In dieser Nacht schlief der
Kaiser mit Lucia. »Erinnerst du dich«, fragte er, »was du mir
vorausgesagt hast bei der Verurteilung der Vestalin? Nun, meine
Lucia, wer hat recht gehabt?«
Der Sieg über den Senat füllte Domitian ganz
aus; er bestätigte ihm, daß er sein Priestertum und sein Amt
richtig auffaßte und im Sinne der Götter. Das trug ihn, hob ihn, er
war glücklich.
Er hatte von jeher gerne
gearbeitet, jetzt nahm er es mit seiner Arbeit und mit seinen
Pflichten noch ernster. Früher hatte es der heftige, rastlose Mann
trotz der vielen Strapazen geliebt, sein ungeheures Reich von einem
Ende zum andern zu durchqueren, und ein Jahr hatte ihn in
Britannien gesehen, das nächste an der untern Donau. Jetzt
verbrachte er den größten Teil seiner Zeit im Rat mit seinen
Ministern oder an seinem Schreibtisch.
Er hatte sich ein kleines Zimmer
als Arbeitskabinett gewählt, er mußte, um sich zu sammeln, enge,
geschlossene Wände um sich haben. In der Einsamkeit dieses
versperrten Raumes gelang es ihm, ganz in sein Inneres
hineinzutauchen. Manchmal, in Augenblicken solcher Sammlung,
vermochte er es geradezu körperlich zu spüren, daß er das Herz und
das Hirn dieses gewaltigen und höchst lebendigen Organismus war,
den man vag und abstrakt als Römisches Reich bezeichnete. Ihm
allein, in ihm, war dieses Römische Reich ganz lebendig. Die Flüsse
dieses Reichs, Ebro, Po, Rhein, Donau, Nil, Euphrat, Tigris, waren
seine, des Kaisers, Adern, die Gebirge, die Alpen, Pyrenäen, Atlas,
Haemus, seine Knochen, es war sein Blut, das diese Ungeheuern
Gebiete wärmte und belebte, die Millionen Einzelmenschen waren die
Poren, durch die sein eigenes Leben atmete. Dieses millionenmal
vervielfältigte Leben machte ihn in Wahrheit zum Gott, hob ihn über
alles menschliche Maß hinweg.
Damit aber dieses gewaltige
Lebensgefühl nicht verfließe, mußte er den Rahmen noch strenger und
pedantischer spannen. Starr verfolgte er sein Programm. Daß er
seinen widerspenstigen Senat besiegt hatte, war die erste Strecke
eines Weges gewesen, den er sich genau vorgezeichnet. Jetzt, da er
sich der Hilfe seiner Götter vergewissert hatte, durfte er den
schwierigeren Teil dieses Weges beginnen. Jetzt durfte er sich an
die Aufgabe machen, den unterirdischen Wühlereien ein Ende zu
setzen, mit denen dieser fremde, bösartige und unheimliche Gott
Jahve ihn bedrohte.
Es war nicht etwa so, daß er von
sich aus Jahve hätte angreifen wollen. Ganz und gar nicht, das
stünde ihm, dem Verteidiger der Religion, nicht an. Jahves
Doktrinen sollten weiter Geltung haben: doch nur in Jahves Volk.
Wenn diese Doktrinen aber ihre Grenzen überschritten, wenn sie
begannen, seine, des Domitian, Römer zu vergiften, dann hatte er
die Pflicht, sich dagegen zu verteidigen, diese Doktrinen aus den
Herzen seiner Römer auszubrennen.
Er beriet mit seinen Ministern.
Mit Regin, Marull, Annius Bassus und Norban arbeitete er an dem
Plan, den Osten aus Rom zu verdrängen, ihn in seine Grenzen
zurückzuweisen.
Zunächst ging es um die
Beseitigung Jakobs von Sekanja, des Wundertäters. Jakob galt als
das Haupt der Christen in Rom. Die ganze Stadt nahm Anteil an ihm.
Er ging ein und aus im Hause des Prinzen Clemens. Viele unter den
Senatoren bezeigten ihm und seinen Ideen Interesse, um auf diese
vorläufig noch ungefährliche Art gegen den Kaiser zu manifestieren.
Das Volk blickte in scheuer Ehrfurcht zu dem Wundertäter auf.
Siebzehn Leute hatten mit ihren eigenen Augen gesehen, wie die
lahme Paulina, eine Freigelassene, aufgestanden und gewandelt war,
nachdem er ihr die Hand aufs Haupt gelegt und dazu einige
aramäische Sprüche gemurmelt hatte. Allerdings war diese Paulina am
gleichen Tage gestorben; doch der Vorgang blieb deshalb nicht
weniger ein Wunder, und der Mann, der das Wunder vollbracht hatte,
nicht minder ehrfürchtiger Beachtung wert. Jedenfalls waren der
Kaiser und sein Polizeiminister der Meinung, es wäre besser, wenn
Jakob von Sekanja in dieser ihrer Stadt Rom keine weiteren Wunder
vollbrächte.
Wie aber verhinderte man einen
Mann, Wunder zu vollbringen? Es gebe da, meinte Norban eindeutig,
ein sehr gründliches Mittel.
Schweigend überdachten alle
dieses gründliche Mittel. Dann erklärte Regin, es sei im Falle des
Wundertäters doch vielleicht nicht angebracht, das gründliche
Mittel anzuwenden. Wendete man es an, so sähe es aus, als hätten
die Anhänger der Staatsreligion Furcht vor dem Gotte des
Wundertäters. Was seine Anhänger vermutlich nicht ernüchtern,
sondern nur in ihrem
Aberglauben bestärken werde.
Man könnte vielleicht, schlug
Marull vor, den Wundertäter auffordern, am Hofe des Kaisers Wunder
zu tun. Dann könnte man ihn kontrollieren und entlarven. »Wer sagt
Ihnen«, wandte Bassus ein, »daß ihm dann das Wunder nicht gelingt?«
Der Kaiser aber erklärte bündig: »Ich möchte nicht die Fähigkeiten
des Gottes Jahve in Zweifel ziehen. Ich möchte nur verhüten, daß
der Wundertäter Proselyten macht.«
Marull, durch diese
Zurechtweisung keineswegs gekränkt, meinte, man solle sich zunächst
klar darüber werden, wieweit die Verkündigung der jüdischen Lehre
erlaubt sei und wo sie anfange, Proselytenmacherei und somit
Verbrechen zu werden. »Wenn der Herr und Gott uns seine Meinung
darüber kundtäte«, sagte er, »wäre das eine Gnade für uns alle.«
Der Kaiser liebte derlei formaljuristische Abgrenzungen, und Marull
rechnete darauf, daß es DDD willkommen sein werde, seine Ansichten
über diese Frage zu definieren.
Domitian ergriff denn auch die
Gelegenheit. »Das Judentum«, setzte er auseinander, »ist und bleibt
eine erlaubte Religion. Ich verkenne nicht, daß diese Religion ein
Grundprinzip leugnet, welches alle andern Nationen des Reichs
verbindet, das Prinzip nämlich, daß sich die Gottheit in dem Kaiser
manifestiert. Während alle andern, die Anhänger der Isis und des
Mithras nicht minder wie die der barbarischen Gottheiten der
Germanen und der Briten, sich darin einig sind, daß dem Bild des
römischen Kaisers und seinen Insignien göttliche Verehrung zieme,
wollen die Juden allein diese klare Erkenntnis nicht gelten lassen.
Nun denkt das tolerante Rom nicht etwa daran, ein armes,
halsstarriges Volk, dessen Jämmerlichkeit durch seine ungeheuren
Niederlagen bestätigt ist, mit Gewalt zur Erkenntnis der Wahrheit
zu zwingen.« Er konnte es nach diesem Vordersatz nicht unterlassen,
über seine Lieblingstheorien zu deklamieren, als wäre er im Senat.
»Rom verbietet nicht die Gesinnung. Rom läßt einem jeden seinen
Glauben, auch wenn dieser Glaube ein Irrglaube ist. Es kann ein
jeder seinen Gott haben, und mag dieser Gott noch so merkwürdig
ausschauen. Habe ein jedes Volk seinen Brauch, wenn nur er’s nicht
hindert, uns zu gehorchen«, deklamierte er, und Regin sowohl wie
Marull konstatierten, im Innern lächelnd, daß er sich bis in den
Vers verstiegen hatte. »Da aber«, fuhr Domitian fort, »genau hier
ist die Grenze. Dies eine gestattet Rom
nicht, daß eines andern Volkes Gott in den Bereich seiner, der
römischen Staatsreligion eingreife. Nicht hingehen lassen kann es
Roms Erzpriester, wenn diese östlichen Menschen sich erdreisten,
ihren Aberglauben durch Überredung und Propaganda
weiterzuverbreiten. Sie hatten gefragt, mein Marull, wieweit die
Verkündigung der jüdischen Lehre erlaubt ist. Ich antworte: sich zu
dieser Lehre zu bekennen und ihre Bräuche zu üben ist unbeschränkt
erlaubt allen denen, die zu ihrem Unglück in diesem Volk und dieser
Lehre geboren sind. Nicht erlaubt ist es, diesen Aberglauben durch
Lehre oder gar durch Tat zu verbreiten. Wer einen andern durch
Worte oder gar durch das Beschneidungsmesser zu einem Anhänger der
jüdischen Religion machen will, verstößt gegen die Majestät Roms
und des Kaisers.«
»Das ist klar formuliert«, sagte
Marull. Doch Claudius Regin wandte behutsam ein: »Wenn wir uns zu
diesem Grundsatz öffentlich bekennen, wird man uns dann nicht
wieder vorwerfen, wir hätten Furcht vor diesem Jahve und vor der
Überzeugungskraft seiner Lehre?« – »Vorsicht ist nicht Furcht«,
erwiderte unwirsch Norban. »Wenn ich die Türe meines Hauses
zusperre, so ist das berechtigte Vorsicht, nicht Furcht.« Der
schlichte Soldat Bassus aber erklärte tapfer: »Ich habe Furcht vor
dieser Lehre. Sie wirkt ansteckend. Ich war in Judäa. Ich habe es
erlebt, welche Scheu dieser Gott Jahve und seine Lehre um sich
breitet. Der Tempel, das da, hat meinen Soldaten Furcht gemacht,
sie gelähmt. Es ist nicht gut für die Armee, die Prediger dieser
Lehre auf sie loszulassen.«
Betretenheit war nach diesem
unumwundenen Eingeständnis. »Ich höre solche Worte ungern, mein
Annius«, erklärte Domitian. »Aber sei dem wie immer, ich wünsche
die Verbreitung dieser Lehre nicht, ich will meine Römer vor dieser
Lehre schützen, ihre Verkündigung ist verboten. Ich habe
gesprochen.«
»Was also fangen wir mit unserm
Wundertäter an?« kehrte kurz und sachlich Norban zum Ausgangspunkt
zurück. Marull, mit einem kleinen Lächeln, meinte: »Wenn ich den
Herrn und Gott Domitian recht verstanden habe, dann mag dieser
Wundertäter seine Wunder ruhig weiter verrichten, aber unter seinen
Juden, in Judäa, nicht hier in Rom.« – »Ich danke Ihnen, mein
Marull«, antwortete der Kaiser. »Ich glaube, das ist der rechte
Weg.« Der offenherzige Annius aber murrte: »Die Provinz Judäa ist
nahe, viele Leute aus Rom haben dort zu tun, viele Schiffe fahren
hin. Ich hätte den Mann lieber weiter fort gewußt. Warum ihn nicht
aus den Grenzen des Reichs verbannen? Soll er seine Wunder den
Skythen vormachen oder den Parthern, aber keinem römischen
Untertan.« Alle freuten sich über den schlichten
Soldaten.
Domitian indes gab sich nicht
zufrieden damit, daß man die Debatte eingrenzte auf den Fall des
Jakob von Sekanja. Seine Herren sollten wissen, daß die Aktion
gegen den Wundertäter nur ein erster Schritt auf einem Wege zu viel
Bedeutsamerem sei. Er erklärte: »Damit kein Mißverständnis
aufkomme, präzisiere ich nochmals. Es gibt dreierlei Arten von
Juden. Erstens solche, die, als Juden geboren, sich darauf
beschränken, ihren Glauben auszuüben. Das mögen sie ruhig, sie
werden nicht verfolgt. Zweitens solche, die Propaganda und
Proselyten machen. Deren Gegenwart ist weder in Italien noch in
irgendeiner Provinz des Reichs erlaubt, ihr Aufenthalt ist auf die
Provinz Judäa beschränkt, auch dort unterstehen sie der Überwachung
durch die Polizei. Dann aber«, er sprach langsamer, genießerisch,
»gibt es noch eine dritte Art von Juden, und diese sind, scheint
mir, die schlimmsten.« Er unterbrach sich, kostete die Erwartung
seiner Herren aus und erläuterte schließlich: »Ich meine
diejenigen, welche, in der Staatsreligion geboren, sie verleugnen,
um dem Gotte der Juden anzuhängen und die Göttlichkeit des Kaisers
anzuzweifeln.«
»Womit Klarheit geschaffen wäre«,
sagte trocken Marull. Der praktische Norban aber zog sogleich die
nächsten Folgen. »Wir werden also wohl«, sagte er, »fürs erste
Jakob den Wundertäter verbannen, fürs zweite den Senator Glabrio
unter Anklage stellen.« Die andern sahen hoch. Der Senator Glabrio
war ein friedfertiger Herr, dem man Feindseligkeit gegen das Regime
nicht vorwerfen konnte; daß er sich viel mit exotischer
Philosophie, vor allem eben mit der Doktrin der Christen abgab,
galt den meisten als liebenswürdige Schrulle. Bassus versuchte zu
mildern. »Vielleicht«, schlug er vor, »prozessieren wir zunächst
ein paar kleine Leute aus dem Volk, die dem jüdischen Irrglauben
anhängen; das wäre eine Art Warnung.« – »Ich würde kleine Leute
nicht verfolgen«, gab Regin zu bedenken, »es schädigt nur das
Prestige des Kaisers bei den Massen.« Domitian, mit seinem
bösartigen Lächeln, verfügte: »Glabrio ist klein genug.« – »Ich
werde also das Material gegen den Senator Glabrio wegen Verstoßes
gegen die Staatsreligion zusammenstellen«, erwiderte Norban. »Ja«,
stimmte Domitian bei und tat beinahe gelangweilt, »stellen Sie
zunächst das Material gegen Glabrio zusammen!«
Allen war klar, was dieses
»zunächst« andeutete. Es zielte sehr hoch, es zielte auf des
Kaisers Vetter, den Prinzen Clemens.
Wenn Sabin der Versuchung nicht hatte
widerstehen können, sich in die Verschwörung des Saturnin
einzulassen, so war Prinz Clemens bar jedes politischen Ehrgeizes.
Er verbrachte den größten Teil seiner Zeit fern von Rom auf seinem
etrurischen Landsitz, in der Nähe des Städtchens Cosa, in jenem
altmodischen Landhaus, dem ältesten Besitz der Flavier. Selbst
Norban, gewiß kein Freund des Clemens, konnte dem Kaiser nur
berichten, daß die Tage des Prinzen ausgefüllt seien mit dem
Studium östlicher Philosophie. Die Doktrin der Juden und der Minäer
aber sei berechnet auf die Denkart kleiner Leute, sie predige
Widerstandslosigkeit, fasele von einem Reich, das nicht von dieser
Welt sei, so also, daß man von Clemens keinerlei gefährliche
politische Aktivität zu befürchten habe.
Domitian fand, daß eine solche
Betrachtungsweise seinem Polizeiminister sehr wohl anstehe; er
selber aber, der Zensor Domitian, hatte Wesen und Gehabe dieses
Clemens ganz anders zu werten. Schon wenn ein Irgendwer, ein Mann
des Zweiten Adels oder ein unbedeutender Senator, sich der
Denkweise der Christen näherte, war das verwerflich; denn die
Christen predigten Abkehr von den Dingen dieser Welt, und
Untätigkeit steht einem Mann aus alter römischer Familie schlecht
an. Wenn aber gar Prinz Clemens, Vetter des Kaisers und nach ihm
der erste Mann im Reich, statt sinnvoller politischer oder
militärischer Tätigkeit nachzugehen, diesem Aberglauben anhing und
sich so seinen staatsbürgerlichen Pflichten entzog, dann gab diese
verbrecherische Indolenz ein höchst verderbliches Beispiel. Wie
sollte er, der Herrscher, seine Senatoren zu guten Dienern am
Vaterland erziehen, wenn sein eigener Vetter sich von diesem Dienst
drückte!
