brauchen konnte. Harpprecht brach ziemlich unvermittelt ab, der langsamere Bilfinger hatte auch gespürt, was den Freund hemmte. Die beiden Württemberger entfernten sich bald, kühl, verdrießlich, von dem unentwegt höflichen Süß respektvoll geleitet.

Unter der Türe trafen sie in Kaftan und Schläfenlöckchen Isaak Landauer. Süß hatte ihn hergebeten, die Finanzangelegenheiten der Gräfin mit ihm zu regeln. Die beiden Männer verstanden sich, ohne daß sie einander auch nur hätten andeuten müssen, wohinaus sie wollten. Es kam darauf an, einen Vergleich zu formulieren, der dem äußeren Schein nach für den Herzog, in Wahrheit für die Gräfin günstig war. Scharf schachernd rückten die beiden gegeneinander vor. Jeder hatte noch seine besonderen Interessen, denn jeder hatte Ansprüche an den Herzog sowohl wie an die Gräfin. Schließlich rechnete Süß für den Herzog einen Gewinn von dreihundertunddreiundzwanzigtausend Gulden heraus, aber faktisch hatte der Herzog an die Gräfin hundertundachtundfünfzigtausend Gulden zu zahlen. Bei der Übergabe dieser Summe zog allerdings Süß der Gräfin dreißigtausend Gulden ab für angebliche Darlehen und Vorschüsse, und dem Herzog stellte er für seine Dienste in dieser Angelegenheit weitere fünftausend Gulden in Rechnung.

So endete der Liebeshandel der Gräfin, der so viele Jahre hindurch das Herzogtum in Wirren und Empörung gestürzt hatte, mit einem ansehnlichen Gewinn für den Geheimen Finanzrat Josef Süß Oppenheimer. Die Gräfin lebte fortan in Berlin ein glanzvolles und unruhiges Leben. Die saure Herzogin-Witwe hatte zeitlebens gekränkelt, ihr Übel nahm überhand, die Ärzte wunderten sich, daß sie immer wieder aufkam. Sie aber starrte voll kahlen, grauen, staubigen Hasses hinüber nach Berlin zu der Feindin, der Person, und sie starb erst drei Wochen nach ihr.

Karl Alexander war in den Festungen, bei den Schanzern, im Feldlager, ritt, fuhr herum, befahl, war groß tätig. Feierte ein herzliches Wiedersehen mit dem alten, sehr klugen, etwas steifen und trockenen Oberbefehlshaber, dem Prinzen Eugen. Vor der französischen Übermacht wich der vorsichtige Prinz zurück, bezog ein festes Lager bei Heilbronn. Schon standen wieder die Franzosen im Herzogtum, schrieben Brandschatzungen aus, Lieferungen. Doch Verstärkungen der Reichsarmee, vor allem von Karl Alexander bewirkt, zwangen sie über den Rhein zurück. Mit wildem Eifer betrieb jetzt der Herzog die militärische Sicherung der Grenzen. Die Festungen wurden ausgebaut, Schanzen angelegt, immerzu hatte der Herzog Konferenzen mit Bilfinger. Ein sehr weitausschauendes Projekt von wahrhaft strategischem Genie wurde ernsthaft und mit Geschick in Angriff genommen. Von Rottweil bis Rottenburg wollte man an einigen Stellen die Berge eskarpieren, da und dort kleine Schanzen aufwerfen; so war diese Grenze absolut zu passieren impraktikabel. Auf dem Schwarzwald wollte man von Schiltach bis Oberndorf Linien ziehen, bis an den Neckar, den Heuberg durch Verhaue sichern. Zur Besetzung dieser Befestigungen genügten fünf Bataillone und zehn bis zwölf Schwadronen. Und mit so verhältnismäßig kleinen Mitteln schuf man ein schwäbisches Thermopylä, an dem jeder welsche Xerxes sich den Schädel einrennen mußte.

Die Landschaft war den Plänen Karl Alexanders zunächst nicht entgegengetreten. Das Herzogtum hatte während der Regierung Eberhard Ludwigs unter den Einfällen, Brandschatzungen, Plünderungen, Raub, Mord und Gewalt der Franzosen zu sehr gelitten, als daß es nicht den starken, sachverständigen, soldatischen Schutz durch seinen jetzigen Fürsten aus ganzem Herzen gewürdigt hätte. Als aber die Franzosen über den Rhein zurückgeworfen waren und die unmittelbare Gefahr verschwand, wurden die Landstände schwierig. Sie reizten den Herzog durch mannigfache umständliche und pedantische Beschwerden. Jeden Augenblick erschien eine Deputation bei ihm mit Reklamationen über seine Maßnahmen bei der Aushebung und bei den Kriegsrüstungen, ärgerte ihn durch ihre dicken, stieren, kleinbürgerlichen Gesichter, durch ihre stumpfe, selbstbewußte Schwerfälligkeit. Schwierigkeiten überall. Der Ersatz der Truppen vollzog sich tröpfelnd und zögernd, Pferde, Material, Proviant wurde ohne rechte Lust und nie in dem geforderten Maße nachgeschoben, die Kriegssteuern gingen zäh ein, der Vollzug stockte, die Kassen waren erschöpft. Der Herzog, an sich zum Argwohn geneigt, begann seinen Räten zu mißtrauen, sie hielten es insgeheim mit der Landschaft. Er berief seinen Juden ins Lager.

Der hatte jedes unscheinbarste Detail der württembergischen Politik gespanntest belauert, gewogen, gewertet und wartete längst mit Gier auf diesen Augenblick. In seiner scharfen, klaren, sehr wachen Art hatte er sich seine Ziele abgesteckt, alle Schritte minutiös berechnet, jeder Zoll seines Weges, seines Terrains lag vor ihm wie eine mit mathematischer Präzision ausgeführte Landkarte.

So fuhr er prächtig und entschlossen ins Lager. Karl Alexander empfing ihn unverzüglich. Es war Nacht, Kerzen brannten, in einem Winkel hockte der Schwarzbraune. Der Herzog saß mit Bilfinger über geometrischen Tabellen. Er polterte seinen ganzen Unmut und Verdruß sogleich und jähzornig heraus, vor diesen beiden ließ er sich gehen. Sein Argwohn gegen die Minister, gegen Neuffer und Forstner vor allem, hatte sich verstärkt. Sie hatten ihn seinerzeit, als er noch Prinz war, dazu bewogen, der Landschaft jene Reversalien und feierlichen Urkunden auszustellen, um bei der Thronübernahme allen Intrigen für den Prinzen Heinrich Friedrich den Boden wegzuziehen. Jetzt redete er sich ein, die Ausstellung und Unterzeichnung dieser Urkunden sei überflüssig gewesen, und zudem hätten ihn die beiden Räte dabei betrogen. Sie seien im Einverständnis mit der aufsässigen und heimtückischen Landschaft, man habe aus der Reinschrift einen Bogen ausgelassen oder wegpraktiziert; die Reinschrift laute anders als das Konzept, das ihm vorgelegen habe. Unmutig und erschreckt hörte Bilfinger diese grund- und sinnlosen Reden an, die der Herzog zornig und ohne viel Zusammenhang herauskläffte. Er zwang sich zur Ruhe, suchte den Herzog mit sachlichen Gründen zu überzeugen, daß er nichts anderes unterzeichnet habe, als was die Verfassung ohnehin von ihm verlangt und was seit dem Tübinger Vertrag alle seine Vorgänger beschworen hatten. Daß also die rechtzeitige Signierung nichts als eine schöne Geste, bei der Stimmung im Land aber zweckmäßig, ja unbedingt notwendig gewesen sei. Auf seine dringlichen Einreden schwieg Karl Alexander schließlich, unüberzeugt. Süß beschränkte sich darauf, genau zuzuhören; sein Gesicht mit dem vieldeutigen Lächeln stach in dem Geflacker der Kerzen weiß und ruhig ab von dem roten, erregten des Fürsten und seines Festungsbauers. Plötzlich wandte sich Karl Alexander an ihn: »Und Er, Jud?« Süß, achselzuckend, meinte, es sei allerdings auffallend, daß die klaren und weisen Befehle des Herzogs so schlecht und unvollständig ausgeführt würden. Sehr wohl sei es möglich, daß die Geheimräte mit aufsässigen Parlamentariern Konventikel hätten; aber ob untreu oder nicht, auf alle Fälle seien sie nach so ungenügenden Resultaten Unfähige, Diffikultätenmacher, Schikaneure. Was er denn vorschlage, fragte der Herzog. Nach seinen Erfahrungen bei den österreichischen Kriegslieferungen, erwiderte Süß, müsse man sehr hohe Geldbußen auf jede passive Resistenz setzen. Mit Geldstrafen komme man am weitesten. Der Bürger wie der Bauer hänge am Besitz, er opfere sein Leben lieber als sein Geld. Der Herzog sagte, er werde es sich überdenken, Süß solle Spezialvorschläge ausarbeiten. Der Jude erklärte, das habe er bereits getan, legte ein Bündel Akten und Berechnungen vor. Bilfinger setzte neu an, alle Gründe gegen den Argwohn des Herzogs säuberlich zusammenzutragen, mildere, langsamere Maßnahmen zu empfehlen. Karl Alexander, unwirschen Blickes, unterbrach ihn, begann von den geometrischen Tabellen zu sprechen, die vor ihm lagen.

Anderen Tages schon gab er Remchingen Ordre, die Vorschläge des Süß in strengste Praxis zu übersetzen. Die beiden Männer arbeiteten nun zusammen, der General die Faust, der Jude das Gehirn. Remchingen verhöhnte den Süß mit plumpen, unflätigen Späßen. Süß haßte und verachtete ihn, doch er ließ sich zu keinem Widerstand verlocken, empfing den Hohn und Schmutz des Soldaten in ein glattes, unempfindliches, verbindliches Lächeln. Nötigte durch seine unerhörte Sachlichkeit, Findigkeit, seine immer neuen Schliche und Tricks dem General knurrende, spöttische, widerwillige Bewunderung ab. Gemeinsam war den beiden Männern nur der unbedingte Ehrgeiz, dem Herzog zu gefallen, ihm Soldaten und Geld zu schaffen, gemeinsam auch die tiefe, selbstverständliche Überzeugung, das Volk gehöre dem Fürsten wie seine Hunde und seine Pferde; verbrecherische Frechheit sei es, mucke es nur im geringsten gegen ihn auf.

Wie durch Zauber war nun alles da, was früher weder Zureden noch Gewalt hatten schaffen können. Hatte die Werbetrommel bisher mit allem Gelärm nur ein paar tausend Freiwillige, und viel verrackertes Kruppzeug darunter, auf nicht sehr stattliche Beine gebracht, so barsten jetzt die Depots von Rekruten. In den Remonten tummelten sich die Pferde, die Kammern stapelten Uniformen, es bauchten sich von Geld und Wechseln die Kassen, Scheunen und Magazine boten keinen Raum mehr für das eindringende Getreide, den hoch sich schichtenden Proviant. Es quoll, strömte, junge, schäumende Flut nach der tristen Ebbe. Überall Nachschub, Reserven. Karl Alexander, triumphierend, schwoll an und rühmte vor aller Welt das Genie und die Geschicklichkeit seines Geheimen Finanzienrates.

Übers Volk aber senkte es sich bleiern, luftraubend. Wohl hatte es früher schon eine Art Zwangsmusterung gegeben; aber nur für Aushauser, für Vagabunden, arbeitsscheue, junge Kerls, die den Gemeinden zur Last fielen. Jetzt wurde diese Rekrutierung auf die gesamte unverheiratete Jugend des Landes ausgedehnt. Wer sich loskaufen wollte, mußte eine ungeheure Summe bezahlen. Verheiratete waren befreit von der Rekrutierung; wer aber vor dem fünfundzwanzigsten Jahr heiraten wollte, mußte den fünften Teil seines Vermögens als Taxe erlegen. Die Pferde wurden gemustert, alle tauglichen requiriert, die Regierung zahlte mit langfristigen Anweisungen. Handel und Hantierung wurde mit schweren Kriegsabgaben belastet, die Steuern mit Härte eingetrieben.

Ei, wie verschwanden die Kränze und Bänder von den Bildern des Herzogs. Beste Jugend stak, fluchend, in der Montur. Mütter, Weiber, Bräute flennten. Verluderten in der Abwesenheit der Männer. Durch das Heiratsverbot mehrten sich die unehelichen Kinder; Abtreibung, Kindsmord nahm zu. Die Felder wurden schlechter bestellt, es mangelte an Menschen, die besten Pferde waren mit Gewalt weggetrieben. Teuerung drohte, Lebensmittel, Waren verschwanden. Laut fluchte es jetzt, empörte sich. Scharfe Erlasse verboten bei Leib- und Lebensstrafe jede respektlose Äußerung gegen die herzoglichen Verordnungen, jede Turbierung und Unruhestiftung. Es wurden auch etwelche Raunzer und Nörgler festgenommen und prozessiert. Die gelle Empörung verstummte, aber die Flüche murrten weiter, wo man vor Lauschern sicher war. Stumpf stierten die Weiber nach Westen, wohin die Söhne, die Liebsten verschwunden waren, aufgegriffen, knirschend, in die alberne, verfluchte Uniform gepreßt. Über ihren schlecht bestellten Äckern knurrten die Bauern: O die schönen, fetten, glatten Rösser! Jetzt werden sie zu Schindmähren gerackert vor diesen saudummen Kanonen!

Dem Süß rührte diese Stimmung nicht die Haut. In der Kurpfalz, als er dort das Stempelpapier eingeführt hatte, war er an Aufläufe vor seinem Haus, Beschimpfungen, Pasquille gewöhnt worden; das prallte ab von ihm wie Wasser von einer Teerjacke. Wer konnte an ihn heran? Er saß an der Macht, er war der nächste Ratgeber des Fürsten, keiner wußte ihn so zu behandeln wie er. Keiner verstand es wie er, mit unterwürfiger, demütiger Miene die bollernden Zornausbrüche des jähen, an soldatische Unterordnung gewöhnten Mannes hinzunehmen und sich, hinausgejagt, als wäre nichts geschehen, eine Stunde später von neuem zu präsentieren. Die Beamten des Herzogs hatten Weisung, sich in allen geldlichen Dingen unbedingt an seine, des Hoffaktors, Ratschläge zu halten, keine Finanzverordnung ging aus ohne sein Wissen und Willen. Und was wäre nicht mit Geld verquickt gewesen? Wer die Finanzen regierte, regierte das Land.

Mit geblähten Nüstern, wohlig, schnupperte Süß die Luft der Macht, in der er jetzt lebte. Seit seinen glücklichen Maßnahmen zur Auffüllung des Heeres war er der eigentliche Herrscher im Herzogtum. Er war sehr hoch, er war nah am Gipfel, es überrieselte den Rücken wie laues Wasser, sah man hinunter, wo es kribbelte und sich abzappelte, um heraufzuklimmen. Manchmal wohl, wenn sein Vorzimmer voll war von Wartenden, Ängstlichen, Bittstellern, ging er allein in seinem Arbeitskabinett auf und ab, die sehr roten Lippen in dem weißen Gesicht lächelnd offen, lauschte hinaus auf das Geflüster, das kaum hörbar hereindrang, dehnte die Brust, atmete, lächelte, schickte die ganze Antichambre wieder fort, ohne sie zu empfangen. Oh, es war süß, süß und herrlich war es, Macht zu haben unter den Menschen. Nicht ohne wohlig schauernden Kitzel spürte er den geduckten, ohnmächtigen Haß, der sein Gesicht servil grüßte, seinen Rücken bespie. Haß des Volkes ist gut, hatte Isaak Landauer gesagt, Haß bedeutet Macht, Haß bedeutet Kredit.

Ein Wort wurde ihm hinterbracht, das im Volk umging; der kleine, feiste, schweinsäugige Konditor Benz hatte es aufgebracht, der im Wirtshaus »Zum Blauen Bock« mit anderen Kleinbürgern zu politisieren pflegte: unterm vorigen Herzog hat eine Hur regiert, unterm jetzigen ein Jud. Süß ließ den Konditor vor sich kommen, der kleine, feiste Mann, schwitzend, mit feig ausweichenden Augen, leugnete. Süß versammelte sein ganzes Hausgesind, und vor den Grinsenden, Sichanstoßenden, die alle wußten, daß er das Wort geprägt hatte, mußte der kurzhalsige, schnaufende Mensch auf Ehr und Gewissen und bei seinem Heiland versichern, er wisse nichts davon und habe sich nie ein respektloses Wort über Seine Exzellenz erlaubt. Dann, dem lächelnden Süß die Hand küssend, nach rückwärts schreitend, konnte er sich entfernen. Süß aber klagte fromm dem Herzog, wie er um der treuen Dienste willen, die er ihm leiste, beim Volk in Verruf komme.

Er führte sein Haus auf fürstliche Art. Als Innenarchitekten hatte er einen Sizilianer berufen, den Meister Ubaldo Raineri, der vor allem durch Aufträge des französischen Hochadels bekannt und in Mode war. Seine Gemächer strotzten von prunkvollen Teppichen, Gobelins, von verschnörkelten, geschweiften Möbeln, von Stuck, von Lapislazuli und Gold, von Vasen und Büsten. Neben Homer, Solon und Aristoteles hatte der Architekt, war es Unschuld oder Hohn, die Büsten des Moses und des Salomo gestellt. Auf dem Deckengemälde des Speisesaals spreizte sich in vielfigurigem Fresko der Triumph des Merkur. Auf der Decke des Schlafzimmers aber ergötzte sich schlaff und schleierigen Auges Leda mit dem Schwan; von dem Prunkbett, das nackt, frech und mächtig zwischen zahlreichen Spiegeln stand, schwatzten, breit und grob lachend, die Bürger in den Wirtshäusern, wisperten gekitzelt die jungen Mädchen. Er war stolz darauf, als erster im westlichen Deutschland die von Paris kultivierte exotische Mode einzubürgern. Figuren von Chinesen, kleine, klingelnde Pagoden standen in seltsamem Widerspiel zwischen Moses und Solon, zwischen Homer, Salomo und Aristoteles. Das Erstaunen und die Freude der Damen aber war in seinem vergoldeten Bauer der Papagei Akiba, der »Bonjour, madame« krächzte und »Wie geruhen Euer Durchlaucht geschlafen zu haben?« und »Ma vie pour mon souverain«. Seine Tafel war erlesener als sonst eine im Land, er speiste nur von Gold und Silber, es war ein Wunder, woher er alle die fremden Fleischsorten, Muscheln, Früchte nahm, die, bisher in Schwaben nie gesehen, jeden Monat neue, auf seinen Tisch kamen. Mit scheelen Blicken sah der Konditor Benz auf die Kuchen, süßen Pasteten, Kunstwerke aus Eis und Früchten, die der welsche Konfiseur des Juden auf ziervolle, immer wechselnde Manier bereitete.

Die weinrote, silberknöpfige Livree des Juden war bald überall bekannt. Er hielt sich Sekretär, Bibliothekar, Läufer, Heiducken, Koch, Kellerer. Duch die Domestiken schritt mit fettem, blassem, phlegmatischem, unbeteiligtem Gesicht Nicklas Pfäffle, sah alles, ordnete, ergänzte. Der Kammerdiener des Süß hatte schwere Arbeit. Den »Mercure galant« mußte er auswendig wissen. Der Geheime Finanzienrat legte Wert darauf, der eleganteste Herr im Herzogtum zu heißen, seine Garderobe wurde alle zwei, drei Wochen ergänzt. Er hatte eine wilde Vorliebe für Schmuck. Der Solitär, den er am Finger trug, war berühmt, die Schnallen der Schuhe, auch die Handschuhe waren mit der Mode wechselnd steinbesetzt. In seinem Boudoir wie in seinem prunkenden Schlafzimmer waren Vitrinen mit Schmuck aufgestellt, durch seine Beziehungen zu den Amsterdamer und zu gewissen italienischen Juwelieren immer anders und reizvoll aufgefüllt. Er pflegte aus diesen Kästen seine Besucherinnen, Damen des Hochadels ebenso wie Mädchen aus dem Volke, zu beschenken. Man höhnte, schimpfte grimmig darüber, verspottete ihn ins Gesicht, daß er solche Mittel brauche; aber er lächelte, er wußte, gegen diese Manier gab es keinen Widerstand, die Beschenkte blieb ihm, gierig, verhaftet. An die Herren aber pflegte er, dies war sein Lieblingshandel, scharf und hart feilschend, Juwelen zu verschachern. Es war herrlich, die kleinen Kostbarkeiten, so viele, durch seine Hände rieseln zu lassen, einen kleinen Stein gegen Haufen Goldes zu vertauschen und wieder Haufen Goldes gegen einen kleinen Stein, spürend: soviel Macht lag in dem kleinen Stein.

