In dieser Nacht schlief der Kaiser mit Lucia. »Erinnerst du dich«, fragte er, »was du mir vorausgesagt hast bei der Verurteilung der Vestalin? Nun, meine Lucia, wer hat recht gehabt?«
Der Sieg über den Senat füllte Domitian ganz aus; er bestätigte ihm, daß er sein Priestertum und sein Amt richtig auffaßte und im Sinne der Götter. Das trug ihn, hob ihn, er war glücklich.
  Er hatte von jeher gerne gearbeitet, jetzt nahm er es mit seiner Arbeit und mit seinen Pflichten noch ernster. Früher hatte es der heftige, rastlose Mann trotz der vielen Strapazen geliebt, sein ungeheures Reich von einem Ende zum andern zu durchqueren, und ein Jahr hatte ihn in Britannien gesehen, das nächste an der untern Donau. Jetzt verbrachte er den größten Teil seiner Zeit im Rat mit seinen Ministern oder an seinem Schreibtisch.
  Er hatte sich ein kleines Zimmer als Arbeitskabinett gewählt, er mußte, um sich zu sammeln, enge, geschlossene Wände um sich haben. In der Einsamkeit dieses versperrten Raumes gelang es ihm, ganz in sein Inneres hineinzutauchen. Manchmal, in Augenblicken solcher Sammlung, vermochte er es geradezu körperlich zu spüren, daß er das Herz und das Hirn dieses gewaltigen und höchst lebendigen Organismus war, den man vag und abstrakt als Römisches Reich bezeichnete. Ihm allein, in ihm, war dieses Römische Reich ganz lebendig. Die Flüsse dieses Reichs, Ebro, Po, Rhein, Donau, Nil, Euphrat, Tigris, waren seine, des Kaisers, Adern, die Gebirge, die Alpen, Pyrenäen, Atlas, Haemus, seine Knochen, es war sein Blut, das diese Ungeheuern Gebiete wärmte und belebte, die Millionen Einzelmenschen waren die Poren, durch die sein eigenes Leben atmete. Dieses millionenmal vervielfältigte Leben machte ihn in Wahrheit zum Gott, hob ihn über alles menschliche Maß hinweg.
  Damit aber dieses gewaltige Lebensgefühl nicht verfließe, mußte er den Rahmen noch strenger und pedantischer spannen. Starr verfolgte er sein Programm. Daß er seinen widerspenstigen Senat besiegt hatte, war die erste Strecke eines Weges gewesen, den er sich genau vorgezeichnet. Jetzt, da er sich der Hilfe seiner Götter vergewissert hatte, durfte er den schwierigeren Teil dieses Weges beginnen. Jetzt durfte er sich an die Aufgabe machen, den unterirdischen Wühlereien ein Ende zu setzen, mit denen dieser fremde, bösartige und unheimliche Gott Jahve ihn bedrohte.
  Es war nicht etwa so, daß er von sich aus Jahve hätte angreifen wollen. Ganz und gar nicht, das stünde ihm, dem Verteidiger der Religion, nicht an. Jahves Doktrinen sollten weiter Geltung haben: doch nur in Jahves Volk. Wenn diese Doktrinen aber ihre Grenzen überschritten, wenn sie begannen, seine, des Domitian, Römer zu vergiften, dann hatte er die Pflicht, sich dagegen zu verteidigen, diese Doktrinen aus den Herzen seiner Römer auszubrennen.
  Er beriet mit seinen Ministern. Mit Regin, Marull, Annius Bassus und Norban arbeitete er an dem Plan, den Osten aus Rom zu verdrängen, ihn in seine Grenzen zurückzuweisen.
  Zunächst ging es um die Beseitigung Jakobs von Sekanja, des Wundertäters. Jakob galt als das Haupt der Christen in Rom. Die ganze Stadt nahm Anteil an ihm. Er ging ein und aus im Hause des Prinzen Clemens. Viele unter den Senatoren bezeigten ihm und seinen Ideen Interesse, um auf diese vorläufig noch ungefährliche Art gegen den Kaiser zu manifestieren. Das Volk blickte in scheuer Ehrfurcht zu dem Wundertäter auf. Siebzehn Leute hatten mit ihren eigenen Augen gesehen, wie die lahme Paulina, eine Freigelassene, aufgestanden und gewandelt war, nachdem er ihr die Hand aufs Haupt gelegt und dazu einige aramäische Sprüche gemurmelt hatte. Allerdings war diese Paulina am gleichen Tage gestorben; doch der Vorgang blieb deshalb nicht weniger ein Wunder, und der Mann, der das Wunder vollbracht hatte, nicht minder ehrfürchtiger Beachtung wert. Jedenfalls waren der Kaiser und sein Polizeiminister der Meinung, es wäre besser, wenn Jakob von Sekanja in dieser ihrer Stadt Rom keine weiteren Wunder vollbrächte.
  Wie aber verhinderte man einen Mann, Wunder zu vollbringen? Es gebe da, meinte Norban eindeutig, ein sehr gründliches Mittel.
  Schweigend überdachten alle dieses gründliche Mittel. Dann erklärte Regin, es sei im Falle des Wundertäters doch vielleicht nicht angebracht, das gründliche Mittel anzuwenden. Wendete man es an, so sähe es aus, als hätten die Anhänger der Staatsreligion Furcht vor dem Gotte des Wundertäters. Was seine Anhänger vermutlich nicht ernüchtern, sondern nur in ihrem
Aberglauben bestärken werde.
  Man könnte vielleicht, schlug Marull vor, den Wundertäter auffordern, am Hofe des Kaisers Wunder zu tun. Dann könnte man ihn kontrollieren und entlarven. »Wer sagt Ihnen«, wandte Bassus ein, »daß ihm dann das Wunder nicht gelingt?« Der Kaiser aber erklärte bündig: »Ich möchte nicht die Fähigkeiten des Gottes Jahve in Zweifel ziehen. Ich möchte nur verhüten, daß der Wundertäter Proselyten macht.«
  Marull, durch diese Zurechtweisung keineswegs gekränkt, meinte, man solle sich zunächst klar darüber werden, wieweit die Verkündigung der jüdischen Lehre erlaubt sei und wo sie anfange, Proselytenmacherei und somit Verbrechen zu werden. »Wenn der Herr und Gott uns seine Meinung darüber kundtäte«, sagte er, »wäre das eine Gnade für uns alle.« Der Kaiser liebte derlei formaljuristische Abgrenzungen, und Marull rechnete darauf, daß es DDD willkommen sein werde, seine Ansichten über diese Frage zu definieren.
  Domitian ergriff denn auch die Gelegenheit. »Das Judentum«, setzte er auseinander, »ist und bleibt eine erlaubte Religion. Ich verkenne nicht, daß diese Religion ein Grundprinzip leugnet, welches alle andern Nationen des Reichs verbindet, das Prinzip nämlich, daß sich die Gottheit in dem Kaiser manifestiert. Während alle andern, die Anhänger der Isis und des Mithras nicht minder wie die der barbarischen Gottheiten der Germanen und der Briten, sich darin einig sind, daß dem Bild des römischen Kaisers und seinen Insignien göttliche Verehrung zieme, wollen die Juden allein diese klare Erkenntnis nicht gelten lassen. Nun denkt das tolerante Rom nicht etwa daran, ein armes, halsstarriges Volk, dessen Jämmerlichkeit durch seine ungeheuren Niederlagen bestätigt ist, mit Gewalt zur Erkenntnis der Wahrheit zu zwingen.« Er konnte es nach diesem Vordersatz nicht unterlassen, über seine Lieblingstheorien zu deklamieren, als wäre er im Senat. »Rom verbietet nicht die Gesinnung. Rom läßt einem jeden seinen Glauben, auch wenn dieser Glaube ein Irrglaube ist. Es kann ein jeder seinen Gott haben, und mag dieser Gott noch so merkwürdig ausschauen. Habe ein jedes Volk seinen Brauch, wenn nur er’s nicht hindert, uns zu gehorchen«, deklamierte er, und Regin sowohl wie Marull konstatierten, im Innern lächelnd, daß er sich bis in den Vers verstiegen hatte. »Da aber«, fuhr Domitian fort, »genau hier ist die Grenze. Dies eine gestattet Rom nicht, daß eines andern Volkes Gott in den Bereich seiner, der römischen Staatsreligion eingreife. Nicht hingehen lassen kann es Roms Erzpriester, wenn diese östlichen Menschen sich erdreisten, ihren Aberglauben durch Überredung und Propaganda weiterzuverbreiten. Sie hatten gefragt, mein Marull, wieweit die Verkündigung der jüdischen Lehre erlaubt ist. Ich antworte: sich zu dieser Lehre zu bekennen und ihre Bräuche zu üben ist unbeschränkt erlaubt allen denen, die zu ihrem Unglück in diesem Volk und dieser Lehre geboren sind. Nicht erlaubt ist es, diesen Aberglauben durch Lehre oder gar durch Tat zu verbreiten. Wer einen andern durch Worte oder gar durch das Beschneidungsmesser zu einem Anhänger der jüdischen Religion machen will, verstößt gegen die Majestät Roms und des Kaisers.«
  »Das ist klar formuliert«, sagte Marull. Doch Claudius Regin wandte behutsam ein: »Wenn wir uns zu diesem Grundsatz öffentlich bekennen, wird man uns dann nicht wieder vorwerfen, wir hätten Furcht vor diesem Jahve und vor der Überzeugungskraft seiner Lehre?« – »Vorsicht ist nicht Furcht«, erwiderte unwirsch Norban. »Wenn ich die Türe meines Hauses zusperre, so ist das berechtigte Vorsicht, nicht Furcht.« Der schlichte Soldat Bassus aber erklärte tapfer: »Ich habe Furcht vor dieser Lehre. Sie wirkt ansteckend. Ich war in Judäa. Ich habe es erlebt, welche Scheu dieser Gott Jahve und seine Lehre um sich breitet. Der Tempel, das da, hat meinen Soldaten Furcht gemacht, sie gelähmt. Es ist nicht gut für die Armee, die Prediger dieser Lehre auf sie loszulassen.«
  Betretenheit war nach diesem unumwundenen Eingeständnis. »Ich höre solche Worte ungern, mein Annius«, erklärte Domitian. »Aber sei dem wie immer, ich wünsche die Verbreitung dieser Lehre nicht, ich will meine Römer vor dieser Lehre schützen, ihre Verkündigung ist verboten. Ich habe gesprochen.«
  »Was also fangen wir mit unserm Wundertäter an?« kehrte kurz und sachlich Norban zum Ausgangspunkt zurück. Marull, mit einem kleinen Lächeln, meinte: »Wenn ich den Herrn und Gott Domitian recht verstanden habe, dann mag dieser Wundertäter seine Wunder ruhig weiter verrichten, aber unter seinen Juden, in Judäa, nicht hier in Rom.« – »Ich danke Ihnen, mein Marull«, antwortete der Kaiser. »Ich glaube, das ist der rechte Weg.« Der offenherzige Annius aber murrte: »Die Provinz Judäa ist nahe, viele Leute aus Rom haben dort zu tun, viele Schiffe fahren hin. Ich hätte den Mann lieber weiter fort gewußt. Warum ihn nicht aus den Grenzen des Reichs verbannen? Soll er seine Wunder den Skythen vormachen oder den Parthern, aber keinem römischen Untertan.« Alle freuten sich über den schlichten Soldaten.
  Domitian indes gab sich nicht zufrieden damit, daß man die Debatte eingrenzte auf den Fall des Jakob von Sekanja. Seine Herren sollten wissen, daß die Aktion gegen den Wundertäter nur ein erster Schritt auf einem Wege zu viel Bedeutsamerem sei. Er erklärte: »Damit kein Mißverständnis aufkomme, präzisiere ich nochmals. Es gibt dreierlei Arten von Juden. Erstens solche, die, als Juden geboren, sich darauf beschränken, ihren Glauben auszuüben. Das mögen sie ruhig, sie werden nicht verfolgt. Zweitens solche, die Propaganda und Proselyten machen. Deren Gegenwart ist weder in Italien noch in irgendeiner Provinz des Reichs erlaubt, ihr Aufenthalt ist auf die Provinz Judäa beschränkt, auch dort unterstehen sie der Überwachung durch die Polizei. Dann aber«, er sprach langsamer, genießerisch, »gibt es noch eine dritte Art von Juden, und diese sind, scheint mir, die schlimmsten.« Er unterbrach sich, kostete die Erwartung seiner Herren aus und erläuterte schließlich: »Ich meine diejenigen, welche, in der Staatsreligion geboren, sie verleugnen, um dem Gotte der Juden anzuhängen und die Göttlichkeit des Kaisers anzuzweifeln.«
  »Womit Klarheit geschaffen wäre«, sagte trocken Marull. Der praktische Norban aber zog sogleich die nächsten Folgen. »Wir werden also wohl«, sagte er, »fürs erste Jakob den Wundertäter verbannen, fürs zweite den Senator Glabrio unter Anklage stellen.« Die andern sahen hoch. Der Senator Glabrio war ein friedfertiger Herr, dem man Feindseligkeit gegen das Regime nicht vorwerfen konnte; daß er sich viel mit exotischer Philosophie, vor allem eben mit der Doktrin der Christen abgab, galt den meisten als liebenswürdige Schrulle. Bassus versuchte zu mildern. »Vielleicht«, schlug er vor, »prozessieren wir zunächst ein paar kleine Leute aus dem Volk, die dem jüdischen Irrglauben anhängen; das wäre eine Art Warnung.« – »Ich würde kleine Leute nicht verfolgen«, gab Regin zu bedenken, »es schädigt nur das Prestige des Kaisers bei den Massen.« Domitian, mit seinem bösartigen Lächeln, verfügte: »Glabrio ist klein genug.« – »Ich werde also das Material gegen den Senator Glabrio wegen Verstoßes gegen die Staatsreligion zusammenstellen«, erwiderte Norban. »Ja«, stimmte Domitian bei und tat beinahe gelangweilt, »stellen Sie zunächst das Material gegen Glabrio zusammen!«
  Allen war klar, was dieses »zunächst« andeutete. Es zielte sehr hoch, es zielte auf des Kaisers Vetter, den Prinzen Clemens.

Wenn Sabin der Versuchung nicht hatte widerstehen können, sich in die Verschwörung des Saturnin einzulassen, so war Prinz Clemens bar jedes politischen Ehrgeizes. Er verbrachte den größten Teil seiner Zeit fern von Rom auf seinem etrurischen Landsitz, in der Nähe des Städtchens Cosa, in jenem altmodischen Landhaus, dem ältesten Besitz der Flavier. Selbst Norban, gewiß kein Freund des Clemens, konnte dem Kaiser nur berichten, daß die Tage des Prinzen ausgefüllt seien mit dem Studium östlicher Philosophie. Die Doktrin der Juden und der Minäer aber sei berechnet auf die Denkart kleiner Leute, sie predige Widerstandslosigkeit, fasele von einem Reich, das nicht von dieser Welt sei, so also, daß man von Clemens keinerlei gefährliche politische Aktivität zu befürchten habe.
  Domitian fand, daß eine solche Betrachtungsweise seinem Polizeiminister sehr wohl anstehe; er selber aber, der Zensor Domitian, hatte Wesen und Gehabe dieses Clemens ganz anders zu werten. Schon wenn ein Irgendwer, ein Mann des Zweiten Adels oder ein unbedeutender Senator, sich der Denkweise der Christen näherte, war das verwerflich; denn die Christen predigten Abkehr von den Dingen dieser Welt, und Untätigkeit steht einem Mann aus alter römischer Familie schlecht an. Wenn aber gar Prinz Clemens, Vetter des Kaisers und nach ihm der erste Mann im Reich, statt sinnvoller politischer oder militärischer Tätigkeit nachzugehen, diesem Aberglauben anhing und sich so seinen staatsbürgerlichen Pflichten entzog, dann gab diese verbrecherische Indolenz ein höchst verderbliches Beispiel. Wie sollte er, der Herrscher, seine Senatoren zu guten Dienern am Vaterland erziehen, wenn sein eigener Vetter sich von diesem Dienst drückte!
  Es waren nicht nur nationale und religiöse Erwägungen so allgemeiner Art, die den Kaiser gegen Clemens aufbrachten. Vielmehr kränkte es ihn persönlich, daß dieser faule, untüchtige Bursche Clemens seine, des Domitian, Göttlichkeit, seine Genialität nicht anerkannte. Nicht etwa, daß Clemens des Kaisers Göttlichkeit schlechthin geleugnet hätte, er fand sich sogar bereit, dem Bild des Kaisers zu opfern, wie das Gesetz es befahl; allein Domitian spürte durch die unnahbare, lässige Höflichkeit des Prinzen hindurch, wie wenig dieser ihn achtete. Es war dem Domitian gleichgültig, wenn zum Beispiel diese armselige Domitilla, des Clemens Frau, ihn mit ihren wilden und trockenen Augen anfunkelte, es amüsierte ihn mehr, als daß es ihn verdroß. Des Clemens Mißachtung aber kränkte ihn. Vor allem wohl deshalb, weil just dieser Clemens der Vater der Prinzen Constans und Petron war, »der kleinen Löwen«. Die Zwillinge waren jetzt elf Jahre, sie gefielen dem Domitian immer besser, je größer sie wurden, seit Julias Tod war er mehr und mehr entschlossen, sie zu adoptieren. Was ihn an ihnen störte, war lediglich dieser Clemens. Alles an dem phlegmatischen Manne reizte ihn, er konnte sich nicht genugtun, ihm ein faules, lahmes Wesen vorzuwerfen, er fand immer neue tadelnde Worte für ihn, nannte ihn bequem, bleiern, bummelig, dumm, energielos, fahrlässig, faul, kaltblütig, lahm, matt, müßig, saumselig, schlaff, träge, indolent. Doch eben an dieser Indolenz prallten alle Beschimpfungen des Kaisers ab. Clemens kam, wenn ihn Domitian zu sich entbot, er hörte sich des Kaisers Tadel höflich an, versprach Besserung, ging zurück auf sein Landgut und blieb der alte. Domitian hätte dem Vater seiner kleinen Löwen eine Verschwörung gegen sein Leben verziehen; diesen passiven Widerstand ertrug er nicht.
  Clemens selber beschäftigte sich viel weniger mit dem Kaiser als dieser sich mit ihm. Der Prinz war kein scharfer Denker. Mit seinen vierzig Jahren wirkte er noch sehr jugendlich, die zarte Haut, die blaßblauen Augen unter dem hellen, aschblonden Haar verstärkten den Eindruck des Knabenhaften, Unentwickelten. Doch wenn der Prinz auch langsam von Urteil war, seicht war er nicht. Was er einmal begriffen hatte, das wälzte er in seinem Innern um und um und betrachtete es so lange, bis es sich tief in ihn eingesenkt und sich tief mit seinem Wesen verbunden hatte.
  Was ihm von den Lehren der Christen den stärksten Eindruck machte, das waren die dunkeln Weissagungen der Sibyllen. Die Götter, die jetzt als Götter verehrt würden, hieß es in diesen vieldeutigen Versen, seien nichts als die abgeschiedenen Geister alter Könige und Helden. Doch die Herrschaft dieser längst Toten gehe zu Ende. Auch Rom verehre solche Toten, und auch Rom werde deshalb fallen. Seine Herrschaft werde abgelöst werden von der Herrschaft des Messias. Noch sei Roms Arm stark, stark jede Sehne und jeder Knochen, aber das Herz dieses starken Körpers sterbe ab, versteinere und könne den Gliedern kein Leben mehr einhauchen. So machtvoll dieses Wesen scheine, es gehe von ihm eine tiefe Trauer aus. Seine Ausdünstung lähme die ganze Welt, keine Ruhe und keine Freude sei mehr in dieser Welt, befriedigte Lust befriedige nicht mehr, eine tiefe Sehnsucht nach anderem fülle alles Lebendige.
  Gedanken und Gefühle solcher Art beschäftigten das einfache Gemüt des Prinzen. Er war von Natur freundlich, ja heiter. Doch er sah das, was auf dem Palatin und im Senat geschah, unter dem Aspekt der sibyllinischen Orakel, es schien ihm sinnlos und tot, und dieses Tote lastete auf der ganzen Welt und erdrückte Leben und Glück. Daß er ein Teil dieses Toten sein mußte, machte ihn melancholisch. Immer tiefer verstrickte er sich in die Welt Jakobs des Wundertäters und der Sibyllen, immer schwerer fiel es ihm, seinen Repräsentationspflichten am Hofe und in der Stadt zu genügen, immer mehr sehnte er sich danach, sich für immer vom Palatin zurückziehen zu dürfen und still auf seinem Landgut zu leben mit Domitilla und den Kindern und mit den Büchern und Lehren des östlichen Glaubens.
  So also sah es in dem Prinzen Clemens aus um die Zeit, da Domitian, gestärkt durch seinen Sieg über den Senat, sich entschlossen hatte, den Gott Jahve nicht weiter in sein Bereich vordringen zu lassen.
  Fürs erste wurde des Clemens Freund und Lehrer von ihm fortgerissen, Jakob von Sekanja. Prinz Clemens hatte viele Freunde und Bekannte in die Verbannung gehen sehen, aber nie hatte er es erlebt, daß ein Mann das Verbannungsurteil mit so stiller Zuversicht auf sich nahm wie Jakob. Das Leben in dem kleinen Ort Judäas, den er fortan nicht wird verlassen dürfen, wird nicht leicht sein. Er wird dort leben müssen als einziger Christ unter Heiden und Juden, gehaßt von beiden, in höchster Dürftigkeit, seines Vermögens beraubt und unter dem Verbot, daß Freunde ihn besuchen oder beschenken dürfen. Aber er ertrug das ohne Auflehnung, er ging in Elend und Verbannung, als ginge er einer freudigen Zukunft entgegen.
  Dann kam der Prozeß und die Hinrichtung des Senators Glabrio, und wenn sich auch Clemens und Domitilla wenig um die römischen Dinge kümmerten, so mußten sie doch erkennen, daß die Gefahr jetzt nach ihnen selber griff. Domitilla sprach dem Clemens davon mit der dürren Klarheit, die ihr eigen war. Sie selber hatte sich für stark im Glauben gehalten, aber jetzt, da ihr die Gegenwart und die Unterweisung Jakobs fehlte, war sie nicht gewillt, ohne weiteres zu dulden, sondern entschlossen, sich mit aller Kraft gegen das drohende Schicksal zu wehren. Um so mehr erstaunt war sie, als sie hierbei auf den entschiedenen Widerstand des Clemens stieß. In ihm hatten die Verbannung Jakobs und die Hinrichtung Glabrios eine verbissene Märtyrerstimmung erzeugt. Nicht etwa als ob er hochmütig geworden wäre. Er fühlte sich nicht berufen, mit eigener Hand nach der Krone des Märtyrers zu greifen und durch eine Demonstration die Rache des Kaisers auf sein Haupt herabzuziehen. Er war vielmehr gewillt, weiter zu leben wie bisher, dem Kaiser nicht zu widerstreben, sich ihm willig zu fügen, aber er war auch ebenso fest entschlossen, keinen von den Rettungsversuchen zu unternehmen, die ihm Domitilla vorschlug. Was immer geschehen wird, er wird sich dem Los nicht entziehen, das ihm die Gottheit bestimmt hat.
  So also wartete er. Er wußte, daß DDD seine Entschlüsse sehr langsam reifen ließ und daß er also vielleicht sehr lange werde zu warten haben. Da aber ereignete es sich, daß er, in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Quintilian, selber das Martyrium herbeirief, das über ihn zu verhängen er der Gottheit hatte überlassen wollen.
  Es kam dies so: Domitian hatte gewünscht, daß seine künftigen Adoptivsöhne römisch erzogen würden, und hatte ihnen zu diesem Zweck den Quintilian zum Lehrer gegeben, den großen Redner, den ersten Stilisten der Epoche. Quintilian hatte Weisung, den Knaben alles fernzuhalten, was künftigen Herrschern des Römischen Reichs nicht angemessen sei, andernteils aber Zusammenstöße mit den Eltern zu vermeiden. So widerspruchsvoll diese Weisungen klangen, es war dem Quintilian, einem stattlichen, höflichen, sehr würdigen, geschmeidigen und doch sehr bestimmten Herrn, geglückt, sie zu befolgen. Es wurde auf eine höfliche und sehr faire Art ein stiller Kampf geführt zwischen den Eltern der Knaben und ihrem Lehrer, und ohne daß sich Quintilian geradezu zwischen die Eltern und Kinder stellte, brachte er es gleichwohl zuwege, ihnen die Knaben auf behutsame, schwer faßbare Art zu entfremden.
  Mehrmals machte Clemens den Versuch, sich mit dem Lehrer seiner Kinder offen auseinanderzusetzen. Aber er war dem gewandten Redner und Stilisten keineswegs gewachsen, und bei einem dieser Gespräche geschah es auch, daß er sich gegen seinen Willen dazu hinreißen ließ, so unvorsichtige Worte zu gebrauchen, daß sie dem Kaiser endlich eine Handhabe gegen ihn boten.
  Quintilian hatte erklärt, es sei mehr sein Ziel, den Kindern das Nützliche als ihnen das Wahre beizubringen. Ein guter Lehrer, fand er, dürfe selbstverständlich seine Schüler mit Lügen füttern, wenn das zu einem edeln, das heißt zu einem lateinischen oder römischen Zwecke geschehe. »Ich habe«, sagte er, »als Redner vor Gericht niemals Bedenken getragen, zweifelhafte Behauptungen vorzubringen, wenn ich keinen andern Weg sah, um die Richter für die gute Sache zu erwärmen.« – »Wissen Sie immer so genau«, konnte sich da Prinz Clemens zu fragen nicht enthalten, »was die gute Sache ist?« – »In unserm Fall«, erwiderte Quintilian, »weiß ich es genau. Vor den Prinzen Constans und Petron ist mir jede Behauptung gut und recht, welche dazu beitragen kann, sie zu flavischen Herrschern zu erziehen. Die gute Sache, der ich zu dienen habe, ist der Bestand und die Herrschaft der flavischen Dynastie.« – »Ich beneide Sie um Ihre Sicherheit«, erwiderte darauf Clemens, und: »Die gute Sache«, fuhr er nachdenklich fort. »So viele verstehen darunter soviel Verschiedenes. Ich zum Beispiel weiß gewiß: die Herrschaft der Flavier wird versinken, und ebenso gewiß kenne ich ein andres Reich, das bleiben wird.«
  Auf diese höchst unrömische Äußerung, die zudem in schlampigem Latein vorgebracht war, erwiderte Quintilian nichts mehr. Clemens aber fragte sich sogleich, wozu eigentlich er diese Äußerung getan habe, sie war ein überflüssiges Bekenntnis, eine jener nutzlosen Demonstrationen, die Jakob der Wundertäter und Domitilla streng verurteilten. Denn über die Gottheit und über die Wahrheit zu sprechen hatte Sinn nur vor Menschen, die für diese Wahrheit empfänglich waren.
  Reuig erzählte er Domitilla von dem Vorgefallenen. Sie erschrak. So dringlich hatte Jakob, bevor er in die Verbannung ging, ihnen eingeschärft, sie sollten sich nicht vordrängen zum Martyrium, sie sollten klug wie die Schlangen sein und bestrebt, die Herrschaft Jenes, des Antichrist, zu überleben. Aber davon ließ sie nichts verlauten, auch klagte sie nicht; um so tiefer ergriffen den Clemens die wenigen ergebenen Worte, die aus den schmalen Lippen der geliebten Frau kamen.
  Er bereute ehrlich seine unbedachte Äußerung. Aber wenn dadurch, wie es wahrscheinlich war, sein Schicksal beschleunigt werden sollte, so war ihm das im Grunde willkommen. Immer mehr war er des wüsten, ruchlosen Getriebes ringsum müde geworden, und es kostete ihn nichts, aus dieser leeren, lästigen Welt fortzugehen. Er war bescheiden von Natur, er glaubte sich nicht berufen, doch wenn die Gottheit auch ihn ausersehen haben sollte, für sie Zeugnis abzulegen, dann hätte also sein »faules, indolentes Leben« mehr Sinn gehabt und würde stärker in die Zukunft hineinstrahlen als das rastlose, tatenvolle DDDs. Dieser Gedanke machte ihn lächeln. Seine Erwartung dessen, was DDD beschließen werde, nahm immer mehr die Form einer zuversichtlichen Freude an, und wenn Domitilla bangte, so wartete Clemens mit hohem Gleichmut.
  Etwa zwei Wochen nach jenem Gespräch mit Quintilian gab ein Kurier auf dem Gute bei Cosa ein Handschreiben ab, in welchem Domitian den Clemens in besonders freundschaftlichen Wendungen ersuchte, er möge sich bald auf dem Palatin einstellen, der Kaiser sehne sich nach einem vertraulichen Gespräch. Domitilla erblaßte tief, ihre hellfarbigen Augen starrten verloren vor sich hin, ihr schmaler Mund war nicht fest geschlossen wie gewöhnlich, die Lippen waren ihr trocken geworden, und sie hielt sie leicht geöffnet. Clemens wußte genau, was sie dachte. Derartige vertrauliche Unterredungen mit dem Kaiser nahmen selten einen guten Ausgang, auch mit Sabin hatte DDD eine lange und besonders liebenswürdige Unterredung gehabt, bevor er ihn sterben ließ.
  Es war dem Clemens sehr leid, daß Domitilla so gar nichts empfand von der freudigen Ruhe, die ihn erfüllte. Das helle, zarte Gesicht des Vierzigjährigen schien noch jünger als sonst, als er von ihr Abschied nahm, es war von einer fast heiteren Sammlung. Er küßte die Zwillinge auf die reinen Stirnen, er strich ihnen über die sanften Haare. Meine kleinen Löwen, dachte er, so hatte er also auch von Domitian etwas gelernt.

Domitian empfing den Vetter im Schlafrock. Er hatte ihn mit Ungeduld erwartet, er versprach sich einiges von dieser Unterredung. Er liebte dergleichen Gespräche. Denn es war, wie Clemens und Domitilla vermutet hatten: nach der verbrecherischen Äußerung des Vetters fühlte sich Domitian vor sich selber, vor den Göttern und vor Rom berechtigt, die Atmosphäre um die Knaben, seine künftigen Nachfolger, zu reinigen, und er hatte sich deshalb entschlossen, Clemens sterben zu lassen und Domitilla in die Verbannung zu schicken. Vorher aber wollte er sich mit dem Vetter auseinandersetzen. Und weil die Stunden, da er sich mit denen auseinandersetzte, denen er den Tod bestimmt hatte, seine besten Stunden waren, hatte er sich gelockert, um die Unterredung ganz zu genießen, und empfing den Clemens mit großer Wärme.

