Der Kaiser sah, daß die Tiere
unter der Hitze litten, und ordnete an, man solle ihnen Wasser
bringen.
Bald darauf geschah es, daß Lucia ihren
Adjutanten Matthias mit einer Sendung beauftragte, die ihm viel
Freude machte.
Die Stadt Massilia, deren
Schutzherrin Lucia war, hatte ihr ausgesucht schönen, edel
gearbeiteten Korallenschmuck übersandt, und die Kaiserin wünschte,
der Stadt ein würdiges Gegengeschenk zu machen. Matthias sollte
dieses Geschenk überbringen und bei dieser Gelegenheit noch einige
kleinere Aufträge ausführen, die man nur von Vertrauten erledigen
ließ. Er sollte versuchen, den alten Charmis, den Augenarzt der
Kaiserin, der infolge seines hohen Alters die Reise nach Bajae
scheute, zu bewegen, nun doch nach Bajae zu kommen. Dann sollte
Matthias Lucia gewisse Kosmetiken beschaffen, die man nur in
Massilia in der Qualität herstellte, die die Kaiserin wünschte.
Schließlich noch gab sie ihm ein Schreiben mit, das er in Massilia
einem Vertrauten übergeben sollte, damit dieser es übers
balearische Meer weiterbefördere.
Matthias war glücklich und kam
sich sehr wichtig vor. Vor allem freute es ihn, daß die Reise zur
See stattfinden sollte, und auf Lucias Privatjacht »Blaue Möwe«. Da
Lucia daran lag, daß ihr Auftrag in Eile erledigt werde,
beschränkte sich Matthias darauf, von seinem Vater brieflich
Abschied zu nehmen; Josef war, um nicht durch einen überlangen
Aufenthalt in Bajae Aufsehen zu erregen, nach Rom zurückgekehrt.
Des Vaters Antwortschreiben erreichte den Matthias gerade noch,
bevor die Jacht in See ging. Josef bat ihn, sich in Massilia
umzuschauen nach einem möglichst guten und getreuen Exemplar der
»Seekunde« des Pytheas von Massilia, die gewöhnlich nur in
verderbten Abschriften aufzutreiben war.
Konnte er seinen Vater nicht mehr
sehen, so erlaubte ihm doch ein freundlicher Zufall, sich von dem
Mädchen Caecilia zu verabschieden. Matthias hatte Caecilia eine
lange Weile nicht gesehen. Sie geradezu zu suchen, hätte er sich
ein wenig vor sich selber geschämt; immerhin hatte er sich oft an
jenen Orten herumgetrieben, wo er sie hätte treffen können, sie
hatte übrigens das gleiche getan. Auf alle Fälle strahlten beider
Gesichter auf, als sie am Tage, bevor er abreisen sollte, nun
wirklich aufeinander stießen.
Caecilia gab sich spitz und ein
wenig höhnisch wie immer. »Da haben Sie also einen ehrenvollen
Auftrag, mein Matthias«, sagte sie. »Sie sollen der Herrin Lucia
Parfüms beschaffen. Aber ich nehme an, das würde ihr leibeigener
Friseur auch zustande bringen, und vielleicht besser als Sie.«
Matthias schaute dem hübschen Mädchen freundlich in das glatte
Gesicht und sagte gelassen: »Warum reden Sie eigentlich solchen
Unsinn, Caecilia? Sie wissen doch sehr gut, daß ich natürlich nicht
nur wegen der Parfüms nach Massilia gehe.« – »Es sollte mich
wundern«, beharrte streitbar Caecilia, »wenn es wirklich um
Wichtigeres ginge. Denn Sie haben einiges gelernt von Ihren Pfauen
und pflegen ziemlich laut zu sein, wenn Sie Ihren Glanz zeigen
können.« Matthias, immer mit der gleichen Gelassenheit, antwortete:
»Muß ich wirklich vor Ihnen prahlen, Caecilia? Muß ich mich
wirklich vor Ihnen dessen rühmen, daß mich die Kaiserin gern
sieht?« Er ging näher an sie heran; mit seinen jungen, tiefen,
unschuldigen Augen schaute er ihr dringlich ins Gesicht, und: »Wenn
ich der Niemand wäre«, sagte er, »als den Sie mich so gern
hinstellen, würden dann Sie selber so häufig mit mir zusammen sein?
Lassen Sie uns ernsthaft reden, Caecilia. Mein Geschäft in
Massilia, so unbedeutend es sein mag, wird mich eine gute Weile von
Ihnen fernhalten. Lassen Sie mich das Bild einer Caecilia
mitnehmen, wie sie in ihren besten Stunden ist.« Und, ganz nah an
ihr, die tiefe Stimme dämpfend und doch voll heißen Überschwangs,
ließ er es aus sich herausbrechen: »Caecilia, du bist herrlich! Was
für ein liebenswertes Gesicht du hast, wenn du es nicht ins
Höhnische und Boshafte verzerrst!« Caecilia spielte die Ungläubige.
»Das sind ja alles nur Worte«, sagte sie kokett. »Du liebst ja doch
nur sie, die Kaiserin.« – »Wer müßte sie nicht lieben«, gab
Matthias zu. »Aber was hat das zu tun mit uns beiden? Die Kaiserin
verehre ich, ich liebe sie, wie ich meinen Vater liebe. Das heißt«,
verbesserte er sich ehrlich, »ganz so ist es nicht. Aber ähnlich
ist es. Dich, Caecilia ...« – »Ich weiß schon«, unterbrach ihn
eifersüchtig, etwas töricht Caecilia, »mich verehrst du nicht. Über
mich machst du dich lustig. Ich bin ein kleines, dummes Mädchen.
Ihr Juden seid ja alle so stolz und eingebildet. Bettelstolz seid
ihr.«
»Reden wir jetzt nicht von Juden
und Römern!« bat Matthias. »Bitte, bitte, Caecilia.« Er nahm ihre
Hand, eine weiße, kindliche Hand, er küßte die Hand, küßte ihren
bloßen Arm. Sie wehrte sich, aber er ließ nicht ab, er war viel
größer als sie, er umfaßte sie, beinahe hob er sie hoch, sie
sträubte sich, aber dann, ganz plötzlich, wurde sie schlaff und
erwiderte seine Küsse. »Geh jetzt nicht fort, Matthias!« bat sie
mit einer kleinen, zerdrückten Stimme. »Laß einen andern die
Parfüms holen! Schick einen andern Juden!« – »Ach Caecilia!« war
alles, was Matthias erwiderte, und er umfaßte sie heftiger,
begehrlicher. Erst ließ sie es zu, dann, mit einem, entzog sie sich
ihm. »Wenn du zurück bist«, versprach sie, und: »Komm bald zurück!«
drängte sie.
Kurze Zeit darauf ließ sich
Messalin von neuem in Alba melden. Er überbrachte dem Kaiser die
Abschrift eines Briefes.
Es lautete aber der Brief
folgendermaßen: »Lucia an ihre Domitilla. Sie werden, meine Teure,
gehört haben von dem Glück, das Ihren liebenswerten Söhnen
widerfahren ist. Vielleicht aber werden Sie, daran denkend, daß die
Knaben nun ausschließlich auf dem Palatin und in Alba zu Hause sein
werden, über dieses Ereignis keine ganz reine Freude empfunden
haben. Ich schreibe Ihnen, um Sie von dieser Sorge zu befreien. Ich
versprach Ihnen seinerzeit, daß Ihre Knaben nicht allzu lateinisch
werden sollen, und ich werde alles tun, was ich kann, um zu
verhüten, daß ihre Herzen in der strengen Luft des Palatin
eintrocknen. Im übrigen, meine Domitilla, hoffe ich mit Grund, daß
nach der Adoption der Knaben Sie selber bald zurückberufen werden.
Nur bitte ich Sie um eines: unterlassen Sie
jeden Versuch, von Ihrer Insel aus auf das Schicksal der Knaben
einzuwirken! Halten Sie sich vielmehr, Liebe, vollkommen still,
sorgen Sie sich nicht um Ihre Söhne, auch wenn sie jetzt Vespasian
und Domitian heißen! Vertrauen Sie Ihrer Lucia und leben Sie
wohl!«
Der Kaiser las den Brief langsam
und genau. Ein ungeheurer Grimm faßte ihn. Er war erzürnt nicht
etwa deshalb, weil Lucia hinter seinem Rücken mit Domitilla
zettelte, das hatte er nicht anders erwartet, ja vielleicht hatte
er’s gewünscht. Was ihn empörte, das war vielmehr jener Satz von
den »Herzen, die in der strengen Luft des Palatin eintrocknen«. Das
wagte Lucia zu schreiben, sie, die ihn kannte. Das wagte Lucia zu
schreiben nach den Nächten, die sie mit ihm verbracht
hatte.
Er las den Brief mehrere Male.
»Hat der Herr und Gott Domitian das Schriftstück gelesen?« fragte
schließlich mit seiner sanften, gelassenen Stimme der Blinde. Der
Kaiser, in kalter Wut, fragte zurück: »Warum hast du mir den Wisch
gebracht? Willst du Lucia bei mir anschwärzen? Wagst du es zu
behaupten, das, was auf diesem dreckigen Papier steht, seien Worte
meiner Lucia?« – »Ich habe«, erwiderte mit seiner gleichmäßigen
Stimme Messalin, »Eurer Majestät diese Briefabschrift nicht
gebracht, weil ich die Person verdächtigen wollte, die den
Originalbrief geschrieben hat oder geschrieben haben könnte. Aus
einer Unterredung aber, deren mich Eure Majestät unlängst
würdigten, wagte ich zu schließen, der Herr und Gott Domitian habe
ein gewisses Interesse an dem Boten, der es übernommen hatte, die
Urschrift dieses Briefes seiner Adressatin
zuzuschmuggeln.«
Domitian trat ungestüm an
Messalin heran und sah ihm mit so gespannter Frage ins Gesicht, als
könnte der Blinde seinen Blick wahrnehmen. Freudige Ahnung hob ihn.
»Wer ist dieser Bursche?« fragte er, und: »Der jüngste Adjutant der
Kaiserin, Flavius Matthias«, erwiderte Messalin.
Domitian atmete stark, befreit.
Doch er bemühte sich, seine tiefe, frohe, schmähliche Genugtuung
nicht zu verraten. »Was haben Sie mit der Urschrift gemacht?«
fragte er sachlich den Messalin. »Die Urschrift«, gab dieser
Auskunft, »ist nur eine kleine halbe Stunde in unsern Händen
geblieben, gerade Zeit genug, daß wir sie ordentlich kopieren
konnten. Dann, ohne daß der junge Matthias etwas hätte merken
können, haben wir sie ihm wieder zugesteckt. Der Brief ist
weitergegangen auf der Jacht ›Blaue Möwe‹, wie es vorgesehen war,
wahrscheinlich ist der Brief jetzt auf dem Weg nach der
balearischen Insel, vielleicht ist er schon da.«
Domitian, und jetzt kippte ihm
die Stimme über, fragte: »Und dieser Matthias? Die Kaiserin hat ihn
nach Massilia geschickt, wenn mir recht ist. Wo ist er jetzt,
dieser Matthias?« – »Der junge Flavius Matthias«, berichtete
Messalin, »ist von Ihrer Majestät mit vielen kleinen Aufträgen
beehrt worden. Er hat sich nach gewissen kosmetischen Mitteln
umzutun, er hat den großen Augenarzt Charmis aufzusuchen und ihn
womöglich mitzubringen, er hat in Massilia vielerlei zu besorgen.
Ich war der Meinung, die Geschäfte der Kaiserin verlangten größte
Gewissenhaftigkeit und Umsicht, und habe dafür Sorge getragen, daß
Flavius Matthias in Massilia lange zu tun haben wird.«
»Interessant, mein Messalin, sehr
interessant«, sagte der Kaiser, die Stimme etwas abwesend, wie es
dem Messalin schien. »Massilia«, sprach Domitian weiter vor sich
hin, und immer mit der gleichen abwesenden Stimme hielt er einen
kleinen, nicht recht zur Sache gehörigen Vortrag über die Stadt
Massilia. »Eine interessante Siedlung«, erklärte er, »und
wohlgeeignet, einen jungen, wißbegierigen Herrn längere Zeit
festzuhalten. Sie hat Gallien gräzisiert, meine gute Stadt
Massilia, es gibt dort schöne Tempel der ephesischen Artemis und
des delphischen Apollo. Es ist eine reine, unverfälschte Insel des
Griechentums inmitten einer barbarischen Umwelt. Auch gibt es dort,
wenn ich mich recht erinnere, interessante altertümliche Bräuche«,
und so plapperte er eine Weile ziemlich sinnlos weiter.
Messalin aber antwortete nicht.
Er wußte genau, der Kaiser wollte keine Antwort haben, der Kaiser
wollte nur seine Gedanken verbergen, und diese Gedanken waren
bestimmt nicht bei den merkwürdigen Bräuchen der Stadt
Massilia.
So war es denn auch, des Kaisers
Gedanken waren, während er seinen Vortrag hielt, weitab von der
Stadt Massilia. Lucia, dachte er vielmehr, Lucia. Ich habe ihr
soviel geopfert, ich habe mich versündigt an Jupiter und an meinen
neuen Söhnen ihrethalb, ich habe ihr die Rückrufung dieser
Domitilla versprochen, und so lohnt sie es mir. Auf dem Palatin und
in meiner Nähe trocknen die Herzen aus, schreibt sie. Und
plötzlich, ziemlich abrupt, unterbrach er sich und begann vor sich
hin zu pfeifen, höchst unmelodisch und mangelhaft, und der
erstaunte und amüsierte Messalin erkannte die Melodie, es war jenes
Couplet aus der letzten Posse: »Auch ein Kahlkopf kann ein schönes
Mädchen haben, / Wenn er Geld genug dafür bezahlt.«
Nach wie vor dachte Messalin
nicht daran, des Kaisers Gedanken zu stören. Der aber wachte
plötzlich aus seinen Betrachtungen auf, er hatte sich gehenlassen,
er hatte sich versinken lassen. Nur gut, daß ihm der Blinde
wenigstens nichts vom Gesicht ablesen konnte. Er riß sich zusammen,
und als wäre nichts geschehen, als wäre keine Pause und kein langes
Schweigen gewesen, sagte er sachlich: »Bist du deiner Sache ganz
sicher?« – »Ich habe keine Augen, zu sehen«, antwortete Messalin,
»aber soweit ein Blinder sicher sein kann, bin ich
sicher.«
Bestimmt weiß dieser Messalin,
wie sehr ihn, den Domitian, seine Nachricht mitnimmt, er sieht,
wenngleich er blind ist, tief in ihn hinein, noch viel tiefer und
gefährlicher als Norban, doch merkwürdigerweise hat der Kaiser vor
Messalin auch nicht das leiseste Gefühl von Haß und Unterlegenheit.
Nein, er ist ihm dankbar, er ist ihm ehrlich dankbar, und: »Das
hast du sehr gut gemacht«, anerkennt er auch, »und ich danke
dir.«
Messalin entfernte sich, im
Tiefsten befriedigt. Domitian, allein, dachte über das Vernommene
nach. Merkwürdigerweise verspürte er keinen rechten Groll gegen
Lucia, im Gegenteil, er war ihr beinahe dankbar um das, was sie da
angerichtet hatte. Denn jetzt läßt sich nicht mehr feststellen, ob
sich Domitilla in die Angelegenheit seiner jungen Löwen eingemischt
hätte, und ein solcher Beweis ihrer Loyalität war die Voraussetzung
seines Versprechens, ihre Verbannung rückgängig zu machen. Aus dem
Schreiben der Lucia erhellt geradezu, daß auch Lucia der von ihr
begünstigten Domitilla die Absicht zutraute, die Knaben gegen
seinen, des Kaisers und Zensors, Willen zu beeinflussen. Damit aber
ist er seines Versprechens enthoben, vor Lucia, vor sich selber,
vor den Göttern. Und was Lucia selber anlangt, so wird er, was sie
da gegen ihn unternommen hat, nicht vergessen, aber er wird die
Regelung dieser Sache zurückstellen. Lucia ist nun einmal, wie sie
ist, sie trägt in einem gewissen Sinne keine Verantwortung. Eher
bereitete das Bewußtsein, sie zu schonen und in seinem Innern
jederzeit Argumente gegen sie vorrätig zu haben, ihm eine gewisse
Freude. Er wird ihr nicht einmal sagen, was er von ihr weiß. Er
wird diese ganze Angelegenheit in seinem Busen bewahren. Niemand
soll wissen, wie er, der Gott, betrogen worden ist von diesen
dreien, von Lucia, von Domitilla, von dem Knaben Matthias, betrogen
und verraten, er, der sehr Gütige, sehr Großmütige. Es genügt, daß
es der Blinde weiß. Er hat sehr viel übrig für den Blinden.
Eigentlich sind Lucia und der Blinde die einzigen Menschen, an
denen ihm liegt. Mag sich also Lucia weiter ihrer falschen,
unbegründeten, naiven Freude hingeben darüber, daß sie ihn
hineingelegt hat; in Wahrheit wird er sie hineinlegen. Und mag sich
der Blinde, der, ein sehr treuer Diener, ihn zu großem Dank
verpflichtet hat, in seiner Nacht wärmen an dem Gedanken, daß er
mit dem Herrn der Welt ein Geheimnis teilt.
Was aber soll er mit den beiden
andern anfangen, mit Domitilla und mit dem jungen Menschen, der es
unternommen hat, jenes Schriftstück auf die balearische Insel zu
schmuggeln? Sie sollen nicht länger in der Welt sein, das ist
gewiß, aber ihre Strafe soll heimlich kommen, aus dem Dunkel, und
niemand soll die Zusammenhänge übersehen.
Domitilla. Die Verbannte. Sein
Vater Vespasian hat sich einmal gegen seinen Willen breitschlagen
lassen, einen Verbannten aus seiner Verbannung zurückzurufen; es
war Helvid, der Altere, der Vater. Aber Vespasian, ein glücklicher
und umsichtiger Mann, wie er war, hat auch da Glück gehabt: bevor
noch den Begnadigten die Kunde des Rückrufs erreichte, war er
gestorben. Auch er, Domitian, wird wieder einmal erweisen, daß er
ein Mann von Glück und Umsicht ist. Er wird Domitilla begnadigen,
er wird es groß der Lucia und aller Welt verkünden. Wenn dann die
arme Domitilla das Glück nicht mehr erfährt, so ist das ihre Sache,
nicht die seine.
Und was den jungen Matthias
anlangt, so wird auch den ein dunkles Schicksal erreichen, nicht
etwa eine Strafe. Vielleicht wird er, Domitian, dem Josephus
darlegen, warum er den Jungen hat erledigen müssen; denn der Gott
Jahve und sein Diener sollen nicht denken, daß er sich etwa an dem
Jungen ohne Grund und nur aus Feindschaft gegen Jahve vergriffen
habe. Aber niemand sonst außer dem Juden Josephus, dem Messalin und
ihm selber soll um die Zusammenhänge wissen. Für alle andern soll
es ein Unglücksfall sein, der den schönen Pagen der Kaiserin
wegrafft.
Die Neptunalien waren kein sehr wichtiges
Fest. Nur ein Fürst, der so auf Tradition hielt wie Domitian,
konnte sich der Mühsal unterziehen, um dieses Festes willen seine
Sommerfrische mit der heißen Stadt zu vertauschen.
Drei Tage leitete der Kaiser die
Zeremonien. Dann, für den vierten, berief er den Josef auf den
Palatin.
Den traf die Einladung wie ein
Schlag. Da der Kaiser so lange gebraucht hatte, die Rache
vorzubereiten für jene Rezitation, wie furchtbar wird diese Rache
sein. Es wird eine schlimme Stunde werden, Josef wird allen Mut aus
den Winkeln seiner Seele zusammenkratzen müssen. Es hat Zeiten
gegeben, da er sich seinem Untergang entgegengesehnt, da er heiß
gewünscht hatte, durch seinen Tod Zeugnis abzulegen für seine
Sache. Jetzt aber aus der Blüte seines Glückes herausgerissen zu
werden, davor graute ihm.
Zunächst indes empfing ihn der
Kaiser mit heiterer Gelassenheit, er zeigte weder Zorn noch jene
gefährliche Liebenswürdigkeit, die alle, die ihn kannten, noch mehr
fürchteten als seine Wut. Eher schien er von einer etwas
zerstreuten Freundlichkeit.
»Wie geht es Ihrem Matthias?«
fragte er dann nach einer Weile. Josef erzählte, die Herrin und
Göttin Lucia habe ihn nach Massilia geschickt. »Richtig«, erinnerte
sich der Kaiser, »auf der Jacht ›Blaue Möwe‹, Massilia, eine schöne
Stadt.« Und er begann wieder von den Merkwürdigkeiten der Stadt zu
erzählen, ja er hatte Mühe, nicht in sinnlose Geschwätzigkeit
hineinzugeraten wie neulich vor Messalin. »Auf alle Fälle, mein
Josephus«, fing er sich ein, »gönn ich es Ihrem Matthias, daß er
ein Stückchen Welt zu sehen bekommt. Und die Geschäfte, die er dort
für die Kaiserin zu erledigen hat, werden ihn ja nicht allzusehr
drücken. Er soll ihr Parfüms besorgen und kosmetische Mittel, und
er soll den Arzt Charmis mit auf seine Jacht locken. Wichtige
Geschäfte.« Josef wunderte sich, daß der Herr der Welt so genau
Bescheid wußte um die unbedeutenden Verrichtungen, die seinem
Matthias in Massilia oblagen. »Es ist eine große Gnade und sehr
verwunderlich«, scherzte er, »daß die Augen Eurer Majestät meinen
Matthias mit solcher Aufmerksamkeit verfolgen.« – »Haben Sie ihn
vor der Abreise noch gesehen?« fragte der Kaiser. »Nein«,
antwortete Josef. »Er hätte eigentlich über Rom reisen und sich von
Ostia aus einschiffen können«, meinte Domitian. »Aber die Kaiserin
hat eben doch offenbar ihre Geschäfte für wichtig gehalten und Eile
gehabt. Sie hängt übrigens sehr an Ihrem Matthias, das hab ich
selber gesehen. Er ist auch ein netter Junge, von ange nehmen
Sitten, er hat mir gut gefallen. Es muß in der Familie liegen, daß
wir Flavier und ihr, daß wir uns immer wieder so eng miteinander
verknüpfen.«
Es war in Wahrheit seltsam, wie
eng die Flavier verknüpft waren mit Josef und seinem Geschlecht.
Aber er wußte nicht, was er aus den Reden des Kaisers machen
sollte, er fand nichts Rechtes zu erwidern, es war ihm unbehaglich
zumute. »Du liebst ihn wohl sehr, deinen Sohn Matthias?« fuhr der
Kaiser fort. Josef, einsilbig, erwiderte: »Ja, ich liebe ihn. Ich
denke« fügte er hinzu, »er ist jetzt wohl schon wieder auf See,
zurück auf dem Weg nach Italien. Ich freue mich darauf, ihn
wiederzusehen.« – »Wie gut«, sagte langsam der Kaiser und schaute
mit seinen vorgewölbten Augen dem Josef träumerisch ins Gesicht,
»daß wir jetzt die Neptunalien gefeiert und daß ich selber daran
teilgenommen habe. So haben wir das Unsere getan, auf daß ihm
Neptun eine gute Rückfahrt beschere.« Josef glaubte, der Kaiser
spaße, und er wollte schon lächeln; aber der Kaiser schaute so
ernst darein, beinahe trüb, daß ihm das Lächeln verging.
Bei Tafel indes gab sich der
Kaiser wieder besonders leutselig. Er sprach von Josefs Schrift
gegen Apion. Dieses Buch beweise, daß Josef endlich losgekommen sei
von der verlogenen, vornehm weltbürgerlichen Objektivität gegenüber
seinem eigenen Volke. »Natürlich«, erklärte er, »ist alles, was Sie
für Ihre Juden vorbringen, genauso unbewiesen und subjektiv wie
das, was Ihre verhaßten Griechen und Ägypter gegen die gleichen
Juden anführen. Trotzdem beglückwünsche ich Sie zu diesem Buch.
Ihre früheren Ideen von Verschmelzung und Weltbürgertum, das ist
lauter Nebel und Unsinn. Ich, der Kaiser Domitian, liebe mir einen
gesunden Nationalismus.« Obwohl ihm die herablassenden Äußerungen
des Kaisers eher Beschimpfung als Lob schienen, hörte sie Josef mit
Freude. Es erleichterte ihn, daß ihm der Kaiser von seinen Büchern
sprach und nicht mehr von seinem Sohn.
Auch nach Tische sprach Domitian
von Literatur. Auf dem Sofa lag er, faul, und gab seine Ansichten
zum besten. Josef wartete nervös, was wohl der Kaiser von ihm
wolle; er sagte sich, jetzt habe er so lange gewartet, so werde er
wohl noch eine Stunde länger warten können, doch er wurde immer
flakkeriger. Dann, endlich, unvermittelt, verlangte Domitian, daß
ihm Josef nochmals jene Ode an den Mut aufsage.
Josef erschrak tief. Nun also war
es klar, daß ihn der Kaiser gerufen hatte, um sich an ihm zu rächen
für jene Tollkühnheit. »Sie verstehen, mein Josephus«, erklärte der
Kaiser, »ich war damals nicht darauf vorbereitet, daß Sie Verse
lesen würden. Die Verse sind auch etwas fremdartig, und ich habe
sie das erstemal nicht ganz aufnehmen können. Ich wäre Ihnen also
dankbar, wenn ich sie nochmals hören dürfte.« Aber alles in Josef
sträubte sich gegen dieses Ansinnen. Was immer dieser Römer mit ihm
vorhatte, ihm selber, Josef, war nicht danach zumute, jetzt jene
Verse herzusagen. Heute spürte er sie nicht, heute schienen sie ihm
fremd, und er fand es unwürdig, eine Rolle zu spielen in der Posse,
die sich dieser böse Mann mit ihm machen wollte. »Eure Majestät«,
erwiderte er also, »haben mir damals sichtbar gezeigt, daß Ihnen
meine Ode vom Mut nicht gefiel. Warum also sollte ich das Ohr der
Majestät nochmals belästigen?« Doch Domitian ließ nicht ab. Er
hatte sich vorgenommen, die frechen Worte aus dem Munde dieses
Jahveknechtes noch einmal zu hören; es war die Kriegsansage Jahves
gegen ihn, und er wollte genau wissen, wie ihr Wortlaut war.
Ungeduldig, eigensinnig befahl er: »Sag mir die Verse
auf!«
Josef mußte nun wohl gehorchen.
Er sagte die Verse her, grimmig und doch ohne Schwung und
ungläubigen Herzens, es waren ihm Worte ohne Inhalt.
»Darum sag ich:
Heil dem Manne, der den Tod auf sich
nimmt,
Sein Wort zu sagen, weil das Herz ihn drängt ...
Darum sag ich:
Heil dem Manne, den du nicht zwingen kannst,
Zu sagen, was nicht ist.«
Er sah den Blick des Kaisers auf sich
gerichtet, es war ein forschender, nachdenklicher, böser Blick; er
wollte ihm auswei chen, aber da sah er sein eigenes Gesicht in der
spiegelnden Verkleidung der Wände, überall sah er sein eigenes
Gesicht und das des Kaisers, des Kaisers Augen und den eigenen
Mund, sich öffnend und schließend. Er kam sich komödiantisch vor,
und der Inhalt seines Psalms vom Mut kam ihm komödiantisch vor.
Wozu sagen wollen, was ist, vor einer Welt, die das doch nicht
hören will? Seit Jahrtausenden haben Männer der Welt gesagt, was
ist, und sie haben nichts geändert, sie haben nur Unglück über sich
selber heraufbeschworen.
Domitian hörte bis zu Ende sehr
aufmerksam zu. Träumerisch wiederholte er: »›Heil dem Manne, der
sagt, was ist.‹ Wieso: Heil ihm? Die Götter offenbaren das, was
ist, allerhöchstens in Mysterien, sie wünschen also keineswegs, daß
man es immer und allen sage. Was du in deinen Versen verkündest,
mein Lieber, das klingt ganz schön und interessant, aber wenn man
es genauer betrachtet, dann ist es aberwitziges Zeug.« Er beschaute
den Josef, als wäre der eines seiner gefangenen Tiere. »Seltsam«,
sagte er und schüttelte den Kopf, »daß jemand auf so verrenkte
Ideen kommt. ›Heil dem Manne, der sagt, was ist.‹« Und noch mehrere
Male, langsam, schüttelte er den Kopf.
»Du liebst also deinen Matthias?«
nahm er plötzlich das Gespräch von früher wieder auf. Der Psalm vom
Mut, Matthias : eine ungeheure Angst schnürte dem Josef das Herz.