Nicht groß, aber erlesen war sein Marstall. Er handelte gern um Pferde mit großen Herren bis hinauf nach Holland. Kaufte, verkaufte, tauschte. Die drei schönen Araber der Herzogin hatte er beschafft. Auch für den eigenen Gebrauch hielt er sich einen arabischen Schimmel, die Stute Assjadah, zu deutsch Die Morgenländische. Der Levantiner Daniele Foa hatte sie ihm verkauft, sie stammte aus den Ställen des Kalifen. Er liebte die Stute nicht eigentlich, aber er hielt sie gut; er wußte, wie prinzlich er auf dem nicht großen, nervösen, ziervollen Tier aussah. Selbst der Polterer Remchingen mußte dem Süß zugestehen, zu Pferde sehe er fast aus wie unsereins.

Der Zutritt zu Süß war schwerer zu erlangen als zum Herzog. Es kostete viele Briefe, Gelauf und Schererei, bis man eine Stunde zur Audienz bestimmt bekam, und dann oft schickte er den Wartenden wieder weg. Er war des Herzogs Bankier und hatte den Titel Geheimer Finanzienrat. Nichts sonst; nie stand unter einem politischen Akt seine Unterschrift. Die Verfassung verbot dem Juden jedes Staatsamt, und Süß war klug genug, sich vorläufig mit dem Besitz der Macht auch ohne ihre Titel zufriedenzugeben. Er wußte, kein Minister, auch der Herzog nicht, der fast immer bei der Armee weilte, er, er war der Regent des Herzogtums. Ihm warteten die Fremden von Stand auf, zu den kleinen Zirkeln, die er um sich versammelte – klüglich noch mied er es, größere Feste zu geben –, drängte man sich eifriger als zu den Assembleen der Minister. Schon bildete sich eine Partei, die offen zu ihm hielt, darauf sah, ihn zu begleiten, wenn er ausritt, sein Genie und seine Geschicklichkeit, seine Verdienste um Herzog und Volk vor aller Welt rühmte, ihn wie ein Hofstaat umgab. Der Tübinger Jurist Johann Theodor von Scheffer, Regierungsrat, ausgezeichneter Kenner des Staatsrechts, war einer der ersten, die sich offen zu ihm bekannten, die Räte Bühler und Mez von der herzoglichen Kammer folgten, der Waisenhauspfleger Hallwachs, der Requettenmeister Knab, die Räte Crantz, Thill, von Grunweiler. Der Domänenpräsident von Lamprechts gar schickte seine beiden jungen Söhne in den Dienst des Finanzienrats, daß sie bei ihm Manier und höfische Sitte lernten wie Pagen. Die hebräische Garde taufte man diesen Hofstaat, der Kammerdirektor Georgii hatte das Wort erfunden, Süß vergaß es ihm nicht, und man machte sich mit vielen billigen Witzen lustig über die Judenzer. Bald aber zeigte es sich, daß diese Judenzer den Mantel nach der rechten Seite gehängt hatten. Immer klarer erwies es sich, daß das Haus in der Seegasse die eigentliche Residenz des Herzogtums war. Auch die mächtige Hakennase des Geheimrats von Schütz tauchte jetzt in den Sälen des Süß auf, der finstere, verzehrte Landschaftskonsulent Neuffer sog als grimmige Bestätigung menschlicher Niedertracht die Atmosphäre des Juden ein, und leicht, elegant, geschmeidig schnupperte sie der kluge, neugierige Weißensee.

Die Frauen, die an dem Palais in der Seestraße vorübergingen, schielten neugierig und gekitzelt durch die mächtigen Torflügel in die Vorhalle, wo massig in seiner weinroten, silberknöpfigen Livree der Huissier ragte. Ritt Süß auf seinem Araberschimmel glänzend durch die Straßen, so langten voll begehrlichen Grauens viele Frauenblicke nach ihm. Man wisperte wilde, unheimliche und lüsterne Geschichten von ihm, wie er in Frauenfleisch wühle, wüte, sich mit schwarzen Mitteln den Frauen ins Blut brenne, sie dem Teufel verschreibe. Der Herzog hielt mehr auf den Geschmack seines Juden als auf den seiner anderen Vertrauten, und Süß mußte dem Unersättlichen unter allen möglichen Vorwänden immer neue Weiber ins Lager schicken. Machte sich Remchingen lustig über die Orgien des Beschnittenen, medisierte er neidisch, er kapiere nicht, wie ein anständiges Christenmensch dem Hebräer ins Bett kriechen könne, er müsse heillose schwarze Magie brauchen, so lachte dröhnend der Herzog, ein wohlschaffenes Gesicht und stramme Schenkel seien die beste Magie. Auch betraute er den Süß, ihm die Weiber für Oper und Ballett auszuwählen, und manchmal lachte er, der Jud sei ein Lecker und habe ihm aus vielen Schüsseln vorgeschmaust. Es zog auch ein langer Zug von Frauen, jungen und reifen, blonden und schwarzen, schwäbischen und welschen, lauen und heißen durch das vielspiegelige Schlafzimmer unter der üppigen Leda des Deckengemäldes. Doch der Jude, so prahlerisch er sonst sich spreizte, versperrte sich zäh und verriet keinen seiner Erfolge, die schweren, die ihn stolz machten, sowenig wie die zahllosen sehr leichten. Unter den vielen lärmenden, protzenden Kavalieren war er der einzig Schweigende, und weder die joviale Zudringlichkeit Karl Alexanders noch die verbindlich schmeichelnde Neugier Weißensees noch die grob spöttischen Anzapfungen Remchingens konnten seiner ausweichenden Liebenswürdigkeit die leiseste Andeutung entlocken. Wenn dennoch bei Hof, in den Schenken, unter den Soldaten viele saftige, ungewöhnliche, sicher nicht erfundene Details aus dem Bett des Juden begrinst, begeifert, belacht, bezotet wurden, so trugen des jene Frauen Schuld, die, stolz auf den gefährlichen, so anderen, von aller weiblichen Neugier umwitterten Mann, ihre unheimliche Heimlichkeit einer Freundin unter vielen Schweigensbeschwörungen, Kichern, Tränen in den Busen flüstern mußten.

Als der Jude sein Palais fertig installiert hatte, kam auf seine dringlich ergebene Einladung, begleitet von Remchingen, die Herzogin, sein Haus zu inspizieren. Preziös trug sie den kleinen, ziervollen Kopf von der Farbe alten, edlen Marmors durch die strahlenden Räume, äugte aus den langen, fließenden Eidechsenaugen auf die Chinoiserien, lächelte vor dem Papagei Akiba, der »Ma vie pour mon souverain« krächzte, klingelte mit den kleinen, sehr gepflegten Fingern an den Miniaturpagoden, ließ sich von Süß einen merkwürdig geformten, nicht sehr wertvollen Giftring schenken, schritt mit kleinen, gleitenden Füßen an den tief sich neigenden weinroten Lakaien vorbei zu den Ställen und reichte der edlen Schimmelstute Assjadah ein Stück Zucker. Genoß befriedigt die hemmungslose Ergebenheit des Süß. Andere hatten kleine Mohren, einen Schwarzbraunen vielleicht, ihrethalb sogar einen Chineser; aber so einen Juden mit Haus und Papagei und solch einem feinen Schimmel, santa madre di Loretto, den konnte nicht einmal Versailles aufweisen.

Aber, schon in der Karosse, zwischen gaffendem, barhäuptigem Volk sagte sie über den Nacken des tief auf ihre Hand geneigten Finanzienrats mit ihrer langsamen, aufreizenden Stimme: »Alles fein, Jud, alles schön. Aber das Zimmer, wo die kleinen Christenkinder geschlachtet werden, hat Er mir doch nicht gezeigt.« Und lachte ihr kleines, glockiges, amüsiertes Lachen und fuhr davon.

Süß aber stand barhaupt vor seinem Haus, und das Volk gaffte und stieß sich an, und er achtete es nicht und schaute ihrer Karosse nach mit den wölbigen, fliegenden, beredten Augen, die sehr roten Lippen leicht offen in dem weißen Gesicht.

Mit dem zunehmenden Frühling verließ Rabbi Gabriel plötzlich, wie es seine Art war, das weiße, kleine Haus mit den Blumenterrassen. Er reiste, unscheinbar, ohne Diener, sein massiges, schweres Gesicht tauchte hier auf, dort; er zeigte nie Eile, hatte nirgendwo besondere Geschäfte; aber er blieb auch nirgendwo rasten, er reiste stetig und, so zickzack seine Fahrt ging, immer weiter wie auf vorgezeichnetem Weg.

Tauchte in die Berge. Saß zwei Tage lang in einem Bauernhaus an einer kleinen Brücke über einen Wildbach, schaute zu, wie die geflößten Stämme das strudelnde Wasser hinabtrieben, sich stauten, überkreuzten, liegenblieben, in dem schwellenden Bach weiterschwammen. Hörte Nächte hindurch das endlose Geläute des Viehs, das auf die Almen getrieben wurde. Fuhr den langsamen Paß hinauf, der nach Süden führte. Wind kam von Mittag, es hatte geregnet, feuchte, schwere Luft ging, dunkelbläulich lagen die Berge. Er stieg aus, stapfte dem beschwerlich knarrenden Wagen voraus. Auf dem nassen, sonnglänzenden Weg schleppte eine große Schnecke ihr Gehäus; sorglich wich er, im letzten Augenblick, ihr aus. Eine Viertelstunde später zerknirschte sie sein Wagen.

Er überschritt, tief durch Schnee watend, die Paßhöhe. Freier wehte es, warm und wohlig ihm entgegen. Gesegnet breitete sich, hoch durchblüht, das Land. Er kam an einen weiten, sehr großen See. Verweilte. Hockte lange Stunden am Ufer, unbeweglich, schwer, wie besonnter Stein. Dunkelgrün standen satten Laubes die Orangenbäume, weiter unten klommen silbern und leicht Oliven die Uferhänge hinauf.

Unterdes fuhr Süß nach Hirsau. Seitdem der Oheim das Kind ins Land gebracht, seit seiner wortlos höhnischen Mahnung hatte er das Verkapselte niemals wieder so fest schließen können wie früher. Ein Hauch davon kroch über seine Papiere, wenn er rechnete, schlich sich in seine Nächte, wehte ihm in den Nacken, wenn er glanzvoll und angehaßt auf seiner weißen Stute Assjadah durch die Straßen ritt, daß das Tier unruhig wurde, leise bäumte, wieherte. Es kam vor, daß er, der sachliche Rechner, der die Dinge scharf und nüchtern und nackt in ihren Grenzen sah und bei ihrem Namen nannte, am lichten Tag überschreckt zusammenfuhr, atmete, die Schultern hochzog wie in Abwehr; ein Gesicht schaute ihm über die Schulter, im Dämmer, nebelhaft, und es war sein eigenes.

Längst trieb es ihn, nach Hirsau zu fahren in das weiße Haus mit den bunten, fröhlich feierlichen Terrassenbeeten. Was ihn, ohne daß er es sich gestand, immer wieder hemmte, war die Nähe Rabbi Gabriels, das Atemsperrende, Unbehagliche, Lastende seiner unausweichlichen, müden, fordernden, trübgrauen Augen.

Er gestand sich auch jetzt nicht ein, daß es die Abwesenheit des Alten war, die ihn nun auf einmal so rasch den Entschluß zur Fahrt hatte fassen lassen. Er fuhr zu Naemi, er fuhr, nur von Nicklas Pfäffle begleitet, er war so leicht und frei wie noch nie. Er fuhr zu seinem Kind, und er war schon bei seinem Kind, und alle seine Ziffern und Politik und Macht und Eitelkeit blieb lahm und staubig dahinter. Er sah den jungen Acker, und er roch seinen Duft, und er rechnete nicht, wieviel dieses Feld bringen werde und wie man aus dem Umsatz dieses Getreides neue Steuern quetschen könne, sondern er sah nur die sanfte Farbe des jungen Korns und roch den wehenden Wind über dem Feld. Und er freute sich an den hohen, feierlichen Bäumen des Waldes ohne Berechnungen des Forstetats, ja er freute sich am Moos und, jungenhaft, an den Eichkätzchen, mit denen doch finanztechnisch gar nichts anzufangen ist. Und als er einen Bauernburschen sah, den Arm um die Hüften seines Mädchens, nickte er ihnen zu, und nur ganz ferne tauchte ein Gedanke auf an die raffinierte Steuerbelastung der jungen Ehen. Er fuhr zu seinem Kind, und sein Herz war schon bei seinem Kind. Wann endlich wird er den kleinen, weißglänzenden Würfel des Hauses sehen und die Blumenterrassen davor und sein Kind darin? Da, von der Landstraße ab, der Karrenweg. Er verläßt den Wagen, biegt, immer stärkeren Schrittes, in den Fußpfad ein. Hier ein Zaun, er öffnet das versteckte Tor, jetzt die hohen Bäume, die Beete jetzt, und jetzt, atmend, hingegossen hängt das Kind an seinem Hals, vergehend.

Spricht nichts. Spricht eine lange, ewige Weile nichts. Hängt an ihm, verströmend, klammert sich, trinkt ihn mit ihren großen, erfüllten Augen in sich hinein. Süß steht, und all das Gespannte, Äugende, Lauersame fällt von ihm ab. Gelöst läßt er sich treiben in dem lauen, wohligen Fluß der Stunde.

Wie schön ist sein Kind! Sie ist ganz vollendet. Es ist kein Zug an ihr, keine leiseste Bewegung, kein Haar, kein Flackern in der Stimme, das er anders wünschte. Schön ist sein Kind vor den Frauen, zart ist sie und rein ist sie, reinglühend wie ein zartes Licht, ihn selber glüht sie rein. Er hat mit ihr seine zutunliche Freude an der alten, watschelnden, herzlich ergebenen Zofe Jantje, er, dem alles Gewächs und Getier kalte, erdstumme Dinge waren, lernt die einzelnen Blumen verstehen, als sprächen sie; sie haucht den Dingen von ihrem sanften Atem ein, und er spürt ihr Leben in den Dingen.

War der Rabbi da, so hatte er fast Scheu vor dem Mädchen, er stand zwischen ihnen wie eine Wand. Jetzt wagten sich Wünsche und Ziele an sie hervor, die bisher geschwiegen hatten wie geduckte Hunde. Warum versteckt er das Kind vor den Menschen? Eine Königin von Saba, eine Königin Esther soll sie werden. Strahlen soll sie vor aller Welt, Fürsten sollen kämpfen um sie, sollen bei ihm betteln um sie, aus phantastischen Reichen sollen Prinzen kommen und Gold und Gewürz und alle Schätze Edoms vor ihre kindlichen Füße legen.

Aber da stand er mit Naemi in der Bibliothek. Tafeln waren da mit magischen Figuren und astrologische Tabellen, und plötzlich überkam es ihn, als seien die Augen des Alten irgendwo im Zimmer, als starrten sie auf ihn, trübgrau, mürrisch, lähmend traurig. Und die goldenen Träume, mit denen er eben noch das Kind behängt hatte, schienen ihm plötzlich Schleim und Ekel.

Doch da sprach Naemi. Mit ihrer kleinen, kindlichen Stimme sprach sie von dem kabbalistischen Baum, dem himmlischen Menschen, den heiligen Buchstaben-Ziffern des Gottesnamens; ihre erfüllten Augen standen groß und fromm in dem sehr weißen Gesicht, und die schwere, lähmende Luft war fort. Süß setzte nicht wie an seinem Schreibtisch mit amüsiertem Hohn den Zeichen der Kabbala die höchst realen Ziffern seiner Hauptbücher entgegen, wehrte sich auch nicht mit stumpfem, gebundenem Trotz wie in der würgenden Gegenwart Rabbi Gabriels.

Und dann, belebter, sprach sie von den Menschen der heiligen Geschichten. Ihr Aug, hingegeben, verströmend, hing an ihrem Vater, und kühnen Schrittes trat David ins Gemach, stolz blickend, mit der Schleuder, Simson stürmte vor, und rechts und links sanken die Philister, voll heiligen Zornes jagte Juda der Makkabäer die Heiden aus dem Tempel. Und alle waren sie er, flossen sie in eins mit ihm, borgten von ihm ihre Kraft, Schönheit, ihren Eifer und Sturm. Doch da mit einemmal stockte sie und wölkte sich. Sie sah Absalom, hängend mit dem reichen Haar im Geäst. Und sie griff, die Augen groß auf, die Schultern überschauert, nach der Hand des Vaters, hielt sich an ihr, der warmen, lebendigen, hielt sich sehr fest. Er erwiderte den Druck, aber er ahnte nicht, was sie bewegte.

Drei Tage lebte er so, schwerlos und gelöst vom Wirbel seines Alltags. Am dritten Tage plötzlich, er war allein im Zimmer und Nicklas Pfäffle stand vor ihm, fetten, unbewegten Gesichts, fiel die Außenwelt ihn an, das Zurückgelassene. Er sah seine Akten, auf Unterschrift wartend, getürmt, er sah die wirbelnde Welt, und sie wirbelte ohne ihn. Beamte, Geschäftsleute, alle jagten, hetzten, kribbelten hinauf, zielten hin, wo er stand, gefährdeten ihn, und er hatte seine Hand nicht im Getriebe, er saß hier fernab, kümmerte sich um nichts. Was alles konnte ihm entgleiten mittlerweile, was alles gegen ihn gewendet werden. Unbegreiflich, daß er so ruhig hier saß, unbegreiflich, daß er die Tage her an nichts gedacht hatte. Die Blumen sanken ihm zurück in ihre Stummheit, nichts mehr spürte er vom Hauch und Leben der Dinge, die Ziffern und Figuren der heiligen Wissenschaft waren ihm albernes Zeug. Vor ihm standen Rentabilitätsberechnungen, herzogliche Reskripte, Intrigen der Landschaft, komplizierte Geschäfte, Leben, Macht. Mit halber Seele nur schaute er auf sein Kind, das ihm, verströmend, im Arm lag. Er riß sich los, und schon lag das Mädchen, das weiße Haus, die feierlich frohen Blumenterrassen wesenlos hinter ihm, und die Kapsel sprang zu.

Wie er durch den Wald ging, mit Nicklas Pfäffle, rasch, dem Karrenweg zu, sah er plötzlich unter einem Baum am Rand einer Lichtung ein Mädchen, bräunlich kühnes Gesicht, starkblaue, große Augen seltsam unter dunklem Haar, die Hände hinterm Kopf verschränkt, hinstarren schräg hinauf durch die Stämme. Aber nicht in der Haltung einer Ruhenden, sondern angestrengt, gekrampft. Er ging gerade auf sie zu; sie war schön, sehr anders als die Mädchen im Lande, auf dem bräunlich kühnen Gesicht standen sonderbare, nicht alltäglich schwäbische Gedanken. Erst als er auf dem weichen Waldboden ganz nah an ihr war, sah sie ihn, sprang auf, starrte ihn an aus schreckgeweiteten Pupillen, schrie: »Der Teufel! Der Teufel geht durch den Wald!«, lief fort. Dem erstaunten Süß erklärte der gleichmütige, alleswissende Nicklas Pfäffle: »Die Magdalen Sibylle Weißenseein. Tochter des Prälaten. Pietistin.«

In der Kutsche überlegte Süß, es sei praktischer, nun er schon unterwegs sei, gewisse Geschäfte mit seinen Frankfurter Geldleuten persönlich zu erledigen. Allein dies war ein Vorwand, mit dem er sich selbst belog. Was not tat, war nicht persönliche Besprechung jener Affären in Frankfurt, was ihm not tat, was er ersehnte nach dem seltsamen und unsichern Hin und Her in dem Haus mit den Blumenterrassen, das war Bestätigung seiner selbst, seiner Macht, seines Erfolges, Widerhall, Sicherung. Er schickte nach seinem Sekretär, nach Dienerschaft. Fuhr groß und glänzend in Frankfurt ein.

Es standen staunend und erregt die Frankfurter Juden, steckten wackelnde Köpfe zusammen, schnalzten verwundert, bewundernd, hoben vielbeweglich die beredten Arme. Ei, der Josef Süß Oppenheimer! Ei, der württembergische Hoffaktor und Geheime Finanzienrat! Ei, was hatte er es weit gebracht! Sein Vater war Schauspieler gewesen, seine Mutter, die Sängerin, schön, elegant, nun ja, nun ja, aber eine leichte Person, keine Ehre für die Judenheit, sein Großvater, Reb Selmele, das Andenken des Gerechten zum Segen, ein braver Mann, Kantor, ein frommer, geachteter Mann, aber doch ein kleiner, armer Mann. Und nun der Josef Süß, so hoch, so glänzend, so mächtig, viel höher als sein Bruder, der Darmstädter, der Getaufte, der sich hat taufen lassen, um Baron zu werden. Ei, wie sichtbarlich hat der Herr ihn erhöht. Trotzdem er ein Jud ist, reißen die Gojim die Mützen vor ihm herunter und bücken sich bis zum Boden, und wenn er pfeift, kommen die Räte und Minister gerannt, als wäre er der Herzog selbst.