  Zunächst fragte er ihn aus, wie es auf seinem Gut stehe, wie man sich dort abgefunden habe mit den Veränderungen, welche sein Gesetz über die Einschränkung des Weinbaus zur Folge gehabt habe. Dann kam er zurück auf seine alten Klagen darüber, daß Clemens einen so großen Teil seiner Zeit auf dem Lande verbringe und sich auf diese Art den Pflichten eines römischen Prinzen entziehe. Wieder einmal hielt er ihm seine »Indolenz« vor und wies darauf hin, was alles er selber, Domitian, unternehme. Vor fünf Tagen erst habe er der Eröffnung einer neuen Straße beiwohnen können, der großen Straße zwischen Sinuessa und Puteoli. Sie habe Mühe und Schweiß gekostet, diese Via Domitiana, aber nun sei sie eben auch da und werde heute und für alle Zukunft vielen Millionen Menschen das Leben leichter machen.
  »Ich gratuliere Ihnen«, antwortete Clemens. »Aber«, fuhr er nachdenklich fort, ohne Spott, »glauben Sie nicht, daß es wichtiger wäre, den Millionen einen leichteren und schnelleren Weg zu Gott zu schaffen als nach Puteoli?«
  Sich rötend, mit zornigen Augen, beschaute Domitian den Vetter. Schon war er im Begriff, ihn niederzuschreien und niederzublitzen, aber dann erinnerte er sich, daß er im Schlafrock war, gerade weil er sich vorgenommen hatte, nicht Jupiter gleich zu sein, sondern sehr menschlich. Auch hatte Clemens zweifellos gar nicht die Absicht gehabt, sich über ihn lustig zu machen, sondern es war nichts als die gewohnte Stumpfheit und Blödheit, die ihn den dummen Satz hatte sprechen lassen. Domitian also bezwang sich. Es ging ihm ja nicht etwa darum, den Vetter zu ducken; was er von ihm wollte, das war, daß Clemens ihm zugebe, er sei im Recht. Denn während der Kaiser früher stolz darauf gewesen war, daß ihm allein Erkenntnis zuteil geworden, und während er diese Vereinzelung als eine Auszeichnung empfunden hatte, mit der die Gottheit ihn begnadet, bedrückte ihn jetzt die Verständnislosigkeit, die er rings um sich fand. War es wirklich unmöglich, auch die andern des Lichtes teilhaftig werden zu lassen? War es wirklich unmöglich, zum Beispiel diesen Clemens zu überzeugen? Domitian bezwang sich also, erwiderte auf die dreiste Frage des Vetters nur: »Lassen Sie doch die albernen Witze, mein Clemens!« und ging zu einem andern Thema über.
  Bequem auf dem Sofa, halb liegend, halb sitzend, begann er: »Ich habe mir sagen lassen, jene östlichen Philosophen, mit denen Sie sich in letzter Zeit soviel abgeben, diese jüdischen, oder genauer wohl diese christlichen Weisheitslehrer, wendeten sich vor allem an den Pöbel; sie bemühten sich, dem Niedrigen und Geschlagenen zu helfen, ihre Lehren gelten der Masse, den geistig Armen, den Millionen. Ist das so?« – »In einem gewissen Sinne ja«, antwortete Clemens. »Vielleicht spricht mich gerade deshalb diese Lehre an.« Der Kaiser unterdrückte seinen Ärger über diese unziemliche Anmerkung, blieb liegen und fuhr fort: »Nun, ich habe unter meinen Senatoren einige beseitigt, man liebt es, ihre Namen aufzuzählen. Aber es sind ihrer nicht viele, es sind an die dreißig, mehr als dreißig kommen nicht heraus, wenn man mir den Untergang noch so vieler zur Last legt, es ist nicht die Zahl der Namen, es ist mehr ihr alter Adel, der die Liste meiner ›Opfer‹ gewichtig erscheinen läßt. Andernteils kann niemand bestreiten, daß ich von dem konfiszierten Vermögen dieser ›Opfer‹ das weitaus meiste so verwendet habe, daß Hunderttausende, ja Millionen sehr viel besser davon leben konnten. Ich habe mit diesem Geld Hungersnöte und Seuchen verhindert oder doch gemindert, desgleichen Elend und Entbehrung.« Er betrachtete angelegentlich seine Hände und schloß langsam: »Es wären ohne mein Regime Hunderttausende, vielleicht Millionen nicht mehr am Leben, und andere Hunderttausende wären überhaupt nicht geboren worden ohne meine Maßnahmen, die nur möglich waren durch die Beseitigung der dreißig.«
  »Und?« fragte Clemens. »Nun denn, merken Sie gut auf, mein Clemens!« antwortete der Kaiser. »Ihr, die ihr euch das Glück der Niedrigen, das Glück der Massen zum Ziele setzt, ihr müßtet dann doch Verständnis für mich haben, ihr müßtet mich ehren und lieben. Tut ihr das?« – »Vielleicht«, erwiderte freundlich, fast demütig Clemens, »vielleicht verstehen wir unter Glück und Leben etwas anderes als Sie, mein Domitian. Wir verstehen darunter ein Leben zur Gottheit hin, eine zuversichtliche Vorbereitung auf das Jenseits.«
  Jetzt aber war es mit Domitians Gelassenheit zu Ende. »Das Jenseits«, höhnte er, »der Hades. ›Lieber bin ich ein Tagelöhner oben auf Erden / Als im Hades der Herr der abgeschiedenen Schatten‹«, zitierte er den Achilles des Homer. »Der Hades, das Jenseits«, ereiferte er sich weiter. »Das ist es ja, was ich an euch tadle. Ihr wagt es nicht, das Leben recht anzuschauen, es mit ihm aufzunehmen, ihr faselt von einem Jenseits, ihr drückt euch, ihr lauft davon. Ihr glaubt nicht an euch selber und an keinen andern und nicht an den Bestand dessen, was man schafft. Welche Feigheit, welche Erbärmlichkeit, wenn ein Flavier zweifelt am Bestand der flavischen Dynastie! Sie wird nicht zugrunde gehen, sage ich dir!« Und nun stellte er sich kaiserlich hin trotz des Schlafrocks, und die Arme eckig nach hinten, mit seiner hohen, scharfen Stimme krähte er dem andern ins Gesicht die Verse: »›Niemals schwinde ich hin, Vieles von mir für stets / Trotzt der Verwesung.‹ Wenn schon ein Dichter das von sich sagen darf, und nicht zu Unrecht, wieviel mehr ein flavischer Kaiser! Aber was der Verwesung nicht trotzt, was zugrunde gehen wird, weil es von Anfang an niemals recht da war, das ist das Reich deines unsichtbaren Messias. In Traumhäusern siedelt ihr euch an, Schatten schon bei Lebzeiten seid ihr. Rom, das ist das Leben, euer Christentum aber, das ist der Tod.«
  Überraschend, mit der sanften, scherzhaften Freundlichkeit, die er während dieser ganzen Unterredung bezeigt hatte, stellte da auf einmal Clemens fest: »Also willst du mich ins Christentum schicken?«
  Diese ruhige, heitere und, wie er fand, höhnische Feststellung brachte den Domitian vollends aus der Fassung. Hochrot stand er da, heftig an der Oberlippe saugend. Aber noch ein letztes Mal bezwang er sich, und, dem andern fast gütig zuredend, sagte er: »Ich möchte gern, daß du erkennst: ich schicke dich zu Recht in den Tod.« – »Wenn es deine Götter gibt«, antwortete immer mit der gleichen unerschütterlichen, unnah baren, spaßhaften Ruhe Clemens, »dann schickst du mich zu Recht in den Tod.« Und nach einem ganz kleinen Schweigen, und jetzt mit einer stillen, eindringlichen Gefaßtheit, fügte er hinzu: »Im übrigen erweisest du mir einen Dienst.«
  Domitian, noch als Clemens längst tot war, grübelte oft über diese Worte, ob der Mann sie wirklich geglaubt hatte oder ob sie Pose waren.






ZWEITES BUCH

Josef







ERSTES KAPITEL


Man fuhr in drei Wagen. Im ersten saß Mara, die fünfzehnjährige Jalta, der dreizehnjährige Daniel
        und einer der Leibeigenen, im zweiten war der vierzehnjährige Matthias mit zwei männlichen Leibeigenen und einem großen Teil des Gepäcks, im dritten der Rest des Gepäcks und Maras Freigelassene Jarmatja. Josef ritt neben dem Wagen der Mara, den Zug beschloß sein Reitknecht. Manchmal nahm Matthias das Pferd des Reitknechts und ließ diesem seinen Platz im Wagen.
  Es war ein schöner Spätherbsttag, sehr frisch, vom Meer her kam leichter Wind, das starke, helle Blau des Himmels war gefleckt von ein paar sehr weißen Wolken. Josefs Laune war froh und bewegt. Damals, vor neun Jahren, als er das Gut Be’er Simlai gekauft, hat er Mara versprochen, nach Judäa zurückzukehren, wenn er mit seinem Werk fertig sei. Nun ist es soweit, die »Universalgeschichte« ist fertig. Aber es ist gut, daß er eine »Zwischenlösung« gefunden hat, so daß er noch den Winter in Rom bleiben kann. Mara, Jalta und Daniel mögen jetzt ruhig nach Judäa vorausfahren, er und Matthias werden im Frühjahr nachkommen. Er freut sich auf diesen Winter mit seinem Sohne Matthias.
  Er liebt Mara, er liebt sie herzlich, aber sie leben nun seit fünfundzwanzig Jahren mit kurzen Unterbrechungen zusammen, sie ist schwieriger geworden während dieser Zeit, er gibt gerne zu, daß er es ihr auch manchmal sehr schwer gemacht hat. Es hat sehr lange gedauert, ehe die blinde Verehrung schmolz, mit der sie an ihm hing, und früher hätte er oft gewünscht, daß sie selbständiger denken lernte, auch über ihn. Nun freilich, da es so gekommen ist und da sie seine Schwächen zwar mit einer fast mütterlichen Nachsicht hinnimmt, ihn aber merken läßt, daß sie sie durchschaut, wäre es ihm manchmal lieber, es wäre wie zuvor. Denn manchmal kratzt ihn ihre Kritik sehr, so mild sie vorgebracht wird. Es ist die Beharrlichkeit dieser Kritik, die ihn verdrießt; im Grunde weiß er genau, daß sie recht hat, wiewohl seine geübte Dialektik sie mühelos ins Unrecht setzt.
  Vor allem recht hat sie gehabt, wenn sie die ganzen letzten Jahre hindurch still, doch beharrlich darauf gedrängt hat, man sollte endlich die Stadt Rom verlassen. Seitdem der Kaiser seine Ehrenbüste aus dem Friedenstempel hat entfernen lassen, haben ihn alle seine Freunde wieder und wieder beschworen, er solle doch fort aus diesem gefährlichen Rom, fort aus den Augen des Kaisers, des Messalin, des Norban. Johann von Gischala hat ihm hundert Gründe der Vernunft angeführt, vor denen seine, des Josef, Argumente nicht standhielten wie vor Mara, und als dann die neuen Verfolgungen hereinbrachen, hat selbst Justus ihm erklärt, jetzt noch zu bleiben sei mehr theatralisch als tapfer. Einmal ist er denn auch wirklich zurückgegangen nach Judäa, er hat sich sein neues Gut Be’er Simlai genau betrachtet, aber er hat nur gefunden, daß es unter der ausgezeichneten Obhut seines alten Theodor Bar Theodor zumindest ebensogut gedeiht wie unter seinem eigenen Aug, und er ist zurückgegangen nach Rom.
  Jetzt ist er froh, daß sich alles so gefügt hat, daß er diese schlimmen Jahre in Rom verlebt hat, abseits der Dinge und doch mitten in ihnen. Jetzt also ist sein Werk fertig, und der Vorwand, mit dem er vor sich selber und vor Mara sein Bleiben begründet hat, der Vorwand, sein Werk gerate besser fern von Judäa, ist hinfällig, sein Versprechen ist fällig geworden. Allein er hätte es einfach nicht über sich gebracht, jetzt das Schiff zu besteigen, um sich in Judäa zu vergraben. So hat er denn schließlich die »Zwischenlösung« gefunden, das neue Argument, mit dem er sein Bleiben in Rom wenigstens noch für eine Weile begründen kann. Wenn die Universalgeschichte Wirkung tun soll, hat er sich und Mara vorgemacht, dann sei beim Erscheinen des Buches seine Gegenwart wichtig, beinahe unentbehrlich; schon dem Claudius Regin sei er das schuldig, der soviel Liebe, Geduld und Geld darauf verwandt habe, ihm die Arbeit zu ermöglichen. Das war ein brüchiges Argument, Mara hatte resigniert und ein wenig bitter gelächelt, und es waren unbehagliche Minuten gewesen, als er ihr vorgeschlagen hatte, sie möge vorausfahren, er werde mit Matthias im Frühjahr nachkommen. Jetzt aber lagen diese unangenehmen Minuten hinter ihm, man ist nun schon den sechsten Tag unterwegs, morgen, spätestens übermorgen wird man in Brundisium angelangt sein, das Schiff wird in See stechen, es wird Mara und die Kinder nach Judäa tragen, und dann wird es Winter sein, und vor dem nächsten Frühjahr braucht er nicht daran zu denken, nach Be’er Simlai zu reisen.
  Der Wind rötet und strafft Josefs Gesicht. Heute sieht man es ihm nicht an, daß er hoch in den Fünfzigern ist. Er hält das langsame Tempo der Wagen nicht aus, er reitet ein Stück voran.
  Hell klingen die Hufe seines Pferdes auf der gequaderten Straße. Das muß man diesem Kaiser Domitian lassen, die Appische Straße ist unter ihm besser gehalten als je unter seinen Vorgängern. Ein endloser Zug nach der einen Seite und nach der andern. Josef überholt Wagen und Reiter, und Wagen, Reiter und Sänften kommen ihm entgegen. Ein Fuhrknecht, wie er sein Pferd zwischen einem Wagen und einer Sänfte durchzwängt, ruft ihm zu: »Na, na, nicht gar so eilig! Oder bist du auf der Flucht vor der Polizei?«, und Josef, gut gelaunt, ruft zurück: »Nein, aber ich reite zu meinem Mädchen«, und alle lachen.
  Er hält auf einer kleinen Höhe, er hat den Wagen weit hinter sich gelassen, er wartet. Sein Junge Matthias kommt heran, er hat es im Wagen wieder einmal nicht ausgehalten, munter sprengt er auf ihn los, er zwingt dem wenig stattlichen Pferd einen Galopp ab. Josef freut sich, wie er seinen Jungen sieht. Groß prescht er heran, er ist mit seinen vierzehn Jahren schon fast so groß wie Josef selber. Er hat, sein Matthias, das gleiche hagere, knochige Gesicht, die lange, leichtgekrümmte Nase, das dichte, schwarzglänzende Haar. Seine Haut ist gerötet vom Wind, das Haar, wiewohl nicht lang, flattert ein wenig, die heftigen Augen leuchten in der Freude der raschen Bewegung. Wie ist er ihm ähnlich, und gleichwohl unähnlich! Matthias hat nichts von dem Übersteigerten, das ihm so viele Freuden und Qualen verschafft hat, er hat statt dessen viel geerbt von dem harmlos freundlichen Wesen der Mutter, von dem Kindhaften, das sie sich bis heute bewahrt hat. Auch die Offenheit der Mutter hat er, er schließt sich leicht und freundschaftlich an, doch ohne Zudringlichkeit. Nein, er ist kein hübscher Junge, denkt Josef, wie Matthias so heranreitet, im Wind, ohne Hut, eigentlich ist kein Einzelzug seines Gesichtes hübsch, aber dennoch, wie liebenswert ist er, wie spiegelt sich sein offenes, knabenhaftes Herz in seinem Antlitz und in seinen Bewegungen, seine lebendige, naive Anmut! Er ist ein junger Mann und doch noch ganz ein Kind, es ist kein Wunder, daß die Freundschaft aller ihm zufliegt. Josef beneidet ihn um dieses seines kindhaften Wesens willen, und er liebt ihn darum. Er selber ist niemals ein Kind gewesen, er war mit zehn Jahren altklug und ein Erwachsener.
  Matthias hielt jetzt neben ihm auf der Höhe. »Weißt du«, sagte er mit einer Stimme, die schon auffallend tief und männlich aus seinen sehr roten Lippen kam, »das hält man nicht aus, diesen Schneckengang des Wagens. Ich freue mich schon darauf, wenn wir zurückreiten, du und ich.« – »Ich bin neugierig«, antwortete Josef, »ob du, wenn du erst das Schiff siehst, nicht doch bedauerst, daß du nicht mitfährst.« – »Aber nein!« erwiderte stürmisch der Knabe. »Ich möchte meine Lehrzeit nicht in Judäa durchmachen, nicht die bei der Armee und nicht die bei den Ämtern.« Josef sah das lebendige Gesicht seines Sohnes, und er war froh, daß er sich entschlossen hatte, ihn in Rom zu behalten. Jugend, Erwartung, tausend Hoffnungen leuchteten aus den heftigen Augen des Knaben. »Von der Lehrzeit bei Hofe ganz abgesehen?« ergänzte Josef den Satz des Matthias. Das war ein wenig unbedacht, er sah es an der heftigen Wirkung, welche diese Worte auf den Knaben ausübten. Es war nämlich die Lehrzeit im Heere, die bei den Ämtern und die bei Hofe der übliche Bildungsgang für die Söhne der aristokratischen Geschlechter. Die Lehrzeit bei Hofe aber war nicht leicht zu erlangen, sie galt als hohe Auszeichnung, und man mußte sehr gute Beziehungen zum Palatin haben, wollte man dort aufgenommen werden. »Glaubst du wirklich«, fragte Matthias zurück, und sein ganzes Gesicht war ein einziges begehrliches Leuchten, »daß das möglich wäre? Würdest du’s mir erlauben? Würdest du’s mir erwirken?« – »Versprich dir nichts!« versuchte rasch Josef seine übereilten Worte wiedergutzumachen. »Ich hab es noch nicht zur Genüge bedacht, ich kann noch gar nichts sagen. Gib dich zufrieden, mein Matthias, daß du den Winter noch in Rom bleibst! Oder bist du’s nicht? Genügt’s dir nicht?« – »Doch, doch«, erwiderte eilig Matthias aus ehrlichem Herzen. »Nur«, bedachte er, und seine Augen wurden ganz groß, wie er davon träumte, »was wäre es für ein Triumph, was würde Caecilia dazu sagen, wenn ich zur Lehrzeit bei Hofe zugelassen würde!«
  Josef brauchte seinen Matthias nicht lange zu fragen, was es mit dieser Caecilia auf sich hatte. Sie war die Schwester eines Schulkameraden seines Jungen, und sie hatte ihm einmal im Streit vorausgesagt, er werde am rechten Tiberufer enden, wo die armen Juden wohnten, als Hausierer. Sonst hatte Matthias niemals unter seinem Judentum gelitten. Josef hatte ihn in eine Schule geschickt, wo er der einzige Jude war, es war vorgekommen, daß seine Schulkameraden ihn um seines Judentums willen ausgelacht haben. Er, Josef, hätte dergleichen als Junge kaum verwunden. Er hätte Monate, Jahre darüber gegrübelt, er hätte diejenigen gehaßt, die ihn ausgespottet. Sein Matthias war über den Hohn der andern offenbar mehr verwundert als gekränkt, er hat ihn nicht schwergenommen, er hat sich mit ihnen geprügelt, und er hat mit ihnen gelacht, und er hat sich alles in allem gut mit den andern vertragen. Nur die Äußerung dieser kleinen Caecilia ist ihm haftengeblieben. Aber im Grunde ist das Josef ganz recht. Im Grunde ist es ihm recht, daß sein Junge Ehrgeiz hat.
  Der Wagen kam heran. Josef ritt eine Weile neben Mara. Er war voll von Zärtlichkeit für sie, er liebte auch seine andern Kinder, Jalta und Daniel. Wie aber kam es, daß er sich jetzt seinem Sohne Matthias so tief verbunden fühlte, mehr verbunden als den andern? Vor einem Jahr noch hat er es im wesentlichen Mara überlassen, den Heranwachsenden zu erziehen. Jetzt begreift er das nicht mehr. Jetzt ist in ihm eine kleine Eifersucht, daß er ihn ihr so lange gelassen hat, und das Herz schwillt ihm bei dem Gedanken, daß er nun den Winter allein mit ihm verbringen wird. Wie kommt es, daß man plötzlich eines seiner Kinder soviel mehr liebt als die andern? Der Herr hatte ihn gesegnet seinerzeit mit Simeon, dem ersten Sohne der Mara, er aber hatte sich diesen Segen entgleiten lassen und ihn töricht selber vertan. Dann hat der Herr ihn bestraft und verflucht mit Paulus. Nun hat er ihn ein zweites Mal gesegnet, mit Matthias, und diesmal wird er den Segen nicht vertun. Dieser Matthias wird seine Erfüllung sein, sein Cäsarion, die vollendete Mischung aus Griechentum und Judentum. Mit Paulus ist es ihm nicht geglückt, diesmal wird es ihm glücken.

Am übernächsten Tag dann war man in Brundisium. Das Schiff »Felix« lag bereit; am nächsten Tag, am frühen Morgen, wird man in See stechen. Noch einmal, zum zwanzigsten Male, sprach Josef mit Mara alles durch, was es zu bereden gab. Empfehlungsbriefe an den Gouverneur in Cäsarea hatte er ihr bereits ausgehändigt, desgleichen ein Schriftstück mit wichtigen Anweisungen des Johann von Gischala, die sie mit seinem Verwalter Theodor nochmals überdenken sollte. Das Wesentliche war, daß sie sich mit Theodor verstand, damit dieser in dem Knaben Daniel einen guten Verwalter heranziehe. Daniel war ein ruhiger Junge, nicht dumm und nicht gescheit, er freute sich auf Judäa und auf das Gut Be’er Simlai; wenn Josef im Frühjahr selber nach Be’er Simlai kommt, wird er dort einen guten Helfer vorfinden. Kein Wort wurde an diesem letzten Tag gesprochen über die persönlichen Beziehungen Josefs zu Mara. Sie hatten so vieles miteinander erlebt, Gutes und Böses; Mara, wiewohl sie nicht die tiefe Menschenkenntnis Josefs besaß und seiner Philosophie nicht folgen konnte, wußte besser Bescheid um ihn als irgendwer sonst auf der Welt, und er wußte das, er wußte, daß sie ihn liebte mit einer fraulichen und mütterlichen Liebe, die jede seiner Schwächen kannte, sie auf stille Art bekämpfte und sie hinnahm.
  Der Knabe Matthias hatte das Schiff sogleich gründlich durchmustert bis in den letzten Winkel. Es war ein wackeres Schiff, seetüchtig und geräumig, aber ihm wäre es viel zu langsam gewesen. Eifrig setzte er das seinem Vater und seinem Bruder Daniel auseinander; er hoffte sehr, wenn er im Frühjahr mit dem Vater fahren wird, dann werden sie ein schnelleres Schiff haben als diese »Felix«. Schnell zu fahren, vor dem Wind, mit allen Segeln, auf einem schlanken, schmalen, ungeheuer schnellen Schiff, darauf freute er sich, seine Augen glänzten.
  Am Tag darauf dann war es soweit. Josef und Matthias standen am Kai, Mara stand an der Reling mit den Kindern. Noch immer ging der angenehme, belebende Wind, noch immer waren die geschäftigen, kleinen, weißen Wolken am Himmel. Ringsum, auf dem Schiff und am Kai, war Geschrei und Betrieb. Langsam dann drehte sich das Geländer vom Land weg, mit ihm die Gesichter Maras und der Kinder. Josef stand am Kai und schaute, er schaute gesammelt, sein Blick trank die drei ganz in sich ein, er dachte an all das Gute, das er in den vielen Jahren seiner Gemeinschaft mit Mara erlebt hatte. Ihre Stimme kam vom Schiff. »Komm mit dem ersten Schiff im Frühjahr!« rief sie, sie sprach aramäisch, und im Wind und im Geschrei ringsum waren ihre Worte nicht weit zu verstehen. Und dann war das Schiff schon eine ganze Strecke fort vom Kai, und der abfälligen Meinung des Matthias zum Trotz fuhr es schnell in dem günstigen Wind.
  Josef schaute nach, bis keine Gesichter mehr zu erkennen waren, nur mehr der gleitende Umriß des Schiffes, und während dieser Zeit waren alle seine Gedanken gesammelt und voll Herzlichkeit bei Mara. Dann aber, kaum hatte er sich weggewandt, war es, als sei mit dem Anblick des Schiffes auch sie selber verschwunden, und er dachte nur mehr an den schönen Winter in Rom, der ihm bevorstand, an den Winter mit seinem Sohne Matthias.
  Es wurde eine fröhliche Rückreise. Josef und sein Sohn ritten schnell, sie ließen den Reitknecht auf seinem schlechten Mietklepper weit zurück. Josef fühlte sich leicht und vergnügt, er spürte nicht seine Jahre. Er schwatzte mit dem Knaben, und schnell und heiter kamen und gingen ihm die Gedanken.
  Wie liebte er ihn, diesen Matthias, jetzt in Wahrheit seinen Ältesten! Denn Simeon ist tot und Paulus unerreichbar noch, als wenn er tot wäre. Mit einem kleinen Frösteln denkt er daran, daß Mara in das Land fährt, in dem Paulus lebt, ein Feind jetzt, der schlimmste Feind, der sich denken läßt.
  Aber er hat ja nun seinen Matthias, den ganzen Winter wird er seinen Matthias haben. Wie anders ist die Offenheit dieses seines Matthias als seine eigene, wenn er sich noch so ehrlich geben will! Des Matthias Wesen schließt die andern auf, es gewinnt ihm die Herzen; er hingegen, Josef, hat nie maßzuhalten gewußt, und wenn er sich vor einem Dritten ausschüttet, dann muß er manchmal die Erfahrung machen, daß dieser Dritte, unbehaglich vor solcher Maßlosigkeit, von ihm zurückweicht.
  Wieso nur ist es gekommen, daß sich seine ganze Liebe auf einmal auf diesen seinen Sohn Matthias geworfen hat? Diese ganzen Jahre hat der Knabe neben ihm hergelebt, und er, Josef, hat ihn eigentlich gar nicht gesehen. Jetzt, da er ihn sieht, weiß er, daß dieser Matthias keineswegs so begabt ist wie Paulus oder auch nur wie Simeon. Warum, nachdem sein Plan, den Paulus zu seinem Fortsetzer und Erfüller heranzuziehen, so schlimm mißglückt ist, warum glaubt er, daß es ihm mit diesem seinem Matthias glücken muß? Warum wirft er seine ganze Hoffnung und seine ganze Liebe auf ihn?
  Warum? So fragt auch dieser Matthias immerzu und sehr häufig dann, wenn kein Sterblicher auf diese Frage antworten kann. Er, Josef, muß in solchen Fällen den Knaben mit einer vagen Antwort abspeisen, oder er muß ihm geradezu bekennen: »Ich weiß es nicht.« Dem Matthias geht es mit ihm, wie es ihm seinerzeit selber so oft auf der Hochschule in Jerusalem gegangen ist. Wenn da ein Problem aufgetaucht ist, über das sich die Doktoren schon seit Jahrzehnten, vielleicht seit Jahrhunderten gestritten hatten, wie oft dann und gerade, wenn es am spannendsten und verwickeltsten wurde, hatte er sich mit der Antwort begnügen müssen: »Kaschja«; das aber wollte besagen: Problem, unentschieden, nicht schlüssig, vorläufig nicht zu beantworten.
  Rascher als man geglaubt hatte, war man in Rom. Als Josef gebadet hatte, war es Nachmittag, zwei Stunden vor Sonnenuntergang, noch viel zu früh zur Mahlzeit. So kurz seine Abwesenheit gedauert hatte, Josef fühlte sich wie ein Heimkehrer nach langer Reise, er beschloß, die Zeit bis zum Essen auf einen Gang durch die Stadt zu verwenden.
  Vergnügt schlenderte er durch die belebten Straßen der hellen, in dem starken Herbstlicht schimmernden Stadt. Nach dem langen Ritt tat es dem Josef wohl, seine Beine wieder zu spüren. Er fühlte sich leicht und frei wie seit Jahren nicht mehr. Das Werk war vollendet, keine Pflicht wartete auf ihn, keine Frau mit stiller, unausgesprochener Mahnung. Er war ein anderer Mann, die Jahre drückten ihn nicht, ihm war, als hätte er eine neue Haut und ein neues Herz. Andere Wege als seit Jahren gingen seine Gedanken. Mit andern Augen sah er auf dieses ihm doch so vertraute Rom.
  Da war er die ganzen Jahre hindurch in diesem Rom gewesen, täglich, stündlich hatte er diese Straßen, Tempel, Häuser um sich gehabt, und er hatte gar nicht wahrgenommen, wie ungeheuer sich das alles gewandelt hat, seitdem er es zum erstenmal gesehen. Wie er die Stadt damals betreten hat, das ist unter Nero gewesen, kurz nach dem Brand. Damals war die Stadt nicht so planvoll geordnet, nicht so sauber, sie war schlampiger gewesen, dafür aber auch liberaler, vielfältiger, vergnügter. Jetzt war sie römischer als damals, die Flavier, vor allem dieser Domitian, hatten sie römischer gemacht. Sie hatte mehr Disziplin jetzt, die Stadt. Die Buden der Verkäufer füllten nicht mehr die Hälfte der Straßen, die Sänftenvermieter und die Hausierer behelligten einen weniger, auch lief man nicht mehr Gefahr, über Unratkübel zu stolpern oder von einem hohen Stockwerk aus mit Kot übergossen zu werden. Der Geist des Norban, der Geist des Polizeiministers, beherrschte die Stadt. Groß und mächtig hob sie sich, frech und riesig prunkten ihre Häuser, Vergangenes und Modernes waren mit starker Hand ineinandergefügt, Macht und Reichtum waren zur Schau gestellt, die Stadt zeigte, daß sie die Welt beherrschte. Aber sie zeigte es nicht mit der liebenswürdigen Prahlerei des schlampigen, liberalen, neronischen Rom, sie zeigte es kalt und drohend. Rom, das war Ordnung und Macht, aber Ordnung nur um der Ordnung selber willen, Macht nur um der Macht selber willen, Macht ohne Geist, sinnlose Macht.
  Genau erinnerte sich Josef der Gedanken und Gefühle, mit denen er seinerzeit zum erstenmal diese Stadt Rom beschaut hatte. Erobern hatte er sie wollen, sie mit List besiegen. Und in einem gewissen Sinne war es ihm geglückt, freilich hatte sich dann herausgestellt, daß der Sieg von Anfang an eine verschleierte Niederlage war. Jetzt waren die Fronten klarer. Dieses domitianische Rom war härter, nackter als das Rom des Vespasian und des Titus, nichts war in ihm von dem jovialen Gewese jenes Roms, das der junge Josef erobert hatte. Es war härter zu erobern, wer es besiegen wollte, brauchte mehr Kraft; aber da es seine ganze Macht so unverhüllt zur Schau stellte, täuschte man sich auch weniger leicht über die Größe der Aufgabe.
  Auf einmal erkannte Josef, daß er plötzlich wie damals als junger Mensch erfüllt war von einem Ungeheuern Ehrgeiz, von einer brennenden Lust, diese Stadt zu besiegen. Vielleicht war es deshalb, daß er sich so heftig dagegen gesträubt hatte, Rom zu verlassen. Vielleicht, wahrscheinlich, war es die kitzelnde Lust auf diesen Kampf, die ihn hier in Rom hielt. Denn ausgetragen werden konnte dieser Kampf nur hier. Es war ein Kampf mit dem Herrn dieser Stadt Rom, mit Domitian.
  Nein, ausgetragen war er noch lange nicht, dieser Streit. Wenn der Kaiser sich so lange still gehalten hatte, dann nicht etwa, weil er ihn vergessen, er hatte die große Auseinandersetzung nur aufgeschoben. Aber jetzt nahte sie heran, und wenn nicht der Kaiser, dann wird er, Josef, sie herbeiführen. Er spürte es, das war jetzt eine günstige Zeit für ihn. Er hat sein Werk vollendet, er hat die Universalgeschichte fertig, sie ist der Kieselstein, mit dem der kleine Josef den Ungeheuern Domitian fällen wird. Und er spürt in sich neue Kraft, sie fließt ihm zu aus seinem Sohn, er holt sich neue Jugend an der Jugend seines Matthias.
  So eingesperrt in seine Gedanken ist er, daß er nichts mehr hört und sieht von dem um ihn. Da aber weckt ihn Lachen und fröhliches Geschwätz, das aus einem kleinen Marmorbau dringt, und sogleich ist er nicht mehr der erhitzte, ehrgeizige Kämpfer, sondern nur mehr der Mann, der, das Werk vieler Jahre vollendet, vergnügt und der Bürde ledig, durch die große Stadt schlendert, die er liebt und die trotz allem seine Heimat geworden ist. Lächelnd selber hört er auf das Lachen und auf das fröhliche Geschwätz aus dem kleinen Marmorbau. Vierhundert solcher öffentlichen Latrinen hatte Rom. Jeder Sitz hatte prunkvolle Lehnen aus Holz oder Marmor, und da saßen sie zusammen, die Römer, behaglich miteinander schwatzend während der Entleerung. Auf Komfort verstanden sie sich, das mußte man ihnen lassen. Bequem machten sie’s sich. Josefs amüsiertes und bitteres Lächeln vertiefte sich, wie er so das vergnügte Geschwätz der sich entleerenden Männer aus dem hübschen, weißen Bau herauskommen hörte. Komfort hatten sie, die Fülle hatten sie, Macht hatten sie. Alles Äußere hatten sie, alles das, worauf es nicht ankam.
  Ja, Rom, das ist die Ordnung, die sinnlose Macht, Judäa, das ist Gott, das ist die Verwirklichung Gottes, das ist die Sinngebung der Macht. Eines kann ohne das andere nicht leben, eines ergänzt das andere. In ihm aber, in Josef, strömen sie ineinander, Rom und Judäa, Macht und Geist. Er ist dazu ausersehen, sie zu versöhnen.
  Jetzt aber genug von diesen Gedanken. Vorläufig will er von alledem nichts wissen. Er hat lange, schwere Arbeit hinter sich, er will jetzt ausruhen.
  Der Gang durch die Stadt hat ihn müde gemacht. Wie groß sie ist, die Stadt! Wenn er jetzt zu Fuß ginge, hätte er noch eine kleine Stunde nach Haus. Er nahm sich eine Sänfte. Ließ die Vorhänge hinunter, sperrte sich ab von der Buntheit der Straße, die so heftig auf ihn eingedrungen war. Rekelte sich im Dämmer der Sänfte, angenehm müde, nichts als ein müder, hungriger Mann, der ein großes und geglücktes Werk hinter sich hat und der jetzt vergnügt und mit ungeheuerm Appetit mit seinem lieben Sohne zu Abend essen wird.