Es waren nicht nur nationale und
religiöse Erwägungen so allgemeiner Art, die den Kaiser gegen
Clemens aufbrachten. Vielmehr kränkte es ihn persönlich, daß dieser
faule, untüchtige Bursche Clemens seine, des Domitian,
Göttlichkeit, seine Genialität nicht anerkannte. Nicht etwa, daß
Clemens des Kaisers Göttlichkeit schlechthin geleugnet hätte, er
fand sich sogar bereit, dem Bild des Kaisers zu opfern, wie das
Gesetz es befahl; allein Domitian spürte durch die unnahbare,
lässige Höflichkeit des Prinzen hindurch, wie wenig dieser ihn
achtete. Es war dem Domitian gleichgültig, wenn zum Beispiel diese
armselige Domitilla, des Clemens Frau, ihn mit ihren wilden und
trockenen Augen anfunkelte, es amüsierte ihn mehr, als daß es ihn
verdroß. Des Clemens Mißachtung aber kränkte ihn. Vor allem wohl
deshalb, weil just dieser Clemens der Vater der Prinzen Constans
und Petron war, »der kleinen Löwen«. Die Zwillinge waren jetzt elf
Jahre, sie gefielen dem Domitian immer besser, je größer sie
wurden, seit Julias Tod war er mehr und mehr entschlossen, sie zu
adoptieren. Was ihn an ihnen störte, war lediglich dieser Clemens.
Alles an dem phlegmatischen Manne reizte ihn, er konnte sich nicht
genugtun, ihm ein faules, lahmes Wesen vorzuwerfen, er fand immer
neue tadelnde Worte für ihn, nannte ihn bequem, bleiern, bummelig,
dumm, energielos, fahrlässig, faul, kaltblütig, lahm, matt, müßig,
saumselig, schlaff, träge, indolent. Doch eben an dieser Indolenz
prallten alle Beschimpfungen des Kaisers ab. Clemens kam, wenn ihn
Domitian zu sich entbot, er hörte sich des Kaisers Tadel höflich
an, versprach Besserung, ging zurück auf sein Landgut und blieb der
alte. Domitian hätte dem Vater seiner kleinen Löwen eine
Verschwörung gegen sein Leben verziehen; diesen passiven Widerstand
ertrug er nicht.
Clemens selber beschäftigte sich
viel weniger mit dem Kaiser als dieser sich mit ihm. Der Prinz war
kein scharfer Denker. Mit seinen vierzig Jahren wirkte er noch sehr
jugendlich, die zarte Haut, die blaßblauen Augen unter dem hellen,
aschblonden Haar verstärkten den Eindruck des Knabenhaften,
Unentwickelten. Doch wenn der Prinz auch langsam von Urteil war,
seicht war er nicht. Was er einmal begriffen hatte, das wälzte er
in seinem Innern um und um und betrachtete es so lange, bis es sich
tief in ihn eingesenkt und sich tief mit seinem Wesen verbunden
hatte.
Was ihm von den Lehren der
Christen den stärksten Eindruck machte, das waren die dunkeln
Weissagungen der Sibyllen. Die Götter, die jetzt als Götter verehrt
würden, hieß es in diesen vieldeutigen Versen, seien nichts als die
abgeschiedenen Geister alter Könige und Helden. Doch die Herrschaft
dieser längst Toten gehe zu Ende. Auch Rom verehre solche Toten,
und auch Rom werde deshalb fallen. Seine Herrschaft werde abgelöst
werden von der Herrschaft des Messias. Noch sei Roms Arm stark,
stark jede Sehne und jeder Knochen, aber das Herz dieses starken
Körpers sterbe ab, versteinere und könne den Gliedern kein Leben
mehr einhauchen. So machtvoll dieses Wesen scheine, es gehe von ihm
eine tiefe Trauer aus. Seine Ausdünstung lähme die ganze Welt,
keine Ruhe und keine Freude sei mehr in dieser Welt, befriedigte
Lust befriedige nicht mehr, eine tiefe Sehnsucht nach anderem fülle
alles Lebendige.
Gedanken und Gefühle solcher Art
beschäftigten das einfache Gemüt des Prinzen. Er war von Natur
freundlich, ja heiter. Doch er sah das, was auf dem Palatin und im
Senat geschah, unter dem Aspekt der sibyllinischen Orakel, es
schien ihm sinnlos und tot, und dieses Tote lastete auf der ganzen
Welt und erdrückte Leben und Glück. Daß er ein Teil dieses Toten
sein mußte, machte ihn melancholisch. Immer tiefer verstrickte er
sich in die Welt Jakobs des Wundertäters und der Sibyllen, immer
schwerer fiel es ihm, seinen Repräsentationspflichten am Hofe und
in der Stadt zu genügen, immer mehr sehnte er sich danach, sich für
immer vom Palatin zurückziehen zu dürfen und still auf seinem
Landgut zu leben mit Domitilla und den Kindern und mit den Büchern
und Lehren des östlichen Glaubens.
So also sah es in dem Prinzen
Clemens aus um die Zeit, da Domitian, gestärkt durch seinen Sieg
über den Senat, sich entschlossen hatte, den Gott Jahve nicht
weiter in sein Bereich vordringen zu lassen.
Fürs erste wurde des Clemens
Freund und Lehrer von ihm fortgerissen, Jakob von Sekanja. Prinz
Clemens hatte viele Freunde und Bekannte in die Verbannung gehen
sehen, aber nie hatte er es erlebt, daß ein Mann das
Verbannungsurteil mit so stiller Zuversicht auf sich nahm wie
Jakob. Das Leben in dem kleinen Ort Judäas, den er fortan nicht
wird verlassen dürfen, wird nicht leicht sein. Er wird dort leben
müssen als einziger Christ unter Heiden und Juden, gehaßt von
beiden, in höchster Dürftigkeit, seines Vermögens beraubt und unter
dem Verbot, daß Freunde ihn besuchen oder beschenken dürfen. Aber
er ertrug das ohne Auflehnung, er ging in Elend und Verbannung, als
ginge er einer freudigen Zukunft entgegen.
Dann kam der Prozeß und die
Hinrichtung des Senators Glabrio, und wenn sich auch Clemens und
Domitilla wenig um die römischen Dinge kümmerten, so mußten sie
doch erkennen, daß die Gefahr jetzt nach ihnen selber griff.
Domitilla sprach dem Clemens davon mit der dürren Klarheit, die ihr
eigen war. Sie selber hatte sich für stark im Glauben gehalten,
aber jetzt, da ihr die Gegenwart und die Unterweisung Jakobs
fehlte, war sie nicht gewillt, ohne weiteres zu dulden, sondern
entschlossen, sich mit aller Kraft gegen das drohende Schicksal zu
wehren. Um so mehr erstaunt war sie, als sie hierbei auf den
entschiedenen Widerstand des Clemens stieß. In ihm hatten die
Verbannung Jakobs und die Hinrichtung Glabrios eine verbissene
Märtyrerstimmung erzeugt. Nicht etwa als ob er hochmütig geworden
wäre. Er fühlte sich nicht berufen, mit eigener Hand nach der Krone
des Märtyrers zu greifen und durch eine Demonstration die Rache des
Kaisers auf sein Haupt herabzuziehen. Er war vielmehr gewillt,
weiter zu leben wie bisher, dem Kaiser nicht zu widerstreben, sich
ihm willig zu fügen, aber er war auch ebenso fest entschlossen,
keinen von den Rettungsversuchen zu unternehmen, die ihm Domitilla
vorschlug. Was immer geschehen wird, er wird sich dem Los nicht
entziehen, das ihm die Gottheit bestimmt hat.
So also wartete er. Er wußte, daß
DDD seine Entschlüsse sehr langsam reifen ließ und daß er also
vielleicht sehr lange werde zu warten haben. Da aber ereignete es
sich, daß er, in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Quintilian,
selber das Martyrium herbeirief, das über ihn zu verhängen er der
Gottheit hatte überlassen wollen.
Es kam dies so: Domitian hatte
gewünscht, daß seine künftigen Adoptivsöhne römisch erzogen würden,
und hatte ihnen zu diesem Zweck den Quintilian zum Lehrer gegeben,
den großen Redner, den ersten Stilisten der Epoche. Quintilian
hatte Weisung, den Knaben alles fernzuhalten, was künftigen
Herrschern des Römischen Reichs nicht angemessen sei, andernteils
aber Zusammenstöße mit den Eltern zu vermeiden. So widerspruchsvoll
diese Weisungen klangen, es war dem Quintilian, einem stattlichen,
höflichen, sehr würdigen, geschmeidigen und doch sehr bestimmten
Herrn, geglückt, sie zu befolgen. Es wurde auf eine höfliche und
sehr faire Art ein stiller Kampf geführt zwischen den Eltern der
Knaben und ihrem Lehrer, und ohne daß sich Quintilian geradezu
zwischen die Eltern und Kinder stellte, brachte er es gleichwohl
zuwege, ihnen die Knaben auf behutsame, schwer faßbare Art zu
entfremden.
Mehrmals machte Clemens den
Versuch, sich mit dem Lehrer seiner Kinder offen
auseinanderzusetzen. Aber er war dem gewandten Redner und Stilisten
keineswegs gewachsen, und bei einem dieser Gespräche geschah es
auch, daß er sich gegen seinen Willen dazu hinreißen ließ, so
unvorsichtige Worte zu gebrauchen, daß sie dem Kaiser endlich eine
Handhabe gegen ihn boten.
Quintilian hatte erklärt, es sei
mehr sein Ziel, den Kindern das Nützliche als ihnen das Wahre
beizubringen. Ein guter Lehrer, fand er, dürfe selbstverständlich
seine Schüler mit Lügen füttern, wenn das zu einem edeln, das heißt
zu einem lateinischen oder römischen Zwecke geschehe. »Ich habe«,
sagte er, »als Redner vor Gericht niemals Bedenken getragen,
zweifelhafte Behauptungen vorzubringen, wenn ich keinen andern Weg
sah, um die Richter für die gute Sache zu erwärmen.« – »Wissen Sie
immer so genau«, konnte sich da Prinz Clemens zu fragen nicht
enthalten, »was die gute Sache ist?« – »In unserm Fall«, erwiderte
Quintilian, »weiß ich es genau. Vor den Prinzen Constans und Petron
ist mir jede Behauptung gut und recht, welche dazu beitragen kann,
sie zu flavischen Herrschern zu erziehen. Die gute Sache, der ich
zu dienen habe, ist der Bestand und die Herrschaft der flavischen
Dynastie.« – »Ich beneide Sie um Ihre Sicherheit«, erwiderte darauf
Clemens, und: »Die gute Sache«, fuhr er nachdenklich fort. »So
viele verstehen darunter soviel Verschiedenes. Ich zum Beispiel
weiß gewiß: die Herrschaft der Flavier wird versinken, und ebenso
gewiß kenne ich ein andres Reich, das bleiben wird.«
Auf diese höchst unrömische
Äußerung, die zudem in schlampigem Latein vorgebracht war,
erwiderte Quintilian nichts mehr. Clemens aber fragte sich
sogleich, wozu eigentlich er diese Äußerung getan habe, sie war ein
überflüssiges Bekenntnis, eine jener nutzlosen Demonstrationen, die
Jakob der Wundertäter und Domitilla streng verurteilten. Denn über
die Gottheit und über die Wahrheit zu sprechen hatte Sinn nur vor
Menschen, die für diese Wahrheit empfänglich waren.
Reuig erzählte er Domitilla von
dem Vorgefallenen. Sie erschrak. So dringlich hatte Jakob, bevor er
in die Verbannung ging, ihnen eingeschärft, sie sollten sich nicht
vordrängen zum Martyrium, sie sollten klug wie die Schlangen sein
und bestrebt, die Herrschaft Jenes, des Antichrist, zu überleben.
Aber davon ließ sie nichts verlauten, auch klagte sie nicht; um so
tiefer ergriffen den Clemens die wenigen ergebenen Worte, die aus
den schmalen Lippen der geliebten Frau kamen.
Er bereute ehrlich seine
unbedachte Äußerung. Aber wenn dadurch, wie es wahrscheinlich war,
sein Schicksal beschleunigt werden sollte, so war ihm das im Grunde
willkommen. Immer mehr war er des wüsten, ruchlosen Getriebes
ringsum müde geworden, und es kostete ihn nichts, aus dieser
leeren, lästigen Welt fortzugehen. Er war bescheiden von Natur, er
glaubte sich nicht berufen, doch wenn die Gottheit auch ihn
ausersehen haben sollte, für sie Zeugnis abzulegen, dann hätte also
sein »faules, indolentes Leben« mehr Sinn gehabt und würde stärker
in die Zukunft hineinstrahlen als das rastlose, tatenvolle DDDs.
Dieser Gedanke machte ihn lächeln. Seine Erwartung dessen, was DDD
beschließen werde, nahm immer mehr die Form einer zuversichtlichen
Freude an, und wenn Domitilla bangte, so wartete Clemens mit hohem
Gleichmut.
Etwa zwei Wochen nach jenem
Gespräch mit Quintilian gab ein Kurier auf dem Gute bei Cosa ein
Handschreiben ab, in welchem Domitian den Clemens in besonders
freundschaftlichen Wendungen ersuchte, er möge sich bald auf dem
Palatin einstellen, der Kaiser sehne sich nach einem vertraulichen
Gespräch. Domitilla erblaßte tief, ihre hellfarbigen Augen starrten
verloren vor sich hin, ihr schmaler Mund war nicht fest geschlossen
wie gewöhnlich, die Lippen waren ihr trocken geworden, und sie
hielt sie leicht geöffnet. Clemens wußte genau, was sie dachte.
Derartige vertrauliche Unterredungen mit dem Kaiser nahmen selten
einen guten Ausgang, auch mit Sabin hatte DDD eine lange und
besonders liebenswürdige Unterredung gehabt, bevor er ihn sterben
ließ.
Es war dem Clemens sehr leid, daß
Domitilla so gar nichts empfand von der freudigen Ruhe, die ihn
erfüllte. Das helle, zarte Gesicht des Vierzigjährigen schien noch
jünger als sonst, als er von ihr Abschied nahm, es war von einer
fast heiteren Sammlung. Er küßte die Zwillinge auf die reinen
Stirnen, er strich ihnen über die sanften Haare. Meine kleinen
Löwen, dachte er, so hatte er also auch von Domitian etwas
gelernt.
Domitian empfing den Vetter im Schlafrock. Er
hatte ihn mit Ungeduld erwartet, er versprach sich einiges von
dieser Unterredung. Er liebte dergleichen Gespräche. Denn es war,
wie Clemens und Domitilla vermutet hatten: nach der
verbrecherischen Äußerung des Vetters fühlte sich Domitian vor sich
selber, vor den Göttern und vor Rom berechtigt, die Atmosphäre um
die Knaben, seine künftigen Nachfolger, zu reinigen, und er hatte
sich deshalb entschlossen, Clemens sterben zu lassen und Domitilla
in die Verbannung zu schicken. Vorher aber wollte er sich mit dem
Vetter auseinandersetzen. Und weil die Stunden, da er sich mit
denen auseinandersetzte, denen er den Tod bestimmt hatte, seine
besten Stunden waren, hatte er sich gelockert, um die Unterredung
ganz zu genießen, und empfing den Clemens mit großer Wärme.
Zunächst fragte er ihn aus, wie
es auf seinem Gut stehe, wie man sich dort abgefunden habe mit den
Veränderungen, welche sein Gesetz über die Einschränkung des
Weinbaus zur Folge gehabt habe. Dann kam er zurück auf seine alten
Klagen darüber, daß Clemens einen so großen Teil seiner Zeit auf
dem Lande verbringe und sich auf diese Art den Pflichten eines
römischen Prinzen entziehe. Wieder einmal hielt er ihm seine
»Indolenz« vor und wies darauf hin, was alles er selber, Domitian,
unternehme. Vor fünf Tagen erst habe er der Eröffnung einer neuen
Straße beiwohnen können, der großen Straße zwischen Sinuessa und
Puteoli. Sie habe Mühe und Schweiß gekostet, diese Via Domitiana,
aber nun sei sie eben auch da und werde heute und für alle Zukunft
vielen Millionen Menschen das Leben leichter machen.
»Ich gratuliere Ihnen«,
antwortete Clemens. »Aber«, fuhr er nachdenklich fort, ohne Spott,
»glauben Sie nicht, daß es wichtiger wäre, den Millionen einen
leichteren und schnelleren Weg zu Gott zu schaffen als nach
Puteoli?«
Sich rötend, mit zornigen Augen,
beschaute Domitian den Vetter. Schon war er im Begriff, ihn
niederzuschreien und niederzublitzen, aber dann erinnerte er sich,
daß er im Schlafrock war, gerade weil er sich vorgenommen hatte,
nicht Jupiter gleich zu sein, sondern sehr menschlich. Auch hatte
Clemens zweifellos gar nicht die Absicht gehabt, sich über ihn
lustig zu machen, sondern es war nichts als die gewohnte Stumpfheit
und Blödheit, die ihn den dummen Satz hatte sprechen lassen.
Domitian also bezwang sich. Es ging ihm ja nicht etwa darum, den
Vetter zu ducken; was er von ihm wollte, das war, daß Clemens ihm
zugebe, er sei im Recht. Denn während der Kaiser früher stolz
darauf gewesen war, daß ihm allein Erkenntnis zuteil geworden, und
während er diese Vereinzelung als eine Auszeichnung empfunden
hatte, mit der die Gottheit ihn begnadet, bedrückte ihn jetzt die
Verständnislosigkeit, die er rings um sich fand. War es wirklich
unmöglich, auch die andern des Lichtes teilhaftig werden zu lassen?
War es wirklich unmöglich, zum Beispiel diesen Clemens zu
überzeugen? Domitian bezwang sich also, erwiderte auf die dreiste
Frage des Vetters nur: »Lassen Sie doch die albernen Witze, mein
Clemens!« und ging zu einem andern Thema über.