Süß schleckte gelüstig die Bewunderung. Er machte eine Spende, hoch zum Erstarren, für die Synagogenbedürfnisse, die Armen. Der Gemeindepfleger kam und der Rabbiner, Rabbi Jaakob Josua Falk, ein ernsthafter, kleiner, nachdenklicher Mann, welke Haut mit dicken Adern, tiefliegende Augen, sie bedankten sich, und der Rabbiner gab ihm Segenswünsche auf den Weg.

Und er stand vor seiner Mutter, und die schöne, alte, törichte Frau breitete ihre eitle Bewunderung unter seine Füße wie einen weichen Teppich. Er badete in dieser lauen, ungehemmt über ihn hinwellenden Bestätigung, aus hundert blanken Spiegeln strahlte alles Erreichte berauschend auf ihn zurück; seine heimlichsten Träume kramte er aus versteckten Winkeln vor diese willigste Hörerin, die selig lächelnd seine Hand tätschelte. Zäh entschlossen, von keiner Nachwallung des weißen Hauses beirrt, bis zum Rand gefüllt mit kühnen, unerhörten Entwürfen, kehrte er nach Stuttgart zurück.

Der Krieg war aus, Karl Alexander fuhr heim in seine Hauptstadt. Er war schlecht gelaunt. Der nächste Zweck zwar war erreicht worden, er hatte sein Land vor Überfall und Plünderung gewahrt. Auch waren alle Operationen kunstgerecht, methodisch vor sich gegangen, alle taktischen Fragen ausgezeichnet gelöst, er hatte gezeigt, daß er ein Faktor war, daß man mit ihm als Feldherrn wie als Besitzer einer ansehnlichen Armee rechnen mußte. Aber eigentlich waren das doch recht magere Resultate und weit entfernt von der Gloire, von der er geträumt. Verdrossen saß er in seiner Kutsche, das Übel seines lahmenden Fußes hatte sich verstärkt, sein Asthma bedrängte ihn.

Eine Diligence kam entgegen, bog respektvoll aus vor der herzoglichen Kutsche, hielt. Unter den in Demut erlöschenden Gesichtern erkannte Karl Alexander ein mürrisches, unerregt grüßendes. Breit, blaß, platte Nase unter mächtiger Stirn, trübgraue Augen. Er erschrak leicht, es war ihm, als höre er die knarrige Stimme: »Das Erste sag ich Euch nicht.« Jäh schnürte ihn unheimliche Gebundenheit. Er sah sich plötzlich schreiten in einem stummen, schattenhaften Tanz, der Rabbi vor ihm hielt seine rechte, Süß hinter ihm seine linke Hand. Schritt da ganz vorne, durch viele Hände mit ihm verstrickt, nicht auch der dicke, lustige Friedrich Karl, der Schönborn, der Würzburger Bischof? Wie schaurig possierlich er aussah. Und alles war trüb, nebelhaft, farblos. Tiefer verdrossen fuhr er weiter.

In Stuttgart hob sich von allen Seiten Ärgerliches. Die Herzogin hatte ihn erfreut begrüßt; in der Nacht dann, in seinem Arm, hatte sie in ihrer leisen, leicht spöttischen Art gefragt, was er ihr alles Schönes in Versailles erbeutet habe; als Braut habe sie geträumt, er werde dem französischen Ludwig die Perücke herunterreißen und sie ihr als Trophäe bringen. Es war gewiß harmlose Neckerei gewesen, aber ihn hatte sie tief gewurmt.

Dann rückte mit seiner langweiligen, zähen, enervierenden Nörgelei und Reklamiererei der parlamentarische Ausschuß an. Verlangte in einer zweiten Audienz dringlich und unumwunden jetzt, nach erfolgtem Friedensschluß, Abrüstung. Blaurot lief der Herzog an, der Atem setzte ihm aus. Nur mühsam zwang er sich, die Deputation anzuhören, nicht mit Fäusten über sie herzufallen, sie nicht verhaften, nicht kreuzweis schließen zu lassen. Höchst unwirsch und ungnädig, unter Atemnot und Husten, Flüche und Beschimpfungen polternd, jagte er schließlich die Verängstigten, Entsetzten fort. Berief den Süß.

Der trug, wie stets, ein fertiges Projekt in der Tasche. Karl Alexander empfing ihn nach dem Bad, im Schlafrock, der Neuffer rieb ihm den lahmenden Fuß, der Schwarzbraune lief, mit Tüchern, Kämmen, Bürsten, ab und zu. Lächelnd, verbindlich setzte Süß den feinen, giftigen Plan auseinander. In einer so wichtigen Angelegenheit solle Seine Durchlaucht sich nicht begnügen, mit den elf Herren des parlamentarischen Ausschusses zu verhandeln. Der Ausschuß müsse aus den übrigen Abgeordneten verstärkt werden.

Was damit gewonnen sei, fragte der Herzog, die blauen, gewalttätigen Augen unverwandt auf dem glatten, lächelnden, gewandten Mund des Juden.

Es seien natürlich, fuhr Süß leichthin und fließend fort, bei solcher Ergänzung nur diejenigen Deputierten beizuziehen, deren treue und loyale Gesinnung gegen den Herzog feststehe.

Karl Alexander sah dem Juden aufmerksam auf die Lippen, dachte scharf nach, wandte die Worte des Süß hin und her. Begriff, daß auf diese Art die Opposition mühelos aus dem Parlament ausgeschaltet, die Landschaft in eine Vereinigung ohnmächtiger Hanswürste gewandelt werden könnte. Sprang auf, daß der Kammerdiener Neuffer, der ihm den lahmenden Fuß rieb, zurücktaumelte. »Er ist ein Genie, Süß!« jubelte er los, stapfte, den einen Fuß bloß, im Zimmer herum, aufgewühlt. Der Schwarzbraune, in seinen Winkel zurückgewichen, folgte mit langsamen, rollenden Augen den Bewegungen seines Herrn. Dann, mit einem Ruck, blieb Karl Alexander stehen, zweifelnd, fragte bedenklich, wie denn die zuverlässigen Abgeordneten herauszufischen seien. Doch Süß, bescheidenstolz lächelnd, erwiderte, der Herzog möge ihm das überlassen, ihn, sei ein einziger Aufrührer unter den beigezogenen Deputierten, mit Schimpf und Schande über die Grenze jagen.

Denselben Abend noch konferierte Süß mit Weißensee. Teilte ihm mit, der Herzog halte es für notwendig, in einer so wichtigen Affäre den Ausschuß zu verstärken; wer wohl nach des Prälaten Meinung von den Abgeordneten Verständnis für die großen Probleme und Sinn genug für die europäische Bedeutung Karl Alexanders habe, um mit Gewinn für den Fürsten und somit fürs Volk bei solcher Ergänzung beigezogen zu werden. Behutsam saß der andere, rühmte die Umsicht und Gewissenhaftigkeit des Herzogs, nannte nach langen Umschweifen, zögernd, vorsichtig, zwei, drei Namen. Bog sogleich wieder ab und sprach, verbindlich, von anderem Belanglosem. Süß ging höflich darauf ein, meinte dann, gelegentlich, beiläufig, der Präsident des Hofkirchenrats scheine dem Herzog alt und ausgeschöpft, ob er, Weißensee, zeitlebens in Hirsau sitzen wolle, ein Berater von seinem diplomatischen Blick und seiner Erfahrung und Gelehrsamkeit wäre in Stuttgart hocherwünscht. Lüstern, sehr gelockt, schnupperte der Prälat, griff zu, lächelnd und betrübt über die eigene Schwäche und Verräterei, nannte seufzend, als Süß wieder auf den einzuberufenden Landtag zu sprechen kam, die geforderten Namen, verriet in den nicht genannten die Verfassung und wer ihr anhing. Ach, es war durchaus nicht die beste aller denkbaren Welten, wie gewisse à-la-mode-Philosophen wollten, es war eine schlecht eingerichtete, widerwärtige Welt. Nur der Einfältige konnte sich rein halten; wer klug war und kompliziert und nicht ganz abseits bleiben wollte vom fließenden Leben, der mußte unsauber und zum Verräter werden.

Ausgeschrieben wurde die Tagung. Ausgeschlossen wurden nach der Liste des Weißensee alle Abgeordneten der Opposition, ihre Proteste nicht beachtet. Herzogliche Kommissarien erschienen mit starkem militärischem Geleit in den einzelnen Städten, Ämtern, redigierten gewalthaberisch Wünsche, Vollmachten, bindende Aufträge der Bevölkerung an die Deputierten.

Unter solchen Auspizien trat der Landtag zusammen, der über die auf Jahrzehnte hinaus wichtigste Frage schwäbischer Politik, die Unterhaltung eines ansehnlichen stehenden Heeres, zu entscheiden hatte. Nicht im Landschaftshause in Stuttgart hielt dieses Rumpfparlament seine Sitzungen ab, der Herzog hatte verfügt, daß die Session der bequemeren Kommunikation mit seiner Person wegen in seinem Ludwigsburger Schloß unter seinen Augen stattzufinden habe. Die kleine Stadt quoll über von Soldaten, die Deputierten tagten bewacht von einem starken Militäraufgebot, immer gefährdet, von ihren Schützern beim kleinsten Wort der Opposition festgenommen zu werden. Der Herzog erschien nach einer nonchalanten Eröffnungsrede überhaupt nicht mehr; er nahm Parade ab, hielt kriegerische Übungen in der Umgegend, während seine Minister lässig, gnädig den Deputierten auf schüchterne Fragen vage, hochmütige Antworten gaben.

Auf diese Manier wurden die ungeheuren Militärforderungen des Herzogs genehmigt, dazu Verdoppelung der Jahressteuer und der Dreißigste von allen Früchten. Geltung haben sollte dieser Steuermodus, solange die bedenklichen Zeiten dauerten und das Land es vermöge. Nicht schärfer wagten unter den Musketen der Soldaten die sonst so bedächtigen, vorsichtig um jedes Jota feilschenden Herren diese entscheidende Klausel zu präzisieren, und als sie in einer inoffiziellen Besprechung bescheiden die Frage aufwarfen, wer denn über die Bedenklichkeit der Lage und die Leistungsfähigkeit des Landes solle zu befinden haben, wurden Süß und Remchingen so grob, hochfahrend und drohend, daß die Deputierten mürb und erschrocken auf genauerer Festlegung dieses wichtigsten Punktes nicht bestanden. Niemals hatte, seit es eine Verfassung im Land gab, ein württembergischer Herzog vom Parlament solche Zugeständnisse erreicht wie Karl Alexander und sein Jude.

Zwei Wochen nach der Tagung wurde der Prälat von Hirsau, Philipp Heinrich Weißensee, Präsident des Hofkirchenrats in Stuttgart. Kurz nach diesem Sieg des Süß über das Parlament starb auf dem Familienschloß Winnenthal des Herzogs Bruder, Prinz Heinrich Friedrich. Seitdem Karl Alexander seine Geliebte gehabt und sie dann breit lachend, hochmütig, die Flennende, Aufgelöste, ihm wieder zugeschickt hatte, verzehrte sich der schwächliche Mann in Ohnmacht und grellen Rachephantasien. Er begann vorsichtig und ziemlich ziellos neue Zettelei mit der Landschaft, aber die Herren hielten ihn nicht für den rechten Mann und blieben reserviert. Er sah oft mit gequälten, gedrosselten Blicken auf das sanfte, dunkelblonde Geschöpf, dessen Dasein jetzt eine einzige traurige Bitte um Nachsicht war. Einmal legte er ihr die kraftlosen, schweißigen Hände um den schönen, vollen, gesunden Hals, drückte langsam zu, würgte, ließ erschrocken ab, streichelte sie: »Du kannst ja nichts dazu, du kannst ja nichts dazu.« Er malte sich wilde, phantastische Racheszenen aus: wie er die Geliebte ersticht, den Leichnam vor sich quer übers Pferd nimmt, durchs Land jagt, das Volk groß zur Rache aufruft. Oder wie er den Bruder fängt, ihn zwingt, der Geliebten die Füße zu küssen, wie er dann beide tötet, die Frau feierlich wie eine Kaiserin bestatten läßt, den Bruder einscharren wie einen Hund. Und er selber thront, ein theatralischer Rachegott, über allem. Tun aber konnte er von all dem nichts, er konnte sich nur daran verzehren und sterben.

Karl Alexander, sowie er den Tod des Bruders erfuhr, sandte den Minister Forstner und den Kriegsrat Dilldey nach Schloß Winnenthal, die Verlassenschaft des Toten zu versiegeln und insbesondere seine Briefschaften zu beschlagnahmen. Er hatte gerade während der Tagung des Rumpfparlaments von neuerlichen Zetteleien seines Bruders mit der Landschaft gehört, er brannte darauf, Beweise, schwarz auf weiß, in die Hand zu kriegen wider gewisse Parlamentarier von der Opposition. Ei, wie wollte er sie packen, ei, wie wollte er sie zwiebeln, der Hydra den Kopf zertreten.

Seine Abgesandten fanden auf dem stillen Schloß spärliche, bestürzt schleichende Dienerschaft, und an der Leiche, starrend, apathisch das blonde Geschöpf. Dem Herzog brachten sie nichts zurück als belanglose Schreiberei.

Der schäumte. Er war gewiß, der parlamentarische Ausschuß, die Elf, hatten Konventikel gehabt mit dem Toten, Kabale gemacht, ihm die Regierung zuzuschanzen. Er wütete gegen die Abgesandten, die ihm nur Wertloses beigeschafft hatten. Wegpraktiziert hatten sie das Belastende, verbrannt. Verhunzt hatten sie, absichtlich zerschmissen und kaputt gemacht die gute Gelegenheit, das Spiel zu entdecken.

Süß schürte, hetzte. So ein Moment, die Verhaßten zu stürzen, kam nicht wieder. Er hakte ein bei dem alten, sinnlosen Verdacht des Herzogs. Waren es nicht die gleichen Männer, die Karl Alexander seinerzeit die Reversalien abgepreßt hatten, jene unseligen Religionsversicherungen, die sich dann in Stuttgart in der Reinschrift anders lasen als damals in Belgrad im Konzept? Die den Bogenwechsel vorgenommen hatten, ein Blatt eingeschmuggelt in die endgültige Fassung? Hochauf schäumen machte Süß den alten Argwohn des in allem Diplomatischen kindlichen Soldaten. Jene, die Herren, mochten Übung haben im Verschwindenlassen eines Schriftstücks. War die jetzige erfolglose Suche nach den sicher vorhandenen Dokumenten des Hochverrats nicht recht eigentlich Beweis und Bestätigung ihrer damaligen Praktiken, Zeugnis des geheimen Einverständnisses mit dem meuterischen Parlament?

Karl Alexander war es müde – und Süß pries die Weisheit solchen Entschlusses –, mit diesem zweigesichtigen Kabinett weiter zu regieren, das, wenn nicht aus Hochverrätern, im besten Fall aus schwerfälligen Schikanierern, Pedanten, Angsthasen, Kompromißlern, Linkshändern bestand. In Ungnaden entlassen wurden die Minister Forstner, Neuffer, Negendank, Hardenberg. Nur Bilfinger blieb. An den weit über Württemberg ragenden, festen, gelehrten Mann wagte sich der kluge Süß nicht, auch genierte er wenig, beschäftigte sich mehr mit seinen Studien, hielt sich in der Politik, wenn auch drohend und bedenklich, im Schatten. Und schließlich schätzte der Herzog die Unterhaltung des festungsbaukundigen Mannes zu sehr, als daß Süß hier viel hätte ausrichten können.

Aber mit in den großen Sturz geriet der Kammerdirektor Georgii, der das Wort geprägt hatte von der hebräischen Garde. Zu spät hatte der um Brot und Stellung besorgte Mann jenen unseligen Scherz bereut, zu spät sich an Süß anzubiedern versucht. Tief genoß der Jude seinen Triumph, als er diese ungelenken Annäherungsversuche wahrnahm. Er spielte mit dem plumpen, schwerfälligen Herrn, behandelte ihn jetzt mit besonderer Verbindlichkeit, daß der Aufatmende schon glaubte, Süß habe von jenem Hohnwort nichts gehört oder es vergessen. Schreckte ihn dann wieder durch eine Anspielung, eine undurchsichtige Drohung. Bis er endlich selber dem Kammerdirektor seinen Sturz mitteilte. Er hatte ihn zur Tafel geladen. Man saß, ein kleiner Kreis, unter dem Deckengemälde, dem vielfigurigen Triumph des Merkur, hatte von goldenem und silbernem Schüssel- und Tellerwerk raffinierte, gewürzte Speisen gegessen, aus den kostbaren Kelchen fremde, starke Weine getrunken. Nun saß man schwer, dampfte, verdaute. Da sagte der Jude leicht und verbindlich zu dem Kammerdirektor, er bedaure, daß Serenissimus seine erfahrenen Dienste so gar nicht mehr schätze; aber der Herzog möge eben die alte Garde partout nicht mehr leiden, nicht riechen könne er sie mehr. Und zur neuen gehöre der Kammerdirektor eben einmal nicht. Der schwere Herr sah ihn fassungslos an, stammelte etwas, starrte verloren vor sich hin, schlotternden Kopfes, schwankte bald fort. Er war arm, ein gerader, beschränkter Mensch, gebannt in Enge und Konvention, er hatte sieben Kinder und kein Geld. Nun war er also in Ungnade, schimpflich aus seinem Amt gejagt. Er ging heim, erhängte sich.

Ein großer Beamtenschub kam. Bisher waren viele biedere, gemütliche, schwäbische, langsame, gutartige Männer an hohen Stellen gesessen; jetzt rückten glatte, flinke Leute an, viele Ausländer, gewandt, vielwortig, in mancherlei komplizierten Geschäften zu Haus, die Kreaturen des Süß, die Scheffer, Thill, Lautz, Bühler, Mez, Hallwachs. An allen entscheidenden Stellen saßen sie, alle Zugänge zum Herzog hielten sie besetzt. Süß selber aber lehnte noch immer jedes Amt ab, er hatte nichts als den Titel Geheimer Rat und Oberhoffinanzdirektor, auch Schatullenverwalter Ihrer Durchlaucht der Frau Herzogin; aber er war, und alle Höfe wußten dies, der wahre Regent des Landes, er hielt auch ohne Siegelring seine Hand über dem Herzogtum.

Befreit auf atmete das Land, streckte sich in fröhlicher Erwartung. Aus der Krieg. Zurückkehren werden jetzt die Söhne, Männer, Liebsten. Geruhig, sicher wird jetzt das Leben fließen, nicht stoßweise, mit Lücken hier und Mangel dort und immer neuen Schikanen. Die jungen, festen Männer wird man wiederhaben, ihre entbehrten Fäuste für die Arbeit, die Männer wieder fürs Regiment im Hauswesen, fürs Bett. Einteilen wird man sich sein Geschäft können, nichts ins Ungefähr wird man wirtschaften. Die Pferde wird man wiederhaben, die lieben, kräftigen Rösser, sie werden abgerackert sein, aber man wird sie schon glatt und hoch bringen. Alle Äcker wird man bestellen wie früher, den Weingarten wird man nicht weiter verludern lassen, das Haus nicht verdrecken und verfallen. Die kleinen Bürger in den Städten werden ihr Auskommen haben wie vor dem Krieg, die Materialien für ihre Hantierung, Eßwaren reichlich und Wein. Nicht wird man vor Wagen, mit schönen Dingen hochbepackt, sich sagen müssen: Je, ist alles für die Soldaten! Selber im Land wird man haben, was man macht. Nach Westen alle Blicke, von wo die Truppen wieder herkommen, die Männer, die Pferde, die Zelte, Wagen, Troß, Proviant, das Entbehrte zurück, das Ersehnte, Mangelnde, Dung und Saft zurück. Nach Westen alle Blicke wie in Dürre nach aufziehenden Wolken.

Die fressende Enttäuschung, als der Landtag kläglich resignierte, als die Armee nicht aufgelöst wurde. Ins Feuer flogen, auf den Mist die Bilder des Herzogs, Belgrad, die siebenhundert Axtmänner. Verzweiflung brach aus, Rottierer hoben sich, drohender als bei Beginn des Krieges, aber rascher noch und energischer zur Ruhe gebracht. Mit Quartier belegt, denn Kasernen mangelten, alle Untertanen, auf je zwei Familien kam ein Soldat, überall im Land lagen sie bei Bürgern und Bauern. Spionierer gingen herum, wer murrte, verdächtig war, wurde mit doppelter Last beladen. Hatten die vielmögenden Herren des Parlaments so rasch gekuscht vor des Herzogs Truppen, so wurde der gemeine Mann doppelt eingeschreckt von den Garnisonen, von den fremden, katholischen Offizieren und ihrer Brutalität.

Ringsum die Länder, die freien Städte blühten auf jetzt im Frieden; im Herzogtum sah der Friede schlimmer her als der Krieg. Denn hatte Karl Alexander draußen Geld nur für sein Militär gebraucht, so mußte er es jetzt haben für die Truppen und seine Hofhaltung, die üppiger glänzte von Tag zu Tag.