»Ich gratuliere Ihnen, Doktor Josef«, sagte Claudius Regin und drückte ihm die Hand; es kam selten vor, daß er einem die Hand drückte, gewöhnlich begnügte er sich, mit seinen fetten Fingern lässig die Hand des andern zu berühren. »Das ist wirklich eine Universalgeschichte«, fuhr er fort. »Ich habe viel daraus gelernt, wiewohl mir doch eure Geschichte nicht ganz unbekannt war. Sie haben ein vortreffliches Buch geschrieben, und wir werden alles daransetzen, daß die Welt das erfährt.« Das war eine ungewöhnlich warme und entschiedene Rede für den sonst so zurückhaltenden, skeptischen Regin.
  Lebhaft erörterte er, was man unternehmen könnte, um das Werk wirkungsvoll zu publizieren. Das Technische, Herstellung und Vertrieb, war lediglich eine Geldfrage, und Claudius Regin war kein Knauser. Aber wo das Technische aufhörte, begann alles sogleich problematisch zu werden. Wie zum Beispiel sollte das Porträt des Autors gehalten sein, das man dem Brauch zufolge dem Buch voranstellen wird? »Ich will Ihnen keine Komplimente machen, mein Josef«, meinte Claudius Regin, »aber zur Zeit schauen Sie genauso aus wie ich selber, nämlich wie ein alter Jud. Mir gefallen Sie ja, so wie Sie jetzt sind, aber das Publikum, fürchte ich, wird andrer Meinung sein. Wie wäre es, wenn wir das Porträt ein bißchen stilisierten? Wenn wir einfach den eleganten, bartlosen Josef von früher hinmalten, natürlich ein bißchen gealtert? Mein Porträtist Dakon macht so etwas ausgezeichnet. Übrigens wäre es ganz gut, wenn Sie jetzt auch in Person ein bißchen mehr den Weltmann Josephus herauskehrten als den weitabgewandten Stubengelehrten. Es könnte nichts schaden, wenn Sie sich zum Beispiel den Bart wieder abkratzen ließen.«
  Josef nahm die grobfädigen Reden des Mannes gerne hin, da er die ehrliche Anerkennung durchspürte, und Regin war ein Kenner. In letzter Zeit ging dem Josef wieder alles gut hinaus. Das Interesse des Regin verbürgte beinahe den äußeren Erfolg der Universalgeschichte, und Josef sehnte sich nach einem solchen Erfolg. Die Zeit, da es ihn gleichgültig gelassen hatte, daß man seine Ehrenbüste aus dem Friedenstempel entfernte, war vorbei.
  Josef nahm denn auch die gute Stimmung des Regin wahr, um die andere Angelegenheit zur Sprache zu bringen, die ihn jetzt beschäftigte, die Lehrzeit des Matthias. Es war sehr unüberlegt gewesen, daß er dem Jungen Hoffnung gemacht hatte auf eine Lehrzeit bei Hofe. Helfen in dieser Angelegenheit konnte ihm eigentlich nur Claudius Regin.
  Josef legte ihm also den Fall dar. Es war nun mehr als ein Jahr her, daß Matthias seine Bar Mizwah gefeiert hatte, seine Aufnahme in die jüdische Gemeinschaft, es war an der Zeit, daß er endlich auch die Toga anlegte und damit zum römischen Mann und Bürger erklärt würde. Bei dieser Gelegenheit pflegte man zu verkünden, welche Laufbahn der junge Mann einzuschlagen gedenke. Josef wünschte sich und seinem Sohne, daß der nicht nur die Lehrzeit im Heer und in den Ämtern, sondern auch die bei Hofe absolvieren könnte. Es drängte ihn, dem Regin, den er sich freund wußte, mehr zu sagen. »Ich fühle mich«, erklärte er, »diesem meinem Matthias mehr verbunden als meinen andern Kindern. Matthias soll meine Erfüllung sein, mein Cäsarion, die vollendete Mischung aus Griechentum und Judentum. Mit Paulus ist es mir nicht geglückt.« Es war das erstemal, daß er das einem andern so offen zugab. »Er hat zuviel heidnisches Erbteil in sich, der Grieche Paulus, er hat sich gegen meinen Plan gesträubt. Matthias ist ganz mein Sohn, er ist Jude und willig.«
  Regin hatte den unordentlich rasierten, fleischigen Kopf gesenkt, so daß die schweren, schläfrigen Augen unter der vorgebauten Stirn nicht zu sehen waren. Aber er hatte gut zugehört. »Ihre Erfüllung?« nahm er das Wort auf, und mit freundschaftlicher Ironie fragte er weiter: »Welcher Josef soll sich und welcher Josef wird sich in diesem Matthias erfüllen, der Stubengelehrte oder der Politiker und Soldat? Hat er Ehrgeiz, Ihr Matthias?« Und ohne seine Antwort abzuwarten, schloß er: »Bringen Sie mir den Jungen her in den nächsten Tagen! Ich will ihn mir anschauen. Und dann will ich sehen, ob ich Ihnen einen Rat geben kann.«
  Als dann Josef einige Tage später mit Matthias in der Villa des Regin vor dem Tore ankam, wohin der Minister ihn geladen hatte, empfing ihn der Sekretär. Regin war unvermutet zum Kaiser befohlen worden, hoffte aber, den Josephus nicht zu lange warten lassen zu müssen. »Hier ist übrigens etwas, was Sie vielleicht interessieren wird«, meinte mit höflicher Beflissenheit der Sekretär und zeigte dem Josef das Porträt, das der Maler Dakon soeben für die Universalgeschichte übersandt hatte.
  Ein wenig geängstigt und gleichwohl fasziniert, mit glänzenden Augen starrte Josef auf das Porträt. Aber neugieriger noch beschaute es der Knabe. Der braune, lange Kopf, die heftigen Augen, die starken Brauen, die hohe, vielfach gebuckelte Stirn, die lange, leicht gekrümmte Nase, das dichte, schwarzglänzende Haar, die dünnen, geschwungenen Lippen, war dieses nackte, stolze, edle Gesicht das seines Vaters? »Wenn ich es nicht gewußt hätte«, sagte er, und seine Stimme kam tief, männlich dunkel und so bewegt aus seinen sehr roten Lippen heraus, daß der Sekretär hochsah, »wenn ich es nicht gewußt hätte, dann hätte ich gezweifelt, ob du das bist, mein Vater. So also kannst du sein, wenn du willst.« – »Wir müssen uns der Welt wohl alle ein wenig anders zeigen, als wir sind«, erwiderte Josef mit einem Versuch zu scherzen und ein wenig unbehaglich. Fast war ihm bange geworden vor dem Ehrgeiz, mit dem der Junge den Vater zu idealisieren trachtete. Im übrigen aber beschloß er, nun wirklich dem Rate des Regin zu folgen und sich den Bart abnehmen zu lassen.
  Der Sekretär schlug ihnen vor, im Park spazierenzugehen, bis Regin komme. Es war ein weit angelegter Garten, noch immer hielt das schöne, klare Herbstwetter vor, es war ein angenehmer Spaziergang. Die Luft belebte einen, die Gegenwart seines Sohnes machte den Josef jung und munter, er konnte mit Matthias sprechen wie mit einem Erwachsenen und doch wie mit einem Kinde. Was für Augen der Junge hat! Wie lebensfroh schauen sie unter der breiten, gutgebauten Stirn heraus! Glückliche, junge Augen, sie hatten nichts gesehen von den Schrecknissen, von denen die seinen voll waren, sie hatten den Tempel nicht brennen sehen. Was Matthias vom Leid des Juden zu spüren bekommen hat, das war, daß ein kleines Mädchen ihn ein wenig hänselte.
  Sie gerieten in das Pfauengehege. Mit knabenhafter Freude beschaute Matthias die prunkvollen Vögel. Der Wärter kam herbei, und wie er die Anteilnahme sah, mit welcher der Junge seine Pfauen beschaute, erklärte er den Gästen seines Herrn umständlich seine Tiere. Im ersten Jahr waren es sieben Vögel gewesen, fünf stammten aus der berühmten Zucht des Didymus, zwei waren unmittelbar aus Indien bezogen worden. Es sei jetzt keine gute Zeit, jetzt hätten die Vögel ihre Schleppe verloren. Erst Ende Februar, wenn sie balzten, offenbare sich ihre ganze Pracht.
  Der Wärter erzählte, und Matthias konnte nicht genug hören. Angeregt unterhielt er sich mit dem Wärter, fragte ihn nach seinem Namen. Es erwies sich, daß er aus Kreta war und Amphion hieß, und der Knabe brachte ihn dazu, immer weiterzuerzählen. Matthias streichelte einem der Pfauen die blauglänzende Brust; der ließ es sich gefallen, das machte auch den Wärter zutraulicher, und er erzählte, wie schwer man es mit den Tieren habe. Sie seien anmaßlich, herrschsüchtig und gefräßig. Trotzdem liebe er seine Vögel mit Leidenschaft. Es gelang ihm, es dahin zu bringen, daß mehrere der Vögel gleichzeitig ihr Rad schlugen, und Matthias begeisterte sich an dem Farbenspiel. Es sei wie eine Blumenwiese, sagte er, die Tausende von Augen erinnerten ihn an den Sternenhimmel, und er klatschte in die Hände. Da aber erschraken die Pfauen, und alle auf einmal klappten sie ihre Pracht und Herrlichkeit zu und stoben mit häßlichem Geschrei auseinander.
  Josef saß müßig auf einer Bank, hörte mit halbem Ohr zu und stellte im stillen bösartige Betrachtungen an. Der Pfau, dachte er, sei so recht der Vogel für dieses Rom: prächtig, schreiend, herrschsüchtig, unverträglich, eitel, dumm und gefräßig. Gestalt, Schein sei ihnen alles, diesen Römern.
  Daß sein Matthias an dem Pfauengehege solchen Anteil nahm, störte den Josef nicht. Er war eben ganz noch ein Knabe, voll von Interesse für alles, was er Neues sah, und sowenig er von allgemeinen Problemen wissen wollte, so sehr interessierte er sich für alles gegenständlich Lebendige. Wohlgefällig sah der stolze Vater Josef, wie gut sein Matthias und der Pfauenwärter sich verstanden. Er lächelte über den Eifer des Knaben. Wenn man ihn ansah, dann wirkte er sehr reif, aber das war eben Täuschung; in Wahrheit war er ganz und gar noch ein Knabe.
  Mit einem kleinen Lächeln auch nahm Josef wahr, mit welch unschuldigem Begehren Matthias sich darum mühte, einem so Gleichgültigen wie diesem Wärter zu gefallen. Matthias war nicht geradezu eitel, aber er wußte um seine Wirkung, und unbewußt suchte er sich diese Wirkung immer wieder zu bestätigen.
  Dann endlich kam Claudius Regin auf sie zugewatschelt, seine Geschäfte auf dem Palatin hatten nicht allzu lange gedauert, er wollte aber jetzt, bevor man sich zu Tische begab, nach der Fahrt noch ein paar Schritte gehen. Er war guter Laune, und es zeigte sich bald, daß ihm der Junge gefiel. Er sprach wieder von dem Werk des Josef, von der Universalgeschichte, und er fragte den Matthias, was denn nun er zu dem großen Buch seines Vaters sagte. Matthias, mit seiner tiefen, männlichen Stimme, erklärte mit bescheidenem Freimut, er sei kein guter Leser, er habe sehr lange an der Universalgeschichte gelesen, aber wirklich nahegegangen seien ihm nur die Ereignisse der letzten Zeit, die Josef geschildert habe. Er habe wohl nicht Verstand genug, um die frühen Dinge ganz zu begreifen. Er sagte das auf nette Art, es klang wie eine Entschuldigung, doch verhehlte er auch nicht, daß ihm sein Mangel an Verständnis nicht sehr zu Herzen ging. Es war immer so, daß das, was der Junge zu sagen hatte, durchschnittlich war, nicht besonders gescheit und nicht besonders dumm, aber immer wirkte es durch die frische und anmutige Art, wie er es vorbrachte, als etwas Besonderes.
  Josef war hergekommen, um dem Jungen einen Platz im Hofdienst zu erringen, er billigte die Pläne seines Sohnes, dessen Ehrgeiz. Was des Josef Väter gewesen waren, Gelehrte, Priester, Schriftsteller, Intellektuelle, und was er selber war, dazu taugte der Junge nicht, und das war dem Josef recht. Da er selber sich dafür entschieden hatte, nur das Kontemplative seines Wesens ausreifen zu lassen, da er den so oft gespürten Willen zur Tat in sich selber gewaltsam unterdrückt hatte, warum sollte er nicht jetzt dem Jungen für diesen Tätigkeitsdrang freies Feld und jede Möglichkeit schaffen? So hatte er sich’s gesagt, so war es recht und vernünftig. Trotzdem bedauerte er jetzt, wie er den Jungen so platt und nett über die Universalgeschichte daherreden hörte, daß ihm der Sinn für das Werk des Vaters versagt war. Sogleich aber tröstete er sich wieder über diesen Mangel, als er wahrnahm, wie der Junge dem Claudius Regin gefiel. Und gleichzeitig in einer Art naiver Berechnung sagte er sich, daß gerade die natürliche Frische und Unverdorbenheit seines Sohnes auf dem Palatin Wirkung tun werde.
  Man ging zu Tisch. Regin hatte einen berühmten Koch aus Alexandrien. Matthias aß mit gutem Appetit, Regin selber raunzte, daß er gehalten war, mit magerer Diät vorliebzunehmen. Man schwatzte viel, es war eine lustige, harmlose Unterhaltung, und Josef freute sich, wie schnell sein Junge auch diesen alten, schwierigen, kauzigen Regin gewann.
  Nach dem Essen, ohne viele Umschweife, sagte Regin: »Es ist klar, mein Josef, daß Ihr Matthias die Lehrzeit auf dem Palatin durchmachen muß. Wir müssen darüber nachdenken, wem wir ihn als Pagen anvertrauen sollen.« Das bräunlichwarme Gesicht des Knaben rötete sich vor Freude. Josefs Freude aber, wenngleich er’s sich so gewünscht hatte, war nicht ungetrübt, denn wenn jetzt Matthias als junger Freund ins Haus und in den Kreis eines großen Herrn tritt, dann wird er, Josef, sogleich wieder von ihm getrennt werden, nachdem er ihn so kurze Weile für sich allein gehabt hat.
  Regin, auf seine energische Art, stellte bereits praktische Erwägungen an. »Der Junge könnte in mein Haus eintreten«, meinte er, »er würde da nicht schlecht fahren, und lernen könnte er bei mir auch allerhand. Es gibt viele und merkwürdige Geschäfte, die der Kaiser mir anvertraut, und Ihr Matthias würde rasch erkennen, daß auf dem Palatin häufig der krümmste Weg der schnellste ist. Aber ich bin doch wohl schon ein zu alter Knacker. Oder was meinst du selber, mein Junge?« – »Ich weiß es nicht«, antwortete offen lächelnd Matthias. »Es kommt etwas überraschend, wenn ich frei sprechen darf. Ich glaube schon, daß wir uns vertragen würden, und Ihr Haus und Park sind einfach großartig, besonders die Pfauen.« – »Na ja«, antwortete Claudius Regin, »das hat allerhand für sich, aber ausschlaggebend ist es nicht. Käme als zweiter Marull in Frage«, überlegte er weiter. »Von dem könnte er einiges Wertvolle lernen, was ich ihm nicht beibringen kann, zum Beispiel Manieren. Im übrigen ist Marull der gleiche alte Knacker wie ich und ebenso unrömisch. Es muß ein Freund der Ersten Vorlassung sein«, erwog er, »nicht so alt und kein Judenfeind. Das sind drei Eigenschaften, die sich schwer zusammenbringen lassen.«
  Matthias hörte still zu, wie da über sein künftiges Schicksal beraten wurde, seine lebendigen Augen gingen vertrauensvoll von einem der beiden Männer zum andern. »Wann wollen Sie ihn die Männertoga anlegen lassen?« fragte unvermittelt Regin. »Wir können noch zwei, drei Monate warten«, gab Josef Auskunft, »er ist noch keine fünfzehn.« – »Er sieht männlich aus für sein Alter«, anerkannte Regin. »Ich hätte da nämlich eine Idee«, erklärte er weiter, »aber man müßte etwas Zeit dafür haben, man müßte sondieren, Vorbereitungen treffen, man dürfte die Geschichte nicht überstürzen.« – »Woran denken Sie?« fragte gespannt Josef, und auch des Matthias Augen, so wohlerzogen stumm er sich verhielt, hingen gespannt an des Regin Lippen.
  »Man könnte vielleicht die Kaiserin dazu bewegen, daß sie ihn in ihren Hofstaat aufnimmt«, sagte gleichmütig mit seiner hellen, fettigen Stimme Regin. »Unmöglich«, schrak Josef zurück. »Nichts ist unmöglich«, wies ihn Regin zurecht, und er verfiel in ein mürrisches Schweigen. Doch nicht lange, dann belebte er sich wieder. »Bei Lucia könnte er allerhand lernen«, setzte er auseinander. »Nicht nur Manieren und höfisches Wesen, sondern auch Menschenkunde, Politik und etwas, was es nur mehr bei ihr gibt: Römertum. Von Geschäften ganz zu schweigen. Ich sage Ihnen, mein Josef, diese Frau mit ihren Ziegeleien steckt mich neunmal Gewaschenen in die Tasche.« – »Die Kaiserin«, sagte hingerissen Matthias. »Sie glauben wirklich, daß das möglich wäre, mein Herr Claudius Regin?« – »Ich will dir keine Hoffnungen machen«, antwortete Regin, »aber unmöglich ist es nicht.«
  Josef sah das Leuchten auf dem Antlitz des Matthias. So mochte er selber gestrahlt haben, damals vor beinahe einem Menschenalter, als man ihm verkündete, die Kaiserin Poppäa erwarte ihn. Etwas wie Furcht kam ihn an. Aber gleich schüttelte er sie wieder ab. Dieses Mädchen Caecilia, dachte er, wird sich auf alle Fälle geirrt haben. Mein Matthias wird nicht am rechten Tiberufer enden.
  Vornächst hatte die Universalgeschichte trotz der Bemühungen des Regin keinen rechten Erfolg. Die Mehrzahl der jüdischen Leser fand das Werk zu kalt. Sie hatten eine begeisternde Darstellung ihrer großen Vergangenheit erwartet; statt dessen war da ein Buch, das bei Griechen und Römern darum warb, sie möchten die Juden in den Kreis der zivilisierten Völker aufnehmen, die eine große Vergangenheit hatten. War das nötig? Hatten nicht sie, die Juden, eine viel ältere, stolzere Geschichte als diese Heiden? Mußten sie, Gottes auserwähltes Volk, demütig darum bitten, nicht als Barbaren angesehen zu werden? Aber auch Griechen und Römer wurden nicht warm vor dem Werk des Josef. Viele zwar fanden das Buch interessant, doch sie wagten sich mit ihrer Meinung nicht heraus. Der Kaiser hatte die Büste dieses Schriftstellers Josephus aus dem Friedenstempel entfernen lassen; es war nicht ratsam, sich für ihn zu begeistern.
  Eine einzige Gruppe von Lesern gab es, die das Buch öffentlich und laut zu loben wagten, und das waren Leute, auf deren Beifall Josef am wenigsten gerechnet hatte: die Minäer oder Christen. Diese waren gewöhnt, daß, wenn ein Autor sich mit ihnen befaßte, er sich über sie lustig machte oder sie angriff. Um so mehr erstaunt waren sie, daß dieser Josephus sie nicht nur nicht beschimpfte, sondern daß er sogar das Leben und die Meinungen gewisser Vorläufer ihres Messias mit Achtung darstellte. Sie fanden, das Buch sei eine profane Ergänzung der Geschichte ihres Heilands.
  Der Mann, dessen Urteil Josef mit der größten Angst und Spannung erwartete, schwieg. Justus schwieg. Schließlich bat ihn Josef zu Gaste. Justus kam nicht. Daraufhin besuchte ihn Josef.
  »In den dreißig Jahren, die wir uns kennen«, sagte Justus, »haben Sie sich nicht geändert und habe ich mich nicht geändert. Wozu also bedrängen Sie mich? Sie wissen doch von vornherein, was ich zu Ihrem Buch zu sagen habe.« Josef aber ließ nicht ab. Er sehnte sich beinahe nach dem Schmerz, den der andere ihm zufügen werde, und er drängte so lange, bis Justus sprach.
  »Ihr Buch ist lau und unentschieden, wie alles, was Sie gemacht haben«, erklärte denn schließlich Justus und ließ das unangenehme, nervöse Kichern hören, das den Josef so reizte. »Sagen Sie mir: was eigentlich streben Sie an mit Ihrem Buch?« – »Ich wollte«, antwortete Josef, »daß die Juden endlich lernen, ihre Geschichte objektiv zu sehen.« – »Dann«, fertigte ihn Justus scharf ab, »hätten Sie sehr viel kälter schreiben müssen. Dazu aber haben Sie nicht den Mut gehabt. Sie haben sich gefürchtet vor dem Urteil der breiten Masse der Juden.« – »Ich habe weiter«, verteidigte sich mit Verbissenheit Josef, »die Griechen und die Römer enthusiasmieren wollen für die große Geschichte unseres Volkes.« – »Dann«, erklärte sogleich und unerbittlich Justus, »hätten Sie wärmer schreiben müssen, mit sehr viel mehr Begeisterung. Aber das haben Sie nicht gewagt, Sie haben Furcht gehabt vor dem Urteil der Kenner. Es ist, wie ich sagte«, schloß er, »Ihr Buch ist nicht warm und nicht kalt, es ist ein laues Buch, es ist ein schlechtes Buch.« Die finstere Abwehr auf Josefs Gesicht riß ihn weiter, erbarmungslos sagte er ihm alles, was er gegen das Buch einzuwenden hatte: »Niemand weiß besser als Sie, daß der Zweck, der hinter einer Politik steckt, moralisch sein kann oder unmoralisch, aber niemals die Mittel. Diese Mittel können nur nützlich oder schädlich sein im Sinne des angestrebten Zweckes. Sie aber tauschen willkürlich Maß und Gewicht. Sie legen moralische Maße an politische Vorgänge, wiewohl Sie ganz genau wissen, daß das nichts ist als faule, dumme, wohlfeile Konvention. Sie wissen ganz genau, daß der einzelne moralisch gewertet werden kann, niemals aber eine Gruppe, eine Masse, ein Volk. Ein Heer kann nicht tapfer sein, es besteht aus Tapferen und aus Feigen, Sie haben das erlebt, Sie wissen es, aber Sie wollen es nicht wahrhaben. Ein Volk kann nicht dumm sein oder fromm, es besteht aus Dummen und Gescheiten, aus Heiligen und Lumpen, Sie wissen es, Sie haben es erlebt, aber Sie wollen es nicht wahrhaben. Immer vertauschen Sie, um des Effektes willen, aus billiger Vorsicht die Gewichte. Sie haben kein historisches Buch geschrieben, sondern ein Erbauungsbuch für Dummköpfe. Nicht einmal das ist Ihnen geglückt; denn Sie haben für beide Teile schreiben wollen und deshalb nicht einmal den Mut zu jener Demagogie aufgebracht, in der Sie Meister sind.«
  Josef hörte zu und verteidigte sich nicht mehr. So maßlos Justus, der Freundfeind, übertrieb, es war an seinen Einwänden etwas Richtiges. Dies jedenfalls stand fest: das Buch, an das er so viele Jahre, so viel Leben gesetzt hatte, war nicht geglückt. Er hat sich gezwungen, kalt zu bleiben vor der Geschichte seines Volkes und sie vernünftig zu betrachten. Damit hat er alles Leben aus diesen Begebenheiten ausgetrieben. Alles ist halbwahr und also ganz falsch. Wenn er jetzt sein Buch überliest, dann sieht er, daß alles schief gesehen ist. Die abgeschnürten Gefühle rächen sich, sie stehen doppelt lebendig wieder auf, der Leser Josef glaubt dem Schreiber Josef kein Wort. Er hat einen Grundfehler gemacht. Er hat geschrieben aus der puren Erkenntnis heraus und häufig gegen sein Gefühl, darum sind weite Teile seines Buches leblos, wertlos; denn lebendiges Wort entsteht nur, wo Gefühl und Erkenntnis sich decken.
  Dies alles sah Josef grausam klar, dies alles sagte er sich hart und unverschönt. Dann aber tat er sein Buch »Universalgeschichte des jüdischen Volkes« ein für allemal von sich ab. Ob geglückt oder nicht, er hat gegeben, was er geben konnte, er hat seine Pflicht getan, hat gekämpft, gearbeitet, sich vieles versagt, jetzt hat er das Werk hingestellt und will, befreit davon, für sich selber weiterleben. Das Porträt, das Regin dem Buch vorangestellt hat, hat ihm gezeigt, wie alt er geworden ist. Er hat nicht mehr viel Zeit. Er will den Rest seiner Kraft nicht vergeuden in Grübeleien. Soll Justus philosophieren; er will jetzt leben.
  Und es stiegen in ihm auf tausend Wünsche und Regungen, von denen er geglaubt hatte, sie seien längst tot. Er freute sich, daß sie nicht tot waren. Er freute sich, daß er noch Durst spürte, wieder Durst auf Taten, auf Frauen, auf Erfolg.
  Er freute sich, daß er in Rom war und nicht in Judäa. Er ließ sich den Bart abnehmen und zeigte der Welt das nackte Gesicht des früheren Josef. Es war härter, schärfer, aber es war ein jüngeres Gesicht, als er es alle diese Jahre hindurch gehabt hatte.
  Das verwinkelte Haus im Bezirk »Freibad« wurde ihm jetzt, obwohl Mara und die Kinder fort waren, auf einmal zu eng und zu dürftig. Er suchte Johann von Gischala auf und bat ihn, ihm ein elegantes, modernes Haus zu suchen, das er mieten könnte. Bei dieser Gelegenheit hatte er ein längeres Gespräch mit Johann. Der hatte die Universalgeschichte aufmerksam gelesen, er sprach angeregt darüber und mit Verständnis. Josef wußte natürlich, daß Johann kein objektiver Richter war. Der hatte ein bewegtes Leben hinter sich, ähnlich wie er selber, er war im Grunde gescheitert, er war also geneigt, die Geschichte des jüdischen Volkes ähnlich zu sehen wie er selber und aller Begeisterung zu mißtrauen. Gleichwohl freute ihn die Anerkennung des Johann und tröstete ihn ein wenig über die Ablehnung des Justus.
  Er wurde gesprächig, er schloß sich jetzt, da er allein mit Matthias in Rom lebte, viel leichter auf als früher. Er erzählte dem Johann von dem, was er mit Matthias vorhatte. Johann war skeptisch. »Wohl sind die Zeiten noch so«, meinte er, »daß ein Jude seinen Ehrgeiz befriedigen kann. Sie haben sehr viel erreicht, mein Josef, gestehen Sie sich’s ruhig ein, Cajus Barzaarone hat viel erreicht, ich habe einiges erreicht. Aber ich halte es für klüger, wenn wir das Erreichte nicht zur Schau stellen, wenn wir den andern unser Geld, unsere Macht, unsern Einfluß nicht zu deutlich zeigen. Es reizt nur den Neid, und dazu sind wir nicht stark genug, dazu sind wir zu vereinzelt.« Josefs Gesicht war froh gewesen, als er dem Johann von seinen Zweifeln und Hoffnungen berichtete, jetzt erlosch es. Johann sah es, beharrte nicht, sondern fügte hinzu: »Aber wenn Sie für Ihren Matthias etwas erreichen wollen, dann müssen Sie unter allen Umständen absehen von Ihrem Plan, im Frühjahr nach Judäa zu gehen. Mich soll es freuen«, fügte er artig hinzu, »Sie länger in Rom zu wissen.« Josef sagte sich, daß Johann ein guter Freund war und mit seinen beiden Einwänden recht hatte. Wenn er für den Matthias einen der Herren des Palatin als Freund und Gönner fand, dann mußte er natürlich länger in Rom bleiben; auch wenn er ein neues Haus bezog, hatte das nur Sinn, wenn er sich auf einen längeren Aufenthalt einrichtete. Aber im Grunde war er froh, seine Reise nach Judäa, seine Rückkehr nach Judäa hinauszuschieben, und es war ihm dafür jeder Vorwand recht; denn seltsamerweise schien ihm, als bedeute diese Rückkehr nach Judäa den endgültigen Verzicht auf alles, wozu noch ein wenig Jugend gehörte, als erkläre er sich durch diese Rückkehr selber und für immer zum alten Mann. Und was die andere Warnung des Johann anlangte, daß es unklug sei, äußern Glanz und äußere Ehren anzustreben, so hatte der Freund damit wohl recht. Aber Josef hatte das Leuchten gesehen auf dem Gesicht seines Jungen, er konnte es dem Matthias nicht antun, jetzt von dem Plan abzustehen, dem Matthias nicht und sich selber nicht.
  Das neue Haus war rasch gefunden, und Josef machte sich daran, es einzurichten. Eifrig half ihm Matthias, er hatte tausend Vorschläge. Josef war jetzt viel in der Stadt zu sehen, er suchte Gesellschaft. Während er früher Monate allein und abgeschlossen verbracht hatte, zeigte er sich jetzt beinahe täglich im Kreise des Marull, des Regin. Wohlwollend, ein wenig spöttisch und ein klein wenig besorgt, beobachteten seine Freunde seine Veränderung. Matthias liebte und bewunderte ihn noch mehr.
  Josef sprach mit Claudius Regin über die Bedenken des Johann. Regin fand, Johann sei ein kluger Mann, aber er könne sich in die neuen Zeiten nicht mehr recht einfühlen und nicht in eine jüdische Jugend, die den Tempel nicht habe brennen sehen, für die der Tempel und der Staat nichts seien als eine historische Erinnerung, ein Mythos. Er, Regin, sei in einem gewissen Sinn ein Beispiel dafür, daß einem Juden auch höchst sichtbare Macht nicht immer zum Unheil ausschlagen müsse. Josef hörte dieses Beispiel nicht sehr gern; unter keinen Umständen hätte er gewollt, daß sein Matthias sein Judentum so weit abtue wie Claudius Regin. Immerhin ließ er sich von ihm gern in seinem Vorhaben bestärken und hörte gierig zu, als ihm Regin mitteilte, er habe bei einigen Wohlwollenden auf dem Palatin herumgehorcht, und obzwar eigentlich alle zunächst verblüfft seien über die Kühnheit der Idee, einen Judenjungen zum Pagen der Kaiserin zu machen, so hätten am Ende gleichwohl die meisten gefunden, daß die Neuheit der Idee ihre Ausführbarkeit nicht beeinträchtige. Er, Regin, sei also der Meinung, man könne jetzt ans Werk gehen. Er schlug dem Josef vor, das Fest der Toga-Anlegung des Matthias öffentlich zu feiern, auf römische Art, wiewohl das nicht üblich sei, und, um allen hämischen Anmerkungen von vornherein die Spitze abzubiegen, solle Josef doch die Kaiserin, die ihm nach wie vor wohlwolle, zu diesem Fest einladen. Es sei sträflicher Leichtsinn gewesen, daß Josef die Gunst, die ihm Lucia gelegentlich bezeigt, so wenig ausgenützt habe. Jetzt aber habe er gute Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen. Er möge der Kaiserin sein neues Buch bringen und sie bei diesem Anlaß zum Feste des Matthias einladen. Das Schlimm ste, was ihm begegnen könne, sei eine Ablehnung, und er habe schließlich schon schlimmere Niederlagen eingesteckt.
  Das leuchtete dem Josef ein, ja ihn lockte der Vorschlag. Er war ein Mann in den späten Fünfzig, es war nicht mehr wie damals, da er, gespannt in jeder Fiber, zu der Kaiserin Poppäa gegangen war, aber er war mehr erregt als seit langer Zeit, als er jetzt vor Lucia trat, sein Buch in der Hand.
  Claudius Regin hatte geschickt vorgearbeitet, er hatte Lucia unterrichtet von Josefs Veränderung. Trotzdem war sie überrascht, wie er jetzt mit seinem nackten, verjüngten Gesicht vor ihr erschien. »Sieh an, sieh an«, sagte sie, »jetzt ist die Büste verschwunden, dafür hat sich der Mann wieder in die Büste verwandelt. Ich freue mich darüber, mein Josephus.« Ihr helles Antlitz, frisch, wiewohl ihre erste Jugend vorbei war, strahlte offen ihre Freude wider. »Ich freue mich, daß nun das Buch da ist und daß der frühere Josephus wieder da ist. Ich habe mir den ganzen Vormittag für Sie freigelassen. Wir müssen endlich einmal ausführlich schwatzen.«
  Den Josef hob dieser warme Empfang. In seinem Innern zwar spottete er ein bißchen über sich selber und dachte, er sei als Alternder der gleiche Tor wie in der Jugend, trotzdem schwoll ihm das Herz beinahe wie damals vor der Kaiserin Poppäa. »Was mir an Ihnen gefällt«, lobte ihn Lucia, »das ist, daß Sie bei aller Philosophie und Kunst im Grunde ein Abenteurer sind.« Das war nun ein Lob, das dem Josef wenig gefiel. Sie aber, sogleich, deutete ihre Worte aus auf eine Art, die ihm schmeicheln mußte. Es wolle wenig besagen, meinte sie, wenn einer zum Abenteurer werde, der aus dem Nichts komme, der also wenig aufgebe. Wenn indes einer, der von vornherein im Besitz großer Güter und Sicherheiten sei, sich das Abenteuer auswähle, so beweise das eine lebendige, unruhige Seele. Solche Abenteurer, nicht von den äußern Umständen, sondern von der Seele her, seien Alexander gewesen und Cäsar. Sie selber spüre etwas in sich von einer Abenteurerin solcher Art, und es bestehe zwischen diesen aristokratischen Abenteurern aller Zeiten eine heimliche Genossenschaft.
  Später dann bat sie Josef, ihr aus seinem Buch vorzulesen, und er tat es ohne Umstände. Er las ihr die Geschichten von Jael, Jezabel und Athalia. Auch las er ihr die Geschichten der wilden, stolzen und ehrgeizigen Frauen, die um den Herodes waren und von deren einer er abstammte.
  Lucias Anmerkungen überraschten den Josef. Für ihn waren die Menschen, die er darstellte, nicht aus der realen Welt, sie agierten auf einer Bühne, die er selber gebaut hatte, sie waren stilisiert, waren Luftgebilde. Daß Lucia diese seine Menschen so nahm, als wären sie Menschen aus Fleisch und Blut, die mitten unter uns herumgingen, das war ihm etwas Neues, und es störte ihn. Gleichzeitig aber entzückte es ihn, daß er also, ein kleiner Gott, eine lebendige Welt geschaffen hatte. Er und Lucia verstanden sich ausgezeichnet.
  Es kostete ihn nicht viel Mut, von seinem Geschäft zu beginnen. Er erzählte von seinem Sohne Matthias, und daß er ihn in nächster Zeit die Toga werde anlegen lassen. »Ich habe gehört«, sagte Lucia, »er soll ein netter Junge sein.« – »Er ist ein großartiger Junge«, erklärte eifrig Josef. »Was für ein stolzer Vater Sie sind!« sagte lächelnd Lucia.
  Er lud sie ein, der Feier beizuwohnen, die er aus Anlaß der Bekleidung mit der Toga geben wollte. Über Lucias Gesicht, das jede Regung spiegelte, ging ein kleiner Schatten. »Ich bin gewiß keine Feindin der Juden«, sagte sie, »aber muß es nicht ein wenig befremdlich erscheinen, wenn gerade Sie dieses Fest auf so demonstrative Art begehen? Ich bin in der Herkunft unserer Sitten nicht so beschlagen wie Wäuchlein. Aber ist dieses Fest der Toga-Anlegung nicht vor allem ein religiöser Akt? Ich finde nicht, daß Römertum und der Dienst unserer Götter sich immer decken, aber ich bin ziemlich sicher, daß mit diesem Fest der Toga-Anlegung auch unsere Götter irgendwas zu tun haben. Ich bin die letzte, mich in Ihre Beziehungen zu Ihren Volksgenossen einzumischen, doch ich fürchte, auch Ihre Juden werden nicht sehr glücklich sein, wenn Sie aus diesem Akt soviel hermachen. Ich lehne Ihre Einladung nicht ab«, fügte sie eilig hinzu, als sie wahrnahm, daß sich Josef bei ihren Bedenken verdüsterte, »aber als Ihre Freundin bitte ich Sie, alles gut zu überlegen, bevor Sie sich endgültig entschließen.«
  Daß Lucia Einwände ganz ähnlicher Art hatte wie Johann, traf den Josef. Aber sein Entschluß hatte sich mittlerweile nur gefestigt. Er hatte seinen Sohn durch die Bar Mizwah in die jüdische Gemeinschaft aufgenommen, warum sollte er ihn nicht durch einen ähnlichen Akt in die römische aufnehmen, der er nun einmal angehörte? Es schien ihm gleichnishaft, beide Zeremonien glänzend zu machen, und wenn es zu Mißdeutungen Anlaß gab, er hatte erfahren müssen, daß alles, was er tat und ließ, mißdeutet wurde. Auch hatte er dem Matthias dieses Fest nun einmal versprochen, der freute sich kindlich darauf, und Josef brachte es nicht über sich, seinem lieben Sohn die ungeheure Enttäuschung zu bereiten.
  Er gab Lucia eine halbe Antwort, dankte ihr für ihren Rat, versprach, alles noch einmal zu überdenken, in seinem Innern aber war er fest entschlossen. Zu Hause, halb im Scherz, halb im Ernst, fragte er den Matthias: »Wenn einer wissen will, bist du ein Römer oder ein Jude, wie antwortest du dann?« Matthias, mit seiner tiefen Stimme, lachte: »Frag nicht so dumm! würde ich antworten. Ich bin Flavius Matthias, Sohn des Flavius Josephus.« Dem Josef gefiel diese Antwort. Die Bedenken der andern zerschmolzen ihm mehr und mehr. Sollte er, Josef, weniger Mut zeigen als der alte Claudius Regin, der keine Gefahr darin sah, den Jungen auf den Palatin zu schikken?