»Ja, ich liebe ihn«, erwiderte er gepreßt. »Und du willst natürlich
hoch hinaus mit ihm?« fragte Domitian weiter. »Du bist ehrgeizig
für ihn? Du willst sehr viel aus ihm machen?« Josef erwiderte
behutsam: »Ich weiß, daß ich die Gnadenbeweise nicht verdient habe,
mit denen mich der Herr und Gott Domitian und seine Vorgänger
überhäuften. Aber mein Leben verlief in scharfem Auf und Ab. Das
möchte ich meinem Sohne ersparen. Was ich meinem Sohne hinterlassen
möchte, ist Sicherheit.« Und so war es; denn die Träume von Glanz
und Ruhm, die er für seinen Sohn Matthias geträumt hatte, waren in
dieser grausamen Minute von ihm abgefallen, er wollte ihn
zurückhaben, hier bei sich, um ihn so schnell wie möglich aus Rom
fortzubringen, nach Judäa, in Sicherheit und Frieden. Im Innern
schrie er zu seinem Gott, er möge ihm in diesem schweren Augenblick
Kraft geben, die rechten Worte zu finden und seinen Sohn zu
retten.
»Interessant, sehr interessant«,
antwortete mittlerweile der Kaiser. »Also das ist es, was du für
deinen Matthias ersehnst, Ruhe und Sicherheit. Aber findest du, daß
die Lehrzeit bei Hofe der beste Weg zu einem solchen Ziel
ist?«
Es traf den Josef ins innerste
Herz, daß der Feind sogleich seine schwache Stelle, sein
Verbrechen, herausgefunden hatte. Denn eben dadurch hatte er
gesündigt, daß er seinen Sohn auf diesen gefährlichen Pfad
hinausgestoßen hatte. Mühsam suchte er, was er entgegnen könnte.
»Der Kaiserin hat mein Junge gefallen«, fand er schließlich. »Hätte
ich nein sagen sollen, als die Herrin Lucia mich aufforderte, ihn
in ihren Dienst zu geben? Niemals hätte ich eine solche
Unehrerbietigkeit gewagt.« Doch Domitian hatte jetzt die schwache
Stelle seines Feindes, des Jahveknechtes, erspäht und ließ nicht
davon ab. »Wenn du es nicht selber gewollt hättest«, er klärte er
und hob tadelnd den Finger, in der spiegelnden Wandverkleidung aber
waren es viele Finger, »dann hättest du Mittel und Wege gefunden.
Du hast Ehrgeiz für ihn«, beharrte er, »sei ehrlich, gib es zu! Wie
hättest du ihn sonst in den Dienst der Kaiserin geschickt?« –
»Gewiß hat ein Vater Ehrgeiz für seinen Sohn«, räumte Josef ein,
und er fühlte sich schwach und leer.
»Siehst du«, sagte befriedigt
Domitian und wühlte weiter in der Wunde. »Du hast mir doch einmal
gesagt, du seiest aus dem Geschlecht des David. Da du selber
zugibst, Ehrgeiz für deinen Sohn zu haben, ist dir nie die Idee
gekommen, daß vielleicht er, dein Sohn, der Auserwählte sein
könnte, euer Messias?« Josef, die Lippen sehr blaß, die Kehle
trocken, antwortete: »Nein, daran hab ich nicht gedacht.«
Zuerst war es dem Domitian als
eine schwere Aufgabe erschienen, sich mit dem Juden
auseinanderzusetzen, als eine Aufgabe, die er nur auf sich
genommen, um sich vor Jahve zu rechtfertigen. Nun er aber das
Gesicht des Josef sah, dieses hagere, gepeinigte Gesicht, da war es
keine qualvolle Mühe mehr, sondern es packte ihn eine große, wilde,
grausame Lust, zu sehen, was der Mann nun tun wird, wie er sich
verhalten, wie sich sein Gesicht ändern, welche Worte er sprechen
wird, wenn er erfährt, was mit seinem Sohne geschehen ist. Des
Kaisers Augen sehnten sich danach, dies zu sehen, seine Ohren
sehnten sich danach, den Aufschrei des getroffenen, verhaßten
Feindes zu hören, der ihm ins Gesicht seine Frechheiten gesagt und
der seiner Lucia gefallen hatte.
Bedachtsam also, nachdenklich,
mit besonders sanfter Tücke die Worte wägend, sprach er weiter:
»Wenn du in deinem Sohne niemals den Gedanken geweckt hast, er
könnte der Auserwählte eures Jahve sein, dann hast du vielleicht
auf irgendeine andere Art seinen Ehrgeiz gestachelt, oder
vielleicht hat er dich mißverstanden, oder vielleicht auch hat euer
Gott ihm von Anfang an ein sehr ehrgeiziges Herz mit auf seinen Weg
gegeben.« Josef folgte des Kaiser Worten mit peinvoller
Gespanntheit. »Ich bin sehr töricht«, sagte er, »oder zumindest
habe ich heute einen schlechten Tag und ein fettes Hirn, und ich
verstehe die Worte Eurer Majestät nicht zu deuten.« Immer mit der
gleichen, unerbittlichen Sanftheit fuhr Domitian fort: »Auf alle
Fälle ist es gut, daß es gerade Ruhe und Sicherheit ist, was du vom
Himmel für deinen Matthias erbittest.« Josef, Herz und Stimme
geschnürt von Pein, flehte: »Ich wäre Eurer Majestät unendlich
dankbar, wenn Sie zu einem geängstigten Vater in so einfachen
Worten sprechen wollten, daß er es versteht.« – »Du bist sehr
ungeduldig«, tadelte Domitian, »du bist so ungeduldig, daß es gegen
den Anstand verstößt, den du deinem kaiserlichen Freunde schuldest.
Aber ich bin es gewöhnt, verzeihen zu müssen, gerade dir hab ich
oft Nachsicht geschenkt, mag es denn auch diesmal sein. Also höre,
du Ungestümer! Es ist dies: dein Matthias hat sich in ein höchst
ehrgeiziges Unternehmen eingelassen. Ich glaube, ich hoffe, ich seh
es deinem Gesicht an, ich bin überzeugt, du weißt nicht darum. Das
freut mich für dich. Es war nämlich ein sehr gefährliches
Unternehmen, und es ist ihm nicht geglückt. Es war leider auch ein
verbrecherisches Unternehmen.« – »Haben Sie Mitleid mit mir!«
flehte Josef ihn an, leise, doch voll letzter Qual. »Haben Sie
Mitleid mit mir, mein Herr und Gott Domitian! Was ist es mit meinem
Matthias? Sagen Sie es mir! Ich flehe Sie an!«
Domitian beschaute ihn mit der
ernsten, sachlichen Neu gier, mit der er die Tiere seiner Käfige
und die Pflanzen seiner Treibhäuser betrachtete. »Er hat die
Geschäfte der Kaiserin in Massilia verrichtet,« sagte er, »wie es
ihm aufgetragen war, er hat sie gut verrichtet, zu gut.« – »Und ist
er weg von Massilia«, fragte atemlos Josef, »oder wo ist er?« – »Er
hat sich eingeschifft«, antwortete der Kaiser. »Und wann wird er
zurückkehren?« drängte Josef. »Und wann werde ich ihn wiedersehen?«
Und da der Kaiser nur ein langsames, leises, bedauerndes Lächeln
hatte, vergaß Josef alle Ehrfurcht, es sprach aus ihm nur eine
ungeheure, sinnlose Angst, und: »Er wird also nicht zurückkehren?«
fragte er, die Augen starr auf dem Kaiser, und er ging ganz nahe an
ihn heran, ja er berührte das kaiserliche Gewand. Domitian, der
sonst die Berührung jedes Fremden verabscheute und darin die
schändlichste Verletzung aller Ehrfurcht sah, entzog sich ihm
sanft. »Du hast noch mehr Kinder, nicht?« sagte er. »Zeig jetzt,
mein Jude, daß deine Verse vom Mut mehr sind als bloße Worte!« –
»Ich habe nur einen Sohn gehabt, und er ist
nicht mehr.« Josef wiederholte sinnlos, beharrlich: »Er wird also
nicht zurückkehren?« Er stammelte so, daß man die Worte kaum
verstehen konnte, aber der Kaiser verstand sie doch, und er genoß
die Vernichtung des Gegners. »Es ist ihm ein Unglück zugestoßen«,
berichtete er mit freundlicher, bedauernder Stimme. »Er ist
gefallen. Er hat sich in ein knabenhaftes Wettspiel eingelassen mit
einem Schiffsjungen. Sie sind einen Mast hinaufgeklettert, scheint
es, und er ist gefallen. Sie haben ihn nicht retten können. Er hat
sich den Hals gebrochen.«
Josef stand da, seine Augen
hingen mit immer dem gleichen gespannten Ausdruck am Munde des
Kaisers. Der wartete auf einen Aufschrei, aber es kam keiner,
vielmehr erschlaffte plötzlich das Gesicht des Josef, und er begann
sonderbar zu malmen, den Mund zu öffnen und wieder zu schließen,
als mühte er sich zu sprechen und könne die Worte nicht
formen.
Domitian aber kostete seinen
Triumph ganz aus. Der ihm da gegenüberstand, das war ein Mann, den
die Götter geschlagen hatten, alle Götter, auch sein eigener, auch
sein Jahve. Er, Domitian, hatte also recht getan, er hatte eine
große Schlacht gegen den Gott Jahve gewonnen, mit dessen eigenen
Waffen, durch List, und dennoch auf faire, untadelige Art, so daß
ihm der Gott nichts vorwerfen und anhaben konnte. Vertraulich und
trotzdem sehr deutlich, jedes seiner Worte genießend, sprach er
weiter: »Du magst es wissen, mein Josephus. Es war kein Zufall, daß
dein Sohn Matthias verunglückt ist. Es war eine Strafe. Aber ich
bin nicht rachsüchtig, ich bin milde, und nun er aus der Welt ist,
trag ich ihm nichts mehr nach. Darum auch soll es niemand erfahren,
daß es ein Verbrechen war, um dessentwillen er hat sterben müssen.
Alle Welt soll glauben, er sei verunglückt, dein schöner, junger
und liebenswerter Sohn Flavius Matthias. Und damit du siehst, daß
ich dir wohlwill, höre weiter: er soll eine Bestattung haben, als
wäre er wirklich der Auserwählte gewesen, eine prinzliche
Bestattung, als wäre euer König David ein Römer gewesen.«
Allein es war dem Kaiser nicht
vergönnt, zu beobachten, welchen Eindruck sein Stolz und seine
Großmut auf seinen Gegner machten. Denn offensichtlich nahm Josef
seine milden und erhabenen Worte gar nicht mehr auf. Vielmehr
starrte er den Kaiser mit leerem, blödem Blicke an, sein Mund
malmte noch immer, und dann, jäh, sackte er zusammen.
Domitian aber hatte noch mehr zu
sagen, er konnte es nicht im Busen bewahren, und da er es dem
hörenden Josef nicht mehr sagen konnte, sagte er es dem
bewußtlosen. »Deine Doktoren«, sagte er ihm, »haben mir erklärt,
der Tag werde kommen. Aber zu meinen und deinen Lebzeiten
jedenfalls, mein Josephus, wird er nicht kommen, der
Tag.«
Eines Abends bald nach dieser Unterredung mit
dem Kaiser traf im Hause des Josef ein kleiner, schwarzer,
feierlicher Zug ein. Er überbrachte die Leiche des Flavius
Matthias, verunglückt in Diensten der Kaiserin durch einen Sturz an
Bord der Jacht »Blaue Möwe«. Die Kunst der Leichenbehandlung war
hoch entwickelt in der Stadt Rom, und Domitian hatte die besten
Künstler dieses Faches berufen. Mit Salben, Spezereien und wohl
auch mit Schminke hatten es diese zuwege gebracht, daß der Körper,
den man im Hause des Josef ablieferte, schön aussah und so gut wie
unversehrt. Jünglingshaft, das glänzende, schwarze Haar sorglich
frisiert, lag der knochige Kopf, gleich und dennoch verändert, denn
er hatte alles Leben aus den Augen erhalten, und diese Augen waren
geschlossen. Und wenn der schöne Kopf seines Jungen, als Josef ihn
zum letztenmal lebendig gesehen, auf einem sehr kindlichen Hals
gesessen war, so trat jetzt der Kehlkopf stärker und männlicher
heraus.
Josef stürzte mit eigener Hand
die Möbel um im Zimmer seines Sohnes und bahrte den Heimgekehrten
auf. Da saß er bei dem spärlichen Licht einer einsamen Öllampe, und
auf dem umgestürzten Bett lag der Knabe.
Josef war ein bequemer Mann
geworden in seinem Glück, ein Mann, der Angst hatte vor seinen
eigenen Tiefen und Scheu, sich mit sich selber auseinanderzusetzen.
Jetzt waren alle seine Tiefen aufgerissen, sein Inneres schrie ihn
an, es gab kein Ausweichen. Beim Tod seines Sohnes Simeon-Janiki
hatte er hin und her geschwankt zwischen den verschiedensten
Gefühlen, in ihm war Jammer gewesen, Reue, Selbstanklage, doch auch
Selbstrechtfertigung und Empörung gegen Gott und die Welt. Jetzt,
an der Leiche seines Sohnes Matthias, spürte er nur eines: Ekel, Haß gegen sich selber.
Er haßte nicht den Kaiser. Der
hatte einen Jüngling beseitigt, den er für einen Prätendenten
gehalten, das war sein kaiserliches Recht. Er war sogar
rücksichtsvoll vorgegangen. Er hätte die Leiche verschwinden
lassen, er hätte sie der See und den Fischen überlassen können, und
sein toter Sohn, treibend in den ruhelosen Gewässern, das war eine
grauenvolle Vorstellung für Josef. Aber der Kaiser war mild
gewesen, er überließ ihm den Toten, er hatte ihn sogar für ihn
geschmückt und mit Wohlgerüchen angefüllt, der milde, der höchst
gütige Kaiser. Nein, hier ist nur einer, gegen den aller Haß, aller
Abscheu sich kehren muß, das ist er selber, Josef Ben Matthias,
Flavius Josephus, der Narr, der Prahler, der alt, aber niemals
gescheit geworden ist und der seinen Sohn auf den Weg ins Verderben
gestoßen hat. Viel tiefer als damals beim Tod des SimeonJaniki ging
jetzt an der Leiche des Matthias Josefs innerer Zusammenbruch.
Diesmal gab es nichts zu drehen und zu deuteln, diesmal ruhten alle
Ursachen in ihm selber. Wenn er sich nicht aus schierem, geistigem
Hochmut dazu bekannt hätte, aus Davids Geschlecht zu stammen, dann
lebte Matthias noch. Wenn er ihn nicht aus purem, dummem Vaterstolz
zurückgehalten hätte, mit Mara nach Judäa zu gehen, dann lebte
Matthias noch. Wenn er ihn nicht aus reiner, äußerer Eitelkeit in
den Dienst der Lucia geschickt hätte, dann lebte Matthias noch. Es
waren sein Ehrgeiz, seine Eitelkeit, die den Matthias umgebracht
haben.
Ungeheuerlich, närrisch vermessen
hat er sich. Jenen Cäsarion, den der große Cäsar aus seinem Sohne
nicht hatte machen können, den hat er aus seinem Matthias machen
wollen, kleiner Affe eines großen Mannes, der er war. Alles, was er
je in seinem Leben unternommen, hat er aus Eitelkeit getan. Aus
Eitelkeit ist er nach Rom gegangen als junger Mann, aus Eitelkeit
hat er den Propheten gespielt und dem Vespasian sein Kaisertum
prophezeit, aus Eitelkeit hat er sich zum Geschichtsschreiber der
Flavier gemacht, aus geistigem Hochmut sich als Davidssproß
bekannt. Aus Eitelkeit hat er die verlogene, vornehm objektive
Universalgeschichte geschrieben, aus Eitelkeit die effektvoll
glühende Verteidigungsschrift gegen Apion. Und jetzt hat er aus
Eitelkeit seinen Sohn Matthias umgebracht.
Wie Jakob den Knaben Josef, so
hat er diesen Knaben Matthias geliebt, mit närrischer Vaterliebe.
Und wie Jakob dem Knaben Josef den glänzenden Leibrock geschenkt
und so den Neid der Brüder gegen ihn wachgerufen hat, so hat er
seinen Matthias eingehüllt in sträflichen Glanz. Und wie dem Jakob
gemeldet wurde: »Zerrissen, zerrissen ist dein Sohn Josef«, so hat
ihm der Feind mitgeteilt: »Umgekommen ist dein lieber Sohn.« An dem
Erzvater Jakob indes war kein Fehler außer seiner närrischen Liebe,
er aber, Josef Ben Matthias, ist über und über bedreckt mit Sünde.
Und wenn jener Knabe Josef noch am Leben war, wenn auch verlassen
und in einem tiefen Brunnen, sein Matthias liegt da, tot, wächsern
und geschminkt, der Kehlkopf sticht heraus, kein Lebenshauch hebt
und senkt ihn, und keine Hoffnung ist, daß er gerettet
werde.
Die Nacht verging, eine kurze
Sommernacht, und mit dem Morgen kamen zahllose den toten Flavius
Matthias noch einmal begrüßen. Man wußte, daß der Kaiser
persönlichen Anteil nahm an dem Unglücksfall, der den Günstling
seiner Lucia weggerafft hatte, romantische Geschichten waren im
Umlauf über sein Leben und sein Ende, man sprach viel von der
Schönheit und dem Glanz des Jünglings. So schritt ein endloser Zug
von Menschen durch den Raum mit den umgestürzten Möbeln, in dem der
tote Matthias lag. Teilnehmende, Neugierige, Ehrgeizige. Sie kamen,
um keine Gelegenheit zu versäumen, sich dem Kaiser gefällig zu
erweisen, sie kamen, um die Leiche zu sehen, um Trauer zu bekunden,
um Beileid auszusprechen. Ganz Rom defilierte an der Leiche vorbei.
Josef aber hielt sich fern, eingesperrt im innersten Raum seines
Hauses, auf der Erde hockend, bloßfüßig, mit wildwachsendem Haar
und zerrissenem Kleid.
Es kamen Marull und Claudius
Regin, es kam der uralte Cajus Barzaarone, und er dachte, wie bald
er so liegen werde, es kam der Senator Messalin, und er stand lange
Zeit mit höflich teilnahmsvollem Gesicht bei der Leiche, und
niemand konnte lesen, was in ihm war, es kam auch der Pfauenwärter
Amphion, und er heulte laut heraus, und es kam das Mädchen
Caecilia. Auch sie ließ sich gehen, sie weinte über ihr ganzes,
helles, glattes Gesicht, sie bereute, daß sie den Matthias so
albern getriezt und daß sie sich gewehrt und alles erst auf seine
Rückkehr verschoben hatte.
Es kamen auch die beiden Prinzen,
Constans und Petron oder vielmehr Vespasian und Domitian, wie sie
jetzt hießen. Sie standen an der Leiche, ernst, mit ihrem
Hofmeister Quintilian. Man hatte ihnen Platz gemacht; doch hinter
ihnen warteten unzählige, die Straße war verstopft mit Leuten, die
den Toten noch sehen wollten. Aber die Zwillinge beeilten sich
nicht, und selbst als Quintilian mit sehr höflichen Worten drängte,
rührten sie sich nicht fort. Sie schauten auf das tote Antlitz
ihres sehr geliebten Freundes. Sie waren an Tod gewöhnt, so jung
sie waren, sie hatten viele sterben sehen, und nur wenige eines
ruhigen Todes im Bett. Ihr Vater war auf blutige Art umgekommen,
ebenso ihr Großvater und ihr Onkel, und so still und friedlich
dieser ihr Freund Matthias dalag, sie ahnten, und in ihrem Innern
wußten sie, auch ihn hatte eine Hand hinuntergestoßen, die sie gut
kannten. Dies alles bedachten sie, wie sie so an dem umgestürzten
Bett standen, sie jammerten nicht, sie sahen sehr reif und
erwachsen aus, und abgesehen davon, daß sie nicht wegzubringen
waren, hatte sich Quintilian über nichts in ihrer Haltung zu
beklagen. Erst ganz zuletzt, bevor sie gingen, konnte sich der
jüngere nicht enthalten, eine kindische und tadelnswerte Handlung
zu begehen. Aus dem Ärmel seiner Toga zog er eine Pfauenfeder, und
er gab sie dem Toten in die Hand, damit er, wenn er bei den Untern
sein wird, etwas habe, sich daran zu erfreuen.
Die Juden der Stadt Rom erschreckte das
Unglück, das Josef getroffen hatte; doch mischte sich ihrem Schreck
eine kleine Genugtuung bei. Was jetzt den Josef niederwarf, das war
eine verdiente Züchtigung Jahves. Sie hatten gewarnt; es war nicht
gut, daß einer so frech hinauflangte und so hoch prahlte wie dieser
Josef. Er hatte sich große Verdienste um sie erworben, aber er
hatte ihnen auch großes Leid zugefügt, er war ein zweideutiger,
gefährlicher Mann, er war ihnen fremd und unheimlich, und demütig
priesen sie den gerechten Gott, der ihn auf solche Art warnte und
in seine Grenzen zurückscheuchte.
Sie bezeigten Trauer und
Teilnahme, wie es das Gesetz vorschrieb, sie schickten ihm in
weidengeflochtenen Körben das Linsengericht der Trauer. Sie kamen,
ihn zu trösten, aber es war ihnen recht, daß er sich nicht sehen
ließ. Auch dies war eine Strafe Jahves, daß es ihm sein Hochmut
verbot, Trost entgegenzunehmen.
Diesen ganzen Tag, da Rom
vorbeizog an der Leiche seines Sohnes, blieb Josef eingeschlossen
und sah niemand, weder Juden noch Römer. Es war ein sehr langer
Tag, und er sehnte sich nach der Nacht, da er den Knaben wieder für
sich allein haben wird. Doch gegen Abend stellte sich jemand ein,
den er sehen mußte, des Kaisers Erster Kurier, ein Beamter der
höchsten Rangklasse, und er begehrte den Josef zu sprechen, im
Namen des Kaisers.
Der Herr und Gott Domitian
wünschte, dem Flavius Matthias, der umgekommen war auf einer Reise
in Diensten der Kaiserin, eine höchst ehrenvolle Bestattung zu
bereiten. Er wollte ihm einen Scheiterhaufen errichten, als wäre er
aus des Kaisers eigener Familie.
So geübt der Kurier war,
Botschaften des Kaisers in geziemender Form zu bestellen, diesmal
fiel es ihm nicht leicht, so verblüfft war er über den Anblick
dieses Flavius Josephus. Er hatte ihn gesehen vor wenigen Tagen,
damals, als ihn der Kaiser auf den Palatin beschieden hatte. Da war
er ein Mann in guten Jahren gewesen, glänzend, einer, der in der
Residenz gute Figur machte. Und jetzt stand vor ihm ein
verdreckter, unrasierter, zerlumpter, alter Jude.
Ja, Josef stand da, verwahrlost
und vergreist, und er fand auch keine Worte. Denn hin und her
gerissen war er. Was ihm der Feind da antat, das war der frechste,
greulichste Hohn, der sich denken ließ. Gleichzeitig aber auch
stieg in Josef die Vorstellung hoch, eine solche großartige
Bestattung sei Matthias, dem glanzliebenden, nur angemessen, und
sein lieber Sohn würde es ihm nicht verzeihen, wenn er eine solche
Ehrung ausschlüge. Er schwieg also lange, und als ihn schließlich
der Beamte ehrerbietig fragte, was er nun dem Kaiser berichten
solle, da antwortete er in vagen Sätzen, die kein Ja und kein Nein
waren. Betreten stand der Kurier. Was war das für ein Mensch? Er
erdreistete sich, sich zu bedenken, wenn ihm der Herr und Gott
Domitian eine Ehre zudachte, wie er sie noch keinem erwiesen hatte.
Allein gerade weil der Kaiser ihm diese ungeheure Ehre bereiten
wollte, wagte der Höfling nicht, ihn zu bedrängen, und er zog sich
unbehaglich zurück und voll von Zweifeln, ob nicht der Kaiser
seinen Ärger über das sonderbare Verhalten des Mannes an ihm
auslassen werde.
Josef, allein, fand nicht den
rechten Weg. Die Stimmen seines Innern widersprachen sich. Bald war
er entschlossen, das Angebot des Kaisers anzunehmen. Dann wieder
sagte er sich, er selber gebe dadurch dem Römer recht und verleugne
seine Idee. Dann wieder sah er das tote Antlitz seines Knaben, und
ihm war, als sehnte sich Matthias nach dem großen, ehrenvollen
Feuer, das sein letztes Bild vor den Augen aller Welt bestrahlen
sollte. Er fand keine Lösung.
Am andern Tag ließ er die
vertrautesten unter seinen Freunden vor, Claudius Regin und Johann
von Gischala. Er hockte auf der Erde, das Haar verwildert, die Füße
bloß, das Kleid zerrissen, den Verstand getrübt, die Seele
vernichtet, und bei ihm saßen die Freunde. War er die Nacht vorher
Jakob gewesen, der um seinen Lieblingssohn trauerte, so war er
jetzt Hiob, den zu trösten die Freunde kamen. Aber es war gut, daß
sich ihr Trost auf sachlichen Rat erstreckte; Beileid,
unverschämtes Mitleid hätte er kaum ertragen.
So sprach man denn nur über jenes
äußere Problem, das noch heute gelöst werden mußte, über die Frage
der Bestattung. Was sollte Josef tun? Wenn er das Angebot des
Kaisers annahm, verstieß er gegen ein Grundgesetz der Doktoren. Von
ihren Urvätern her, seitdem Abraham, Isaak und Jakob begraben
worden waren in der Höhle Machpela, war es den Juden verboten, sich
anders zu ihren Vätern zu versammeln als auf dem Weg durch die
Erde, und es schien dem Josef eine Herausforderung an sein eigenes
Volk, wenn er seinen Sohn durch Feuer bestatten ließ. Wenn er ihn
aber auf jüdische Art begrub und den Scheiterhaufen des Kaisers
ablehnte, zog er dann nicht den Zorn des Kaisers auf sich herab,
und nicht nur auf sich allein?
Es sprach Claudius Regin, der
Mann der Wirklichkeit. »Ein Toter ist ein Toter«, sagte er, »und ob
man ihn verbrennt oder begräbt, er spürt es nicht. Feuer oder Erde,
ihm tut das eine so wenig Harm wie das andere, und ihm gibt das
eine wie das andere so wenig Freude wie die Pfauenfeder, die der
junge, nette Prinz ihm zugesteckt hat. Ich kann mir auch nicht
vorstellen, daß seine Seele Augen hat oder eine Haut, es zu sehen
oder zu spüren, auf welche Art man ihn bestattet. Was aber Ihre
weiteren Bedenken anlangt, so sind das Sentimentalitäten. Ich bin
kein Jude; vielleicht kann ich gerade darum genau abschätzen, wo
die Vorteile und die Nachteile für Ihr Volk liegen. Lassen Sie mich
Ihnen also sagen, daß dieses Ihr Volk es teuer zu bezahlen hätte,
zumindest mit einem großen Gewinnentgang, wenn Sie auf seinen
Aberglauben und seine Dummheit Rücksicht nähmen. Gerade die
Rücksicht auf den wahren Vorteil der Judenfreiheit erfordert es,
daß Sie DDDs Angebot annehmen. Denn der Glanz dieses
Scheiterhaufens wird die ganze Judenheit bestrahlen, und die
Judenheit, die in diesen letzten Zeiten ins Dunkel geraten ist, hat
solchen Glanz sehr nötig.« »Das hat sie«, sagte Johann von Gischala
und richtete die grauen, verschmitzten Augen auf Josef. »Und was
Ihre sonstigen Bedenken anlangt, Doktor Josef, so bin ich kein
Gelehrter wie Sie und weiß nicht, ob einer nach dem Tode etwas
spürt oder nicht. Ich sage da in meinem Innern weder ja noch nein.
Aber wenn Ihr Matthias da, wo er jetzt ist, etwas spüren sollte,
dann wäre es ihm bestimmt recht, wenn das Feuer, in dem sein Leib
verbrennt, die ganze Judenheit wärmte. Und überdies glaube ich«,
und jetzt wurden seine Augen noch pfiffig-freundlicher, »würde er
sich auch sonst freuen an dem Glanz eines solchen großen Feuers.
Denn er liebte den Glanz.«
Den Josef bewegte, was die beiden
da sagten. Der Glanz, den ihm der Kaiser anbot, war zum Vorteil der
Judenheit, und er konnte das Gedächtnis seines Sohnes nicht besser
ehren als durch diesen Glanz. Trotzdem sträubte sich alles in ihm
gegen Domitians Scheiterhaufen. Sein Matthias war nun einmal kein
Römer; nur dadurch, daß man ihn zum Römer hatte machen wollen, war
er umgekommen.