Bequem auf dem Sofa, halb
liegend, halb sitzend, begann er: »Ich habe mir sagen lassen, jene
östlichen Philosophen, mit denen Sie sich in letzter Zeit soviel
abgeben, diese jüdischen, oder genauer wohl diese christlichen
Weisheitslehrer, wendeten sich vor allem an den Pöbel; sie bemühten
sich, dem Niedrigen und Geschlagenen zu helfen, ihre Lehren gelten
der Masse, den geistig Armen, den Millionen. Ist das so?« – »In
einem gewissen Sinne ja«, antwortete Clemens. »Vielleicht spricht
mich gerade deshalb diese Lehre an.« Der Kaiser unterdrückte seinen
Ärger über diese unziemliche Anmerkung, blieb liegen und fuhr fort:
»Nun, ich habe unter meinen Senatoren einige beseitigt, man liebt
es, ihre Namen aufzuzählen. Aber es sind ihrer nicht viele, es sind
an die dreißig, mehr als dreißig kommen nicht heraus, wenn man mir
den Untergang noch so vieler zur Last legt, es ist nicht die Zahl
der Namen, es ist mehr ihr alter Adel, der die Liste meiner ›Opfer‹
gewichtig erscheinen läßt. Andernteils kann niemand bestreiten, daß
ich von dem konfiszierten Vermögen dieser ›Opfer‹ das weitaus
meiste so verwendet habe, daß Hunderttausende, ja Millionen sehr
viel besser davon leben konnten. Ich habe mit diesem Geld
Hungersnöte und Seuchen verhindert oder doch gemindert, desgleichen
Elend und Entbehrung.« Er betrachtete angelegentlich seine Hände
und schloß langsam: »Es wären ohne mein Regime Hunderttausende,
vielleicht Millionen nicht mehr am Leben, und andere
Hunderttausende wären überhaupt nicht geboren worden ohne meine
Maßnahmen, die nur möglich waren durch die Beseitigung der
dreißig.«
»Und?« fragte Clemens. »Nun denn,
merken Sie gut auf, mein Clemens!« antwortete der Kaiser. »Ihr, die
ihr euch das Glück der Niedrigen, das Glück der Massen zum Ziele
setzt, ihr müßtet dann doch Verständnis für mich haben, ihr müßtet
mich ehren und lieben. Tut ihr das?« – »Vielleicht«, erwiderte
freundlich, fast demütig Clemens, »vielleicht verstehen wir unter
Glück und Leben etwas anderes als Sie, mein Domitian. Wir verstehen
darunter ein Leben zur Gottheit hin, eine zuversichtliche
Vorbereitung auf das Jenseits.«
Jetzt aber war es mit Domitians
Gelassenheit zu Ende. »Das Jenseits«, höhnte er, »der Hades.
›Lieber bin ich ein Tagelöhner oben auf Erden / Als im Hades der
Herr der abgeschiedenen Schatten‹«, zitierte er den Achilles des
Homer. »Der Hades, das Jenseits«, ereiferte er sich weiter. »Das
ist es ja, was ich an euch tadle. Ihr wagt es nicht, das Leben
recht anzuschauen, es mit ihm aufzunehmen, ihr faselt von einem
Jenseits, ihr drückt euch, ihr lauft davon. Ihr glaubt nicht an
euch selber und an keinen andern und nicht an den Bestand dessen,
was man schafft. Welche Feigheit, welche Erbärmlichkeit, wenn ein
Flavier zweifelt am Bestand der flavischen Dynastie! Sie wird nicht
zugrunde gehen, sage ich dir!« Und nun stellte er sich kaiserlich
hin trotz des Schlafrocks, und die Arme eckig nach hinten, mit
seiner hohen, scharfen Stimme krähte er dem andern ins Gesicht die
Verse: »›Niemals schwinde ich hin, Vieles von mir für stets /
Trotzt der Verwesung.‹ Wenn schon ein Dichter das von sich sagen
darf, und nicht zu Unrecht, wieviel mehr ein flavischer Kaiser!
Aber was der Verwesung nicht trotzt, was zugrunde gehen wird, weil
es von Anfang an niemals recht da war, das ist das Reich deines
unsichtbaren Messias. In Traumhäusern siedelt ihr euch an, Schatten
schon bei Lebzeiten seid ihr. Rom, das ist das Leben, euer
Christentum aber, das ist der Tod.«
Überraschend, mit der sanften,
scherzhaften Freundlichkeit, die er während dieser ganzen
Unterredung bezeigt hatte, stellte da auf einmal Clemens fest:
»Also willst du mich ins Christentum schicken?«
Diese ruhige, heitere und, wie er
fand, höhnische Feststellung brachte den Domitian vollends aus der
Fassung. Hochrot stand er da, heftig an der Oberlippe saugend. Aber
noch ein letztes Mal bezwang er sich, und, dem andern fast gütig
zuredend, sagte er: »Ich möchte gern, daß du erkennst: ich schicke
dich zu Recht in den Tod.« – »Wenn es deine Götter gibt«,
antwortete immer mit der gleichen unerschütterlichen, unnah baren,
spaßhaften Ruhe Clemens, »dann schickst du mich zu Recht in den
Tod.« Und nach einem ganz kleinen Schweigen, und jetzt mit einer
stillen, eindringlichen Gefaßtheit, fügte er hinzu: »Im übrigen
erweisest du mir einen Dienst.«
Domitian, noch als Clemens längst
tot war, grübelte oft über diese Worte, ob der Mann sie wirklich
geglaubt hatte oder ob sie Pose waren.
ZWEITES
BUCH
Josef
ERSTES KAPITEL
Man fuhr in drei
Wagen. Im ersten saß Mara, die fünfzehnjährige Jalta, der
dreizehnjährige Daniel
und einer der
Leibeigenen, im zweiten war der vierzehnjährige Matthias mit zwei
männlichen Leibeigenen und einem großen Teil des Gepäcks, im
dritten der Rest des Gepäcks und Maras Freigelassene Jarmatja.
Josef ritt neben dem Wagen der Mara, den Zug beschloß sein
Reitknecht. Manchmal nahm Matthias das Pferd des Reitknechts und
ließ diesem seinen Platz im Wagen.
Es war ein schöner Spätherbsttag,
sehr frisch, vom Meer her kam leichter Wind, das starke, helle Blau
des Himmels war gefleckt von ein paar sehr weißen Wolken. Josefs
Laune war froh und bewegt. Damals, vor neun Jahren, als er das Gut
Be’er Simlai gekauft, hat er Mara versprochen, nach Judäa
zurückzukehren, wenn er mit seinem Werk fertig sei. Nun ist es
soweit, die »Universalgeschichte« ist fertig. Aber es ist gut, daß
er eine »Zwischenlösung« gefunden hat, so daß er noch den Winter in
Rom bleiben kann. Mara, Jalta und Daniel mögen jetzt ruhig nach
Judäa vorausfahren, er und Matthias werden im Frühjahr nachkommen.
Er freut sich auf diesen Winter mit seinem Sohne
Matthias.
Er liebt Mara, er liebt sie
herzlich, aber sie leben nun seit fünfundzwanzig Jahren mit kurzen
Unterbrechungen zusammen, sie ist schwieriger geworden während
dieser Zeit, er gibt gerne zu, daß er es ihr auch manchmal sehr
schwer gemacht hat. Es hat sehr lange gedauert, ehe die blinde
Verehrung schmolz, mit der sie an ihm hing, und früher hätte er oft
gewünscht, daß sie selbständiger denken lernte, auch über ihn. Nun
freilich, da es so gekommen ist und da sie seine Schwächen zwar mit
einer fast mütterlichen Nachsicht hinnimmt, ihn aber merken läßt,
daß sie sie durchschaut, wäre es ihm manchmal lieber, es wäre wie
zuvor. Denn manchmal kratzt ihn ihre Kritik sehr, so mild sie
vorgebracht wird. Es ist die Beharrlichkeit dieser Kritik, die ihn
verdrießt; im Grunde weiß er genau, daß sie recht hat, wiewohl
seine geübte Dialektik sie mühelos ins Unrecht setzt.
Vor allem recht hat sie gehabt,
wenn sie die ganzen letzten Jahre hindurch still, doch beharrlich
darauf gedrängt hat, man sollte endlich die Stadt Rom verlassen.
Seitdem der Kaiser seine Ehrenbüste aus dem Friedenstempel hat
entfernen lassen, haben ihn alle seine Freunde wieder und wieder
beschworen, er solle doch fort aus diesem gefährlichen Rom, fort
aus den Augen des Kaisers, des Messalin, des Norban. Johann von
Gischala hat ihm hundert Gründe der Vernunft angeführt, vor denen
seine, des Josef, Argumente nicht standhielten wie vor Mara, und
als dann die neuen Verfolgungen hereinbrachen, hat selbst Justus
ihm erklärt, jetzt noch zu bleiben sei mehr theatralisch als
tapfer. Einmal ist er denn auch wirklich zurückgegangen nach Judäa,
er hat sich sein neues Gut Be’er Simlai genau betrachtet, aber er
hat nur gefunden, daß es unter der ausgezeichneten Obhut seines
alten Theodor Bar Theodor zumindest ebensogut gedeiht wie unter
seinem eigenen Aug, und er ist zurückgegangen nach Rom.
Jetzt ist er froh, daß sich alles
so gefügt hat, daß er diese schlimmen Jahre in Rom verlebt hat,
abseits der Dinge und doch mitten in ihnen. Jetzt also ist sein
Werk fertig, und der Vorwand, mit dem er vor sich selber und vor
Mara sein Bleiben begründet hat, der Vorwand, sein Werk gerate
besser fern von Judäa, ist hinfällig, sein Versprechen ist fällig
geworden. Allein er hätte es einfach nicht über sich gebracht,
jetzt das Schiff zu besteigen, um sich in Judäa zu vergraben. So
hat er denn schließlich die »Zwischenlösung« gefunden, das neue
Argument, mit dem er sein Bleiben in Rom wenigstens noch für eine
Weile begründen kann. Wenn die Universalgeschichte Wirkung tun
soll, hat er sich und Mara vorgemacht, dann sei beim Erscheinen des
Buches seine Gegenwart wichtig, beinahe unentbehrlich; schon dem
Claudius Regin sei er das schuldig, der soviel Liebe, Geduld und
Geld darauf verwandt habe, ihm die Arbeit zu ermöglichen. Das war
ein brüchiges Argument, Mara hatte resigniert und ein wenig bitter
gelächelt, und es waren unbehagliche Minuten gewesen, als er ihr
vorgeschlagen hatte, sie möge vorausfahren, er werde mit Matthias
im Frühjahr nachkommen. Jetzt aber lagen diese unangenehmen Minuten
hinter ihm, man ist nun schon den sechsten Tag unterwegs, morgen,
spätestens übermorgen wird man in Brundisium angelangt sein, das
Schiff wird in See stechen, es wird Mara und die Kinder nach Judäa
tragen, und dann wird es Winter sein, und vor dem nächsten Frühjahr
braucht er nicht daran zu denken, nach Be’er Simlai zu
reisen.
Der Wind rötet und strafft Josefs
Gesicht. Heute sieht man es ihm nicht an, daß er hoch in den
Fünfzigern ist. Er hält das langsame Tempo der Wagen nicht aus, er
reitet ein Stück voran.
Hell klingen die Hufe seines
Pferdes auf der gequaderten Straße. Das muß man diesem Kaiser
Domitian lassen, die Appische Straße ist unter ihm besser gehalten
als je unter seinen Vorgängern. Ein endloser Zug nach der einen
Seite und nach der andern. Josef überholt Wagen und Reiter, und
Wagen, Reiter und Sänften kommen ihm entgegen. Ein Fuhrknecht, wie
er sein Pferd zwischen einem Wagen und einer Sänfte durchzwängt,
ruft ihm zu: »Na, na, nicht gar so eilig! Oder bist du auf der
Flucht vor der Polizei?«, und Josef, gut gelaunt, ruft zurück:
»Nein, aber ich reite zu meinem Mädchen«, und alle
lachen.
Er hält auf einer kleinen Höhe,
er hat den Wagen weit hinter sich gelassen, er wartet. Sein Junge
Matthias kommt heran, er hat es im Wagen wieder einmal nicht
ausgehalten, munter sprengt er auf ihn los, er zwingt dem wenig
stattlichen Pferd einen Galopp ab. Josef freut sich, wie er seinen
Jungen sieht. Groß prescht er heran, er ist mit seinen vierzehn
Jahren schon fast so groß wie Josef selber. Er hat, sein Matthias,
das gleiche hagere, knochige Gesicht, die lange, leichtgekrümmte
Nase, das dichte, schwarzglänzende Haar. Seine Haut ist gerötet vom
Wind, das Haar, wiewohl nicht lang, flattert ein wenig, die
heftigen Augen leuchten in der Freude der raschen Bewegung. Wie ist
er ihm ähnlich, und gleichwohl unähnlich! Matthias hat nichts von
dem Übersteigerten, das ihm so viele Freuden und Qualen verschafft
hat, er hat statt dessen viel geerbt von dem harmlos freundlichen
Wesen der Mutter, von dem Kindhaften, das sie sich bis heute
bewahrt hat. Auch die Offenheit der Mutter hat er, er schließt sich
leicht und freundschaftlich an, doch ohne Zudringlichkeit. Nein, er
ist kein hübscher Junge, denkt Josef, wie Matthias so heranreitet,
im Wind, ohne Hut, eigentlich ist kein Einzelzug seines Gesichtes
hübsch, aber dennoch, wie liebenswert ist er, wie spiegelt sich
sein offenes, knabenhaftes Herz in seinem Antlitz und in seinen
Bewegungen, seine lebendige, naive Anmut! Er ist ein junger Mann
und doch noch ganz ein Kind, es ist kein Wunder, daß die
Freundschaft aller ihm zufliegt. Josef beneidet ihn um dieses
seines kindhaften Wesens willen, und er liebt ihn darum. Er selber
ist niemals ein Kind gewesen, er war mit zehn Jahren altklug und
ein Erwachsener.
Matthias hielt jetzt neben ihm
auf der Höhe. »Weißt du«, sagte er mit einer Stimme, die schon
auffallend tief und männlich aus seinen sehr roten Lippen kam, »das
hält man nicht aus, diesen Schneckengang des Wagens. Ich freue mich
schon darauf, wenn wir zurückreiten, du und ich.« – »Ich bin
neugierig«, antwortete Josef, »ob du, wenn du erst das Schiff
siehst, nicht doch bedauerst, daß du nicht mitfährst.« – »Aber
nein!« erwiderte stürmisch der Knabe. »Ich möchte meine Lehrzeit
nicht in Judäa durchmachen, nicht die bei der Armee und nicht die
bei den Ämtern.« Josef sah das lebendige Gesicht seines Sohnes, und
er war froh, daß er sich entschlossen hatte, ihn in Rom zu
behalten. Jugend, Erwartung, tausend Hoffnungen leuchteten aus den
heftigen Augen des Knaben. »Von der Lehrzeit bei Hofe ganz
abgesehen?« ergänzte Josef den Satz des Matthias. Das war ein wenig
unbedacht, er sah es an der heftigen Wirkung, welche diese Worte
auf den Knaben ausübten. Es war nämlich die Lehrzeit im Heere, die
bei den Ämtern und die bei Hofe der übliche Bildungsgang für die
Söhne der aristokratischen Geschlechter. Die Lehrzeit bei Hofe aber
war nicht leicht zu erlangen, sie galt als hohe Auszeichnung, und
man mußte sehr gute Beziehungen zum Palatin haben, wollte man dort
aufgenommen werden. »Glaubst du wirklich«, fragte Matthias zurück,
und sein ganzes Gesicht war ein einziges begehrliches Leuchten,
»daß das möglich wäre? Würdest du’s mir erlauben? Würdest du’s mir
erwirken?« – »Versprich dir nichts!« versuchte rasch Josef seine
übereilten Worte wiedergutzumachen. »Ich hab es noch nicht zur
Genüge bedacht, ich kann noch gar nichts sagen. Gib dich zufrieden,
mein Matthias, daß du den Winter noch in Rom bleibst! Oder bist
du’s nicht? Genügt’s dir nicht?« – »Doch, doch«, erwiderte eilig
Matthias aus ehrlichem Herzen. »Nur«, bedachte er, und seine Augen
wurden ganz groß, wie er davon träumte, »was wäre es für ein
Triumph, was würde Caecilia dazu sagen, wenn ich zur Lehrzeit bei
Hofe zugelassen würde!«
Josef brauchte seinen Matthias
nicht lange zu fragen, was es mit dieser Caecilia auf sich hatte.