Die Feier wurde angesetzt. Matthias ging umher wie auf Wolken. Er lud das Mädchen Caecilia ein. Sie gab eine ihrer schnippischen Antworten. Er teilte ihr mit, die Kaiserin werde seinem Fest beiwohnen. Caecilia wurde ganz blaß.
  Da Josef alles vermeiden mußte, was als Dienst einer römischen Gottheit, als Götzendienst, hätte ausgedeutet werden können, sah er sich gezwungen, bei der Feier mancherlei Umbiegungen der Zeremonie vorzunehmen. Weder gab es im Hause des Josef einen Altar der Hausgottheiten, noch trug Matthias die goldene Amulettkapsel des römischen Knaben, die er an diesem Altar hätte aufhängen können. So beschränkte sich die eigentliche Feier im Hause darauf, daß Matthias die verbrämte Toga des Knaben mit der weißen, reinen des Mannes vertauschte. Diese neue schlichte Tracht stand ihm großartig, sein junges und doch schon männliches Gesicht kam heiter und ernst zugleich aus dem einfachen, reinen Kleide heraus.
  Sodann brachten Josef und ein riesiges Geleite von Freunden, an ihrer Spitze die Kaiserin, den jungen Mann aufs Forum, an den Südabhang des Capitols, ins Archiv, damit er dort seinen Namen feierlich in die Liste der mit dem Bürgerrecht Ausgestatteten eintragen lasse. Es hieß aber der Junge fortan: Flavius Matthias Josephus. Die Kaiserin steckte ihm den Goldenen Ring an den Finger, der seine Zugehörigkeit zum Zweiten Adel auswies.
  Während sodann die nichtjüdischen Gäste des Josef sich in sein Haus begaben, wo das Festmahl stattfinden sollte, nahmen Josef selber, Matthias und die jüdischen Gäste eine Handlung vor, von der die Stadt, ja das Reich noch wochenlang sprechen sollten. Der Brauch verlangte, daß der neue junge Bürger sich in den Tempel der Göttin der Jugend begab, um dort ein Geldstück und ein Opfer zu spenden. Da der Jude Matthias das nicht konnte, ging er, geleitet von seinem Vater und seinen Freunden, statt dessen in das zuständige Büro des Schatzamtes, ließ sich in die diffamierende Liste der Juden eintragen und zahlte die Doppeldrachme, welche die Juden seit der Zerstörung des Tempels statt für Jahve für den Capitolinischen Jupiter zu entrichten hatten. Daß Josef die als Schande gedachte Entrichtung der Abgabe herausfordernd zu einem Festakt machte, ließ viele unter den Juden es ihm verzeihen, daß er seinen Jungen so demonstrativ zum Römer erklärt hatte.
  Der Kaiserin gefiel Josefs Mut. Auch Josefs Sohn gefiel ihr. Sie hatte gesehen, mit welch prinzlicher Anmut er durch die stolze Stunde gegangen war, da sie ihm den Ring des Zweiten Adels an den Finger steckte; jetzt, während des Festmahls, ließ sie sich erzählen, daß er sich mit der gleichen einfachen Anmut der Schmach unterzogen, in die Judenliste eingetragen zu werden. Der Knabe saß neben ihr. Seine Augen hingen an ihr in knabenhafter Huldigung, doch er verlor nicht seine Unbefangenheit. Sie sprach mit ihm. Er wußte offenbar, wie gut ihm die weiße Toga stand, und er wußte, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren, doch seine Frische und Natürlichkeit litten nicht darunter.
  Claudius Regin hatte Lucia bereits darauf vorbereitet, daß Josef sie bitten werde, seinen Sohn in ihren Dienst aufzunehmen. Jedermann mußte sehen, daß ihr der Junge gefiel, und Josef konnte also gewiß sein, keine Fehlbitte zu tun. Gleichwohl brachte er sein Anliegen nicht mit der Sicherheit vor, die ihm sonst eignete, und auch Lucia sagte ihm ihre Gewährung mit einer seltsam verschleierten Stimme zu, und es war in ihr und auf ihrem Gesicht eine ungewohnte Verwirrung.
  Josefs Herz war heiß von Glück. Er hatte seinen lieben Sohn auf den Platz gehoben, den er für ihn erträumt hatte. Aber er war feinhörig, und in all seinem Jubel vergaß er nicht die Stimmen der Freunde, die ihn gewarnt hatten.

Matthias war also fortan im Gefolge der Kaiserin und wohnte die meiste Zeit auf dem Palatin. Es kam, wie Josef es vorausgesehen; Matthias, der junge jüdische Adjutant der Lucia, heiterernst, anmutig, jungmännlich, wie er war, wirkte gerade auf dem Palatin als etwas Besonderes. Man sprach viel von ihm, viele warben um seine Freundschaft, die Frauen ermunterten ihn. Er blieb unbefangen, es schien ihm natürlich, daß es so war, und er machte sich wohl kaum viel daraus; aber er hätte es vermißt, wenn er weniger in Sicht und weniger umworben hätte leben müssen.
  Daß Matthias jetzt im Gefolge der Kaiserin war, brachte auch den Josef in viel engere Berührung mit ihr. Lucia hatte seinen Weg schon mehrere Male gekreuzt, nie aber hatte er sie mit so empfänglichen Augen gesehen wie jetzt. Das Strotzende an ihr, ihre heiter-kühne Offenheit, das römisch Helle, Lebendige, das von ihr ausging, ihre reife, frauliche Schönheit, das alles drang jetzt viel tiefer in ihn ein als je zuvor. Er war nun ein alternder Mann, aber mit Erstaunen sagte er sich, daß ihn seit jenen Tagen, da er sich um Dorion verzehrte, niemals das Zusammensein mit einer Frau so bewegt hatte wie jetzt seine Zusammenkünfte mit Lucia. Er verhehlte diese seine Bewegung nicht, und sie ließ sich das gefallen. Vieles, was er, und vieles, was sie sagte, war jetzt vieldeutig, es gingen halbe Worte von einem zum andern, und vieldeutig wurden ihre Blicke und ihre Berührungen. Er geheimnißte allerlei Gleichnishaftes in diese Beziehung hinein. Wenn sie ihn dermaßen anzieht, wenn auch sie nicht unempfänglich ist für ihn, ist das nicht ein Symbol? Zeigt sich da nicht im Bilde die geheimnisvolle Beziehung zwischen Sieger und Besiegtem? Einmal konnte er sich nicht enthalten, zu Lucia eine Andeutung dieser Art zu machen. Doch sie lachte einfach heraus und sagte: »Sie wollen einfach mit mir schlafen, mein Freund, und daß Sie dahinter so tiefe Bedeutung suchen, ist nur ein Beweis dafür, daß Sie selber merken, wie frech Sie im Grunde sind.«
  Josef lebte ein heiles, frohes Leben in dieser Zeit. Er genoß, was ihm zuteil geworden, es schien ihm viel. Er sah nun Lucia täglich, sie verstanden einander immer besser, verziehen einer die Schwächen des andern, freuten sich einer an den Vorzügen des andern. Und an Josefs liebem, strahlendem Sohn erfüllte sich alles so, wie er’s sich gewünscht hatte. Hell und rein ging er durch den von so vielen Wirrnissen und Lastern besessenen Palatin, alle Welt liebte ihn, kein Neid und keine Feindschaft kamen an ihn heran. Ja, die Gottheit liebte Josef. Sie zeigte es ihm, da sie ihm jetzt soviel Freuden gab, ehe er endgültig die Schwelle des Alters überschritten hatte und da er noch im Besitz der Kraft war, sie zu genießen.

Man sprach viel von Josef und von seinem Sohne in der Stadt Rom, zu viel, fanden die Juden. Und es kamen zu Josef im Auftrag der Juden die Herren Cajus Barzaarone und Johann von Gischala. Besorgt gaben sie ihm zu bedenken, sein Glück, sein Glanz, wenn er sie gar so sichtbar zeige, würden noch mehr Neid wecken und noch mehr Feindschaft gegen die gesamte Judenheit. An sich schon nehme der Haß und die Bedrückung im ganzen Reiche zu. »Wenn ein Jud glücklich ist«, warnte Johann von Gischala wie schon einmal, »soll er sein Glück in seinen vier Wänden halten und es nicht auf die Straße stellen.«
  Allein Josef blieb zugesperrt, trotzig. Sein Sohn Matthias war nun einmal strahlend, und es war die Eigenschaft des Lichts, daß es sichtbar war. Soll er seinen lieben Sohn verstek ken? Er dachte nicht daran. Er war vernarrt in seinen schönen, liebenswerten Sohn und in dessen Glück.
  Und er schlug die Worte der Männer in den Wind, und er genoß weiter, was ihm zugefallen war. Er pflückte Erfolge, wo und soviel er wollte. Ein Einziges gab es, was ihn kränkte. Sein Buch, die Universalgeschichte, blieb nach wie vor ohne sichtbare Wirkung.
  Und nun erschien gar noch, und überdies wie seine eigenen Werke von Claudius Regin publiziert, der »Jüdische Krieg« des Justus von Tiberias, ein Buch, an dem dieser Justus Jahrzehnte hindurch gearbeitet hatte.
  Josefs eigenes Buch über den jüdischen Krieg hatte unter allen Prosawerken der Epoche den stärksten Erfolg gehabt. Das ganze Leserpublikum des Reichs hatte diesen »Jüdischen Krieg« gelesen, nicht nur um des Stoffes, sondern vor allem auch um der reizvollen Darstellung willen, Vespasian und Titus hatten sich für das Werk eingesetzt und seinen Autor hoch geehrt, das Buch hatte jetzt, ein kleines Menschenalter nach seinem Erscheinen, bereits den Stempel des Klassischen. Es war also eine ungeheure Kühnheit, wenn jetzt Justus ein Buch über den gleichen Gegenstand veröffentlichte.
  Josef hatte vor vielen Jahren einen Teil des Buches gelesen, und er selber und die eigene Leistung waren klein und erbärmlich vor Justus und dessen Buch. Mit Angst geradezu las er nun des Freundfeindes vollendetes Werk. Justus vermied peinlich alle großen Worte und jeden äußeren Effekt. Seine Darstellung war von einer harten, kristallenen Sachlichkeit. Auch dachte er gar nicht daran, etwa gegen das Buch des Josef zu polemisieren. Wohl aber erwähnte er die Tätigkeit des Josef während des Krieges, seine Handlungen zu der Zeit, da er Kriegskommissar in Galiläa gewesen war, die Tätigkeit also des Staatsmannes und des Soldaten Josef. Er stellte nur dar, er enthielt sich jeder Wertung. Aber gerade in dieser nackten Darstellung, durch sie, erschien Josef als schierer Opportunist, als armseliger, eitler Bursche, als Schädling an der Sache, die zu vertreten er übernommen hatte.
  Josef las. Er hatte seinerzeit eine schillernde Legende über seine Tätigkeit in Galiliäa konstruiert, er hatte diese Legende kunstvoll in seinem Buche vorgetragen, er hatte schließlich selber daran geglaubt, und mit seinem Buch war allmählich auch die Legende seiner Person als historische Wahrheit anerkannt worden. Jetzt, in dem Buche des Justus, sah der alternde Mann den Krieg, wie er wirklich gewesen war, er sah sich selber, wie er wirklich gewesen war, er sah auch das Buch, das er so gerne hatte schreiben wollen; nur hatte es eben Justus geschrieben, nicht er.
  Das alles sah er. Aber er wollte es nicht sehen, er durfte es nicht sehen, wenn er weiterleben wollte.
  Voll Spannung wartete er darauf, was nun mit dem Werk des Justus geschehen werde, was die Leute dazu sagen würden. Man machte nicht viel Wesens her vom Buche des Justus. Es gab freilich einige, die die Bedeutung des Buches erkannten, es waren Leute, auf deren Urteil Josef viel gab, aber sie waren sehr wenige. Immerhin mußte Josef erleben, daß in den Augen dieser wenigen das Werk des Justus seine eigene Schriftstellerei ausstach. Er mußte es erleben, daß dieser Justus, der seine, des Josef, Tätigkeit verworfen hatte, bei diesen wenigen als der rechte, letzte, unbestechliche Richter galt.
  Josef mühte sich, den bitteren Geschmack zu vergessen, den ihm diese Erkenntnis verursachte. Er sagte sich vor, daß er als Schriftsteller verwöhnt worden war wie kaum ein zweiter unter den Zeitgenossen und daß die Meinung der wenigen gegen seinen trotz allem wohlgegründeten Ruhm nicht aufkam. Aber das nützte nichts, der bittere Geschmack blieb. Ja der bittere Geschmack wurde bitterer. Josef war der Freund und Günstling der Kaiserin, er hatte seinem lieben Sohne den Platz gewonnen, den dieser sich und den er für ihn wünschte, er war, sowie er es nur gewollt, wieder zu einem der Männer geworden, die ganz vornean und in Sicht waren. Aber der bittere Geschmack verdarb ihm die Freude an all diesen Freuden.
  Er sagte sich, er sei griesgrämig geworden und alt und vermöge nur mehr das Verdrießliche wahrzunehmen und nicht das Angenehme. Dann wieder sagte er sich, er habe sich den Glauben an sich selber und an sein Werk zerstören lassen durch die maßlose, neidische Kritik des Justus. Er nahm seine Universalgeschichte wieder vor. Er las einige Kapitel daraus, die besten, und er sagte sich trotzig, was Justus gegen ihn vorzubringen habe, sei Unsinn.
  Aber es blieb schließlich die Tatsache, daß die Universalgeschichte, an die er soviel Mühe gelegt hatte, trotz aller Bemühungen des Regin kein rechter Erfolg geworden war. Er war gewohnt an die Zufälligkeiten äußeren Erfolgs und Mißerfolgs, aber gerade jetzt brauchte er Bestätigung von außen her, gerade jetzt brauchte er auch literarischen Erfolg. Alle seine andern Erreichnisse nützten ihm nichts. Das einzige, was ihm helfen könnte, wäre ein Widerhall der Universalgeschichte, ein lauter Widerhall, der die Stimme des Justus übertönt hätte. Er mußte Bestätigung haben, jetzt, schon um seines lieben Sohnes willen, um diesem weiterzuhelfen.
  Verbissen, anklägerisch fragte er den Regin, woran es liege, daß es mit dem Erfolg der Universalgeschichte so gar nicht vorangehen wollte. Regin, etwas maulfaul, erklärte ihm, das große Hindernis liege im Verhalten des Kaisers. Diejenigen, auf die es ankomme, wagten nicht recht, sich zu dem Werk zu äußern, solange man nicht wisse, was der Kaiser dazu sage. Selbst wenn DDD sich gegen das Werk erklärte, so wäre das ein Vorteil; denn dann hätte man wenigstens die Opposition für sich. Aber DDD, tückisch, wie er nun einmal sei, schweige, er äußere sich nicht einmal ablehnend, er äußere gar nichts. Er, Regin, habe versucht, dieses feindliche Schweigen zu brechen. Er habe Wäuchlein gefragt, ob ihm Josef das Werk überreichen dürfe. Aber Wäuchlein habe über die Frage weggehört, wie nur er das könne, und weder ja noch nein gesagt.
  Verdrossen und finster hörte Josef zu. Wieder stiegen in ihm die Gedanken hoch, mit denen er damals nach Rom zurückgekehrt war, als er Mara nach Judäa geschickt hatte. Damals hatte er sich gefreut auf den Kampf mit Domitian, auf den Kampf mit Rom. Er hatte eine neue Jugend in sich gespürt, und er hatte geglaubt, in seinem vollendeten Buch eine neue Waffe zu haben. Nun aber wich der Kaiser dem Kampfe aus. Er stellte sich einfach nicht.
  Was Regin weiter sagte, war nur geeignet, diese Meinung Josefs zu bestätigen. DDD, erzählte nämlich Regin, habe des Josef Namen seit ewiger Zeit nicht in den Mund genommen. Das sei merkwürdig. Er habe doch bestimmt gehört von Josefs neuer Freundschaft mit Lucia, von der herausfordernden Art, wie Josef seinen Sohn in die Judenliste habe eintragen lassen, und von dem neuen jüdischen Pagen der Lucia. Wenn übrigens der Kaiser nicht daran denke, seine Macht zu brauchen und den Josef glattweg zu vernichten, dann sei von DDDs Standpunkt aus diese Taktik die klügste. Denn sein Schweigen, DDDs Schweigen, verbreite Schweigen rings um das Buch, Schweigen, in dem das Werk zuletzt ersticken müsse.
  Josef überlegte, was er tun könnte, um dieses hinterhältige Schweigen zu brechen, um den Kaiser, den Feind, aus seinem Hinterhalt herauszulocken, ihn zu zwingen, sich zu stellen. Es war Sitte, daß beim Erscheinen eines Werkes der Autor in großer Öffentlichkeit daraus vorlas. Josef hatte das bei der Publikation des Werkes nicht gewollt, es war da in ihm noch zuviel gewesen von der Luft, innerhalb deren die Universalgeschichte entstanden war. Der Josef, der die Universalgeschichte geschrieben, hatte das Publikum verachtet. Jenem Josef wäre es auch durchaus gleichgültig gewesen, was Domitian von dem Buch gedacht oder gesagt hätte. Doch der Josef, der jetzt vor Claudius Regin saß, war ein anderer. »Wie wäre es«, schlug er vor, »wenn wir eine Rezitation veranstalteten, wenn ich aus der Universalgeschichte vorläse?«
  Regin sah überrascht hoch. Wenn Josef, nachdem er so lange geschwiegen, wieder vor das Publikum treten wird, so muß das eine Sensation sein. Wenn überhaupt, dann war eine solche Rezitation vielleicht das einzige Mittel, den Kaiser aus seiner Zurückhaltung herauszulocken. Der Plan reizte den Regin, doch er verhehlte dem Josef nicht, daß das Unternehmen recht gefährlich war. Es war gewagt, eine Äußerung des Kaisers herauszufordern. Josef aber, da Regin nicht ohne weiteres widersprach, war schon ganz Flamme für seinen Plan. Wie ein Schauspieler, der eine neue Rolle begehrt, redete er dem Regin und sich selber vor, was alles für das Unternehmen spreche. Er lese nicht schlecht, der leise östliche Akzent in seinem Griechisch gefalle den Leuten mehr, als daß er sie abstoße; nachdem er so lange nichts mehr von sich habe hören lassen, werde ganz Rom auf sein Erscheinen vor der Öffentlichkeit neugierig sein. Und dann, eine kleine Scham überwindend, gestand er dem Regin, diesem Freunde, einen heimlichen Wunsch ein, der gleichzeitig mit dem ersten Gedanken an eine solche Rezitation in ihm hochgestiegen war. »Und welch eine Freude«, sagte er, »wäre es, vor dem Jungen zu glänzen, vor Matthias!«
  Diese naive, väterlich verliebte Eitelkeit gewann ihm den Regin vollends, und er sagte: »Es bleibt ein höllisch riskantes Unternehmen; aber wenn Sie es wagen wollen, Sie alter Jüngling, ich halte mit.«
  Josef wandte an die Vorbereitungen seiner Rezitation die größte Mühe. Lange überlegte er mit seinen Freunden, wo der Vortrag stattfinden sollte. Regin, Marull, vor allem Lucia erörterten die Frage, als ginge es um eine Staatsaktion. Sollte der Vortrag stattfinden im Hause des Josef vor einem kleinen, auserwählten Kreis? Oder vor einem größern Publikum im Hause des Marull oder des Regin? Oder vielleicht gar auf dem Palatin selber im großen Saale des Hauses der Lucia?
  Lucia hatte eine Idee. Wie wäre es, wenn Josef im Friedenstempel läse?
  Im Friedenstempel? In dem Hause, aus dem der Kaiser seine Büste hat entfernen lassen? Ist das nicht eine ungeheuerliche Herausforderung? Wird da nicht die große Halle vereinsamt liegen, weil niemand wagen wird, an einer so gefährlichen Veranstaltung teilzunehmen? Besteht nicht selbst die Möglichkeit, daß der Kaiser den Josef verhaften läßt vor seiner Vorlesung?
  Lucia sagte: »Wir kommen so nicht weiter. Wir stoßen immer wieder auf den gleichen Punkt des Widerstands: auf DDD. Ich seh mir das nicht länger mit an. Er will uns zermürben durch diese Taktik. Er will unsern Josephus totmachen durch sein Schweigen. Aber das soll ihm nicht glücken. Ich möchte wissen, woran wir sind. Ich gehe zu ihm.«

Als sich Lucia bei ihm ansagte, ahnte Domitian sogleich, daß es um den Juden oder um seinen Sohn gehen werde.
  Er war in den letzten Monaten mit Lucia nur selten zusammengekommen. Er war die meiste Zeit mißgestimmt, er wurde fetter und schlaffer von Körper, er hatte einen großen Verbrauch an Frauen, ohne daß sie ihm rechten Spaß gemacht hätten. Er ließ sich genau Bericht erstatten über alles, was um Lucia geschah. Mißtrauisch, übelwollend bedachte er, daß sie nun also den jungen Juden an ihren Hof gezogen hatte, den Sohn dieses gefährlichen Josephus. Da Josephus alt wurde, ließ er sich wohl durch seinen Sohn vertreten.
  Der Kaiser empfing Lucia höflich, mit distanzierter, ironischer Liebenswürdigkeit. Man sprach ziemlich lange über Gleichgültiges. Lucia betrachtete den dicken, kahlen, alternden Herrn; er zählte nicht viel mehr Jahre als sie selber, doch er war alt und sie war jung. Sie hatte das Gefühl, er sei ihr fremder als seit Jahren, sie vermöge wenig mehr über ihn, und sie fragte sich, ob sie nicht vielleicht besser von ihrem Plan abstehen und von Josef gar nicht erst reden solle. Dann aber siegte ihre angeborene Kühnheit über ihre Vorsicht.
  Sie habe, begann sie in der Richtung ihres Vorhabens vorzustoßen, in letzter Zeit viel hören müssen über Judenverfolgungen in der Provinz und über Schikanen, denen die Juden in der Stadt selber ausgesetzt seien. Sie habe, wie er wisse, jüdische Freunde, darum interessiere sie sich für diese Angelegenheit. Auch er selber, der Kaiser, finde sie, sollte sich mit diesen Dingen beschäftigen. »Sie haben mir einmal auseinandergesetzt, mein Domitian«, erinnerte sie ihn, »daß ein Kampf ist zwischen Ihnen und dem östlichen Gott. Ich würde an Ihrer Stelle mir jeden Schritt in diesem Kampf zehnmal überlegen, ehe ich ihn unternehme. Ich selber bin, wie Sie wissen«, lächelte sie, »ein wenig lau in der Verrichtung der religiösen Pflichten, aber ich bin eine gute Römerin und glaube an die Götter. Wenn ich auch nicht viel tue, um ihnen meine Verehrung zu bezeigen, so vermeide ich doch alles, was sie gegen mich aufbringen könnte. Nun hat aber auch mit der Größe des Reichs die Zahl seiner Götter zugenommen. Ich denke, mein Domitian, wir sind einer Meinung darin, daß Sie als der Zensor berufen sind, alle Götter des Reichs zu schützen. Ich weiß nicht, ob Sie über diesen schwierigen Gott Jahve, den Sie für Ihren Feind halten, hinlänglich informiert sind. Er ist ein schwieriger Gott, und es wäre vielleicht gut, wenn Sie sich über sein Wesen und seine Art möglichst genau unterrichteten.«
  »Denken Sie an unsern Juden Josephus, meine Lucia?« fragte lächelnd, sehr höflich Domitian und schaute ihr mit seinen kurzsichtigen, etwas vorgewölbten Augen in das helle, große Gesicht. »Ja«, antwortete sie ohne weiteres. »Dieser Josephus hat das neue Buch erscheinen lassen, an dem er seit vielen Jahren geschrieben hat, und ich finde, es ist ein Buch, das wir Römer mit größter Aufmerksamkeit lesen sollten. Wenn Sie dieses Buch gelesen haben werden, mein Domitian, werden Sie über das Wesen Ihres Feindes, des Gottes Jahve, viel besser informiert sein.«
  »Erinnern Sie sich, meine Lucia«, antwortete, immer sehr höflich, der Kaiser, »daß ich, nachdem ich Teile dieses Buches gelesen hatte, die Büste dieses unseres Josephus aus dem Friedenstempel habe entfernen lassen?« – »Sehr wohl erinnere ich mich«, erwiderte Lucia. »Ich habe mich schon damals gefragt, ob diese schwere Kränkung eines großen Schriftstellers, der sich um Rom verdient gemacht hat, vielleicht nicht etwas voreilig war. Nachdem ich sein Buch gelesen habe, bin ich überzeugt, sie war es. Ich rate Ihnen sehr, mein Herr und Gott Domitian, dieses Buch zu lesen. Alle weiteren Schritte überlasse ich dann Ihrer guten Einsicht.«
  »Sprich dich ruhig weiter aus, meine Lucia!« sagte der Kaiser, und jetzt war sein Lächeln ein Feixen geworden, aber er sprach leise und besonders höflich. »Was willst du denn, daß ich tun soll?« Lucia spürte, daß sie heute wenig Macht über ihn hatte. Wieder, einen ganz kleinen Augenblick, dachte sie daran, ihr Vorhaben aufzugeben. Dann aber versuchte sie es trotzdem nochmals, auf andere Weise, auf ihre frühere Weise. Sie trat ganz nah an ihn heran und strich ihm durch das immer spärlicher werdende Haar. »Siebenundzwanzig Haare wirst du immerhin verloren haben«, meinte sie, »seitdem ich sie das letztemal zählte. Es gäbe ein sehr einfaches Mittel«, fuhr sie ohne Übergang fort, »sowohl das Unrecht wiedergutzumachen, das du an diesem Schriftsteller und vielleicht sogar an seinem Gott begangen hast, und gleichzeitig aus berufenem Munde Belehrung über diesen Gott Jahve zu empfangen. Du brauchtest zum Beispiel nur einer Rezitation beizuwohnen, die dieser unser Josephus mit deiner Erlaubnis zu veranstalten beabsichtigt.« »Interessant«, antwortete Domitian, »sehr interessant. Mein Josephus, unser Josephus, dein Josephus will also aus seinem neuen Buch lesen. Und es gefällt dir sehr, dieses neue Buch? Du findest es wirklich sehr gut?« – »Wäre nicht dein Schweigen«, antwortete sie überzeugt, »dann erklärte alle Welt, es sei von einem zweiten Livius. Schon als sein erstes Buch erschienen war, unter Vespasian und Titus, haben sie ihn so genannt. Erst jetzt, nachdem du seine Büste hast einschmelzen lassen, ist man vorsichtiger geworden.«
  Der Kaiser schnitt eine kleine Grimasse. »Richtig«, sagte er, »mein Vater hat sich gern mit ihm unterhalten, und Titus hat ihn geschätzt und geliebt. Vielleicht hast du dein Teil dazu beigetragen, daß Titus ihn schätzte und liebte. Und jetzt willst du also mich dazu bekehren, daß ich dem neuen Buch deines Günstlings Ehre erweise. Laß mich dir sagen, wenn du es nicht schon wissen solltest, daß ich Teile dieses Buches bereits kenne. Sie sind weder langweilig noch interessant. Auch von den übrigen Teilen sagen mir Leute, die deinem Josephus bestimmt nicht feindselig sind, sie seien ein bißchen langatmig und weder kalt noch warm.« – »Es wäre gut«, beharrte Lucia, »wenn Sie selber hörten und sich ein Urteil bildeten. Ich bin ehrlich überzeugt, es könnte Ihnen nicht schaden, wenn Sie sich über Jahve besser informierten.«
  Ein ganz kleines Unbehagen überkam den Domitian bei dieser Warnung. Er betrachtete Lucias offenes, kühnes Gesicht, das sich nicht mühte, Ärger und Teilnahme zu verstecken. »Sie haben wirklich großes Interesse an Ihrem Günstling, meine Lucia«, sagte er. »Er könnte eine eifrigere Werberin nicht finden.« Es sprach aus seinen hämischen Worten Mißtrauen, Eifersucht. Lucia hörte das heraus. Wäuchlein glaubte also, sie schlafe mit Josephus. Sie stellte sich das vor. Sie lächelte. Dann schaute sie den Domitian an, und sie lachte einfach heraus.
  Ihn aber befreite dieses Lachen. Bei all seinem Mißtrauen hatte er an ein Liebesverhältnis zwischen Lucia und diesem Juden nie gedacht. Sie war sehr römisch, wenngleich auf etwas abwegige Art, und dieser Gott Jahve und seine Leute mußten ihr bei alledem fremd und etwas lächerlich erscheinen. »Wollen Sie hierbleiben und mit mir essen, meine Lucia?« fragte er.