Da stieg ein kühner Gedanke in
ihm auf. Der Kaiser wollte den Toten ehren, also fühlte er sich
schuldig. Wenn er aber den Toten ehren wollte, dann sollte er es
nicht tun in seinem eigenen, sondern in des Toten Sinne. Matthias
sollte in judäischer Erde begraben liegen, wie das jedem Juden
ziemte, und dennoch sollte von seiner Bestattung der Glanz
ausgehen, den der Kaiser ihr zugedacht hatte. Josef wollte selber
seinen Toten nach Judäa bringen, und der Kaiser sollte ihm dazu die
Mittel liefern. Er sollte ihm eines seiner schnellen Schiffe für
diesen Zweck zur Verfügung stellen, eine Liburna, eines jener
schmalen Kriegsschiffe, die mit ausgesuchten Ruderern bemannt
waren. So wollte Josef seinen Sohn nach Judäa bringen, und dort
wollte er ihn begraben.
Das sagte er den Freunden. Die
schauten ihn an, und sie schauten einander an, und sie sagten
nichts.
Da sagte Josef, und seine Stimme
war voll von Grimm und Herausforderung: »Sie, mein Claudius Regin,
wären der gegebene Mann, dem Kaiser meine Forderung zu überbringen.
Wollen Sie es?« – »Ich will es nicht«, antwortete Claudius Regin,
»es ist kein angenehmes Geschäft.« Doch da Josef auffahren und
etwas entgegnen wollte, fügte er hinzu: »Aber ich werde es dennoch
tun. Ich habe schon viele unangenehme Geschäfte in meinem Leben auf
mich genommen, aus Freundschaft. Sie waren nie ein bequemer Freund,
Doktor Josef«, grollte er.
Das Kriegsschiff »Der Rächer«, eine Liburna,
gehörte zur ersten Klasse der Schnellsegler. »Der Rächer« hatte
drei Reihen Ruderer, er war scharf und niedrig gebaut, leicht und
schnell, und schoß mit einem einzigen Ruderschlag zwei seiner
Längen vorwärts. Vierundneunzig solcher Schiffe besaß die
kaiserliche Marine. »Der Rächer« war nicht das größte, seine
Wasserverdrängung betrug nur hundertzehn Tonnen, seine Länge
vierundvierzig Meter, sein Tiefgang 1,7 Meter.
Hundertzweiundneunzig Rudersklaven bedienten ihn.
Man hatte in aller Eile und doch
sorgfältig alles zurechtgerichtet, was die Überführung der Leiche
erforderte, selbst einen Einbalsamierer hatte man mitgeschickt.
Aber es bedurfte seiner Dienste nicht, das Wetter war günstig, das
Schiff segelte mit gutem Wind, die Nächte waren kühl. Man konnte
die Leiche auf dem obern Deck aufbewahren, bei Tag schützte sie ein
Sonnendach.
Josef saß an der Seite der
Leiche, allein. Am liebsten waren ihm die Nächte. Wind ging, und er
fröstelte wohl bei der schnellen Fahrt. Der Himmel war tief, es war
nur ein schmaler Mond, das Wasser war schwarz mit Streifen
schwachen Glanzes. Und Josef saß bei der Leiche, und wie Wind und
Wellen kamen und gingen ihm die Gedanken.
Es war eine Flucht, und sein
Gegner, klug, wie er war, hatte ihm sein schnellstes Schiff
gegeben, auf daß er um so schneller fliehe. Schmählich, dreimal
schmählich flieht er aus der Stadt Rom, die er so frech und seines
Sieges gewiß betreten hat vor nunmehr dreißig Jahren. Ein
Menschenalter ist er in Rom gewesen, ein Menschenalter hat er
gekämpft, und immer wieder hat er geglaubt, jetzt habe er den Sieg
fest in der Hand. Und das also ist das Ende. Schimpflichste
Niederlage und Flucht. Geflohen, entronnen, entwichen,
davongelaufen, hastig, schmählich, auf dem Schiff, das ihm der
Feind gestellt mit höhnischer, höflicher Bereitwilligkeit. Da,
neben ihm, liegt, was er gerettet hat aus diesem Menschenalter voll
von Kämpfen: ein toter Knabe. Einen toten Sohn hat er gerettet, das
ist der Preis eines Menschenalters voll von Überhebungen, von
Selbstüberwindung, von Pein, Demütigung und falschem
Glanz.
Wie es fliegt, das Schiff, das
Schiff mit dem spöttischen Namen »Der Rächer«, das gute Schiff, das
schnelle: wie es übers Wasser tanzt! »Der Rächer«. Da hat also
Matthias das schnelle Schiff, das er sich gewünscht hat für die
Fahrt nach Judäa, ein schnelleres, großartigeres, als er sich’s je
geträumt. Ehre hatte sein Junge, große Ehre, im Tode wie im Leben.
Große Ehre tat ihm sein Freund an, der Kaiser. Für ihn, für seinen
Matthias, rührten sich, an ihre Bänke geschmiedet, diese Ruderer,
Tack, Schlag, Tack, Schlag, immerzu, für ihn hämmerte der Offizier
seinen Takt, für ihn blähten sich die kunstvoll geordneten Segel,
für ihn schoß das Schiff übers schwarze Wasser, des römischen
Kaisers bestes Schiff, eine Glanzleistung der
Schiffsbaukunst.
Warum das alles? Wer kann es
deuten? Auch dieser Matthias hat immer gefragt: warum? Mit seiner
tiefen, geliebten Stimme hat er es gefragt, kindlich, und
unwillkürlich ahmt Josef die tiefe, geliebte Stimme nach, und in
den Wind und in die Nacht hinein fragt er mit der Stimme des
Matthias: »Warum?«
Gibt es eine Antwort? Nur eine,
die Antwort der Doktoren, wenn man seinerzeit an ein wirklich
schwieriges Problem geriet. Hin und her diskutierte man und
schwatzte und prüfte und verwarf, und dann, wenn man in höchster
Gier auf die Lösung wartete, erwiderten sie: das bleibt Problem,
schwierig, nicht zu lösen, unentschieden, Kaschja.
Kaschja.
Und doch ist es nicht so. Und
doch gibt es eine Antwort. Einer hat die Antwort gefunden, vor ein
paar hundert Jahren, und sie können ihn nicht leiden um dieser
Antwort willen, und um dieser Antwort willen haben sie sein Buch
nicht aufnehmen wollen in den Kanon der Heiligen Schrift. Seine
Antwort heißt nicht: Kaschja. Seine Antwort ist klar und bestimmt,
es ist die richtige Antwort. Immer wenn Josef wirklich aufgerührt
wird, dann stößt er in seinen Tiefen auf die Antwort dieses alten
Weisen, des Predigers, des Kohelet, sie hat sich in seine Tiefen
gesenkt, und da ist sie nun, und es ist die rechte
Antwort.
»Ich habe erkannt, daß alles, was
Gott macht, so bleibt in Ewigkeit. Nichts kann man hinzutun, und
nichts kann man davon wegnehmen. Was ist, ist längst gewesen, und
was noch sein wird, ist längst gewesen. Und weiter sah ich, wie es
unter der Sonne zugeht: wo Milde sein sollte, war Bosheit, und wo
Gerechtigkeit sein sollte, Unrecht. Da dachte ich in meinem Herzen,
das ist von Gott der Menschen wegen so eingerichtet, damit sie
einsehen, daß sie nicht mehr wert sind als das Vieh. Denn es geht
dem Menschen wie dem Vieh, und sie haben ein Geschick. Wie dieses stirbt, so stirbt jener.
Einen Odem haben sie, und der Vorzug des Menschen vor dem Vieh ist
ein Nichts, und alles ist eitel. An einen
Ort geht alles: aus Staub ist es geworden, und es kehrt zurück in
den Staub. Wer will wissen, ob der Geist des Menschen in den Himmel
steigt und der des Viehs in die Tiefen der Erde?«
So hatte auch er selber gespürt,
so war’s aus seinen eigenen Tiefen heraufgestiegen, mit der
gleichen Gewißheit, wie es seinerzeit dem Kohelet heraufgestiegen
sein mochte, so hatte er’s gewußt, damals, als er an der Leiche
seines Sohnes SimeonJaniki gesessen war. Und dann, später, hatte
er’s nicht mehr wissen wollen und hatte sich dagegen empört und
hatte es vergessen. Jetzt aber hat ihn Jahve ein zweites Mal daran
erinnert, hart, höhnisch, grimmig, und ihn gezüchtigt, ihn, den
schlechten Schüler. Jetzt kann er sich’s einschreiben in sein Herz,
muß er sich’s einschreiben, zehnmal, zwanzigmal, wie es der große
Lehrer ihm befiehlt. »Alles ist eitel, alles ist Haschen nach
Wind.« Schreib dir’s ein, Josef Ben Matthias, schreib’s mit deinem
Blut, zehnmal, zwanzigmal, du, der du es nicht hast wahrhaben
wollen, du, der du den Kohelet hast verbessern wollen. Da bist du
hergegangen und hast danach getrachtet, den alten Weisen zu
widerlegen durch deine Taten und durch deine Werke, durch deinen
»Jüdischen Krieg« und deine Universalgeschichte und deinen »Apion«.
Und hier hockst du nun, hier auf dem Schiff, das über das nächtige
Meer fährt im schnellen Wind, und alles, was du noch besitzest,
trägst du mit dir: deinen toten Sohn. Wind, Wind, Haschen nach
Wind!
Der schmale Mond war höher
gestiegen, ein kleiner, blasser Glanz ging aus von dem magern,
geschminkten Gesicht des Matthias.
Und was soll er Mara sagen, wenn
er jetzt ein zweites Mal vor sie hintreten muß und ihr verkünden:
Der Sohn, den du mir anvertraut hast, ist tot?
Leise, den Mund kaum öffnend, in
den Nachtwind hinein, klagte er: »Wehe über meinen Sohn Matthias,
meinen gesegneten, meinen geschlagenen, meinen Lieblingssohn! Ein
großer Glanz war um meinen Sohn, und er war wohlgefällig vor allen
Menschen, und alle Menschen liebten ihn, die Heiden und die
Auserwählten. Ich aber habe ihn erfüllt mit Eitelkeit, und am Ende
habe ich ihn umgebracht aus Eitelkeit. Wehe, wehe über mich und
über dich, mein schöner, lieber, guter, glänzender, gesegneter,
geschlagener Sohn Matthias! Ich habe dir einen prunkenden Mantel
gegeben wie Jakob dem Josef, und ich habe dich ins Unheil geschickt
wie Jakob seinen Sohn Josef, an dem er hing mit zu großer,
äffischer, eitler Liebe. Wehe, wehe über mich und über dich, mein
lieber Sohn!«
Und er dachte an die Verse, die
er geschrieben hatte, an den Psalm des Weltbürgers und den Psalm
vom Ich und an den Psalm vom Glasbläser und an den Psalm vom Mut.
Und seine Verse schienen ihm leer, und sinnvoll schien ihm nur
eines, die Weisheit des Kohelet.
Aber was nützte ihm diese
Erkenntnis? Nichts nützte sie ihm, sein Schmerz wurde nicht
geringer davon. Und er heulte hinaus in den Wind, und sein Heulen
übertönte den Wind.
Den Offizieren, den Matrosen und
den Ruderern war der Mann unheimlich, der da seine Leiche übers
Meer fuhr. Es war ein widerwärtiges Geschäft, das ihnen der Kaiser
aufgetragen hatte. Sie fürchteten, der Jude sei den Göttern
verhaßt, sie fürchteten, die Götter würden Unheil heruntersenden
über ihr gutes Schiff. Sie waren froh, als die Küste von Judäa in
Sicht kam.
Als Lucia von dem Tod ihres Lieblings
Matthias erfuhr, bemühte sie sich, kalt und klar zu bleiben, sich
zu wehren gegen den Verdacht, der sogleich in ihr hochstieg. Zuerst
dachte sie daran, unverzüglich nach Rom zu fahren. Aber sie kannte
Josefs Maßlosigkeit; er wird sicherlich, ohne zu prüfen und zu
wägen, an Tücke und Verbrechen glauben, und sie wollte sich nicht
anstecken lassen von der Wildheit seiner Gefühle. Sie wollte ihre
Vernunft wahren, wollte sich, ehe sie etwas unternahm, ein
gerechtes Urteil bilden. Sie schrieb dem Josef einen Brief, voll
von Trauer, Mitleid, Freundschaft, Trost.
Doch der Kurier, der das
Schreiben überbringen sollte, kam zurück mit der Nachricht, Josef
sei auf See, um die Leiche des Knaben nach Judäa zu
überführen.
Es kränkte Lucia nicht, daß sich
der Mann in seinem Unglück, das doch auch das ihre war, nicht an
sie gewandt, daß er ihr nicht erlaubt hatte, daran teilzunehmen,
daß er nicht einmal ein Wort für sie hatte. Aber er schien ihr mit
einem Male fremd, dieser Mann, der sich ganz verströmen ließ, der
so gar kein Maß und keinen Rahmen kannte, dessen Unglück so
selbstsüchtig war wie sein Glück. Sie begriff nicht mehr, wie sie
sich diesen Maßlosen hatte so nahe kommen lassen. Das, was zwischen
ihnen gewesen war, hätte noch lange treiben und blühen können;
jetzt hatte er es zerschnitten durch die Art, wie er nach Judäa
aufgebrochen war. Er war ein Unseliger, unselig in seiner Jäheit,
er zog das Unglück an durch seine Wildheit und durch seine
Vorstellungen von Sünde. Beinahe war es ihr recht, daß er ihre
Beziehungen zerschnitten hatte.
Ob Domitian das Verbrechen
begangen, wagte sie nicht zu entscheiden. Sie war in Bajae, er in
Rom, sie wollte ihn nicht sehen, solange sie hin und her gerissen
war von Zweifeln, sie wollte ihm kein unüberlegtes Wort sagen, um
sich nicht die Möglichkeit zu verschütten, klarzusehen über seine
Schuld. Wenn er die Tat begangen haben sollte, dann wird sie
Matthias rächen.
Sie erhielt von Domitian ein
freundlich kühles Schreiben. Domitilla, teilte er ihr mit, habe nun
wirklich die jungen Prinzen eine lange Weile in Ruhe gelassen. So
sehe er sich zu seiner Freude in der Lage, Lucias Wunsch zu
erfüllen. Er habe den Gouverneur von Ostspanien beauftragt,
Domitilla ihre Begnadigung anzukündigen. Lucia werde also ihre
Freundin bald wieder in Rom begrüßen können.
Lucia atmete auf. Sie war froh,
Wäuchlein nicht vorschnell des Mordes an Matthias bezichtigt zu
haben.
Zwei Wochen später berichtete ihr
ihr Sekretär, als er ihr des Morgens die neu eingetroffenen
Nachrichten erzählte, daß die Prinzessin Domitilla auf elende Weise
umgekommen sei. Sie hatte auf ihrer Insel das Evangelium eines
gewissen gekreuzigten Christus verkündet, gemäß den Anschauungen
der Minäer, einer jüdischen Sekte. Sie hatte sich vor allem an die
Ureinwohner der Insel gewandt, es waren das aber halbzivilisierte
Iberer, in Wohnstätten lebend, die eher Höhlen wilder Tiere
gleichen als menschlichen Behausungen. Einmal, als sie mit ihrer
Zofe aus einer solchen Siedlung zurückkehrte, hatten welche aus dem
raubgierigen Gesindel den beiden Frauen aufgelauert, sie
überfallen, beraubt und erschlagen. Das war geschehen, als bereits
der Gouverneur von Ostspanien den Boten abgesandt hatte, der ihr
ihre Begnadigung mitteilen sollte. Der Kaiser hatte angeordnet, daß
aus dem Stamm, dem der Mörder angehörte, jeder zehnte gekreuzigt
werde.
Lucias helles, kühnes Gesicht
verfinsterte sich, als sie diese Nachricht hörte; zwei tiefe,
senkrechte Falten schnitten in ihre kindliche Stirn, ihre Wangen
fleckten sich vor Zorn. Sie unterbrach den Sekretär mitten im Wort.
Unverzüglich gab sie Befehl, ihre Abreise zu rüsten.
Sie wußte noch nicht, was sie tun
wird. Sie wußte nur, sie wird Domitian ihre ganze Wut ins Gesicht
schleudern. Sooft sie sich über ihn empört hatte, es war in ihr
immer etwas gewesen wie Achtung vor seiner wilden, strengen
Sonderart, niemals war die Liebe ganz erloschen, die sein Stolz,
seine Heftigkeit, sein Wahn, das Einmalige an ihm in ihr entzündet
hatten. Jetzt sah sie in ihm nur mehr das schlechthin Böse, das
reißende Tier. So gewiß er Domitilla umgebracht hatte, weil er ihr
ihre Begnadigung versprochen, so gewiß auch war es seine harte
Pranke gewesen, die den Knaben getroffen, den jungen, strahlenden,
unschuldigen. Oh, er wird wieder viele große, stolze Worte wissen
zu seiner Rechtfertigung! Aber diesmal wird er sie nicht dumm
reden. Er hat den Knaben umgebracht wegen des Guten, das in ihm
war, einfach, weil der Knabe so war, wie er war, vielleicht auch
nur deshalb, weil der Knabe ihr, Lucia, gefallen hatte. Und auch
Domitilla hatte er getötet, nur um sie, Lucia, zu treffen, so wie
ein böses Kind das Spielzeug zerstört, an dem ein anderer seine
Freude hat. Sie wird ihm das sagen, ins Gesicht; wenn sie es nicht
täte, erstickte sie an dem unausgesprochenen Wort. Ihre ganze Wut,
ihren ganzen Ekel wird sie ihm ins Gesicht schleudern.
Unverzüglich brach sie auf, nach Rom.
Solange er mit Josephus gesprochen, hatte
Domitian ein Gefühl tiefer Befriedigung gespürt. Auch als Josephus
seinen Vorschlag zurückgewiesen hatte, dem Knaben eine glänzende
Bestattung zu rüsten, hatte er nur gelächelt. Er nahm dem Josephus
die Frechheit nicht übel; sie bewies nur, daß er wirklich den
Gegner an seiner verwundbarsten Stelle getroffen hatte. Wie ihm
dann Claudius Regin die freche Bitte des Juden überbracht, war das
vielleicht der Gipfel seines Triumphs gewesen. Denn nun konnte er
sich obendrein noch großzügig zeigen und beweisen, daß, was er
getan, nicht gegen den Gott Jahve gerichtet war. Das Verbrechen des
Knaben Matthias hatte der Kaiser Domitian ahnden müssen; den
Liebling des Gottes Jahve ehrte er mit den höchsten Ehren. Und er
lächelte tief, froh und finster, als er erfuhr, daß von seinen
schnellen Schiffen gerade »Der Rächer« bereitlag, daß es »Der
Rächer« war, der den Josephus und seinen toten Sohn nach Judäa
brachte. Fahr hin, Josephus, mein Jude, fahre zu, auf meinem guten,
schnellen Schiff! Habt guten Wind, du und dein Sohn, fahrt hin,
fahrt zu! Geflohen, entwichen, davongelaufen, enteilt ist
Catilina.
Doch je weiter der Feind
enteilte, je weiter fort von Rom die Liburna »Der Rächer« war und
auf ihr der Tote und der Lebendige, so mehr fiel des Kaisers Freude
in sich zusammen. Er wurde gegen seine Gewohnheit träge, unlustig
allen Tuns. Nicht einmal zu der kleinen Reise nach Alba raffte er
sich auf, er blieb in dem heißen Rom.
Langsam stellten sich die alten
Zweifel wieder ein. Gewiß, er hatte recht daran getan, den Flavius
Matthias zu beseitigen; der hatte Hochverrat begangen, er, der
Kaiser, hatte nicht nur das Recht, er hatte die Pflicht gehabt, ihn
zu strafen. Aber sein Gegner, der Gott Jahve, ist ein gewitztes,
tückisches Wesen. Menschenwitz kann gegen ihn nicht an. Er wird
Gründe finden, gekränkt zu sein, daß der Römer seinen Davidssproß,
seinen Auserlesenen, hat wegraffen lassen. Er hat, Domitian, viele
gute Argumente für sich anzuführen. Aber wird der feindselige Gott
sie gelten lassen? Und jedermann weiß, wie rachsüchtig dieser Gott
Jahve ist und wie unheimlich, und wie seine Hand aus dem Dunkeln
trifft.
Was kann er ihm vorwerfen, dieser
Gott Jahve? Jahves Günstling, Jahves Gesandter, Josef, hatte ihm
frecherweise im Beisein von ganz Rom die niederträchtige Ode vom
Mut ins Gesicht geschleudert. Der gleiche Sendling Jahves hatte
Lucia veranlaßt, freundschaftliche Beziehungen mit ihm zu
unterhalten und ihn und seine Mission vor aller Augen auf
provokatorische Art auszuzeichnen. Aber es war nicht der Wille,
sich an diesen beiden zu rächen, der ihn, Domitian, zur Beseitigung
des Matthias veranlaßt hatte. Er hatte die beiden nicht treffen
wollen. Daß er sie hatte treffen müssen, war die übliche
Nebenerscheinung einer ihm leider von den Göttern auferlegten
heiligen Funktion. Nein, er grollte Josef nicht und auch nicht
Lucia; er hegte vielmehr geradezu freundschaftliche Gefühle. Es war
nicht etwa er, der ihnen Unheil zugefügt hatte, die Götter hatten
es getan, das Schicksal, und er, ihr Freund, hatte den ehrlichen
Willen, sie zu trösten.
Trotzdem blieb in ihm ein
heimliches Gefühl, es sei da eine Schuld, und wie es seine
Gewohnheit war, mühte er sich, diese etwa vorhandene Schuld von
sich abzuwälzen auf einen andern. Wo war die erste Ursache der Tat?
Es hatte damit begonnen, daß ihm Norban zwei Davidssprossen
vorgestellt hatte. Norban hatte das zu einem bestimmten Zweck
getan. Der Kaiser wußte nicht mehr, welche Absicht Norban damit
verfolgt hatte, aber soviel war sicher: Norban hatte ihm
absichtlich das erste Glied einer Kette in die Hand gedrückt, einer
Kette, deren letztes Glied eben der Tod des Knaben Matthias war.
Wenn also Schuld bestand, dann traf die Schuld den
Norban.
Sich diese Gedanken ganz
klarzumachen oder gar Folgen daraus zu ziehen, davor freilich
hütete sich Domitian. Wenn er vor seiner Schreibtafel saß und an
seinen Polizeiminister dachte, dann entstanden auf der Tafel immer
nur Kringel und Kreise und niemals Buchstaben oder gar Worte, und
diesen Kringeln und Kreisen entsprachen des Kaisers Gedanken. Wenn
er aber deutlich über den Norban sprach, vor andern oder vor sich
selber, dann sagte er immer nur, sein Norban, das sei der Treueste
der Treuen.
Als Lucia auf dem Palatin eintraf, hatte sich
Domitian in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und Auftrag
gegeben, ihn nicht zu stören. Doch Lucia bestand so heftig darauf,
ihn sogleich zu sehen, daß Hofmarschall Xanthias sie schließlich
trotzdem meldete. Er hatte Angst, der Kaiser werde zornig
ausbrechen, aber der blieb ruhig, ja er schien sich auf die
Begegnung zu freuen.
Domitian fürchtete natürlich,
Lucia werde ahnen, wie der Untergang des Matthias zustande gekommen
sei und der Tod der Domitilla. Aber sein Norban hatte sich wieder
einmal bewährt, er hatte gute Arbeit getan; es lagen einwandfreie
Zeugenaussagen vor sowohl über den Unglücksfall, der den Matthias
das Leben gekostet hatte, wie über die Ermordung der Domitilla
durch das iberische Höhlengesindel. Und wenn Domitian sich
äußerlich rechtfertigen konnte, so konnte er’s innerlich noch viel
besser. Matthias hatte zweifellos Hochverrat begangen, und die
Beseitigung der Domitilla war, gerade nach dem hochverräterischen
Brief, notwendig gewesen, wenn anders er die Seelen der Knaben
hatte schützen wollen.
Als er indes Lucia hereinstürmen
sah, groß, wild, empört bis in die Falten ihres Kleides, verließ
ihn gleichwohl seine Sicherheit. Immer wieder wurde er schwach vor
dieser Frau, auch heute fühlte er alle seine Argumente schmelzen.
Doch dauerte diese Schwäche nur den Bruchteil eines Augenblicks.
Dann war er wieder der Domitian, der er vorher gewesen, und mit
sanften, höflichen Worten sprach er ihr seine Betrübnis aus über
das Verhängnis, das ihm und ihr die beiden Freunde entrissen
habe.
Allein Lucia ließ ihn nicht zu
Ende reden. »Dieses Verhängnis«, sagte sie finster, »hat einen
Namen. Es heißt Domitian. Lügen Sie nicht, schweigen Sie, sagen Sie
nichts! Sie haben nicht Ihren Senat vor sich. Versuchen Sie nicht,
sich zu rechtfertigen! Es gibt keine Rechtfertigung. Ich glaube
Ihnen nichts, keinen Satz, kein Wort, keinen Hauch. Sich selber
mögen Sie etwas vorlügen, mir nicht. Und diesmal können Sie nicht
einmal sich selber dumm machen. Gemein, feig, niederträchtig haben
Sie gehandelt! Nur weil der Knabe Ihnen gefallen hat, darum haben
Sie ihn umgebracht; weil selbst Sie gesehen haben, wie unschuldig
er war und wieviel Reinheit von ihm ausging, und weil Sie so etwas
nicht in Ihrer Nähe ertragen können. Nichts war es als pure,
kleinliche Eifersucht. Und Domitilla! Sie selber haben gesagt, daß
sie Ihnen nichts getan hat. Pfui! Was für eine schmutzige Seele Sie
haben! Kommen Sie mir nicht näher, rühren Sie mich nicht an! Mich
ekelt vor mir selber, wenn ich daran denke, daß ich mich von Ihnen
habe beschlafen lassen.«
Domitian war gehorsam
zurückgewichen, er lehnte an seinem Schreibtisch, er schwitzte ein
wenig. »Es hat Ihnen aber doch gefallen, meine Lucia«, feixte er.
»Oder nicht? Ich wenigstens hatte ziemlich oft den Eindruck, es
habe Ihnen unverkennbar gefallen.« Jetzt indes zeigte Lucias
beredtes Gesicht unverkennbaren Ekel, und langsam wich das Feixen
aus Domitians überrötetem Antlitz, ja für einen Augenblick wurde er
erschreckend blaß. Dann aber, nicht ohne Mühe, stellte er das
Lächeln wieder her, und: »Der Junge muß Ihnen wirklich sehr nahe
gestanden haben«, überlegte er laut, mit höflicher, betrachtsamer
Ironie. »Und interessant, sehr interessant bleibt es auf alle
Fälle, was Sie mir da über die Geschichte unserer Beziehungen
eröffnet haben.«
»Ja«, antwortete Lucia, jetzt
viel ruhiger, und durch diese Ruhe klang ihre Bitterkeit noch viel
verächtlicher, »sie ist interessant, die Geschichte unserer
Beziehungen. Aber jetzt ist sie zu Ende. Ich habe mich von Ihnen
entführen lassen, ich habe Sie geliebt. Zehnmal, hundertmal haben
Sie Dinge getan, gegen die sich mein ganzes Wesen gesträubt hat,
und immer wieder hab ich mich von Ihnen überzeugen lassen. Jetzt
aber ist es aus, Wäuchlein«, und diesmal klang ihr »Wäuchlein« gar
nicht spaßhaft, sondern bitter und höhnisch. »Es ist aus«,
wiederholte sie, mit einem kleinen Ton auf dem »ist«. »Sie haben
mich oft beschwatzt, Sie sind zäh, das ist mir bekannt, und geben
einen Plan nicht leicht auf. Aber ich rate Ihnen, gewöhnen Sie sich
an den Gedanken, daß es zwischen uns aus ist. Meine Entschlüsse
kommen jäh, aber ich halte daran fest, Sie wissen es. An meinen
Worten kann man nicht deuteln wie an den Ihren. Ich gebe Ihnen den
Abschied, Domitian. Mich ekelt vor Ihnen. Ich bin fertig mit
Ihnen.«
Auf Domitians gerötetem Gesicht blieb, als
Lucia gegangen war, noch eine Weile das etwas verlegene, künstlich
ironische Feixen, hinter dem er seine Wut zu verbergen gesucht
hatte. Seine kurzsichtigen Augen starrten der Entschwundenen nach,
in seinen Ohren war noch der Hall ihrer Worte. Langsam dann
entspannte sich sein Gesicht, mechanisch pfiff er vor sich hin, die
Melodie jenes Couplets: »Auch ein Kahlkopf kann ein schönes Mädchen
haben, / Wenn er Geld genug dafür bezahlt.«
Dann setzte er sich an seinen
Schreibtisch, nahm den goldenen Griffel, kritzelte in die
Wachstafel, Kreise und Kringel, Kringel und Kreise. »Hm, hm«, sagte
er vor sich hin, »interessant, sehr interessant.« Sie verachtete
ihn also. Viele hatten erklärt, sie verachteten ihn, aber das waren
Worte gewesen, ohnmächtige Gesten; es war undenkbar, daß ein
Sterblicher ihn, den Herrn und Gott Domitian, verachtete. Lucia war
unter den Lebenden die einzige, der er’s glaubte.