Süß, es war ein Wunder, es war Zauberei, schaffte das Geld. Als hätte er eine Wünschelrute, spürte er jeden versteckten Fleck, es an den Tag zu scharren. Während des Krieges hatte er die Schraube erst angesetzt, jetzt, langsam, mit unheimlicher Ruhe und Fertigkeit, drehte er zu. Niedergehalten von dem würgenden Druck der Soldaten, schrie nicht das gequetschte Land, stöhnte gequält, blutete veratmend seinen Saft aus, seufzte gedrosselt, verging. Auflagen, immer neue, Stempel auf alles, auf Schuhe selbst und Stiefel. Giftige Witze flogen auf: nächstens werden auch die Menschen gestempelt, auf die flache Hand gebrannt oder auf die Fußsohlen, zu vier Groschen das Paar.

Auch unter Eberhard Ludwig und der Grävenitz waren Ämter und Stellen verschachert worden. Süß raffinierte das System, setzte eine eigene Behörde dafür ein, das Gratialamt, jede frei werdende Stelle kunstgerecht an den Meistbietenden zu versteigern, neue Ämter, Titel, zu solchem Behuf zu schaffen. Gekauft werden mußte jeder Posten, vom Expeditionsrat bis herunter zum Schultheiß und Dorfrichter, ja bis zum Badmeister und besoldeten Abdecker. Nicht alle Tradition, nicht noch so erwiesene Befähigung gaben den Landeskindern Anspruch auf ein Amt; wer kein Geld hatte, mochte zusehen, sich auf andere Art oder im Ausland fortzubringen. In Preußen machte der Stuttgarter Christoph Matthäus Heidegger rasche Karriere, in Württemberg hatte es ihm nichts genützt, daß seine Väter ein Jahrhundert hindurch Richter gewesen waren. Dem mittellosen Friedrich Christoph Koppenhöfer konnte selbst der warme Fürspruch Bilfingers nicht zu einer Professur in Tübingen verhelfen; in Sankt Petersburg, bei den Hyperboreern, mußte sich der ausgezeichnete schwäbische Physiker Ansehen und Würden erlehren. Dafür saßen jetzt aus allen Winkeln der Welt gewandte Geschäftsleute in den herzoglichen Ämtern. Wie sollte man Sachkunde finden, fördernde Verwaltung bei Beamten, die ihren Posten teuer bezahlt hatten, die keine andere Legitimation hatten als solche Zahlung, kein anderes Ziel kannten als wucherische Verzinsung des angelegten Kapitals.

Aber die ergiebigste kommerzielle Affäre, eine Quetsche, die nie versagen konnte, blieb die Justiz. Die Methode des Süß war von genialer Simplizität. Das Recht wurde nach den Prinzipien kaufmännischer Rentabilität verwaltet. Wer Geld hatte, konnte es kaufen und, was er wollte, mit Brief und Siegel legalisieren. Wer kein Geld hatte, dem nützte das bestverbriefte Recht nichts.

Sehr geschickt verwertete Süß jenes Reskript, mit dem Karl Alexander seine Regierung angetreten hatte. Die Grävenitzschen Beamten waren darin vor Gericht gefordert, Landeskommissionen eingesetzt worden zur Bestrafung von Bestechung und Unterschleif; das Volk hatte diese Verordnung bejubelt, das erhabene Antlitz der Themis leuchtete daraus, dichtete der Hofpoet. Süß machte mit wenigen meisterlichen Strichen aus diesem Antlitz ein anderes, wulstbackiges, frech blinzelndes: Gott Mammons. Ein Fiskalatsamt wurde eingesetzt zum Vollzug der herzoglichen Ordre. Spionierer reisten im Land herum, fanden sich freiwillig, spürten die reichen und vermöglichen Leute auf, die ohne Schutz standen, nicht versippt waren mit Herren am Hof oder vom Parlament. Dann hängte man ihnen einen Prozeß an, sie hätten ihr Vermögen unrechtmäßig erworben, schlug durch Drohungen, Erpressungen, falsche Zeugen auch den Redlichsten so lange weich, bis er, die Untersuchung los zu sein, die geforderte Summe zahlte. Selbst gegen längst Verstorbene wurden Prozesse instruiert, wenn sie nur Vermögen hinterlassen hatten.

Über die Grenzen hinaus Aufsehen erregte der Fall des Kammerrats und Hauptzollers Wolff. Dem eigenbrötlerischen, rechthaberischen Mann wurde grundlos der Prozeß gemacht. Der Expeditionsrat Hallwachs, eine Kreatur des Süß, schlug ihm einen Vergleich vor, Wolff bequemte sich nicht, bestand auf seinem Recht. Das Verfahren ging weiter, es wurde ihm seine Bissinger Mühle genommen. Als ihm die Pfändung seines Weinbergs angesagt wurde, sprang der sanguinische Mann dem herzoglichen Beamten, der ihm die Verfügung überbrachte, an die Gurgel. Jetzt wurde seinem Sohn der bereits erteilte Heiratskonsens wieder entzogen, der junge Mann beugte sich nicht, drang bis zum Herzog vor, hielt bei währendem Konferenzrat eine wilde Anklagerede gegen das Fiskalatsamt, wurde mühsam von den Schweizern entfernt. Karl Alexander, stark beeindruckt, forderte die Akten ein, ließ sich aber dann von dem Hofkanzler Scheffer beschwatzen, es sei alles in Ordnung und Fug, Wolff sei ein Radaubruder und Querulant. Nun wurde der Kriminalprozeß gegen ihn verschärft, Gefängnis gegen ihn verfügt. Er floh ins Ausland, verkam. Seine hinterlassenen Güter beschlagnahmte das Fiskalatsamt.

Sechseinhalb Tonnen Goldes quetschte innerhalb eines Jahres diese Justizbehörde in die herzoglichen Kassen. Einundeinviertel Tonnen davon berechneten die Kassiere des Süß als Spesen und Provision, über eine halbe Tonne außerdem behielt Süß zurück, sie verrechnend für gelieferte Preziosen.

In Stuttgart, trotzdem Süß noch immer kein offizielles Staatsamt innehatte, wußte man längst, daß nicht vom Schloß aus regiert wurde, auch nicht von der Residenz in Ludwigsburg, auch nicht vom Landschaftshaus. Alle diese verfluchten, kniffligen Reskripte, die so harmlos, ja wohltätig aussahen und die einem hernach um den Hals hingen wie Mühlsteine, daß man keine Luft kriegte und schnappte, gingen aus von dem Haus an der Seegasse. Jetzt ballte man Fäuste vor diesem Haus, knurrte Verwünschungen, spie aus, ein Kühner klebte wohl einmal ein Pasquill an, aber alles nur nächtlich, heimlich, spähend nach allen Seiten. Denn der Jude hatte überall seine Leibhusaren und Spione, und wer sich gegen ihn verging, konnte unversehens auf dem Neuffen sitzen oder in den Kasematten von Hohenasperg, kreuzweis geschlossen und in ewiger Nacht.

Im »Blauen Bock« aber saßen politisierend, raunzend die Kleinbürger, unter ihnen der Konditor Benz. Er hütete sich wohl, sich ein zweites Mal das Maul zu verbrennen. Aber jetzt war es ja einfach, jetzt brauchte man nur zu sagen: »Ja, ja, unterm vorigen Herzog regierte eine Hur«, und jeder ergänzte von selber: »Unterm jetzigen ein Jud.« Und Murren hob sich, und die Gesichter waren verzerrt von Gift und Ohnmacht, und der Konditor Benz saß, und die Schweinsaugen glitzerten über den fetten, schwitzenden Backen.

Es ächzte das Land, wand sich unter dem würgenden Druck. Korn wuchs, Wein wuchs, Gewerbefleiß rührte sich, schuf. Der Herzog lag darauf mit seinem Hof und seinen Soldaten, das Land trug ihn. Zweihundert Städte, zwölfhundert Dörfer, sie seufzten, bluteten. Der Herzog sog an ihnen, sog durch den Juden. Und das Land trug ihn und den Juden.

In den Brüdergemeinden, Konventikeln, Bibelkollegien der Pietisten sammelten sich die Mühseligen und Beladenen. Sie krochen zu Gott wie getretene Hunde, leckten ihm die Füße. Überall im Herzogtum, trotz der scharfen Erlasse und Strafen, traten Erweckte und Erleuchtete auf. In Bietigheim pries der Prädikant Ludwig Bronnquell, ein Jünger Swedenborgs und der Beata Sturmin, der schon als Helfer in Groß-Bottwar wegen seiner Ideen über das Tausendjährige Reich und die Bekehrung der Juden einen Verweis vom Konsistorium bekommen hatte, den Süß als willkommene Geißel. Wenn man einen Hund den ganzen Tag schlage, predigte er, so gehe er durch und suche einen andern Herrn. Die gemeinen Leute seien solcher Hund. Der Herzog schlägt auf sie hinein, die Soldaten schlagen auf sie hinein, die Amtmänner, die Offiziere schlagen auf sie hinein, der vornehmste Stock aber sei der Jude Süß. Das stehen sie nicht aus, gehen also durch und suchen einen andern Herrn: Christum. Der Prädikant wurde zwar entlassen und irrte in dickem Elend in Deutschland herum. Aber seine Lehrmeinung blieb, und in ihren Versammlungen dankten die Pietisten Gott für den Juden, für die Peitsche, mit der er sie zu sich trieb.

Die Demoiselle Magdalen Sibylle Weißenseein war in Hirsau zurückgeblieben, als ihr Vater nach Stuttgart übersiedelte. Seitdem sie im Wald den Teufel gesehen hatte, konnte sie nicht mehr los von diesem Gesicht. Sie fühlte sich berufen, mit dem Teufel zu kämpfen, ihn zu Gott herüberzuziehen. Sehnsucht, aus Kitzel und Grauen gemischt, trieb sie immer wieder in den Wald, aber sie begegnete dem Teufel kein zweites Mal.

Seltsam war, daß sie von dieser Begegnung den Brüdern und Schwestern im Bibelkollegium nicht sprechen konnte. Selbst der Beata Sturmin, der Führerin, der Erweckten, der Blinden, Heiligen, hielt sie dieses Gesicht geheim. Es war ihr vorbehalten, ihre Aufgabe, ihr Beruf, mit dem Teufel zu kämpfen. Seine Augen wurden noch fressender, gewölbter, feuriger in ihrem Erinnern, sein Mund stand noch röter, lüsterner, gefährlicher in dem sehr weißen Gesicht. Luzifer war schön, dies war seine stärkste Kraft und Lockung. Ihn an der Hand zu nehmen, nicht loszulassen, zu Gott zu führen, das mußte ein Triumph sein, in dem man verging. Man mußte die Augen schließen, so wohlig war es, sich solchen Sieg auszumalen.

Die armen Brüder und Schwestern indes im Bibelkollegium sprachen von den kleinen Sendlingen des Beelzebub, von dem Herzog und dem Juden. Magdalen Sibylle hörte fast mitleidig zu. Ein Jud, ein katholischer Herzog, was waren das für winzige, harmlose Teufelchen gegen den wahren und wahrhaftigen Satan, den sie geschaut hatte, den sie zu bestehen haben wird.

Auch der Magister Jaakob Polykarp Schober hatte sein Geheimnis. Den Brüdern und Schwestern des Kollegiums sogar, die schlicht vor sich hin lebten und keine scharfen Beobachter waren, fiel der heilige Glanz auf, den das sanfte, etwas pausbäckige Gesicht des jungen Menschen aussonnte, wenn man die frommen Lieder vom Himmlischen Jerusalem sang. Er sah dann vor dem weißen Haus mit den Blumenterrassen das Mädchen im Zelt, sich dehnend und verträumt, nach fremder Sitte gekleidet, mattweißes Gesicht unter blauschwarzem Haar. Er war noch mehrmals schüchtern und in Herzensangst über den Zaun gedrungen, er hatte auch ein zweites Mal das Mädchen gesehen, aber das war an einem kahlen, widrigen Herbsttag gewesen, sie war dunkel gekleidet, und ihr Bild verfahlte vor jenem ersten, viel seltsameren, prall besonnten. Dann später einmal hatte ihn die Stuttgarter Brüdergemeinde veranlaßt, sich um die herzogliche Bibliothekarstelle zu bewerben, aber das war daran gescheitert, daß er das Geld nicht hatte, das von dem Gratialamt für die Stelle gefordert wurde. Und er war im Grund sehr froh darüber, denn so konnte er in Hirsau bleiben und um den Wald und das weiße Haus herumträumen.

Es stellte sich aber zwischen ihm und Magdalen Sibylle im Kollegium eine merkwürdige innigere Verbindung her. Die Brüder und Schwestern seufzten demütig und dankbar von den schweren, seligen Zeiten der Not und der Erweckung, von dem grauslichen Juden, den der Herr über das Herzogtum gesandt hatte, und der Magister sah das himmlische Mädchen, und Magdalen Sibylle sah den Luzifer, und ihre Träume woben über alle und gingen durch ihre einfältigen Gesänge und verschlangen alle miteinander und erfüllten den kahlen, nüchternen, niederen Raum. Die Schimmelstute Assjadah, zu deutsch Die Morgenländische, gewöhnte sich rasch an die milde schwäbische Luft; aber sie mochte die Schwaben nicht, ihre Hände nicht, ihr Enges, Muffiges, Unweites, Verquertes nicht. Sie war in Jemen geboren, mit einer Tributzahlung in die Ställe des Kalifen gekommen, von einem Untersäckelmeister an den Levantiner Daniele Foa verhandelt worden, der wieder hatte sie an seinen Geschäftsfreund, den Süß, verkauft. Süß pflegte das Tier sorglich, denn es war sein Eigentum, und er machte gute Figur darauf. Aber er liebte es nicht. Er wußte damals noch nicht, daß in allem Lebendigen etwas von ihm selber war, er ahnte es dumpf und unbehaglich, wenn Rabbi Gabriel zu ihm sprach, es rann ihm lieblich durchs Blut, wenn er bei Naemi war. Aber waren diese kurzen Stunden vorbei, versank es ihm, und er wußte es nicht.

Doch die Schimmelstute Assjadah wußte es. Sie kannte den Schritt ihres Herrn, seine Hand, seinen Schenkel, seinen Dunst. Sie dachte, während sie unter ihm leicht und ziervoll hinschritt: Er mag mich nicht. Aber er ist schön zu tragen. Man spürt ihn gar nicht. Er ist wie ein Stück von mir selber. Er hebt und senkt sich mit meinem Atem und meinen Muskeln. Wenn mich die anderen ansehen, ist mir eng, und ich gehöre nicht zu ihnen. Aber er ist ein Stück von mir. Sein Aug ist weit, und ich möchte rennen und fliegen, wenn er mich ansieht. Wenn seine Hand an meine Haut klopft, bin ich sicherer und voll Ruhe und Kraft. Ich gehöre zu ihm, und ich bin in meinem rechten Land, wenn ich bei ihm bin. Und sie reckte den Kopf hoch auf, und sie wieherte hell und triumphierend den aufhorchenden Bürgern zu: Aufgepaßt! Er kommt! Er!

Denn Süß trug jetzt seine Macht offen und in aller Sonne vor sich her und zeigte kokett und prahlerisch seine Meisterschaft in den Künsten des Hofs und der Gesellschaft. Nur eine von den Vergnügungen des Kavaliers haßte er: die modische Treibjagd. Es schien ihm unsäglich albern und widerwärtig, Tiere auf einen Haufen zu treiben und dann die wehrlosen, hin und her gescheuchten niederzuschießen. Sah er die hochgeschichteten Kadaver, so stieg ihm Übelkeit den Magen hinauf, er konnte sich, sosehr er den groben Spott des Hofes scheute, nicht überwinden, von dem Aas der erlegten Tiere zu essen. Die Tötung der Ochsen, Kälber, Schafe, Schweine überließ man den Metzgern; es war ein ehrbarer, nützlicher Beruf, immerhin drängte man sich nicht des Pläsiers wegen dazu und hielt diejenigen, die ihn ausübten, nicht für Kavaliere. Der Jude begriff durchaus nicht, daß die Tötung eines Kalbes kleinbürgerliches Metier, die zusammengetriebener Rehe ritterliches Vergnügen war.

Sonst aber hielt er darauf, das Zentrum der höfischen Veranstaltungen zu sein. Kein Fremder von Stand kam nach Stuttgart, der nicht dem allmächtigen Günstling seine Aufwartung gemacht hätte. Er vermehrte seine Dienerschaft, daß seine Leibhusaren in ihrer weinroten Livree schier eine kleine Kompanie bildeten. Die Minister und hohen Beamten hielt er in knechtischer Unterwürfigkeit. Sie fürchteten ihn fast mehr als den Herzog; pfiff er, so kamen sie in vollem Sprung daher. Beim leisesten Widerspruch drohte er mit Kreuzweisschließenlassen, Auspeitschen, Untermgalgenbegraben.

Süß wirbelte, und es wirbelte um ihn. Geschäfte, Politik, fürstliche Geselligkeit, Frauen. Er befahl zur Audienz, und keiner weigerte sich ihm. Er konnte, wollte er es, von einer Liebenswürdigkeit sein, vor der jede Schranke niederbrach.

Den Herzog hatte Süß durchaus in seiner Gewalt. Karl Alexander fühlte sich geheimnisvoll gebunden an diesen Mann, der als erster an seinen Aufstieg geglaubt und auf diese schwanke Basis so vertrauend sein ganzes Leben gestellt hatte. Der ihm wie durch Zauberei alle Hindernisse aus dem Weg schaffte, an denen er und seine Räte sich vergebens abzappelten. Voll ehrlicher Bewunderung, und ein ganz leises Grauen war ihr beigemischt, sah er, wie dieser Jude aus dem Nichts beibrachte, was man von ihm verlangte: Geld, Weiber, Soldaten. Und blind folgte er jedem Rat seines Finanzdirektors.

Süß hatte von frühester Jugend an ein grenzenloses Zutrauen zu sich selbst. Dennoch hatte er jetzt wohl auf Augenblicke ein gelähmtes, starres Staunen, welche Aufgabe er auf sich genommen und wie spielerisch er sie bewältigte. Wohl hatten auch bisher die großen Geldmänner seines Stammes gewaltige Entschlüsse zu fassen gehabt, die gefüllte Schale der Macht in den Händen getragen. Aber sie hatten sich im Schatten gehalten oder waren wie sein Bruder Christen geworden. Er stand, der Jude, vor ganz Europa einsam auf seinem gefährlichen Gipfel und lächelte und war elegant und selbstverständlich, und auch der späherischste Blick konnte ihm kein leises Zucken nachspotten.

Um sein Haus so fürstlich zu führen, um den Herzog ganz und immer in der Hand zu halten, brauchte er Geld, Geld in phantastischen Mengen und immer in Fluß und zu seiner Verfügung. Er hatte bei den Wiener Oppenheimers, den kaiserlichen Bankiers, seinen Verwandten, gelernt, mit großen Ziffern zu operieren. Doch jetzt lief die Administration des gesamten Herzogtums durch seine Hand, das Vermögen von zweihundert Städten und zwölfhundert Dörfern stand ihm für seine Transaktionen zur Verfügung. Bei seiner fieberhaften Betriebsamkeit warf er es dahin, dorthin, ließ es rollen in rasendem Umlauf. Er hatte Beziehungen zu allen Geldmännern Europas, durch seine zahllosen, zumeist jüdischen Hintermänner floß das schwäbische Geld die kompliziertesten Kanäle, pflanzte Plantagen in Niederländisch-Indien, kaufte Pferde in der Berberei, jagte Elefanten und schwarze Sklaven an der afrikanischen Küste. Sein Grundsatz war, sein erstrebtes Ziel, ein rasender, taumelnder Umsatz. Nicht großer Gewinn im einzelnen, aber riesiger Gewinn dadurch, daß man von allem ein winziges Bruchteil in der Hand behielt. So mühte er sich, seine Hand in allen Gelddingen Deutschlands zu haben, er kontrollierte Industrie und Kommerz in allen Ecken und Winkeln Europas, und ein ansehnlicher Teil des gesamten deutschen Vermögens lief durch seine Kassen.