»Und wir überlegen dann weiter, was wir mit Ihrem Josef anfangen.«



Rezitationen waren beliebt in der Stadt Rom. Man war überzeugt, daß das gesprochene Wort tiefer eindringe und länger hafte als das geschriebene und daß es mehr vom Wesen des Autors gebe. In den letzten Jahren indes hatten die Rezitationen überhandgenommen, man war ihrer ein wenig überdrüssig, und gemeinhin hatten es die Autoren, die Rezitationen veranstalteten, nicht mehr leicht, ihre Säle vollzubekommen; man suchte alle möglichen Vorwände, um sich vor dem Besuch solcher Veranstaltungen zu drücken. Josefs Rezitation aber war ein Ereignis, zu dem die ganze Stadt drängte. Der Amtliche Anzeiger hatte gemeldet, daß der Kaiser der Veranstaltung beiwohnen werde. Von weither kam man, um Josef zu hören. Es war nicht nur die Sensation, welche die Hörer anlockte, sondern jetzt, nachdem der Kaiser durch das Versprechen seiner Anwesenheit kundgetan, daß man gegen diesen Autor nichts mehr einzuwenden habe, waren viele, Römer, Griechen und Juden, froh, öffentlich zu bekunden, daß sie zu diesem Schriftsteller und seinem Werke standen.
  Josef bereitete sich auf die Rezitation so sorgfältig vor, wie er sich noch nie auf ein Ereignis vorbereitet hatte. Zehnmal suchte er die Kapitel aus, die er lesen wollte, wählte, verwarf, wählte und verwarf von neuem; politische Gesichtspunkte und literarische wollten bedacht sein. Kühnheit und Zagheit lösten einander ab. Er beriet sich mit seinen Freunden, las ihnen das Ausgewählte vor, zur Probe, wie ein Anfänger.
  Auch auf die Vorbereitung seines Äußeren achtete er. Wie ein Schauspieler oder junger Fant überlegte er Tracht und Frisur, erwog, ob die Hand, die das Manuskript zu halten bestimmt war, besser geschmückt sein sollte oder nackt. Auch nahm er Tränke und Mittel, um seine Stimme zu stärken und geschmeidig zu machen. Er wußte nicht, vor wem er mehr glänzen wollte, vor dem Kaiser, vor Lucia, vor den Römern und Griechen, vor den Literaten, seinen Freunden und Nebenbuhlern, vor den Juden, vor Justus oder vor Matthias.
  Als dann die Stunde da war, fühlte er sich gut in Form und seiner Sache sicher. Sein Friseur und der Gesichtspfleger der Lucia hatten lange an seinem Kopf herumgearbeitet, er sah männlich aus und eindrucksvoll, seine Augen schauten heftig und doch gesammelt über seine Hörer. Alles war da, was in Rom Ansehen hatte, die Freunde des Kaisers, weil sie natürlich nicht fehlen durften, wenn ihr Herr erschien, seine Feinde, weil sie es für das Eingeständnis einer Niederlage hielten, daß der Kaiser der Vorlesung eines Schriftstellers beiwohnte in einem Raum, aus dem er die Büste dieses Schriftstellers verbannt hatte. Josef also sah sie alle, sah und erkannte sie, Lucia, der er sich tief verbunden fühlte, den Kaiser, seinen mächtigen Feind, den jungen, strahlenden Matthias, den er liebte, die Literaten, wartend auf jede Blöße, die er sich geben könnte. Er sah dieses ganze Meer von hellen und dunklen Gesichtern, er fühlte sich zuversichtlich, er freute sich darauf, diese alle sich, seinem Werk und seinem Glauben zu unterwerfen.
  Er las zunächst Kapitel aus der frühen Geschichte seines Volkes, die wärmsten und stolzesten, die er hatte finden können. Er las gut, und was er las, war geeignet, ein unvoreingenommenes Publikum zu interessieren. Seine Hörer waren kaum voreingenommen, aber sie wagten nicht, sich zu äußern. Sie spürten alle, daß jede Äußerung, Zustimmen wie Mißfallen, gefährlich werden konnte, sie wußten, daß die Leute des Norban und des Messalin Augen und Ohren offenhielten und auf die Hände und Münder der Hörer genau achteten. Selbst die Claqueure des Regin hatten Anweisung, sich nicht hervorzuwagen, solange der Kaiser selber kein Zeichen gegeben habe.
  Domitian aber gab kein Zeichen. Aufrecht saß er da, kaiserlich angetan, wenn auch nicht in großer Gala, die Arme eckig nach hinten, Ernst und Unbehagen ausströmend. Mit seinen vorgewölbten, etwas kurzsichtigen Augen starrte er bald auf Josef, bald gerade vor sich hin, bald auch schloß er die Augen, dann wieder hüstelte er, er hörte höflich zu, doch konnte es auch sehr wohl sein, daß er sich langweilte.
  Der Kaiserin war die Haltung des Domitian ein Ärgernis. Sie betrachtete die Veranstaltung als ihre eigene Sache, und DDD wußte das. Sie wartete gespannt, ob er auch während des Fortgangs der Vorlesung in dieser Haltung verharren werde. In diesem späteren Teil nämlich wollte Josephus aus dem sechzehnten Buch seines Werkes lesen, einige Kapitel, die auf große und höchst spannende Art die Geschichte der Familie des Herodes darstellten. Schade, daß er leider nur den Beginn und die Verwicklung dieser Geschicke wird lesen können, die wirren und seltsamen Beziehungen des Judenkönigs zu seinen Söhnen, wie man diese seine Söhne bei ihm verleumdet und wie er sie festsetzen und vor Gericht stellen läßt. Den Ausgang der Geschichte aber wird er leider nicht lesen können, wie nämlich Herodes diese seine Söhne grausam hinrichtet. Denn wenn Josephus das läse, dann müßte das die Hörer peinlich erinnern daran, wie DDD die Prinzen Sabin und Clemens hat hinrichten lassen. Es war Lucia leid, daß also ihr Josephus das Beste fortlassen mußte, den Schluß seiner Erzählung und seine besonders wohlgeglückte Wertung des Königs Herodes.
  Immerhin waren auch die Begebenheiten, die der Hinrichtung vorangingen, hinreißend erzählt, Josef las ausgezeichnet, man sah, wie ihn selber die Dinge, von denen er las, von neuem erregten, und Lucia merkte zu ihrer Genugtuung, mit welcher Anteilnahme man ihm folgte. Nicht aber änderte sich Gesicht und Haltung des Kaisers. Da hielt es Lucia nicht mehr, sie wollte nun nicht länger höfisch und wohlerzogen stumm bleiben. Als Josef einen mit besonderer Verve und dennoch sehr ruhig geschriebenen Absatz beendet hatte, klatschte sie und rief ihm mit ihrer lauten, klingenden Stimme Beifall zu. Einige stimmten ein, auch die Claqueure mühten sich. Doch die meisten schauten auf den Kaiser, und da dieser stumm blieb, blieben auch sie stumm und rührten sich nicht.
  Josef hörte die Beifallsrufe, er sah das Gesicht Lucias und das liebevolle, bewundernde, glückliche seines Sohnes Matthias. Allein er sah auch das starre, kühle, ablehnende Gesicht des Kaisers, des Feindes. Er wußte, darauf kam es an und nur darauf, diese Miene in Bewegung zu setzen. Er erkannte, daß der Mann, der Feind, entschlossen war, seine Taktik des Schweigens fortzusetzen, sein Gesicht nicht in Bewegung bringen zu lassen und sein, des Josef, Werk dadurch für alle Zeiten zu begraben. Da faßte ihn ein maßloser Zorn, und er schwor sich: Ich werde es dennoch in Bewegung bringen, dieses Gesicht!
  Und er hörte nicht da zu lesen auf, wo er sich’s vorgenommen hatte, sondern er sprach weiter. Mit Betretenheit zunächst, dann mit einer wachsenden Erregung, zusammengesetzt aus Schrecken über soviel Tollheit, Bewunderung für soviel Mut und wilder Spannung, was nun geschehen werde, hörten Lucia, Marull und Regin, hörten diejenigen, die des Josef Buch kannten, ihn seine Erzählung weiterlesen. Mit schönem Ausdruck, in wohlgemeißelten Sätzen, mit verbissener und empörter Ruhe berichtete er, wie der Judenkönig Herodes seine Söhne vor Gericht stellen und grausam hinrichten ließ.
  Während er las, wußte er genau, daß es tollkühn war, dem Kaiser eine solche Geschichte in sein Antlitz hinein vor Tausenden von Zuhörern vorzulesen. Um sehr viel weniger gewagter Anspielungen willen war der Philosoph Dio vor Gericht gestellt, der Senator Priscus getötet worden. Allein während sich Josef dies alles sagte, war er gleichwohl höchst gesammelt bei seiner Sache und las wirksam und gelassen. Mit tiefer Befriedigung nahm er wahr, daß jetzt das starre Antlitz sich regte. Ja, es war an dem, des Kaisers Gesicht rötete sich, heftig sog er an der Oberlippe, seine Augen begannen dunkel zu blitzen. Es hob den Josef, ein schwindelnd beseligendes Gefühl trug ihn hoch, um so beglückender, da er wußte, er werde vielleicht im nächsten Augenblick jäh und grausig herunterstürzen. Und er las immer weiter, er las die großartige psychologische Wertung des Herodes, die Moral, die er seiner Darstellung angehängt hat. Vielleicht wird er es mit dem Leben bezahlen müssen, daß er das liest. Aber es ist ein Leben wert, diese Sätze, diesen seinen Glauben, dem römischen Kaiser, dem Feind, ins Gesicht zu sagen.
  Immer deutlicher, während er las, wurde er sich bewußt, daß die Parallele zwischen seinem Herodes und diesem Domitian, der da vor ihm saß, nicht zu verkennen war. Bestimmt jetzt gab es unter diesen mehreren tausend atemlos Hörenden keinen, der nicht an die Prinzen Sabin und Clemens dachte. Aber gerade darum las Josef weiter: »Wenn er sich von ihnen gefährdet fühlte, so wäre es wohl Vorsicht genug gewesen, sie gefangenzuhalten oder aus dem Reich zu verbannen, so daß er einen plötzlichen Überfall oder offene Gewalttätigkeit nicht hätte gewärtigen müssen. Sie aber aus Haß und Leidenschaft zu morden, ist das etwas anderes als tyrannische Grausamkeit? Daß der König die Ausführung seines Planes, die Hinrichtung, lange hinausgezögert hat, belastet ihn mehr, als daß es ihn entschuldigt. Denn daß sich jemand in der ersten Aufwallung zu grausamen Handlungen hinreißen läßt, ist zwar schrecklich, doch erklärlich. Wenn er aber eine solche Freveltat erst nach reiflicher Überlegung und nach öfterem Schwanken begeht, so kann das nicht anders gedeutet werden denn als Zeichen eines rohen, blutdürstigen Gemütes.«
  Josef war zu Ende, er schwieg, seine eigene Kühnheit verschlug ihm den Atem. Es war in dem großen Saal so still, daß man das Knittern des Manuskriptes hörte, das er mechanisch rollte. Da, in das lautlose Schweigen hinein, tönte eine hohe Lache. Es war nicht einmal eine bösartige Lache, dennoch erschreckte sie alle, als wäre der Tod unter sie getreten. Ja, Domitian lachte, er lachte scharf, nicht sehr laut und auch nicht sehr lange, und mit seiner hohen Stimme, auch das nicht sehr laut, sagte er in das weite, tiefe Schweigen hinein: »Interessant, sehr interessant.«
  Dieses Lachen aber reizte den Josef zum Äußersten. Da nun doch alles verloren war und da er sicherlich in seinem Leben keine weitere Rezitation wird veranstalten können, warum soll er dem hier versammelten Rom nicht auf großartige und jüdische Art zeigen, wie einer abgeht?
  »Und zum Abschluß«, rief er in den totenstillen Saal, »lese ich Ihnen, mein Herr und Gott Domitian, und Ihnen, meine sehr ehrenwerten Gäste, eine Ode, die den Sinn meiner Universalgeschichte wiedergibt, die Gemütsverfassung, aus der heraus das Werk geschrieben ist, und die Weltanschauung, welche die Geschichte des jüdischen Volkes beherrscht. Es sind keine reinen Verse, sie sind gestammelt in einer Sprache, welche nicht die Muttersprache des Autors ist, aber ich denke, die Klarheit ihres Inhalts hat darunter nicht gelitten.« Und er


sprach die Verse des Psalmes vom Mut, er verkündete:


»Darum sag ich:
Heil dem Manne, der den Tod auf sich nimmt,
Sein Wort zu sagen, weil das Herz ihn drängt ...
Darum sag ich:
Heil dem Manne, den du nicht zwingen kannst, Zu sagen, was nicht ist.«

Erstarrt hörten die Tausende, wie es der Jude wagte, Rom und seinem Kaiser ins Antlitz zu erklären, daß er es verneinte. Erstarrt schauten sie auf ihren Kaiser, der reglos zuhörte. Reglos saßen sie alle, als Josef geschlossen hatte, eine halbe Minute blieb die ganze Versammlung reglos, reglos der sehr blasse Josef auf seiner Bühne, reglos der Kaiser auf seinem erhöhten Sitz.
  Dann, wieder in das ungeheure Schweigen hinein, klang die Stimme Domitians: »Was meinst du, Silen, mein Narr? Das ist eine Ode, für die du mir zuständig scheinst.« Und Silen, auf seine gewohnte Art den Kaiser nachahmend, die Arme eckig nach hinten, antwortete: »Interessant, was der Mann da oben gesagt hat, eine sehr interessante Auffassung.«
  Dann, immer unter lautlosem Schweigen, wandte sich Domitian an die Kaiserin. »Sie stellten mir in Aussicht«, sagte er, »wenn ich der Rezitation unseres Juden Josephus beiwohnte, würde ich mancherlei Belehrung finden. Ich habe sie gefunden.« Und: »Kommen Sie mit, meine Lucia?« fragte er. Doch Lucia, die Stimme etwas gepreßt, erwiderte: »Nein, mein Herr und Gott Domitian, ich bleibe noch.« Der Kaiser aber grüßte sie zeremoniös, und, gefolgt von seinem Narren, durch die lautlos bis zur Erde sich neigenden Hörer ging er dem Ausgang zu.


Schnell leerte sich der Saal. Um Josef blieben nur seine Nächsten. Bald gingen auch diese. Zuerst Cajus Barzaarone, dann Marull, dann Johann von Gischala. Schließlich war Josef allein mit Lucia, Claudius Regin und Matthias.

  Die Fülle und Straffheit des Willens, die Josef in sich hatte aufbringen müssen, um diese Stunde zu überstehen, war noch nicht verbraucht. Er hatte die Kraft, zu seinen Freunden gelassen, ja mit einem kleinen Lächeln zu sagen: »Und doch war es gut, daß wir die Rezitation veranstaltet haben.« Regin schaute nach dem leeren Platz, auf dem ehemals die Büste des Josef gestanden war. »Eine neue Büste werden Sie hier wohl kaum bekommen«, meinte er, »aber gelesen wird das Buch jetzt wohl werden.« – »Es war eine großartige Stunde«, sagte naiv Matthias. »Und daß die Leute dich nicht recht verstanden haben, macht nichts. Bei solchen Rezitationen«, sagte er altklug und sentenziös, »hat wohl immer nur das Sensationelle, Wohlfeile Erfolg.« – »Sensation hat es ja genug gegeben«, sagte Claudius Regin. Lucia aber sagte: »Ich weiß Mut zu schätzen. Aber was in aller Welt ist eigentlich über Sie gekommen, mein Josephus, daß Sie es plötzlich unternommen haben, allein gegen das ganze Römische Reich Attacke zu reiten?«
  »Ich weiß selber nicht, was in mich gefahren ist«, sagte Josef. Seine künstliche Gespanntheit verschwand, müde sank er auf eine der Bänke, er war den Künsten des Gesichtspflegers zum Trotz auf einmal alt. »Ich war verrückt«, versuchte er den andern das Vorgefallene zu erklären. »Wie ich sah, daß der Mann sich vorgenommen hatte, weiter zu schweigen, wie ich sah, daß sie alle feig waren und daß keiner Ihnen zu folgen wagte, meine Lucia, sondern daß sie alle nur auf den Mann starrten, und wie ich den Hohn und die Feindschaft auf dem Gesicht des Mannes sah, da ist die Narrheit über mich gekommen. Ich war von Anfang an toll und vermessen, schon als ich die Idee dieser Rezitation faßte, schon als ich Sie bat, ihn zu laden, meine Lucia. Sie konnten es nicht wissen, meine Freunde, wie toll es war, aber ich hätte es wissen müssen. Ich hatte gewisse Begegnungen mit ihm, und ich hätte wissen müssen, daß es nur so kommen konnte. Ich hätte diese Vorlesung nicht unternehmen dürfen. Der ohnmächtige Zorn darüber, daß ich es doch getan hatte, hat mich verrückt gemacht.«
  »Ich weiß nicht, was ihr alle wollt«, sagte unzufrieden mit seiner jungen, tiefen, unschuldigen Stimme Matthias. »Ich finde, es ist ein ungeheurer, für immer denkwürdiger Sieg, daß der Kaiser der Römer zu Flavius Josephus gekommen ist. Du sagst, mein Vater, er sei dein Gegner. Um so größer ist der Sieg. Der Kaiser, mit seinen hundert Millionen Römern hinter sich, betrachtet also den einzelnen Mann Josef Ben Matthias als einen Feind, den zu bestehen er sich selber aufmachen muß. Josef Ben Matthias aber fürchtet sich nicht und sagt ihm die Wahrheit. Ich finde, das ist ein gewaltiger Sieg.«
  Innerlich lächelten, beinahe gerührt, die drei Erwachsenen über die ungeschickten Versuche des Jungen, seinen Vater zu trösten. Claudius Regin und Lucia erörterten, diesmal nicht unbesorgt, was nun Domitian wohl beschließen werde. Aber man konnte nichts voraussehen, man konnte nur warten. Es gab auch keinerlei Vorsichtsmaßnahmen, die man hätte treffen können. Es wäre sinnlos gewesen und hätte die Gefahr nur vermehrt, wenn etwa Josef versucht hätte, die Stadt zu verlassen.
  Josef, allein, erkannte sehr genau, daß das, was er getan hatte, dem gleichen Wahnsinn entsprungen war, der vor zehn Jahren die »Eiferer des Tages« in ihren sinnlosen Aufstand getrieben hatte. Doch was ihnen, diesen Jungen, Zwanzigjährigen, erlaubt war, ihm, dem Achtundfünfzigjährigen, war es nicht erlaubt. Und trotzdem, es war eine ehrenvolle Niederlage, eine Niederlage, die das Herz des Besiegten mit einem stolzen, hohen Schmerz erfüllte, eine Niederlage, hundertmal besser als jene schalen Siege der Vernunft, die ihm während der letzten Jahre das Herz so kahl und kalt gemacht hatten. Er war keineswegs zerknirscht, er war stolz auf seine Niederlage, und selbst die Erwartung dessen, was da kommen mochte, beglückte ihn.
  Übrigens brachte ihm seine Wahnsinnstat zunächst nur Freuden. Matthias schaute mit einer so bewundernden Liebe zu ihm auf, wie er’s nach einem noch so großen Erfolg nicht anders hätte tun können. Lucia schalt ihn zwar, doch in ihre Scheltworte mischte sich ein beinahe zärtliches Verständnis seines achtundfünfzigjährigen und noch so jung brennenden Herzens. Von den Juden gar, und diesmal von den Juden des ganzen Reichs, wurde Josef stürmisch gefeiert. Das Bedenken einiger Vorsichtiger ging unter in einer Ungeheuern Woge von Popularität. Josef, der dem judenfeindlichen Kaiser inmitten einer tausendköpfigen Menge die Wahrheit Jahves an den Kopf geworfen hatte, wurde zum größten Aufrührer der Epoche. Claudius Regin hatte recht gehabt, bald wurde die Universalgeschichte von noch mehr Menschen gelesen als seinerzeit der »Jüdische Krieg«.

Es war vornächst nicht Josef selber, dem aus jener denkwürdigen Vorlesung Übel erwuchs, sondern Matthias. Denn mit Ausnahme der ganz wenigen intimen Freunde Josefs schloß jetzt der Adel der Stadt Rom seine Türen vor Josef zu, und das bekam Matthias noch mehr zu spüren als der Vater.
  Wie rasch des Matthias Glanz gerade in den Häusern der großen Welt verblaßt war, mußte er merken, als er das nächste Mal mit dem Mädchen Caecilia zusammenkam. Caecilia war ihm in den letzten Monaten mit sichtbar steigender Achtung begegnet, kein Wort mehr war gefallen vom rechten Tiberufer und von einer späteren Hausierertätigkeit des Matthias. Um so stärker jetzt kam der Rückschlag. Ihr Literaturlehrer hatte ihr in der Homerstunde erzählt von dem großen ägyptischjüdischen Homerinterpreten Apion. Bei dieser Gelegenheit war auch die Rede gewesen von den berühmten Büchern des Apion gegen die Juden, und einige der verächtlichsten und tückischsten Argumente dieses Apion hatte sich nun Caecilia zu eigen gemacht. Sich rötend, eifrig, brachte sie diese Argumente gegen Matthias an, sie verhöhnte ihn als Angehörigen eines rohen, schmutzigen, tierisch abergläubischen Stammes.
  Als Matthias dem Josef von diesem Disput erzählte, traf diesen die läppische Angelegenheit über Erwarten tief. Nicht nur verdroß ihn, daß er wieder einmal an einem Symptom zu sehen bekam, wie er durch seinen tollkühnen Streich auch die Laufbahn seines Sohnes behindert hatte, sondern noch mehr erregte ihn, daß er wieder einmal auf Apion stieß. Mit Grimm erinnerte er sich jener Stunde mit Phineas, da er diesen, den Lehrer seines Paulus, sinnlos angebellt hatte um der Argumente des Apion willen. Als ihm jetzt Matthias von den Worten des Mädchens Caecilia berichtete, machte ihm sein Haß diesen toten Apion plötzlich von neuem lebendig. Es war viele, viele Jahre her, daß er ihn gesehen hatte, er war sehr jung gewesen damals und Apion Rektor der Universität Alexandrien. Deutlich jetzt, als wäre es erst heute morgen gewesen, erinnerte sich Josef, wie der Mann dagestanden war, eitel, gebläht, bedeutungsvoll, in seinen weißen Schuhen, dem Kennzeichen der Judenfeinde von Alexandrien. Immer wieder während seines wechselvollen Lebens war Josef auf diesen Apion gestoßen, alle Feinde der Juden schöpften aus dem vergifteten Brunnen dieses Apion. Das Bild des geckenhaften, niederträchtigen, eingebildeten und höchst erfolgreichen Gegners, der mit seinem ebenso närrischen wie tückischen Gescheite die ganze Welt erfüllte, wurde Josef zum Gleichnis aller Judenfeindschaft überhaupt, ja zum Gleichnis aller triumphierenden Dummheit in der Welt, und wie dem Sokrates war ihm das Dumme mit dem Bösen identisch.
  Im Arbeitszimmer seines neuen, hübschen, hellen Hauses ging er auf und nieder und setzte sich auseinander mit Apion, seinem Gegner, der das Maul so voll und den Schädel so leer hatte. Wie anders war dieser Josef, der jetzt, erfüllt von seinem Gotte, seine neue Arbeit vorbereitete, wie anders jener, der die Universalgeschichte geschrieben hatte. Vielleicht war das Ziel, das er sich mit der Universalgeschichte gesteckt, ein höheres gewesen, aber dieses Ziel war eben nur der Vernunftgläubigkeit eines Justus erreichbar. Er, Josef, hatte sich vermessen, als er es anstrebte. Ihm lag das nicht, und er hatte alles falsch gemacht. Jetzt hat er sich selbst erkannt, jetzt ist er weise geworden, jetzt gibt er keinen Strohhalm mehr für dieses erhabene Ziel. Er kehrt zurück zu dem Weg, von dem er ausgegangen. Er hat viele Jahre vertan, aber noch ist es nicht zu spät. Er ist von neuem jung geworden mit seinem Matthias.
  Mit Erleichterung fühlte er die schwere Bürde der kritischen Verantwortung von sich abfallen, die beengende Pflicht, alle Gefühle zu sieben durch Vernunft. Er dachte an Justus, und siehe, nichts mehr war in ihm von dem beißenden Gefühl der Unterlegenheit, von dem liebenden Haß auf den Größeren. Nach keinem Richter wird er jetzt schielen, nach keiner Nachwelt. Er wird sich gehenlassen. Er wird schreiben, wie es ihm ums Herz ist, nicht objektiv, sondern mit Eifer und Zorn, mit dem ganzen Grimm, den seine Gegner verdienen, ihre Hoffart, ihre Leichtfertigkeit, ihre Dummheit. Er wird es ihnen geben, diesem toten Apion und denen vor und nach ihm, die ihren billigen Spott ausgegossen haben über das Hohe und Heilige, das ihnen Unerreichbare, über Jahve und sein Volk.
  Und er setzte sich hin und schrieb sein Buch »Gegen Apion oder Über die alte Kultur der Juden«. Welch ein Wohlgefühl war es, aus der befreiten Brust das Lob des eigenen Volkes zu singen, ohne den schnürenden Panzer der Wissenschaftlichkeit. Nie in seinem Leben hatte Josef eine höhere Lust verspürt als in den zwei Wochen, da er, in einem Zug, die fünftausend Zeilen dieses Werkes niederschrieb. Er sah sie vor sich, die Weißbeschuhten, die Judenfeinde, diese vergriechten Ägypter, die Manetho und Apion. Groß und aufgeblasen standen sie da, und er hieb sie zusammen, sie und ihre Argumente, in Stücke und in Staub hieb er sie, bis nichts mehr von ihnen da war. Die Worte flogen ihm zu, daß er sich ihrer Fülle kaum erwehren konnte, und während er seine glänzenden Kapitel niederschrieb, dachte er an die ägyptische Griechin Dorion und an seinen Sohn Paulus, und es waren die Apion und Manetho, die ihm die beiden entfremdet hatten. Mit bitterem Witz machte er sich lustig über diese Griechlein, die Zwerge, die über nichts verfügten als über hübsche, leichte, lockere, elegante, zierliche Worte. Und er stellte ihnen entgegen die wahren Griechen, die großen Griechen, einen Plato und einen Pythagoras, welche die Juden kannten und schätzten; sonst hätten sie nicht Teile ihrer Lehre in ihre eigene aufgenommen.
  Und nachdem Josef seine Gegner auf solche Art zerschmettert hatte, setzte er auf alle diese Nein ein großes, heftiges, glühendes Ja. Nichts mehr war da von seinem Weltbürgertum. Alles, was er während der Arbeit an der Universalgeschichte mühsam niedergedrückt hatte, seine ganze, maßlos stolze Liebe zu seinem Volk, ließ er nun einströmen in dieses Buch. Mit heißen Worten pries er den Adel seines Volkes. Es hatte Weisheit, Schrifttum, Gesetze, Geschichte gehabt, lange ehe die Griechen existierten. Es hatte einen großen Gesetzgeber gehabt, tausend Jahre vor Homer und dem Trojanischen Krieg. Keines Volkes Gottesverehrung war reiner als die der Juden, keines Volkes Liebe zur Gesittung tiefer, keines Volkes Schrif ten reicher. Einen Kanon haben wir zusammengestellt aus den Zehntausenden unserer Bücher, nur zweiundzwanzig haben wir auserlesen aus diesen Myriaden, und diese zweiundzwanzig Bücher haben wir zusammengefaßt zu einem Buch. Aber was für ein Buch ist das! Das Buch der Bücher! Und wir sind das Volk dieses Buches. Wie lieben wir es, wie lesen wir es, wie deuten wir es! Das Buch ist der Inhalt unseres Lebens, es ist unsere Seele und unser Staat. Unser Gott manifestiert sich nicht in einer Gestalt, er offenbart sich in Geist, in diesem Buch.
  In kaum zwei Wochen hatte er das Werk vollendet. Nun aber, nach dem Hochgefühl des Schreibens, nach dem ungeheuern Rausch der Arbeit, ernüchterte er sich. Furcht überkam ihn, ob er seine Begeisterung so weit in Form habe gießen können, daß sie sich übertrug und andere mit fortriß. Schon war auch der Gedanke an Justus wieder da und das erkältende Gefühl, wie sich denn nun sein »Apion« ausnehme, wenn man ihn dem »Jüdischen Krieg« des Justus gegenüberstelle.
  Zaghaft und gespannt brachte er das Buch dem Claudius Regin. Der war offenbar skeptisch infolge der raschen Fertigstellung des Werkes. Faul lag er auf dem Sofa und bat den Josef, ihm vorzulesen. Mit halbgeschlossenen Augen lag er da, nicht sehr geneigt, an das Werk zu glauben, und bald auch unterbrach er den Lesenden und sagte hänselnd: »Unserm Justus wird dieses Buch kaum gefallen.« Ähnliches hatte Josef selber gedacht, während er las, und es kostete ihn Überwindung, weiterzulesen. Allmählich aber packte ihn von neuem der Rausch, der ihn während des Schreibens hochgetragen hatte, und bald auch hatte Regin die Augen geöffnet, und bald auch richtete er sich hoch, und schließlich, nachdem Josef etwa eine halbe Stunde gelesen hatte, riß er ihm das Manuskript aus der Hand, und: »Sie lesen mir zu langsam, lassen Sie mich selber lesen«, sagte er, und während Josef still dasaß, las Regin still weiter, gierig, und: »Schon morgen müssen sich meine Schreiber daranmachen«, sagte er, und mit ungewohnt lebendigen Augen: »Wenn die Juden Olympische Spiele hätten, dann müßten Sie ihnen dieses Buch vorlesen, wie seinerzeit Herodot den Griechen sein Geschichtswerk vorlas in Olympia.« Und das war ein so enthusiastisches Wort, wie es Claudius Regin seit Jahren nicht gesprochen hatte.
  Und wie es dem Regin erging, so erging es allen ringsum. Lucia, ergriffen von der Wärme und Heftigkeit des Buches, erklärte: »Ich weiß nicht, ob alles stimmt, was Sie da vorbringen, mein Josephus, aber es hat den Klang der Wahrheit.« Matthias war hingerissen. Jetzt hatte er das Material, das er so bitter brauchte, um aufzukommen gegen Caecilia und ihren Apion. Jetzt wußte er, warum er so stolz war auf sein Volk, auf seinen Stamm, auf seinen Vater. Alle Welt, Freunde und Feinde, wurden gepackt von dem Buch, es wurde zu einem größern Erfolg, als ihn Josef je gehabt hatte. Unbestritten jetzt war Flavius Josephus der erste Schriftsteller der Epoche.
  Es gab Stunden, da Josef dieser Erfolg schal vorkam. Er vermied es, den Justus zu sehen, aber manchmal, wenn er allein war, des Nachts vor allem, setzte er sich mit Justus auseinander. Er hörte den Hohn des Justus und er suchte sich zu rechtfertigen und er wies hin auf die Begeisterung der andern. Aber was nutzte ihm das? Er hatte seine Sendung verraten. Er wußte: Recht hatte Justus, und unrecht hatten diejenigen, die ihm zujubelten. Und er fühlte sich müde, müde der Erfolge und müde der Niederlagen.
  Solcher Stunden aber hatte er nicht viele. Er hatte so lange nach Erfolg gedürstet, und nun freute er sich seines Erfolges. Er kostete es aus, daß die Juden, die ihn so lange verkannt und beschimpft hatten, nun sehen mußten, wer er war, ihr wirksamster Verteidiger. Er kostete es aus, daß seine römischen und griechischen Feinde den Elan seines Buches zu spüren bekamen. Auch war ihm der langentbehrte Ruhm eine neue, sehr willkommene Bestätigung vor Lucia und vor allem vor Matthias.

Auch Mara hatte den »Apion« gelesen. In ihren einfachen, naiven Worten schrieb sie ihm darüber, begeistert. Das war ein Buch, das sie ganz verstehen konnte, das war ein Buch nach ihrem Herzen. Ohne Übergang dann berichtete sie von dem Gute Be’er Simlai. Der Verwalter Theodor Bar Theodor war ein Mann von gutem Verstand und treuem Herzen, und er unterwies Daniel mit schönem Erfolg. Daniel war geeignet für die Landwirtschaft, alle fühlten sie sich wohl, obgleich man hier in Samaria und in der Nähe von Cäsarea inmitten von Heiden lebte, und die paar Juden machten es einem auch nicht leicht, sie schauten alles, was zu Josef gehörte, mit scheelen Augen an, vor allem um der Vergünstigungen willen, die ihm die Heiden einräumten. Aber vielleicht wird das jetzt nach dem »Apion« besser werden. Für die Tochter Jalta habe sich ein Bewerber gemeldet, der ihr, der Mara, wohlgefalle. Er habe den Doktortitel von Jabne, sei aber trotzdem nicht stolz, sondern betreibe einfach und tüchtig das Gewerbe eines Silberschmiedes. Freilich arbeite er zumeist für Heiden, und sie wisse nicht recht, ob das ein Hinderungsgrund sei. Der Frühling sei ja nun da, und Josef werde sich jetzt wohl bald auf den Weg machen, um zu ihnen zu kommen, und dann werde er alles selber richten. Und für Daniel wäre es gut, wenn er wieder unter die Augen des Vaters käme, und sicher auch für Matthias, wenn er nicht zu lang in Rom bleibe. Auf der »Felix« hätten sie übrigens viel zu essen bekommen, aber Unbekömmliches. Josef möge sich vorsehen, daß er sich nicht verderbe.

  Josef las, und er sah Mara vor sich, und er war erfüllt von einem warmen, zärtlichen Gefühl. Aber er dachte gar nicht daran, nach Judäa zu gehen. Jetzt mehr als je gehörte er hierher nach Rom. Jetzt, gerade nachdem er den »Apion« geschrieben. Er fühlte sich glücklich, und eben noch zur rechten Zeit war das Glück gekommen, zu einer Zeit, da er es noch genießen konnte, da er noch die Kraft des Genusses hatte. Und Rom war der rechte Rahmen, der einzige, dieses Glückes. Er fühlt sich jetzt berufen, nur mehr so zu schreiben, wie es ihm ums Herz ist, er ist auserkoren zum großen Lobredner und Verteidiger seines Volkes. Das aber kann er nur sein inmitten der feindlichen Hauptstadt.
  Und soll er etwa Matthias allein lassen? Ihn fortnehmen aus Rom, ihn herausreißen aus dem Dienst der Lucia kann er nicht, das würde alle glänzenden Träume des Knaben, das würde den Knaben selber zerbrechen. Nein, er denkt gar nicht daran. Und sich von dem Knaben zu trennen, daran denkt er auch nicht. Das ist das Beste, was er hat, der Glanz, der von seinem Matthias ausgeht, die Liebe und die Bewunderung seines Sohnes. Wie liebt er ihn, diesen Sohn! Wie Jakob der Patriarch seinen Sohn Josef geliebt hat, abgöttisch, verbrecherisch, so liebt er ihn. Und wenn Jakob seinem Sohne den prunkenden Leibrock geschenkt hat, der den Neid und das Unglück herbeirief, er, Josef, versteht das. Er würde es genauso machen, seinen Matthias zu schmücken mit allem Lieblichen der Welt. Und wenn es Bedenkliche gibt, er hat doch recht daran getan, seinen Matthias hineinzustellen in den Glanz des Palatin. Wem geht nicht das Herz auf, wenn er den Jungen sieht? Der Palatin ist zu gering für ihn. Der Leibrock ist immer noch nicht prunkvoll genug. Übrigens ist seit dem »Apion« selbst Johann von Gischala verstummt und hat keine Bedenken mehr.
  Dabei ist die Gefahr noch keineswegs vorbei, die er selber heraufbeschworen hat durch seine Kühnheit vor Domitian. Aber er nimmt sie leicht, diese Gefahr. Selbst wenn Domitian sich rächen sollte an dem Autor des »Jüdischen Kriegs«, der Universalgeschichte, des »Apion«, selbst wenn er ihm ans Leben gehen sollte, was dann? Durch ein solches Sterben würde Josef nur neues Zeugnis ablegen für Jahve und sein Volk, er würde so sein Buch besiegeln und sich und seinem Werk die Unsterblichkeit sichern.
  Josef ging in Rom herum, glücklich, strahlend, wie ein älterer Bruder seines Matthias. Täglich war er auf dem Palatin, bei Lucia. Immer unentbehrlicher wurde ihm die Frau. Er spürte für sie eine Freundschaft, die untermischt war mit einem Begehren, das ihm, dem Wortgewandten, manchmal die Worte verwirrte und ihn verstummen machte. Sie sprachen nicht über ihre Beziehungen, die klare, offene Lucia ließ das, was zwischen ihnen war, so wenig Wort werden wie der wortgewandte Josef. Gerade diese mit vielen und wirren Dingen geladene Stummheit war das Beste und Reizvollste an ihrer Freundschaft.
  Längst vergessene Gefühle und Gedanken wurden in ihm wach, wenn er so mit ihr zusammen war, Gedanken und Gefühle, wie er sie verspürt hatte, als er, ein sehr junger Mensch, sich in die Wüste zurückgezogen, um nur Gott und der Weisheit zu leben. Ihm war, als rechnete es ihm Gott als Verdienst an, wenn er sich der Lucia enthalte, ihm war, als wüchse ihm Kraft zu, wenn er sich der Lucia enthalte.
  Einmal, während sie so beisammen saßen, sagte Lucia, ein seltsames Lächeln um die geschwungenen Lippen: »Mein Josephus, wenn er es wüßte.« – »Er würde toben«, antwortete Josef, »er würde toben und schweigen und mich einen martervollen Tod sterben lassen. Aber es wäre keine Marter, da es um Sie geschähe.« – »Ach«, lachte Lucia, »Sie denken an Wäuchlein. Ich habe nicht an ihn gedacht. Ich habe an Matthias gedacht.« Und plötzlich sehr ernst und ihn mit ihren weitauseinanderstehenden Augen nachdenklich anschauend, sagte sie: »Wissen Sie, mein Josephus, daß wir ihn betrügen, Ihren Sohn Matthias?«
  Es war so, daß sich der Knabe Matthias, wie zahllose andere, in Lucia verliebt hatte. Ihre Offenheit, ihre Heiterkeit, die Fülle, aus der ihr Leben floß, die Unersättlichkeit, mit der sie Leben gab und nahm, faszinierte ihn. So wie sie zu sein, das war das Höchste, was ein Sterblicher erreichen konnte. Sie scherzte oft mit ihm, auf eine harmlose, vertrauliche Art, das band ihn noch enger an sie. Doch nahm sie ihn auch ernst, sie hörte auf seinen Rat. Er rechnete es ihr hoch an, daß sie auf seine Empfehlung in ihrer Villa an der Appischen Straße und auf ihrem Landsitz in Baaje Pfauengehege anlegte und die Leute zu Wärtern bestellte, die er sich von seinem Freunde Amphion, dem Pfauenwärter des Regin, hatte bezeichnen lassen. Er wußte nicht, wie er das Zarte, Tastende nennen sollte, was ihn an Lucia band. Es wäre ihm blasphemisch erschienen, es auch nur in Gedanken Liebe zu nennen, und er erschrak, als er etwas in sich aufsteigen spürte, das er schwerlich anders nennen konnte denn Begier. Sie zu begehren war so sinnlos vermessen, wie wenn ein römischer Junge die Göttin Venus begehrt hätte.
  Das hinderte nicht, daß er manchmal seinen Vater beinahe beneidete um die Art, wie Lucia ihn anschaute und wie er sie anschauen durfte. Denn es war so, daß die beiden ihre Freundschaft zwar nicht offen zur Schau trugen, sich aber auch nicht ernstlich bemühten, sie zu verheimlichen. Matthias verbot sich jeden unehrerbietigen Gedanken gegen den Vater oder gegen die Kaiserin, seine Herrin, aber tot waren solche dreisten Zweifel darum noch lange nicht. Er suchte ihrer Herr zu werden, indem er seine Bewunderung des Vaters noch steigerte. Wo auf dem Erdkreis gab es einen zweiten Mann, der einfach durch sein Wort die Herzen bewegte von Menschen aller Zonen, jeden Standes und jeder Art, der die einfachen bäurischen Juden Galiläas ebenso bewegte wie die feinen, lasterhaften Griechen und die große, ragende Frau, die Kaiserin?
  Ihr aber, Lucia, war er doppelt dienstwillig gerade um der seltenen und sogleich verbannten Gedanken willen, mit denen er sie und seinen Vater verdächtigte.