Für einen Augenblick ließ er’s
sich ganz ins Bewußtsein dringen, daß sie also von ihm gegangen
war, daß sie einen Schnitt gemacht hatte zwischen sich und ihm.
Dieser Schnitt tat weh, die Kälte dieses Schnittes drang tief in
ihn ein. Dann aber wehrte er sich dagegen, reckte sich auf,
bedachte, daß ihre Worte endgültig waren und es also keinen Sinn
hatte, dieses endgültig Vergangene zu betrauern. Nur die Folgen
waren daraus zu ziehen.
Lucia hatte sich von ihm
losgesagt, sie hat sich aus seinem Schutz begeben. Sie war nicht
mehr die Frau, die zu ihm gehörte, nur mehr die Feindin, die
Hochverräterin. Sie hat ihn veranlassen wollen, Domitilla
zurückzurufen, wiewohl offenbar niemand besser wußte als sie, daß
diese Domitilla versuchen wird, verderblichen Einfluß auf seine
Söhne zu gewinnen. Schon das war Hochverrat. Dann hat sie überdies
mit Domitilla gezettelt, hat versucht, ihn zu betrügen, ihm ein
Wohlverhalten Domitillas vorzuspiegeln, damit diese dann um so
ungestörter aus der Nähe seine Söhne der Staatsreligion abspenstig
machen könne. Klarer Hochverrat. Lucia ist eine Verbrecherin, er
muß den Blitz schleudern.
Er blieb weiter in Rom.
Auch Lucia blieb in Rom, wiewohl
der August dieses Jahres ungewöhnlich heiß war. Vielleicht kehrte
sie deshalb nicht nach Bajae zurück, weil ihr das Haus und der
Garten verleidet waren, die voll waren von Erinnerungen an
Matthias.
Die Prinzen Vespasian und
Domitian machten ihr ihre Aufwartung in Begleitung ihres
Hofmeisters Quintilian. Die letzten Ereignisse hatten ihm guten
Anlaß gegeben, seinen Zöglingen stoische Gedankengänge
näherzubringen. »Gelassen wahr den Sinn dir in harter Zeit!« Aber
er hatte den Knaben nicht erst lange Vorhaltungen machen müssen,
sie waren still geworden, sie klagten nicht, ihre Gesichter waren
zugesperrt, streng. Sie waren Söhne der Domitilla mehr als des
Clemens, sie waren echte Flavier. Sie hatten erst eine kurze
Strecke ihres Weges zurückgelegt, doch dieser Weg war gesäumt mit
Toten. Jetzt vertrat Vaterstatt an ihnen ein Mann, der ihnen den
wahren Vater und wohl auch den Freund zu den Untern geschickt hatte
und die Mutter in die Verbannung. Sie mußten leben an der Seite
dieses Mannes und durften nur verstohlen und in halben Worten
miteinander reden über das, was ihnen am nächsten lag. Der Mann,
der sie Söhne nannte, war der mächtigste Mann der Welt, auf sie
selber wartete eine unausdenkbare Fülle von Macht. Sie aber waren
machtloser als die Leibeigenen in den Schächten der Bergwerke; denn
die durften reden, worüber sie wollten, die durften klagen, sie
aber, die Kaisersöhne, gingen umher in einer tiefern Finsternis als
die in den Bergwerken, und der höhnische Glanz um sie herum
verdeckte nur schlecht diese Finsternis, und kaum im Schlaf durften
sie die Maske ablegen, die zu tragen ihnen befohlen war.
Als sie erfahren hatten, daß
Lucia wieder in Rom sei, war ihnen das ein großer Trost. Aber nun
sie sie das erstemal sahen, lähmte sie die Gegenwart Quintilians.
Lucia erschrak, wie sehr sich die Knaben verändert hatten. So
schnell hatten sie sich verändert, hier auf dem Palatin. Alles hat
sich hier verändert, oder vielleicht auch hat bisher nur sie alles
falsch gesehen. Sie wußte nicht recht, was sie den Knaben sagen
könnte, peinvoll suchten alle drei nach Worten, der gewandte
Quintilian mußte oft über quälende Pausen hinweghelfen. Schließlich
ertrug es Lucia nicht länger. »Kommt her«, sagte sie, »seid keine
Männer! Sei du Constans, und du Petron, und weint um Matthias und
um eure Mutter!« Und sie umfaßte sie, und sie achteten nicht länger
auf die Gegenwart Quintilians und ergingen sich in süßen und
traurigen Erinnerungen an Matthias und in dunklen Worten des
Zornes.
Nach dieser Zusammenkunft hätte
Quintilian seine Zöglinge der Kaiserin am liebsten für immer
ferngehalten. Aber dagegen trotzten die Knaben auf. Domitian, der,
langsam wie immer, noch nicht schlüssig geworden war, wann er nun
den Blitz gegen Lucia schleudern sollte, wollte es noch nicht zu
einem offenen Bruch kommen lassen, und so wurde entschieden, daß
die Prinzen einmal alle sechs Tage Lucia sehen sollten.
Dumpf und gefährlich lebte man
dahin auf dem Palatin, und die schwere Schwüle dieses Sommers
machte alles noch schwerer erträglich.
Auch die Stadt spürte, daß sich
die Dinge zusammenballten um Domitian, und machte viel Gewese aus
den übeln Vorzeichen, die sich häuften. Einmal, in diesem
gewitterreichen Monat, schlug der Blitz in des Domitian
Schlafzimmer, einmal riß der Sturm die Inschrifttafel seiner
Triumphsäule fort. Die mißvergnügten Senatoren ließen es sich
angelegen sein, aus diesen Vorzeichen viel Wesens zu machen, und
mehrere angesehene Astrologen erklärten, der Kaiser werde den
nächsten Winter nicht erleben.
Domitian ließ den Blitz, der in
sein Schlafzimmer eingeschla gen, ordentlich begraben, wie es der
Brauch erforderte. Die Inschrift der Triumphsäule ließ er in den
Sockel einmeißeln, so daß sie kein Sturm mehr verwehen konnte.
Einen der Wahrsager ließ Norban festnehmen; er gestand auf der
Folter, er habe sich von einem der oppositionellen Senatoren
anstiften lassen, unter Mißbrauch seiner Kunst Unwahres zu
verkünden. Der Senator wurde verbannt, der Wahrsager
exekutiert.
Die Anhänglichkeit der Massen an
den Kaiser wurde durch diese übeln Vorzeichen nicht geringer. Sie
fühlten sich sicher unter seinem Regiment. Seine maßvolle
Außenpolitik zeigte ihre günstigen Folgen. Keine kostspielige
Kriegs- und Prestigepolitik zehrte am Wohlstand des Landes, die
Gouverneure wagten die Provinzen nur in relativ bescheidenem Maß
auszuplündern. Auch vergaß man nicht die großen Schenkungsfeste,
die Domitian veranstaltet hatte. Waren also die Massen zufrieden
mit seiner Regierung, so haßte man ihn unter den Hocharistokraten
und in der Schicht der sehr Reichen um so mehr. Man jammerte über
die verlorene Freiheit und das willkürliche, despotische Regiment,
und es gab Leute, denen es schwarz vor den Augen wurde, wenn sie
das verhaßte, hochfahrende Gesicht des Kaisers sahen.
Da war der alte Senator Corell.
Er litt seit seinem dreiunddreißigsten Jahr an Gicht.
Enthaltsamkeit hatte eine Weile sein Leiden gedämpft, in späteren
Jahren indes hatte die Krankheit den ganzen Körper ergriffen,
verkrümmt und entstellt, er litt unerträgliche Schmerzen. Er war
Stoiker, als mutiger Mann bekannt, seine Freunde wunderten sich,
daß er seinem Leiden kein Ende machte. »Wissen Sie«, erklärte er
einmal flüsternd seinem nächsten Freunde Secundus, »wissen Sie,
warum ich mich selbst überwinde und dieses grauenvolle Dasein
aushalte? Ich habe mir geschworen, diesen Hund Domitian zu
überleben.«
Domitian machte sich lustig über
die übeln Vorzeichen. Sie waren falsch gedeutet, sie besagten
nichts, man brauchte nur die Augen aufzumachen, um zu sehen, wie
glücklich sein Regiment war und wie der Wohlstand und die
Zufriedenheit des Volkes wuchsen. Aber er war zu sehr
Wirklichkeitsmensch, um nicht zu merken, daß trotzdem auch der Haß
rings um ihn wuchs. Und mit dem Haß wuchsen des Kaisers
Menschenfeindschaft und seine Angst.
Man war furchtbar allein, man war
ringsum verraten und verkauft. Nun war auch noch seine Minerva von
ihm gegangen, und zuletzt hatte selbst Lucia ihn verraten. Wer
eigentlich blieb ihm noch?
Er ließ die Gesichter seiner
Freunde, seiner Nächsten, an sich vorübergehen. Da waren Marull und
Regin. Aber sie sind wackelige Greise, und er weiß nicht einmal, ob
er, nach dem Tode des Matthias, ihrer ganz sicher sein kann. Folgt
Annius Bassus. Der ist jünger. Der ist durchaus verläßlich. Aber er
ist, der schlichte Soldat, der Dummkopf, nicht zu brauchen für
verflochtene Dinge, die feineres Verständnis erfordern. Und wenn
er, Domitian, sich der Lucia trotz ungeheurer Mühen nicht hat
verständlich machen können, wie sollte er sich diesem verständlich
machen? Käme Norban. Aber Norban hat sehr tief in ihn
hineingeschaut, tiefer, als man in den Herrn und Gott Domitian
hineinschauen darf, zu tief. Und überdies ist es Norban gewesen,
der ihm das erste Glied der gefährlichen Kette in die Hand gedrückt
hat. Norban ist der Treueste der Treuen, aber auch zwischen ihm und
Norban ist es aus.
Es bleibt in Wahrheit ein
einziger: Messalin. Welch eine Gnade, daß die Götter den Messalin
blind gemacht haben! Den toten Augen des Messalin kann der Herr und
Gott Domitian sein Gesicht zeigen, ohne Scheu, ohne Scham. Der
blinde Messalin darf wissen, was kein anderer wissen darf. Einer
wenigstens ist in der Welt, dem Domitian alles sagen kann, und er
muß nicht fürchten, daß er’s hinterher bereue.
Domitian saß in seinem
versperrten Arbeitskabinett, aber er war nicht allein, mit ihm, um
ihn waren seine Menschenfeindschaft und seine Angst. Warum war dies
alles? Warum war er so einsam? Warum war dieser Haß um ihn? Sein
Volk war glücklich, Rom war groß und mächtig, mächtiger,
glücklicher als je. Warum war dieser Haß um ihn?
Es gab nur einen Grund, die Feindschaft dieses Gottes Jahve. Er
ließ sich nicht versöhnen, dieser Gott. So klug er, der Kaiser,
sich vorgesehen hatte, sicher hatte der Gott Jahve mit seinem
östlichen Advokatenverstand trotzdem in den Ereignissen um den
Knaben Matthias etwas gefunden, was ihm einen Rechtstitel gab gegen
den römischen Kaiser. Sicher war es die Rache dieses Gottes Jahve,
was ihn nicht zur Ruhe kommen ließ.
Gab es denn kein Mittel, den
Grimm des Gottes zu versöhnen?
Es gab ein Mittel. Er wird dem
Gott den Mann opfern, der die Tötung des Knaben Matthias
angestiftet hat, den Mann, der ihm das erste Glied der Kette in die
Hand gedrückt hat, seinen Polizeiminister Norban. Das ist ein
großes Opfer, denn Norban ist der Treueste der Treuen.
Vor seiner Schreibtafel saß er.
Diesmal aber waren es keine Kringel und Kreise, die auf der
Schreibtafel entstanden, diesmal waren es Namen. Denn wenn er
seinen Norban zu den Untern schickt, dann sendet er ihn nicht
allein auf den dunkeln Weg, dann schickt er andere mit.
Langsam gräbt der Griffel ins
Wachs, säuberlich untereinander setzt er Namen auf Namen. Da ist
der gewisse Salvius, der es gewagt hat, den Gedächtnistag seines
toten Onkels zu feiern, des Kaisers Otho, des Flavierfeindes.
Genießerisch gräbt Domitians Griffel den Namen Salvius ins Wachs.
Da ist der Schriftsteller Didymus, der in seine vielgerühmte
Geschichte Kleinasiens Anspielungen eingestreut hat, die dem Kaiser
nicht gefallen. Er setzt den Namen auf seine Liste, und in Klammern
fügt er bei: »Auch den Verleger und die Schreiber.« Dann, und
diesen Namen schreibt er sehr schnell, folgt Norban. Mehrere
andere, gleichgültige, setzt er darunter. Dann, nach ganz kurzem
Schwanken, läßt er den Namen Nerva folgen. Das ist zwar ein
betagter Herr, nahe den Siebzig, auch maßvoll, vorsichtig, man kann
ihm nichts nachweisen; aber gerade weil er so ruhig und bedachtsam
ist, schart sich die Opposition um ihn. Domitian liest den Namen,
er macht gute Figur auf der Liste. Dann erst, langsam, sorgfältig,
in schlau ausgeführten Buchstaben schreibt er nieder den Namen
Lucia. Dann, da nicht dieser Name das Ende sein soll, läßt er
einige belanglose den Beschluß machen.
Er ist sehr vertieft gewesen in
seine Liste. Jetzt, da er sie zusammen hat, atmet er auf, schaut er
auf, ihm ist wie nach einem Sieg. Er erhebt sich, streckt sich,
lächelt, und von allen Seiten aus dem spiegelnden Wandbelag lächelt
Domitian ihm entgegen. Wenn der östliche Gott ein Argument gefunden
haben sollte, gegen ihn vorzugehen, jetzt hat der römische Kaiser
ihm diesen Vorwand wieder aus der Hand gewunden. Er hat dem Gott
seinen Norban geopfert. Jetzt muß sich der Gott zufriedengeben,
jetzt muß der Gott ihn in Ruhe lassen.
Am späten Nachmittag speiste
Domitian mit den beiden Prinzen. Sie waren allein; nicht einmal
Quintilian war da, er war bei einem Freunde, um einer Vorlesung
beizuwohnen. Die ganze Zeit über hatte sich der Kaiser auch vor den
Knaben grämlich und reizbar gegeben, heute aber, bei dieser
Mahlzeit, war ihr Vetter und Vater, der Herr und Gott Domitian,
guter Laune. Vergnügt unterhielt er sich mit den beiden. Die wußten
gar nicht, was alles sie ihm zu verdanken hatten, was alles er
getan hatte, um ihnen die Herrschaft leichter zu machen, die sie
erwartete.
Die Knaben saßen da mit ernsten
Gesichtern. Er aber wollte heute von ihrem Ernst und ihrer Trübsal
nichts merken. Gut, sie hatten in diesen letzten Wochen ihre Mutter
verloren. Aber was für eine dünne, dürre, machtlose,
halbwahnwitzige Mutter war das gewesen, und was für einen großen,
mächtigen, kaiserlichen, göttlichen Vater hatten sie in ihm, der
seinen Glanz und seinen Reichtum unter ihre Füße breitete. Sie
sollten nicht so dunkle Gesichter machen, und er mühte sich, seine
beiden jungen, allzu stillen Tischgenossen aufzumuntern. Nach wie
vor hatte er die Fähigkeit, auf eine finstere und gleichwohl
fesselnde Art skurril zu sein. Er nahm sich zusammen, er gab sich
besonders liebenswürdig, er sprach zu ihnen wie zu Kindern und
trotzdem wie zu Männern, er machte es ihnen leicht, höflich zu sein
und auf ihn einzugehen, und sie lächelten denn auch höflich zu
seinen Scherzen.
Nein, er war ganz und gar nicht
der Gott heute abend, er gab sich menschlich, kameradschaftlich. Er
erkundigte sich nach ihren kleinen Liebhabereien. Prinz Domitian
erzählte denn auch von der Pfauenzucht in Bajae; erst sehr
angeregt, dann aber, auf einen Blick seines Bruders, dachte auch er
an Matthias, wurde wortkarger, verstummte. Der Kaiser indes schien
es nicht zu merken, er machte sich eine Notiz auf seiner
Schreibtafel, und dann erzählte er von seinen eigenen kleinen
Launen und Schwächen. »Ich liebe es«, vertraute er ihnen an, »die
Menschen zu überraschen, im Guten wie im Bösen. Ich liebe die
langsamen Entschlüsse und die blitzhaft darauffolgende Tat. Eine
solche Überraschung laß ich mir manchmal viel Zeit und Mühe
kosten.« Der Knabe Vespasian sagte: »Und glücken sie immer, Ihre
Überraschungen, mein Herr und Vater?« – »Gewöhnlich glücken sie«,
antwortete Domitian. Der Knabe Domitian sagte: »Sie sprechen so,
mein Herr und Vater, als bereiteten Sie eine neue Überraschung
vor.« – »Vielleicht tu ich das«, erwiderte gutgelaunt und
schwatzhaft der Kaiser.
Beide Knaben schauten zu ihm auf,
in ihrem Blick war Furcht, Haß und Neugier; zugleich schienen sie
geschmeichelt, daß der Herr der Welt so kameradschaftlich mit ihnen
sprach. »Seht ihr«, fuhr der Kaiser fort, die Spannung ihrer jungen
Gesichter auskostend, »da wundert ihr euch, daß euer Vater euch so
ohne weiteres von den Überraschungen erzählt, die er vorbereitet.
Dabei ist, was ich tun werde, gar nicht so fernliegend. Wenn es
einmal getan ist, werden alle finden, es sei das Nächstliegende
gewesen. Und dennoch wird es kommen wie ein Delphin, der plötzlich
aus stillem Meer emporspringt.« Da faßte den älteren der beiden,
den Knaben Vespasian, ein düsterer Übermut, und er fragte: »Werden
an Ihrer Überraschung Menschen sterben müssen, mein Herr und
Vater?« Domitian schaute hoch, argwöhnisch, erstaunt über soviel
Dreistigkeit. Dann aber lachte er, hatte er doch durch seine
eigenen vertraulichen Reden die Frage herausgefordert, und, halb
spaßhaft, gab er Bescheid: »Wenn wir Götter spaßen, dann bekommt es
manchmal denen nicht gut, mit denen wir spaßen.«
Als sie von Domitian entlassen
waren, sagten sie einer zum andern: »Er sinnt auf einen neuen
Schlag, der Schlächter ... Es soll eine Überraschung sein, und doch
soll es naheliegen ... Wer bleibt noch, den er morden könnte? ...
Wir selber? ... Das wäre weder eine Überraschung, noch liegt es
nahe.«
Domitian hatte sich in sein
Schlafzimmer zurückgezogen, das pflegte er jetzt oft nach der
Mahlzeit zu tun, und die kaiserlichen Gemächer gehörten den Knaben.
Hatte der Kaiser sie nicht geradezu aufgefordert, seine
Überraschung herauszufinden? Sie glühten danach, herauszubekommen,
wen er nun morden wollte. Sie waren Flavier, sie waren tatenlustig,
sie waren rachsüchtig, sie waren tollkühn.
Sie gingen nach dem
Arbeitskabinett des Kaisers. Es war bewacht von einem Hauptmann und
zwei Soldaten. »Lassen Sie uns ein!« bat Prinz Vespasian. »Es geht
um eine Überraschung, es geht um eine Wette mit dem Kaiser. Wenn
der Kaiser sie verliert, dann wird er nur lachen. Und wenn wir die
Wette gewinnen, Hauptmann Corvin, dann werden wir es Ihnen nicht
vergessen, daß Sie uns eingelassen haben. Sie also können nur
gewinnen, Hauptmann Corvin.« Der Hauptmann zögerte. Er hatte den
Wachdienst bei Domitian nie geliebt, was man tat und was man ließ,
war gefährlich; die Offiziere der Leibgarde pflegten zu scherzen:
»Wer beim Kaiser Wache hat, tut gut, vorher den Göttern der
Unterwelt zu opfern.« Wenn er den Knaben den Eintritt verwehrte,
dann konnte das übel ausgehen; wenn er sie einließ, konnte das übel
ausgehen. Er ließ sie nicht ein.
Die Knaben waren Flavier, Söhne
der Domitilla. Widerstand machte sie nur hartnäckiger. Sie gingen
nach dem Schlafgemach des Kaisers.
Es war bewacht von einem
Hauptmann und zwei Soldaten. »Lassen Sie uns ein!« bat Prinz
Domitian. »Es geht um eine Überraschung, es geht um eine Wette mit
dem Kaiser. Wenn der Kaiser sie verliert, dann wird er nur lachen.
Und wenn wir die Wette gewinnen, Hauptmann Servius, dann werden wir
es Ihnen nicht vergessen, daß Sie uns eingelassen haben. Sie also
können nur gewinnen, Hauptmann Servius.« Der Hauptmann zögerte.
Wenn er den Knaben den Eintritt verwehrte, konnte das übel
ausgehen. Er ließ sie ein.
Domitian lag auf dem Rücken und
schlief halboffenen Mundes. Er atmete langsam, gleichmäßig, der
Kopf mit den sehr roten, gefältelten, durchäderten Lidern sah etwas
töricht aus, der Bauch wölbte sich stark nach oben. Der eine Arm
lag schlaff und tot auf der Seite, den andern hatte er über den
Kopf gebeugt. Die Knaben näherten sich auf Zehenspitzen. Wenn er
erwachte, dann würden sie sagen, wie es Wahrheit war: »Wir wollten
Ihre Überraschung herausbekommen, mein Herr und Vater
Domitian.«
Prinz Vespasian langte unter das
Kopfkissen. Er fand eine Schreibtafel, er und sein Bruder lasen die
Namen. »Hast du sie im Kopf?« flüsterte Prinz Vespasian. »Einige,
die wichtigsten«, antwortete Prinz Domitian. Der Schlafende machte
eine Bewegung, ein kleines Schnauben kam aus dem halboffenen Mund.
»Fort!« flüsterte Vespasian. Sie steckten die Schreibtafel wieder
unter das Kopfkissen, schlichen hinaus. Der Offizier atmete auf,
als er sie herauskommen sah. »Ich glaube, Sie haben Ihr Glück
gemacht, Hauptmann Servius«, sagte Prinz Domitian, er sprach
leutselig, aber doch grimmig, prinzlich.
»Hast du es gesehen?« fragte
Vespasian, »unten hat er hingeschrieben: ›Prinzen Pfauen.‹ Uns
wollte er nicht umbringen, uns wollte er Pfauen schenken.« Trotzdem
beschlossen sie, einer von ihnen sollte sogleich Lucia aufsuchen.
Vespasian übernahm es. Er erreichte sie, erzählte. Sie halste ihn,
küßte ihn, dankte ihm mit starken Worten. Es war die größte Stunde
seines Lebens.
Noch bevor die Sonne unterging, war Norban
bei Lucia. Er war etwas indigniert, daß ihn Lucia so dringlich und
geheimnisvoll aufgefordert hatte zu kommen. Was wird sie ihm schon
groß zu berichten haben? Alberne Liebesgeschichten
vermutlich.
Lucia erzählte ihm in dürren
Worten, was geschehen war. Der vierschrötige Mann zuckte nicht; er
hatte während ihrer ganzen Erzählung seine braunen Augen, die eines
bösen, treuen Wachhundes, nicht von ihr gewandt. Auch jetzt nicht
wandte er sie von ihr, er schwieg, er überlegte offenbar, er traute
ihr nicht.
Dann, statt aller Antwort, fragte
er sachlich, fast grob: »Sie hatten eine Auseinandersetzung mit dem
Herrn und Gott Domitian?« – »Ja«, erwiderte sie. »Ich hatte keine
mit ihm«, sagte er, und sein herausfordernder Ton verhehlte nicht
sein Mißtrauen. »Ich rede offen mit Ihnen, meine Herrin Lucia«,
fuhr er fort. »Sie haben Anlaß, mir feind zu sein, der Kaiser
nicht.« – »Aber vielleicht wissen Sie zuviel um ihn«, vermu tete
Lucia. »Das ist plausibel«, überlegte Norban. »Aber es gibt auch
viele andere Möglichkeiten. Es könnte zum Beispiel sein, daß Prinz
Vespasian in jugendlicher Phantasterei glaubt, es sei gar kein
Unglücksfall gewesen, der seinen Kameraden Matthias weggerafft hat
und seine Mutter, sondern böse Absicht des Kaisers.« – »Es ist
nicht ausgeschlossen«, gab ihrerseits Lucia zu, »daß Vespasian aus
solchen Gründen zu mir kam und daß er gelogen hat. Aber
wahrscheinlich ist es nicht. In Ihrem Innern, mein Norban, wissen
Sie so gut wie ich, daß Vespasian die Wahrheit sagt, daß Ihr Name
und meiner auf der Tafel waren, und Sie und ich und der Knabe
deuten richtig, was das heißen soll.«
»Am liebsten«, knurrte auf einmal
Norban heraus, »möchte ich diesem vorwitzigen Vespasian den Hals
umdrehen.« Die modischen Locken fielen ihm unordentlich, etwas
grotesk in die niedrige Stirn des vierschrötigen Gesichtes, er sah
unglücklich aus, ein böser, treuer Hund, dessen Welt in Stücke
gegangen ist. Lucia mußte in aller Wut, Trauer und besorgter
Geschäftigkeit beinahe lachen über den plumpen Zorn des bösen
Mannes. »So fest also hängen Sie an Wäuchlein«, sagte sie, »so aus
den Fugen gerissen sind Sie, weil er sich auch gegen Sie sichern
will?« – »Ich bin treu«, erklärte verbissen Norban weiter. »Der
Herr und Gott Domitian hat recht. Der Herr und Gott Domitian hat
immer recht. Selbst wenn er mich beseitigen lassen will, hat der
Herr und Gott Domitian sicher seine guten Gründe und hat recht. Und
diesen Vespasian werde ich es bezahlen machen!« wütete er. »Reden
Sie keinen Unsinn, mein Norban!« führte ihn Lucia in die
Wirklichkeit zurück. »Schauen Sie die Dinge an, wie sie sind! Ich
bin Ihnen nicht sympathisch, und ich müßte lügen, wenn ich
behauptete, daß Sie mir gefielen. Aber die gemeinsame Gefahr macht
uns nun einmal zu Bundesgenossen. Wir müssen DDD zuvorkommen, und
wir haben Eile. Die Knaben haben nicht alle Namen in Erinnerung,
die auf der Liste standen, aber einige haben sie. Hier sind sie.
Setzen Sie sich mit den Herren in Verbindung, soweit sie Ihnen
nützlich sein können! Ich meinesteils werde dafür sorgen, daß
Domitian heute nacht hier bei mir schläft. Sorgen Sie dann für das
Weitere!«
Norban schaute sie aus seinen
braunen, wachsamen und dennoch stumpfen Augen lang und nachdenklich
an. »Ich weiß«, sagte Lucia, »was Sie jetzt überlegen. Sie fragen
sich, ob Sie nicht hingehen sollen und dem Kaiser anzeigen, was ich
Ihnen vorgeschlagen habe. Das wäre nicht ratsam, mein Norban. Ihre
eigene Exekution würden Sie dadurch hinausschieben, aber eben nur
hinausschieben. Denn Sie wüßten dann noch mehr um den Kaiser, und
sosehr es ihn schmerzte, die Pflicht, Sie zu beseitigen, würde so
nur dringlicher. Habe ich recht?« – »Sie haben recht«, gab Norban
zu. »Dieser naseweise Prinz!« knurrte er und konnte sich nicht
beruhigen. »Sie wären lieber umgekommen, unwissend«, erkundigte
sich interessiert Lucia, »als daß Sie jetzt, wissend, dem Kaiser
zuvorkommen?« – »Ja«, gab Norban unglücklich zu. »Ich bin sehr
enttäuscht«, sagte er, ehrlich betrübt.
»Und Sie sind sicher«, fragte er
schließlich noch frech und sachlich, »daß Sie den Kaiser dahin
bringen werden, bei Ihnen zu schlafen, trotz der
Auseinandersetzung?« Lucia ärgerte sich nicht, eher war sie
amüsiert. »Ich bin es«, sagte sie.
»Mein Herr und Gott, Domitian, Wäuchlein,
DDD, ich weiß nicht, welcher feindliche Gott es mir eingegeben hat,
so freche und törichte Worte an Sie zu richten, wie ich es getan.
Der Hundsstern muß mich verblendet haben. Ich kenne aber die Milde
und Großmut des Kaisers Domitian. Denken Sie an unsere Nacht damals
auf dem Schiff nach Athen. Denken Sie an unsere Nacht damals, als
Sie die Gnade gehabt hatten, mich zurückzurufen? Verzeihen Sie mir!