Sie war die Schwester eines Schulkameraden seines Jungen, und sie
hatte ihm einmal im Streit vorausgesagt, er werde am rechten
Tiberufer enden, wo die armen Juden wohnten, als Hausierer. Sonst
hatte Matthias niemals unter seinem Judentum gelitten. Josef hatte
ihn in eine Schule geschickt, wo er der einzige Jude war, es war
vorgekommen, daß seine Schulkameraden ihn um seines Judentums
willen ausgelacht haben. Er, Josef, hätte dergleichen als Junge
kaum verwunden. Er hätte Monate, Jahre darüber gegrübelt, er hätte
diejenigen gehaßt, die ihn ausgespottet. Sein Matthias war über den
Hohn der andern offenbar mehr verwundert als gekränkt, er hat ihn
nicht schwergenommen, er hat sich mit ihnen geprügelt, und er hat
mit ihnen gelacht, und er hat sich alles in allem gut mit den
andern vertragen. Nur die Äußerung dieser kleinen Caecilia ist ihm
haftengeblieben. Aber im Grunde ist das Josef ganz recht. Im Grunde
ist es ihm recht, daß sein Junge Ehrgeiz hat.
Der Wagen kam heran. Josef ritt
eine Weile neben Mara. Er war voll von Zärtlichkeit für sie, er
liebte auch seine andern Kinder, Jalta und Daniel. Wie aber kam es,
daß er sich jetzt seinem Sohne Matthias so tief verbunden fühlte,
mehr verbunden als den andern? Vor einem Jahr noch hat er es im
wesentlichen Mara überlassen, den Heranwachsenden zu erziehen.
Jetzt begreift er das nicht mehr. Jetzt ist in ihm eine kleine
Eifersucht, daß er ihn ihr so lange gelassen hat, und das Herz
schwillt ihm bei dem Gedanken, daß er nun den Winter allein mit ihm
verbringen wird. Wie kommt es, daß man plötzlich eines seiner
Kinder soviel mehr liebt als die andern? Der Herr hatte ihn
gesegnet seinerzeit mit Simeon, dem ersten Sohne der Mara, er aber
hatte sich diesen Segen entgleiten lassen und ihn töricht selber
vertan. Dann hat der Herr ihn bestraft und verflucht mit Paulus.
Nun hat er ihn ein zweites Mal gesegnet, mit Matthias, und diesmal
wird er den Segen nicht vertun. Dieser Matthias wird seine
Erfüllung sein, sein Cäsarion, die vollendete Mischung aus
Griechentum und Judentum. Mit Paulus ist es ihm nicht geglückt,
diesmal wird es ihm glücken.
Am übernächsten Tag dann war man in
Brundisium. Das Schiff »Felix« lag bereit; am nächsten Tag, am
frühen Morgen, wird man in See stechen. Noch einmal, zum
zwanzigsten Male, sprach Josef mit Mara alles durch, was es zu
bereden gab. Empfehlungsbriefe an den Gouverneur in Cäsarea hatte
er ihr bereits ausgehändigt, desgleichen ein Schriftstück mit
wichtigen Anweisungen des Johann von Gischala, die sie mit seinem
Verwalter Theodor nochmals überdenken sollte. Das Wesentliche war,
daß sie sich mit Theodor verstand, damit dieser in dem Knaben
Daniel einen guten Verwalter heranziehe. Daniel war ein ruhiger
Junge, nicht dumm und nicht gescheit, er freute sich auf Judäa und
auf das Gut Be’er Simlai; wenn Josef im Frühjahr selber nach Be’er
Simlai kommt, wird er dort einen guten Helfer vorfinden. Kein Wort
wurde an diesem letzten Tag gesprochen über die persönlichen
Beziehungen Josefs zu Mara. Sie hatten so vieles miteinander
erlebt, Gutes und Böses; Mara, wiewohl sie nicht die tiefe
Menschenkenntnis Josefs besaß und seiner Philosophie nicht folgen
konnte, wußte besser Bescheid um ihn als irgendwer sonst auf der
Welt, und er wußte das, er wußte, daß sie ihn liebte mit einer
fraulichen und mütterlichen Liebe, die jede seiner Schwächen
kannte, sie auf stille Art bekämpfte und sie hinnahm.
Der Knabe Matthias hatte das
Schiff sogleich gründlich durchmustert bis in den letzten Winkel.
Es war ein wackeres Schiff, seetüchtig und geräumig, aber ihm wäre
es viel zu langsam gewesen. Eifrig setzte er das seinem Vater und
seinem Bruder Daniel auseinander; er hoffte sehr, wenn er im
Frühjahr mit dem Vater fahren wird, dann werden sie ein schnelleres
Schiff haben als diese »Felix«. Schnell zu fahren, vor dem Wind,
mit allen Segeln, auf einem schlanken, schmalen, ungeheuer
schnellen Schiff, darauf freute er sich, seine Augen
glänzten.
Am Tag darauf dann war es soweit.
Josef und Matthias standen am Kai, Mara stand an der Reling mit den
Kindern. Noch immer ging der angenehme, belebende Wind, noch immer
waren die geschäftigen, kleinen, weißen Wolken am Himmel. Ringsum,
auf dem Schiff und am Kai, war Geschrei und Betrieb. Langsam dann
drehte sich das Geländer vom Land weg, mit ihm die Gesichter Maras
und der Kinder. Josef stand am Kai und schaute, er schaute
gesammelt, sein Blick trank die drei ganz in sich ein, er dachte an
all das Gute, das er in den vielen Jahren seiner Gemeinschaft mit
Mara erlebt hatte. Ihre Stimme kam vom Schiff. »Komm mit dem ersten
Schiff im Frühjahr!« rief sie, sie sprach aramäisch, und im Wind
und im Geschrei ringsum waren ihre Worte nicht weit zu verstehen.
Und dann war das Schiff schon eine ganze Strecke fort vom Kai, und
der abfälligen Meinung des Matthias zum Trotz fuhr es schnell in
dem günstigen Wind.
Josef schaute nach, bis keine
Gesichter mehr zu erkennen waren, nur mehr der gleitende Umriß des
Schiffes, und während dieser Zeit waren alle seine Gedanken
gesammelt und voll Herzlichkeit bei Mara. Dann aber, kaum hatte er
sich weggewandt, war es, als sei mit dem Anblick des Schiffes auch
sie selber verschwunden, und er dachte nur mehr an den schönen
Winter in Rom, der ihm bevorstand, an den Winter mit seinem Sohne
Matthias.
Es wurde eine fröhliche
Rückreise. Josef und sein Sohn ritten schnell, sie ließen den
Reitknecht auf seinem schlechten Mietklepper weit zurück. Josef
fühlte sich leicht und vergnügt, er spürte nicht seine Jahre. Er
schwatzte mit dem Knaben, und schnell und heiter kamen und gingen
ihm die Gedanken.
Wie liebte er ihn, diesen
Matthias, jetzt in Wahrheit seinen Ältesten! Denn Simeon ist tot
und Paulus unerreichbar noch, als wenn er tot wäre. Mit einem
kleinen Frösteln denkt er daran, daß Mara in das Land fährt, in dem
Paulus lebt, ein Feind jetzt, der schlimmste Feind, der sich denken
läßt.
Aber er hat ja nun seinen
Matthias, den ganzen Winter wird er seinen Matthias haben. Wie
anders ist die Offenheit dieses seines Matthias als seine eigene,
wenn er sich noch so ehrlich geben will! Des Matthias Wesen
schließt die andern auf, es gewinnt ihm die Herzen; er hingegen,
Josef, hat nie maßzuhalten gewußt, und wenn er sich vor einem
Dritten ausschüttet, dann muß er manchmal die Erfahrung machen, daß
dieser Dritte, unbehaglich vor solcher Maßlosigkeit, von ihm
zurückweicht.
Wieso nur ist es gekommen, daß
sich seine ganze Liebe auf einmal auf diesen seinen Sohn Matthias
geworfen hat? Diese ganzen Jahre hat der Knabe neben ihm hergelebt,
und er, Josef, hat ihn eigentlich gar nicht gesehen. Jetzt, da er
ihn sieht, weiß er, daß dieser Matthias keineswegs so begabt ist
wie Paulus oder auch nur wie Simeon. Warum, nachdem sein Plan, den
Paulus zu seinem Fortsetzer und Erfüller heranzuziehen, so schlimm
mißglückt ist, warum glaubt er, daß es ihm mit diesem seinem
Matthias glücken muß? Warum wirft er seine ganze Hoffnung und seine
ganze Liebe auf ihn?
Warum? So fragt auch dieser
Matthias immerzu und sehr häufig dann, wenn kein Sterblicher auf
diese Frage antworten kann. Er, Josef, muß in solchen Fällen den
Knaben mit einer vagen Antwort abspeisen, oder er muß ihm geradezu
bekennen: »Ich weiß es nicht.« Dem Matthias geht es mit ihm, wie es
ihm seinerzeit selber so oft auf der Hochschule in Jerusalem
gegangen ist. Wenn da ein Problem aufgetaucht ist, über das sich
die Doktoren schon seit Jahrzehnten, vielleicht seit Jahrhunderten
gestritten hatten, wie oft dann und gerade, wenn es am spannendsten
und verwickeltsten wurde, hatte er sich mit der Antwort begnügen
müssen: »Kaschja«; das aber wollte besagen: Problem, unentschieden,
nicht schlüssig, vorläufig nicht zu beantworten.
Rascher als man geglaubt hatte,
war man in Rom. Als Josef gebadet hatte, war es Nachmittag, zwei
Stunden vor Sonnenuntergang, noch viel zu früh zur Mahlzeit. So
kurz seine Abwesenheit gedauert hatte, Josef fühlte sich wie ein
Heimkehrer nach langer Reise, er beschloß, die Zeit bis zum Essen
auf einen Gang durch die Stadt zu verwenden.
Vergnügt schlenderte er durch die
belebten Straßen der hellen, in dem starken Herbstlicht
schimmernden Stadt. Nach dem langen Ritt tat es dem Josef wohl,
seine Beine wieder zu spüren. Er fühlte sich leicht und frei wie
seit Jahren nicht mehr. Das Werk war vollendet, keine Pflicht
wartete auf ihn, keine Frau mit stiller, unausgesprochener Mahnung.
Er war ein anderer Mann, die Jahre drückten ihn nicht, ihm war, als
hätte er eine neue Haut und ein neues Herz. Andere Wege als seit
Jahren gingen seine Gedanken. Mit andern Augen sah er auf dieses
ihm doch so vertraute Rom.
Da war er die ganzen Jahre
hindurch in diesem Rom gewesen, täglich, stündlich hatte er diese
Straßen, Tempel, Häuser um sich gehabt, und er hatte gar nicht
wahrgenommen, wie ungeheuer sich das alles gewandelt hat, seitdem
er es zum erstenmal gesehen. Wie er die Stadt damals betreten hat,
das ist unter Nero gewesen, kurz nach dem Brand. Damals war die
Stadt nicht so planvoll geordnet, nicht so sauber, sie war
schlampiger gewesen, dafür aber auch liberaler, vielfältiger,
vergnügter. Jetzt war sie römischer als damals, die Flavier, vor
allem dieser Domitian, hatten sie römischer gemacht. Sie hatte mehr
Disziplin jetzt, die Stadt. Die Buden der Verkäufer füllten nicht
mehr die Hälfte der Straßen, die Sänftenvermieter und die Hausierer
behelligten einen weniger, auch lief man nicht mehr Gefahr, über
Unratkübel zu stolpern oder von einem hohen Stockwerk aus mit Kot
übergossen zu werden. Der Geist des Norban, der Geist des
Polizeiministers, beherrschte die Stadt. Groß und mächtig hob sie
sich, frech und riesig prunkten ihre Häuser, Vergangenes und
Modernes waren mit starker Hand ineinandergefügt, Macht und
Reichtum waren zur Schau gestellt, die Stadt zeigte, daß sie die
Welt beherrschte. Aber sie zeigte es nicht mit der liebenswürdigen
Prahlerei des schlampigen, liberalen, neronischen Rom, sie zeigte
es kalt und drohend. Rom, das war Ordnung und Macht, aber Ordnung
nur um der Ordnung selber willen, Macht nur um der Macht selber
willen, Macht ohne Geist, sinnlose Macht.
Genau erinnerte sich Josef der
Gedanken und Gefühle, mit denen er seinerzeit zum erstenmal diese
Stadt Rom beschaut hatte. Erobern hatte er sie wollen, sie mit List
besiegen. Und in einem gewissen Sinne war es ihm geglückt, freilich
hatte sich dann herausgestellt, daß der Sieg von Anfang an eine
verschleierte Niederlage war. Jetzt waren die Fronten klarer.
Dieses domitianische Rom war härter, nackter als das Rom des
Vespasian und des Titus, nichts war in ihm von dem jovialen Gewese
jenes Roms, das der junge Josef erobert hatte. Es war härter zu
erobern, wer es besiegen wollte, brauchte mehr Kraft; aber da es
seine ganze Macht so unverhüllt zur Schau stellte, täuschte man
sich auch weniger leicht über die Größe der Aufgabe.
Auf einmal erkannte Josef, daß er
plötzlich wie damals als junger Mensch erfüllt war von einem
Ungeheuern Ehrgeiz, von einer brennenden Lust, diese Stadt zu
besiegen. Vielleicht war es deshalb, daß er sich so heftig dagegen
gesträubt hatte, Rom zu verlassen. Vielleicht, wahrscheinlich, war
es die kitzelnde Lust auf diesen Kampf, die ihn hier in Rom hielt.
Denn ausgetragen werden konnte dieser Kampf nur hier. Es war ein
Kampf mit dem Herrn dieser Stadt Rom, mit Domitian.
Nein, ausgetragen war er noch
lange nicht, dieser Streit. Wenn der Kaiser sich so lange still
gehalten hatte, dann nicht etwa, weil er ihn vergessen, er hatte
die große Auseinandersetzung nur aufgeschoben. Aber jetzt nahte sie
heran, und wenn nicht der Kaiser, dann wird er, Josef, sie
herbeiführen. Er spürte es, das war jetzt eine günstige Zeit für
ihn. Er hat sein Werk vollendet, er hat die Universalgeschichte
fertig, sie ist der Kieselstein, mit dem der kleine Josef den
Ungeheuern Domitian fällen wird. Und er spürt in sich neue Kraft,
sie fließt ihm zu aus seinem Sohn, er holt sich neue Jugend an der
Jugend seines Matthias.
So eingesperrt in seine Gedanken
ist er, daß er nichts mehr hört und sieht von dem um ihn. Da aber
weckt ihn Lachen und fröhliches Geschwätz, das aus einem kleinen
Marmorbau dringt, und sogleich ist er nicht mehr der erhitzte,
ehrgeizige Kämpfer, sondern nur mehr der Mann, der, das Werk vieler
Jahre vollendet, vergnügt und der Bürde ledig, durch die große
Stadt schlendert, die er liebt und die trotz allem seine Heimat
geworden ist. Lächelnd selber hört er auf das Lachen und auf das
fröhliche Geschwätz aus dem kleinen Marmorbau. Vierhundert solcher
öffentlichen Latrinen hatte Rom. Jeder Sitz hatte prunkvolle Lehnen
aus Holz oder Marmor, und da saßen sie zusammen, die Römer,
behaglich miteinander schwatzend während der Entleerung. Auf
Komfort verstanden sie sich, das mußte man ihnen lassen. Bequem
machten sie’s sich. Josefs amüsiertes und bitteres Lächeln
vertiefte sich, wie er so das vergnügte Geschwätz der sich
entleerenden Männer aus dem hübschen, weißen Bau herauskommen
hörte. Komfort hatten sie, die Fülle hatten sie, Macht hatten sie.
Alles Äußere hatten sie, alles das, worauf es nicht
ankam.
Ja, Rom, das ist die Ordnung, die
sinnlose Macht, Judäa, das ist Gott, das ist die Verwirklichung
Gottes, das ist die Sinngebung der Macht. Eines kann ohne das
andere nicht leben, eines ergänzt das andere. In ihm aber, in
Josef, strömen sie ineinander, Rom und Judäa, Macht und Geist. Er
ist dazu ausersehen, sie zu versöhnen.
Jetzt aber genug von diesen
Gedanken. Vorläufig will er von alledem nichts wissen. Er hat
lange, schwere Arbeit hinter sich, er will jetzt
ausruhen.
Der Gang durch die Stadt hat ihn
müde gemacht. Wie groß sie ist, die Stadt! Wenn er jetzt zu Fuß
ginge, hätte er noch eine kleine Stunde nach Haus. Er nahm sich
eine Sänfte. Ließ die Vorhänge hinunter, sperrte sich ab von der
Buntheit der Straße, die so heftig auf ihn eingedrungen war.
Rekelte sich im Dämmer der Sänfte, angenehm müde, nichts als ein
müder, hungriger Mann, der ein großes und geglücktes Werk hinter
sich hat und der jetzt vergnügt und mit ungeheuerm Appetit mit
seinem lieben Sohne zu Abend essen wird.
»Ich gratuliere Ihnen, Doktor Josef«, sagte
Claudius Regin und drückte ihm die Hand; es kam selten vor, daß er
einem die Hand drückte, gewöhnlich begnügte er sich, mit seinen
fetten Fingern lässig die Hand des andern zu berühren. »Das ist
wirklich eine Universalgeschichte«, fuhr er fort. »Ich habe viel
daraus gelernt, wiewohl mir doch eure Geschichte nicht ganz
unbekannt war. Sie haben ein vortreffliches Buch geschrieben, und
wir werden alles daransetzen, daß die Welt das erfährt.« Das war
eine ungewöhnlich warme und entschiedene Rede für den sonst so
zurückhaltenden, skeptischen Regin.