Seine privaten Einkünfte waren überreich. Wer am württembergischen Hof etwas erreichen wollte, bemühte sich um ihn mit Douceurs und Präsenten. Der Herzog, von Remchingen darauf aufmerksam gemacht, lachte: »Laß den Kujonen profitieren. Von jedem Profit, den er hat, profitier ich das Doppelte.« Sein Handel mit edlen Pferden dehnte sich weit, vor allem aber wuchs sein Kommerz mit edlen Steinen. Von je hatte er Juwelen fanatisiert geliebt; doch bisher war ihm bei jeder größeren Affäre ein Portugiese in die Quer gekommen, ein gewisser Dom Bartelemi Pancorbo, ein langer, stiller unheimlicher Mensch, der überall, wo wirklich edler Schmuck zu erlauern war, unversehens wie durch magische Mittel verständigt auf dem Platz war, mit seinem eingedrückten, entfleischten Totengesicht und immer in verschollener, schlecht sitzender, schlotternder portugiesischer Hoftracht. Am kurpfälzischen Hof hatte er hohe Titel und Würden inne, durch seine diplomatischen Beziehungen beherrschte er den Amsterdamer Markt und von da aus den ganzen deutschen Juwelenhandel. Jetzt nützte Süß seinen politischen Einfluß, den verhaßten Konkurrenten auszuschalten. Der Jude führte den Kampf wild und mit Leidenschaft; kalt, zäh, lauernd wich der andere, der hagere, unheimliche Portugiese, und nur Schritt um Schritt. Ganz tot zu machen war er nicht, sein Schatten fiel immer wieder über die Geschäfte des Süß, aber es war doch an dem, daß man die besten und seltensten Steine jetzt zuerst dem Juden anbot und daß gewisse ganz erlesene Kostbarkeiten nur durch ihn zu erlangen waren.

War dies ein spielerischer Handel, der neben großen Gewinnen auch dicke Verluste brachte, so wußte Süß aus vielen anderen Quellen sich stetigen und sicheren Zufluß zu sichern. Er wußte es etwa einzurichten, daß in ständiger Wiederkehr, wenn die herzogliche Kasse größere Zahlungen zu leisten hatte, Besoldung der Beamten, der Truppen, kein Bargeld da war. Dann schoß er aus seinen Kassen das fehlende vor und behielt als Entgelt vom Gulden einen Groschen zurück. Bürger und Bauer sahen in dieser klar durchschaubaren Finanzoperation die Quelle ihres ganzen Unheils, und kein Mangel, keine Armut drückte so sehr wie dieser fehlende Judengroschen.

Auch die Münze hatte er gepachtet. Aber er verschmähte es, an mindergewichtigem Geld zu verdienen. Zu einem so plumpen und subalternen Manöver hatte er damals greifen müssen, als er noch ganz verkannt und gering war, beim Darmstädter Münzakkord, als ihm kein anderes Mittel übrigblieb. Jetzt war es großzügiger, an dem erhöhten Umsatz des guten Geldes zu profitieren. So war das Geld, das er prägte, das beste unter allen deutschen Scheidemünzen, das gangbarste und gesuchteste. Vor allem aber juckte es ihn, durch die Solidität seiner Münzgebarung seine Feinde mundtot zu machen. Er wußte, hier würden seine Gegner zuerst einsetzen, hier konnte er über den kleinsten Fehltritt stolpern; wurde er andererseits hier reell befunden, so mußte sein Kredit ungeheuer steigen. Gespannt wartete er auf eine Anklage, suchte sie zu beschleunigen. Der plumpe Remchingen, von anderen in solchen primitiven Finanzanschauungen bestärkt, konnte sich denn auch den zunehmenden Reichtum des Süß nicht anders erklären als mit der konventionellen Annahme, der Jude präge Schwindelgeld. Er hetzte den Herzog auf, bis der endlich eine Untersuchung anordnete. Und Süß, bescheidenstolz lächelnd, wies die Briefe der Agenten vor, seine Stücke fielen zu schwer aus, es sei zu wenig Gewinn dabei, und sonnte sich in seiner Unantastbarkeit.

Er war beteiligt auch an vielerlei andern Akkorden und Pachtungen. Überall hatte er Warenniederlagen und Verkaufsstapel, und ein fürstliches Patent befreite ihn von Zoll und Akzise; auch zwangen die fürstlichen Beamten, Stadtund Amtsvögte den Untertanen zu seinem privaten Nutzen Frondienste und Fronfuhren ab. Er ließ sich Lotterien privilegieren und kitzelte durch Glückshäfen und Spielkasinos das Geld aus allen Taschen.

So spannte er ein Netz von Unternehmungen, vielfältig verästelt, übers Land. Er dehnte sich und badete in der Macht. Aber manchmal war es ihm, als sei es nicht er, von dem der ganze glänzende Wirbel ausgehe. Dann hob er wohl die Schultern, überfrostet, wie in Abwehr. Jäh schnürte ihn eine unheimliche Gebundenheit. Die Dinge um ihn verfahlten; er sah sich schreiten in einer stummen, schattenhaften Quadrille, Rabbi Gabriel hielt seine rechte, der Herzog seine linke Hand. Sie schlängelten sich, machten ihre Pas, verneigten sich. Schritt da drüben in der Kette, durch viele Hände mit ihm verstrickt, nicht auch Isaak Landauer? Wie schaurig possierlich er aussah mit seinem Kaftan und den Schläfenlöckchen in dem ernsthaften, schweigenden, gezirkelten Schreiten, Neigen, Sichwinden.

Aber das trübe, nebelhafte Bild quälte ihn nur für kurze Augenblicke. Dann tauchte es hinunter vor dem Tag, der um ihn war, nebelte ins Nichts, zerweste. Und es blieb das Gold, das man wiegen und zählen, das Frauenfleisch, das man tasten, streicheln, packen, haben konnte. Es war da und blieb. Glanz, Macht, Wirbel, Leben.

In Urach war eine Leinwandkompanie, die der Familie Schertlin gehörte. Die Schertlin hatten unter Herzog Eberhard Ludwig klein angefangen, jetzt waren sie weit im Land verzweigt. Ihr Geschäft blühte, sie hatten eine Niederlassung in Maulbronn, betrieben in Stuttgart eine Seidenmanufaktur. Kräftig, glücklich und geschickt hatte seinerzeit, als die Fabrik noch klein und unbedeutend war, der Seniorchef der Familie, Christoph Adam Schertlin, ihre Umwandlung in eine Aktiengesellschaft durchgesetzt und der Gräfin Grävenitz Anteilscheine weit unterm Wert überlassen. Auf diese simple Manier war die mächtige Favoritin für das Unternehmen interessiert worden, sie verschaffte der Gesellschaft Privilegien und Aufträge. Dann später, als die Gräfin in Ungnade war und ihr in Württemberg liegendes Vermögen liquidieren mußte, konnte Christoph Adam Schertlin ihre Aktien durch gewisse Unterhandlungen mit Isaak Landauer billig zurückerwerben. Jetzt hatte er sich vom Kommerz zurückgezogen, das herzogliche Gebiet verlassen, in der freien Reichsstadt Eßlingen ein Patrizierhaus gekauft und neu eingerichtet. Dort saß er nun, stattlich, reich, Ratsherr, hoch angesehen.

Die Geschäfte der Stuttgarter, Uracher, Maulbronner Manufaktur leitete jetzt Johann Ulrich Schertlin, ein fester, kundiger, zupackender Mann, mit der erste unter den schwäbischen Industriellen. Er hatte sich eine Französin zur Frau genommen, aus der Emigrantenkolonie Pinache im Oberamt Maulbronn, die zu Ende des vorigen Jahrhunderts die vertriebenen Waldenser angelegt hatten, eine schöne, fremdartige Frau, kurzer, roter Mund in weißem Gesicht, hochmütige, längliche Augen unter rötlichblondem, leuchtendem Haar. Freunde, Verwandte konnten mit ihr nichts Rechtes anfangen. Sie war ein Staatsweib, das war nicht zu leugnen, aber sie war verdammt stolz, sie antwortete karg und kurz, meist schwieg sie gelangweilt, auch sprach sie, obwohl in Deutschland geboren, fast immer welsch und die Landessprache nur stockend. Aber Johann Ulrich Schertlin konnte sich das leisten, er saß dick in Geld und Würden, er hatte ein Haus in Stuttgart, eines in Urach, abgesehen von den Manufakturen. Er stellte, Teufel noch eins, seinem Hauswesen vor, wen er für gut hielt. Und er wandelte stattlich hin mit der Frau, die er liebte, und sein Haus und Tagewerk gedieh.

Nun hatte aber Süß einen Geschäftsfreund, einen gewissen Daniele Foa in Venedig, der ihm aus der Levante Kapital, Pferde, Juwelen, Stoffe und Wein vermittelte. Auch die Schimmelstute Assjadah hatte er beigebracht. Diesen Daniele Foa kannte Süß schon von der Pfalz her, wo ihm seine Unterstützung in dem Kampf gegen Dom Bartelemi Pancorbo sehr wertvoll gewesen war. Der Levantiner, ein großzügiger, gerissener Geschäftsmann, hatte den Rhein hinauf, hinunter einen ausgedehnten Handel mit Textilien in Gang gesetzt und benützte den Einfluß des Süß, jetzt ins Schwäbische hinüberzugreifen. Er erhielt Freiheiten und Gerechtsame, stieß aber hart auf die Konkurrenz der Schertlinschen Manufakturen, die überall in diesen Gegenden ausgezeichnet eingeführt waren. Süß, der dem Levantiner gern gefällig sein wollte, machte sich mit gewohnter, kalter Umsicht daran, diese Konkurrenz rücksichtslos niederzutreten. Die Fabriken der Schertlin wurden schikaniert, ihre Privilegien ins Wertlose kommentiert, ihre Verträge mit dem Kammergut gekündigt, Akzise und Steuern so erhöht, daß sie nicht weiter konkurrieren konnten. Dagegen errichtete der Finanzdirektor als Strohmann des Daniele Foa auf eigenen Namen eine Manufaktur, und die Zollbehörden wagten es nicht, dem Allmächtigen die Gebühren in der gewaltigen vorgeschriebenen Höhe zu berechnen, es wurden von seinen Sendungen nur ganz geringe oder gar keine Abgaben erhoben.

Auch die Schertlin persönlich begann man zu bedrängen. Einem hängte unter nichtigem Vorwand das Fiskalatsamt einen Prozeß an, aus dem er sich nicht herauswinden konnte, zwei jüngere Schertlin wurden, trotzdem sie hohen Loskauf boten, zur Armee eingezogen. An den alten Christoph Adam freilich, der in dem freien Eßlingen saß, konnte man nicht heran, und auch an Johann Ulrich wagte man sich vorläufg noch nicht. Aber die Hand des Juden lag schwerer auf dieser Familie als auf den anderen, und Johann Ulrich würgte an dem Kummer über den Niedergang seines Geschäfts, an der Schmach, zwei junge Schertlin zur Armee gepreßt zu sehen, an dem Gram, seine schöne Frau nicht in den fürstlichen Glanz setzen zu können, den er für sie träumte.

Da bekam endlich Süß eine Schlinge in die Hand, den Johann Ulrich zu fangen. Der eine junge Schertlin, der Soldat, hatte Urlaub erhalten nach Eßlingen zu seinem Großvater und kam von dort nicht zurück. Verhandlungen zwischen dem Herzog und der Stadt über die Auslieferung von Deserteuren schwebten, waren aber noch nicht abgeschlossen. Auf Betreiben des alten Ratsherrn weigerte sich die Stadt, den jungen Menschen herauszugeben. Da fingen die Leibhusaren des Süß einen Brief Johann Ulrichs auf, in dem er den Alten bestärkte in der Ablehnung, den Deserteur den herzoglichen Kommissarien zu überlassen. Dies war Kriegsverbrechen, Hochverrat.

Süß, alle Trümpfe in der Hand, ging langsam, sänftlich vor. Zunächst wurde Johann Ulrich aufgefordert, sich herzoglichen Kriegsinquisitoren zu stellen. Da der stolze Mann knirschend fernblieb, wurde er aufgehoben, auf den Hohentwiel gebracht. Man munkelte, ein Militärgericht werde ihn aburteilen, lebenslänglich Kugeln zu schleifen.

In dem verödeten Haus saß blaß die Französin. Das neugierige Mitleid der Verwandten und Befreundeten hörte sie schweigend, die kurzen, roten Lippen fest verkniffen. Als man es müde ward, die Hochmütige zu trösten, die einem ja doch nicht den Gefallen tat, zu jammern, und sie allein ließ, erschien bei ihr der Rat Bühler vom Fiskalatsamt, ein weitläufig Verschwägerter der Schertlin. Die hatten als vor einer Süßischen Kreatur immer vor ihm ausgespuckt. Jetzt kam er wichtig, fraß seine Genugtuung, spielte den Großmäuligen, protzig Mitleidigen, fand die Waldenserin in ihrem starren, hochmütigen Kummer sehr apart, riet ihr, sie solle den Süß aufsuchen. Der werde verleumdet, er sei im Geschäft hart auf hart, das sei natürlich, aber rachsüchtig sei er nicht.

Ob die Waldenserin ihren Mann liebte, wußte niemand, und sie selbst nicht. Aber wie sein Prozeß immer näher kam, ging sie zu Süß.

Sie war aus gutem Haus, in ihrer Familie lebte die Tradition französischen Hoflebens, Glanz und herrenhaftes Gehabe. Sie sah die Säle des Juden, die weinroten Lakaien, die Pagen. Die Teppiche, Statuen, Chinoiserien. Das war anders als die solide Behäbigkeit der Schertlin. Das war die Fülle, der Überfluß, jenes Überflüssige, das das Leben aus einem Gezwungenen, zu Tragenden zu etwas Leichtem, Herrlichem, Liebensund Sehenswertem machte. Süß war guten Humors, und die Frau gefiel ihm. Er traktierte sie ganz als große Dame, sprach, da er sah, es war ihr lieber, nur französisch, streichelte sie mit mondänen Komplimenten, redete mit keinem Wort von ihrer Bedrängnis. Das war ihre Luft; wäre sie nicht als Supplikantin gekommen, sie wäre ihm wie von selbst zugefallen. So aber, wie er plötzlich mit zynischer Galanterie eine Brücke schlug von ihrem Anliegen zu seiner Begierde, stand sie eine kleine Weile reglos, totenhaft fahl. Dann warf sie ihm ins Gesicht, sie schäme sich, daß sie nicht eh bedacht habe, sie habe mit einem Juden zu tun. Worauf er sich, glatt und ohne eine Miene zu ändern, lächelnd und tief verneigte: »Dann also nicht!«, sie höflich zur Tür geleitete und ihr Abschied nehmend die Hand küßte.

Er entließ Johann Ulrich aus seiner Haft, begnügte sich, die Affäre durch das Fiskalatsamt regeln zu lassen. Johann Ulrich kam mit einer Geldbuße davon, die allerdings so hoch war, daß sein Handel daran für immer erlahmen mußte.

In der Waldenserin brannte die Begegnung mit Süß weiter. Bisher hatte sie nicht gewußt, ob sie ihren Mann liebte oder nicht. Jetzt wußte sie, daß sie ihn verachtete. Er hatte die Pflicht zum Erfolg. Er war sie nicht wert, wenn er keinen Erfolg hatte. Sie verachtete ihn, weil er nicht Glanz und Überfluß und weinrote Lakaien und Chinoiserien vor sie hinbreiten konnte wie jener, weil er sich von jenem hatte besiegen lassen, weil sie seinethalb so kläglich vor jenem gestanden war. Sie verachtete ihn, weil sie seinethalb die Galanterie des Süß zurückgewiesen hatte. Der war Welt, zu dem gehörte sie, Johann Ulrich war Bürgerpöbel. Sie sprach von alledem zu Johann Ulrich kein Wort, nicht einmal von ihrem Besuch bei dem Juden. Er tobte gegen den Süß, schrie, vermaß sich blutrünstigster Heimzahlung. Aber es war hohles Gepolter. Sie sah ihn aus ihren länglichen Augen mit kalter, hochmütiger Gleichgültigkeit an, und er wußte so gut wie sie, daß er zerknickt und ohne Kraft war und nie etwas tun werde.

Er verkam mehr und mehr. Die Manufaktur in Urach wurde versteigert, versteigert die Filialen in Stuttgart und Maulbronn. Der Levantiner erwarb sie. Man bot, Hohn und Almosen, ihm eine Verwalterstelle in seinen früheren Fabriken. Vielleicht hätte er akzeptiert, hätte nicht die Frau, den Süß hinter dem Angebot witternd, scharf und kurz abgelehnt. Auch die anderen Schertlin gerieten mit in den Sturz. Verkauft die Häuser in Urach und Stuttgart, verkauft die Weinberge und Felder. Nur der alte Christoph Adam hielt sich, in Eßlingen. Er trug den großen, verwitternden Kopf noch höher, stieß noch heftiger mit dem Rohrstock gegen den Boden, den goldenen Knopf fest umschließend mit dürrer, doch nicht zitternder Hand.

Johann Ulrich wie viele andere, die bei währendem Regiment des Süß von Haus und Geld gekommen waren, traf Vorbereitungen, sich einem Auswandererzug anzuschließen, der nach Pennsylvanien wollte. Die Waldenserin widersetzte sich. Es gab einen kurzen, wilden Kampf. Er schlug sie, aber er blieb im Land. Er machte einen Kramladen auf in Urach. Verlotterte mehr und mehr, saß in den Kneipen, besoff sich, fluchte gotteslästerlich gegen den Herzog und die höllische hebräische Wirtschaft. Aber während man sonst jede solche Unmutsäußerung schwer strafte, ließ man ihn ruhig gewähren. Auch sein Kramladen wurde vom Amt in jeder Weise unterstützt. Die Behörden mußten von einflußreicher Stelle einen Wink bekommen haben.

Die Waldenserin ging herum, in ihrem ärmlichen Kleid so stolz wie früher. Hochmütige Blicke warf sie mit den länglichen Augen. Wollte eine Kundschaft sich in einen breiteren Diskurs einlassen, antwortete sie karg und kurz. Meist schwieg sie gelangweilt. Auch sprach sie, obwohl in Deutschland geboren, fast immer welsch und die Landessprache nur stockend.

Durch die prunkenden Säle des Süß schleifte Isaak Landauer seinen Kaftan, aufdringlich am Ärmel trug er das württembergische Judenzeichen, das niemand von ihm verlangte, das S mit dem Horn. Die glänzenden Spiegel warfen zwischen Lapislazuli und Gold sein Bild zurück, den klugen, fleischlosen Kopf mit den Schläfenlöckchen, dem schütteren, rotblond verfärbten Bart. Der Finanzdirektor zeigte ihm sein Haus. Der Mann im Kaftan stand vor den Vasen, Gobelins, klingelnden Pagoden, sah mit aufreizend spöttischem Lächeln hinauf zu dem Triumph des Merkur, klopfte mit der dürren, kalten Hand die Schimmelstute Assjadah, schritt durch die beiden Pagen, die Söhne des Domänenpräsidenten Lamprechts, die in Haltung am Eingang zu den Privatgemächern standen. Prüfte mit den Fingern die kostbaren Stoffe der Möbel, nannte mit stupender Sachkenntnis die Preise. Stand kopfschüttelnd vor den Büsten des Moses, Homer, Salomo, Aristoteles, äußerte: »So hat Moses, unser Lehrer, sein Tage nicht ausgesehen.« Aber aus dem Bauer krächzte der Papagei Akiba: »Wie geruhen Euer Durchlaucht geschlafen zu haben?« Süß hatte Isaak Landauer lang erwartet. Er hatte für diesen Besuch sein Palais sorglicher vorbereitet als für den Besuch manches Fürsten. Er lauerte auf eine Bewegung der Überraschung, staunenden Anerkennens; dem Mann im Kaftan, gerade dem zu imponieren, verspürte er eine aufreizende, quälende Gier. Aber Isaak Landauer wiegte nur den Kopf, rieb die fröstelnden Hände, lächelte, sagte: »Wozu, Reb Josef Süß?«

Durch das Kabinett ging neugierig die Sophie Fischerin, die Tochter des Kammerfiskals Fischer, die der Finanzdirektor seit zwei Wochen als seine erklärte Mätresse im Haus hielt, ein großes, stattliches Mädchen, weiß, üppig, rotblond, sehr schön, leicht ordinär. Als Süß sie wegen der Störung anfuhr, warf sie einen lässigen Vorwand hin, beschaute, die Lippen geschürzt, den Isaak Landauer, entfernte sich.

»Wozu, Reb Josef Süß?« wiederholte Isaak Landauer. »Wozu gleich dreißig Diener? Könnt Ihr besser essen, besser schlafen, wenn Ihr habt dreißig Diener statt drei? Ich begreife, daß Ihr Euch die Schickse haltet, ich begreife, daß Ihr ein schönes Zimmer zum Essen wollt, ein gutes, breites Bett. Aber wozu den Papagei? Was braucht ein Jud einen Papagei?«

Süß schwieg, bis unters Haar erfüllt von zehrendem Ärger. Dies war nicht Einfältigkeit, dies war Hohn, klarer, offensichtlicher Hohn. Was kein Minister sich erkühnte, der Mensch im Kaftan tat es mit der schlichtesten Selbstverständlichkeit: machte sich ihm ins Gesicht hinein lustig über ihn. Und er war machtlos gegen ihn, er brauchte ihn, er konnte nur schweigen. Sicherlich wird er auch wieder von den altmodischen Geschichten anfangen, die für die Gegenwart ganz ohne Sinn und Bezug sind, dem Ravensburger Kindermordprozeß und solcher Narretei. Und er, Süß, mußte das alles anhören. Es war unmöglich, Geschäfte zu machen ohne Isaak Landauer. Ach, wenn man diesen kompromittierenden Burschen beiseite drängen könnte! Aber man mußte froh sein, wenn er einen an sich heranließ. Es gab vorläufig keinen Weg um ihn herum.