Kommen Sie zu mir und sagen Sie es mir mit Ihrem eigenen Munde, daß
Sie mir verzeihen! Kommen Sie heute nacht! Ich erwarte Sie. Und
wenn Sie kommen, dann liefere ich Ihnen auch das Baumaterial für
Ihre Villa in Selinunt zur Hälfte des Preises. Ihre
Lucia.
Domitian, als er diesen Brief las, grinste.
Dachte an seine Liste. Dachte an Messalin, mit dem er morgen diese
Liste durchsprechen wird. Dachte aber auch an die beiden Nächte, an
die ihn Lucia erinnerte.
Es war Domitian lieb, wenn
diejenigen, die er beseitigen mußte, einsahen, daß diese
Beseitigung eine gerechte Strafe, eine notwendige Maßnahme sei. Er
freute sich, daß Lucia ihr Unrecht einsah. Er freute sich, daß sie
ihn nach wie vor liebte. Freilich, wie sollte sie ihn nicht lieben,
da er sie seiner Neigung gewürdigt hat? Und an der Sache wurde
dadurch nichts geändert. Lucias Verbrechen wurde nicht kleiner
dadurch, daß die Hochverräterin Lucia außerdem auch eine Frau war,
die ihn liebte. Er wurde nicht schwankend in seinem Vorhaben, er
dachte nicht daran, den Namen von seiner Liste zu
streichen.
Ihrer Einladung wird er trotzdem
folgen. Sie ist eine großartige Frau. Wenn er an die Narbe unter
ihrer linken Brust denkt, werden ihm die Knie schwach. Die Götter
sind ihm huldvoll, daß sie ihn diese Narbe noch einmal küssen
lassen. Sie ist eine strotzende Frau, sie ist die Frau, die zu ihm
gehört. Schade, daß sie eine Hochverräterin ist und nicht mehr viel
Gelegenheit haben wird, ähnliche Briefe an ihn zu
schreiben.
Der Kaiser kam also zu Lucia und
schlief bei ihr. Schwer, nach der Umarmung, lag sein großer Kopf
auf ihrer Schulter. Lucia zog gleichwohl den Arm nicht weg. Sie
beschaute beim matten Licht der Öllampe den schlafenden Kopf, unter
dem gedunsenen, schlaffen, müden Gesicht suchte sie jenes, das sie
zuerst gesehen hatte, da man von ihm noch als von dem Früchtchen
sprach und er der Nichtsnutz war, auf den niemand Hoffnung setzte
außer ihr. Jetzt liebte sie ihn nicht und haßte ihn nicht, sie
bereute nicht ihren Entschluß, doch nichts mehr war in ihr von der
grimmigen Genugtuung, die sie erfüllt hatte, als sie den Norban für
sich und ihre Rache gewann. Sie wartete, und ihr Herz war schwer
und müde wie der Arm, auf dem der schlafende Kopf lag.
Endlich kamen Norban und die
Seinen. Es gelang ihnen indes nicht, so geräuschlos einzudringen,
wie sie gehofft hatten; denn der immer argwöhnische Domitian hatte
sich von zwei Offizieren begleiten lassen, die im Gang vor dem
Schlafgemach Wache hielten. So war Domitian aus dem Schlaf
hochgefahren, als die Verschworenen eindrangen. »Norban!« rief er,
und: »Was gibt es?«
Norban hatte gehofft, seinen
Herrn im Schlaf zu überraschen. Daß der ihn anrief, störte ihn, und
er blieb in der Nähe der Tür stehen.
Der Kaiser war vollends wach
geworden, er sah die Männer hinter Norban, sah die Waffen, sah das
Gesicht und die Haltung des Norban. Begriff. Sprang aus dem Bett,
nackt, wie er war, suchte den Ausgang zu gewinnen, stürzte sich auf
die Männer, schrie mit schriller Stimme um Hilfe. Einer stach nach
ihm, aber er traf schlecht. Der Kaiser wehrte sich, rang mit dem
Menschen, schrie weiter. »Lucia, du Hündin, hilf mir doch!« rief er
mit überkippender Stimme und wandte den Kopf dem Bette zu. Lucia
kniete auf dem Bett, den Oberkörper nackt, und schaute mit
schwerem, traurigem, gespanntem Blicke auf den um sein Leben
ringenden Mann. »Es ist für den Matthias«, sagte sie, und ihre
Stimme klang sonderbar ruhig und sachlich.
Da erkannte er, daß es der Gott
Jahve war, mit dem er zu tun hatte, und wehrte sich nicht
mehr.
Schon vor dem Morgen wußte die ganze Stadt
von der Ermordung des Kaisers.
Die erste Regung des Annius
Bassus, nachdem er sich von seinem Ungeheuern, empörten Schreck
erholt, war, die Adoptivsöhne des Ermordeten, die Prinzen Vespasian
und Domitian, zu Herrschern ausrufen zu lassen. Die Offiziere und
die Soldaten der Garnison hingen an dem Toten, und er hätte mit
ihrer Hilfe die Anerkennung der Prinzen durch den Senat erzwingen
können. Allein er war nicht skrupellos und nicht wendig genug, um
dem Senat »seine« Kaiser zu präsentieren, ohne sich vorher mit
Marull und Regin ins Benehmen gesetzt zu haben.
Als er indes endlich mit den
beiden andern Verbindung bekam, war es bereits zu spät. Der alte
Nerva, der Führer der Senatsopposition, den Domitian auf seine
Liste gesetzt, war von Norban von den Ereignissen verständigt
worden, noch ehe sie sich erfüllt hatten, und er hatte sogleich den
Senat einberufen. Sollte das Attentat mißglücken, hatte er sich
gesagt, dann wird er Dankgebete an die Götter für die Errettung des
Kaisers beantragen; sollte es glücken, dann wird er sich von seinen
Freunden zu Domitians Nachfolger wählen lassen. Mit dem frühesten
Morgen also hatten sich die Berufenen Väter versammelt, und als
endlich, während Annius die Garnison alarmierte, Marull und Regin
im Senat erschienen, hatte man bereits den Antrag gestellt, das
Andenken des Toten zu ächten.
Marull, kaum ins Bild gesetzt,
schickte sich an, entrüstet dagegen zu opponieren. Allein er und
die wenigen kaisertreuen Senatoren wurden sogleich niedergeschrien.
Man überbot sich in wüsten Schmähungen des gestürzten
Herrn.
In wütender Eile beschloß man
eine beschimpfende Maßnahme nach der andern, um selbst die
Erinnerung an Domitian zu vernichten. Man verfügte, daß im ganzen
Reich seine Bildsäulen gestürzt und die Tafeln, die Inschriften zu
seinen Ehren trugen, zerstört oder eingeschmolzen werden sollten.
Und schließlich mußten Marull und die Seinen ein Schauspiel
erleben, wie es der römische Senat seit Gründung der Stadt noch nie
geboten hatte. Voll von Enthusiasmus über die wiedergewonnene
Macht, grimmigen Gedenkens voll an die erlittene Schmach, an die
Sitzungen, da sie selber, die hier Versammelten, ihre Besten, ihre
Häupter, zum Tod verurteilt hatten, riefen die Senatoren Handwerker
und Leibeigene herbei, um die Ächtung seines Angedenkens sogleich
und handgreiflich zu vollziehen. Ja sie halfen selber bei diesem
Werke mit. Selber teilhaben wollten sie an der Beseitigung, an der
Austilgung des frechen Despoten. Unbeholfen in ihren hohen Schuhen,
in ihren prunkenden Gewändern, griffen sie zu Brecheisen, zu Äxten
und zu Beilen, stiegen auf Leitern, hieben auf die Büsten und
Medaillons des Verhaßten ein. Mit Wollust zur Erde schmetterten sie
die Statuen mit dem hochmütigen Gesicht des Toten, sie zerstückten
und verstümmelten seine steinernen und metallenen Glieder, unter
irren Schreien, in der Vorhalle der Kurie errichteten sie eine Art
Scheiterhaufen und warfen die scheußlich verunstalteten Bildwerke
hinein.
Dann, nachdem sie auf diese Art
aufgeräumt hatten mit der Despotie, der Herrschaft eines einzelnen,
machten sie sich daran, sie zu ersetzen durch das Regime der
Freiheit, nämlich durch die Herrschaft der sechzig mächtigsten
Senatoren, und wählten den Nerva zum Kaiser.
Der alte Herr, ein sehr
gebildeter Mann, ein großer Jurist, ein geübter Redner,
wohlwollend, liberal, menschenfreundlich, hatte einen bewegten Tag,
eine bewegte Nacht und nochmals einen bewegten halben Tag hinter
sich. Er hatte die ganze letzte Zeit über in Sorge geschwebt, er
werde trotz all seiner Vorsicht von Domitian beseitigt werden.
Statt dessen hatte er jetzt, in seinem siebzigsten Jahr, nicht nur
den fünfundvierzigjährigen Kaiser überlebt, sondern auch noch
seinen Thron erobert. Nun aber, nach den Anstrengungen,
Aufregungen, Umschwüngen dieser letzten anderthalb Tage, war er
erschöpft, er durfte es sein, und die Freude, daß er jetzt nach
Haus gehen konnte, baden, frühstücken, sich ins Bett legen, war
beinahe ebenso groß wie die Freude über die erreichte
Weltherrschaft.
Aber so bald sollte ihm die
ersehnte Ruhe nicht vergönnt sein. Kaum war er in seinem Haus
angelangt, als sich, an der Spitze eines großen Truppendetachements
und in Begleitung des Marull und des Regin, Annius bei ihm
einstellte. Annius war empört über seine eigene Geistesträgheit;
durch diese Langsamkeit des Denkens hatte er die Adoptivsöhne
seines verehrten Herrn und Gottes um die ihnen zukommende
Weltherrschaft gebracht. Er wollte retten, was noch zu retten war.
Er drang auf Nerva ein und erging sich in wüsten Drohreden, die
Armee werde nicht dulden, daß man die Flavier, die Besieger
Germaniens, Britanniens, Judäas und Daziens, um den Thron betrüge.
Der neue Kaiser war ein Herr von ruhigen, vornehmen Manieren; die
laute, grobe Sprache des Annius machte ihn recht nervös, auch hätte
er auf das unsachliche Gerede von seinem juristischen Standpunkt
aus allerhand zu erwidern gehabt. Doch er war sehr müde, er fühlte
sich nicht in Form, auch hatte der andere dreißigtausend Soldaten
und er nur fünfhundert Senatoren hinter sich. So zog er es vor, die
Ungehörigkeit des groben Generals vorläufig auf sich beruhen zu
lassen, wandte sich statt dessen höflich an die beiden andern, die
er als umgängliche Männer kannte, und fragte sie liebenswürdig:
»Und was wünschen Sie, meine Herren?«
Die beiden Herren, Realisten, die
sie waren, wußten zwar,
daß die Garnison der Hauptstadt hinter ihnen
stand, aber sehr zweifelhaft war ihnen, ob die Armeen der Provinzen
den Flaviern treu bleiben würden. Andernteils hatte das anstößige
Verhaken der Senatoren sie tief aufgerührt. Der Anblick dieser
älteren Männer, wie sie da mit ihren hohen Schuhen und in ihren
purpurverbrämten Kleidern mit schlotterigen Knien die Leitern
erstiegen, um dem Bildnis des Mannes ins Gesicht zu schlagen,
dessen Hand zu küssen sie sich vor drei Tagen noch gedrängt hatten,
hatte den beiden das Innere vor Ekel umgekehrt. Sie wollten
ihrerseits demonstrieren.
Der neue Kaiser, erklärten sie,
sei Jurist. So möge er denn das Recht zur Geltung bringen
denjenigen gegenüber, die den Domitian gemeuchelt hätten. Sie
sprachen mit Nerva in urbanen Formen, sie betonten keineswegs, wie
der grobe General, in jedem dritten Satz: hinter uns steht die
Armee. Was sie verlangten, war nicht viel, es war ein einziges, die
Bestrafung der Schuldigen. Aber die verlangten sie ultimativ und
binnen kürzester Frist, davon ließen sie nicht ab. Und Nerva mußte
ihnen – dies war die erste Handlung des neuen, im Prinzip
rechtlichen, anständigen, ja wohlwollenden Herrschers – den
Hauptschuldigen sogleich preisgeben, den Norban, den Mann, dem er
den Thron verdankte.
Nachdem Nerva dies hatte
einräumen müssen, sah er ein, daß er sogleich Sicherheitsmaßnahmen
treffen müsse. Nein, er durfte seinen müden, alten Kopf noch immer
nicht aufs Kissen legen, wenn anders dieser alte Kopf nicht Gefahr
laufen sollte, schließlich doch noch auf gewaltsame Art von dem
zugehörigen Rumpf getrennt zu werden. Er mußte, bevor er sich in
sein Schlafzimmer zurückziehen konnte, noch einen Brief schreiben.
Und der alte Kaiser, während jedes Glied ihm weh tat vor Müdigkeit,
diktierte seinen Brief. Er bot seinem jungen Freunde, dem General
Trajan, Oberkommandierenden der an der deutschen Grenze
operierenden Armee, die Mitherrschaft an. Dann, endlich, ging er zu
Bett.
Marull und Regin ihrerseits
begaben sich zu Lucia. Sie wollten Lucia retten, und sie wollten
Lucia strafen.
»Ich will nicht mit Ihnen über
Ihre Motive rechten, meine Herrin und Göttin Lucia«, sagte Regin,
»aber es wäre rücksichtsvoller gewesen und wohl auch klüger, wenn
Sie sich zum Beispiel mit uns in Verbindung gesetzt hätten statt
mit Norban.« – »Ich glaube, daß Sie mir freund sind, Sie, mein
Regin, und Sie, mein Marull«, erwiderte Lucia. »Aber, seien Sie
ehrlich, vor die Wahl gestellt, wen Sie retten sollen, Domitian
oder mich, hätten Sie sich für mich entschieden?« – »Es hätte
vielleicht einen Ausweg gegeben«, sagte Marull. »Es gab keinen«,
sagte etwas müde Lucia, »Norban war mein gegebener Verbündeter.« –
»Auf alle Fälle«, resümierte Regin, »haben die beiden netten Jungen
jetzt durch Ihre Schuld den Thron verloren, und Sie, meine Lucia,
haben überdies sich und Ihre Ziegeleien in ernsthafte Gefahr
gebracht.« – »Ich an Ihrer Stelle, meine Lucia«, sagte Marull,
»hätte so gute alte Freunde, wie wir es sind, immerhin so
rechtzeitig verständigt, daß sie einesteils Ihnen nicht mehr
schaden, aber zum Beispiel den jungen Prinzen hätten nützen
können.« Lucia dachte eine halbe Minute nach. »Da haben Sie recht«,
sagte sie dann verständig.
»Es ist schade um ihn«, sagte
nach einer Weile Regin. »Man hat ihm viel Unrecht getan.« – »Falls
diese Worte auf mich zielen sollten«, antwortete Lucia, »falls Sie
es verlangen sollten, daß ich Ihnen zustimme, dann verlangen Sie
von mir zuviel. Soviel Objektivität kann keine Frau aufbringen, der
man nach dem Leben getrachtet hat und die dem Tod um ein Haar
entgangen ist. Und denken Sie, bitte, an meinen Matthias!« – »Und
dennoch hat man ihm Unrecht getan«, beharrte störrisch
Regin.
»Überlassen wir«, schlug der
konziliante Marull vor, »das Urteil darüber den Dichtern und
Geschichtsschreibern! Beschäftigen wir uns lieber mit Ihrer
nächsten Zukunft, meine Lucia! Wir haben Anlaß, anzunehmen, daß Sie
nicht ungefährdet sind. Unser Annius Bassus und seine Soldaten
wollen Ihnen nicht wohl.« – »Haben Sie mir Forderungen zu
überbringen?« fragte hochfahrend Lucia. »Steht die Armee hinter
Ihnen?« fuhr sie spöttisch fort. »Die Armee steht zwar wirklich
hinter uns«, sagte freundlich und geduldig Regin, »aber was wir
Ihnen unterbreiten, sind keine Forderungen, sondern Ratschläge.« –
»Was also wollen Sie?« fragte Lucia. »Wir wünschen«, formulierte
Marull, »daß der Leib des Domitian anständig bestattet werde. Der
Senat hat sein Andenken geächtet, wie Sie wissen. Eine öffentliche
Bestattung würde zu Unruhen führen. Wir schlagen vor, daß Sie dem
Domitian einen Scheiterhaufen errichten, möglichst bald, und wenn
nicht in Rom selber, dann zumindest sehr nahe, sagen wir einmal in
Ihrem Park in Tibur.«
Lucia haßte den Toten nicht mehr,
aber sie hatte von jeher Widerwillen verspürt gegen Bestattungen.
Dieser Widerwille spiegelte sich auf ihrem lebendigen Gesicht. »Wie
sehr Sie hassen können!« sagte Marull. Da aber entspannte sich ihr
Gesicht, und: »Ich hasse Wäuchlein nicht«, sagte sie, nun auf
einmal sehr müde, und plötzlich sah sie aus wie eine alte
Frau.
»Ich glaube, es wäre im Sinne
DDDs«, sagte Marull, »wenn gerade Sie ihm diese Bestattung
richteten. Denken Sie daran, daß er, gerade er, den Matthias
begraben wollte!« – »Auch wäre es klug«, ergänzte Regin, »wenn
gerade Sie die Bestattung vollzögen. Das Gerede, daß Sie etwas mit
dem Verbrechen des untreuen Norban zu tun gehabt haben, wird dann
wohl verstummen.« – »Des untreuen Norban«, sagte nachdenklich
Lucia. »DDD hatte keinen Treueren.« – »Sie haben ihn ja auch nicht
gehaßt, meine Lucia«, spöttelte Marull und legte einen Ton auf das
»Sie«.
»Gut«, gab Lucia nach, »ich werde
ihn bestatten.«
Allein es stellte sich heraus,
daß des Domitian Leichnam schon aus dem Palatin fortgeschafft war.
Es war seine alte Amme Phyllis, die ihn heimlich und unter Gefahr
hatte wegbringen lassen.
Man begab sich in das Haus der
Phyllis, ein einfaches Landhaus vor der Stadt. Ja, dorthin hatte
man den toten Mann geschleppt. Phyllis, eine ungeheuer fette
Greisin, hatte nicht gespart; ja, die Leiche war bereits gewaschen,
gesalbt, parfümiert, hergerichtet, die teuersten Kosmetiker hatten
das besorgen müssen. Da saß nun Phyllis an dem Katafalk, die Tränen
liefen ihr über die hängenden Backen.
Der tote Domitian sah still und
würdig aus. Nichts war da von dem krampfig Großartigen, das sein
Antlitz im Leben manchmal gezeigt hatte. Die Brauen, die der
Kurzsichtige dro hend zusammenzuziehen gepflegt hatte, waren jetzt
entspannt, die geschlossenen Lider verbargen die Augen, die so
finster und gewalttätig geblickt hatten, von all der übersteigerten
Energie des Antlitzes war nur das entschiedene Kinn geblieben. Ein
Lorbeerkranz saß auf dem halbkahlen Schädel, andere Insignien der
Macht hatte die Alte zu ihrem Leidwesen nicht auftreiben können.
Aber der Tote wies ein schönes, männliches Gesicht, und Marull und
Regin fanden, DDD sehe jetzt kaiserlicher aus als so manches Mal,
da er es mit Inbrunst darauf angelegt hatte, der Herr und Gott zu
sein.
Die Alte hatte den Holzstoß
bereits gerichtet. Sie sträubte sich dagegen, daß Lucia, die
Mörderin, der Verbrennung beiwohne. Die beiden Herren begaben sich
nochmals zu Lucia; sie schlugen vor, die Leiche gewaltsam aus dem
Haus der Phyllis nach Tibur zu schaffen, auf die Besitzung der
Kaiserin. Doch Lucia wollte nicht. Im Innersten war sie froh, einen
Vorwand zu haben, die Geste zu unterlassen, die Marull und Regin
von ihr verlangt hatten. Sie war wieder die alte Lucia geworden.
Sie hatte Domitian geliebt, er hatte ihr Böses und Gutes getan, sie
hatte ihm Gutes und Böses getan, die Rechnung war ausgeglichen, der
Tote hatte nichts von ihr zu fordern. Vor den Folgen ihrer Tat, vor
Annius und seinen Soldaten fürchtete sie sich nicht.
Es waren also nur Marull, Regin
und Phyllis zugegen, als man die Leiche des letzten Flavierkaisers
auf den Scheiterhaufen legte. Sie öffneten dem Toten die Augen, sie
küßten ihn, dann zündeten sie, abgewandten Gesichtes, den Holzstoß
an. Das Parfüm, mit dem er getränkt war, verbreitete starken
Geruch. »Leb wohl, Domitian«, riefen sie, »leb wohl, Herr und Gott
Domitian!« Phyllis aber schrie und heulte, zerriß sich die Kleider
und zerkratzte ihr fettes Fleisch.
Marull und Regin schauten zu, wie
der Scheiterhaufen niederbrannte. Wahrscheinlich kannte niemand
besser als sie, selbst Lucia nicht, die Schwächen des Toten, doch
auch niemand besser seine Vorzüge.
Als dann der Scheiterhaufen
niedergebrannt war, löschte Phyllis die glimmenden Kohlen mit Wein,
sammelte die Gebeine, begoß sie mit Milch, trocknete sie mit Linnen
ab, legte sie, mit Salben und Wohlgerüchen vermischt, in eine Urne.
Sie hatte mit Hilfe Marulls und Regins erwirkt, daß man sie des
Nachts heimlich in den Tempel der flavischen Familie einließ. Dort
setzte sie die Reste des Domitian bei, sie mischte sie aber mit den
Resten der Julia, welche sie gleichfalls gesäugt hatte; denn die
empörte Alte war der Meinung, nicht Lucia sei die Frau gewesen, die
zu Domitian gehörte, sondern zu ihrem Adler Domitian gehöre ihr
Täubchen Julia.
Am Tage darauf, in Gegenwart seines Freundes
Secundus, öffnete sich der alte, von der Gicht verkrümmte Senator
Corell, der bisher seine unerträglichen Schmerzen mannhaft ertragen
hatte, die Adern. Er hatte es erreicht, er hatte den Tod des
verfluchten Despoten und die Wiedererrichtung der Freiheit erlebt.
Der Tag war da. Er starb glücklich.
Der Tag war da. In seinem
Arbeitskabinett saß der Senator Cornel, der Historiker, und
überdachte, was geschehen war. Die starken Falten des düsteren,
erdfarbenen Gesichtes gruben sich noch tiefer, er war erst Anfang
der Vierzig, aber er hatte das Gesicht eines alten Mannes. Er
erinnerte sich seiner toten Freunde, des Senecio, des Helvid, des
Arulen; voll Trauer dachte er daran, wie oft er sie vergeblich zur
Vernunft gemahnt hatte. Ja, darauf war es angekommen, Vernunft zu
zeigen, Geduld zu zeigen, den Groll im Busen zu bewahren, bis die
Zeit kam, ihn herauszulassen. Nun war die Zeit da. Die Epoche des
Schreckens zu überleben, darauf war es angekommen. Er, Cornel,
hatte sie überlebt.
Vernunft war gut, aber glücklich
machte sie nicht. Glücklich war er nicht, der Senator Cornel. Er
dachte an die Gesichter seiner Freunde, die in den Tod, die der
Frauen, die in die Verbannung gegangen waren. Es waren grimmige
Gesichter gewesen, aber dennoch die Gesichter solcher, die
einverstanden waren. Sie waren Helden gewesen, er war nur ein Mann
und ein Schriftsteller. Sie waren nur Helden gewesen, er war ein
Mann und ein Schriftsteller.
Er war Historiker. Man mußte
historisch werten. Für die Zeiten der Gründung des Reichs, für die
Zeiten der Republik, waren Helden notwendig gewesen, für diese
Jahrhunderte, für das Kaiserreich, bedurfte man vernünftiger
Männer. Gründen können hatte man das Reich nur durch Heldentum.
Gehalten werden konnte es nur durch Vernunft.
Aber gut war es dennoch, daß es
diese Helvid und Senecio und Arulen gegeben hatte. Eine jede Zeit
bedurfte der Helden, um das Heldentum wachzuhalten für jene Zeit,
die ohne Heldentum nicht wird bestehen können. Und er war froh, daß
er jetzt den aufgestauten Haß gegen den Tyrannen in Worte fassen
durfte und das liebevolle, trauervolle Gedenken der Freunde. Er
nahm vor die vielen Noten und Aufzeichnungen, die er sich gemacht
hatte, und er ging daran, einleitend ein großes Bild der Epoche zu
entwerfen, die sein Buch schildern sollte. In gewaltigen, dunkeln
Sätzen, die sich türmten wie Felsblöcke, stellte er dar die
Schrecken und Verbrechen des Palatin, und Worte, weit und hell wie
der Himmel eines Frühsommertags, fand er für das Heldentum seiner
Freunde.
DRITTES KAPITEL
Wie Josef jetzt an
diesem frischen Vorfrühlingstag mit Johann von Gischala durch
dessen Maulbeerpflan
zungen ging,
sah man keinem der beiden Männer ihr Alter an. Josefs siebzig Jahre
hatten zwar seinen Bart ins Graue verfärbt und sein hageres Gesicht
etwas zerknittert, aber jetzt im Wind zeigte es frische Farbe, und
seine Augen schauten lebendig. Und wenn Johanns Knebelbart
strahlend weiß war, so war doch auch sein braunes, schlaues Antlitz
rot und wohlerhalten, und seine verschmitzten Augen schauten
geradezu jung.
Josef war nun den dritten Tag
Gast des Johann in Gischala. Johann wußte, daß Josef nicht viel
Interesse an landwirtschaftlichen Dingen hatte, aber er konnte
seinen bäuerlichen Stolz nicht zähmen, und wiewohl er sich über
sich selber lustig machte, hetzte er auch diesmal wieder seinen
Freund durch sein ausgedehntes Mustergut, und Josef mußte seine
großartigen Ölpressen, seine Weinkeller, seine Tennen und vor allem
seine Maulbeerplantagen und seine Seidenmanufaktur beschauen und
bewundern.
Er tat das mechanisch, seine
Gedanken waren anderswo, er genoß die Freude, wieder einmal in
Galiläa zu sein.
Er saß nun seit fast zwölf Jahren
in Judäa, fern von Rom, von dem neuen, ihm sehr fremden Rom des
Soldatenkaisers Trajan. Nein, er vermißte es ganz und gar nicht,
dieses militärische, ordentliche, großartig organisierte, sehr
kalte Rom, es stieß ihn ab, er wußte mit der nüchternen,
sachlichen, weltmännisch unbeteiligten Gesellschaft dieses Rom so
wenig anzufangen wie sie mit ihm.
In Judäa allerdings war er auch
nicht heimisch. Manchmal zwar versuchte er sich und seinen Freunden
einzureden, er sei zufrieden in der Ruhe seines Gutes Be’er Simlai.
Er sei nun lange genug, erklärte er, ein Einzelner gewesen, ein
Besonderer; jetzt im Alter wünschte er nichts Besseres als
unterzutauchen in der Gemeinschaft aller. Er wolle nichts sein als
ein Mann in Judäa wie die andern Männer in Judäa. Allein wenn er’s
auch ehrlich meinte, im Grunde fühlte er sich unbehaglich in dieser
seiner Ruhe.
Die Besitzung Be’er Simlai, die
er seinerzeit auf den Rat Johanns erworben hatte, blühte und
gedieh. Aber ihn, Josef, brauchte man dort nicht, sein jetzt
fünfundzwanzigjähriger Sohn Daniel hatte sich, unterwiesen von dem
alten Theodor, zu einem fähigen und interessierten Landwirt
entwickelt, Josefs Gegenwart störte mehr, als daß sie half. Und der
Wohlstand des Gutes war menschlicher Voraussicht nach gesichert;
denn alles, was hier im Umkreis der Provinzhauptstadt Cäsarea
liegt, wird von der römischen Regierung begünstigt. Freilich ist
die Gegend zumeist von Syrern und ausgedienten römischen Soldaten
besiedelt, und die nicht zahlreichen Juden sehen unfreundlich auf
Josef und ergehen sich in Stichelreden über die Gunst, deren er
sich, selbst unter diesem Kaiser Trajan, bei den Römern erfreut.
Mara zöge es vor, im eigentlichen Judäa zu leben statt hier unter
den »Heiden«, auch Daniel leidet unter dem Mißtrauen und dem Hohn
der jüdischen Siedler. Gleichwohl haben seine Frau und sein Sohn
viel Freude an dem Gedeihen des Gutes, gewiß mehr Freude als er
selber.