Lebhaft erörterte er, was man
unternehmen könnte, um das Werk wirkungsvoll zu publizieren. Das
Technische, Herstellung und Vertrieb, war lediglich eine Geldfrage,
und Claudius Regin war kein Knauser. Aber wo das Technische
aufhörte, begann alles sogleich problematisch zu werden. Wie zum
Beispiel sollte das Porträt des Autors gehalten sein, das man dem
Brauch zufolge dem Buch voranstellen wird? »Ich will Ihnen keine
Komplimente machen, mein Josef«, meinte Claudius Regin, »aber zur
Zeit schauen Sie genauso aus wie ich selber, nämlich wie ein alter
Jud. Mir gefallen Sie ja, so wie Sie jetzt sind, aber das Publikum,
fürchte ich, wird andrer Meinung sein. Wie wäre es, wenn wir das
Porträt ein bißchen stilisierten? Wenn wir einfach den eleganten,
bartlosen Josef von früher hinmalten, natürlich ein bißchen
gealtert? Mein Porträtist Dakon macht so etwas ausgezeichnet.
Übrigens wäre es ganz gut, wenn Sie jetzt auch in Person ein
bißchen mehr den Weltmann Josephus herauskehrten als den
weitabgewandten Stubengelehrten. Es könnte nichts schaden, wenn Sie
sich zum Beispiel den Bart wieder abkratzen ließen.«
Josef nahm die grobfädigen Reden
des Mannes gerne hin, da er die ehrliche Anerkennung durchspürte,
und Regin war ein Kenner. In letzter Zeit ging dem Josef wieder
alles gut hinaus. Das Interesse des Regin verbürgte beinahe den
äußeren Erfolg der Universalgeschichte, und Josef sehnte sich nach
einem solchen Erfolg. Die Zeit, da es ihn gleichgültig gelassen
hatte, daß man seine Ehrenbüste aus dem Friedenstempel entfernte,
war vorbei.
Josef nahm denn auch die gute
Stimmung des Regin wahr, um die andere Angelegenheit zur Sprache zu
bringen, die ihn jetzt beschäftigte, die Lehrzeit des Matthias. Es
war sehr unüberlegt gewesen, daß er dem Jungen Hoffnung gemacht
hatte auf eine Lehrzeit bei Hofe. Helfen in dieser Angelegenheit
konnte ihm eigentlich nur Claudius Regin.
Josef legte ihm also den Fall
dar. Es war nun mehr als ein Jahr her, daß Matthias seine Bar
Mizwah gefeiert hatte, seine Aufnahme in die jüdische Gemeinschaft,
es war an der Zeit, daß er endlich auch die Toga anlegte und damit
zum römischen Mann und Bürger erklärt würde. Bei dieser Gelegenheit
pflegte man zu verkünden, welche Laufbahn der junge Mann
einzuschlagen gedenke. Josef wünschte sich und seinem Sohne, daß
der nicht nur die Lehrzeit im Heer und in den Ämtern, sondern auch
die bei Hofe absolvieren könnte. Es drängte ihn, dem Regin, den er
sich freund wußte, mehr zu sagen. »Ich fühle mich«, erklärte er,
»diesem meinem Matthias mehr verbunden als meinen andern Kindern.
Matthias soll meine Erfüllung sein, mein Cäsarion, die vollendete
Mischung aus Griechentum und Judentum. Mit Paulus ist es mir nicht
geglückt.« Es war das erstemal, daß er das einem andern so offen
zugab. »Er hat zuviel heidnisches Erbteil in sich, der Grieche
Paulus, er hat sich gegen meinen Plan gesträubt. Matthias ist ganz
mein Sohn, er ist Jude und willig.«
Regin hatte den unordentlich
rasierten, fleischigen Kopf gesenkt, so daß die schweren,
schläfrigen Augen unter der vorgebauten Stirn nicht zu sehen waren.
Aber er hatte gut zugehört. »Ihre Erfüllung?« nahm er das Wort auf,
und mit freundschaftlicher Ironie fragte er weiter: »Welcher Josef
soll sich und welcher Josef wird sich in diesem Matthias erfüllen,
der Stubengelehrte oder der Politiker und Soldat? Hat er Ehrgeiz,
Ihr Matthias?« Und ohne seine Antwort abzuwarten, schloß er:
»Bringen Sie mir den Jungen her in den nächsten Tagen! Ich will ihn
mir anschauen. Und dann will ich sehen, ob ich Ihnen einen Rat
geben kann.«
Als dann Josef einige Tage später
mit Matthias in der Villa des Regin vor dem Tore ankam, wohin der
Minister ihn geladen hatte, empfing ihn der Sekretär. Regin war
unvermutet zum Kaiser befohlen worden, hoffte aber, den Josephus
nicht zu lange warten lassen zu müssen. »Hier ist übrigens etwas,
was Sie vielleicht interessieren wird«, meinte mit höflicher
Beflissenheit der Sekretär und zeigte dem Josef das Porträt, das
der Maler Dakon soeben für die Universalgeschichte übersandt
hatte.
Ein wenig geängstigt und
gleichwohl fasziniert, mit glänzenden Augen starrte Josef auf das
Porträt. Aber neugieriger noch beschaute es der Knabe. Der braune,
lange Kopf, die heftigen Augen, die starken Brauen, die hohe,
vielfach gebuckelte Stirn, die lange, leicht gekrümmte Nase, das
dichte, schwarzglänzende Haar, die dünnen, geschwungenen Lippen,
war dieses nackte, stolze, edle Gesicht das seines Vaters? »Wenn
ich es nicht gewußt hätte«, sagte er, und seine Stimme kam tief,
männlich dunkel und so bewegt aus seinen sehr roten Lippen heraus,
daß der Sekretär hochsah, »wenn ich es nicht gewußt hätte, dann
hätte ich gezweifelt, ob du das bist, mein Vater. So also kannst du
sein, wenn du willst.« – »Wir müssen uns der Welt wohl alle ein
wenig anders zeigen, als wir sind«, erwiderte Josef mit einem
Versuch zu scherzen und ein wenig unbehaglich. Fast war ihm bange
geworden vor dem Ehrgeiz, mit dem der Junge den Vater zu
idealisieren trachtete. Im übrigen aber beschloß er, nun wirklich
dem Rate des Regin zu folgen und sich den Bart abnehmen zu
lassen.
Der Sekretär schlug ihnen vor, im
Park spazierenzugehen, bis Regin komme. Es war ein weit angelegter
Garten, noch immer hielt das schöne, klare Herbstwetter vor, es war
ein angenehmer Spaziergang. Die Luft belebte einen, die Gegenwart
seines Sohnes machte den Josef jung und munter, er konnte mit
Matthias sprechen wie mit einem Erwachsenen und doch wie mit einem
Kinde. Was für Augen der Junge hat! Wie lebensfroh schauen sie
unter der breiten, gutgebauten Stirn heraus! Glückliche, junge
Augen, sie hatten nichts gesehen von den Schrecknissen, von denen
die seinen voll waren, sie hatten den Tempel nicht brennen sehen.
Was Matthias vom Leid des Juden zu spüren bekommen hat, das war,
daß ein kleines Mädchen ihn ein wenig hänselte.
Sie gerieten in das Pfauengehege.
Mit knabenhafter Freude beschaute Matthias die prunkvollen Vögel.
Der Wärter kam herbei, und wie er die Anteilnahme sah, mit welcher
der Junge seine Pfauen beschaute, erklärte er den Gästen seines
Herrn umständlich seine Tiere. Im ersten Jahr waren es sieben Vögel
gewesen, fünf stammten aus der berühmten Zucht des Didymus, zwei
waren unmittelbar aus Indien bezogen worden. Es sei jetzt keine
gute Zeit, jetzt hätten die Vögel ihre Schleppe verloren. Erst Ende
Februar, wenn sie balzten, offenbare sich ihre ganze
Pracht.
Der Wärter erzählte, und Matthias
konnte nicht genug hören. Angeregt unterhielt er sich mit dem
Wärter, fragte ihn nach seinem Namen. Es erwies sich, daß er aus
Kreta war und Amphion hieß, und der Knabe brachte ihn dazu, immer
weiterzuerzählen. Matthias streichelte einem der Pfauen die
blauglänzende Brust; der ließ es sich gefallen, das machte auch den
Wärter zutraulicher, und er erzählte, wie schwer man es mit den
Tieren habe. Sie seien anmaßlich, herrschsüchtig und gefräßig.
Trotzdem liebe er seine Vögel mit Leidenschaft. Es gelang ihm, es
dahin zu bringen, daß mehrere der Vögel gleichzeitig ihr Rad
schlugen, und Matthias begeisterte sich an dem Farbenspiel. Es sei
wie eine Blumenwiese, sagte er, die Tausende von Augen erinnerten
ihn an den Sternenhimmel, und er klatschte in die Hände. Da aber
erschraken die Pfauen, und alle auf einmal klappten sie ihre Pracht
und Herrlichkeit zu und stoben mit häßlichem Geschrei
auseinander.
Josef saß müßig auf einer Bank,
hörte mit halbem Ohr zu und stellte im stillen bösartige
Betrachtungen an. Der Pfau, dachte er, sei so recht der Vogel für
dieses Rom: prächtig, schreiend, herrschsüchtig, unverträglich,
eitel, dumm und gefräßig. Gestalt, Schein sei ihnen alles, diesen
Römern.
Daß sein Matthias an dem
Pfauengehege solchen Anteil nahm, störte den Josef nicht. Er war
eben ganz noch ein Knabe, voll von Interesse für alles, was er
Neues sah, und sowenig er von allgemeinen Problemen wissen wollte,
so sehr interessierte er sich für alles gegenständlich Lebendige.
Wohlgefällig sah der stolze Vater Josef, wie gut sein Matthias und
der Pfauenwärter sich verstanden. Er lächelte über den Eifer des
Knaben. Wenn man ihn ansah, dann wirkte er sehr reif, aber das war
eben Täuschung; in Wahrheit war er ganz und gar noch ein
Knabe.
Mit einem kleinen Lächeln auch
nahm Josef wahr, mit welch unschuldigem Begehren Matthias sich
darum mühte, einem so Gleichgültigen wie diesem Wärter zu gefallen.
Matthias war nicht geradezu eitel, aber er wußte um seine Wirkung,
und unbewußt suchte er sich diese Wirkung immer wieder zu
bestätigen.
Dann endlich kam Claudius Regin
auf sie zugewatschelt, seine Geschäfte auf dem Palatin hatten nicht
allzu lange gedauert, er wollte aber jetzt, bevor man sich zu
Tische begab, nach der Fahrt noch ein paar Schritte gehen. Er war
guter Laune, und es zeigte sich bald, daß ihm der Junge gefiel. Er
sprach wieder von dem Werk des Josef, von der Universalgeschichte,
und er fragte den Matthias, was denn nun er zu dem großen Buch
seines Vaters sagte. Matthias, mit seiner tiefen, männlichen
Stimme, erklärte mit bescheidenem Freimut, er sei kein guter Leser,
er habe sehr lange an der Universalgeschichte gelesen, aber
wirklich nahegegangen seien ihm nur die Ereignisse der letzten
Zeit, die Josef geschildert habe. Er habe wohl nicht Verstand
genug, um die frühen Dinge ganz zu begreifen. Er sagte das auf
nette Art, es klang wie eine Entschuldigung, doch verhehlte er auch
nicht, daß ihm sein Mangel an Verständnis nicht sehr zu Herzen
ging. Es war immer so, daß das, was der Junge zu sagen hatte,
durchschnittlich war, nicht besonders gescheit und nicht besonders
dumm, aber immer wirkte es durch die frische und anmutige Art, wie
er es vorbrachte, als etwas Besonderes.
Josef war hergekommen, um dem
Jungen einen Platz im Hofdienst zu erringen, er billigte die Pläne
seines Sohnes, dessen Ehrgeiz. Was des Josef Väter gewesen waren,
Gelehrte, Priester, Schriftsteller, Intellektuelle, und was er
selber war, dazu taugte der Junge nicht, und das war dem Josef
recht. Da er selber sich dafür entschieden hatte, nur das
Kontemplative seines Wesens ausreifen zu lassen, da er den so oft
gespürten Willen zur Tat in sich selber gewaltsam unterdrückt
hatte, warum sollte er nicht jetzt dem Jungen für diesen
Tätigkeitsdrang freies Feld und jede Möglichkeit schaffen? So hatte
er sich’s gesagt, so war es recht und vernünftig. Trotzdem
bedauerte er jetzt, wie er den Jungen so platt und nett über die
Universalgeschichte daherreden hörte, daß ihm der Sinn für das Werk
des Vaters versagt war. Sogleich aber tröstete er sich wieder über
diesen Mangel, als er wahrnahm, wie der Junge dem Claudius Regin
gefiel. Und gleichzeitig in einer Art naiver Berechnung sagte er
sich, daß gerade die natürliche Frische und Unverdorbenheit seines
Sohnes auf dem Palatin Wirkung tun werde.
Man ging zu Tisch. Regin hatte
einen berühmten Koch aus Alexandrien. Matthias aß mit gutem
Appetit, Regin selber raunzte, daß er gehalten war, mit magerer
Diät vorliebzunehmen. Man schwatzte viel, es war eine lustige,
harmlose Unterhaltung, und Josef freute sich, wie schnell sein
Junge auch diesen alten, schwierigen, kauzigen Regin
gewann.
Nach dem Essen, ohne viele
Umschweife, sagte Regin: »Es ist klar, mein Josef, daß Ihr Matthias
die Lehrzeit auf dem Palatin durchmachen muß. Wir müssen darüber
nachdenken, wem wir ihn als Pagen anvertrauen sollen.« Das
bräunlichwarme Gesicht des Knaben rötete sich vor Freude. Josefs
Freude aber, wenngleich er’s sich so gewünscht hatte, war nicht
ungetrübt, denn wenn jetzt Matthias als junger Freund ins Haus und
in den Kreis eines großen Herrn tritt, dann wird er, Josef,
sogleich wieder von ihm getrennt werden, nachdem er ihn so kurze
Weile für sich allein gehabt hat.
Regin, auf seine energische Art,
stellte bereits praktische Erwägungen an. »Der Junge könnte in mein
Haus eintreten«, meinte er, »er würde da nicht schlecht fahren, und
lernen könnte er bei mir auch allerhand. Es gibt viele und
merkwürdige Geschäfte, die der Kaiser mir anvertraut, und Ihr
Matthias würde rasch erkennen, daß auf dem Palatin häufig der
krümmste Weg der schnellste ist. Aber ich bin doch wohl schon ein
zu alter Knacker. Oder was meinst du selber, mein Junge?« – »Ich
weiß es nicht«, antwortete offen lächelnd Matthias. »Es kommt etwas
überraschend, wenn ich frei sprechen darf. Ich glaube schon, daß
wir uns vertragen würden, und Ihr Haus und Park sind einfach
großartig, besonders die Pfauen.« – »Na ja«, antwortete Claudius
Regin, »das hat allerhand für sich, aber ausschlaggebend ist es
nicht. Käme als zweiter Marull in Frage«, überlegte er weiter. »Von
dem könnte er einiges Wertvolle lernen, was ich ihm nicht
beibringen kann, zum Beispiel Manieren. Im übrigen ist Marull der
gleiche alte Knacker wie ich und ebenso unrömisch. Es muß ein
Freund der Ersten Vorlassung sein«, erwog er, »nicht so alt und
kein Judenfeind. Das sind drei Eigenschaften, die sich schwer
zusammenbringen lassen.«
Matthias hörte still zu, wie da
über sein künftiges Schicksal beraten wurde, seine lebendigen Augen
gingen vertrauensvoll von einem der beiden Männer zum andern. »Wann
wollen Sie ihn die Männertoga anlegen lassen?« fragte unvermittelt
Regin. »Wir können noch zwei, drei Monate warten«, gab Josef
Auskunft, »er ist noch keine fünfzehn.« – »Er sieht männlich aus
für sein Alter«, anerkannte Regin. »Ich hätte da nämlich eine
Idee«, erklärte er weiter, »aber man müßte etwas Zeit dafür haben,
man müßte sondieren, Vorbereitungen treffen, man dürfte die
Geschichte nicht überstürzen.« – »Woran denken Sie?« fragte
gespannt Josef, und auch des Matthias Augen, so wohlerzogen stumm
er sich verhielt, hingen gespannt an des Regin Lippen.
»Man könnte vielleicht die
Kaiserin dazu bewegen, daß sie ihn in ihren Hofstaat aufnimmt«,
sagte gleichmütig mit seiner hellen, fettigen Stimme Regin.