Man sprach von den Affären, die zu erledigen waren, belauerte sich, schacherte scharf. Eigentlich war Süß überall der Gebende; aber er mußte viel mehr sprechen als der andere und kam sich trotz allen Großgetues wie in der Verteidigung vor. Im Blick Isaak Landauers hielt keine noch so kunstvoll gepinselte Tünche stand, er drang sofort dahinter, alles Scheinwesen zerfiel vor ihm; mit kopfwackelndem Unglauben räumte er das schimmernde Beiwerk weg und nahm in seine fröstelnden Hände das Herz der Süßischen Dinge, die Ziffer. Je größer Süß sich spreizte, so leidiger füllte ihn Ärger und Unbehagen. Er gestand es sich nicht ein, aber der andere hatte ihn am Seil, der Mann im Kaftan ließ ihn tanzen.

Die Geschäfte beendet und signiert, kam Isaak Landauer diesmal nicht auf den Ravensburger Kindermord zu sprechen, sondern auf eine andere jüdische Historie aus den württembergischen Läuften. Das war die Sache mit dem großen Judenkünstler Abraham Calorno aus Italien – es mochte jetzt gut ein Jahrhundert her sein, unter Herzog Friedrich I. – und seinem Generalkonsul Maggino Gabrieli. Der Herzog hatte diese welschen Juden mit großen Versprechungen ins Land gezogen. Er war von dem aimablen Wesen, der Gelehrsamkeit, dem finanztechnischen Geschick des großen Judenkünstlers wie verhext, er hatte grenzenloses Zutrauen zu ihm, wies alle Beschwerden der Pfaffen und der Landschaft barsch und ungnädig zurück, ja, er verbannte der Juden wegen den Oberpfaffen Osiander aus dem Herzogtum, und Abraham Calorno und die Seinen saßen groß und prächtig in Stuttgart. Aber schließlich endete die Geschichte doch mit Graus und Schrekken, etliche wurden martervoll hingerichtet, der Rest nackt und bloß aus dem Land gejagt, Juden auf lange Zeit nicht mehr ins Herzogtum gelassen. »Nagende Würmer haben sie uns geschimpft«, sagte Isaak Landauer. »Nun ja, nagen sie selber etwa nicht? Was lebt, nagt. Einer nagt am andern. Jetzt seid Ihr dran, Reb Josef Süß. Nagt, nagt, solang sie Euch dalassen!« Und er lachte sein kleines, gurgelndes Lachen.

Als der Mann im Kaftan den unmutig zuhörenden Finanzdirektor endlich verließ, schritt er im Vorzimmer durch das spöttische und grimmige Getuschel Wartender. Unter der Tür begegnete er neuen Besuchern: dem Präsidenten des Kirchenrats, Weißensee, und seiner Tochter. Magdalen Sibylle, wie sie Isaak Landauer sah, hielt ihn für den Süß. So hatte sie sich, schmuddelig und mit Kaftan und Schläfenlöckchen, nach gelegentlichen Judenbildern den kleinen, widerlichen Sendling Beelzebubs ausgemalt.

Dem Prälaten Weißensee hatte Süß, wie er als Präsident des Kirchenrats ihm einen Dankbesuch machte, beiläufig und sehr höflich gesagt, er habe gehört, der Herr Präsident habe eine so aimable Demoiselle Tochter. Es sei nicht wünschenswert, daß der Flor der schwäbischen Damen fern von der Residenz blühe; Ludwigsburg und Stuttgart seien nicht reich genug, daß sie eine Dame der Art entbehren könnten, wie man ihm die Demoiselle Weißenseein schildere. Weißensee schnupperte verbindlich, freute sich an dem ehrenvollen Interesse Seiner Exzellenz. Es war ihm dann leichter gelungen, als er erwartet hatte, seine Tochter zu vermögen, daß sie mit ihm nach Stuttgart gehe, dem Süß aufzuwarten. Sie vermutete in der Aufforderung des Vaters Berufung und Schickung. Wo sonst sollte sie ihre Sendung erfüllen, wo eher dem Teufel wieder begegnen können als bei seinen kleinen Sendlingen, bei dem Herzog und dem Juden? So fuhr sie mit ihrem Vater in die Residenz, wach und in Bereitschaft.

Als sie erfuhr, daß Isaak Landauer nicht der Jude sei, spürte sie leise Enttäuschung und saß in stärker gespannter Erwartung. Sie wurden vor den andern vorgelassen. An dem Lakaien in Haltung vorbei schritt sie vor dem Vater in das Kabinett, sah den Süß, erkannte, daß er der Teufel war, schwankte, sank um. Die Sinne zurück, hatte sie eine dunkle, samtene Stimme im Ohr: »Ich bin desolat, daß der Demoiselle Tochter der Akzident zustößt, just wie sie das erstemal meine Schwelle passiert.« Ihr Vater erwiderte etwas. Ein Riechfläschchen wurde ihr unter die Nase gehalten. Jetzt nicht die Augen aufmachen, jetzt nicht gezwungen sein, ihn zu sprechen, ihm ins Aug zu schauen. Wie sie endlich wohl oder übel lebendig werden mußte, sah sie Beelzebubs Augen, die fliegenden, heißen, gewölbten, um ihre Brust, ihre Hüften gleiten, und sie schämte sich wild und gekitzelt.

Süß hatte das Mädchen in ihrer Schlaffheit auf und ab gesehen, er sah, daß sie schön war, ungebraucht, voll Saft. Ihre Ohnmacht, der ungeheure Eindruck, der offensichtlich von ihm zu ihr ging, war ihm nach der ungemütlichen Unterhaltung mit Isaak Landauer Labsal und große Bestätigung. Wie sie lag und atmete! Wie bräunlich blaß und männlich kühn das Gesicht geschnitten war, wie erregend der Schwung der starken Brauen. Während Lakaien nach Essenzen liefen, nach einem Arzt, überlegte er, ob er es wagen solle, ihr das Mieder zu öffnen. Mit Weißensee, dem alten, servilen Höfling, brauchte man nicht viel Umstände zu machen.

Aber da schlug sie die Augen auf, starkblau in seltsamem Widerspiel zu dem dunklen Haar. Er richtete sie vollends hoch, glitt mit Blick und Tonfall und sanfter Berührung streichelnd, ergeben, galant, demütig um sie herum, brauchte alle geölte Kunst seiner langen Übung. Über das holperichte Gestammel des Mädchens, das die verwirrten Augen aus dem bräunlich fahlen Gesicht drohend halb, halb gezogen auf ihn hielt, breitete er seine gewandte Konversation. Stellte Sänfte, Wagen, Arzt zur Verfügung. Hielt den sich verabschiedenden Präsidenten mit keinem Wort zurück. Geleitete selbst durch die ehrfurchtsvoll grüßende Antichambre Magdalen Sibylle stützend vors Haus an den Wagen. Während sie die Eingangshalle durchschritten, kreuzte sie die Sophie Fischerin. Faul schleifte das blonde, üppige Geschöpf durch den Raum, äugte neugierig, schief, gehässig nach Magdalen Sibylle. Vor dem Haus in der Seegasse gaffendes Volk. Nacht, trübes Gemisch von Regen und Schnee, Windstöße, die Kleider unbehaglich um die Glieder peitschend. Die Leute stehen gepreßt, harren aus, schauen zu, wie die Karossen vorfahren, leuchtend, lärmend durch die Nacht, zur Redoute des Süß.

Pechpfannen flackern am Eingang. Alle Fenster strahlend. Weit auf das Tor, weinrot ragend der Huissier mit seinem Stab, drei Lakaien zum Öffnen der Wagentüren.

In rascher Folge die Kutschen. Es ist keiner der öffentlichen Bälle, an denen Süß verdienen will, wo er durch Listen kontrollieren läßt, wer von Hof, Beamtenschaft, Volk fehlt. Hat er durch seine öffentlichen Feste der Haupt- und Residenzstadt Stuttgart einen rauschenderen Karneval aufgezwungen als je zuvor, sie genötigt, bei diesen Redouten auf einen Sitz für seine Tasche mehr Geld zu verbrauchen und zu verbrausen als sonst in Wochen, so sollte dieser intime Maskenball lediglich der privaten Schaustellung seiner Größe und seines Glanzes dienen. Nur die ersten Herren, nur die schönsten Damen aus der Umgebung des Herzogs waren zu diesem Fest geladen.

Hinter den Leibhusaren des Süß, hinter den städtischen Bütteln reckt sich das Volk die Hälse aus, unter den Mänteln der Aussteigenden etwas von den Kostümen der Gäste zu erspähen. Anlangen die Minister, die Generäle, der Hof. Sehr hager und die Hakennase doppelt mächtig über der spanischen Halskrause seines Grandenmantels der Geheimrat Schütz. Aber Remchingen, hochrot und massig, schwitzt schon in der Kutsche im dicken, pelzigen Rock seines Bojarenmantels. Seine Laune wird noch knurriger, wie er im Tor mit Herrn von Riolles zusammentrifft, einem jener vagierenden Kavaliere, die, an allen Höfen zu Haus, den Klatsch der internationalen Hocharistokratie durch Europa tragen, Verwalter und Makler des mondänen Rufs der großen Gesellschaft. Ein paar Weiber pruschen heraus, selbst die Polizeisoldaten müssen grinsen, wie sie den mageren, kleinen, zappeligen Herrn sehen, der einen Chinesen darstellt, doch ohne auf die Allongeperücke zu verzichten. Er sieht auch gar zu possierlich aus, wie er zwerghaft, mit dem lasterhaften, vergreisten Knabengesicht neben dem wuchtigen Remchingen einhertrippelt. Der General klirrt massig und imposant neben dem kleinen, geckigen Welschen; aber er weiß, die Herzogin wird, sei es aus Lust an Abwechslung, sei es, um ihn wütig zu machen, heute wie immer in den letzten Tagen den albern schwatzenden Franzosen ihm vorziehen.

Zu Fuß drängt sich der Landschaftskonsulent Neuffer durch das Volk, undefinierbar von Tracht, düster und scharlachfarben; Gemurr und Schimpfworte folgen ihm; er ist neben Weißensee der einzige Parlamentarier, der geladen ist. Ihn überholt die vornehme, sorglich alles Auffällige meidende Karosse des alten Fürsten Thurn und Taxis. Der Fürst ist gestern zu Besuch aus Regensburg eingetroffen; sein magerer, eleganter Windhundschädel hebt sich aus dem weinroten Kostüm eines genuesischen Nobile, er freut sich darauf, diese Tracht, in der er besonders schlank erscheint, zum erstenmal vorzuführen. Aber er hat offenbar Pech mit diesem verdammten Juden. Hat damals in dem Schlößchen Monbijou der blaßgelbe Salon seinen blaßgelben Rock geschlagen, so hat jetzt diese hebräische Bestie ihre ganzen Domestiken in Weinrot gesteckt, so daß man ihn, den Fürsten, für einen Lakaien halten muß, daß jedenfalls sein weinrotes Kostüm um allen Effekt gebracht ist. Doch neben dem verärgerten Fürsten watschelt klein, dick und unscheinbar der Geheimrat Fichtel, mit Briefen des Würzburger Bischofs auf zwei Tage in Stuttgart; er steckt kugelig in Pumphosen und türkischem Rock, vergnügt unter dem Fez schaut sein schlauer Kopf, jovial winkt er mit der kleinen, fleischigen Hand dem über die Katholiken raunenden Volk zu.

Eine wackelige, dunkle Kutsche fuhr vor, ein einziger Diener hintenauf in einer ganz alten, ausgestorbenen Tracht; ein langer Herr stieg heraus, merkwürdig lautlos, blaurotes, entfleischtes Gesicht, glitt durch verstummendes Volk ins Portal, der kurpfälzische Geheimrat Dom Bartelemi Pancorbo; der Herzog selbst hatte den widerwilligen Süß veranlaßt, den jetzt auf lange in Stuttgart weilenden Juwelenhändler einzuladen. Dom Bartelemi Pancorbo erschien wie stets, den eingedrückten Totenkopf herausgereckt aus schlotternder, schlecht sitzender, verschollener Hoftracht, er brauchte weiter kein Kostüm.

Pünktlich zur festgesetzten Stunde fuhr die herzogliche Karosse vor. Karl Alexander entstieg ihr, heute nur leicht hinkend, als antiker Held mächtig und imposant: Marie Auguste aber, die Taille dünnstielig aus dem üppigen pfauenblauen Reifrock herauswachsend, den Eidechsenkopf zierlich züngelnd, war die Göttin Minerva. Sie trug eine Perücke diesmal, einen artigen Goldhelm darauf, um die Brust schmiegte sich die Andeutung einer feinen, goldenen Rüstung; ein Page trug ihr den Schild nach, ein anderer die Eule.

Schon wollten die Fanfaren einsetzen, das herzogliche Paar zu begrüßen, schon erschien Süß an der Türe des Empfangssaals, schon rangierte man sich im Saal, als der Herzog im Vestibül verzog. Er hatte an Seite seines Kirchenratspräsidenten ein Mädchen gesehen, groß und schön von Wuchs, im Gewand einer Florentiner Gärtnerin; wie sie, den Mantel abnehmend, sich den riesigen, bebänderten Strohhut zurechtsetzend, auf einen Augenblick die Maske abnahm, sah er männlich kühne, bräunliche Wangen, starkblaue Augen in seltsamem Widerspiel zu dunkeln, dichten Brauen. Er fühlte sich gepackt wie seit Jahren nicht mehr beim Anblick einer Frau, die Beine wurden ihm schwach, ein hohles Gefühl kroch ihm den Magen herauf. Die Herzogin, leicht lächelnd, schickte die flinken Augen von Karl Alexander zu dem Mädchen, das die Larve sogleich wieder vorgenommen hatte. »Ich denke, Euer Liebden, wir sollten hineingehen«, sagte sie. Da kam auch schon Süß, schlank und elegant in sarazenischem Kostüm, sie einzuholen. »Wer ist die Dame?« fragte Karl Alexander. »Die Demoiselle Tochter des Weißensee, supponier ich«, antwortete der Jude, »die Demoiselle Magdalen Sibylle Weißenseein.« Dann betraten die Herrschaften den Saal, tief in die Knie sanken, sich neigend, die Gäste, Fanfaren klangen.

Da die Herzogin Komödie sehr liebte, begann Süß den Abend mit der Aufführung einer kleinen italienischen Oper »Der Wüstling wider Willen«. Die neue Sängerin trat bei diesem Anlaß zum erstenmal auf, Graziella Vitali, eine Napolitanerin, ein kleines, lebendiges Ding, leicht fett, gelbes, hübsches, etwas derbes Gesicht mit zappelnden Augen. Süß hatte sich von ihrer Wirkung auf den Herzog viel versprochen, so was war sonst Karl Alexanders Schlag und Pläsier. Daraufhin hatte Süß auch der Sängerin große Aussichten gemacht, und als sie nach der Komödie dem Herzog präsentiert wurde, strich sie höchst beflissen um ihn herum, bot sich vor aller Augen mit Gesten, Blicken ihm an, nur darauf wartend, daß er sich mit ihr in ein verschlossenes Kabinett zurückziehe. Aber Karl Alexander hatte nur zerstreutes, beiläufiges Interesse für sie, er sagte was wie: Auf später, auf später! Es war offensichtlich, daß ihm für heute eine andere im Sinn lag. Die Napolitanerin hatte alle Mühe, ihre strahlende, beflissene Maske zu wahren, und als sie dann den Süß allein zu sprechen kriegte, sprang sie ihm fast ins Gesicht.

Magdalen Sibylle hatte auch während der Komödie die Maske kaum abgenommen. Hinter ihr, unter dem großen Strohhut, versteckt sie das nervöse, zuckende Gesicht. Sie hat sich gern zwingen lassen, mit dem Vater hierherzukommen; aber jetzt versagt sie. Sie hat die Kraft nicht, den Teufel zu bestehen. Wäre sie nie in diesen Saal gegangen. Sie ist ganz zerrissen und zerstört von der Aufgabe. Wäre sie in Hirsau geblieben. Wäre sie dem Teufel nicht begegnet. Jetzt nagt und kaut sie an dem Bissen und kann ihn nicht hinunterschlucken und ist krank daran. Es war Eitelkeit und Vermessenheit, den Teufel mit ihren armen Händen zu Gott hinüberzuziehen. Seit sie erkannt hat, daß der Jud der Teufel ist, hat sie eine nagende Ratte in der Brust. Wie hat sie zu Gott geschrien. Aber Gott schwieg. Die Bücher der Demut, Erkenntnis, Versenkung sind Papier. Sie starrt in die Luft, sie will in Gott untertauchen; aber die Luft bleibt leer, kein Gesicht erscheint, es trägt sie nicht, alles ist schlaff und kahl und dumm und tot. Im Swedenborg stehen Worte, und sie klingen nicht, und sie packen sie nicht, sie läuft zur Beata Sturmin, der Heiligen, Blinden, aber sie kann ihr nichts mehr sagen, die Heilige ist ein armes, krankes, altjüngferliches Geschöpf, kahle, säuerliche Luft ist um sie her.

Sie hat den Juden seit damals nicht wieder gesehen. Er hat mehrmals nach ihrem Befinden fragen lassen, ihr Blumen geschickt, auch einmal den Vater besucht, aber sie hat ihn gemieden. Einmal nur hat sie ihn gesehen, auf dem Schloßplatz, reitend auf seiner Schimmelstute Assjadah, sehr glänzend. Fluch, Haß, Neid prallte gegen den schlanken Rücken des Reiters, aber er prallte ab daran, Luzifer schaute nicht um. Sie sah ihm nach, ohnmächtiger als das fluchende Volk. Die hatten wenigstens Worte, ihr schrumpften Herz, Zunge, Schultern unter ihrer Ohnmacht.

Sie hatte lange geschwankt, ehe sie zu der Assemblee gegangen war. Nun war ihr der Abend eine Enttäuschung und arge Verstörung. Süß kümmerte sich nicht um sie, er hatte kaum ein kaltes Wort glatt höflicher Begrüßung an sie gerichtet. Sie konnte nicht wissen, daß dies kluge Berechnung war, sie sah nur, Luzifer hatte kein Aug für sie. Sie nahm die Larve ab von dem bräunlich kühnen, bewegend verstörten, zuckenden Gesicht: Luzifer hatte kein Aug für sie. Dies schlug sie tiefer als eine Niederlage.

Aber ein anderer sah jetzt zum zweitenmal das bräunliche, bewegte Antlitz, sah es lange kennerisch, genießerisch, sah es auf und ab, die starkblauen, dringlichen Augen, ihr seltsames Widerspiel zu dem dunklen Haar. Kotz Donner, diese Weißenseein! So was gab es also; so was war eine Schwäbin, eine Untertanin. War eine Schwäbin besonderer Art. Das hätte Karl Alexander nie gedacht, daß dem Weißensee, dem Fuchs, so ein feines Gewächs im Haus heraufblühe. Er war auf das Fest gegangen mit der vagen, ziellosen Gier nach was Neuem. Er hatte Arbeit hinter sich, war ausgeruht, fühlte sich frisch. Das war was anderes, Neues. Jetzt hatte die Soiree ein Ziel. Die welsche Komödiantin, von der Süß ihm vorgeschwärmt, machte ihm nur neuen Appetit auf die feste, junge, besondere Schwäbin.

Bald nach der Oper tafelt man. Das Souper ist weitläufig und voll Pracht. Die Masken werden abgenommen, die erhitzten Gesichter schauen aus den Kostümen fremdartig und vertraut und reizen doppelt. Gewürzte Speisen, starke, fremde Weine, kräftige Trinksprüche. Aus einem Wunderwerk von Pastete springt ein Kinderquartett heraus, Paris und die drei Göttinnen, aber Paris reicht keiner von ihnen, er reicht der Herzogin den Apfel. Der Geheimrat Fichtel, dick und kugelig in seinem türkischen Kostüm, bringt einen Toast aus, in ganz pfiffigen Alexandrinern, voll von feinen, boshaften Spitzen gegen die Landschaft, und die katholischen Offiziere huldigen lärmend dem Herzog.