Mara hat den Verlust des Matthias
ruhiger hingenommen, als er erwartet hatte; sie hat ihn nicht
verflucht und keine wilden Reden geführt. Aber das Band zwischen
ihnen ist gerissen. Innerlich hat sie sich von ihm losgesagt als
von dem Mörder ihrer beiden Söhne, sie sieht in ihm nicht mehr
einen Gesegneten des Herrn, sondern einen Geschlagenen, einen
Unheilbringer. Allein sie ist ihm so fern, daß sie mit ihm darüber
nicht einmal mehr rechtet. Sie leben gelassen, in freundlicher
Fremdheit nebeneinanderher.
Auch zwischen ihm und seinem Sohn
Daniel ist es nicht so, wie es sein sollte. Nicht nur bedrückt den
Daniel die Meinung der jüdischen Siedler über seinen Vater, sondern
er schlägt auch mit seinem ganzen Wesen mehr der Mutter nach, er
hat ihre Gelassenheit und höfliche Zurückhaltung. Er ist ein
untadeliger Sohn, aber er hat Scheu vor dem heftigen,
unverständlichen Vater, und Josefs Versuche, sein Vertrauen zu
gewinnen, sind fehlgeschlagen.
So lebt Josef recht allein
inmitten der geordneten Tätigkeit seines Gutes. Er schreibt, er
verbringt viel Zeit über seinen Büchern. Zuweilen auch macht er
sich auf den Weg, Freunde aufzusuchen; er fährt etwa nach Jabne zu
dem Großdoktor oder, wie jetzt, nach Gischala zu Johann. Er hat
viele Freunde im Land, er genießt seit dem »Apion« bei der Mehrzahl
der Juden Verehrung. Doch es bleibt eine Verehrung ohne Wärme, man
hat seine frühere zweideutige Haltung nicht vergessen. Er lebt in
Judäa wie ein Fremder unter seinem Volke.
In der letzten Zeit hat ihn
Rastlosigkeit gepackt. Er schiebt die Schuld auf die Unsicherheit
der politischen Lage. Denn der große Ostfeldzug, den der
kriegerische Kaiser Trajan rüstet, bedroht auch Judäa von neuem.
Aber die Gründe, die Josef aus dem Frieden seines Gutes Be’er
Simlai fortjagen, liegen in ihm selber. Es ist wie in seiner
Jugend, es ist wie in der Zeit, da er dichtete:
Reiße dich los von deinem Anker, spricht
Jahve.
Ich liebe nicht, die im Hafen verschlammen.
Ein Greuel sind mir, die verfaulen im Gestank ihrer
Trägheit.
Ich habe dem Menschen Schenkel gegeben, ihn zu tragen
über die Erde,
Und Beine zum Laufen,
Daß er nicht stehen bleibe wie ein Baum in
seinen Wurzeln.
Er hält es nicht mehr aus in Be’er Simlai. Er
ist aufgebrochen, um mit unbestimmtem Ziel durch Judäa zu reisen,
hierhin, dorthin; erst am Vorabend des Passahfestes, also nicht vor
drei Wochen, will er wieder auf seinem Gut zurück sein.
Nun also ist er bei Johann.
Johann ist viel kürzer im Land als er selber. Johann ist seinem
Vorsatz treu geblieben und hat Rom und seine römischen Geschäfte
erst verlassen, als er sich der Herrschaft sicher glauben durfte
über sein vaterlandsheißes Herz. Er hat auch während der fünf
Jahre, die er in Judäa lebt, tapfer der Versuchung widerstanden,
die »Eiferer des Tages« zu fördern. Er hat sich in dieser Zeit
damit beschäftigt, seine Heimatstadt, die uralte, kleine Bergstadt
Gischala, reich und stattlich wieder aufzubauen, denn sie ist
zuerst im großen jüdischen Krieg und dann beim Aufstand der
»Eiferer« ein zweites Mal zerstört worden. Vor allem aber hat er
sein eigenes großes Gut bei Gischala zu einer Musterwirtschaft
gemacht.
Da gehen sie herum, die beiden
alten Herren, und Johann zeigt dem Freunde, was er neu eingerichtet
hat in seinen Maulbeer-, Öl- und Weinpflanzungen. Eine helle,
junge, freundliche Vorfrühlingssonne ist da, die beiden erfreuen
sich ihrer; aber wenn man warm bleiben will, dann muß man sich
Bewegung machen. Sie gehen also rasch drauflos, Josef etwas
gebückt, der kleinere Johann sehr aufrecht. Johann schwatzt. Er
merkt, daß Josef nicht hinhört, doch er braucht keinen aufmerksamen
Hörer, er will nur seine Freude heraussagen über das, was er da
gemacht hat, und er lächelt selber ein bißchen über seine
greisenhafte Geschwätzigkeit. Dann aber zuletzt lockt es ihn doch,
mit Josef in eine richtige Debatte zu kommen, und mit scherzhafter
Streitbarkeit beginnt er: »Sie sehen, mein Josef, mein Besitz ist
gut gehalten, er ist das, was man eine Musterwirtschaft nennt.
Trotzdem wirft mir diese Musterwirtschaft nichts ab, im Gegenteil,
ich zahle drauf, und wenn ich sie nicht aufgebe, dann nur, weil sie
mir Spaß macht. Es macht mir Spaß, sehr guten Wein, sehr gutes Öl,
sehr gute Seide zu produzieren. Und jetzt, bitte, überlegen Sie
weiter: wenn schon ich mit allen meinen Sondervergünstigungen bei
der römischen Regierung keinen Gewinn herauswirtschaften kann, wie
soll sich dann ein gemeiner Ölbauer von seinem Schweiße ernähren?
Die neuen Steuern und Zölle, die Trajans Finanzminister den
Ostprovinzen auflegt, bringen den kleinen Bauern einfach um. Dabei
wird natürlich der angebliche Zweck nicht erreicht, denn die
italienischen Weine werden auch dadurch nicht besser und nicht
verkäuflicher. Für unser Judäa ist die einzige Folge, daß sich die
Unruhe im Lande verstärkt.«
»Verstärkt sich die Unruhe?«
fragte Josef, er war jetzt keineswegs mehr abwesend mit seinen
Gedanken. Johann schaute ihn von der Seite an. »Wenn ich von meinem
Galiläa auf das übrige Judäa schließe«, sagte er und lächelte, eher
zufrieden als bösartig, »dann dürften die Bauern nirgends sehr
zufrieden sein mit den neuen Edikten. Es ist keine Frage, daß die
›Eiferer des Tages‹ überall Boden gewinnen. Vielleicht sogar ist
das der Hauptzweck, den die Römer mit ihrer merkwürdigen
Finanzpolitik verfolgen. Denn ich könnte mir denken, daß, wenn
Trajan seinen geplanten Ostkrieg anfängt, gewisse Militärs vorher
hier in Judäa Ordnung schaffen wollen, das, was sie unter Ordnung
verstehen. Und wie könnten sie das bequemer haben, als wenn sie
hier einen Aufstand provozierten und dabei alle nicht ganz
zuverlässigen Elemente ein für allemal abtäten? Es ist aber nicht
die römische Finanzpolitik allein«, fuhr er fort. »Denn wenn ich
auch nach wie vor der Überzeugung bin«, er lächelte, da er auf den
Gegenstand seines ewigen Streites mit Josef zu sprechen kam, »daß
bei vernünftigen Wein- und Ölpreisen weder der jüdische Krieg noch
der spätere Aufruhr zustande gekommen wären, so gebe ich Ihnen doch
gerne zu, daß es bei unsern jüdischen Kriegen nicht allein um die
Weinpreise geht, sondern auch um Jahve. Es muß beides zum Problem
geworden sein, der Markt und Jahve. Sonst
kann der rechte Furor nicht entstehen.«
»Sie glauben also«, fragte Josef,
»auch Jahve ist wieder zum Problem geworden?«
»Auf diesem Gebiet, Doktor
Josef«, antwortete Johann, »sind Sie zuständig, nicht ich. Aber
wenn Sie die Meinung eines einfachen Landjunkers wissen wollen, der
seinen Jahve nicht als Theolog anschaut, sondern als ein Mann mit
gesundem Menschenverstand, dann will ich sie Ihnen gerne sagen. Die
Idee Jochanan Ben Sakkais, den verlorenen Staat und den verlorenen
Tempel durch Jabne zu ersetzen, war ausgezeichnet, es gab damals
nach dem Zusammenbruch kein anderes Mittel, den Zusammenhalt zu
retten. Brauch und Lehre haben denn auch wirklich den Staat
ersetzt. Allmählich aber, als eine neue Generation heranwuchs, die
Staat und Tempel nicht mehr erlebt hat, kam der Sinn der Bräuche
abhanden, und heute ist die Lehre zum Formelkram geworden, der
Brauch erstickt den Sinn, Judäa erstickt in der Herrschaft der
Doktoren, das leere Wort kann auf die Dauer Gott nicht ersetzen.
Gott braucht sein Land, um Sinn und Leben zu bekommen. Sehen Sie,
das ist es, was Jahve heute zum Problem macht. Richtiges neues
Leben bekommen kann Jahve erst, wenn Judäa aus einem Aufenthaltsort
für seine Juden wieder zum Land seiner Juden geworden sein wird.
Jahve braucht einen Körper. Sein Körper ist diese Landschaft, sein
Leben sind diese Olivenhaine, Weinhügel, Berge, Seen, der Jordan
und das Meer, und solange Jahve und dieses Land getrennt sind, lebt
weder das eine noch das andere. Verzeihen Sie, wenn ich poetisch
geworden bin! Aber ein einfacher alter Junker vom Land kann sich
natürlich nicht so klar ausdrücken wie Sie.«
Josef hätte über das Heidnische
dieser Auffassung einiges zu sagen gehabt, aber er sagte es nicht.
Statt dessen faßte er zusammen: »Da also beide Probleme, Jahve und
der Markt, auf Lösung drängen, so finden Sie die äußeren und die
inneren Voraussetzungen eines Aufstands gegeben? Sie finden, die
›Eiferer des Tages‹ können mit gutem Grunde sagen: Der Tag ist
gekommen? Ich verstehe Sie doch richtig?«
»Wie jung Sie sind mit Ihren
Siebzig«, erwiderte Johann, »und wie streitbar! Aber so leicht
können Sie mich nicht festlegen. Gewiß, solange diese beiden
Fragen, Jahve und die Marktlage, nicht brennend geworden sind,
solange ist ein Aufstand unmöglich. Das habe ich gesagt. Aber nicht
habe ich gesagt, daß diese Faktoren die einzigen Vorbedingungen
sind. Wenn Sie meine Ansicht haben wollen, dann ist die erste, die
wichtigste Voraussetzung die, daß die militärischen Chancen eines
solchen Aufstands nicht zu schlecht sind.« – »Dann bleibt also
alles, was Sie gesagt haben, reine Theorie«, sagte Josef
enttäuscht. Doch: »Schon wieder wollen Sie mich festlegen«, tadelte
scherzend Johann. »Wie sollen wir von hier aus übersehen können,
wie die militärischen Chancen der ›Eiferer‹ sind, wenn dieser
Trajan wirklich seinen Ostkrieg beginnt?«
Jetzt aber wurde Josef
ungeduldig. »Verurteilen Sie also, ja oder nein«, fragte er, »die
Bestrebungen der ›Eiferer des Tages‹?« Allein: »Ich treibe keine
praktische Politik«, wich Johann aus. »Ich habe mich, wie Sie
wissen, bevor ich Rom verließ, eingehend erforscht, und erst als
ich feststellte, daß mir mein Herz keinen Streich mehr wird spielen
können, habe ich mir erlaubt, in mein Judäa
zurückzukehren.«
Verdrossen schweigend ging Josef
eine Weile neben ihm her. Bis Johann von neuem anhub: »Meine
Resignation hindert mich aber nicht an gewissen Träumen. Setzen wir
zum Beispiel den Fall, die ›Eiferer‹ sind nicht so vernünftig wie
wir und machen selbst bei ganz geringer Chance ihren Aufstand.
Könnten Sie sich dann, mein Josef, für uns ein größeres Glück
denken, als wenn wir uns mitreißen ließen? Stellen Sie sich vor,
wie wir beiden Wackelgreise, die wir vom Leben nichts mehr zu
erwarten haben, durch einen solchen Aufstand belebt und verjüngt
würden. Ich gebrauche nicht gerne starke Worte; aber in einer
solchen Erhebung zugrunde zu gehen, einen großartigeren Abschluß
meines Lebens könnte ich mir nicht vorstellen.«
Den Josef traf es, daß der andere
derartige Gefühle so schamlos aussprach. »Sind Sie nicht sehr
ichsüchtig, mein Johann?« fragte er. »Ist es nicht unerlaubt, ist
es nicht einfach unanständig, sich in unserm Alter so unvernünftig
jünglinghaft zu geben?« – »Sie sind furchtbar trocken geworden«,
sagte kopfschüttelnd Johann. »Sie verstehen überhaupt keinen Spaß
mehr. Denn natürlich hab ich nur im Spaß gesprochen. Aber wenn Sie
ganz abgeklärt und bis ins Letzte gerecht sein wollen, dann müssen
Sie mir zugeben: es ist nicht reine Ichsucht, wenn der Traum von
einem solchen Aufstand mir das Herz wärmt. Wahrscheinlich wird eine
neue Aktion der ›Eiferer‹ ebenso rasch zusammenbrechen wie ihre
früheren. Aber trotzdem wird sie nicht sinnlos gewesen sein. Ich
denke da an mein Problem Jahve. Ein solcher Aufstand wäre eine
Mahnung, Judäa nicht zu vergessen, das Land nicht zu vergessen über
dem Brauch und dem Wort. Und eine solche Mahnung ist notwendig. Der
Mensch vergißt so schrecklich schnell. Es wäre gut, wenn unsere
Juden einmal wieder an ihr Land erinnert würden, daran, daß es
ihr Land ist. Denn sonst besteht ernstliche
Gefahr, daß die Doktoren Jahve endgültig umbringen und daß Judäa in
Jabne erstickt.«
»Sagen Sie mir«, drängte Josef,
»sind militärische Vorbereitungen im Gang? Wissen Sie um bestimmte
Pläne der ›Eiferer‹?«
Johann schaute ihn mit einem
vertraulichen, pfiffigen und frechen Lächeln an, das sein Gesicht
verjüngte. »Vielleicht«, antwortete er, »weiß ich etwas, vielleicht
auch weiß ich nichts. Bestimmtes wissen will ich nicht, denn ich
kümmere mich nicht um praktische Politik. Was ich von mir gebe, ist
müßiges Gefasel, wie es wohl ein alter Mann von sich gibt vor einem
Freunde, wenn ein neuer Frühling kommt und er in der guten Sonne
ins Schwätzen gerät.«
Nun aber wandte sich Josef
ernstlich verstimmt ab und hatte kein Wort mehr für Johann. Da
stieß ihn dieser an und sagte verschmitzt: »Aber wenn ich auch
nichts weiß, so kenne ich doch meine Leute, und gewisse Dinge
rieche ich, so wie ich das Wetter rieche. Und darum, mein Josef,
nehmen Sie einen kleinen Rat mit auf Ihren Weg! Wenn Sie jetzt im
Land herumreisen wollen, dann gehen Sie zuerst noch nach Cäsarea
und lassen Sie sich dort im Gouvernementspalais ein umständliches
Papier ausstellen, das Sie vor jedermann ausweist! Ich meine nur,
für alle Fälle.«
Als Josef am andern Tag Gischala
verließ, begleitete ihn Johann ein gutes Stück Weges, und als sich
Josef, fortreitend, nach einiger Zeit umschaute, da stand Johann
noch immer und sah ihm nach.
In Cäsarea, wo sich Josef, dem Rate Johanns
folgend, einen neuen Passierschein ausschreiben lassen wollte,
machte er dem Gouverneur seine Aufwartung. Lusius Quietus, mit
jener beflissenen und distanzierenden Höflichkeit, wie sie fast
allen Vertrauensleuten Kaiser Trajans eigen war, lud den Ritter
Flavius Josephus zum Abendessen.
Da saß denn Josef inmitten der
hohen Offiziere und Beamten der Provinz und fühlte sich bitter
fremd und unbehaglich. Trotz der betonten Liebenswürdigkeit der
Herren spürte er auch diesmal wieder, daß sie ihn nicht voll
nahmen. Er gehörte nicht zu ihnen. Gewiß, durch seine Vergangenheit
und durch seine Privilegien war er ihnen enger verbunden als
irgendwer sonst; doch letzten Endes blieb er ein bezahlter
Agent.
Man sprach von den kommenden
Ereignissen. Vermutlich werden, wenn nun wirklich der Ostkrieg
beginnt, überall in Syrien, Judäa, Mesopotamien Unruhen losbrechen.
Johann hatte recht. Die Herren verhehlten kaum, daß ihnen ein
solcher Aufstand zupaß käme. Er lieferte ihnen den willkomme nen
Vorwand, dieses Judäa, das Gelände des Aufmarschs und des
Nachschubs, gründlich zu säubern, bevor die Armeen nach dem
ferneren Osten aufbrachen.
Immer wieder fragte man Josef als
den besten Sachverständigen, ob sich die »Eiferer des Tages« nicht
vielleicht doch von dem Aufstand durch seine Aussichtslosigkeit
würden abhalten lassen. Josef erklärte, der weitaus größte Teil der
jüdischen Bevölkerung sei durchaus loyal, und die »Eiferer« dächten
zu realistisch, um einen aussichtslosen Aufstand ins Werk zu
setzen. Gouverneur Quietus hörte aufmerksam zu, aber, wie es Josef
schien, keineswegs überzeugt.
Übrigens hatte Josef nicht mit
der Überzeugungskraft gesprochen, die ihm eigen war. Vielmehr war
er seltsam zerstreut. Dies kam, weil er von dem Augenblick an, da
er das Haus des Gouverneurs betreten, nach einem bestimmten Gesicht
gespäht hatte. Der Träger dieses Gesichtes, Paulus Bassus, wußte am
besten Bescheid um die militärischen Verhältnisse der Provinz
Judäa, die Gouverneure wechselten, aber Oberst Paulus blieb, er war
recht eigentlich der Mann, der Judäa regierte, und wenn der
Gouverneur einen Empfang gab, erwartete man, Paulus zu sehen.
Andernteils war es natürlich ausgeschlossen, daß sich Paulus hier
zeigte, wissend, er werde seinem Vater begegnen. Trotzdem, so
töricht das war, hielt dieser Vater immer wieder nach ihm
Ausschau.
Am nächsten Morgen dann begab
sich Josef in das Regierungsgebäude, um sich den Paß ausschreiben
zu lassen. Ein Gefühl der Fremdheit und der Feindseligkeit stieg in
ihm hoch, als er das Palais betrat, das kalt, weiß, prunkvoll,
mächtig und bedrohlich dastand, ein Symbol des trajanischen
Rom.
Der Raum, in dem er zu tun hatte,
lag im linken Flügel des Hauses. Als er, die Angelegenheit rasch
erledigt, mit seinem neuen Paß die große Halle durchschritt, um
sich durch das Haupttor zu entfernen, kam durch dieses Haupttor ein
Offizier. Der Offizier, ein schlanker Herr mit blassem,
fleischlosem Gesicht, elegant, straff, wandte sich nach rechts.
Niemand hätte sagen können, ob er, während er den präsentierenden
Wachen dankte, den Mann gesehen hatte, der von links kam. Niemand
auch hätte sagen können, ob Josef den Offizier erkannt hatte. Doch
schien Josef, als er das Gebäude verließ, alt und müde, der Platz
vor dem Palais, so weit und leer er war, hatte nicht genug Luft für
den um Luft kämpfenden Mann, und wer ihn sah, mochte sich wundern,
daß ein so leichtes und bedeutungsloses Geschäft wie die
Einforderung eines Passes ihn dermaßen erschöpft hatte.
Der Offizier seinesteils, als er
in den rechten Trakt des Gebäudes einbog, war noch einen Schatten
blasser als sonst, und seine schmalen Lippen waren noch mehr
verpreßt. Dann aber, noch bevor er seinen Amtsraum betrat,
entspannte er sich. Ja, Paulus Bassus oder, wie er früher genannt
wurde, Flavius Paulus schien eher befriedigt. Er war es. Die Idee,
eine Idee, die er lange gesucht hatte, jetzt war sie ihm
gekommen.
Noch am gleichen Tage sprach er
mit dem Gouverneur Lusius Quietus.
Bis zum Vorabend des Passahfestes hatte sich
Josef Ferien genommen von seinem Gute Be’er Simlai, von Frau und
Sohn, bis dahin durfte er streifen im Land, ein freier Mann, wohin
immer der Wind und sein Herz ihn trieben.
Auf den Bergen war noch Winter,
aber in den Tälern war schon der Frühling. Rastlos reiste Josef
umher, bald auf einem Maulesel, bald zu Pferde, zuweilen auch zu
Fuß. Der alte Mann erinnerte sich der Zeit, da er zum erstenmal
durch Galiläa gezogen war, seine Bewohner zu erforschen. Auch jetzt
fühlte er sich am wohlsten, solange er ein Unbekannter war, und
wenn man ihn beim Namen nannte, blieb er nicht lange.
Immerhin suchte er auch Freunde
auf und Männer, deren Art und deren Meinungen ihn beschäftigten. So
kam er auch nach B’ne Berak zu Doktor Akawja.
Josef hat Akawja ziemlich oft
gesehen, und so entgegengesetzt dessen Wesen und Lehre seiner
eigenen ist, die beiden Männer sind nicht ungern zusammen. Fraglos
ist neben Gamaliel Akawja unter den Doktoren der bedeutendste.
Dabei ist er, wie Gamaliel selber, erst Anfang der Fünfzig. Doch
während dem Gamaliel alles von Geburt an zugefallen ist, kommt
Akawja von ganz unten, er war Viehhirt, er hat sich sein Studium
und seinen Platz im Kollegium von Jabne unter schweren Mühen
erkämpfen und seine Lehre gegen hundert Widerstände durchsetzen
müssen. Es ist eine Doktrin, die mit verbissener Wildheit und dabei
mit verschlagener, vertrackter Methodik alles Jüdische absperrt
gegen alles Nichtjüdische, es ist eine enge, fanatische Doktrin,
die allem widerspricht, was Josef in seinen großen Zeiten gelebt
und in seinen großen Büchern verkündet hat. Trotzdem kann sich
Josef selber der Faszination nicht entziehen, die von diesem Doktor
Akawja ausgeht.
Er blieb einen Tag in B’ne Berak
und noch einen und einen dritten. Dann, wenn er zum Passahfest auf
seinem Gut zurück sein wollte, war es Zeit, aufzubrechen. Doch als
er sich von Akawja verabschiedete, hielt ihn dieser zurück. »Wie
wäre es, Doktor Josef«, fragte er, »wollen Sie nicht einmal mit mir
den Passahabend verbringen?«
Überrascht sah Josef hoch, ob
Akawja den Vorschlag ernst meine. Akawjas großer Kopf saß auf einem
plumpen, gewaltigen Körper. Aus dem trübsilbernen Bart kamen frisch
und rosig die Wangen hervor, das Haar war tief hereingewachsen in
die breite, mächtige, gefurchte Stirn. Dicke Augenbrauen zottelten
über den braunen Augen. Ein leidenschaftliches, strenges Feuer
glühte aus diesen Augen und machte die platte Nase vergessen. Heute
indes, jetzt, da Akawja dem Josef seinen Vorschlag machte, den
Passahabend mit ihm zu verbringen, war ein kleines, verschmitztes
Leuchten in diesen sonst so wilden und heftigen Augen.
Es ist in der Tat erstaunlich,
daß der leidenschaftlich nationalistische Akawja ihn, den Josef,
den Kompromißler, der zeitlebens Juden und Griechen und Christen
hat versöhnen wollen, zum Passahabend an seinen Tisch lädt, zu
diesem großen nationalen Erinnerungsfest. Es ist eine
Herausforderung und eine Ehrung. Für den Bruchteil einer Sekunde
ist Josef so verwundert, daß er nicht weiß, wie er sich verhalten
soll. Die Sitte erfordert, daß Josef, der Hausherr, diesen Abend
auf seinem Gute verbringt, inmitten seiner Familie und seiner
Leute, daß er ihnen die Haggada vorliest, die Erzählung von der
Befreiung der Juden aus Ägypten. Doch Josef sagt sich, daß Frau und
Sohn ihn nicht sehr vermissen werden, eher wird es ihnen eine
Genugtuung sein, daß Josef, der »Verräter«, gerade an diesem
heiligen Abend bei Akawja zu Gast ist, dem allverehrten, den die
jüdischen Patrioten als den besten ihrer Führer bewundern. Nach dem
ersten Erstaunen spürt Josef eine tiefe Befriedigung. »Ich danke
Ihnen, Doktor Akawja«, sagt er, »ich nehme die Ehre Ihrer Einladung
an, ich bleibe.« Und die beiden Männer sehen sich an, sie lächeln
sich in die Augen, mit einem erkennerischen, kämpferischen und
freundschaftlichen Lächeln.
Am Abend der Erzählung also, am
Abend der Haggada, hat Josef den Ehrenplatz inne, rechts vom
Hausherrn, im Hause des Doktor Akawja in B’ne Berak. Das
beglückende Erstaunen, das ihn ergriffen, als Akawja ihn
eingeladen, ist noch immer nicht von ihm gewichen, es ist stärker
geworden. Er fühlt sich gehoben, schwebend, dieser Abend scheint
ihm ehrenvoller als die Stunde, da Kaiser Titus seine, des Josef,
Büste aufstellen ließ in der Bibliothek des Friedenstempels in Rom
und sie bekränzte.
Denn wenn der Abend der Haggada
heute schon, so kurze Zeit nach seiner Einführung, von den Juden
nicht nur dieses Landes Israel, sondern überall auf dem Erdkreis
mit solcher Innigkeit und Inbrunst gefeiert wird, dann ist das vor
allem das Verdienst dieses Doktors Akawja; er hat die »Ordnung«
dieses Abends, seinen »Seder«, geschaffen, er hat die meisten der
kindlich rührenden, betrübten, glaubensstarken, zuversichtlichen,
grimmigen Gebete und Riten dieses Abends ersonnen, die gerade
jetzt, in der Epoche der Unterdrückung, in jeder jüdischen Brust
die Erinnerung an die grimmige Not und die wunderbare Erlösung mit
solcher Gewalt heraufsteigen lassen.
Aus der dreistöckigen, kostbaren
Silberschüssel, die allerlei Speisen enthielt, die mit naiver und
wirksamer Symbolik an Knechtschaft und Befreiung gemahnten, nahm
Akawja die Fladen ungesäuerten Brotes, die an die Hast erinnerten,
mit der seinerzeit die Juden das feindselige Land der Bedrückung
verlassen hatten. Akawja zerteilte die Fladen und wies sie den
Gästen. »Dies«, sprach er, »ist das Brot des Elends, das unsere
Väter gegessen haben in Ägypten. Wer hungrig ist, komme und esse
mit. Wer bedürftig ist, komme und feiere mit uns das Passahfest.
Dieses Jahr hier, kommendes Jahr in Jerusalem. Dieses Jahr Knechte,
kommendes Jahr freie Männer.« Überall jetzt in der Welt sprachen
die Juden diese schlichten und zuversichtlichen Sätze Akawjas, und
überall, Josef spürte es, hoben sich bei ihrem Klang die Herzen.
Ja, dieses Jahr war das letzte unserer Bedrückung, im nächsten
werden wir das Passah feiern in einem auf wunderbare Art neu
erbauten Jerusalem.
Und Akawja fuhr fort und erzählte
in den von ihm geprägten simpeln und ergreifenden Formeln die
Geschichte der Befreiung. Er erlebte seine Erzählung mit, so genau
sie ihm vertraut war, er befolgte sein Gebot: »Ein jeder Jude an
diesem Abend fühle so, als wäre er selber aus Ägypten befreit
worden.«
Josef hörte die Stimme des
Akawja. Es war eine tiefe, derbe Stimme, ohne Musik, allein ihre
heftige, gebieterische Überzeugtheit riß ihn mit. Alle an diesem
Tische berauschten sich an den Worten des Akawja, als wären sie
Wein. Manche von den Gästen des Akawja hatten, wie Josef selber,
den Glanz der gewaltigen Passahfeier des Tempels von Jerusalem noch
miterlebt, aber das Gedenken an die Wallfahrt, das Gedenken an den
Festprunk der Priester, schnürte ihnen in dieser Zeit des Elends
und der Bedrückung nicht etwa das Herz zusammen, im Gegenteil, die
grimmige Beziehung auf das Heute, die in den ärmlichen, innigen
Bräuchen war, machte den Stolz auf ihr Volk und auf seinen
gewaltigen Gott nur trunkener.
Josef dachte zurück an den Abend,
den er vor kurzem im Hause des Gouverneurs in Cäsarea verbracht
hatte, an diese nüchternen Offiziere und Beamten, die, ihrer Macht
sicher, voll kalten, realistischen Hochmutes hinunterschauten auf
jene barbarischen Idealisten, die sich immer von neuem in den
aussichtslosen Kampf für ihr Land und ihren Gott stürzten. Nein,
zehnmal lieber war er hier an der Seite und im Kreis dieser
Besiegten als jener Sieger.