»Unmöglich«, schrak Josef zurück. »Nichts ist unmöglich«, wies ihn
Regin zurecht, und er verfiel in ein mürrisches Schweigen. Doch
nicht lange, dann belebte er sich wieder. »Bei Lucia könnte er
allerhand lernen«, setzte er auseinander. »Nicht nur Manieren und
höfisches Wesen, sondern auch Menschenkunde, Politik und etwas, was
es nur mehr bei ihr gibt: Römertum. Von Geschäften ganz zu
schweigen. Ich sage Ihnen, mein Josef, diese Frau mit ihren
Ziegeleien steckt mich neunmal Gewaschenen in die Tasche.« – »Die
Kaiserin«, sagte hingerissen Matthias. »Sie glauben wirklich, daß
das möglich wäre, mein Herr Claudius Regin?« – »Ich will dir keine
Hoffnungen machen«, antwortete Regin, »aber unmöglich ist es
nicht.«
Josef sah das Leuchten auf dem
Antlitz des Matthias. So mochte er selber gestrahlt haben, damals
vor beinahe einem Menschenalter, als man ihm verkündete, die
Kaiserin Poppäa erwarte ihn. Etwas wie Furcht kam ihn an. Aber
gleich schüttelte er sie wieder ab. Dieses Mädchen Caecilia, dachte
er, wird sich auf alle Fälle geirrt haben. Mein Matthias wird nicht
am rechten Tiberufer enden.
Vornächst hatte die
Universalgeschichte trotz der Bemühungen des Regin keinen rechten
Erfolg. Die Mehrzahl der jüdischen Leser fand das Werk zu kalt. Sie
hatten eine begeisternde Darstellung ihrer großen Vergangenheit
erwartet; statt dessen war da ein Buch, das bei Griechen und Römern
darum warb, sie möchten die Juden in den Kreis der zivilisierten
Völker aufnehmen, die eine große Vergangenheit hatten. War das
nötig? Hatten nicht sie, die Juden, eine viel ältere, stolzere
Geschichte als diese Heiden? Mußten sie, Gottes auserwähltes Volk,
demütig darum bitten, nicht als Barbaren angesehen zu werden? Aber
auch Griechen und Römer wurden nicht warm vor dem Werk des Josef.
Viele zwar fanden das Buch interessant, doch sie wagten sich mit
ihrer Meinung nicht heraus. Der Kaiser hatte die Büste dieses
Schriftstellers Josephus aus dem Friedenstempel entfernen lassen;
es war nicht ratsam, sich für ihn zu begeistern.
Eine einzige Gruppe von Lesern
gab es, die das Buch öffentlich und laut zu loben wagten, und das
waren Leute, auf deren Beifall Josef am wenigsten gerechnet hatte:
die Minäer oder Christen. Diese waren gewöhnt, daß, wenn ein Autor
sich mit ihnen befaßte, er sich über sie lustig machte oder sie
angriff. Um so mehr erstaunt waren sie, daß dieser Josephus sie
nicht nur nicht beschimpfte, sondern daß er sogar das Leben und die
Meinungen gewisser Vorläufer ihres Messias mit Achtung darstellte.
Sie fanden, das Buch sei eine profane Ergänzung der Geschichte
ihres Heilands.
Der Mann, dessen Urteil Josef mit
der größten Angst und Spannung erwartete, schwieg. Justus schwieg.
Schließlich bat ihn Josef zu Gaste. Justus kam nicht. Daraufhin
besuchte ihn Josef.
»In den dreißig Jahren, die wir
uns kennen«, sagte Justus, »haben Sie sich nicht geändert und habe
ich mich nicht geändert. Wozu also bedrängen Sie mich? Sie wissen
doch von vornherein, was ich zu Ihrem Buch zu sagen habe.« Josef
aber ließ nicht ab. Er sehnte sich beinahe nach dem Schmerz, den
der andere ihm zufügen werde, und er drängte so lange, bis Justus
sprach.
»Ihr Buch ist lau und
unentschieden, wie alles, was Sie gemacht haben«, erklärte denn
schließlich Justus und ließ das unangenehme, nervöse Kichern hören,
das den Josef so reizte. »Sagen Sie mir: was eigentlich streben Sie
an mit Ihrem Buch?« – »Ich wollte«, antwortete Josef, »daß die
Juden endlich lernen, ihre Geschichte objektiv zu sehen.« – »Dann«,
fertigte ihn Justus scharf ab, »hätten Sie sehr viel kälter
schreiben müssen. Dazu aber haben Sie nicht den Mut gehabt. Sie
haben sich gefürchtet vor dem Urteil der breiten Masse der Juden.«
– »Ich habe weiter«, verteidigte sich mit Verbissenheit Josef, »die
Griechen und die Römer enthusiasmieren wollen für die große
Geschichte unseres Volkes.« – »Dann«, erklärte sogleich und
unerbittlich Justus, »hätten Sie wärmer schreiben müssen, mit sehr
viel mehr Begeisterung. Aber das haben Sie nicht gewagt, Sie haben
Furcht gehabt vor dem Urteil der Kenner. Es ist, wie ich sagte«,
schloß er, »Ihr Buch ist nicht warm und nicht kalt, es ist ein
laues Buch, es ist ein schlechtes Buch.« Die finstere Abwehr auf
Josefs Gesicht riß ihn weiter, erbarmungslos sagte er ihm alles,
was er gegen das Buch einzuwenden hatte: »Niemand weiß besser als
Sie, daß der Zweck, der hinter einer Politik steckt, moralisch sein
kann oder unmoralisch, aber niemals die Mittel. Diese Mittel können
nur nützlich oder schädlich sein im Sinne des angestrebten Zweckes.
Sie aber tauschen willkürlich Maß und Gewicht. Sie legen moralische
Maße an politische Vorgänge, wiewohl Sie ganz genau wissen, daß das
nichts ist als faule, dumme, wohlfeile Konvention. Sie wissen ganz
genau, daß der einzelne moralisch gewertet werden kann, niemals
aber eine Gruppe, eine Masse, ein Volk. Ein Heer kann nicht tapfer
sein, es besteht aus Tapferen und aus Feigen, Sie haben das erlebt,
Sie wissen es, aber Sie wollen es nicht wahrhaben. Ein Volk kann
nicht dumm sein oder fromm, es besteht aus Dummen und Gescheiten,
aus Heiligen und Lumpen, Sie wissen es, Sie haben es erlebt, aber
Sie wollen es nicht wahrhaben. Immer vertauschen Sie, um des
Effektes willen, aus billiger Vorsicht die Gewichte. Sie haben kein
historisches Buch geschrieben, sondern ein Erbauungsbuch für
Dummköpfe. Nicht einmal das ist Ihnen geglückt; denn Sie haben für
beide Teile schreiben wollen und deshalb nicht einmal den Mut zu
jener Demagogie aufgebracht, in der Sie Meister sind.«
Josef hörte zu und verteidigte
sich nicht mehr. So maßlos Justus, der Freundfeind, übertrieb, es
war an seinen Einwänden etwas Richtiges. Dies jedenfalls stand
fest: das Buch, an das er so viele Jahre, so viel Leben gesetzt
hatte, war nicht geglückt. Er hat sich gezwungen, kalt zu bleiben
vor der Geschichte seines Volkes und sie vernünftig zu betrachten.
Damit hat er alles Leben aus diesen Begebenheiten ausgetrieben.
Alles ist halbwahr und also ganz falsch. Wenn er jetzt sein Buch
überliest, dann sieht er, daß alles schief gesehen ist. Die
abgeschnürten Gefühle rächen sich, sie stehen doppelt lebendig
wieder auf, der Leser Josef glaubt dem Schreiber Josef kein Wort.
Er hat einen Grundfehler gemacht. Er hat geschrieben aus der puren
Erkenntnis heraus und häufig gegen sein Gefühl, darum sind weite
Teile seines Buches leblos, wertlos; denn lebendiges Wort entsteht
nur, wo Gefühl und Erkenntnis sich decken.
Dies alles sah Josef grausam
klar, dies alles sagte er sich hart und unverschönt. Dann aber tat
er sein Buch »Universalgeschichte des jüdischen Volkes« ein für
allemal von sich ab. Ob geglückt oder nicht, er hat gegeben, was er
geben konnte, er hat seine Pflicht getan, hat gekämpft, gearbeitet,
sich vieles versagt, jetzt hat er das Werk hingestellt und will,
befreit davon, für sich selber weiterleben. Das Porträt, das Regin
dem Buch vorangestellt hat, hat ihm gezeigt, wie alt er geworden
ist. Er hat nicht mehr viel Zeit. Er will den Rest seiner Kraft
nicht vergeuden in Grübeleien. Soll Justus philosophieren; er will
jetzt leben.
Und es stiegen in ihm auf tausend
Wünsche und Regungen, von denen er geglaubt hatte, sie seien längst
tot. Er freute sich, daß sie nicht tot waren. Er freute sich, daß
er noch Durst spürte, wieder Durst auf Taten, auf Frauen, auf
Erfolg.
Er freute sich, daß er in Rom war
und nicht in Judäa. Er ließ sich den Bart abnehmen und zeigte der
Welt das nackte Gesicht des früheren Josef. Es war härter,
schärfer, aber es war ein jüngeres Gesicht, als er es alle diese
Jahre hindurch gehabt hatte.
Das verwinkelte Haus im Bezirk
»Freibad« wurde ihm jetzt, obwohl Mara und die Kinder fort waren,
auf einmal zu eng und zu dürftig. Er suchte Johann von Gischala auf
und bat ihn, ihm ein elegantes, modernes Haus zu suchen, das er
mieten könnte. Bei dieser Gelegenheit hatte er ein längeres
Gespräch mit Johann. Der hatte die Universalgeschichte aufmerksam
gelesen, er sprach angeregt darüber und mit Verständnis. Josef
wußte natürlich, daß Johann kein objektiver Richter war. Der hatte
ein bewegtes Leben hinter sich, ähnlich wie er selber, er war im
Grunde gescheitert, er war also geneigt, die Geschichte des
jüdischen Volkes ähnlich zu sehen wie er selber und aller
Begeisterung zu mißtrauen. Gleichwohl freute ihn die Anerkennung
des Johann und tröstete ihn ein wenig über die Ablehnung des
Justus.
Er wurde gesprächig, er schloß
sich jetzt, da er allein mit Matthias in Rom lebte, viel leichter
auf als früher. Er erzählte dem Johann von dem, was er mit Matthias
vorhatte. Johann war skeptisch. »Wohl sind die Zeiten noch so«,
meinte er, »daß ein Jude seinen Ehrgeiz befriedigen kann. Sie haben
sehr viel erreicht, mein Josef, gestehen Sie sich’s ruhig ein,
Cajus Barzaarone hat viel erreicht, ich habe einiges erreicht. Aber
ich halte es für klüger, wenn wir das Erreichte nicht zur Schau
stellen, wenn wir den andern unser Geld, unsere Macht, unsern
Einfluß nicht zu deutlich zeigen. Es reizt nur den Neid, und dazu
sind wir nicht stark genug, dazu sind wir zu vereinzelt.« Josefs
Gesicht war froh gewesen, als er dem Johann von seinen Zweifeln und
Hoffnungen berichtete, jetzt erlosch es. Johann sah es, beharrte
nicht, sondern fügte hinzu: »Aber wenn Sie für Ihren Matthias etwas
erreichen wollen, dann müssen Sie unter allen Umständen absehen von
Ihrem Plan, im Frühjahr nach Judäa zu gehen. Mich soll es freuen«,
fügte er artig hinzu, »Sie länger in Rom zu wissen.« Josef sagte
sich, daß Johann ein guter Freund war und mit seinen beiden
Einwänden recht hatte. Wenn er für den Matthias einen der Herren
des Palatin als Freund und Gönner fand, dann mußte er natürlich
länger in Rom bleiben; auch wenn er ein neues Haus bezog, hatte das
nur Sinn, wenn er sich auf einen längeren Aufenthalt einrichtete.
Aber im Grunde war er froh, seine Reise nach Judäa, seine Rückkehr
nach Judäa hinauszuschieben, und es war ihm dafür jeder Vorwand
recht; denn seltsamerweise schien ihm, als bedeute diese Rückkehr
nach Judäa den endgültigen Verzicht auf alles, wozu noch ein wenig
Jugend gehörte, als erkläre er sich durch diese Rückkehr selber und
für immer zum alten Mann. Und was die andere Warnung des Johann
anlangte, daß es unklug sei, äußern Glanz und äußere Ehren
anzustreben, so hatte der Freund damit wohl recht. Aber Josef hatte
das Leuchten gesehen auf dem Gesicht seines Jungen, er konnte es
dem Matthias nicht antun, jetzt von dem Plan abzustehen, dem
Matthias nicht und sich selber nicht.
Das neue Haus war rasch gefunden,
und Josef machte sich daran, es einzurichten. Eifrig half ihm
Matthias, er hatte tausend Vorschläge. Josef war jetzt viel in der
Stadt zu sehen, er suchte Gesellschaft. Während er früher Monate
allein und abgeschlossen verbracht hatte, zeigte er sich jetzt
beinahe täglich im Kreise des Marull, des Regin. Wohlwollend, ein
wenig spöttisch und ein klein wenig besorgt, beobachteten seine
Freunde seine Veränderung. Matthias liebte und bewunderte ihn noch
mehr.
Josef sprach mit Claudius Regin
über die Bedenken des Johann. Regin fand, Johann sei ein kluger
Mann, aber er könne sich in die neuen Zeiten nicht mehr recht
einfühlen und nicht in eine jüdische Jugend, die den Tempel nicht
habe brennen sehen, für die der Tempel und der Staat nichts seien
als eine historische Erinnerung, ein Mythos. Er, Regin, sei in
einem gewissen Sinn ein Beispiel dafür, daß einem Juden auch höchst
sichtbare Macht nicht immer zum Unheil ausschlagen müsse. Josef
hörte dieses Beispiel nicht sehr gern; unter keinen Umständen hätte
er gewollt, daß sein Matthias sein Judentum so weit abtue wie
Claudius Regin. Immerhin ließ er sich von ihm gern in seinem
Vorhaben bestärken und hörte gierig zu, als ihm Regin mitteilte, er
habe bei einigen Wohlwollenden auf dem Palatin herumgehorcht, und
obzwar eigentlich alle zunächst verblüfft seien über die Kühnheit
der Idee, einen Judenjungen zum Pagen der Kaiserin zu machen, so
hätten am Ende gleichwohl die meisten gefunden, daß die Neuheit der
Idee ihre Ausführbarkeit nicht beeinträchtige. Er, Regin, sei also
der Meinung, man könne jetzt ans Werk gehen. Er schlug dem Josef
vor, das Fest der Toga-Anlegung des Matthias öffentlich zu feiern,
auf römische Art, wiewohl das nicht üblich sei, und, um allen
hämischen Anmerkungen von vornherein die Spitze abzubiegen, solle
Josef doch die Kaiserin, die ihm nach wie vor wohlwolle, zu diesem
Fest einladen. Es sei sträflicher Leichtsinn gewesen, daß Josef die
Gunst, die ihm Lucia gelegentlich bezeigt, so wenig ausgenützt
habe. Jetzt aber habe er gute Gelegenheit, das Versäumte
nachzuholen. Er möge der Kaiserin sein neues Buch bringen und sie
bei diesem Anlaß zum Feste des Matthias einladen. Das Schlimm ste,
was ihm begegnen könne, sei eine Ablehnung, und er habe schließlich
schon schlimmere Niederlagen eingesteckt.
Das leuchtete dem Josef ein, ja
ihn lockte der Vorschlag. Er war ein Mann in den späten Fünfzig, es
war nicht mehr wie damals, da er, gespannt in jeder Fiber, zu der
Kaiserin Poppäa gegangen war, aber er war mehr erregt als seit
langer Zeit, als er jetzt vor Lucia trat, sein Buch in der
Hand.
Claudius Regin hatte geschickt
vorgearbeitet, er hatte Lucia unterrichtet von Josefs Veränderung.
Trotzdem war sie überrascht, wie er jetzt mit seinem nackten,
verjüngten Gesicht vor ihr erschien. »Sieh an, sieh an«, sagte sie,
»jetzt ist die Büste verschwunden, dafür hat sich der Mann wieder
in die Büste verwandelt. Ich freue mich darüber, mein Josephus.«
Ihr helles Antlitz, frisch, wiewohl ihre erste Jugend vorbei war,
strahlte offen ihre Freude wider. »Ich freue mich, daß nun das Buch
da ist und daß der frühere Josephus wieder da ist. Ich habe mir den
ganzen Vormittag für Sie freigelassen. Wir müssen endlich einmal
ausführlich schwatzen.«
Den Josef hob dieser warme
Empfang. In seinem Innern zwar spottete er ein bißchen über sich
selber und dachte, er sei als Alternder der gleiche Tor wie in der
Jugend, trotzdem schwoll ihm das Herz beinahe wie damals vor der
Kaiserin Poppäa. »Was mir an Ihnen gefällt«, lobte ihn Lucia, »das
ist, daß Sie bei aller Philosophie und Kunst im Grunde ein
Abenteurer sind.« Das war nun ein Lob, das dem Josef wenig gefiel.
Sie aber, sogleich, deutete ihre Worte aus auf eine Art, die ihm
schmeicheln mußte. Es wolle wenig besagen, meinte sie, wenn einer
zum Abenteurer werde, der aus dem Nichts komme, der also wenig
aufgebe. Wenn indes einer, der von vornherein im Besitz großer
Güter und Sicherheiten sei, sich das Abenteuer auswähle, so beweise
das eine lebendige, unruhige Seele. Solche Abenteurer, nicht von
den äußern Umständen, sondern von der Seele her, seien Alexander
gewesen und Cäsar. Sie selber spüre etwas in sich von einer
Abenteurerin solcher Art, und es bestehe zwischen diesen
aristokratischen Abenteurern aller Zeiten eine heimliche
Genossenschaft.