ZWEITES KAPITEL



       un war er also fort, und sie bedauerte es nicht einmal sehr. Sie spürte in sich eine Leere, gewiß, aber wenn
       sie sich genau nachprüfte, sie bedauerte es nicht, daß er jetzt fort war.
  Die Hoffnungen, die sie an ihren Paulus geknüpft hat, haben sich nicht erfüllt. Er ist platt geworden und gewöhnlich. Die Erziehung des Phineas und ihre eigene hat nichts gefruchtet. Er ist hochmütig, ihr Paulus, aber es ist nicht jener ästhetisierende Hochmut ihres Vaters, des großen Malers Fabull, und es ist auch nicht der wilde, nervöse Hochmut des Josephus und nicht der spitze, herrische Hochmut, wie sie selber ihn gehabt hat. Nein, der Stolz ihres Sohnes Paulus ist nichts als der dumme, leere, brutale Nationalstolz der Römer, der Stolz, zu jenen zu gehören, die mit Blut und Eisen die Welt unterworfen haben.
  Sanft und gleichmäßig schaukelte die Sänfte auf den Schultern der trainierten kappadokischen Träger. Dorion kam zurück vom zweiten Meilenstein der Appischen Straße, bis dahin hatte sie ihrem Sohne das Geleite gegeben. Ja, fast ohne Schwanken bewegte sich die Sänfte; sie hatte Vorrechte, der Vorläufer hielt den rostbraunen Schild mit dem goldenen Kranz hoch, und auch die rostbraunen Vorhänge der Sänfte zeigten den goldenen Kranz, das Zeichen, daß man der Sänfte ausweichen mußte, da sie zum Haushalt eines kaiserlichen Ministers gehörte. Doch der leichte Gang der Sänfte machte die Gedanken der Dame Dorion nicht angenehmer.
  Jetzt also ist Paulus auf dem Weg zurück nach Judäa. Er hat es zu etwas gebracht, er hat sich als Soldat bewährt, er ist der Adjutant des Gouverneurs Falco, er hat mitzureden; seinem Stiefvater Annius, ihrem Mann, hat Paulus diesmal ganz besonders gefallen. Er wird Karriere machen. Er wird sich auszeichnen im nächsten Feldzug, er wird auch einmal, da er es so heftig wünscht und da er Energie hat, Gouverneur in Judäa werden und den Juden zeigen, was ein Römer ist. Und es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß sich auch sein höchster Traum erfüllt und daß er einmal die Armeen des Reichs verwaltet wie jetzt Annius. Er ist sehr römisch, und die Zeit ist sehr römisch, und der Kaiser ist sehr römisch, und Annius liebt den ausgezeichneten Offizier Paulus; warum soll er schließlich nicht des Annius Nachfolger werden?
  Und was wird sein, wenn er das alles erreicht hat? Er wird sich auf der Höhe des Lebens vorkommen. Und er wird glauben, auch sie, Dorion, sei bis ins Innerste befriedigt von dem, was er erreicht hat. Ach, wie wenig weiß er von ihr, ihr Sohn Paulus!
  Mit Grimm denkt sie an die vulgären Ausbrüche des Judenhasses, zu denen er sich bei Tische hat hinreißen lassen, der ehemals so prinzliche Paulus. Seine wüsten und törichten Reden sind ihr doppelt zuwider gewesen, weil sie kurz vorher den »Apion« gelesen hatte. Sie hat geschwankt, ob sie’s tun solle, aber da alle Welt von dem Buche sprach, hat sie es getan. Und es erging ihr wie aller Welt, denn sie hat die Stimme des Josef gehört, während sie las, sie hat die Stimme nicht aus dem Ohr bekommen, und oft war ihr, als spräche er allein zu ihr durch dieses Buch. Sie war voll glühenden Zornes, während sie las, und sie war voll glühender Scham, und, warum soll sie sich’s nicht selber eingestehen, ein wenig auch hat sich in ihr gerührt von jenen alten, heftigen Gefühlen für den Mann, der aus diesem Buche mit solcher Hitze und mit solcher Wildheit zu ihr redete.
  Mehrmals hat sie daran gedacht, dem Paulus das Buch zu geben. Sie wird sich immer wieder vorhalten, daß sie’s nicht getan hat. Aber sie ist froh, daß sie’s nicht getan hat. Denn durchaus möglich war es, daß er auch zum »Apion« nichts hätte vorbringen können als plattes, bösartiges Geschwätz, und das hätte sie schwer verwunden.
  Das Leben ist voll von merkwürdigen Zufällen. Vielleicht wird sie, nachdem sie an Paulus eine solche Enttäuschung hat erleben müssen, um so mehr Freude an Junius haben, ihrem zweiten Sohn. Vorläufig freilich sieht es nicht so aus. Vorläufig sieht es aus, als werde er dem Vater nachgeraten, dem Annius, als werde er ein wackerer, lauter, selbstbewußter, sehr römischer junger Herr werden und sich gut in die Zeit fügen. Es geschieht oft, daß sie das nicht wahrhaben will, oft sieht sie allerlei hinein in ihren Junius. Aber jetzt, in der Sänfte heimkehrend vom zweiten Meilenstein an der Appischen Straße, scheint ihr auch da alles trüb und aussichtslos.
  Von außen her durch die heruntergelassenen Vorhänge der Sänfte dringt der Lärm der Stadt Rom. Sie weichen ihrer Sänfte aus, die Bürger der großen Stadt, sie geben ihr Raum und Ehre. Sicher beneidet man sie. Ist sie nicht auch hoch hinaufgelangt, die Tochter des Malers, der sich verzehrte in niemals gesättigtem Ehrgeiz? Er hätte es genossen, das, was sie erreicht hat. Sie hat ihren erprobten Gatten, der sie liebt, den Kriegsminister Annius Bassus, fest in der Gunst des Kaisers seit so vielen Jahren. Sie hat ihre beiden, wie sagt man doch?, blühenden Söhne, wohlgeraten beide. Sie gehört zum Ersten Adel des Reichs, und ihre Söhne werden menschlicher Voraussicht nach erste Stellen des Reichs einnehmen. Was also will sie?
  Vieles will sie, und wenn es ihr untertags gelingt, die bösen Gedanken zu vertreiben, ihre Nächte sind voll von Bitterkeit. Wo ist sie geblieben, die schmale Dorion von einst mit dem leichten, reinen Profil und dem zarten, hochfahrenden Gesicht? Wenn sie sich jetzt in den Spiegel schaut, dann sieht ihr eine dürre, säuerliche, unfrohe, alternde Frau entgegen, und es nützt ihr wenig, daß ihr wackerer Annius das nicht sehen will und an ihr hängt wie von je. In den Vierzig ist sie, das Alter ist da, und was hat sie vom Leben gehabt? Wie viel aber hätte sie haben können! Verpfuscht hat sie ihr Leben, auf frivole Art vertan hat sie es. Selber böswillig getrennt hat sie sich von dem einzigen Manne, zu dem sie gehört. Und wenn das Leben ihres Sohnes leer und gemein und niedrig geworden ist, dann trägt sie die Schuld, eben durch diese Trennung. Denn wenn sie bei dem Manne geblieben wäre, dann hätte sich auch Paulus bewährt, so wie er begonnen hat.
  In letzter Zeit hat sie, ob sie es wollte oder nicht, viel gehört über ihren weiland Mann. Wohin immer sie kam, klang ihr sein Name entgegen. Sie hat gehört von der Abreise der Mara und der Kinder des Josef, und sie hat die Achseln gezuckt. Sie hat gehört von der Universalgeschichte, und sie hat sie gelesen, und sie hat die Achseln gezuckt und das Buch beiseite gelegt, und sie hat gehört, daß es die andern ebenso gemacht haben. Das ist ihr eine Genugtuung gewesen. Der Mann war ein guter Schriftsteller, solange er voll Leidenschaft war, solange er mit ihr zusammen war und sie begehrte, und seitdem sie sich von ihm getrennt hat, ist er ausgeschrieben. Sie hat dann gehört, daß er seinen Sohn auf den Palatin gebracht hat und in den Dienst der Lucia, und sie hat die Achseln gezuckt. Er ist immer ein Streber gewesen, dieser Josef, und da er mit seiner Literatur nicht mehr vorankommt, versucht er es mit Streberei. Mag er! Ihr war es recht, daß sie sein Bild mit einer Schicht leiser Verachtung und Gleichgültigkeit zudecken konnte. Und sie hat Weiteres über ihn gehört. Sie hat gehört, daß er eine Vorlesung veranstalten wollte, und merkwürdigerweise im Friedenstempel, und daß der Kaiser dieser Vorlesung beiwohnen wird. Um ein Haar wäre sie hingegangen. Aber sie überlegte, daß das Getuschel geben wird und daß es dem Annius nicht angenehm sein wird, und soviel lag ihr wirklich nicht mehr an Josef, daß sie das hätte auf sich nehmen wollen, um dabeizusein, wenn er sich eitel blähte. Und sie hat die Achseln gezuckt und ist nicht in den Friedenstempel gegangen.
  Dann aber hat sie anderes gehört, und sie hat es brennend bereut, daß sie seiner Vorlesung nicht beiwohnte. Denn streberisch hat er sich nicht gezeigt bei dieser Vorlesung, das kann man wirklich nicht behaupten, ja eigentlich muß es großartig gewesen sein, wie er dem Kaiser seine Wahrheit und seine Anklagen ins Gesicht geschleudert hat, vor den dreitausend Zuhörern. Nein, feig ist er nicht, feig ist er ganz und gar nicht. Freilich, auch ihr Annius ist nicht feig, und ihr Paulus nicht. Sie stehen beide ihren Mann in der Schlacht. Aber die Tapferkeit des Josef ist doch wohl eine ganz andere Art von Mut, eine viel reizvollere. Ein wenig marktschreierisch, vielleicht, aber gleichwohl großartig. Wenn er diesen merkwürdigen, marktschreierischen, schamlosen und großartigen Mut nicht hätte, dann hätte er wohl auch damals die Geißelung nicht auf sich genommen, ihrethalb. Eine ganz feine Röte überwölkt ihr bräunliches Gesicht, wie sie daran denkt.
  Sie will nicht länger daran denken, sie will nicht länger allein sein, sie will sich ablenken, sie will Menschen sehen. Sie ließ die Sänfte halten und die Vorhänge hochschlagen. Jetzt drang die Buntheit der Stadt auf sie ein, die Fülle der Gesichter, viele begrüßten sie, ab und zu ließ sie die Sänfte halten und sprach mit dem, mit jenem. Es glückte ihr, die bösen Gedanken zu übertäuben.
  Zu Hause angekommen indes, fand sie einen Besucher vor, der sie zwang, sich noch mehr und dringlicher mit ihrer Vergangenheit und mit Josef abzugeben als bisher. Phineas wartete auf sie, der Grieche Phineas, der Lehrer ihres Paulus, Josefs Feind.
  Er stand, als Dorion eintrat, vollendet ruhig da, sein großer, ungewöhnlich blasser Kopf schaute unbewegt über dem dürren Körper, er hielt die dünnen, langen Hände vollkommen ruhig. Doch Dorion wußte, mit wieviel Überwindung diese Ruhe erkauft war. Phineas hing an Paulus. Wiewohl er vergeblich viele Jahre besten Lebens daran gehängt hatte, seinen geliebten, prinzlichen Paulus zu einem rechten Griechen zu machen, wiewohl der Junge ihm entglitten und das geworden war, was der Grieche Phineas so tief verabscheute, ein rechter Römer: trotzdem hing Phineas weiter an dem Jungen. Als Paulus vor zwei Jahren in Rom gewesen, hatte sich Phineas heiß darum bemüht, ihn neu zu gewinnen, Menschliches schwingen zu machen zwischen seinem geliebten Schüler und sich selber. Doch Paulus hatte sich gesträubt, er hatte sich steif und verstockt gegeben und voll von unbeteiligter Freundlichkeit, und es hatte Dorion das Herz bewegt, wie würdig und ohne billige Ironie, wie in einem großen Sinne griechisch Phineas das hingenommen hatte. Diesmal nun, als Paulus nach Rom gekommen war, mit wie ängstlicher Spannung mußte Phineas ihm entgegensehen, wie mußte er darauf gewartet haben, daß Paulus zu ihm komme oder ihn rufe. Aber Paulus hatte den Unbequemen satt gehabt, er war gekommen und war gegangen, ohne daß sein Lehrer ihn hätte sehen dürfen.
  Und da also stand nun Phineas und wartete brennend darauf, was sie ihm über Paulus zu berichten hätte. Aber er zeigte nichts von seiner Ungeduld, er machte Konversation, höflich sprach er von Gleichgültigem.
  Dorion hatte Mitleid mit ihm. Sie waren bei aller Gehal tenheit ihres äußeren Verkehrs sehr vertraut, er wußte um ihre wirren Beziehungen zu Josef, die Enttäuschung über den abgeglittenen, fremdgewordenen, verplumpten Paulus band sie aneinander, und Phineas war wohl der einzige Mensch, der ganz begriffen hatte, wie wenig Dorion befriedigt war von ihrem eigenen glänzenden Leben und dem ihres glänzenden Sohnes.
  Bald also begann sie, ohne eine Frage von ihm abzuwarten, selber von Paulus zu erzählen. Sie berichtete von ihren Gesprächen mit ihm, sachlich und ohne Wertung, sie klagte nicht, sie machte niemand Vorwürfe. Als sie aber zu Ende war, sagte sie: »Und schuld an alledem ist Josef«, und während ihre Haltung und ihre Stimme ruhig geblieben waren, flackerte in ihren meerfarbenen Augen unbeherrschte Wut auf.
  »Mag sein«, antwortete Phineas, »mag sein auch nicht. Ich verstehe Flavius Josephus nicht; nicht, was er ist, nicht, was er tut, er ist mir fremd, unverstanden und unverständlich wie ein Tier. Und wenn ich einmal glaubte, seine Motive zu erkennen, so hat sich später immer wieder herausgestellt, daß alles ganz anders zusammenhing. Da haben wir uns zum Beispiel vor nicht langer Zeit gewundert über den Mut, mit dem der Mann dem Kaiser ins Gesicht seine frechen und aufrührerischen Überzeugungen bekannte. Was er tat und sagte, und wie er’s tat, das schien uns zwar lächerlich und gegen die Vernunft, aber wir haben den Mut anerkannt, der aus seinem absurden Verhalten sprach. Nun aber stellt sich heraus, daß unser Josephus für sein Heldenstück gar nicht die Tapferkeit benötigte, die wir ihm zugute hielten.«
  Dorion schaute ihm mit ihren meerfarbenen Augen aufmerksam ins Gesicht. »Bitte, sprechen Sie weiter, mein Phineas!« forderte sie ihn auf. »Der Mann«, erklärte mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme Phineas, »benötigte nicht vielen Mutes deshalb, weil er einer sehr starken Rückendeckung sicher war, der mächtigsten Fürsprecherin auf dem Palatin.« – »Sie enttäuschen mich, mein Phineas«, antwortete Dorion. »Erst tun Sie, als hätten Sie mir wunder was Neues zu berichten, und dann erzählen Sie mir bedeutend, daß Lucia für die Juden und insbesondere für Josephus etwas übrig hat. Wem war das neu? Und wieso wird dadurch der Mut unseres Josephus geringer? Ein freundliches Wort unserer Kaiserin ist kein starker Schild gegen gewisse Gefahren.«
  »Ein freundliches Wort vielleicht nicht«, sagte Phineas, »wohl aber das Bewußtsein, daß die erste Dame des Reichs, eine Frau, ohne die der Kaiser nicht leben kann, ihr ganzes Sein dafür einsetzen würde, ihn, den Helden, in jeder Gefahr zu schützen.«
  Nun war Dorion doch erblaßt. »Sie sind kein Schwätzer, mein Phineas«, sagte sie, »der den Klatsch des Palatin ungeprüft weitergibt. Sie werden sicher über Gründe und Beweise verfügen, wenn Sie so gefährliche Dinge herumtragen.« – »Ich trage nicht herum«, wies sie sanft Phineas zurecht, »ich erzähle Ihnen, Herrin Dorion. Und Gründe und Beweise?« Er lächelte, er setzte zu einer längeren Rede an. »Sie wissen, Herrin Dorion, daß ich nicht einverstanden bin mit sehr vielem, was unser Herr und Gott Domitian zu sagen und zu tun geruht. Ich bin vielmehr – ich habe vor Ihnen immer ohne Umschweife gesprochen – ein Staatsfeind im Sinne des Norban, ich verlange eine viel weitergehende Autonomie für Griechenland, ich gefährde den Bestand des Reichs, Sie und Annius Bassus dürften mich eigentlich nicht in Ihrem Hause dulden, und es wird sicher einmal ein schlechtes Ende mit mir nehmen. Es ist ein Wunder, daß mich der Kaiser noch nicht hat exekutieren oder zumindest an seine Grenzen hat verbannen lassen wie meinen großen Freund Dio von Prusa.« – »Sie sind geschwätzig«, sagte ungeduldig Dorion, »und Sie kommen vom Thema ab.« – »Ich bin geschwätzig«, antwortete ungekränkt Phineas, »wir Griechen sind es alle, wir haben Freude am schöngesetzten Wort. Aber vom Thema komme ich nicht ab. Da einige der mißvergnügten Senatoren meine Gesinnung genau kennen und wissen, daß ich ein Feind des Regimes bin, geben sie sich offen vor mir und schließen mich nicht aus, wenn sie über den Palatin abfällige Reden führen. Ich weiß also, daß Senator Proculus im vertrauten Kreis folgendes zum besten gegeben hat. Er habe jetzt dreimal Gelegenheit gehabt, den Juden Josephus im Gespräch mit der Kaiserin zu beobachten, wenn sich die Herrin Lucia und der Jude unbeobachtet glaubten. Er habe da gewisse Blicke wahrgenommen, halbe Wendungen, kleine Gesten, nichts weiter, und wisse nun doch, und zwar mit einer Gewißheit, die unumstößlicher sei, als wenn er einen Beischlaf mitangesehen hätte, daß es mehr sei als die Neigung zu einem talentierten Schriftsteller, was die Herrin Lucia mit diesem Manne verbindet. Nun kann man gegen Senator Proculus vieles vorbringen, er ist ein verbohrter Republikaner und stur römisch, aber eines muß man ihm lassen: er hat die praktische Psychologie, die vielen Römern eignet. Das ist alles, Herrin Dorion, und nun behaupten Sie noch einmal, ich hätte nicht zum Thema gesprochen.«
  Dorion war immer tiefer erblaßt. Nie war sie auf Mara eifersüchtig gewesen, nie eifersüchtig auf eine der vielen Frauen, mit denen Josef geschlafen hatte. Aber daß Beziehungen sein sollten zwischen Lucia und Josef, wie sie dieser Senator Proculus wahrgenommen haben wollte, das verstörte ihr das Innere. Ihre Lebendigkeit war immer etwas erkünstelt gewesen, sie hatte sie aus allen Winkeln ihres Seins zusammenkratzen müssen. Jetzt hatte sie das ihr zugemessene Teil Vitalität verbraucht und war eine alte Frau, aber da Annius in ihr immer noch die frühere Dorion sah, hatte sie sich bis jetzt weismachen dürfen, auch Josef werde, wenn er an sie denke, immer noch an die frühere Dorion denken. Lucia aber war das, was Dorion gern hätte sein wollen, das wilde, strotzende Leben. Lucia ist, obwohl so anders geartet, eine vollendete Dorion, eine jüngere, bessere. Und Lucia ist schöner, Lucia ist lebendiger, Lucia ist die Kaiserin. Wenn es so ist, wie dieser Senator Proculus wahrgenommen haben will, dann wird Lucia den letzten Schatten der Dorion aus Josefs Herzen verdrängen. Dann bleibt nichts von Dorion in Josef.
  Aber es ist eben nicht so. Das Ganze ist nichts als das Gerede eines mißvergnügten Senators, eines sturen Republikaners, den der Haß in jeder Maus einen Elefanten sehen macht, und der Haß des Phineas tut ein übriges dazu.
  Und selbst wenn es wahr sein sollte, was dann? Liebt sie denn den Josef?
  Natürlich liebt sie ihn. Und sie hat ihn immer geliebt. Und sie ist eine Närrin gewesen, daß sie sich von ihm getrennt hat. Und jetzt hat sie den Annius an Stelle des Josef. Und Josef, der kluge, der Sohn des Glücks, hat Lucia eingetauscht gegen sie. Er war nicht einmal klug, er hat es nicht einmal gewollt, er hat nur sie gewollt, Dorion, aber sie hat ihn dazu gezwungen, sich Ersatz zu suchen, sie hat ihn der Lucia in die Arme getrieben.
  Aber nein. Das duldet sie nicht. Das darf nicht so bleiben. Sie denkt nicht daran, beiseite zu stehen und zuzuschauen. Sie wird ihm diese Suppe versalzen.
  »Und Domitian?« fragte sie unvermittelt.
  Phineas richtete den Blick voll auf Dorion, ein böses, listiges, haßvolles, vertrauliches Flackern war darin. Daß sie so frage, hatte er gewollt. Sehr wohl hatte er zum Thema gesprochen, mit guter Kunst, dahin hatte er sie lenken wollen, in ihr sollte der Plan entstehen. Wie damals die Universität Jabne, so hatte er jetzt von neuem eine Stelle gefunden, an der er den Gegner verwunden konnte, viele Umwege freilich waren nötig, aber schwach war die Stelle, verwundbar war sie, und die Aussichten sind gut, daß er diesmal den Josephus, den Verhaßten, endlich treffen wird. »Ja, und Domitian«, erwiderte er also, »das eben ist die Frage: wie trägt es Domitian?« Dorion, ebenso langsam wie er, sagte, mit ihrer dünnen, schleppenden Stimme: »Er ist sehr mißtrauisch. Er errät oft mehr, als da ist. Wie sollte er das, was ist, nicht entdeckt haben?« Phineas aber sagte: »Wer kann in den Kaiser hineinschauen? Er ist noch schwerer durchschaubar als der Jude Josephus.« – »Es ist merkwürdig«, grübelte Dorion weiter, »daß er den Josef nach jener Rezitation unbehelligt gelassen hat. Vielleicht sind hier Zusammenhänge. Vielleicht weiß DDD etwas und will es nicht zur Kenntnis nehmen.«
  Und Phineas gab zu erwägen: »Vielleicht könnte man den Kaiser zwingen, davon Kenntnis zu nehmen, daß seine Frau auf ärgerniserregende Art befreundet ist mit dem Juden Josephus.«
  Dorion aber, und jetzt war in ihren meerfarbenen Augen das gleiche, leise böse Flackern wie in den seinen, erwiderte: »Auf alle Fälle danke ich Ihnen, mein Phineas. Ihr geschwätziger Bericht war doch nicht so weit vom Thema ab, wie ich ursprünglich glaubte.«
Von da an wurde das Getuschel, das in Rom über die Beziehungen der Kaiserin zu dem Juden umging, immer lauter, bald konnte man es auf allen Straßen hören.
  Norban, in der Erinnerung an den Zorn des Kaisers, als er ihm den Witz des Aelius über sie berichtet hatte, beriet mit Messalin, ob man DDD von dem Gerede informieren solle. »Lucia ist in Bajae«, überlegte Messalin, »der Jude Josephus hat mehrere Wochen in Bajae verbracht. Ich sehe keinen Grund, DDD das zu verschweigen.« – »DDD wird sich darüber wundern, daß man es ihm berichtet. Es ist auch nicht verwunderlich und will gar nichts besagen, wenn der Jude Josephus in der Nähe seines Sohnes sein will, in Bajae. DDD wird es grotesk finden, daß jemand dabei auf anstößige Gedanken kommen kann.« – »Es ist auch grotesk«, gab der Blinde mit seiner sanften Stimme zu. »Dennoch wäre es vielleicht angebracht, DDD darüber zu informieren, daß die Kaiserin an dem Juden und seinem Sohn einen Anteil nimmt, der Ärgernis erregt.« – »Das wäre angebracht«, erwiderte Norban, »aber es ist ein heikles Geschäft. Würden Sie es übernehmen, mein Messalin? Sie würden sich ein Verdienst um das Römische Reich erwerben.« – »DDD muß von selber daraufkommen«, regte Messalin an. »Es scheint mir zu Ihrem Amtsbereich zu gehören, mein Norban, zu bewirken, daß DDD von selber daraufkommt.« – »Und selbst wenn er auf solche Gedanken käme«, erwog Norban, »Lucia brauchte nur zu lachen, und diese Gedanken verschwänden, und übrig blieben höchstens gefährliche Gefühle gegen jenen Mann, der ihn auf solche Gedanken gebracht hat.« – »Es ist nicht gut«, sagte sentenziös Messalin, »daß der Herr und Gott Domitian so eng und tief an einer Frau hängt. Sie sollten es vielleicht doch wagen, mein Norban, ihn auf die erwähnten Gedanken zu stoßen. Es gehört nun einmal zu Ihrem Amtsbereich, und Sie würden sich ein Verdienst um den Staat erwerben.«
  Norban dachte lange über diese Unterredung nach. Er war dem Kaiser sehr freund, er war ihm treu, er hielt ihn für den größten Römer, und er haßte Lucia aus vielen Gründen. Er spürte genau, daß ihre Art höher war als die seine, und die freundlich unbeteiligte Manier, wie sie ihn gelegentlich aufzog, erbitterte ihn tief. Viel lieber wäre ihm gewesen, sie hätte ihn gehaßt und bei DDD gegen ihn gearbeitet. Auch kränkte es ihn, daß sie, die der Herr und Gott Domitian seiner Liebe würdigte, diese Liebe offenbar nicht recht schätzte. Er war des ehrlichen Glaubens, daß ihr Einfluß Kaiser und Reich schade. Daß sie sich gar mit dem Juden abgab, verkleinerte DDD, es war seinem Ansehen abträglich, und überdies war es Lucia wohl zuzutrauen, daß sie mit dem Juden schlief.
  Was aber konnte er, Norban, dagegen unternehmen? Messalin hatte leicht sagen: »Stoßen Sie den Kaiser darauf!« Wie war das zu machen? Was konnte Norban unternehmen, was den Kaiser dahin hätte bringen können, endlich gegen den Juden und gegen die Frau einzuschreiten?
  Während er sich mit solchen Gedanken abquälte, fand er eines Tages in seinem Einlauf ein vertrauliches Schreiben des Falco, Gouverneurs von Judäa, über die Zustände der Provinz. In diesem Schreiben teilte der Gouverneur unter anderem mit, er habe in seinem Archiv eine Liste vorgefunden, auf der sogenannte Abkömmlinge des Königs David verzeichnet seien. Man habe seinerzeit in Rom seinen Vorgängern ans Herz gelegt, auf diese Leute besonders zu achten, in den letzten Jahren aber scheine die Angelegenheit in Vergessenheit geraten zu sein. Er habe nun neue Nachforschungen angestellt und ermittelt, daß von diesen Abkömmlingen des alten Königs, soweit sie sich in Judäa befänden, jetzt nur mehr zwei am Leben seien, ein gewisser Jakob und ein gewisser Michael. In letzter Zeit sei um diese beiden, die sich übrigens nicht Juden, sondern Christen oder Minäer nennten, wieder mehr Gewese und Betrieb. Er selber habe deshalb die beiden festnehmen lassen, und da er es für gut erachte, wenn sie zumindest für eine Weile außer Landes seien, habe er sie aufs Schiff nach Italien bringen lassen, damit man sie sich auf dem Palatin genauer anschaue und über sie verfüge. Die sogenannten Davidssprößlinge Jakob und Michael befänden sich also auf dem Weg nach Rom.
  Als Norban dieses Schreiben des Gouverneurs Falco las, sah er deutlich vor sich den zierlichen Sommerpavillon des Parks von Alba und davor die schweren Gestalten der Doktoren von Jabne, und jäh dachte er daran, daß ja auch der Jude Josephus nach wie vor ein sogenannter Davidssproß sei und daß somit nach dem Glauben der Juden sowohl er wie sein Sohn Matthias Anwartschaft hätten auf die Herrschaft über den Erdkreis. Mit einemmal erschien ihm der Psalm vom Mut, den Josephus in höchster Frechheit dem Kaiser ins Gesicht aufgesagt hatte, in ganz anderem, viel gefährlicherem Licht; auch des Josephus und seines Sohnes Freundschaft mit Lucia gewann auf einmal eine sehr andere, viel bedrohlichere Bedeutung. Es war eine Kampfansage an den Kaiser und an das Reich. Des Norban breites, viereckiges Gesicht verzog sich in einem Lächeln, das seine großen, gesunden, gelben Zähne freilegte. Er sah den Weg, wie er, ohne sich selber zu gefährden, seinen Herrn auf die Gefahr hinweisen könnte, die aus den Beziehungen des Josephus zu Lucia erwuchs. Erinnert an den jüdischen Aberglauben von den Davidssprossen und vom Messias, wird der Kaiser seine Gedanken bestimmt die gleiche Richtung nehmen lassen, wie er selber es getan. Notwendig wird sich bei der Erwähnung oder gar beim Anblick der beiden Davidssprossen Jakob und Michael auch DDD daran erinnern, daß Josephus und sein Sohn die gleiche Eigenschaft haben, und notwendig dann wird auch der umsichtige, mißtrauische DDD gründlich nachdenken über den Juden Josephus, seinen Sohn und die Beziehungen dieser beiden zu Lucia.
  Er sandte einen Kurier nach Alba, ob der Herr und Gott Domitian die Gnade haben werde, ihn in den nächsten Tagen vor sein Angesicht zu lassen.
  Der Herr und Gott Domitian verbrachte jetzt wieder den größten Teil seiner Zeit in Alba und allein. Es war ein schöner Frühsommer, aber er hatte keine Freude daran. Er lag in seinen Treibhäusern herum, er stand vor den Käfigen seiner wilden Tiere, aber er wurde sich der künstlich gereiften Früchte ebensowenig bewußt wie des Panthers, der ihn aus dem Winkel seines Käfigs schläfrig anblinzelte. Er zwang sich zur Arbeit, doch seine Gedanken glitten ab. Er befahl seine Räte zu sich, er hörte ihre Ausführungen nur mit halbem Ohr und später überhaupt nicht. Er befahl Frauen zu sich und ließ sie gehen, wie sie gekommen waren.
  Er hat die Frechheit des Juden Josephus nicht vergessen, und er denkt natürlich nicht daran, ihm sein Verbrechen hingehen zu lassen. Aber die Strafe will bedacht sein. Denn das Ungeheuerliche, daß der Jude ihm und seiner Welt und seinen Göttern offen vor aller Ohren den Krieg angesagt hat, das hat er nicht etwa nur dem Trieb der eigenen Brust folgend getan, sondern als Sendung seines Gottes. Und auch daß Lucia ihn beschwatzt hat, jener Rezitation der Ode vom Mut beizuwohnen, geschah nicht aus einfacher böser Lust, sondern auch hinter ihr stand, wahrscheinlich ihr unbewußt, sein schlimmer Feind, der Gott Jahve. Es ist merkwürdig und beschäftigt den Kaiser auch jenseits seines persönlichen Interesses an Lucia, daß es Jahve geglückt ist, diese Frau auf seine Seite zu bringen und dem Jupiter abzuwenden, dem sie doch durch ihre Geburt zugehört. Er ist ein überaus verschlagener Gott, dieser Jahve, und Domitian muß jeden seiner Schritte mit größter Vorsicht bedenken.
  Ab lehnt er von vornherein jeden Verdacht, daß es sich bei den Beziehungen zwischen Lucia und dem Juden um eine Bettfreundschaft handeln könnte. Ginge es um fleischliche Lust, dann würden die beiden ihre Beziehungen verstecken. Statt dessen hat der Jude, offenbar verblendet durch seinen Gott, ihm vor ganz Rom und unter dem Beifall der Kaiserin den Streit verkündet.
  Das einfachste wäre natürlich, sie allesamt zu zertreten, den Juden Josephus und seine Frucht, den Knaben Matthias, und Lucia dazu. Aber Domitian weiß leider sehr gut, daß diese einfachen Mittel keineswegs so radikal wirken, wie man glauben sollte. Es haben sich zu viele von dem Gift des jüdischen Wahnwitzes anstecken lassen, und der Tod einiger Angesteckter schreckt die andern nicht, sondern macht sie nur noch gieriger nach dem Gift. Irrwahn wird, wenn Menschen dafür sterben, nicht bitter, sondern süß.
  Wie rottet er die östliche Tollheit aus? Jedes Mittel ist ihm recht, List, Liebe, Drohung. Doch wo findet er ein Mittel? Er findet keines.
  Er sammelt sich, er betritt seine Hauskapelle, er wendet sich um Rat an seine Göttin, an die Göttin der Klarheit, an Minerva. Er schmeichelt ihr, droht ihr, schmeichelt ihr von neuem. Versenkt sich in sie. Mit seinen großen, vorgewölbten, kurzsichtigen Augen starrt er in die großen, runden Eulenaugen der Göttin. Doch sie läßt sich nicht zwingen, sie steht ihm nicht Rede, stumm und dunkel mit ihren Tieraugen schaut sie ihn an. Er aber fleht von neuem, nimmt alle Kraft zusammen, beschwört sie. Und zuletzt gelingt es ihm doch, er reißt das Wort aus ihr heraus, sie tut den Mund auf, sie spricht. »Oh, mein Domitian«, sagte sie, »mein Bruder, mein Liebster, mein Schützling, warum zwingst du mich, daß ich dir spreche? Denn mein liebes Herz schmerzt mich, daß ich dir sagen muß, was ich dir nicht sagen möchte. Aber Jupiter und die Schicksale haben es mir befohlen. Höre also und bleibe mutig. Ich muß fort von dir, ich darf dir nicht länger raten, mein Bild hier in deiner Hauskapelle wird eine leere Hülle sein und ohne Leben. Oh, wie bin ich traurig, Domitian, mein sehr geliebter! Aber ich muß dir fernbleiben fortan, ich darf dich nicht länger beschützen.«
  Die Knie wurden Domitian weich, der Atem setzte ihm aus, sein ganzer Körper schwamm in kaltem Schweiß, er mußte sich an die Wand lehnen. Er sagte sich, es sei nicht die Stimme seiner Minerva gewesen, sein Feind, der Gott Jahve, habe aus ihrem Bild gesprochen, trügerisch, um ihn zu ängstigen. Ein Tagtraum sei es gewesen, eines jener falschen Gesichte, wie sie so häufig sind im Lande Jahves und von denen ihm sein Soldat Annius Bassus erzählt hat. Doch diese Tröstungen nützten nichts, die blasse, kalte Furcht blieb.
  Seine Feindschaft gegen die Menschen und sein Mißtrauen wuchsen. Er gab seinem Hofmarschall und seinem Gardepräfekten Order, den Zugang zu ihm mit allen Mitteln zu erschweren und einen jeden, der das Palais betrat, noch schärfer nach Waffen untersuchen zu lassen. Und er beauftragte seine Architekten, auf dem Palatin sowohl wie in Alba die Wohn- und Empfangsräume mit einem spiegelnden Metall zu verkleiden, so daß er, wo immer er stand, ging oder lag, jeden wahrnehmen könne, der ihm nahe.
  So also hatte der Kaiser seine Tage in Alba verbracht, als ihn der Polizeiminister aufsuchte. Er freute sich, Norban zu sehen. Er freute sich darauf, aus der Welt seiner Träume hinaufzutauchen in die Welt der Tatsachen. Neugierig und wohlwollend, ja mit einer gewissen Zärtlichkeit, schaute er seinem Norban in das treue, brutale und verschlagene Gesicht und hatte wie immer seine Freude daran, die modischen Locken des tiefschwarzen, dicken Haares unordentlich und etwas grotesk in die Stirn des vierschrötigen Antlitzes fallen zu sehen.
  »Also«, forderte er ihn auf und setzte sich bequem zurecht, »und jetzt lassen Sie mich ausführlich hören, was es in Rom Neues gibt!« Das tat denn auch Norban, er erstattete eingehenden Bericht über die letzten Ereignisse in Stadt und Reich, und seine kräftige, feste Stimme war wirklich dazu angetan, die wüsten Träume des Kaisers zu verscheuchen und ihn zurückzuführen in die nüchterne Wirklichkeit.
  »Und was hören wir aus Bajae?« fragte nach einer Weile der Kaiser. Norban hatte sich vorgenommen, über Lucia, Josephus und Matthias so wenig wie möglich zu sprechen, der Kaiser sollte von alleine auf die Zusammenhänge kommen. »Aus Bajae?« wiederholte er behutsam. »Die Kaiserin fühlt sich dort wohl, soweit ich unterrichtet bin. Sie treibt viel Sport, sie schwimmt, wiewohl es noch so früh im Jahr ist, sie veranstaltet Ruderrennen in der Bucht, sie hat viele Menschen um sich, Menschen jeder Art, sie beschäftigt sich mit Büchern.« Er machte eine ganz kleine Pause, dann aber konnte er sich doch nicht enthalten, hinzuzufügen: »Sie hat sich zum Beispiel von dem Juden Josephus aus seinem neuen Buch vorlesen lassen, das, wie meine Herren mir berichten, eine glühende Verteidigung des jüdischen Aberglaubens ist, ohne indes die erlaubte Grenze zu überschreiten.« – »Ja«, erwiderte der Kaiser, »es ist ein heftiges und sehr vaterländisches Buch. Wenn sich mein Jude Josephus so unverstellt zeigt, ist er mir lieber, als wenn er seine römisch-griechisch-jüdische Mischmaschweisheit verkündigt. Im übrigen«, erwog er weiter, genau wie seinerzeit Norban selber, »ist es nicht weiter verwunderlich, wenn sich mein Jude Josephus in Bajae aufhält, da die Kaiserin seinen Sohn in ihr Gefolge aufgenommen hat.« Und da Norban schwieg, setzte er hinzu: »Sie ist sehr zufrieden mit diesem jungen Sohne des Josephus, höre ich.« Norban hätte gern über Josephus und seinen jungen Sohn allerlei geäußert, aber er hatte sich nun einmal vorgesetzt, es nicht zu tun, und blieb seinem Vorsatz treu. Er schwieg.
  »Und was sonst?« fragte Domitian. »Eigentlich nichts mehr«, antwortete Norban. »Höchstens noch dies, daß ich dem Herrn und Gott Domitian einen kleinen, amüsanten Zeitvertreib vorschlagen könnte. Vielleicht erinnert sich Eure Majestät daran, daß wir einmal in einer erheiternden Zusammenkunft mit einigen jüdischen Doktoren festgestellt haben, die Juden sähen in den Nachkommen eines gewissen Königs David Anwärter auf den Thron des Erdkreises. Wir haben seinerzeit die Liste dieser Prätendenten aufgestellt.« – »Ich erinnere mich«, nickte der Kaiser. »Nun berichtet mir Gouverneur Falco«, fuhr Norban fort, »daß in seiner Provinz Judäa noch zwei dieser Davidssprößlinge existieren. Es war in letzter Zeit Gerede und Gewese um diese beiden. Daraufhin hat sie Falco nach Rom geschickt, damit wir über sie befänden. Ich wollte nun den Herrn und Gott Domitian fragen, ob er sich nicht vielleicht den Spaß machen will, sich diese beiden Anwärter auf die Weltherrschaft zu beschauen. Es handelt sich um einen gewissen Jakob und um einen gewissen Michael.«
  Genau wie es Norban beabsichtigt und vorausgesehen hatte, weckte dieser Vorschlag in der Seele des Domitian zahllose Gedanken, Schlüsse, Wünsche, Ängste, die darauf gewartet hatten, erweckt zu werden. Domitian hatte es wirklich vergessen, daß der gefürchtete und verachtete Jude Josephus und sein Sohn für eine Reihe von Leuten als Nachkommen eines Königs ihm selber gleichgestellt waren. Jetzt aber, da Norban die Erinnerung an jenes merkwürdige Gespräch mit den Doktoren und seine Folgen wieder aufgefrischt hatte, stand ihm diese Vorstellung, daß ja dieser Josephus und sein Sohn Prätendenten waren, Nebenbuhler, ungeheuer lebendig wieder auf. So lächerlich die Ansprüche dieser Leute waren, sie waren deshalb nicht weniger in der Welt und nicht weniger gefährlich. Und es war klar, daß diese Davidssprossen gerade jetzt die Zeit für gekommen hielten, ihre Ansprüche neu anzumelden. Durch diesen Anspruch auch, das ging ihm bei dem Bericht des Norban auf, durch diese seine vorgebliche Abstammung von den alten östlichen Königen, hatte er offenbar die Phantasie Lucias angezogen, durch diese Behauptung hatte er’s erwirkt, daß sie seinen jungen, lächerlichen Sohn in ihren Dienst nahm. Und so auch, pochend auf sein Recht als Königssproß, hatte er es gewagt, ihm seine Verse vom Mut ins Gesicht zu schleudern. Er, Domitian, hatte also recht gehabt, wenn er hinter dem allem seinen großen Feind vermutete, den Gott Jahve.
  Keine fünf Sekunden indes dauerten diese Erwägungen. Des Kaisers Gesicht freilich hatte sich gerötet wie immer, wenn er in Erregung und Wirrnis war, aber seine Haltung zeigte nichts von dieser Erregung. »Das ist ein guter Vorschlag«, erklärte er munter, und: »Schön«, sagte er, »führ mir die Leute vor, mein Norban! Und recht bald!«