Und die Besiegten berauschten
sich weiter an der Erinnerung ihrer früheren Siege und an der
Voraussicht ihrer künftigen. Einen Becher Weines stellten sie
bereit für den Propheten Elia, den größten Patrioten der Vorzeit.
Sicher wird er, dieser Vorläufer des Messias, dieser Sendbote des
rächenden Jahve, in dieser feierlichen Nacht erscheinen, und er
soll den Trank der Begrüßung vorfinden. Keiner zweifelte.
Und die Verse des großen Hallel
sangen sie, den ekstatischen Jubelpsalm, der da feiert die
Befreiung aus Ägypten und die Macht des jüdischen Gottes, der sie
bewirkt hat. »Das Meer sah es und floh«, sangen sie, »der Jordan
wandte sich zurück. Die Berge hüpften wie Lämmer, die Hügel wie
junge Schafe. Was war dir, Meer, daß du flohest, und dir, Jordan,
daß du dich zurückwandtest?« Ihre Phantasie kostete es voraus, wie
ihr Gott Jahve auch diese Römer verdarb. Die Wasser werden
zusammenschlagen über dem Kaiser Trajan und seinen Legionen und sie
verschlingen, so wie seinerzeit die Wellen des Roten Meeres den
Ägypterkönig verschlangen mit Mann und Roß und Wagen.
Halleluja!
Die Bräuche waren verrichtet, die
Gebete gesprochen. Mit vorrückender Nacht verabschiedeten sich die
Gäste. Auch Josef wollte sich zurückziehen. Doch Akawja hielt ihn,
immer wieder, bis sie schließlich nur mehr zu fünft waren, Akawja,
Josef, drei andere.
Die Kunst Akawjas bestand darin,
daß er, mittels einer bis ins Letzte verästelten Methodik, in den
Worten der Schrift eine Deutung fand für alles, was auf Erden
geschah. In der Schrift war alles vorausgesehen, alles, was war und
was jeweils sein wird, und wer nur die Schrift richtig auszulegen
verstand, besaß einen Schlüssel, den Sinn allen Weltgeschehens zu
erschließen. Die Ereignisse damals in Ägypten und die von heute
unter dem Kaiser Trajan, das war ein und dasselbe, auch ihr Ausgang
wird derselbe sein, und es hatte seinen guten Grund, wenn man
gerade heuer die Passahfeier mit so zornigem Jubel beging. Die
heilig-wilde Berauschtheit von heute abend, das war nichts als eine
vorweggenommene grimmige Siegesfeier über Rom.
Jetzt wandte sich Akawja ohne
weiteres an Josef selber, ihn herausfordernd. Moses sowohl wie der
Prophet Elia hatten ohne langes Federlesen Gott einfach gezwungen,
ihnen zu Willen zu sein und Wunder zu tun. Und so wollte es Gott.
Er wollte, daß man ihn herbeizwang. Er erwartete, daß man ihm half.
Wer da erklärte, die Zeit sei noch nicht gekommen, für den kam sie
nie. Vielmehr mußte man glauben, fanatisch glauben, daß der
Messias, ein Messias in Fleisch und Blut, morgen kommen werde.
Diese Nacht wird er kommen, der Prophet Elia, der Vorläufer, und
seinen Becher leeren. Wer das glaubte, wer so fest daran glaubte
wie an das Einmaleins, der zwang Gott, den Messias morgen zu
senden.
Akawja liebte es, sich
volkstümlich zu geben. Ein riesengroßer Bauer, saß er vor Josef,
fest und seßhaft in seinem Glauben, derbe, vulgäre Wendungen ließ
er in seine Rede einfließen, und grob zuletzt fiel er den Josef an:
»Wenn alle es so machten wie Sie, wenn alle sich darauf
beschränkten, die Hände in den Schoß zu legen und Geduld zu zeigen,
dann können wir warten, bis uns Gras aus dem Mund wächst, und der
Messias ist immer noch nicht da.« Höhnisch und drohend kollerten
ihm die Worte von den Lippen, heftig strich er sich die Krumen des
ungesäuerten Brotes aus dem trübsilbernen Bart. Josef saß vor ihm,
ein feiner, schmächtiger Aristokrat; aber er war nicht gekränkt, er
wollte sich den großen Abend nicht verderben. Er verschob, was er
zu sagen hatte, auf später und tauchte ganz unter in der Lust, sich
anstecken zu lassen von dem fanatischen Glauben der
andern.
Denn immer hemmungsloser gaben
sich diese ihren schönen Träumen hin. Aber waren es nur Träume?
Nein, es war viel mehr, es waren Pläne, weitgediehene. Da sah etwa,
als man von den nächsten sieben Wochen sprach, den Wochen der
Zählung, den Wochen zwischen Passah- und Pfingstfest, da sah also
der Jüngste der Tischrunde, der junge, schöne Doktor Eleasar, mit
seligem Blick um sich und fragte: »Wo, meine Älteren, wo, meine
Doktoren und Freunde, werden wir dieses Pfingstfest begehen?«
Doktor Tarfon, mit halber Kopfwendung gegen Josef, warf dem
unvorsichtigen Sprecher einen verweisenden Blick zu. Akawja aber,
als hätte er nicht soeben erst selber den Josef grob angefallen,
sagte: »Habt ihr etwa Angst, meine Freunde, vor dem Manne, der den
›Apion‹ geschrieben hat?«
Josef erschrak, als er die Worte
des jungen Doktors Eleasar hörte; sein Verstand sagte ihm, daß er
sich empören müsse gegen das tollkühne, aussichtslose Unternehmen,
das diese Männer offenbar schon für die nächsten Wochen planten.
Doch seinem Schreck war viel Süße beigemischt, und als er gar die
Worte des Vertrauens vernahm aus dem Munde des Akawja, da glänzte
ein großes Glück in ihm auf. Immer lebendiger stiegen in dem
beinahe Siebzigjährigen die alten Lockungen hoch, er schwamm mit in
der gottseligen Trunkenheit der andern. Auch er war jetzt ganz
sicher, daß der Prophet Elia noch in dieser Nacht seinen Becher
Weines leeren werde.
Auskostete er sie wie noch
niemals, diese Nacht der Obhut, da der Herr sein Volk Israel in
seinen besondern Schutz nimmt. Mit den andern lauschte er gläubig
den wilden und weisen Reden des plumpen Zauberers Akawja, mit den
andern erging er sich in wüsten und großartigen Phantasien vom
Untergang der Feinde und von der Errichtung des neuen
Jerusalem.
So, mit den andern, saß er die
ganze Nacht. Und mit den andern bedauerte er es, als die Schüler
kamen und die Doktoren daran erinnerten, daß die Zeit des Gebetes
gekommen sei. Denn der Morgen war da.
Zwei Tage später, als er mit ihm allein war,
fragte Josef den Akawja geradezu: »Warum haben Sie mich eingeladen,
über das Passahfest zu bleiben?« Der riesige Akawja saß ruhig da,
die Fußknöchel gekreuzt, die rechte Hand lag lässig auf dem
Schenkel, den linken Ellbogen stützte er auf die Lehne des Stuhls,
den Kopf in die linke Hand. Besinnlich, aus seinen braunen, nicht
großen Augen, beschaute er das hagere Gesicht des Josef. Dann,
gleichmütig, in dieses Gesicht hinein antwortete er: »Ich wollte
mir einmal einen Verräter aus der Nähe anschauen.«
Josef, vor dieser unerwarteten
Beschimpfung, fuhr zurück. Akawja gewahrte es mit Genugtuung. »Ich
habe«, fuhr er fort, »meine Schüler von je Respekt vor dem Alter zu
lehren gesucht. Mit allem Respekt also vor einem grauen Haupt
wiederhole ich: Sie sind ein Verräter. Ich gebe zu, daß Sie viele
Schäden, die Sie angerichtet haben, später wettmachten durch
Verdienste. Heute sind Sie ein Verräter vor allem an sich selber
und an Ihrer eigenen Seele.« Ungeschlacht saß Akawja da; die
Gehaltenheit, mit der er zu sprechen suchte, betonte das Bäurische
seiner Aussprache.
»Was Sie sagen, mein Doktor
Akawja«, erwiderte Josef, und ohne sich dessen bewußt zu werden,
sprach er besonders höflich und mit dem Akzent des Mannes, der sich
seinerzeit den großen Doktortitel von Jerusalem erworben hatte,
»was Sie sagen, klingt allgemein. Wollen Sie es mir nicht im
einzelnen erklären?«
Akawja schnaufte, blies sich in
die Hände, rieb sie, als machte er sich daran, eine schwere Last zu
heben. Dann sagte er: »Jahve hat Sie bestimmt, für seine Sache, für
Israel zu kämpfen. Sie aber haben die Arbeit, sowie sie anfing,
Mühe und Mut zu verlangen, hingeschmissen. Sie haben sich in die
Literatur verdrückt und kosmopolitisches Geschwätz gemacht. Das hat
Sie auf die Dauer gelangweilt, und Sie sind zurück in den Kampf
gegangen. Dann wurde es dort wieder mulmig, und Sie sind von neuem
verduftet, zurück in Ihr bequemes und unverbindliches Geschreibe.
Ein Mann aus dem Volke wie ich heißt das Verrat. Ich sage es, wie
es ist, mit allem Respekt vor einem grauen Haupte.«
»Sind Ihre Anwürfe nicht immer
noch sehr allgemein?« entgegnete, noch höflicher, Josef.
»Vielleicht aber auch liegt es nur an meinem alten Kopf, daß ich
mir nichts Rechtes darunter denken kann.« – »Ich will versuchen«,
erwiderte Akawja, »meine simple Meinung in Ihr gebildetes Aramäisch
zu übersetzen. Sie sehen ganz genau, mein Doktor Josef, was die
Stunde und der Tag erfordert. Aber Sie wollen es nicht sehen, Sie
machen lieber die Augen zu und ›kämpfen‹ für ein Ideal, von dem Sie
ganz genau wissen, daß es unerreichbar ist. Sie flüchten vor der
Schwierigkeit des Erreichbaren in den bequemen Traum des nie
erreichbaren Ideals. Sie verraten das Heute und Morgen um einer
nebelhaften Zukunft willen. Sie verraten den Messias von Fleisch
und Blut, der vielleicht schon unter uns herumgeht, um eines
verblasenen, geistigen Messias willen. Sie verraten den jüdischen
Staat einer kosmopolitischen Utopie zuliebe.« Schwerfällig kamen
die gebildeten Worte aus dem klobigen Mann.
»Was versprechen Sie sich
eigentlich davon«, fragte sehr ruhig Josef, »daß Sie mir alle diese
unfreundlichen Dinge sagen?
Es imponierte dem Akawja, daß
Josef so ruhig blieb, aber es ärgerte ihn auch. »Wir wissen nicht,
was wir mit Ihnen anfangen sollen«, sagte er schließlich grimmig
und strähnte sich den trübsilbernen Bart. »Welches von Ihren
Büchern gilt? ›Der Jüdische Krieg‹? Die Universalgeschichte? Oder
der ›Apion‹? Einem großen Schriftsteller«, grollte er, »müßte es
doch möglich sein, sich so eindeutig auszudrücken, daß ihn das Volk
versteht. Ich bin kein großer Schriftsteller«, schloß er plump,
»aber mich versteht das Volk.«
»Ich verstehe Sie nicht, Doktor
Akawja«, antwortete liebenswürdig Josef, mit einem kleinen Ton auf
dem »ich«. »Ich verstehe nicht, warum Sie den ›Eiferern des Tages‹
das Wort reden. Sie wissen, daß unter diesem Kaiser Trajan die Zahl
der Legionen verstärkt ist, daß die östlichen Legionen aufgefüllt
sind, daß die Militärstraßen, das Kriegsmaterial auf eine Höhe
gebracht sind wie niemals zuvor. Wer einen Löwen sattelt, muß ihn
zu reiten verstehen. Sie als Mann von Urteil wissen, daß Sie ihn
nicht reiten können. Warum also reden Sie einem Aufstand das Wort?
Der Tag wird kommen, gut! Aber es ist an Ihnen, zu bestimmen, wann
er da ist. Und wenn Sie das Volk zur Unzeit aufrufen, ruinieren Sie
dann nicht den Tag und laden schwere Schuld auf sich?«
»Der Gott, der mich den Löwen
satteln hieß«, sagte Akawja, »wird mich auch lehren, ihn zu
reiten,« Dann, daran denkend, daß das ein Satz für eine
Volksversammlung war, aber nicht für den Schriftsteller Josef Ben
Matthias, verstand er sich dazu, ihn tiefer in sein Inneres sehen
zu lassen. »Nicht die Vernunft«, sagte er grimmig, »kann
entscheiden, ob der Tag gekommen ist, nur der Instinkt kann es.
Immer wieder wird die Vernunft zuschanden vor Gott. Ich sage das
nicht etwa, weil ich der Vernunft und ihren Verlockungen aus dem
Weg gegangen wäre. Ich kenne die Freuden der Logik und der
Gelehrsamkeit. Ich habe die Schrift und die Lehre studiert mit
allen Mitteln, und ich habe mich herumgeschlagen mit der
Philosophie der Heiden. Aber alles, was ich gelernt habe, ist, daß
einem, wenn es Ernst wird, doch nur das innere Wissen weiterhilft,
der Glaube an den über alle Vernunft erhabenen Gott Israels, und
nicht die Logik und nicht der Glaube an immer gleiche Ursachen und
Wirkungen. Ich glaube an Moses und die Propheten und nicht an
Trajan und seine Legionen. Ich will in Bereitschaft sein, wenn der
Umschwung kommt, wenn der Tag kommt. Und der Tag kommt, das sage
ich Ihnen! Gesetze und Bräuche sind gut und Gott wohlgefällig, aber
sie bleiben Geschwätz, wenn sie nicht die Vorbereitung sind eines
selbständigen Staates mit Polizei und Soldaten und souveräner
Gerichtsbarkeit. Helfen kann uns nur die Wiedererrichtung des
Tempels, des wirklichen aus Quadern und Gold, und die
Wiedererrichtung des wirklichen Jerusalem, einer Stadt aus Stein
und Holz und mit uneinnehmbaren Mauern. Sehen Sie, mein Doktor und
Herr, die Massen begreifen das. Man muß sehr gelehrt sein in
griechischer Weisheit, um es nicht zu begreifen.«
Es wäre sinnlos gewesen, gegen
den Fanatismus des Mannes mit Argumenten der Vernunft anzugehen.
Nicht etwa, als ob Akawja der Vernunft ermangelt hätte. Im
Gegenteil, seine Vernunft war wohl nicht geringer als seine eigene,
des Josef. Aber des Akawja Glaube war eben stark genug, um über
seine Vernunft obzusiegen.
Diese Einsicht machte den Josef
verstummen. Und jetzt gar fühlte er sich vollends klein. Denn jetzt
erhob sich Akawja, riesig kam er auf ihn zu, den großen Kopf neigte
er vertraulich zu ihm herunter, die kleinen Augen unter der
breiten, gefurchten Stirn und den dicken, zottigen Augenbrauen
schauten verschlagen und besessen zugleich sehr nahe in die seinen.
Und, die derbe Stimme gedämpft, geheimnisvoll, verkündete er ihm:
»Sie wissen, warum ich Gamaliel so kräftig unterstützte, als er das
Hohelied aufnahm in die Reihe der Heiligen Schriften? Weil dieses
Hohelied ein Gleichnis ist, ein Wechselgesang zwischen dem
Bräutigam Gott und der Braut Israel. Wenn aber Jahve der Bräutigam
ist, dann muß er werben um seine Braut Israel, dann muß er zahlen.
Wie hart und bitter hat er den Jakob dienen lassen um seine Braut!
Gott muß Israel erwerben, er muß sich sein Volk verdienen. Jahve
hat Israel eine schwere Sendung auferlegt, Israel wird sie
erfüllen. Aber auch Jahve muß den Vertrag erfüllen, er muß Israel
seine Macht wiedergeben, seinen Staat. Und zwar nicht irgendwann,
son dern in allernächster Zeit, jetzt. Sie, Josef Ben Matthias,
wollen es Gott zu leicht machen. Sie wollen Israel verschleudern.
Ich bin nicht so vornehm. Ich bin Bauer und mißtrauisch. Ich
verlange Zahlung, wenn ich einen Teil meiner Leistung erfüllt habe.
Ich verlange von Jahve – verstehen Sie mich recht, ich bitte nicht,
ich verlange –, daß er Israel seinen Staat wiedergibt und seinen
Tempel.«
Josef erschrak vor der Wildheit,
mit welcher der Mann seine anmaßende, verschlagene Forderung
verkündete; er war von ihrem Recht offenbar bis ins Herz besessen.
»Sie machen sich Jahve nach Ihrem Bilde«, sagte Josef, leise,
betreten. »Ja«, gab Akawja zu, unumwunden, herausfordernd. »Warum
soll ich mir Jahve nicht nach meinem Bilde machen, da er mich nach
dem seinen gemacht hat?« Doch dann kehrte er aus dem Bereich der
Mystik in die Realität zurück. »Aber haben Sie keine Angst!«
tröstete er den Josef, er lächelte und sah trotz des gewaltigen,
trübsilbernen Bartes auf einmal sehr jung aus. »Ich habe«, verriet
er, »dem Großdoktor in die Hand versprochen, ich würde keine
jüdische Aufstandsbewegung fördern, solange nicht Edom, solange
nicht die Römer eine neue Untat begehen würden.« Sein Lächeln wurde
listig und machte ihn unversehens dem Johann von Gischala ähnlich.
»Ich konnte freilich«, sagte er, »dem Großdoktor dieses Versprechen
leicht geben. Denn ich bin sicher, eine neue Untat der Römer wird
nicht lange auf sich warten lassen. Die römische Klugheit ist eine
dumme Klugheit, eine Klugheit auf kurze Sicht, ohne Gott und ohne
Gnade. Die Römer werden die Untat begehen, ich und die ›Eiferer‹,
wir werden unseres Versprechens ledig sein, und Gott wird uns
helfen, nicht den Römern.«
Josef, beunruhigt durch diese Unterredung,
ging nach Jabne, um mit dem Großdoktor die politische Lage
durchzusprechen.
Gamaliel war nicht nur nicht
eifersüchtig auf Akawja, er hatte sogar mit klugem Bedacht sein
möglichstes getan, dessen Ansehen zu erhöhen. Denn Gamaliel hätte
seine Herrschaft über die Juden nicht halten können, hätte er nicht
den heftigen, aufrührerischen Akawja an seiner Seite gehabt. Wenn
Gamaliel lehrte: »Seid geduldig, fügt euch den Römern!«, so
ergänzte Akawja: »Aber nur auf kurze Zeit, dann dürft ihr aufstehen
und über den frechen Feind herfallen.« So kamen beide auf ihre
Rechnung: der Großdoktor; denn das Volk hätte das ewige,
nervenzerreibende Warten, das er ihm zumutete, nicht ertragen, wäre
nicht Akawja gewesen und sein Zuspruch. Akawja; denn sein Verstand
scheute das Abenteuer, das sein Herz ersehnte, und im Grunde war er
froh, daß Gamaliels Bedachtsamkeit es immer wieder verhütete und
hinausschob. Die beiden Männer, so verschieden sie waren, der
tolerante, weltmännische Gamaliel und der fanatische, bäurische
Akawja, liebten, ehrten und achteten einander.
Bald mußte Josef erkennen, daß
der Großdoktor um die politische Situation viel besser Bescheid
wußte als er selber, der doch erst vor kurzem beim Gouverneur und
bei Akawja gewesen war.
»Kaiser Trajan«, setzte Gamaliel
dem Josef auseinander, »ist nicht etwa judenfeindlich. Allein seine
gewaltige Kriegsmaschine erfordert, um sachgemäß in Gang gesetzt zu
werden, das Land der Juden als Aufstellungsraum, Die Juden also
sind ihm lästig, ihm und seinem Gouverneur Lusius Quietus. Doch ist
auch der Gouverneur an sich kein Feind der Juden, er möchte, da er
den Wohlstand der Provinz nicht vernichten will, allzu gefährliche
Maßnahmen lieber vermeiden. Leider aber ist in seiner nächsten
Umgebung ein Mann, der solche Maßnahmen geradezu herbeisehnt. Und
jetzt hat, nach zuverlässigen Berichten, dieser Mann die
patriotisch gewalttätige Stimmung klug genutzt, die aus den
Vorbereitungen zum Ostkrieg entstand, und den Gouverneur zu seinen
Anschauungen bekehrt.«
Es kostete den Josef Mühe,
Gamaliel mit ganzer Aufmerksamkeit zu folgen. Denn er wußte: wenn
der Großdoktor den gefährlichen Mann in der Umgebung des
Gouverneurs so vag bezeichnet, so geschieht das mit Rücksicht auf
ihn, auf Josef; denn dieser Gefährliche, Unnennbare ist niemand
anders als Paulus Bassus, Josefs Sohn.
Gamaliel aber erzählt weiter, und
Josef, trotz des Sturmes in seinem Innern, hört zu. Denn des
Großdoktors Bericht verdient, weiß Gott, ein gespanntes Ohr. Der
Unnennbare nämlich hat eine wahrhaft höllische Idee ausgeheckt, der
Gouverneur hat, wenn auch nur mit halbem Herzen, seine Zustimmung
gegeben, und nun wartet man nur mehr die Einwilligung Roms ab, um
den unseligen Plan in Wirklichkeit umzusetzen. Es geht aber um
folgendes: man will für die Provinz Judäa, um die unzuverlässigen
Elemente besser von den zuverlässigen absondern zu können, die
Kopfsteuer neu einführen.
Die Kopfsteuer. Die zwei
Drachmen. Unter allen Bedrükkungen, welche die Römer ersonnen
haben, die diffamierendste. Wenn diese von dem rechtlichen Kaiser
Nerva abgeschaffte Sondersteuer wirklich neu eingeführt werden
sollte, so wird das ein Signal zu dem Aufstand sein, den Rom will
und den leider auch die »Eiferer des Tages« wollen. Wahrscheinlich
hat auch Akawja von der bevorstehenden Einführung dieser Steuer
gehört, und wahrscheinlich ist das die »Untat«, auf die er
angespielt hat.
Josef hört Gamaliels Bericht wie
gelähmt. Was ihn, den sonst so beweglichen, lähmte, war der
Gedanke, daß es der Unnennbare, daß es sein Paulus war, den die
Gottheit dazu ausersehen, dieses neue Unheil über Judäa zu bringen.
Welch ein Mann des Unglücks war er, Josef! Wie ging, immer von
neuem, Unglück aus von allem, was er gemacht hat, von seinen
Söhnen, von seinen Büchern! Unbeweglich saß er, wie
betäubt.
Bis ihm endlich bewußt wurde, daß
Gamaliel schon längere Weile zu sprechen aufgehört hatte. Er suchte
Gamaliels Auge, mit Scheu. Der erwiderte seinen Blick, und Josef
erkannte, daß der andere genau wußte, was in ihm vorging. »Ich
danke Ihnen«, sagte Josef.
»Wenn Cäsarea die Kopfsteuer
verfügt«, fuhr Gamaliel fort, als wäre die stumme Zwiesprache nicht
gewesen, »dann ist Akawja des Versprechens entbunden, das er mir
gegeben hat. Trotzdem ist es möglich, daß er sich ruhig halten
wird. Er weiß so gut wie ich, daß die ›Untat‹ Cäsareas nichts
ändert an dem Kräfteverhältnis Roms und Judäas. Er hat einen
starken Verstand. Es bleibt die Frage, ob dieser starke Verstand
aufkommt gegen sein noch stärkeres Herz.« Er sah trübe vor sich
hin. Bisher war er dem Josef immer als ein junger Mann erschienen.
Jetzt sah der alte Josef, daß auch Gamaliel nicht jung geblieben
war. Sein rotbrauner Bart war nun beinahe völlig grau, die
gewölbten Augen matt, Körper und Antlitz hatten ihre imponierende
Straffheit verloren.
Unvermutet indes richtete sich
der Großdoktor hoch und war wieder ganz der frühere. »Ich möchte
Sie um einen Dienst bitten, mein Josef«, sagte er herzlich und doch
im Tone des Befehlsgewohnten. »Gehen Sie nach dem Norden! Sprechen
Sie nochmals mit Johann von Gischala! Wenn es mir nicht glücken
sollte, den Akawja zurückzuhalten, vielleicht glückt es Ihnen, den
Johann zu bändigen, so daß wenigstens der Norden ruhig bleibt. Sie
sind befreundet mit ihm, er hört auf Sie. Er hat einen so klaren
Verstand. Reden Sie ihm zu, daß er ihn gebraucht!«
»Gut«, erwiderte Josef. »Ich
werde nochmals nach Gischala gehen.«
Seit dem Aufbruch von seinem Gut war Josef
rastlos gewesen. Jetzt wurde er noch unruhiger. In Eile brach er
auf, und er reiste in immer größerer Eile. Dabei wählte er nicht
den kürzesten Weg, sondern reiste kreuz und quer. So durchzog er
noch einmal einen großen Teil des Landes Judäa und des Landes
Samaria, in Hast, als hätte er etwas zu versäumen, als könnte er,
was er jetzt nicht noch einmal sah und in sich aufnahm, niemals
wieder sehen.
In Samaria dann erfuhr er, der
Gouverneur habe durch ein Edikt die Wiedereinführung der Kopfsteuer
für die jüdischen Einwohner der Provinz verfügt. Und schon den Tag
darauf, in dem kleinen Ort Esdraela, erzählte man, es sei in
Obergaliläa zu schweren Unruhen gekommen. Genaues konnte man ihm
nicht mitteilen. So viel aber war gewiß, daß in mehreren
galiläischen Ortschaften mit gemischter Bevölkerung die Juden über
die Römer, Griechen und Syrer hergefallen waren. Schon seien indes,
hieß es, römische Streitkräfte aus Cäsarea abgegangen, um die
Ordnung wiederherzustellen. Führer des Aufstands, wollte man gehört
haben, sei Johann von Gischala.
Nach alledem war Josefs Sendung
offenbar durch die Ereignisse erledigt, und er hatte im Norden
nichts mehr zu suchen. Das klügste war, schleunigst nach Be’er
Simlai zurückzukehren und dort nach dem Rechten zu sehen, nach
Mara, nach Daniel.
Aber als er sich das klarmachte,
wußte er bereits, daß er’s nicht tun werde. Dem Schreck, mit dem er
die Meldung gehört hatte, war vom ersten Augenblick an eine große
Süße beigemischt gewesen. Mit Stolz und Beschämung nahm er wahr,
daß er sich leicht fühlte, frei, glücklich. Er erkannte, daß er die
ganzen letzten Jahre in Judäa nur auf diesen Aufstand gewartet
hatte. Jetzt hatten diese Jahre in Judäa Sinn und Bestätigung
bekommen. Denn wenn er die Nachricht von dem Aufstand in Rom
erhalten hätte, verspätet, fern von den Geschehnissen, dann hätte
er das wichtigste Ereignis seines Lebens versäumt.
Wahnsinn! Es ist blanker
Wahnsinn, in den Aufstand eingreifen zu wollen. Es wird anfänglich
einige Siege geben, voll von Begeisterung und Seligkeit; dann wird
eine harte, endgültige Niederlage folgen. Die Römer werden
erreichen, was sie wollen, sie werden alles, was unter den Juden
noch da ist an Mannhaftigkeit, Jugend, Kampfesmut, blutig
zertrampeln. Es ist Verbrechen und Narrheit, dabei
mitzuwirken.
So, mit Aufbietung all seiner
Vernunft, konnte er den Rausch verjagen, der bei der Meldung von
der Erhebung über ihn gekommen war. Doch nur auf
Augenblicke.
In der Nacht gar, auf dem
dürftigen Lager, das der kleine Ort ihm bot, bekam der Rausch volle
Gewalt über ihn, es gab kein Mittel mehr dagegen, und wollüstig
überließ er sich dem gefährlichen Glück. Er fühlte sich wie damals,
als er, ein junger Mensch, in jenem ersten Kriege gegen die Römer
die Wehrverbände Galiläas befehligt hatte, schwebend, getragen.
Ach, das noch einmal spüren, diese glühende Heiterkeit, mit der sie
damals in die Schlacht gezogen sind! Dieses Verschmelzen einer in
den andern! Dieses tausendfache Leben, strömend, weil es vielleicht
noch heute zu Ende ist! Diese große Verzückung, gemischt aus
Frommheit, Gewalttätigkeit, Angst, Selbstsicherheit und einer Lust
ohne Grenzen!