Später dann bat sie Josef, ihr
aus seinem Buch vorzulesen, und er tat es ohne Umstände. Er las ihr
die Geschichten von Jael, Jezabel und Athalia. Auch las er ihr die
Geschichten der wilden, stolzen und ehrgeizigen Frauen, die um den
Herodes waren und von deren einer er abstammte.
Lucias Anmerkungen überraschten
den Josef. Für ihn waren die Menschen, die er darstellte, nicht aus
der realen Welt, sie agierten auf einer Bühne, die er selber gebaut
hatte, sie waren stilisiert, waren Luftgebilde. Daß Lucia diese
seine Menschen so nahm, als wären sie Menschen aus Fleisch und
Blut, die mitten unter uns herumgingen, das war ihm etwas Neues,
und es störte ihn. Gleichzeitig aber entzückte es ihn, daß er also,
ein kleiner Gott, eine lebendige Welt geschaffen hatte. Er und
Lucia verstanden sich ausgezeichnet.
Es kostete ihn nicht viel Mut,
von seinem Geschäft zu beginnen. Er erzählte von seinem Sohne
Matthias, und daß er ihn in nächster Zeit die Toga werde anlegen
lassen. »Ich habe gehört«, sagte Lucia, »er soll ein netter Junge
sein.« – »Er ist ein großartiger Junge«, erklärte eifrig Josef.
»Was für ein stolzer Vater Sie sind!« sagte lächelnd
Lucia.
Er lud sie ein, der Feier
beizuwohnen, die er aus Anlaß der Bekleidung mit der Toga geben
wollte. Über Lucias Gesicht, das jede Regung spiegelte, ging ein
kleiner Schatten. »Ich bin gewiß keine Feindin der Juden«, sagte
sie, »aber muß es nicht ein wenig befremdlich erscheinen, wenn
gerade Sie dieses Fest auf so demonstrative Art begehen? Ich bin in
der Herkunft unserer Sitten nicht so beschlagen wie Wäuchlein. Aber
ist dieses Fest der Toga-Anlegung nicht vor allem ein religiöser
Akt? Ich finde nicht, daß Römertum und der Dienst unserer Götter
sich immer decken, aber ich bin ziemlich sicher, daß mit diesem
Fest der Toga-Anlegung auch unsere Götter irgendwas zu tun haben.
Ich bin die letzte, mich in Ihre Beziehungen zu Ihren Volksgenossen
einzumischen, doch ich fürchte, auch Ihre Juden werden nicht sehr
glücklich sein, wenn Sie aus diesem Akt soviel hermachen. Ich lehne
Ihre Einladung nicht ab«, fügte sie eilig hinzu, als sie wahrnahm,
daß sich Josef bei ihren Bedenken verdüsterte, »aber als Ihre
Freundin bitte ich Sie, alles gut zu überlegen, bevor Sie sich
endgültig entschließen.«
Daß Lucia Einwände ganz ähnlicher
Art hatte wie Johann, traf den Josef. Aber sein Entschluß hatte
sich mittlerweile nur gefestigt. Er hatte seinen Sohn durch die Bar
Mizwah in die jüdische Gemeinschaft aufgenommen, warum sollte er
ihn nicht durch einen ähnlichen Akt in die römische aufnehmen, der
er nun einmal angehörte? Es schien ihm gleichnishaft, beide
Zeremonien glänzend zu machen, und wenn es zu Mißdeutungen Anlaß
gab, er hatte erfahren müssen, daß alles, was er tat und ließ,
mißdeutet wurde. Auch hatte er dem Matthias dieses Fest nun einmal
versprochen, der freute sich kindlich darauf, und Josef brachte es
nicht über sich, seinem lieben Sohn die ungeheure Enttäuschung zu
bereiten.
Er gab Lucia eine halbe Antwort,
dankte ihr für ihren Rat, versprach, alles noch einmal zu
überdenken, in seinem Innern aber war er fest entschlossen. Zu
Hause, halb im Scherz, halb im Ernst, fragte er den Matthias: »Wenn
einer wissen will, bist du ein Römer oder ein Jude, wie antwortest
du dann?« Matthias, mit seiner tiefen Stimme, lachte: »Frag nicht
so dumm! würde ich antworten. Ich bin Flavius Matthias, Sohn des
Flavius Josephus.« Dem Josef gefiel diese Antwort. Die Bedenken der
andern zerschmolzen ihm mehr und mehr. Sollte er, Josef, weniger
Mut zeigen als der alte Claudius Regin, der keine Gefahr darin sah,
den Jungen auf den Palatin zu schikken?
Die Feier wurde angesetzt. Matthias ging
umher wie auf Wolken. Er lud das Mädchen Caecilia ein. Sie gab eine
ihrer schnippischen Antworten. Er teilte ihr mit, die Kaiserin
werde seinem Fest beiwohnen. Caecilia wurde ganz blaß.
Da Josef alles vermeiden mußte,
was als Dienst einer römischen Gottheit, als Götzendienst, hätte
ausgedeutet werden können, sah er sich gezwungen, bei der Feier
mancherlei Umbiegungen der Zeremonie vorzunehmen. Weder gab es im
Hause des Josef einen Altar der Hausgottheiten, noch trug Matthias
die goldene Amulettkapsel des römischen Knaben, die er an diesem
Altar hätte aufhängen können. So beschränkte sich die eigentliche
Feier im Hause darauf, daß Matthias die verbrämte Toga des Knaben
mit der weißen, reinen des Mannes vertauschte. Diese neue schlichte
Tracht stand ihm großartig, sein junges und doch schon männliches
Gesicht kam heiter und ernst zugleich aus dem einfachen, reinen
Kleide heraus.
Sodann brachten Josef und ein
riesiges Geleite von Freunden, an ihrer Spitze die Kaiserin, den
jungen Mann aufs Forum, an den Südabhang des Capitols, ins Archiv,
damit er dort seinen Namen feierlich in die Liste der mit dem
Bürgerrecht Ausgestatteten eintragen lasse. Es hieß aber der Junge
fortan: Flavius Matthias Josephus. Die Kaiserin steckte ihm den
Goldenen Ring an den Finger, der seine Zugehörigkeit zum Zweiten
Adel auswies.
Während sodann die nichtjüdischen
Gäste des Josef sich in sein Haus begaben, wo das Festmahl
stattfinden sollte, nahmen Josef selber, Matthias und die jüdischen
Gäste eine Handlung vor, von der die Stadt, ja das Reich noch
wochenlang sprechen sollten. Der Brauch verlangte, daß der neue
junge Bürger sich in den Tempel der Göttin der Jugend begab, um
dort ein Geldstück und ein Opfer zu spenden. Da der Jude Matthias
das nicht konnte, ging er, geleitet von seinem Vater und seinen
Freunden, statt dessen in das zuständige Büro des Schatzamtes, ließ
sich in die diffamierende Liste der Juden eintragen und zahlte die
Doppeldrachme, welche die Juden seit der Zerstörung des Tempels
statt für Jahve für den Capitolinischen Jupiter zu entrichten
hatten. Daß Josef die als Schande gedachte Entrichtung der Abgabe
herausfordernd zu einem Festakt machte, ließ viele unter den Juden
es ihm verzeihen, daß er seinen Jungen so demonstrativ zum Römer
erklärt hatte.
Der Kaiserin gefiel Josefs Mut.
Auch Josefs Sohn gefiel ihr. Sie hatte gesehen, mit welch
prinzlicher Anmut er durch die stolze Stunde gegangen war, da sie
ihm den Ring des Zweiten Adels an den Finger steckte; jetzt,
während des Festmahls, ließ sie sich erzählen, daß er sich mit der
gleichen einfachen Anmut der Schmach unterzogen, in die Judenliste
eingetragen zu werden. Der Knabe saß neben ihr. Seine Augen hingen
an ihr in knabenhafter Huldigung, doch er verlor nicht seine
Unbefangenheit. Sie sprach mit ihm. Er wußte offenbar, wie gut ihm
die weiße Toga stand, und er wußte, daß aller Augen auf ihn
gerichtet waren, doch seine Frische und Natürlichkeit litten nicht
darunter.
Claudius Regin hatte Lucia
bereits darauf vorbereitet, daß Josef sie bitten werde, seinen Sohn
in ihren Dienst aufzunehmen. Jedermann mußte sehen, daß ihr der
Junge gefiel, und Josef konnte also gewiß sein, keine Fehlbitte zu
tun. Gleichwohl brachte er sein Anliegen nicht mit der Sicherheit
vor, die ihm sonst eignete, und auch Lucia sagte ihm ihre Gewährung
mit einer seltsam verschleierten Stimme zu, und es war in ihr und
auf ihrem Gesicht eine ungewohnte Verwirrung.
Josefs Herz war heiß von Glück.
Er hatte seinen lieben Sohn auf den Platz gehoben, den er für ihn
erträumt hatte. Aber er war feinhörig, und in all seinem Jubel
vergaß er nicht die Stimmen der Freunde, die ihn gewarnt
hatten.
Matthias war also fortan im Gefolge der
Kaiserin und wohnte die meiste Zeit auf dem Palatin. Es kam, wie
Josef es vorausgesehen; Matthias, der junge jüdische Adjutant der
Lucia, heiterernst, anmutig, jungmännlich, wie er war, wirkte
gerade auf dem Palatin als etwas Besonderes. Man sprach viel von
ihm, viele warben um seine Freundschaft, die Frauen ermunterten
ihn. Er blieb unbefangen, es schien ihm natürlich, daß es so war,
und er machte sich wohl kaum viel daraus; aber er hätte es vermißt,
wenn er weniger in Sicht und weniger umworben hätte leben
müssen.
Daß Matthias jetzt im Gefolge der
Kaiserin war, brachte auch den Josef in viel engere Berührung mit
ihr. Lucia hatte seinen Weg schon mehrere Male gekreuzt, nie aber
hatte er sie mit so empfänglichen Augen gesehen wie jetzt. Das
Strotzende an ihr, ihre heiter-kühne Offenheit, das römisch Helle,
Lebendige, das von ihr ausging, ihre reife, frauliche Schönheit,
das alles drang jetzt viel tiefer in ihn ein als je zuvor. Er war
nun ein alternder Mann, aber mit Erstaunen sagte er sich, daß ihn
seit jenen Tagen, da er sich um Dorion verzehrte, niemals das
Zusammensein mit einer Frau so bewegt hatte wie jetzt seine
Zusammenkünfte mit Lucia. Er verhehlte diese seine Bewegung nicht,
und sie ließ sich das gefallen. Vieles, was er, und vieles, was sie
sagte, war jetzt vieldeutig, es gingen halbe Worte von einem zum
andern, und vieldeutig wurden ihre Blicke und ihre Berührungen. Er
geheimnißte allerlei Gleichnishaftes in diese Beziehung hinein.
Wenn sie ihn dermaßen anzieht, wenn auch sie nicht unempfänglich
ist für ihn, ist das nicht ein Symbol? Zeigt sich da nicht im Bilde
die geheimnisvolle Beziehung zwischen Sieger und Besiegtem? Einmal
konnte er sich nicht enthalten, zu Lucia eine Andeutung dieser Art
zu machen. Doch sie lachte einfach heraus und sagte: »Sie wollen
einfach mit mir schlafen, mein Freund, und daß Sie dahinter so
tiefe Bedeutung suchen, ist nur ein Beweis dafür, daß Sie selber
merken, wie frech Sie im Grunde sind.«
Josef lebte ein heiles, frohes
Leben in dieser Zeit. Er genoß, was ihm zuteil geworden, es schien
ihm viel. Er sah nun Lucia täglich, sie verstanden einander immer
besser, verziehen einer die Schwächen des andern, freuten sich
einer an den Vorzügen des andern. Und an Josefs liebem, strahlendem
Sohn erfüllte sich alles so, wie er’s sich gewünscht hatte. Hell
und rein ging er durch den von so vielen Wirrnissen und Lastern
besessenen Palatin, alle Welt liebte ihn, kein Neid und keine
Feindschaft kamen an ihn heran. Ja, die Gottheit liebte Josef. Sie
zeigte es ihm, da sie ihm jetzt soviel Freuden gab, ehe er
endgültig die Schwelle des Alters überschritten hatte und da er
noch im Besitz der Kraft war, sie zu genießen.
Man sprach viel von Josef und von seinem
Sohne in der Stadt Rom, zu viel, fanden die Juden. Und es kamen zu
Josef im Auftrag der Juden die Herren Cajus Barzaarone und Johann
von Gischala. Besorgt gaben sie ihm zu bedenken, sein Glück, sein
Glanz, wenn er sie gar so sichtbar zeige, würden noch mehr Neid
wecken und noch mehr Feindschaft gegen die gesamte Judenheit. An
sich schon nehme der Haß und die Bedrückung im ganzen Reiche zu.
»Wenn ein Jud glücklich ist«, warnte Johann von Gischala wie schon
einmal, »soll er sein Glück in seinen vier Wänden halten und es
nicht auf die Straße stellen.«
Allein Josef blieb zugesperrt,
trotzig. Sein Sohn Matthias war nun einmal strahlend, und es war
die Eigenschaft des Lichts, daß es sichtbar war. Soll er seinen
lieben Sohn verstek ken? Er dachte nicht daran. Er war vernarrt in
seinen schönen, liebenswerten Sohn und in dessen Glück.
Und er schlug die Worte der
Männer in den Wind, und er genoß weiter, was ihm zugefallen war. Er
pflückte Erfolge, wo und soviel er wollte. Ein Einziges gab es, was
ihn kränkte. Sein Buch, die Universalgeschichte, blieb nach wie vor
ohne sichtbare Wirkung.
Und nun erschien gar noch, und
überdies wie seine eigenen Werke von Claudius Regin publiziert, der
»Jüdische Krieg« des Justus von Tiberias, ein Buch, an dem dieser
Justus Jahrzehnte hindurch gearbeitet hatte.
Josefs eigenes Buch über den
jüdischen Krieg hatte unter allen Prosawerken der Epoche den
stärksten Erfolg gehabt. Das ganze Leserpublikum des Reichs hatte
diesen »Jüdischen Krieg« gelesen, nicht nur um des Stoffes, sondern
vor allem auch um der reizvollen Darstellung willen, Vespasian und
Titus hatten sich für das Werk eingesetzt und seinen Autor hoch
geehrt, das Buch hatte jetzt, ein kleines Menschenalter nach seinem
Erscheinen, bereits den Stempel des Klassischen. Es war also eine
ungeheure Kühnheit, wenn jetzt Justus ein Buch über den gleichen
Gegenstand veröffentlichte.
Josef hatte vor vielen Jahren
einen Teil des Buches gelesen, und er selber und die eigene
Leistung waren klein und erbärmlich vor Justus und dessen Buch. Mit
Angst geradezu las er nun des Freundfeindes vollendetes Werk.
Justus vermied peinlich alle großen Worte und jeden äußeren Effekt.
Seine Darstellung war von einer harten, kristallenen Sachlichkeit.
Auch dachte er gar nicht daran, etwa gegen das Buch des Josef zu
polemisieren. Wohl aber erwähnte er die Tätigkeit des Josef während
des Krieges, seine Handlungen zu der Zeit, da er Kriegskommissar in
Galiläa gewesen war, die Tätigkeit also des Staatsmannes und des
Soldaten Josef. Er stellte nur dar, er enthielt sich jeder Wertung.
Aber gerade in dieser nackten Darstellung, durch sie, erschien
Josef als schierer Opportunist, als armseliger, eitler Bursche, als
Schädling an der Sache, die zu vertreten er übernommen
hatte.
Josef las. Er hatte seinerzeit
eine schillernde Legende über seine Tätigkeit in Galiliäa
konstruiert, er hatte diese Legende kunstvoll in seinem Buche
vorgetragen, er hatte schließlich selber daran geglaubt, und mit
seinem Buch war allmählich auch die Legende seiner Person als
historische Wahrheit anerkannt worden. Jetzt, in dem Buche des
Justus, sah der alternde Mann den Krieg, wie er wirklich gewesen
war, er sah sich selber, wie er wirklich gewesen war, er sah auch
das Buch, das er so gerne hatte schreiben wollen; nur hatte es eben
Justus geschrieben, nicht er.
Das alles sah er. Aber er wollte
es nicht sehen, er durfte es nicht sehen, wenn er weiterleben
wollte.
Voll Spannung wartete er darauf,
was nun mit dem Werk des Justus geschehen werde, was die Leute dazu
sagen würden. Man machte nicht viel Wesens her vom Buche des
Justus. Es gab freilich einige, die die Bedeutung des Buches
erkannten, es waren Leute, auf deren Urteil Josef viel gab, aber
sie waren sehr wenige. Immerhin mußte Josef erleben, daß in den
Augen dieser wenigen das Werk des Justus seine eigene
Schriftstellerei ausstach. Er mußte es erleben, daß dieser Justus,
der seine, des Josef, Tätigkeit verworfen hatte, bei diesen wenigen
als der rechte, letzte, unbestechliche Richter galt.