Gnomen tanzen herein, plündern die Schmuckvitrinen, überreichen possierlich den Frauen die glitzernden Geschenke, die Süß ihnen bestimmt hat. Dom Bartelemi schaute scharf zu, wie sie Stein um Stein, Kettlein um Kettlein, Spänglein um Spänglein verteilten. Der ungeheuer lange Mensch, die rechte Schulter kurios hochgezogen, das blaurote, entfleischte Gesicht auf dürrem Hals aus der zeremoniösen Krause der altertümlichen Portugiesertracht reckend, schickte hinter faltigem Lid die länglichen, starren, schmalen Augen auf unablässige Wanderschaft. Tief in den Höhlen lagen sie, lauerten sie aus dem zerdrückten Totenkopf. Der kurpfälzische Geheimrat, auch Tabakmanufaktur- und Kommerzien-Generaldirektor, ließ sich von den Damen die einzelnen Geschenke weisen, wertete sie sachkundig. Mit tiefem Unbehagen hörte Süß die hohle, kalte, langsame Stimme, die seine Offerten so oft unterboten, ihm so manchen Handel gehindert, ihn so lange klein und unscheinbar gemacht hatte. Angewidert sah er und kalt überschauert die ausgeglühte Leidenschaft, mit der Dom Bartelemi die flirrenden Steine durch seine langen, dürren, blauroten Hände rieseln ließ. Sie schauten sich an, sie beschielten sich, zwei stoßgierige Raubvögel, alt, kahl, ungeheuer erfahren der eine, der andere kleiner, jünger, spielerisch wilder.

»Feine Steine, gute Steine«, sagte Dom Bartelemi. »Aber ein Dreck gegen den Solitär. Laßt mich Euren Solitär anschauen«, sagte er zu Süß. Und, den Solitär zärtlich zwischen den Spinnenfingern, bellte er mit seiner kellerigen Stimme durch die aufhorchenden Gäste: »Was verlangt Ihr für den Stein, Herr Finanzdirektor?« – »Ich verkauf ihn nicht«, sagte Süß. »Ich biete Euch die pfälzische Tabakmanufaktur«, drängte der Portugiese. »Ich verkauf ihn nicht«, wiederholte heftig der Jude. Zögernd gab Dom Bartelemi den Stein zurück, und die Herzogin erklärte: »Nun steckt sich mein Jud die pfälzische Tabakmanufaktur an den Finger.«

Aber da schickte der welsche Konfiseur das Dessert herein. Es war ein herrliches Kunstwerk, und der Konditor Benz hätte eine Woche nicht schlafen können vor Neid, wenn er es gesehen hätte. Es stellte aus Kuchen und Gefrorenem Festungen dar, die Karl Alexander erobert hatte, und ein ganz besonders bewundertes Schaustück bildete den Triumph des Merkur nach, der oben auf der Decke posaunte.

Nach Tafel, während der Ball beginnt, sitzt das Herzogspaar mit den bevorzugtesten der Gäste im Wintergarten. Marie Auguste medisiert mit Herrn von Riolles, der in seinem weiten Kimono mit dem kahlen, beweglichen, gelüstigen Gesicht unter den Pflanzen wie ein maskierter Affe wirkt. Dom Bartelemi klopft und kratzt an Stuck, Marmor, Lapislazuli herum, steht vor den Schmuckvitrinen. Aber der Geheimrat Fichtel sitzt vor seinem Kaffee und führt mit seinem Freund Weißensee ein hintergründiges, umwegiges diplomatisches Gespräch. Und Remchingen läßt seinen Unmut über die Herzogin an Süß aus und überschüttet den Gelassenen, Höflichen mit plump unflätigen Späßen.

Abseits sitzt der Herzog mit Magdalen Sibylle. Gleich nach Tafel, er hat stark getrunken, hat er dem Süß einen Wink gegeben, er solle ihm sein Schlafzimmer und das Kabinett überlassen und die Magdalen Sibylle auf irgendeine Manier dorthin bringen. Den Süß, wie er das hörte, stach es fein und ganz spitz, er sah das Mädchen, wie sie ihn im Wald das erstemal erblickte und schrie und davonlief, und später in seinem Arbeitszimmer, wie sie umfiel und bräunlich-fahl und ohnmächtig und sehr jung dalag; eigentlich gehörte die Magdalen Sibylle ganz ihm, man brauchte keine scharfen Augen zu haben und sah, daß das Mädel ein einziger Drang zu ihm war, und er hatte, wie jetzt Karl Alexander von ihr sprach, eine rasende Begier nach ihr. Aber er war so gewohnt, daß erst das Geschäft und der Herzog kam und Weiber und Geilheit und Sentiment erst hinterher, daß er sogleich mit dem üblichen hemmungslos ergebenen Blick sagte, er freue sich, Seiner Hoheit dienen zu dürfen. Er mache Seine Durchlaucht bloß submissest darauf aufmerksam, daß die Demoiselle, soviel er wisse, eine Erweckte sei, somit schwer traktabel und leicht Zustände kriegend; auch sei seines Bedünkens dieses Faß noch nicht angestochen. »Hat Er’s probiert?« lachte schallend der Herzog, und nochmals: »Hat Er’s probiert?« Und gerade nach so was jücke es ihn heut, und daß sie eine Pietistin sei, würze den Braten doppelt. Und er nickte dem Weißensee, der nicht fern mit Fichtel und Schütz Konversation machte, jovial und gnädig zu.

Wie er jetzt mit ihr im Wintergarten saß, begann er also, sie um ihre Pietisterei zu hänseln. Er sei zwar ein Katholik und ganz gemeiner Ketzer, aber sein Hofkirchenrat, der doch darin kompetent sein müsse, ihr Herr Vater voran, sei gar nicht einverstanden mit den schwärmerischen Lehrmeinungen; er habe erst gestern ein Reskript unterzeichnen müssen, das einer gewissen Frau von Molk die Abhaltung sektiererischer Zusammenkünfte bei schwerer Strafe verbiete. Wie er die Beata Sturmin gesehen habe, die Heilige, das Haupt der ganzen Bewegung, habe er sich gedacht, so viel sei sicher, daß der Umgang mit Engeln eine Frau nicht just reizvoll mache; jetzt, da er sie kenne, die Magdalen Sibylle, vermeine er, daß der Verkehr mit Gott und den Engeln doch viel für sich habe. Ob sie ihn nicht ein weniges unterweisen wolle. Magdalen Sibylle hörte dem platten Gewitzel gequält zu. Sie hatte Furcht vor Karl Alexander, vor seinem erhitzten Gesicht, seinen gefräßigen Augen. Seine Frivolitäten reizten sie nicht, sie fühlte sich leer von Gott, sonst wäre sie ob solcher Lästerung wohl aufgewallt und hätte nicht gebangt, auch diesem wütigen Nebukadnezar ihre zornige Verachtung ins Gesicht zu glühen. Jetzt fühlte sie nur Widerwillen, sie war so müd und traurig, und Gott blieb im Dunkel sitzen, Gott würdigte sie keiner Antwort, Gott verwarf sie.

Sie hörte wieder die laute, polternde Stimme Karl Alexanders. Sie solle nicht glauben, er verstehe gar nichts von ihren Dingen. In Venedig habe er sich viel mit Geistersehern abgegeben, und wenn er auch keinen Swedenborg gelesen habe, so kenne er doch auch in Deutschland einen Magus, der in die Zukunft schauen könne und erstaunlich gute Relation mit unserm Herrgott habe. Es sei freilich ein alter Jud, Magdalen Sibylle sei ihm lieber, und wenn er fürderhin eine Auskunft vom lieben Gott brauche, rechne er darauf, daß er sich an sie wenden dürfe. Dabei nahm er ihr die Larve ab, und seine gefräßigen und gewalttätigen Augen drangen zügellos auf sie ein.

Es war furchtbar heiß im Wintergarten, die fremdartigen Bäume und Gewächse bewegten sich im Schein der Kerzen wie Menschen, Musik schwamm erregend herein, Magdalen Sibylle hatte rasende Kopfschmerzen, die Augen und die Worte des Herzogs zerrten an ihr wie etwas Scharfes, Schneidendes. Sie sah, wie die Worte herauskamen aus seinem üppigen, geilen und bedrohlichen Mund, auf sie zukamen, sie stachen, zwickten, an der Haut ihrer Seele rissen. Sie fühlte sich gespannt zum Zerreißen, gleich wird sie etwas Wildes, Unsinniges tun; da, im letzten Augenblick, erlöst sie ein Page der Herzogin, bringt ihr den Auftrag, Ihrer Durchlaucht aufzuwarten.

Marie Auguste saß in einem größeren Kreis. Süß war um sie, Herr von Riolles, der Geheimrat Schütz, dann der junge Aktuarius Götz, blond, dumm, frisch, aus einer der angesehensten Familien, im Schäferkostüm, mit seiner Mutter, der Geheimrätin Götz, und seiner Schwester Elisabeth Salomea. Die beiden Damen, Mutter und Tochter, sahen sich lächerlich ähnlich, sie sahen aus wie Schwestern, beide blaßfarbig, zart und langgliedrig, sehr hübsch, mit hellem, reichem Haar und großen, schwärmerischen, törichten Augen. Sie saßen, flachsblond und lieblich, in nicht sehr originellen, etwas aus der Mode gekommenen Schäferinnenkostümen, und himmelten mit ihren hellen, naiven Stimmen, ihren liebenswerten, unklugen Augen die Herzogin an. Eben schritt träg und statiös die Sophie Fischerin zurück in den Wintergarten, die schöne, üppige Mätresse des Süß, und Marie Auguste konnte sich nicht enthalten, ihren Hausjuden ein weniges mit ihr aufzuziehen. Der hatte nämlich, offenbar als Entgelt für die Tochter, die Ernennung des Vaters, des Kammerfiskals Fischer, zum Expeditionsrat durchgesetzt. Süß stand in seinem sarazenischen Kostüm männlich rank und elegant vor den Damen; gewandt und unverlegen spöttelte er zurück, gewiß, die Jungfer Fischerin sei ihm eine liebe und willkommene Hausdame gewesen; aber nachdem Seine Durchlaucht geruht hätten, ihren Vater in ein so angesehenes Amt zu erheben, könne er ihre Dienste doch wohl nicht mehr in Anspruch nehmen; die Tochter eines so hohen Beamten, das schicke sich doch nicht. Er lächelte und schloß frech-gleichgültig, er werde sie also morgen aus seinem Hause entlassen. Die kleine Gesellschaft war erstaunt über die zynische Offenheit, mit der er seine Mätresse so elegant höhnend entlohnte und entließ. Die Herzogin amüsierte sich, auch Herrn von Schütz gefiel diese weltmännische Art offensichtlich, der junge, dumme Aktuarius Götz wußte nicht recht, was er machen solle, er legte großes Gewicht auf korrekte Form, er wußte nicht, solle er dem Juden beipflichten oder ihm zu Leib, er entschied sich schließlich für ein stummes, martialisches Gesicht. Die zarten und süßen Damen Götz aber, Mutter wie Tochter, bestaunten die überlegene Eleganz, mit der dieser Kavalier eine Amour beendete, und schauten voll Bewunderung und zärtlichen Interesses zu ihm auf.

In diesen Kreis trat jetzt Magdalen Sibylle. Die Herzogin hatte bemerkt, wie sehr sich Karl Alexander mit ihr beschäftigte, auch ihr gefiel das Mädchen mit dem bräunlich kühnen, bewegten Antlitz und dem seltsamen Widerspiel der blauen Augen zu dem dunklen Haar. Neugierig wollte sie näher beschauen, was an ihr Attraktives sei. Sie reichte ihr wohlwollend die Hand zum Kuß, betrachtete sie lässig und ungeniert. Magdalen Sibylle hatte einen kleinen, scheuen Seitenblick hinüber zu Süß. Der hatte sich, wie sie kam, tief verneigt, jetzt stand er ernst und förmlich. Sie war wie erlöst, daß sie den Herzog nicht mehr hören mußte, sie spürte das Wohlwollen, das von der Herzogin zu ihr herüberging, aber die gleichgültige Förmlichkeit im Gesicht des Süß verwirrte sie von neuem. Sie saß stumm, während die anderen weiter leicht und belanglos konversierten, und plötzlich löste sich Furcht, Spannung, Enttäuschung, Empörung, Erwartung in ein ungehemmtes Schluchzen, das sie vor die Herzogin hinwarf. Betretenheit und leichtes Schmunzeln bei den anderen, Marie Auguste streichelte mit der kleinen, zierlichen, fleischigen Hand die große, kalte des Mädchens. Süß aber nützte geschickt die Gelegenheit, sagte, er werde sorgen, daß sie sich beruhige, führte die Befangene, Geschüttelte fort. Es feixte der Chinese Riolles, es lächelte der Spanier Schütz, der Phantasieschäfer Aktuarius Götz fand wieder keinen anderen Ausweg als eine kriegerische Miene. Aber die Herzogin, unbefangen weiterschwatzend, suchte mit den Augen ihren Gemahl und konstatierte befriedigt, wie er, da Süß das Mädchen in seiner Nähe vorbeiführte, ihm zublinzelte.

Das Zimmer, in das der Jude Magdalen Sibylle führte, war kühl, wenn man aus den von Kerzen, Wein und Menschen überheißen Sälen kam. Es war das Zimmer vor dem Schlafgemach, durch eine Portiere sah man das Prunkbett mit den goldenen Amoretten. Hierher hatte man aus den übrigen Räumen allerlei Dinge zusammengestellt, die dort dem Maskenfest im Weg gestanden wären, Zerbrechliches, Porzellan, Chinoiserien, das Bauer mit dem Papagei Akiba. Der Lärm des Festes klang hier nur sehr leise, nach den menschenvollen Sälen wirkte das kleine Zimmer mit seiner frischeren Luft, seiner Leere, Stille, Kühle wohlig sänftigend.

Magdalen Sibylle saß auf einem niedrigen Diwan, ruhiger atmend, gelöster die Haltung. Sie sah groß aus, wie sie so dasaß, warm und gelockert von all der Wirrung und Erregung, und Süß, der geschmeidig und verbindlich vor ihr stand, begehrte sie sehr. Es traf sich schlecht und ungeschickt, daß jetzt der andere kommen wird, der wahrscheinlich gar nicht zu schmecken verstand, was Köstliches ihm da zufiel.

Das Mädchen schaute langsam mit seinen großen, erfüllten Augen den Mann an. Süß hielt es für angebracht, den Blick mit jener hemmungslosen Hingabe zu erwidern, in der er geübt war, und solcher Hingabe im besonderen Fall etwas Väterlichkeit beizumischen. Armer Luzifer! dachte Magdalen Sibylle. Er ist ein sehr Verirrter und Unglücklicher. Es hat keinen Sinn, zu eifern und ihm mit wilder und empörter Beschwörung zu Leib zu rücken. Ich werde ihn ganz sacht an der Hand nehmen und ihm mit sänftlichen Worten zureden, bis er zu Gott zurückfindet. Wie konnte ich zweifeln, ob ich die Kraft haben werde zu meiner Sendung. Er wartet ja nur darauf, daß jemand komme und ihn mit Gott versöhne.

»Ich bin untröstlich, Demoiselle«, sagte mittlerweile mit seiner dunklen, streichelnden Stimme der Jude, »daß Ihnen immer in meiner Gegenwart ein Akzident unterläuft. Das erstemal, als ich das Glück hatte, Sie zu sehen, im Wald von Hirsau, unter den Bäumen, liefen Sie vor mir davon. Als Sie mir dann mit Ihrem Herrn Vater die Ehre Ihrer Aufwartung machten, wurde Ihnen in meinem Hause nicht wohl. Heute, wo ich glaubte, nach meinen bescheidenen Kräften alles getan zu haben, meine Gäste in guten Humor zu setzen, sehe ich zu meinem schmerzhaftesten Bedauern, daß ich es wieder nicht getroffen habe. Ist meine Visage wirklich so abominabel und widerwärtig, Demoiselle? Oder sind es vielleicht doch nur fatale Zufälle?« Und er neigte sich zu ihr, die groß und gerötet auf dem Diwan saß.

»Simulieren Sie nicht länger, Herr Finanzdirektor«, sagte sie plötzlich mit einem tapferen Anlauf und sah ihn groß, fromm und dringlich an. »Ich weiß sehr gut, daß Sie Luzifer sind, Sohn des Belial, und Sie wissen, daß ich gesandt und gekommen bin, mit Ihnen zu ringen und Sie Gott zu unterwerfen.«

Süß hatte viel Übung mit Weibern, er war an Überraschungen gewöhnt, er verlor nie seine Fassung und zeigte sich nie perplex. Aber diese Anrede kam ihm völlig unerwartet, verschlug ihm die Sprache, er wußte, zum erstenmal, keine Antwort. Es schickte sich glücklich für ihn, daß Magdalen Sibylle offenbar auch gar keine Antwort erwartete, sondern nach einer Atempause weitersprach. Sie begreife es sehr wohl, daß er glaube, Gott, sein Widersacher, werde ihn zurückstoßen; es sei gewiß auch ein ungeheurer Entschluß, von tausendjährigem Trotz zu lassen. Aber wenn dieser Trotz und arge Verstocktheit erst abfalle, dann sei die Seele wie befreit von bösem Schorf und bade in Gott wie in liebem, lauem, sichtigem Wasser. Dergleichen redete sie mehr und dringlich und streckte ihm im Eifer die Hand hin.

Süß hatte sich mit der ihm eigenen Flinkheit auf das pietistische Diktionär eingestellt, er ergriff ihre Hand, begann eine rasch präparierte Antwort, und sie waren beide auf dem besten Wege, als plötzlich der Herzog im Zimmer stand. Mit weiteren Pupillen, erschreckt, hilfesuchend, starrte Magdalen Sibylle auf Süß, gepreßt, hörbar atmend. Aber der Jude sagte verbindlich, er müsse zurück zu seinen Gästen, und auf einmal war sie allein mit dem Herzog, und der Papagei gellte: »Ma vie pour mon souverain«, und im Nebenraum in hellerem, nacktem Licht stand das freche, prunkende Bett. Karl Alexander sagte mit heiserer, unfreier Stimme etwas Scherzendes, Belangloses. Sie sah sein rotes Gesicht, das leicht schwitzte, sie sah seine Augen, die sich verdunkelten und verwilderten, roch seinen trunkenen, erhitzten Dunst. Sie ging mit mühsamen Schritten zur Tür, lallte eine Entschuldigung, wollte Süß nach, zurück zu den Gästen. Aber die Tür war verschlossen. Karl Alexander lachte ein belegtes Lachen, schnallte umständlich den kostbaren antikischen Brustpanzer ab, schweigend, daß nur ihr Atem hörbar war. Kam mit grauenhafter Freundlichkeit auf sie zu, nahm ihre Hand in die seine, die seltsam war, der Rücken schmal, lang, knochig, behaart, das Innere fleischig, fett, kurz. Sie wich zurück, er faßte sie fester, dünstend, erhitzt fauchend. Sie bekam ihre Kraft zurück, wehrte sich wild, doch ohne Aussicht, gegen den schweren, starken, erregten Mann. Fetzen ferner Musik kamen herein, sie schrie, erregt und krächzend flatterte der Papagei.

Draußen der Maskenball entlöste sich immer mehr den Zügeln gemessener Form. Aus allen schattigeren Winkeln Gekreisch, Gegröl, gekitzelte, halbe Schreie. Anerkennend meinte Herr von Riolles zu Herrn von Schütz, selbst am Hofe der polnischen Majestät hebe die Freude die Schwingen nicht höher.

Süß, aus dem Kabinett zurück, stürzte sich mit einer gewissen grimmigen Erhitztheit in das Gewühl. Er wich der Herzogin aus, die ihn mit einem kleinen, lüsternen und amüsierten Lächeln nach Magdalen Sibylle fragte, und machte den Damen Götz, Mutter wie Tochter, für die sich auch der Herzog interessierte, mit so wütiger Dringlichkeit den Hof, daß der Aktuarius Götz, da er seine drohende Miene nicht beachtet sah, sich in einer Ecke stumm und ratlos besoff, während die beiden Damen die zynischen Galanterien des Juden hingegeben und töricht himmelnd erwiderten. Die kleine napolitanische Komödiantin, gelb, leicht fett und verderbt, hatte sich an den alten Fürsten Thurn und Taxis herangemacht. Sie tat, als wüßte sie nicht, wer er sei, als streiche, kitzle, schmeichle sie nur wegen seines eleganten und distinkten Aussehens und Geweses um ihn herum. Der alte Fürst, als er sah, daß er trotz der gleichfarbigen Domestikenlivree auch in Weinrot wirkte, lebte auf, sein Ärger fiel zusehends von ihm ab. Zumal sich auch Remchingen um die Komödiantin bemühte und sie den stark trunkenen General, der mit schon verglasenden Augen an ihr fraß, geschickt neben dem feinen, alten, reichen Fürsten abfallen ließ. Aber aus seiner Ecke starrte der Aktuarius Götz auf die Napolitanerin, hingerissen, mit Augen, von Schwärmerei viel mehr noch als von Trunkenheit verschleiert; und während sie den General fernhielt und den alten Fürsten anzog, fand sie noch Gelegenheit, mit einem einzigen, doch unendlich beredten Blick den jungen, dummen, blonden, frischen Schäfer für immer in ihre Geleise zu zwingen.