Auf seinem Lager von der einen
Seite nach der andern warf er sich. Preßte die Zähne zusammen,
beschimpfte sich. Werde nicht abermals verrückt auf deine letzten
Tage, Josef! Wenn ein junger Mensch sich von derartigem Wahnsinn
ergreifen läßt, das kann gottgewollt, kann erhaben sein. Aber wenn
es einer wie er so macht, ein Greis, an einem solchen trunkenen
Greise ist nichts Erhabenes, er ist lächerlich, nichts
sonst.
Er ist nicht lächerlich. Wenn
nach soviel Jahren, wenn nach so vielen Erfahrungen die Stimme in
ihm immer noch mit solcher Gewalt ruft, dann hat diese Stimme
recht. Und wenn es die Stimme der Tollheit sein sollte, dann kommt
diese Tollheit von Gott. Akawja hat recht. Wer wagt zu behaupten,
daß Jahve identisch ist mit Logik und dürrer Vernunft? Hat aus den
Propheten Vernunft gesprochen? Oder ein anderes? Wenn ihr, mit
dreister Pedanterie, dieses andere Tollheit nennen wollt, dann sei
sie gesegnet, diese Tollheit.
Und mit Wollust stürzte er sich,
der alte Josef, in die Tollheit. Ja, Johann von Gischala hatte
recht, und Akawja hatte recht, und das Buch Judith und das Buch des
Josef Ben Matthias gegen Apion, und nicht recht hatte der
Großdoktor und die Universalgeschichte des Flavius
Josephus.
Nachdem er sich einmal
entschlossen hatte, toll zu sein, brach er noch in der Nacht auf,
um sich zu Johann von Gischala durchzuschlagen.
Er fand einen Maultiertreiber,
der ihn bis in die kleine Ortschaft Atabyr brachte, die auf der
halben Höhe des gleichnamigen Berges lag. Weiter wagte sich der
Mann nicht mit. Auch die Bewohner des kleinen Ortes rieten ab,
weiter vorzudringen. Denn hier begann das Gebiet der militärischen
Operationen.
Josef also, nachdem er sich ein
wenig Mundvorrat gekauft hatte, setzte seinen Weg allein fort. Er
vermied die Heerstraße und wählte abseitige, verlorene Hirtenpfade
in den Schluchten und Höhen des Gebirgs. Hier hatte er seinerzeit
gekämpft, er hatte den Berg befestigt, er kannte die Gegend gut.
Still, gleichmäßig, behutsam, in besonnener Eile schritt
er.
Ein strahlender Frühlingstag
stieg auf. Der Winter hatte lange gedauert in diesem Jahr, noch lag
Schnee auf den Bergen Obergaliläas, er speiste die Bäche, so daß
sie voll und fröhlich prasselten. Die Luft war von beseligender
Reinheit, das Entfernte war klar und nahe. Josef stieg tiefer
hinein ins Bergland, er befahl seine Erinnerung herbei, sie
gehorchte, jede Höhe,
jedes Tal war ihm vertraut.
Da war der überhängende Kamm. Von
ihm aus mußte er den See erblicken können, seinen See, den See von
Tiberias, den See Genezareth. Siehe, da glitzerte er schon herauf!
Winzige Punkte bewegten sich auf seinem Spiegel; Josefs Erinnerung
verwandelte sie in die braunroten Segel der Fischerboote.
Er kletterte über den Kamm,
suchte sich eine Bergfalte, die ihn decken könnte, fand sie. Hockte
nieder. Jene Ruhelosigkeit, die ihn die ganze Zeit gequält, endlich
wich sie von ihm. Er durfte rasten. Er setzte sich bequemer, aß von
seinem Vorrat, Früchte, etwas Fleisch, Brot, trank von seinem
Wein.
Ein kleiner, fröhlicher Wind
ging. Josef dehnte die Brust. In zauberisch heller Luft, ein wahrer
Garten Gottes, lag das Land Galiläa vor ihm, unter ihm, fruchtbar,
mannigfach mit seinen Tälern, Hügeln, Bergen, mit seinem See
Genezareth, dem Flusse Jordan, der Meeresküste, mit seinen
zweihundert Städten. Was Josef nicht sah, das ahnte er, das wußte
seine Erinnerung, In sich ein trank er die Sicht. Rötlichgrau war
das Gestein, saftig grün die Johannisbrotbäume, silbrig die Oliven,
schwarz die Zypressen, braun die Erde. In der Ebene, winzig kleine
Figürchen, hockten die Bauern auf dem Boden und rochen an dieser
Erde nach dem Wetter, Schönes, reiches, buntes, fruchtbares Land.
Jetzt im Frühjahr sind selbst seine Wüsten bedeckt von graugrün und
violettem Geblüh.
Aber man gönnt dem Land seine
Fruchtbarkeit nicht. Vielleicht ist es zu fruchtbar. Vielleicht hat
doch der frühere Johann von Gischala recht, und es ist doch der
Preis des Weins und des Öls, der den endlosen Krieg stiftet, der um
dieses Land geht. Gedüngt mit Blut ist es auf alle Fälle.
Vielleicht will die Gottheit, daß es gedüngt werde mit
Blut.
Josef rastete in seiner
Bergfalte. Alle Bedrängnis und aller Zwiespalt waren von ihm
abgefallen. Seine Gedanken wellten auf und ab, und es war ihm recht
so.
Die Gottheit hat es ihnen, den
Juden, zugeteilt, dieses Land, in dem Milch und Honig fließt. Sie
hat ihnen mehr zugeteilt. »Nicht Zion heißt das Reich, das ich euch
gelobte, / Sein Name heißt: Erdkreis.«
Aber die Herrschaft über den
Erdkreis, das ist eine vage, ferne Sache. Wenn er es einmal
wenigstens von ferne hätte sehen dürfen, das Land seiner Hoffnung,
das Land des Messias, des Rechtes, der Vernunft. Aber: »Da kannst
du warten, bis dir Gras aus dem Munde wächst.« Josef lachte, an die
derben Worte des Akawja denkend. Ein großartiger Mann, dieser
Akawja!
Wieder schaut er, genießt er die
Sicht. Dieses Galiläa zumindest, das ist da. So viel hat er fallen
lassen müssen aus seinen Händen, Hoffnungen und Glauben; dieses
Galiläa läßt er nicht fallen, daran klammert er sich jetzt, das
hält er.
Vernunft hat er verkünden wollen,
das Reich der Vernunft, des Messias. Solch ein Prophetentum, mein
Lieber, das ist zu teuer. Wer da den Propheten macht, hat das mit
zu vielen Entbehrungen zu bezahlen. Aber süß und ehrenvoll ist es,
nichts zu predigen als sein Volk, als seine Nation. Prophetentum
dieser Art, das nährt seinen Mann, innen und außen. Es schafft Ruhm
und innere Befriedigung.
Aus der Ferne, von unten, kam
Geräusch. Josef wußte, daß tief zu seinen Füßen, ihm unsichtbar,
eine Straße lief. Das Geräusch schien ihm das Getrabe von Pferden.
Unwillkürlich duckte er sich tiefer in die Felsfalte, in deren
Schutz er lag.
Wieso eigentlich ist er hier? Was
hat er hier zu suchen, hier in Galiläa, mitten im Aufruhr, mitten
im Krieg, er, der Alte? Hier kann er nur sich selber verderben,
helfen kann er keinem.
Unsinn! Als ob er jemals einem
hätte helfen wollen! So alt hat er werden müssen, um zu erkennen,
daß er nie einem andern hat helfen wollen, immer nur sich selber.
Ich hat er sein wollen, immer nur Ich, und von allem, was er
gedacht und geschrieben und sich vorgemacht hat, ist der Psalm vom
Ich das einzig Wahre:
Ich will ich sein, Josef will ich
sein,
So wie ich kroch aus meiner Mutter Leib,
Und nicht gestellt zwischen Völker
Und gezwungen, zu sagen:
von diesen bin ich oder von jenen.
Justus hat in Wahrheit helfen wollen, den
andern, den fernen Geschlechtern. Armer, großer, ritterlicher
Justus! Zur Unzeit bist du geboren, zur Unzeit hast du dich
abgemüht, ein Vorläufer, ein Verkünder unzeitgemäßer Wahrheit.
Verbissen und unglücklich hast du dein Leben verlebt, verbissen und
unglücklich bist du gestorben, vergessen ist dein Werk. Der Lohn
des Gerechten.
Die messianische Hoffnung muß
sein, gewiß, sonst könnte man nicht leben. Und es muß Leute geben,
die den wahren Messias verkünden, nicht den des Akawja, sondern den
des Justus. Sie sind auserwählt, diese Leute, aber sie sind zum
Unglück auserwählt.
Ich, Josef Ben Matthias, habe es
erprobt. Ich hab es gespürt, das echt Messianische, die ganze
Wahrheit, und ich war unglücklich. Erst als ich darauf verzichtete,
wurde es besser. Und einverstanden mit mir selber, glücklich bin
ich nur dann gewesen, wenn ich gegen die Vernunft gehandelt habe.
Schöne Zeit, herrliche Zeit, da ich ganz meinem Trieb gefolgt bin,
da ich das Buch gegen Apion schrieb, das dümmste und beste, was ich
geschrieben habe! Und vielleicht, trotz allem, das Gott am meisten
gefällige. Denn wer will entscheiden, welches der gute Trieb ist
und welches der böse? Und selbst wenn es diesem bösen entsprungen
sein sollte, heißt es nicht in der Schrift: »Du sollst Gott dienen
auch mit dem bösen Trieb!«
Er dehnte die Brust. Leicht und
frisch fühlte er sich, leicht ging ihm der Atem aus dem Mund, ganz
jung fühlte er sich. Um seine alten Lippen war ein Lächeln, schier
töricht vor Glück. Beinah siebzig hat er werden müssen, ehe er so
weise wurde, unweise zu sein. Gelobt seist du, Jahve, unser Gott,
der du mich hierher hast gelangen lassen und mich noch einmal atmen
lässest die süße, reine Luft Galiläas und die wilde, würzige des
Krieges!
In seinem Innern wußte er, daß
dieses Glück nicht lange dauern wird, daß er nur mehr ein paar Tage
haben wird oder vielleicht auch nur ein paar Stunden oder
vielleicht sogar nur ein paar elende Minuten. Nein, nicht elende
Minuten, sehr gute vielmehr und glückliche.
Er machte sich daran, seinen Weg
fortzusetzen, hinunterzusteigen. Er hatte Geräusch gehört und war
behutsam. Er vermied jeden breiteren Pfad, duckte sich, wo er
gesehen werden konnte, trat vorsichtig auf. Doch einmal trat er
ungeschickt. Ein Stein löste sich und fiel unglücklich, so daß man
ihn auf der Straße hörte. Die aber auf der Straße zogen, waren
römische Reiter und hielten an und machten sich daran, den Berghang
abzusuchen.
Josefs Gesicht war nicht mehr so
gut wie sein Gehör; er wußte lange nicht, ob es Leute von den
Seinen seien oder Römer, die da den Berghang absuchten. Dann kamen
sie näher, und er erkannte, daß es Römer waren.
Einen Augenblick durchströmte ihn
wilder Schreck und spülte alle Kraft aus ihm weg, Er war heute eine
gute Strecke Weges gegangen, auf und ab, auf rauhem Pfad, und
plötzlich war seine ganze Frische wieder fort. Er war ein alter
Mann, das Herz, das ihm bisher so leicht gewesen, lag ihm auf
einmal schwer und schmerzhaft in der Brust wie eine Geschwulst, die
Knie versagten ihm, er mußte niederhocken.
Allmählich indes ging die
Schwäche vorbei, und es kam über ihn das frühere große
Einverstandensein, ja etwas wie Freude, daß er nun am Ziel war. Er
hätte damals fallen sollen in dem ersten Krieg, in guter Jugend, in
Galiläa. Er ist dem ausgewichen und hat statt dessen ein höchst
bewegtes Leben geführt und Kinder und Bücher in die Welt gesetzt,
gute und schlechte, und einige leben noch und einige sind verweht,
und er hat bewirkt, daß sehr viel Böses geschah, aber doch auch
einiges Gute, und jetzt, sehr verspätet, ist es ihm vergönnt,
nachzuholen, was er damals sträflich versäumt hat, im Krieg zu
sterben, in Galiläa.
Da saß er also in der leichten,
klaren Luft und schaute den Männern entgegen, schwachen Leibes,
doch frei von Furcht und voll von Erwartung.
Die Soldaten kamen heran und
fanden einen alten Juden. Sie beschauten ihn, unschlüssig, er
beschaute sie, neugierig. »Gib die Parole, Jude!« verlangte
schließlich der Anführer. »Ich weiß sie nicht«, antwortete Josef.
»Was suchst du hier?« fragten die Soldaten. »Ich habe viele Freunde
in Galiläa«, erwiderte Josef, »und ich war besorgt um ihr Schicksal
und wollte sie aufsuchen.« – »Und da schleichst du auf heimlichen
Pfaden und gehst nicht auf der kaiserlichen Heerstraße?« fragten
sie. Und er antwortete: »Ich habe gedacht, die kaiserliche
Heerstraße ist voll von kaiserlichen Soldaten. Da hält sich ein
alter Mann besser auf den Nebenwegen.« Die Soldaten lachten. »Das
hast du schlau gedacht«, sagte der Anführer, »aber nun wirst du
wohl einen noch größeren Umweg machen müssen als deine Bergpfade.
Und wer bist du überhaupt? Ein Bauer bist du doch nicht, und aus
Galiläa bist du auch nicht.« – »Ich bin Flavius Josephus, vom
Zweiten Adel«, sagte Josef, und er wies seinen Goldenen Ring vor,
und er sprach jetzt lateinisch, während man bisher aramäisch
gesprochen hatte. »Soso?« lachten die Soldaten. »Vom Zweiten
römischen Adel bist du? So haben wir uns einen römischen Ritter
immer vorgestellt!« – »Da seht ihr«, sagte freundlich Josef, »daß
die Wirklichkeit manchmal anders aussieht, als man glaubt. Ich habe
übrigens ein gutes Papier.« Und er holte den Ausweis hervor, den
man ihm auf der Statthalterei von Cäsarea ausgestellt
hatte.
Die Soldaten beschauten sich das
Papier nicht lange. »Mit diesem Wisch«, sagten sie, »können wir
nichts anfangen. Hier gilt nur eine
Unterschrift, die von Paulus Bassus!« Josef schaute nachdenklich
vor sich hin und sagte: »Euern Paulus Bassus kenne ich sehr gut,
und er kennt mich sehr gut.« Da lachten die Soldaten schallend über
den Spaßvogel von einem alten Juden, der ein Freund ihres
Oberbefehlshabers Paulus Bassus sein wollte. »Da hättest du dir
eigentlich«, erwiderten sie, »von deinem Freund die Vorschriften
sagen lassen sollen, die gerade er erlassen hat. Wenn auf einer
galiläischen Straße ein Jude und Beschnittener getroffen wird, der
nicht in einem Nachbarort beheimatet ist, und er kennt nicht die
Parole, dann ist er als Spion anzusehen. Bist du ein Jude? Bist du
beschnitten?« – »Ich bin es«, sagte der alte Mann. Der Anführer
schwieg eine ganz kleine Weile, dann hob er langsam die Schultern
und ließ sie wieder fallen, es war beinahe wie eine Entschuldigung.
»Na also!« sagte er. »Du scheinst verständig und begreifst sicher,
daß es, wenn wir es kurz machen, nicht böser Wille ist, sondern
Dienstvorschrift.« – »Bedanke dich bei deinem Freunde Paulus
Bassus!« fügte einer hinzu. Josef sah sie aufmerksam an, einen nach
dem andern. »Das möchte ich«, sagte er ruhig, »und ihr tätet gut,
es mir zu ermöglichen. Denn ich bin wirklich vom Zweiten römischen
Adel, und ich kenne wirklich euern Paulus Bassus sehr
gut.«
Seine Stimme, seine Augen, seine
ruhige Art machten Eindruck auf die Soldaten. Auch schien der Mann
kein Spion zu sein, für einen solchen hätte man sich schwerlich
einen so alten, auffälligen Juden ausgesucht. Aber Befehl war
Befehl. Dazu war man verspätet, die Streife hatte mehr Zeit
beansprucht, als man erwartet. Wenn man sich mit dem Burschen
belastete und dadurch noch später ans Ziel kam, wurde man
angeschnauzt; wenn man ihn erledigte, war man eindeutig im
Recht.
Aber die Soldaten waren nicht
bösartig von Gemüt. Sie waren von denen, die seit langem hier im
Lande in Garnison standen, sie hatten ab und zu mit Juden zu tun
gehabt und sahen in ihnen nicht nur Feinde. »Die Vorschriften«,
überlegte einer laut, »heißen: seid human, solange es die
militärischen Rücksichten erlauben!« – »Krieg ist Krieg«, sagte ein
anderer. »Höre, Mensch«, schlug der Anführer dem Josef vor, »wir
müssen nach Tabara und haben nicht viel Zeit. Wir wollen versuchen,
dich mitzuschleppen. Galopp werden wir nicht reiten, aber auch
nicht im Schritt. Wir sind schon verspätet. Es ist wie in der
Arena. Einige überstehen’s. Wir geben dir eine Chance. Wir binden
dich ans Pferd, und wenn du’s schaffst, dann hast du’s geschafft.
Ist das ein guter Vorschlag?« – »Ich denke«, sagte der, der zuerst
gesprochen, »es ist ein guter Vorschlag und im Sinne des
Reglements. Sag selber, Jud!« forderte er den Josef auf. Der
schaute ihn lang und nachdenklich an. »Du hast recht, mein Junge«,
sagte er. »Es ist im Sinne des Reglements.«
Sie untersuchten ihn. Er hatte
etwas Barschaft bei sich, noch ein wenig Mundvorrat, den Ausweis
der Statthalterei und am Finger den Goldring des Zweiten Adels.
»Das könnte gestohlen sein«, meinten sie und nahmen es ihm ab. Dann
stiegen sie hinunter zur Straße und banden ihn einem ans Pferd.
Dieser Reiter war ein gewisser Philippus, ein gutmütiger Mensch.
»Ich werde nicht zu schnell reiten, Mann«, versprach er und gab dem
Josef Wein zu trinken, damit er sich stärke. Dann ritten sie
los.
Wind ging, die Luft war frisch
und würzig, der Trab war nicht zu schnell, und die ersten Minuten
schien es wahrhaftig nicht ganz ausgeschlossen, daß der Mann es
schaffe. Seine alten Füße liefen, er atmete gleichmäßig, und sie
sagten: »Na siehst du, nur nicht aufgeben!« Doch dann begann er zu
japsen, und dann stolperte er und fiel. Sein Kleid war zerrissen,
er blutete, aber es waren nur Abschürfungen, nichts Ernstliches. Er
raffte sich auch bald wieder auf und lief weiter. Dann fiel er
nochmals, diesmal schwerer, immerhin waren es nur die Arme und das
Gesicht. Philippus hielt sein Pferd an, gab seinem Gefangenen
nochmals zu trinken und gönnte ihm eine Minute, ehe er weiterritt.
Dann aber fiel Josef ein drittes Mal, und diesmal wurde er eine
Weile über die Straße geschleift. Es lag trotz des Frühjahrs dicker
Staub auf der Straße, das war gut für Josef, aber Steine gab es
natürlich auch, und als Philippus endlich hielt, war der alte Jude
über und über mit Blut besudelt, seine Augen waren geschlossen, und
aus seiner Brust kam ein Röcheln, das unangenehm zu hören
war.
Philippus rief den andern etwas
zu, und die versammelten sich um Josef. »Was sollen wir nun mit dir
anfangen?« sagten sie. »Offenbar hast du verspielt. Sollen wir ihn
abtun«, überlegten sie, »oder sollen wir ihn liegenlassen?« Und:
»Sollen wir dich abtun, Alter, oder sollen wir dich liegenlassen?«
wandten sie sich geradezu an ihn selber. »Wir haben uns ans
Reglement gehalten«, erklärte nochmals der Anführer,
entschuldigend.
Josef hörte sie reden, aber er
verstand sie nicht. Sie sprachen lateinisch, doch er, der
Vielsprachige, verstand jetzt nur mehr die Sprache des Landes, und
er hätte auch nicht sprechen können. »Ich meine«, schlug
schließlich einer vor, »wir überlassen ihn sich selber. Unheil
richtet der keines mehr an.« Und so taten sie. Sie hoben ihn noch
hoch und legten ihn an den Rand der Straße, unter einen gelben
Strauch, so, daß sein Gesicht im Schatten lag. Dann ritten sie
weg.
Es war aber die Gegend, in der
dieses geschah, ein Hochpla teau, öde, nur mit wenig Sträuchern
bestanden, doch jetzt, im Frühjahr, trugen diese Sträucher gelbe
Blüten. Da lag Josef in einer hellen, milden Sonne, und mit
verschwimmenden Sinnen nahm er die gelbgesprenkelte Wüste und die
milde, fröhliche Sonne in sich auf.
Der Josef, der nach Rom gekommen
war, um Rom und die Welt mit jüdischem Geiste zu
durchdringen,
Der Josef, der den Feldherrn
Vespasian als Messias begrüßt hatte,
Der Josef, der die
Kriegsgefangene Mara, die Hure des Vespasian, geheiratet hatte und
später die ägyptische Griechin Dorion,
Der Josef, der als jüdischer
Führer in Galiläa gekämpft und dann vom römischen Lager aus
mitangesehen hatte, wie Jerusalem und der Tempel
verbrannten,
Der Josef, der Zeuge gewesen war,
wie Titus triumphiert hatte, und der sich gebeugt hatte unter dem
Joch seines Triumphbogens,
Der Josef, der das streitbare
Makkabäerbuch geschrieben hatte und den höfisch konzilianten
»Jüdischen Krieg« und die kosmopolitisch laue Universalgeschichte
und den patriotisch glühenden »Apion«,
Der Josef, der vergebens um
seinen Sohn Paulus gerungen hatte und der die Ursache gewesen war,
daß sein Sohn Simeon umkam und sein Sohn Matthias,
Der Josef, der vom Tische dreier
Kaiser gegessen hatte und vom Tisch der Prinzessin Berenike und des
Großdoktors Gamaliel und des gewalttätigen Akawja,
Der Josef, der die Weisheit der
jüdischen Schriften studiert hatte, der Doktoren, der Griechen und
der Römer, der immer wieder gestoßen war auf den letzten Schluß des
Kohelet, daß alles eitel sei, und der doch niemals danach gehandelt
hatte.
Dieser Josef Ben Matthias,
Priester der Ersten Reihe, dem Erdkreis bekannt als Flavius
Josephus, lag jetzt auf der Böschung, das Gesicht und den weißen
Bart besudelt mit Blut, Staub, Kot und Speichel, veratmend. Das
ganze kahle, gelbgesprenkelte Bergland ringsum und der helle Himmel
gehörten jetzt ihm allein, die Berge, die Täler, der ferne See, der
reine Horizont mit dem einsamen Raubvogel waren nur seinetwillen da
und nichts als der Rahmen seines Innern. Das ganze Land war erfüllt
von seinem verdämmernden Leben, und er war eins mit dem Land. Das
Land holte ihn, und er suchte es. Er hatte die Welt gesucht, aber
gefunden hatte er nur sein Land; denn er hatte die Welt zu früh
gesucht. Der Tag war da. Es war ein anderer Tag, als er ihn
geträumt hatte, aber er war es zufrieden.
Als Wochen vergingen, ohne daß von Josef
Nachricht eintraf, wandte sich Mara an den Gouverneur in Cäsarea
und an den Großdoktor in Jabne.
Die römischen Behörden bemühten
sich ernstlich, es ging um einen Angehörigen des Zweiten Adels, den
Rom und sein Hof kannten. Auch der erschrockene Gamaliel tat alles,
um Josef aufzufinden. Man schrieb hohe Belohnungen aus für den, der
ihn lebendig oder tot beibrächte. Allein man konnte nur ermitteln,
daß er zuletzt in Esdraela gesehen worden war; von da an verlor
sich jede Spur. Es war schwierig, in dem vom Krieg heimgesuchten
Gebiet einen Mann zu entdecken, der verlorengegangen war, es gab
Zehntausende von Leichen nach diesem Aufstand.
Ein Monat verging, Pfingsten kam
heran, das Pfingsten, von dem die Männer am Tische des Doktors
Akawja geträumt hatten, doch es war ein blutiges Pfingsten für
Judäa. Und es kam der heiße Monat Tamus, und es jährte sich der
Tag, da die Belagerung Jerusalems begonnen hatte, und es kam der
Monat Ab, und es jährte sich der Tag, da Jerusalem und der Tempel
verbrannt waren. Und noch immer fand sich keine Spur von Josef Ben
Matthias, den die Römer Flavius Josephus nannten. Man mußte ihn
wohl verloren geben, und Gamaliel mußte darauf verzichten, den
größten Schriftsteller, den die Judenheit dieses Jahrhunderts
besessen, würdig zu bestatten.
Da sagten die Doktoren: »Wie es
heißt von Moses, unserem Lehrer: ›Und niemand hat sein Grab
erkundet bis auf diesen heutigen Tag.‹« Und alle erkannten, daß dem
Josef als Denkmal sein Werk bestimmt war und kein
anderes.
NACHBEMERKUNG
Der Entstehungsprozeß der »Josephus«-Trilogie
ist durch die Zeitereignisse mehrfach unterbrochen worden; er ist
in auffälliger Weise verbunden mit dem des »Wartesaal«-Zyklus,
bedingt durch Feuchtwangers ständiges Bestreben, die »ungeheure,
blutige Groteske« des faschistischen Herrschaftssystems
anzuprangern. Dem »Jüdischen Krieg«, der 1932 erschien (Propyläen
Verlag, Berlin), als Feuchtwanger einen zweiten, abschließenden
Band schon konzipiert und teilweise geschrieben hatte, war 1930 die
Publikation des Romans »Erfolg« vorausgegangen. Bevor der Autor den
zweiten, als Schlußband geplanten Teil des »Josephus«-Stoffes
vollenden konnte, fiel das Manuskript den Faschisten in die Hände
und wurde vernichtet. Zunächst trieb es ihn, »das Leserpublikum der
Welt möglichst schnell über das wahre Gesicht und über die Gefahren
der Naziherrschaft aufzuklären«. So entstand in der kurzen Zeit von
April bis September 1933 der zweite Band des »Wartesaal«-Zyklus,
»Die Geschwister Oppermann«. Dann erst folgte 1935 die
Veröffentlichung der »Söhne« (Querido Verlag, Amsterdam), nachdem
Feuchtwanger das verschollene Manuskript nicht mehr zu
rekonstruieren in der Lage gewesen war. In einer Anmerkung zu den
»Söhnen« schreibt er: »Den verlorenen Teil in der ursprünglichen
Form wiederherzustellen erwies sich als unmöglich. Ich hatte zu dem
Thema des ›Josephus‹: Nationalismus und Weltbürgertum manches
zugelernt, der Stoff sprengte den früheren Rahmen, und ich war
gezwungen, ihn in drei Bände aufzuteilen.« Seine historischen
Studien lenkten ihn auf das Thema des Romans »Der falsche Nero«,
der im Jahre 1936 publiziert wurde und worin in historischem
Gewande überraschende Parallelen zum verbrecherischen politischen
Abenteurertum des faschistischen Regimes in Deutschland gezogen
werden. In den folgenden Jahren – unterbrochen durch die
Niederschrift seines Erlebnisberichts »Moskau 1937«, der Frucht
seiner Reise in die Sowjetunion – widmete sich Feuchtwanger
unmittelbar der Auseinandersetzung mit dem Faschismus, indem er vom
Mai 1935 bis zum August 1939 vorwiegend am dritten Band des
»Wartesaal« Zyklus, am Roman »Exil«, arbeitete, der 1940
veröffentlicht wurde. Dann endlich konnte 1942 in London der letzte
Teil der »Josephus«-Trilogie, »Der Tag wird kommen«, in englischer
Übersetzung erscheinen, jedoch drei weitere Jahre vergingen, bis
1945 die deutsche Erstausgabe vorlag (Bermann-Fischer Verlag,
Stockholm).
Entsprechend unserem Grundsatz,
einen möglichst authentischen Text herzustellen, sind bei der
technischen Bearbeitung der »Josephus«-Trilogie in allen drei
Fällen die oben genannten deutschen Erstausgaben zu Rate gezogen
worden. Durch Textvergleiche mit späteren Ausgaben, vor allem aber
durch aufmerksame Korrektur, konnten eine Reihe von Druckfehlern
und kleineren inhaltlichen Unregelmäßigkeiten beseitigt werden. Für
die unterschiedlich gebrauchte Orthographie und Interpunktion sowie
die unregelmäßige Schreibweise bestimmter wiederkehrender Begriffe,
hauptsächlich verursacht durch die technischen »Hausregeln« und
redaktionellen Eigenheiten der drei Verlage, welche die
Erstausgaben veröffentlichten, wurde eine einheitliche Form
gewählt.
Aufbau- Verlag