Schon in der nächsten Woche also wurden die Davidssprossen Jakob und Michael nach Alba gebracht.
  Ein Feldwebel der Leibgarde führte sie in einen kleinen, prunkvollen Saal. Da standen sie, breit, derb und unbeholfen, inmitten des kostbaren Rahmens. Es waren bäurisch aussehende Männer, um die Leiber geschlagen hatten sie die langen, grobstoffigen Kleider Galiläas, sie trugen große Bärte um ihre stillen Gesichter, Michael mochte achtundvierzig, Jakob fünfundvierzig Jahre alt sein. Sie sprachen wenig, die fremde Umgebung schien ihnen Unbehagen, doch keine Angst einzuflößen.
  Der Kaiser kam herein, steifen Schrittes, gefolgt von Norban und einigen Herren, auch einem Dolmetsch, denn die beiden Männer sprachen nur aramäisch. Als der Kaiser eintrat, sagten sie etwas in ihrem Kauderwelsch. Domitian fragte, was sie gesagt hätten; der Dolmetsch erklärte, es sei eine Begrüßung. Ob es eine ehrfürchtige Begrüßung gewesen sei, fragte Domitian; der Dolmetsch, etwas zögernd, erwiderte, es sei eine Begrüßung gewesen, wie sie zwischen Gleichgestellten üblich sei. »Hm, hm!« sagte der Kaiser. Er ging um die Männer herum. Es waren gewöhnliche Männer, Bauern, grob von Gliedern und von Gesichtern wie Bauern; sie rochen auch wie Bauern, wiewohl man sie, bevor man sie vor ihn ließ, bestimmt gewaschen hatte.
  Domitian, mit seiner hohen, schrillen Stimme, fragte: »Ihr seid also vom Stamme eures Königs David?« – »Ja«, erwiderte schlicht Michael, und Jakob erklärte: »Wir sind verwandt mit dem Messias, wir sind Urgroßneffen.« Domitian, nachdem ihm der Dolmetsch das übersetzt hatte, schaute sie aus seinen vorgewölbten, kurzsichtigen Augen verständnislos an. »Was meinen sie jetzt, diese Männer?« wandte er sich an Norban. »Wenn diese späte Verwandte des Messias sind, dann nehmen sie doch offenbar an, daß der Messias schon lange dagewesen sei«, und: »Fragen Sie die!« befahl er dem Dolmetsch.
  »Was heißt das, ihr seid Urgroßneffen des Messias?« fragte der Dolmetsch. Michael erklärte geduldig: »Der Messias hieß mit Namen Josua Ben Josef und starb am Kreuz um der Erlösung des Menschengeschlechtes willen. Er war der Menschensohn. Er hatte einen Bruder namens Juda. Von diesem Bruder stammen wir ab.« – »Können Sie folgen, meine Herren?« wandte sich Domitian an seine Umgebung. »Mir scheint das etwas wirr. Fragen Sie sie«, befahl er, »ob also das Reich des Messias schon da ist!« – »Es ist da, und es ist nicht da«, erklärte Jakob. »Josua Ben Josef aus Nazareth ist am Kreuz gestorben und wieder auferstanden, da hat es begonnen. Er wird aber noch einmal auferstehen, und dann erst wird er sich in seiner ganzen Glorie zeigen, richten über die Lebendigen und die Toten und einen jeden behandeln nach seinem Verdienst.« – »Interessant«, meinte der Kaiser, »sehr interessant. Und wann wird das sein?« – »Das wird am Ende der Zeiten sein, beim Jüngsten Gericht«, erklärte Michael. »Eine sehr präzise Zeitangabe ist das nicht«, kommentierte der Kaiser, »aber ich denke, der Mann will sagen, es werde noch eine Weile dauern. Und wer wird herrschen in diesem Reiche des Messias?« fragte er weiter. »Der Messias natürlich«, antwortete Jakob. »Welcher Messias«, fragte der Kaiser, »der tote?« – »Der auferstandene, gewiß«, erwiderte Michael. »Und wird er Gouverneure einsetzen«, fragte Domitian, »Stellvertreter? Und wen wird er da berufen? Seine Verwandten doch wohl in erster Linie. Sagt mir, welcher Art wird seine Herrschaft sein?« – »Von Gouverneuren wissen wir nichts«, erklärte ablehnend Jakob, und Michael beharrte: »Es wird keine irdi sche, sondern eine himmlische Herrschaft sein.« – »Das sind plumpe Träumer«, meinte der Kaiser, »mit denen man nicht reden kann. Und ihr seid also aus dem Stamme David?« vergewisserte er sich noch einmal. »Wir sind es«, erwiderte Jakob. »Wieviel Steuern habt ihr zu zahlen?« erkundigte sich der Kaiser. »Wir haben einen kleinen Hof, er hat neununddreißig Plethren«, gab Michael Auskunft. »Von den Einkünften dieses Besitzes leben wir. Wir bebauen ihn mit zwei Knechten und einer Magd. Dein Steuereinnehmer hat den Wert des Besitzes auf neuntausend Denare geschätzt.« Domitian überlegte: »Hohe Revenuen sind das nicht für die Abkömmlinge eines großen Königs und die Anwärter auf Königreiche und Provinzen. Zeigt mir eure Hände!« befahl er unvermittelt. Sie zeigten sie ihm, Domitian beschaute sie aufmerksam, es waren harte, schwielige Bauernhände. »Gebt ihnen anständig zu essen«, entschied der Kaiser, »und schickt sie zurück, aber auf einem einfachen Schiff, und verwöhnt sie mir nicht!«
  Zu Norban aber, nachdem sie gegangen waren, sagte er: »Was für ein lächerliches Volk sind die Juden, in solchen Leuten Thronprätendenten zu sehen! Waren die beiden nicht komisch in ihrem einfältigen Stolz?«
  »Diese waren komisch«, antwortete Norban, und er legte den Ton auf das »diese«. Da wurde Domitian sehr rot, und dann wieder blaß, und dann wieder rot. Denn Norban hatte recht; diese waren komisch, andere Davidssprossen aber, Josephus und sein Sohn, waren durchaus nicht komisch, und neu aufstand in Domitian die Furcht vor Josephus und vor seinem Gotte Jahve.
  Soweit hatte die Unterredung mit den Davidssprossen genau die Wirkung, die sich Norban davon versprochen hatte. Dann aber nahm sie einen Weg, der dem Polizeiminister keineswegs erwünscht sein konnte. Der Kaiser nämlich, argwöhnisch, wie er war, sagte sich plötzlich, sehr wohl möglich sei es, ja wahrscheinlich, daß Norban mit Absicht diese Gedanken in ihm habe entstehen lassen. Darum vermutlich hatte Norban von Anfang an soviel Gewicht gelegt auf diese beiden Davidssprossen, denen er ja sicher so gut wie er selber angesehen hatte, wie harmlos sie waren.
  Auch Norban also hat offenbar von Anfang an erkannt, wie gefährlich Josephus war, und wenn er ihn, den Kaiser, auf diese Gefahr aufmerksam gemacht hat, so hat der Treue nur seine Pflicht getan, hat sie übrigens mit einem Takt erfüllt, den er, Domitian, dem plumpen Manne nie zugetraut hätte. Trotzdem, es ist schwer erträglich, daß dieser Norban seine Gedanken so genau erraten kann; es grenzt an Aufruhr, daß dieser Untertan sich erkühnt, den Gedanken des Gottes Domitian ihre Bahn vorschreiben zu wollen. Er hat diesen Norban zu nah an sich herangelassen. Jetzt ist einer in der Welt, der ihn zu genau kennt. Gefühle solcher Art bewegen den Kaiser, es sind keine Gedanken, so weit läßt er das Verworrene nicht erst Gestalt annehmen, aber er kann nicht verhindern, daß sein Blick, der den Kopf seines Polizeiministers mustert, Mißtrauen zeigt, etwas wie Furcht. Das dauert freilich nur einen Teil eines Augenblicks; denn das Gesicht, das er sieht, ist kräftig, verlässig, brutal, das Gesicht eines treuen Hundes, genau das Gesicht des Polizeiministers, wie er ihn sich wünscht.
  Norban hat ihm mit der Zuführung der Davidssprossen eine willkommene Unterhaltung geboten, er hat ihn willkommene Einblicke tun lassen. Er ist seinem treuen Polizeiminister dankbar dafür, er sagt das auch, aber er entläßt ihn schnell, beinahe abrupt.
  Allein, überlegt er. Was diesen Kampf gegen Jahve so besonders schwer macht, das ist, daß er sich eigentlich in dieser Sache keinem Menschen ganz anvertrauen kann. Norban ist treu, aber seine Seele ist nicht subtil genug, um etwas so Kompliziertes, Abgründiges, wie die Feindschaft dieses unsichtbaren, ungreifbaren Jahve, ganz zu erfassen, und überdies will ihn der Kaiser nun nicht noch tiefer in sein Inneres hineinblicken lassen. Marull und Regin würden vielleicht verstehen, worum es in diesem Kampfe geht. Aber selbst wenn er sich ihnen mit großen Mühen verständlich machen könnte, was dann hätte er erreicht? Die beiden sind alte Männer, lässig, duldsam, liberal, keine Kämpfer, wie dieser Kampf sie erfordert, in dem es hart auf hart geht. Annius Bassus wäre ein guter Kämpfer, aber er ist nun bestimmt zu simpel für einen so schlauen und schwer faßbaren Feind. Bleibt Messalin. Der hat Kopf genug, zu erfassen, wer der Feind ist und wo er steht, er hat Mut und Kraft genug, und er ist treu. Aber die Erinnerung ist in Domitian an das Unbehagen, als er wahrnehmen mußte, wie ihn sein Norban durchschaute. Er wird sich an Messalin wenden, doch erst dann, wenn er sich allein durchaus nicht mehr zurechtfindet.
  Er wird sich aber zurechtfinden. Vor seinem Schreibtisch sitzt er, die Schreibtafel hat er herausgezogen. Er grübelt. Er sucht sich zu sammeln. Es gelingt nicht. Die Gedanken zerrinnen ihm. Wohl gräbt sein Griffel in das Wachs der Schreibtafel, aber es sind keine Worte, die er formt, sondern mechanisch zeichnet er Kreise und Ringe. Und mit Schreck nimmt er wahr, daß es die Augen der Minerva sind, die er geformt hat, die großen, runden Eulenaugen, die ihm jetzt leer und ohne Licht und ohne Rat bleiben.
  Und mit einemmal ist ihm die Gefahr, die ihn so oft bedroht hat, der Meuchelmord, den ihm seine Gegner so oft angekündigt haben, nichts Wesenloses mehr, kein Abstraktum, wie es einem blühenden Manne in seinem Alter der Tod zu sein pflegt, der ihn in fernen Jahren einmal erreichen wird, sondern etwas sehr Wesenhaftes, Nahes. Er ist nicht feige. Doch das Gefühl grenzenloser Sicherheit, das ihn bis jetzt erfüllt hat, da er sich im Schutz seiner Göttin wußte, dieses Gefühl hat ihn verlassen. Der Tod, ihm bisher ein sehr Fernes, ist ihm ein Nahes geworden, das bedacht sein will.
  Wenn er unter die Götter gehen sollte, wenn er von dieser Erde verschwinden sollte, er, dieses Fleisch und Bein des Mannes Domitian, was dann wird aus seiner Idee, was dann wird aus dieser Idee Rom, die er tiefer und neuer erfaßt hat als die vor ihm? Wer, wenn er nicht mehr da ist, soll diese Idee schützen und weitertragen?
  Diese Idee Rom, wie er sie versteht, ist geknüpft an die Herrschaft der Flavier. In seinem Innersten, ganz heimlich, hat er trotz allem immer noch gehofft auf Nachkommenschaft von Lucia. Aber sich noch länger an diese nebelige Hoffnung zu klammern, jetzt, da Gefahr für ihn ist, wäre Wahnsinn. Hinunter mit der Hoffnung, fort mit ihr! Schade, daß er sich gefürchtet hat vor den frechen Zungen seiner Feinde, daß er nicht das Kind, das ihm Julia trug, hat zur Welt kommen lassen. Wie schön wäre es, wenn er einen selbstgezeugten Sohn als seinen Nachfolger designieren könnte.
  Aber das kann er nun einmal nicht. Die flavische Dynastie steht auf den beiden Knaben, auf den Zwillingen Constans und Petron. Wenigstens sind die Knaben reinstes flavisches Blut vom Vater und von der Mutter her. Und es ist gut, daß er die Einflüsse, welche die beiden hätten verderben können, getilgt hat, daß er Clemens in den Tod und Domitilla auf die balearische Insel geschickt hat. Jetzt wachsen seine jungen Löwen heran in der guten Zucht des sehr römischen Quintilian und entzogen dem Gotte Jahve.
  Ganz entzogen freilich hat er sie dem Jahve nicht. Für diese heißen Monate hat Lucia die Knaben zu sich genommen, nach Bajae, sie wollte nicht, daß die Zwillinge, getroffen von dem Schicksal ihrer Eltern, noch länger in dem öden Haus des toten Vaters und der verbannten Mutter wohnen sollten, und er hat es zugelassen. Wie hat er es zulassen können? Es war selbstverständlich einfach eine List des Gottes Jahve, daß er der Lucia eingegeben hat, sie möge sich der Söhne des toten Clemens annehmen. Vielleicht steckt auch wieder einmal unser Josephus dahinter, der Sendling des Jahve. Es ist unfaßbar, daß er, Domitian, das alles nicht gleich durchschaut hat. Er hat sich schließlich als der Vetter der Knaben gefühlt, als ihr Verwandter, er hat sich ihnen nicht allzu streng zeigen wollen, denn ihm lag, ihm liegt noch an der Liebe der Zwillinge. Vor allem aber, er will offen vor sich sein, hat er sich vor Lucia nicht zu schroff zeigen wollen.
  Aber jetzt wird das ein Ende finden. Er weiß auch, wie. Er wird seinen alten Vorsatz, die Zwillinge zu adoptieren, endlich wahr machen. Er wird sie an seinen Hof berufen, so werden sie von selber dem Dunst des Josephus und seines Matthias entzogen sein. Er wird dann das Seine getan haben, der Idee Rom, wenn er, unbeschützt von Minerva, von dieser Erde sollte wegmüssen, neue Verteidiger zu hinterlassen.
  Sein gesammeltes Gesicht entspannt sich, er lächelt. Es ist ihm etwas Erfreuliches eingefallen. Wenn er die Knaben adoptiert, dann ist das ein selbstverständlicher Anlaß, auch Lucia vor sein Angesicht zu rufen. Und wenn sie erst da ist, dann wird sich vieles klären. Sie hat trotz allem, trotz der Blendung durch Jahve, immer Verständnis gezeigt für seine Ideen, denn sie ist Römerin. Er wird, der Römer, zur Römerin sprechen, er fühlt in sich die Kraft, Lucia zurückzugewinnen.
  Er lächelt. Er fühlt sich auch ohne den Schutz der Minerva noch nicht verloren. Auch das Böse hat seine guten Seiten. Hätte sich nicht die Gefahr, die von Jahve droht, von neuem so sichtbar vor ihm aufgerichtet, dann hätte er die Adoption noch weiter hinausgeschoben. So aber, durch diese schnelle Adoption, erreicht er zwei Ziele mit einem Schlag. Nicht nur errichtet er auch für die Zukunft der Idee Rom neuen Schutz und Schirm, er wird dadurch vermutlich auch diesem Jahve die neugewonnene Bundesgenossin Lucia wieder abspenstig machen. Lucia ist römisch durch und durch, Lucia liebt ihn, das ist keine Frage, wenn auch auf ihre stolze, widerspenstige Art, Der Gott Jahve hat ihr den Sinn vernebelt. Aber ihm, dem Gotte Domitian, wird es gelingen, die unheilvollen Dämpfe zu zerstreuen, mit welchen der östliche Gott sie getrübt hat, so daß sie wieder klar sieht wie er selber.
  Unverweilt machte er sich ans Werk und traf die nötigen Vorbereitungen für die Adoption. Auch schrieb er noch am gleichen Tag einen ausführlichen Brief an Lucia. Er diktierte nicht, er schrieb selber und bemühte sich, die Sätze persönlich und sehr herzlich zu halten. Um der Fortführung der Dynastie willen, schrieb er, und da er doch von ihr weitere Nachkommenschaft kaum zu erwarten habe, erachte er es für seine Pflicht, die Nachkommen jenes Flavius Clemens, den er leider habe hinrichten lassen müssen, zu adoptieren. Die Zwillinge lägen ihm am Herzen, und er habe mit Freuden wahrgenommen, daß sie auch ihr zu gefallen schienen. So hoffe er, daß ihr sein Entschluß willkommen sein werde. Schon zu lange habe er die Angelegenheit hinausgezögert. Um so mehr jetzt werde er sie beschleunigen. Er gebe also am gleichen Tag dem Quintilian Auftrag, sich mit den Knaben zu ihm nach Alba zu begeben. Er halte es für richtig, die Knaben unmittelbar nach der Adoption trotz zarten Alters die Männertoga anlegen zu lassen. Beide Zeremonien, Adoption und Anlegung der Männertoga, wünsche er mit Feierlichkeit vorzunehmen. Es solle den Römern in den Kopf gehämmert werden, daß er der Dynastie neue Reiser aufpfropfe. Es wäre ihm eine große Freude, wenn sie sich entschlösse, die Bedeutung des vorzunehmenden Aktes durch ihre Anwesenheit zu erhöhen.