Weißensee, der Konsulent Neuffer und der Würzburger Geheimrat Fichtel waren mit Schütz und Herrn von Riolles beim Pharao gesessen, jetzt trank der Würzburger seinen Kaffee, Weißensee und Neuffer kosteten von dem schweren, schwarzroten Sekt, der im westlichen Deutschland nur bei Süß zu finden war, und man sprach von Politik. Eifrig und mit düsterer Dringlichkeit sog Neuffer, in seinem scharlachenen, zusammengestapelten Kostüm komisch anzusehen und viel bespöttelt, die absolutistischen Theorien ein, die der Jesuit mit feiner und sachter Selbstverständlichkeit entwickelte.

Weißensee indes war nicht so bei der Sache wie sonst wohl. Er schnupperte mit dem klugen, mageren Kopf rastlos herum, er fragte den und jenen, ob er seine Tochter nicht gesehen habe; aber niemand hatte Magdalen Sibylle gesehen. Und Weißensee schwitzte an den langen, feinen Händen, und seine skeptischen Augen suchten bedrängt rechts und links.

Plötzlich, wie er den Süß sah, entschuldigte er sich bei den zwei anderen Herren, flatterte in seinem seidenen Venezianer Mantel ungewohnt hastig auf ihn zu und fragte nach seiner Tochter. Süß sagte leichthin, die Demoiselle habe etwas Kopfschmerz, sie habe sich in ein stilleres und kühleres Zimmer zurückgezogen. Der Kirchenratspräsident, ziemlich aus der Fassung, wollte zu ihr. Aber Süß meinte, es sei wohl am besten, die Demoiselle ruhen zu lassen; zumal, soviel er wisse, Serenissimus selbst sich um sie bemühe. Dabei schaute er den Weißensee mit einem unentwegten, frechen und verbindlichen Lächeln an. Der begann zu zittern, mußte sich setzen. Süß, nach einem kleinen Schweigen, meinte unvermittelt, immer lächelnd, der Herzog habe sich über den neuen Kirchenratspräsidenten ungewöhnlich gnädig geäußert, Rangerhöhung und Orden würden wohl nicht lang auf sich warten lassen. Weißensee nickte ein paarmal auf eine seltsame, abwesende, greisenhafte Art, starrte mit höflichem, leicht verzerrtem Lächeln in das Getobe des Festes, begann sehr plötzlich, die Stimme belegt und unsicher, und ohne den Süß anzuschauen, von seinem geräumigen Haus in Hirsau zu erzählen. Er malte den behaglichen Landsitz: Weinberge, Erntekranz, Haus und Hof wohlbestellt, dörflicher Friede; wie er dort an seinem Neuen Testament gearbeitet, in Muße, die Händel der Welt sehr ferne, verbrausend, nur ab und zu ein bißchen Schaum, man genießt ihn kennerisch; und wie zwischen alldem schlicht und still und sachlich und erfüllt seine Tochter herumgegangen sei.

Mitten in diesem Geträume, davon er mehr zu sich als zu Süß redete, verstummte er so plötzlich, wie er begonnen hatte. Er sah verfallen aus, der elegante Venezianer Mantel hing schlaff, unorganisch, wie zusammenklappende Fledermausflügel um ihn herum. Der Jude, stehend vor dem Sichpreisgebenden, hilflos, versunken Sitzenden, schaute ihn auf und ab, spöttelte mit leichter, wacher, schleierloser Stimme in sein Schweigen hinein: »Ich hätte gar nicht gedacht, daß Sie so sentimentalisch sein könnten.« – »Nicht doch, nicht doch!« erwiderte eifrig, sich zusammenraffend, Weißensee. »Ich bin kein Deserteur am Leben, Exzellenz. Ich bin nie keiner Aventüre ausgewichen, all meine Tage nicht. Neugier war das Prinzipium, nach dem ich meine Existenz eingerichtet.« Er versuchte sein gewohntes, leichtfertiges Lächeln. »Es muß ein sehr rastloser Stern sein, unter dem ich geboren bin. Er hat mich nie stille stehen lassen, hat mich durch viele Länder und übers Meer gejagt und hat mich heißen allen Kreaturen Gottes und des Satans in die Töpfe gucken. Ah, meine Souvenirs!«

Aber während er sich mühte, diese Souvenirs herbeizurufen, geschah es, daß sich ihm das weiße, lächelnde Gesicht des Juden mit den gewölbten braunen Augen und den üppigen Lippen verzerrte. Es geschah, daß er plötzlich ganz genau wußte, wie wenige Schritte von ihm hinter einer versperrten Tür sein Kind sich abrang, um sich schlug, mit versagenden Kräften, aussichtslos. Er sah sie, er sah, wie die Wärme aus ihren bräunlich kühnen Wangen wich, wie die starkblauen Augen unter dem dunklen Haar sich stier und glasig verdrehten. Und in dieses Gesicht hinein hörte er die sachliche, zifferscharfe Stimme des Süß: »Wie die Dinge heute abend liegen, darf ich Ihnen Orden und Rangerhöhung mit aller Bestimmtheit in Aussicht stellen.«

Das Merkwürdige war, daß er dabei diesen Mann, der mit dem frechen und verbindlichen Lächeln vor ihm lehnte, durchaus nicht haßte. Er spielte bloß mit dem Wunsch und der Vorstellung, daß der andere so fahrig und zerrissen dasitzen möge, während er, Weißensee, lächelnd und wach vor ihm stünde. Er benahm sich dann weiterhin ganz wie immer, nur war alles, was er tat und sagte, beklemmend unwirklich, wie aus Schlaf heraus gedämpft, marionettenhaft. Er verneigte sich immerzu, höflich, freundlich, er erwiderte ein Scherzwort der Herzogin, er sprach sacht und diplomatisch mit dem Geheimrat Fichtel, er setzte auf eine abgründige und sehr feine Zote des Herrn von Riolles eine noch feinere und obszönere. Aber alle diese Stimmen klangen seltsam mechanisch und scheppernd, und die Menschen gingen puppenhaft und sehr künstlich, und alles war wie aus Wachs. Auch der Herzog, der jetzt wieder schwer und groß und mit müden, schlaffen und gelösten Gliedern, mehr hinkend als sonst, im Saal war, schien ihm wie eine Wachspuppe, wie hinter Rauch und Nebel.

Aber dennoch gelang es ihm, beim Anblick des Herzogs eine kleine, neue Hoffnung hochzuschüren. Er verjagte seine Gesichte, er hieß sein Wissen stumm sein und wollte es nicht wahrhaben. Mit einer eiligen, flatternden Bewegung raffte er den Venezianer Mantel und trat dem Herzog in den Weg, der ganze Mann ein einziges, dringliches, flehendes Fragen, ob es vielleicht doch nicht geschehen sei. Aber der Herzog sah ihn nicht, er wollte ihn offenbar nicht sehen, er hatte kein Aug für ihn; er ging, trotzdem Weißensee ganz nah an ihm war, starr gerade vor sich hin schauend an ihm vorbei, mit einem merkwürdig scheuen und gewalttätigen Rülpsen.

Da war Weißensee auf einmal furchtbar alt und müde. Er suchte sich eine stille Ecke und geriet an den Tisch, wo der einsame Aktuarius Götz saß und soff. Der fühlte sich sehr geehrt durch die Gesellschaft des Herrn Kirchenratspräsidenten, stand, wiewohl schon stark unter Wein, zeremoniös auf und machte vielerlei umständliche Reverenzen. Und dann saßen die beiden Männer, der alte, feine, traurige, zerrissene und der junge, plumpe, in Hilflosigkeit und Schwärmerei dumpf brodelnde, enttäuschte, und sie waren stumm und starrten in das festliche und überhitzte Getriebe und tranken.

Karl Alexander aber ging satt, stolz und befriedigt durch den Saal. Wohl hatte er manchmal ein kleines, verlegenes und trotziges Lachen wie wohl ein Knabe, der etwas angerichtet hat, sich damit brüstet, um sich über seine Scham wegzuhelfen. Aber gerade darum stellte er es so an, daß jeder es sehen mußte, daß er aus einer Umarmung kam. Er winkte seiner Frau, die ihn wie fragend ansah, mit einer weiten Geste zu, die sie mühelos als ein stolzes Eingeständnis deuten konnte. Er ging an den Pharaotischen vorbei, wo glühende und über die Störung im geheimen sehr erboste Spieler sich ehrfürchtig erhoben, und versicherte, daß er sich heute abend außerordentlich, aber ganz außerordentlich amüsiere. Er stürzte durstig zwei große Gläser Tokaier hinunter und war sehr betrunken. Er machte sich an seinen Schwiegervater, der jetzt ganz in der Napolitanerin aufging, was Karl Alexander anerkennend und gönnerisch zur Kenntnis nahm. Er fiel dem alten Fürsten mehrmals um den Hals, sagte zärtlich: »Euer Liebden! Euer Liebden! Ist recht, daß sich Euer Liebden so jung fühlen.« Dann prahlte er eitel und sentimental mit seiner italienischen Jugend, seiner lombardischen Kampagne, seinen venezianischen Aventüren. Cassano hat er zwar mit dem lahmen Fuß bezahlen müssen, aber es war kein zu hoher Preis. Ah, Venedig, Venedig! Vagabundieren, die Maske vor dem Gesicht, und Frauen und Duelle und hohe Politik und Alchimisten und Geisterseher und die Lagune und die Paläste und über allem die heimliche Hand der Zehn. Sie, die Graziella Vitali, ruft es ihm zurück, so ein Hui, so ein wohliges, rasches, welsches Parfüm wie sie ist. Und seine Augen schätzen die Napolitanerin ab, eingehend und kennerisch. »Es geht Euer Liebden nicht schlecht«, lallte er, »es geht mir auch nicht schlecht. Suum cuique! Suum cuique! Der Herrgott hat uns alle beide in diesem Mistbeet Welt auf ein Plätzchen gesetzt, wo es warm und mollig und viel Sonne ist.« Und er tätschelt anerkennend den nackten, gelben, mürben Arm der Komödiantin und gratuliert dem Alten zu dem feinen Hühnchen, das er da zu rupfen im Begriff sei.

Süß weicht dem Herzog aus. Er ist neidisch und erbittert, er weiß, Karl Alexander wird ihm jetzt die Affäre mit Magdalen Sibylle schildern, klotzig und umständlich und mit allen Details, und er ist nicht in der Laune, sich von diesen Freuden, deren Primeurs eigentlich ihm gebührten, erzählen zu lassen. Die Gedanken daran loszuwerden, schaukelt er in den hohen Wellen seines Festes. Ihn zu feiern, daß er auf der Welt ist, seinen Geburtstag zu feiern, sind all diese Lichter angezündet, diese Tafeln und prunkvollen Räume gerichtet, diese schönen Damen und großen Herren gekommen. Er ist sehr hoch hinaufgelangt, niemals in Deutschland stand ein Jud so hoch und glänzend wie er. Und er wird noch ganz anders dastehen. Schon ist sein Adelsgesuch auf dem Weg nach Wien zum Kaiserhof; er wird – Karl Alexander, ihm von Tag zu Tag mehr verpflichtet, muß ihm das durchsetzen – nobilitiert sein. Er ist kein Narr wie Isaak Landauer, er läuft nicht in Kaftan und Schläfenlöckchen; aber er denkt auch nicht daran, sich wie sein Bruder durch das billige Mittel eines Glaubenswechsels Titel und Rang zu schaffen. Durch sein Genie, nur durch sein Glück und sein Genie wird er ganz oben stehen. Er hat rechtzeitig auf den Herzog gesetzt, wie der noch klein war und ganz gering. Er wird auch die paar Stufen nicht mankieren, die noch zu steigen sind. Er wird Jude bleiben und wird trotzdem, und gerade das wird sein Triumph sein, adlig sein und Landhofmeister und den rechten Platz im Herzogtum einnehmen in aller Form und vor aller Welt.

Man tanzte. Er füllte Herz und Aug und Ohr mit dem bunten, huldigenden Lärm. Sein Geträume kletterte hinauf an den Läufen der Geigen, die Pauken dröhnten seine Macht in den Saal, die Schönheit der Frauen, der seidene Prunk der Herren huldigte ihm. Er schaut hinein in sein Fest, träumt seine Hoffart hinein, den sehr roten Mund halb offen, ein verzücktes Lächeln in dem weißen Gesicht. Doch plötzlich wischt ihm ein Unsichtbares die befriedigte, genießerische Sattheit fort vom Antlitz. Weggeblasen der farbig gekräuselte, fröhliche Schaum, verfahlt das bunt rauschende Fest; wohl sieht er die Musikanten sich abarbeiten, aber er hört keine Musik mehr. Er sieht sich schreiten in einem andern nebelhaften, grinsenden, beklemmenden Tanz. Vor ihm, seine Hand haltend, schreitet sein Oheim, Rabbi Gabriel, hinter ihm, an seiner andern Hand schleift, stärker hinkend, der Herzog den lahmen Fuß. Ganz vorn aber, durch viele Hände mit ihm verkettet, ist das nicht Isaak Landauer, der kopfwackelnd, dürr, in albern flatterndem Kaftan, rhythmisch die Beine setzt?

Wie er sich aus dem Gesicht reißt, steht in seiner verschollenen Portugiesertracht Dom Bartelemi Pancorbo vor ihm, aus tiefen Höhlen langen die lauersamen Augen nach ihm, langsam kriecht ihm die kellerige, makabre Stimme ins Ohr: »Wie ist’s, Herr Finanzdirektor? Ich leg zu der Tabakmanufaktur noch die Schnapssteuer auf einen Monat: laßt Ihr ihn ab, den Solitär?«

Und das Fest ging weiter. Für den zweiten Teil des Abends hatte Nicklas Pfäffle, der gleichmütig, schläfrig und präzis den komplizierten Mechanismus des Balles leitete, eine Überraschung ausgedacht. Die Decke mit dem Gemälde vom Triumph des Merkur öffnete sich, auf einer Flugmaschine erschien der Knabe Cupido, er schwebte über den Gästen, streute Rosen, huldigte in zierlich gedrechselten Alexandrinern dem herzoglichen Paar, gratulierte dem Süß zum Geburtstag. Es war ein sehr anstelliger Knabe, er sprach seine Verse sehr hübsch, und wenn Cupido auch ein weniges schwäbelte, so war das, meinte Remchingen sehr laut, immerhin besser, als wenn er etwan gemauschelt hätte.

Als unmittelbar darauf der Tanz wieder einsetzte, kam es zu einer kleinen Störung. Ein verdächtig aussehender, verwahrloster Mensch stand auf einmal im Saal und hielt eine Ansprache. Man sammelte sich lachend um ihn, glaubte, sein Gewese sei Maskenscherz, so war er wohl auch hereingekommen. Aber es zeigte sich bald, daß die wilden und unflätigen Reden gegen die hebräische Justiz und die ganze hebräische Raub-, Mord- und Sauwirtschaft ernst gemeint waren.

Der Verwahrloste, Fluchende war Johann Ulrich Schertlin. Er hatte in Stuttgart einen kleinen Handel zu erledigen gehabt, war in die Kneipe »Zum Blauen Bock« gegangen, hatte sich unter schimpfenden Kleinbürgern besoffen, während der Konditor Benz schweigend, giftig und befriedigt zuhörte und nur einmal sagte: »Unterm vorigen Herzog regierte eine Hur«, worauf allgemeines Grunzen und Gegrinse entstand. Dort also hatte Johann Ulrich Schertlin gesessen, er hatte sich wohl gefühlt wie lange nicht, denn jetzt stand er nicht unter dem länglichen, vorwurfs- und verachtungsvollen Aug der Waldenserin, er hatte viel getrunken und war schließlich in das Haus des Juden gegangen, um dem die Meinung zu sagen. Etliche von seinen Trinkkumpanen waren mitgezogen, die standen nun draußen im Schnee im Schein der Kerzen, der aus den Festsälen auf die Straße fiel, die Kutscher der herrschaftlichen Wagen, die zur Heimfahrt vorgefahren waren, hatten sich ihnen zugesellt, und da standen sie nun, mehr neugierig als empört, bis Johann Ulrich in Ketten auf die Wache geführt würde. Der aber stand eben inmitten der seidenen Gäste, schmutzig, stinkend, voll von schlechtem Wein, maßlos und unflätig schimpfend. Schon wollte man ihn der Polizei übergeben; doch Süß, wie er hörte, das sei der Schertlin, gab Befehl, ihn für diese Nacht ins Narrenhäusel zu sperren und ihn morgen seiner Frau nach Urach heimzuschicken.

Und das Fest ging weiter. Karl Alexander hat, sehr betrunken, von der Affäre mit Johann Ulrich wenig gemerkt und nichts begriffen. Jetzt endlich gelingt es ihm doch, sich des Süß zu bemächtigen, und er setzt sich abseits mit ihm, willens, einem Kenner von den gehabten Genüssen zu reden. Er schnaubt und schnauft, er ist wirklich sehr betrunken, er hat das Kostüm des antiken Heroen nicht ganz richtig zugeschnallt, er sitzt warm, weindunstig, rotköpfig, schwer, er lacht und lallt und klopft dem ehrfürchtig und ergeben zuhörenden Juden die Schenkel. »Ein delikater Bissen!« schmatzt und schnalzt er. »Das hat Er gut gemacht, Jud, daß Er mir die hat eingeladen. Ich wird’s Ihm auch am rechten Douceur nicht mangeln lassen. Ein deutscher Fürst läßt sich nicht lumpen. Ein delikater Bissen!« Er schilderte Magdalen Sibylle, malte mit seinen roten, plumpen Händen, die seltsam waren mit dem schmalen Rücken und dem kurzen, fetten Innern, die Einzelheiten ihres Körpers, Schenkel, Brüste. »Ein Füllen, ein wildes! Schlägt aus und bockt und beißt und glüht. Und ist eiskalt, wenn sie sich dreinfinden muß.« Er wies auf die kleine, gelbe, geschwinde Napolitanerin, die bei allem Getue mit dem alten Fürsten Zeit fand, ihm zuzuäugen, spitzbübisch, die Zunge lasterhaft im Mundwinkel. »Das da ist ein Wind, ein Hui, ein wohliges Parfüm. Mag Seine Durchlaucht der Herr Schwiegerpapa glücklich werden damit.« Er gluckste ein kleines, verächtliches Lachen. »Aber die andere, die meine Herzdame, Kotz Donner!, die ist kein welsches Gelump. Knickst nicht und knickt einem nicht zusammen im Arm.« Er lehnte sich verträumt und sentimental zurück. »Die meine ist wie ein See im Wald«, sagte er mit einer vagen, rudernden Handbewegung. »Wie ein See im Wald«, wiederholte er lallend, sank ein wenig vornüber, machte die Augen zu, schnaufte.

Süß wollte sich schon wütend, vorsichtig und ehrerbietig entfernen, da begann Karl Alexander von neuem, malend, fuchtelnd, wichtig. »Augen hat sie, das Luder! Augen! Weißt du, an was ich hab denken müssen? Das rätst du nicht. Das rätst du dein Tage nicht.« Ein Lachen stieg auf in ihm, still zuerst, röchelnd dann, glucksend, ihn schütternd, immer lauter: »An deinen Magus hab ich denken müssen, an den Zauberonkel … Augen hat sie, das Luder! – Der Magus … Das Erste sag ich Euch nicht …« Jäh packte ihn Zorn: »Sagt er mir nicht, der Zauberhund, der verfluchte, hintertückische! Soll er’s verschlucken, soll er erwürgen dran und ersticken, der Hexer, der jüdische, vermaledeite!«

Süß, erschreckt, sehr blaß, war zurückgewichen, atmend, machte eine abwehrende, beschwörende Handbewegung. Aber Karl Alexander, mühsam, betrunken und zornig, richtete sich hoch, versuchte eine stolze, statuarische Feldherrnhaltung einzunehmen so wie auf dem Bild mit den siebenhundert Axtmännern und Belgrad, grölte, rülpste, schrie: »Mir kann einer prophezeien, was er mag. Ich fürcht mich nicht. Attempto! Ich wag’s! Ich bin Karl Alexander, Herzog von Württemberg und Teck! Von Gottes Gnaden! Ich steh über dem Schicksal! Der deutsche Achill! Von Gottes Gnaden!« Und er stand wie sein eigenes Monument.

Sehr bald aber fiel er zurück in seinen Stuhl. Lächelte unvermittelt. »Wie ein See im Wald«, lallte er noch, schnaubte, schnarchte, rasselte, röchelte, schlief ein.

Und das Fest ging weiter. Tobend, wie ein Füllen, das ohne Reiter und Zügel übers Feld rast. Sein Gelärm drang hinaus auf die Straße, wo Johann Ulrich weggeführt wurde inmitten seiner wispernden Kumpane, ernüchtert, müd, fahl, drang weiter über die Stadt, über das Land, das schlief, ächzte, sich wand, sich hin und her warf, aus dem Schlaf auffuhr, vor sich hin mummelte, knurrte. Und wieder einschlief und weitertrug.