Die Zwillinge waren, als sie mit ihrem Lehrmeister Quintilian bei Lucia in Bajae ankamen, sehr verstört gewesen. Der Tod des Vaters, die Verbannung der Mutter hatte ihre von Natur offenen Gesichter verschlossen gemacht, und es hatte von seiten des Quintilian vieler Behutsamkeit bedurft, sie ohne schwere Seelenstörungen über diese schlimme Zeit hinwegzubringen. Jetzt, bei Lucia, wurden sie langsam gelöster, weniger scheu. Domitilla hatte sich, bevor sie auf ihre balearische Insel ging, von Lucia versprechen lassen, daß diese sich ihrer Söhne annehmen und dem lateinischen Einfluß des Quintilian entgegenwirken werde. Lucia behandelte die beiden Jungen durchaus als Erwachsene, sie ging mit ihnen vorsichtig um, doch ohne ihr Mitleid allzu deutlich zu zeigen. Allmählich brach denn auch die Verkrustung der Knaben, und sie wurden wieder zutraulich und jung, so wie sie geboren waren.
  Es war dies vor allem das Verdienst des Matthias. Zwischen ihm und den beiden Prinzen hatte sich rasch eine gute Knabenfreundschaft angesponnen. Die Zwillinge waren angenehm von Wesen, das Strahlende, Jungmännliche, das von Matthias ausging, wirkte auf sie noch stärker als auf die andern, sie anerkannten neidlos, daß er ihnen überlegen war. Wenn sie mit ihm zusammen waren, dann konnten sie trotz der finstern Ereignisse, die sie hatten durchleben müssen, harmlos sein, ja vergnügt wie früher und die Intrigen und Kämpfe ringsum vergessen. Sie trieben dann mit knabenhaftem Ehrgeiz allerhand Sport, balgten sich, dalberten.
  Daß man ihren Freund Matthias verspottete um seiner jüdischen Abstammung willen, focht sie nicht an. Durch ihre Eltern waren sie vertraut mit minäischen Gedankengängen, sie waren gefeit gegen judenfeindliche Einflüsterungen. Daß ihr Vater wegen seiner judaisierenden Neigungen hatte sterben müssen, machte es ihnen zur Ehrenpflicht, für Matthias einzutreten; sie hingen an ihm mit eifriger Freundschaft. Dem Matthias gefielen nicht nur seine Kameraden, es steigerte auch sein Selbstgefühl, daß ihm die beiden Prinzen, die nächsten Anverwandten des Kaisers, so ergeben waren. Einmal hörte er, wie ein neu eingetretener ägyptischer Leibeigener der nach ihm fragenden Caecilia die Auskunft gab: »Die drei Prinzen sind beim Fischfang.« Da war ihm vor Stolz, als ob er Flügel hätte.
  Den Quintilian verdroß diese Freundschaft. Er hatte von Anfang an Bedenken gehabt, die Prinzen hierher nach Bajae zu lassen in den Dunstkreis der Kaiserin. Es war nicht zu leugnen, daß Lucia in einem hohen Grade römisch war, dennoch störte ihn das meiste, was sie tat, ließ und sagte, und es war ihm unbehaglich, seine Zöglinge so lange in ihrer Nähe zu wissen. Nun also hatten sie sich noch in die Freundschaft mit dem jungen Juden verstrickt. Quintilian, immer bemüht, gerecht zu urteilen, gestand dem Matthias zu, daß an seinem Gehaben nichts war, was gegen römisches Wesen verstoßen hätte. So unterließ er es denn auch, beim Kaiser vorstellig zu werden wegen der Beziehungen seiner Zöglinge zu dem Sohne des Josephus, und beschränkte sich auf leise Mahnungen, die, ohne den Matthias zu beleidigen, von seinen Zöglingen gleichwohl nicht mißverstanden werden konnten.
  Es ging also zwischen ihm auf der einen, Lucia und Matthias auf der andern Seite ein beharrlicher Kampf um die Seelen der Zwillinge. Dieser Kampf wurde still geführt, unterirdisch. Einmal indes zeigte sich der Gegensatz offen und vor aller Augen.
  Matthias hatte die knabenhafte Freude an der Pfauenfarm, die er auf Lucias Besitz hatte anlegen dürfen, auch auf seine Freunde übertragen. Täglich besuchten die drei das Gehege, sie kannten gut die einzelnen Vögel, sie vergnügten sich damit, dieses oder jenes der Tiere auf die Freitreppe des Hauptgebäudes zu bringen, und sie ergötzten sich an dem Anblick der Vögel, wie sie auf der schönen, weitausladenden Treppe des weißglänzenden Hauses standen und Rad schlugen, als fächelten sie dem besonnten Schlosse Kühlung.
  Eines Tages nun, als Senator Ostorius, ein berühmter Fein
schmecker, bei Lucia zu Gast war, setzte man ihm eine Pastete aus Pfauenfleisch vor. In Abwesenheit Lucias und der Knaben hatten der Haushofmeister und der Koch den unglücklichen Pfauenwärter gezwungen, ihnen sechs der kostbaren und geliebten Tiere herauszugeben. Die Knaben wüteten. Quintilian suchte ihre Erregung auf ein vernünftiges Maß zu dämpfen. Ein Genuß des Gaumens, fand er, stehe einem Genuß des Auges keineswegs nach, und die laute Trauer um die Schlachtung der Vögel, wie sie Matthias und die Knaben bezeigten, sei unrömisch, sei östliche Sentimentalität. Die Knaben schwiegen, aber sie brachten in Anwesenheit Lucias und Josefs die Angelegenheit nochmals zur Sprache. Josef fand, es sei seltsam, daß ein Römer nicht Scheu davor empfinde, das Fleisch eines Pfaus zu essen, eines Vogels, der doch der Göttin Juno heilig sei. Quintilian erklärte, es beweise wenig Sinn für die Realität, wenn man die Bedeutung einer Sache, die Idee einer Sache, mit der Sache selber verwechsle. Das sei so, wie wenn man das Papier eines Buches für etwas Heiliges hielte, weil große Dinge darauf geschrieben seien. Solche Gleichsetzung sei etwas dem sachlichen Römer völlig Fremdes. Quintilian, der große Redner und ausgezeichnete Stilist, blieb in der Debatte dem Josef überlegen, vor allem da es diesem verwehrt war, sich in seiner Muttersprache auszudrücken; er mußte seine Argumente in einer erst später erlernten Sprache verfechten.
  Nach diesem Zwischenfall hatte sich Quintilian ernstlich überlegt, ob es nicht doch seine Pflicht sei, den Kaiser zu bitten, seine Zöglinge dem Einfluß des jungen jüdischen Herrn zu entziehen, der ihnen nicht förderlich sei; als er, aufatmend, den Brief des Kaisers erhielt mit der Weisung, sich mit den Prinzen auf dem Palatin einzufinden zum Zwecke der Adoption.
  Auch der Lucia bereitete des Kaisers Vorsatz, die Zwillinge zu adoptieren, mehr Freude als Ärger. Zwar war es ihr leid, wenn sie daran dachte, daß die Knaben fortan in der wilden, kalten Luft des Palatin leben sollten, ständig in Gesellschaft des verquerten und römisch rigorosen Domitian. Andernteils freute sie sich ehrlich für die Knaben, daß DDD endlich seinen Entschluß wahr machen und sie so hoch hinaufheben wollte.
  Übrigens wird man die Zwillinge auch auf dem Palatin schwerlich ganz von ihr und von Matthias fernhalten können, und sie wird auch weiter ihr möglichstes tun, die Knaben vor dem starren Lateinertum des Quintilian zu schützen. Davon abgesehen aber wird sie vermutlich eine gute Helferin haben. Denn wenn DDD die Kinder der Domitilla zu seinen Nachfolgern bestimmt, dann wird er sich wahrscheinlich auch bereit finden lassen, die Mutter aus der Verbannung zurückzuholen. Lucia liebte Domitilla ganz und gar nicht, im Gegenteile, die kalte Glut, die Verbissenheit der Domitilla war Lucia unangenehm. Doch Lucia war frei vom formalistischen Rechtsgefühl des flavischen Rom, es wollte ihr nicht gefallen, daß man die Meinungsfreiheit des einzelnen derart einschränkte, und sie war empört über die Vergewaltigung der Domitilla. Was eigentlich hatte Domitilla verbrochen? Sie hatte sich mit der Philosophie der Christen befaßt, das war alles. Sie war also verbannt lediglich aus einer willkürlich-heftigen Laune des Kaisers heraus. DDD muß sie zurückrufen, er muß einfach, sie, Lucia, wird ihn dazu bewegen.
  Sie fühlte die Kraft in sich, ihn dahin zu bringen. Sie war sehr ehrlich von Wesen und konnte sich schwer verstellen. Sie konnte von DDD nichts erreichen, wenn er ihr zuwider war. Wenn sie sich indes von Wäuchlein angezogen fühlte, dann konnte sie ihm das unbefangen zeigen, und dann vermochte sie alles über ihn. In der letzten Zeit hatte sie sich gegen ihn zugesperrt, sein langes Schweigen hatte in ihr die Furcht reifen lassen, er bereite auf seine langsame und heimtückische Art einen Schlag gegen Josef und gegen Matthias vor. Sein Brief beruhigte sie. Im Grunde hatte sie sein Wesen immer angezogen, seine wilde Starrheit, sein Überstolz, seine verstiegene, verzerrte, verrenkte, überdimensionierte Tatkraft, das alles hatte sie von jeher gelockt. Auch war sie sich bewußt, daß er sie, im Grunde nur sie liebte. Der Brief also wärmte ihr das Herz, sie freute sich darauf, ihn zu sehen.
  Mit Eifer bereitete sie ihre Reise nach Alba vor. Voll streitbaren Vergnügens dachte sie an die Auseinandersetzung mit Wäuchlein. Bestimmt wird sie durchsetzen, was sie sich vorgenommen hat. Erreichen will sie, daß den Zwillingen auch weiterhin der Weg zu ihr und zu Matthias offenbleibt, und erreichen will sie, daß Domitilla von ihrer balearischen Insel zurückgerufen wird.
  Die ersten drei Tage ihres neuen Beisammenseins mit DDD in Alba waren ausgefüllt mit den feierlichen Zeremonien der Adoption. Es waren dies vor allem religiöse Feierlichkeiten, und man sah dem Kaiser an, wie tief er sich von ihnen ergreifen ließ. Seine Familie, das war ihm ein heiliger Begriff, der Altar seiner Familiengottheiten, der Herd mit der Ewigen Flamme, der in seinem Atrium stand, das waren ihm keine leeren Symbole, sondern etwas Lebendiges, und daß er jetzt den Göttern seiner Familie junge Wesen zuführen konnte, die sie auch in Zukunft verehren würden, wühlte ihm das Innere auf; denn die Götter werden am Leben erhalten nur durch die Verehrung ihrer Gläubigen. Und er selber, der einmal einer dieser Götter seines Hauses sein wird, sicherte sich seine eigene Fortdauer nur dadurch, daß er die Verehrung seines Hausaltars sicherte. Diese Feier also war ihm etwas Lebenswichtiges, durch sie kam er in neue, lebendige Berührung mit seinen göttlichen Vätern. Die Worte der uralten, heiligen Formeln hatten ihm einen tiefen Sinn, und es war ihm kein leerer Rechtsakt, sondern greifbarer Ernst, als er die Knaben in seinen väterlichen Schutz nahm und ihnen ihre neuen Namen gab: Vespasian und Domitian. Er hatte damit die beiden Jünglinge verändert, sie zu neuen Wesen umgeschaffen. Er und sie hatten jetzt Verantwortungen und Verpflichtungen voreinander, eine unzerreißbare Kette band sie.
  Er spürte vom ersten Augenblick an, daß Lucia freundwillig zu ihm gekommen war. Aber pedantisch, wie er war, schob er es auf später auf, sich mit ihr zu beschäftigen und seine Beziehungen zu ihr zu klären. Jetzt, in diesen Tagen der Adoption, waren seine Gedanken und Gefühle ausgefüllt mit ernsten, bedeutungsvollen, gleichnishaften Handlungen, die ihm keine Zeit frei ließen für anderes. Es waren glückliche, erhebende Tage, seine neuen Söhne, die jungen Löwen, gefielen ihm, das einzige, was ihn an ihnen störte, war die Wahrnehmung, wie sehr sie verbunden waren mit dem jüngsten Adjutanten der Kaiserin, mit Flavius Matthias.
  Dann, nachdem die offiziellen Feierlichkeiten zu Ende gegangen und die zahlreichen Gäste abgereist waren, gab Domitian eine Familientafel. Anwesend waren außer den Zwillingen und ihrem Hofmeister nur Lucia und Matthias.
  Der Kaiser fand natürlich, das richtigste wäre es, das Band zwischen seinen neuen Söhnen und dem jungen Juden sogleich und für immer zu zerschneiden. Warum er es nicht so hielt, warum er vielmehr Matthias sogar diesem vertrauten Kreise beigesellte, hätte er nicht genau angeben können. Sich selber sagte er, er tue es, um dem Sohn des Josephus einmal gründlich auf den Zahn zu fühlen; denn er hat nicht umhinkönnen, auf den ersten Blick zu erkennen, daß von dem Knaben viel Glanz ausging und große Magie und daß es also nicht ganz leicht sein werde, sein Bild in der Brust der Zwillinge auszulöschen. Wenn ihm das gelingen sollte, dann mußte er zuerst einmal diesen jungen Menschen gut studieren. Dann aber – doch diese weiteren Gründe gestand er sich nicht recht ein – zog er den Matthias auch deshalb bei, weil er nicht von vornherein Lucia und die Knaben verstimmen wollte. Vor allem aber geschah es aus List. Er wollte Matthias und den hinter ihm stehenden Gott Jahve in Sicherheit wiegen; denn soviel war klar: es war ein Trick des Gottes Jahve, daß er gerade diesen, mit soviel Reizen ausgestatteten jungen Menschen jenen beiden über den Weg geschickt hatte, die er, der Erzpriester Roms, zu den künftigen Herrschern des Reichs bestimmt hatte.
  Matthias war während dieses Mahles an der Tafel des Domitian erfüllt von einem hohen Glück. In ihm standen Erinnerungen auf an Worte, die ihm seine Mutter oft gesagt hatte, wenn sie den Josef rühmte: er sei der Tischgenosse dreier Kaiser. Jetzt war er, Matthias, Tischgenosse dreier Kaiser, er, dem das Mädchen Caecilia gesagt hatte, er gehöre aufs rechte Tiberufer und werde als Hausierer enden.
  Des Matthias Glück machte ihn noch strahlender als sonst. Er wirkte durch sein bloßes Wesen, durch sein lebendiges Gesicht, durch seine Bewegungen; seine junge und doch so männliche Stimme gewann alle, sowie er nur den Mund auftat. Der Kaiser wandte sich an ihn mehr als an die andern. Es waren aber in Domitian, während er mit dem jungen Günstling seiner Lucia sprach, Gefühle und Gedanken von mancherlei Art. Er fand Wohlgefallen an der natürlichen Anmut des Matthias, er hatte an ihm das gleiche Vergnügen wie etwa an der täppischen Possierlichkeit junger wilder Tiere in seinen Käfigen. Da er ein guter Beobachter war, entging es ihm auch nicht, wie sehr der Junge an Lucia hing, und er spürte ein bewußt lächerliches, doch darum nicht minder starkes Triumphgefühl bei dem Gedanken, daß er, Domitian, mit dieser Lucia schlief und nicht der junge, liebenswerte Schützling des Gottes Jahve.
  Quintilian legte es darauf an, dem Kaiser die lateinische Bildung seiner Zöglinge vorzuführen. Die jungen Prinzen hielten sich wacker, ohne besondere Fähigkeiten an den Tag zu legen. Auch Matthias zeigte keinerlei Eigenheit, aber er brachte, was er zu sagen hatte, auf bescheidene und angenehme Art vor und bewies, daß er durchtränkt war von römischer Bildung. »Eines klugen Vaters kluger Sohn«, anerkannte Domitian. Die Zwillinge übrigens verhehlten auch bei Tafel nicht, daß sie zu Matthias als zu einem überlegenen, begnadeten Wesen aufschauten, und das war für den Kaiser eine Art grimmiger Bestätigung. So war also seine Furcht begründet: der fremde Gott Jahve bediente sich mit tiefer List dieses Matthias, um sich wurmgleich in die Seelen der Jünglinge einzugraben.
  Dann endlich nach aufgehobener Tafel war Lucia mit dem Kaiser allein. Sie waren in seinem Arbeitskabinett, das er mit dem spiegelnden Metall hatte verkleiden lassen. Sie sah es zum erstenmal. »Was hast du da für scheußliche Spiegel?« fragte sie. »Es ist«, erwiderte er, »damit ich auch über dem Rücken Augen habe. Ich habe viele Feinde.« Er schwieg ein wenig, dann fuhr er fort: »Aber jetzt habe ich vorgesorgt. Wenn mir etwas zustößt, dann sind jetzt wenigstens die jungen Löwen da. Ich freue mich, daß ich die Knaben adoptiert habe. Es gehörte Entschluß dazu, die Hoffnung auf Kinder von dir aufzugeben. Aber ich fühle mich leichter, seitdem ich weiß, daß mein Herd nicht erlöschen wird.« – »Du hast recht«, sagte verständig Lucia. »Aber«, stieß sie geradewegs vor, »was mich stört, ist der Gedanke an Domitilla. Ich mag sie nicht, die dürre, pretiöse Frau, aber schließlich ist sie es, die die beiden gebo ren hat. Es gefällt mir nicht, sie auf der wüsten Insel im balearischen Meer zu wissen, während du ihre Söhne zu den Herrschern Roms erziehen willst.«
  Domitians Mißtrauen war sogleich rege geworden. Aha, sie wollte eine Bundesgenossin haben, um die Zwillinge für sich zu gewinnen. Er hatte Lust, scharf zu erwidern, doch sie gefiel ihm sehr, und er hielt an sich. »Ich will versuchen, meine Lucia«, begann er, »Ihnen die Gründe darzulegen, aus denen ich Domitilla fernhalten muß. Ich habe nichts gegen sie. Clemens und Sabin waren mir verhaßt, ich fand ihre Trägheit, ihre Lässigkeit, ihr ganzes Gehabe unrömisch, widerwärtig. Mit Domitilla ist es ein anderes. Sie ist eine Frau, niemand verlangt von ihr, daß sie sich im Staatsdienst betätige, auch hat sie etwas Zähes, Kräftiges, was mir eher zusagt. Aber es hat sich nun leider einmal in ihrem verquerten Kopf dieser Aberglaube der Minäer festgesetzt. An sich ist es vollkommen gleichgültig, was Flavia Domitilla glaubt oder nicht glaubt, und ich könnte es hingehen lassen. Aber es geht um die Knaben. Diese Knaben sollen unterrichtet werden von dem Hofmeister, den ich ihnen bestimmt habe, und von niemand sonst. Ich will nicht, daß Domitilla in ihrer Nähe sei. Ich will nicht, daß die harten, klaren Lehren, die mein Quintilian den Knaben beibringt, aufgeweicht und getrübt werden durch das alberne, weibische, abergläubische Gerede über den gekreuzigten Gott. Alles an dieser Lehre, der nun einmal Domitilla leider anhängt, ihre Weltabgewandtheit, ihre Wirklichkeitsfremdheit, ihre Indolenz gegen den Staat, das alles ist gefährlich für so junge Menschen.«
  Lucia beschloß, den Kampf aufzunehmen, zum Angriff vorzugehen. Das kühne, helle Gesicht geradezu drohend auf ihn gerichtet, fragte sie: »Und halten Sie es auch für eine Gefahr, wenn die Knaben mit mir verkehren?« Der Kaiser zögerte. Er hätte ja sagen müssen, es wäre seine Pflicht vor Jupiter und Rom gewesen, ja zu sagen. Aber das nahe Antlitz der Frau, die er liebte, verwirrte ihn, er schwankte. Er suchte ihr Gesicht zu vermeiden, er kehrte den Blick ab, doch in dem spiegelnden Metall ringsum begegnete ihm ihr Gesicht immer wieder. Lucia, sein Zögern wahrnehmend, fuhr fort: »Daß ich’s Ihnen offen gestehe, ich finde Ihren Quintilian reichlich ledern. Ich halte es für sehr notwendig, daß ab und zu ein frischerer Wind um die Knaben weht.« Domitian hatte sich eine Antwort zurechtgelegt. »Selbstverständlich«, sagte er galant, »habe ich nichts dagegen, daß auch meine jungen Löwen sich Ihrer Nähe erfreuen, meine Lucia. Aber nicht wünsche ich, daß etwa Ihr Matthias sie mit seinen Überzeugungen anstecke oder gar der Jude Josephus mit seinem sentimentalen Gewäsch über die Lasterhaftigkeit des Genusses von Pfauenpastete.«
  Lucia ärgerte sich, daß also der stolze Römer Quintilian nicht Würde genug hatte, den Mund zu halten, sondern Matthias und seinen Vater sogleich verpetzen mußte, als wäre er ein Spitzel des Norban. Aber sie nahm die Worte DDDs als Zugeständnis, zumindest wird er den Zwillingen den Umgang mit ihr selber nicht verwehren. »Es ist freundlich von dir«, anerkannte sie, »daß du wenigstens mir nicht vorschreiben willst, wen ich sehen darf und wen nicht.« Weiter aber beharrte sie nicht auf diesem heiklen Gegenstand, sondern sie trat nah an ihn heran, strich ihm über das spärliche Haar und sagte: »Ich muß dir ein Kompliment machen, Wäuchlein. Du hast nicht verloren dadurch, daß ich dich längere Zeit nicht sah, im Gegenteil, du bist erfreulicher, als ich dich in Erinnerung hatte.« Domitian hatte sich gesehnt nach ihrer Berührung; er mußte an sich halten, um nicht heftiger zu atmen. Sie schmeichelt mir, dachte er, sie tut mir schön, ich muß fest bleiben, ich darf mich nicht herumkriegen lassen. »Ich danke Ihnen«, sagte er etwas steif.
  Lucia, von ihm ablassend, wurde sachlich. Sie dachte laut nach: »Gibt es denn kein andres Mittel, den Knaben diese Lehre fernzuhalten als die Verbannung ihrer Mutter? Lenkt man nicht gerade durch so drastische Maßnahmen das Augenmerk der Zwillinge ständig auf die Schuld der Mutter, also gerade auf das, was man ihnen fernhalten möchte, und von alledem abgesehen, wird es nicht der Stadt und dem Reich befremdlich erscheinen, daß man die Zwillinge so erhöht, die Mutter aber weiter auf ihrer balearischen Insel beläßt? Tut das nicht dem Ansehen Ihrer jungen Löwen Eintrag? Und verbiegt es nicht die Seelen der Knaben, die Sie doch gerade haben wollen?« »Ich hätte nie vermutet«, sagte bösartig der Kaiser, »daß Domitilla in Ihnen eine so warme Freundin hat.« – »Domitilla ist mir vollkommen gleichgültig!« wiederholte heftig Lucia. Doch sogleich hatte sie sich wieder in der Gewalt und änderte Wesen und Stimme. »Es ist allein um Ihretwillen, Wäuchlein«, sagte sie, »daß ich Ihnen rate, Domitilla zu begnadigen. Sie haben sich auch«, scherzte sie, »lange bitten lassen, ehe Sie mich aus der Verbannung zurückriefen. Und haben Sie es bereut? Treten Sie sich nicht selber zu nahe!« bat sie. »Sie haben die Knaben adoptiert, das ist großartig. Aber wenn Sie Ihre Tat nicht ergänzen durch die Rückberufung der Domitilla, bringen Sie sie um ihre Wirkung. Niemand weiß besser als ich, wie oft und sehr Sie verkannt werden. Verhüten Sie es, daß Ihre Verdienste um die Zwillinge mißdeutet werden durch den Gedanken an die Mutter! Rufen Sie Domitilla zurück!«
  Domitian vermied es, ihr zu antworten. Mit seinen kurzsichtigen Augen schaute er sie auf und ab, und: »Sie sind sehr schön«, sagte er, »wenn Sie sich für eine Sache ereifern.« Lucia indes ließ ihn nicht. »Begreifen Sie«, sagte sie leise, mit dringlicher, zutunlicher Stimme, »daß ich mich Ihrethalb ereifere?« Wieder war sie ganz nahe an ihm, und, den Arm um seine Schulter, bat sie: »Wollen Sie nicht Domitilla zurückrufen?«
  »Ich will es überlegen«, wich Domitian unbehaglich aus. »Ich verspreche Ihnen, die Sache ernsthaft mit Quintilian zu überlegen.« – »Mit dem Ledernen«, tat Lucia den großen Stilisten unmutig ab. »Überlegen Sie es mit mir!« bedrängte sie ihn. »Aber nicht hier! Hier, zwischen Ihren scheußlichen Spiegeln kann man ja nicht denken. Kommen Sie zu mir! Schlafen Sie bei mir und überlegen Sie sich’s!« Und sie entfernte sich, ohne ihm Zeit zu einer Antwort zu lassen.
  Er beschloß, sie vergebens warten zu lassen. Nein, er wird nicht kommen. Sie will Bezahlung von ihm dafür, daß sie sich von ihm beschlafen läßt. Nein, meine Liebe, das denn doch nicht! Er pfeift vor sich hin, ein Couplet, das zur Zeit im Schwang ist. »Auch ein Kahlkopf kann ein schönes Mädchen haben, / Wenn er Geld genug dafür bezahlt.« Norban hat daran gedacht, das Couplet zu verbieten, aber das hat er nicht zugelassen. Nein, er wird nicht zu Lucia gehen.
Eine halbe Stunde später war er bei ihr.
  Doch selbst im Bett konnte sie von ihm nur ein verklausuliertes Versprechen erhalten. Wenn Domitilla keinen Versuch macht, sich in die Erziehung der Knaben einzumischen, dann, das sicherte er ihr zu, werde er sie zurückrufen.
  Im übrigen hatte Lucia, als sie mit ihm schlief, das Gefühl, den Josef mit ihm zu betrügen, wiewohl oder vielleicht gerade weil sie sich des Josef enthielt. Zum erstenmal in ihrem Leben spürte sie dergleichen. War es der Einfluß des Josef? Das also war die »Sünde«, von der sie soviel gehört hatte. Beinahe freute sie sich, nun also auch diese Dinge, Gewissen, Sünde, kennengelernt zu haben.

Als Lucia nach Bajae zurückgekehrt war, schloß sich der Kaiser in sein Arbeitskabinett ein, um zu überdenken, was er nun gesichert und was er preisgegeben habe.
  Er hat sie jetzt in seiner Hut, seine neuen Söhne, welche seine Familie fortsetzen und seinen römischen Gedanken für die Zukunft wahren sollen. Aber ganz gesichert hat er sie noch nicht vor dem Gift Jahves. Er hätte Lucia dieses Versprechen nicht geben dürfen, Domitilla zurückzurufen. Wenigstens hat er Besinnung genug gewahrt, sich Frist zu lassen. Er wird sein Versprechen halten, er steht, der Erzpriester, Eidschützer, zu seinem Wort. Aber erst muß Domitilla sich bewähren. Erst muß sie beweisen, daß sie Ruhe hält, daß sie sich nicht einmischt in die Erziehung seiner jungen Löwen. Das dauert seine Zeit.
  Lucia hat Bezahlung gefordert, er hat sie bezahlt für ihre Umarmung, das war schwach und schamlos. »Auch ein Kahlkopf kann ein schönes Mädchen haben, / Wenn er Geld genug dafür bezahlt.« Ingrimmig pfeift er es vor sich hin. Aber trotzdem: Lucia liebte ihn, das war keine Frage. Wenn er an das Feuer dachte, mit dem ihre Umarmungen ihn erfüllt hatten, dann schienen ihm alle andern Frauen talentlose Huren. Lucia aber war lebendig, sie war ein glühender Mensch, sie war die Frau, die zu ihm, dem Gott, gehörte, und sie liebte ihn.
  Doch wenn sie auch römisch war durch und durch, ganz heil und unberührt hatte sie sich nicht halten können. Etwas von dem Gift dieses Jahve stak auch in ihr. Wiewohl sie ver mutlich lachte über das meiste, was dieser Jude Josef und sein Sohn ihr einzuflüstern suchten, ihnen ihr Ohr ganz zu verschließen, hatte sie nicht vermocht. Jahve, dieser schlaue, tückische, rachsüchtige Gott, hatte sich aber auch Gesandte ausgesucht, wie sie sich besser nicht denken ließen. Dieser Knabe Matthias! Domitian sah ihn im Geiste vor sich, die brennenden, fliegenden und dennoch heitern und unschuldigen Augen, er hörte seine junge, tiefe Stimme. Wenn er, Domitian, ein Knabe wäre, er selber hätte sich diesem Matthias nicht entziehen können. Geschweige denn die Zwillinge.
  Kein einziges Mal zwar, seitdem sie jetzt mit ihm zusammenleben, haben sie ihm von Matthias gesprochen. Aber Domitian ist argwöhnisch; wahrscheinlich hat Lucia ihnen eingeschärft, sie sollten den Namen des Matthias vorläufig nicht erwähnen. Sie rechnet wohl damit, daß sie, erst wieder in der Nähe, die Bande schon werde neu knüpfen können zwischen seinen jungen Löwen und ihrem jungen Juden.
  Lucia hängt sehr an ihm, an diesem ihrem Adjutanten Flavius Matthias. Nicht als ob in dieser Neigung irgend etwas wäre von verbrecherischer Leidenschaft. Der Kaiser hat scharf beobachtet. Es ist einfach der Glanz des Jünglings, der Lucia anzieht, sie spürt für ihn die Zärtlichkeit einer Mutter, einer ältern Schwester.
  Wie aber steht es zwischen ihr und Josef? Unsinn! Josef ist ein ausgemergelter, abgetakelter Mann an der Schwelle des Alters. Es ist lächerlich, unsinnig, unvorstellbar, daß Lucia, die römische Kaiserin, sich aus den Armen eines Domitian in die Arme dieses Juden stürzen sollte. Nichts ist zwischen Lucia und diesem Josef als die etwas sentimentale und versnobte Freundschaft einer gebildeten Dame zu einem berühmten Schriftsteller.
  Hier ist Enthaltsamkeit, Enthaltsamkeit von ihr zu ihm und von ihm zu ihr. Er selber aber, Domitian, hat nicht widerstehen können, er ist vor Lucia schwach geworden durch Gier, durch Sinnenlust. Er hat sich von seiner Frau, der Kaiserin, der Römerin, der Hure, das Versprechen ablisten lassen, Domitilla zurückzurufen. Er hat sich versündigt gegen seine neuen Söhne, er hat seine Pflicht gegen Jupiter und die Götter seines Hauses verabsäumt. Er muß es gutmachen. Er muß den Feind und seine Brut aus dem Weg räumen, den Josef, der es gewagt hat, ihn zu verhöhnen, ihm die Verse vom Mut ins Gesicht zu schleudern, und diesen Matthias, den Davidssprossen, den Anwärter auf die Weltherrschaft, den Schützling des östlichen Gottes.
  Freilich, seitdem er den Jungen an seinem Tisch gehabt hat, scheint ihm diese Aufgabe noch schwerer. Er muß den Jungen beseitigen, doch wie soll er das anstellen, ohne den berechtigten Groll des östlichen Gottes auf sich herabzuziehen?
  Um diese Zeit suchte Messalin den Kaiser auf, der einzige, der ihm geblieben war, der einzige, bei dem er sich noch Ohr und Herz leihen konnte für seine Sorgen.
  Es war der erste ganz heiße Tag. Südwind war und schwüle Luft; ganz aussperren ließ sich die Schwüle nicht einmal aus dem verdunkelten, mit Kunst gekühlten Gemach, in welchem Domitian den Messalin empfing. Schwer drangen die Gerüche des Gartens herein, ein Springbrunnen plätscherte, gleichmäßig und sänftigend begleitete sein Geräusch das Gespräch der Männer.
  Der Kaiser kam zurück auf seine Begegnung mit den Davidssprossen; er sprach von Einzelheiten dieser Begegnung mit ironischem Wohlwollen. »Die Juden«, schloß er, »können nicht viel Ehre einlegen mit ihren Prätendenten. Kannst du dir zum Beispiel vorstellen, daß so ein alter, ausgedörrter Schriftsteller wie unser Josephus als Messias gute Figur machen würde? Ein Mensch, der nicht einmal ordentlich Griechisch kann?«
  In das stille Plätschern des Springbrunnens hinein klang die sanfte Stimme des Blinden: »Allein dieser Josephus soll einen Sohn haben, gut anzuschauen und auch innerlich wohlgebildet.«
  Es erschreckte den Kaiser, daß also auch in dem andern, wenn nur die Rede auf diesen Gegenstand kam, sogleich die nämlichen sorgenvollen Gedanken auftauchten wie in ihm selber. »Er ist ein hübscher Junge, der Knabe Matthias«, gab er zu, zögernd. Mit einer kleinen Angst wartete er auf die Antwort des Messalin. Eine kurze Weile, ihn aber dünkte sie lang, war nichts im Raum als der gleichmäßige Fall der Wasserstrah len. Dann endlich, in seiner wohlabgewogenen, höflichen Art, sagte Messalin: »Der Himmel hat mir das Augenlicht genommen. Der Herr und Gott Domitian aber hat gute Augen, und er kann beurteilen, ob dieser Knabe Matthias Anmut genug hat, um, da er ein Sproß jenes David ist, die Ruhe und Sicherheit der Provinz Judäa zu gefährden.«
  »Du sprichst von Dingen«, erwiderte der Kaiser und dämpfte seine schrille Stimme so, daß sie beinahe übertönt wurde von dem Springbrunnen, »die anzurühren nicht unbedenklich ist.« Er setzte an, er schluckte, dann entschloß er sich und teilte dem andern sein Geheimnis mit. »Ich habe mit dem Gott Jahve eine Art Waffenstillstand geschlossen«, flüsterte er. »Ich will nicht eingreifen in seine Entscheidungen. Ich will ihn nicht reizen«, und, lauter, fast großartig: »Es soll niemand deshalb gefährdet sein, weil er dem Gotte Jahve angenehm und von ihm ausersehen sein könnte.« Da war es also heraus; sein Herz schlug so, daß er sorgte, der andere würde es trotz des Springbrunnens hören. Ob Messalin ihn verstanden hat? Er fürchtete sich davor, er sehnte sich danach. Gespannt wartete er auf die Antwort des Blinden.
  Da kam sie. »Die Gedanken des Herrn und Gottes Domitian«, sagte er ehrerbietig und dennoch sehr gleichmütig, »sind so erhaben, daß ein Sterblicher sie nie ganz begreifen, daß er sie höchstens ahnen kann. Wir sehen nur Flavius Josephus und Flavius Matthias, Menschen aus Fleisch und Blut. Der Gott Domitian erkennt, was hinter ihnen steht.«
  Es hatte den Domitian verdrossen, daß ihn Norban durchschaute; daß ihn Messalin begriff, war ihm eine Genugtuung. Der Blinde war ein fast ebenbürtiger Geist. Auf wie feine Art hatte er in Worte gefaßt, was er, Domitian, spürte. Ja, die Ahnung des Blinden kam nah heran an seine eigene, hohe, den übrigen verborgene Wirklichkeit. »Du bist sehr weise, mein Messalin«, sagte er, und jetzt klang seine Stimme laut und befreit, »und du bist mein Freund. Im Grunde bist du mein einziger Freund. Vielleicht ist es deshalb, daß du so weise bist. Genauso, wie du es gesagt hast, liegen die Dinge. Es sind leider keine Menschen, gegen die ich zu kämpfen habe, es ist der Gott. Stünde nicht der Gott hinter ihnen, mit dem Hauch meines Mundes bliese ich sie weg. Da du mich so gut begriffen hast, mein Messalin, so begreifst du bestimmt auch dies. Denke nach darüber, denke gut nach und gib mir einen Rat!«
  Wieder war eine lange Weile nichts im Raum als der Springbrunnen. Erregt wartete Domitian, voller Zuversicht. Er war gewiß, der Gute, Getreue wird ihm einen Rat wissen. Da begann denn auch Messalin zu sprechen. Sehr behutsam führte er aus: »Er ist ein Davidssproß und also dein Gegner. Du aber schonst ihn und hassest ihn nicht an, weil er als Davidssproß ein Schützling des Gottes Jahve ist und du nichts zu tun haben willst mit diesem Gotte Jahve. Hab ich die Weisheit meines Herrn und Gottes recht begriffen?« – »Du hast es«, erwiderte Domitian. »Wie aber«, fuhr Messalin fort, »wenn der Davidssproß Handlungen unternähme gegen die Sicherheit des Kaisers oder des Reichs? Würdest du ihn auch dann schonen, Kaiser Domitian, bloß weil er ein Davidssproß ist?« Der Kaiser hatte scharf aufgemerkt. »Du meinst, dann könnte ich ihn bestrafen?« fragte er. »Das Verbrechen«, antwortete Messalin, »daß er ein Davidssproß ist, kannst du nicht bestrafen, denn es ist ein Verbrechen des Gottes Jahve, mit dem du keinen Streit haben willst. Aber jedes andere Verbrechen des Josephus oder des Matthias könntest du bestrafen, denn es wäre das Verbrechen eines Menschen und ginge deinen Streit mit dem Gotte Jahve nichts an. Das ist die Meinung eines gemeinen Sterblichen«, fügte er ehrerbietig hinzu. »Es steht bei dem Gotte Domitian, darüber zu befinden, ob sie schlüssig ist oder nicht.«
  »Dem Jahve bin ich es schuldig«, rekapitulierte heiser Domitian, »seinen Davidssprößlingen ihre Existenz hingehen zu lassen. Dem Jupiter aber bin ich es schuldig, diejenigen zu bestrafen, die sich gegen ihn und gegen mich vergehen. Du bist sehr klug, mein Messalin. Du hast ausgesprochen, was ich selber schon gedacht habe.«
  Der Blinde hielt den Kopf sehr weit vorgeneigt, um die Worte des Kaisers einzutrinken. Eine fast wollüstige Erregung war in ihm. Das ist ein Meisterstück, das er da vollbringt. Man kann blind sein und dennoch ganz genau sehen, welche Schleuse man öffnen muß, damit eine große Flut entfesselt werde. Domitian hat seine Worte in sich aufgenommen. Jetzt wird über eine Reihe von Menschen eine große Flut Unheils hereinbrechen, und er selber in seiner Dunkelheit wird sich daran freuen, daß er es war, der das alles gemacht hat. »Ich danke dem Herrn und Gott Domitian«, sagte er ehrfürchtig, »daß er mich hat hineinschauen lassen in das tiefe und vielfältige Getriebe seiner weisen und maßvollen Gedanken.«
  »Du bist ein ebenso weiser wie treuer Mann, mein Messalm«, erwiderte Domitian. »Du bist es wert, die Faust zu meinen Gedanken zu sein.« Und er entließ ihn in großer Huld.
  Als der Abend herabsank und es kühler wurde, stand der Kaiser vor seinen Tierkäfigen. Herrlich wäre es, wenn der Knabe Matthias schuldig würde! Herrlich wäre es, wenn er, Domitian, Anlaß hätte, den Knaben zu bestrafen! Herrlich wäre es, wenn der Knabe nicht mehr in der Welt wäre! Die Erinnerung an die tiefe Stimme des Knaben peinigte den Kaiser mehr als je die Erinnerung an die schmetternde Stimme seines Bruders Titus.
  Es wäre ein schwerer Schlag für den Juden Josephus, wenn er diesen seinen begnadeten Sohn verlöre. Er wird zu Lucia laufen, er wird heulen und jammern. Der Kaiser Domitian stellte sich vor, wie der Jude Josef heulen und jammern wird, es war keine unangenehme Vorstellung. Herrlich war es, daß geschickte Hände am Werk waren, ein Netz zu spinnen für diesen hübschen und wohlgebildeten Knaben Matthias, den Davidssprossen!
Josephus- Trilogie. Der jüdische Krieg / Die Söhne / Der Tag wird kommen.
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