Josef mühte sich, den bitteren
Geschmack zu vergessen, den ihm diese Erkenntnis verursachte. Er
sagte sich vor, daß er als Schriftsteller verwöhnt worden war wie
kaum ein zweiter unter den Zeitgenossen und daß die Meinung der
wenigen gegen seinen trotz allem wohlgegründeten Ruhm nicht aufkam.
Aber das nützte nichts, der bittere Geschmack blieb. Ja der bittere
Geschmack wurde bitterer. Josef war der Freund und Günstling der
Kaiserin, er hatte seinem lieben Sohne den Platz gewonnen, den
dieser sich und den er für ihn wünschte, er war, sowie er es nur
gewollt, wieder zu einem der Männer geworden, die ganz vornean und
in Sicht waren. Aber der bittere Geschmack verdarb ihm die Freude
an all diesen Freuden.
Er sagte sich, er sei griesgrämig
geworden und alt und vermöge nur mehr das Verdrießliche
wahrzunehmen und nicht das Angenehme. Dann wieder sagte er sich, er
habe sich den Glauben an sich selber und an sein Werk zerstören
lassen durch die maßlose, neidische Kritik des Justus. Er nahm
seine Universalgeschichte wieder vor. Er las einige Kapitel daraus,
die besten, und er sagte sich trotzig, was Justus gegen ihn
vorzubringen habe, sei Unsinn.
Aber es blieb schließlich die
Tatsache, daß die Universalgeschichte, an die er soviel Mühe gelegt
hatte, trotz aller Bemühungen des Regin kein rechter Erfolg
geworden war. Er war gewohnt an die Zufälligkeiten äußeren Erfolgs
und Mißerfolgs, aber gerade jetzt brauchte er Bestätigung von außen
her, gerade jetzt brauchte er auch literarischen Erfolg. Alle seine
andern Erreichnisse nützten ihm nichts. Das einzige, was ihm helfen
könnte, wäre ein Widerhall der Universalgeschichte, ein lauter
Widerhall, der die Stimme des Justus übertönt hätte. Er mußte
Bestätigung haben, jetzt, schon um seines lieben Sohnes willen, um
diesem weiterzuhelfen.
Verbissen, anklägerisch fragte er
den Regin, woran es liege, daß es mit dem Erfolg der
Universalgeschichte so gar nicht vorangehen wollte. Regin, etwas
maulfaul, erklärte ihm, das große Hindernis liege im Verhalten des
Kaisers. Diejenigen, auf die es ankomme, wagten nicht recht, sich
zu dem Werk zu äußern, solange man nicht wisse, was der Kaiser dazu
sage. Selbst wenn DDD sich gegen das Werk erklärte, so wäre das ein
Vorteil; denn dann hätte man wenigstens die Opposition für sich.
Aber DDD, tückisch, wie er nun einmal sei, schweige, er äußere sich
nicht einmal ablehnend, er äußere gar nichts. Er, Regin, habe
versucht, dieses feindliche Schweigen zu brechen. Er habe Wäuchlein
gefragt, ob ihm Josef das Werk überreichen dürfe. Aber Wäuchlein
habe über die Frage weggehört, wie nur er das könne, und weder ja
noch nein gesagt.
Verdrossen und finster hörte
Josef zu. Wieder stiegen in ihm die Gedanken hoch, mit denen er
damals nach Rom zurückgekehrt war, als er Mara nach Judäa geschickt
hatte. Damals hatte er sich gefreut auf den Kampf mit Domitian, auf
den Kampf mit Rom. Er hatte eine neue Jugend in sich gespürt, und
er hatte geglaubt, in seinem vollendeten Buch eine neue Waffe zu
haben. Nun aber wich der Kaiser dem Kampfe aus. Er stellte sich
einfach nicht.
Was Regin weiter sagte, war nur
geeignet, diese Meinung Josefs zu bestätigen. DDD, erzählte nämlich
Regin, habe des Josef Namen seit ewiger Zeit nicht in den Mund
genommen. Das sei merkwürdig. Er habe doch bestimmt gehört von
Josefs neuer Freundschaft mit Lucia, von der herausfordernden Art,
wie Josef seinen Sohn in die Judenliste habe eintragen lassen, und
von dem neuen jüdischen Pagen der Lucia. Wenn übrigens der Kaiser
nicht daran denke, seine Macht zu brauchen und den Josef glattweg
zu vernichten, dann sei von DDDs Standpunkt aus diese Taktik die
klügste. Denn sein Schweigen, DDDs Schweigen, verbreite Schweigen
rings um das Buch, Schweigen, in dem das Werk zuletzt ersticken
müsse.
Josef überlegte, was er tun
könnte, um dieses hinterhältige Schweigen zu brechen, um den
Kaiser, den Feind, aus seinem Hinterhalt herauszulocken, ihn zu
zwingen, sich zu stellen. Es war Sitte, daß beim Erscheinen eines
Werkes der Autor in großer Öffentlichkeit daraus vorlas. Josef
hatte das bei der Publikation des Werkes nicht gewollt, es war da
in ihm noch zuviel gewesen von der Luft, innerhalb deren die
Universalgeschichte entstanden war. Der Josef, der die
Universalgeschichte geschrieben, hatte das Publikum verachtet.
Jenem Josef wäre es auch durchaus gleichgültig gewesen, was
Domitian von dem Buch gedacht oder gesagt hätte. Doch der Josef,
der jetzt vor Claudius Regin saß, war ein anderer. »Wie wäre es«,
schlug er vor, »wenn wir eine Rezitation veranstalteten, wenn ich
aus der Universalgeschichte vorläse?«
Regin sah überrascht hoch. Wenn
Josef, nachdem er so lange geschwiegen, wieder vor das Publikum
treten wird, so muß das eine Sensation sein. Wenn überhaupt, dann
war eine solche Rezitation vielleicht das einzige Mittel, den
Kaiser aus seiner Zurückhaltung herauszulocken. Der Plan reizte den
Regin, doch er verhehlte dem Josef nicht, daß das Unternehmen recht
gefährlich war. Es war gewagt, eine Äußerung des Kaisers
herauszufordern. Josef aber, da Regin nicht ohne weiteres
widersprach, war schon ganz Flamme für seinen Plan. Wie ein
Schauspieler, der eine neue Rolle begehrt, redete er dem Regin und
sich selber vor, was alles für das Unternehmen spreche. Er lese
nicht schlecht, der leise östliche Akzent in seinem Griechisch
gefalle den Leuten mehr, als daß er sie abstoße; nachdem er so
lange nichts mehr von sich habe hören lassen, werde ganz Rom auf
sein Erscheinen vor der Öffentlichkeit neugierig sein. Und dann,
eine kleine Scham überwindend, gestand er dem Regin, diesem
Freunde, einen heimlichen Wunsch ein, der gleichzeitig mit dem
ersten Gedanken an eine solche Rezitation in ihm hochgestiegen war.
»Und welch eine Freude«, sagte er, »wäre es, vor dem Jungen zu
glänzen, vor Matthias!«
Diese naive, väterlich verliebte
Eitelkeit gewann ihm den Regin vollends, und er sagte: »Es bleibt
ein höllisch riskantes Unternehmen; aber wenn Sie es wagen wollen,
Sie alter Jüngling, ich halte mit.«
Josef wandte an die
Vorbereitungen seiner Rezitation die größte Mühe. Lange überlegte
er mit seinen Freunden, wo der Vortrag stattfinden sollte. Regin,
Marull, vor allem Lucia erörterten die Frage, als ginge es um eine
Staatsaktion. Sollte der Vortrag stattfinden im Hause des Josef vor
einem kleinen, auserwählten Kreis? Oder vor einem größern Publikum
im Hause des Marull oder des Regin? Oder vielleicht gar auf dem
Palatin selber im großen Saale des Hauses der Lucia?
Lucia hatte eine Idee. Wie wäre
es, wenn Josef im Friedenstempel läse?
Im Friedenstempel? In dem Hause,
aus dem der Kaiser seine Büste hat entfernen lassen? Ist das nicht
eine ungeheuerliche Herausforderung? Wird da nicht die große Halle
vereinsamt liegen, weil niemand wagen wird, an einer so
gefährlichen Veranstaltung teilzunehmen? Besteht nicht selbst die
Möglichkeit, daß der Kaiser den Josef verhaften läßt vor seiner
Vorlesung?
Lucia sagte: »Wir kommen so nicht
weiter. Wir stoßen immer wieder auf den gleichen Punkt des
Widerstands: auf DDD. Ich seh mir das nicht länger mit an. Er will
uns zermürben durch diese Taktik. Er will unsern Josephus totmachen
durch sein Schweigen. Aber das soll ihm nicht glücken. Ich möchte
wissen, woran wir sind. Ich gehe zu ihm.«
Als sich Lucia bei ihm ansagte, ahnte
Domitian sogleich, daß es um den Juden oder um seinen Sohn gehen
werde.
Er war in den letzten Monaten mit
Lucia nur selten zusammengekommen. Er war die meiste Zeit
mißgestimmt, er wurde fetter und schlaffer von Körper, er hatte
einen großen Verbrauch an Frauen, ohne daß sie ihm rechten Spaß
gemacht hätten. Er ließ sich genau Bericht erstatten über alles,
was um Lucia geschah. Mißtrauisch, übelwollend bedachte er, daß sie
nun also den jungen Juden an ihren Hof gezogen hatte, den Sohn
dieses gefährlichen Josephus. Da Josephus alt wurde, ließ er sich
wohl durch seinen Sohn vertreten.
Der Kaiser empfing Lucia höflich,
mit distanzierter, ironischer Liebenswürdigkeit. Man sprach
ziemlich lange über Gleichgültiges. Lucia betrachtete den dicken,
kahlen, alternden Herrn; er zählte nicht viel mehr Jahre als sie
selber, doch er war alt und sie war jung. Sie hatte das Gefühl, er
sei ihr fremder als seit Jahren, sie vermöge wenig mehr über ihn,
und sie fragte sich, ob sie nicht vielleicht besser von ihrem Plan
abstehen und von Josef gar nicht erst reden solle. Dann aber siegte
ihre angeborene Kühnheit über ihre Vorsicht.
Sie habe, begann sie in der
Richtung ihres Vorhabens vorzustoßen, in letzter Zeit viel hören
müssen über Judenverfolgungen in der Provinz und über Schikanen,
denen die Juden in der Stadt selber ausgesetzt seien. Sie habe, wie
er wisse, jüdische Freunde, darum interessiere sie sich für diese
Angelegenheit. Auch er selber, der Kaiser, finde sie, sollte sich
mit diesen Dingen beschäftigen. »Sie haben mir einmal
auseinandergesetzt, mein Domitian«, erinnerte sie ihn, »daß ein
Kampf ist zwischen Ihnen und dem östlichen Gott. Ich würde an Ihrer
Stelle mir jeden Schritt in diesem Kampf zehnmal überlegen, ehe ich
ihn unternehme. Ich selber bin, wie Sie wissen«, lächelte sie, »ein
wenig lau in der Verrichtung der religiösen Pflichten, aber ich bin
eine gute Römerin und glaube an die Götter. Wenn ich auch nicht
viel tue, um ihnen meine Verehrung zu bezeigen, so vermeide ich
doch alles, was sie gegen mich aufbringen könnte. Nun hat aber auch
mit der Größe des Reichs die Zahl seiner Götter zugenommen. Ich
denke, mein Domitian, wir sind einer
Meinung darin, daß Sie als der Zensor berufen sind, alle Götter des
Reichs zu schützen. Ich weiß nicht, ob Sie über diesen schwierigen
Gott Jahve, den Sie für Ihren Feind halten, hinlänglich informiert
sind. Er ist ein schwieriger Gott, und es wäre vielleicht gut, wenn
Sie sich über sein Wesen und seine Art möglichst genau
unterrichteten.«
»Denken Sie an unsern Juden
Josephus, meine Lucia?« fragte lächelnd, sehr höflich Domitian und
schaute ihr mit seinen kurzsichtigen, etwas vorgewölbten Augen in
das helle, große Gesicht. »Ja«, antwortete sie ohne weiteres.
»Dieser Josephus hat das neue Buch erscheinen lassen, an dem er
seit vielen Jahren geschrieben hat, und ich finde, es ist ein Buch,
das wir Römer mit größter Aufmerksamkeit lesen sollten. Wenn Sie
dieses Buch gelesen haben werden, mein Domitian, werden Sie über
das Wesen Ihres Feindes, des Gottes Jahve, viel besser informiert
sein.«
»Erinnern Sie sich, meine Lucia«,
antwortete, immer sehr höflich, der Kaiser, »daß ich, nachdem ich
Teile dieses Buches gelesen hatte, die Büste dieses unseres
Josephus aus dem Friedenstempel habe entfernen lassen?« – »Sehr
wohl erinnere ich mich«, erwiderte Lucia. »Ich habe mich schon
damals gefragt, ob diese schwere Kränkung eines großen
Schriftstellers, der sich um Rom verdient gemacht hat, vielleicht
nicht etwas voreilig war. Nachdem ich sein Buch gelesen habe, bin
ich überzeugt, sie war es. Ich rate Ihnen sehr, mein Herr und Gott
Domitian, dieses Buch zu lesen. Alle weiteren Schritte überlasse
ich dann Ihrer guten Einsicht.«
»Sprich dich ruhig weiter aus,
meine Lucia!« sagte der Kaiser, und jetzt war sein Lächeln ein
Feixen geworden, aber er sprach leise und besonders höflich. »Was
willst du denn, daß ich tun soll?« Lucia spürte, daß sie heute
wenig Macht über ihn hatte. Wieder, einen ganz kleinen Augenblick,
dachte sie daran, ihr Vorhaben aufzugeben. Dann aber versuchte sie
es trotzdem nochmals, auf andere Weise, auf ihre frühere Weise. Sie
trat ganz nah an ihn heran und strich ihm durch das immer
spärlicher werdende Haar. »Siebenundzwanzig Haare wirst du immerhin
verloren haben«, meinte sie, »seitdem ich sie das letztemal zählte.
Es gäbe ein sehr einfaches Mittel«, fuhr sie ohne Übergang fort,
»sowohl das Unrecht wiedergutzumachen, das du an diesem
Schriftsteller und vielleicht sogar an seinem Gott begangen hast,
und gleichzeitig aus berufenem Munde Belehrung über diesen Gott
Jahve zu empfangen. Du brauchtest zum Beispiel nur einer Rezitation
beizuwohnen, die dieser unser Josephus mit deiner Erlaubnis zu
veranstalten beabsichtigt.« »Interessant«, antwortete Domitian,
»sehr interessant. Mein Josephus, unser Josephus, dein Josephus
will also aus seinem neuen Buch lesen. Und es gefällt dir sehr,
dieses neue Buch? Du findest es wirklich sehr gut?« – »Wäre nicht
dein Schweigen«, antwortete sie überzeugt, »dann erklärte alle
Welt, es sei von einem zweiten Livius. Schon als sein erstes Buch
erschienen war, unter Vespasian und Titus, haben sie ihn so
genannt. Erst jetzt, nachdem du seine Büste hast einschmelzen
lassen, ist man vorsichtiger geworden.«
Der Kaiser schnitt eine kleine
Grimasse. »Richtig«, sagte er, »mein Vater hat sich gern mit ihm
unterhalten, und Titus hat ihn geschätzt und geliebt. Vielleicht
hast du dein Teil dazu beigetragen, daß Titus ihn schätzte und
liebte. Und jetzt willst du also mich dazu bekehren, daß ich dem
neuen Buch deines Günstlings Ehre erweise. Laß mich dir sagen, wenn
du es nicht schon wissen solltest, daß ich Teile dieses Buches
bereits kenne. Sie sind weder langweilig noch interessant. Auch von
den übrigen Teilen sagen mir Leute, die deinem Josephus bestimmt
nicht feindselig sind, sie seien ein bißchen langatmig und weder
kalt noch warm.« – »Es wäre gut«, beharrte Lucia, »wenn Sie selber
hörten und sich ein Urteil bildeten. Ich bin ehrlich überzeugt, es
könnte Ihnen nicht schaden, wenn Sie sich über Jahve besser
informierten.«
Ein ganz kleines Unbehagen
überkam den Domitian bei dieser Warnung. Er betrachtete Lucias
offenes, kühnes Gesicht, das sich nicht mühte, Ärger und Teilnahme
zu verstecken. »Sie haben wirklich großes Interesse an Ihrem
Günstling, meine Lucia«, sagte er. »Er könnte eine eifrigere
Werberin nicht finden.« Es sprach aus seinen hämischen Worten
Mißtrauen, Eifersucht. Lucia hörte das heraus. Wäuchlein glaubte
also, sie schlafe mit Josephus. Sie stellte sich das vor. Sie
lächelte. Dann schaute sie den Domitian an, und sie lachte einfach
heraus.
Ihn aber befreite dieses Lachen.
Bei all seinem Mißtrauen hatte er an ein Liebesverhältnis zwischen
Lucia und diesem Juden nie gedacht. Sie war sehr römisch,
wenngleich auf etwas abwegige Art, und dieser Gott Jahve und seine
Leute mußten ihr bei alledem fremd und etwas lächerlich erscheinen.
»Wollen Sie hierbleiben und mit mir essen, meine Lucia?« fragte
er.
»Und wir überlegen dann weiter, was wir mit
Ihrem Josef anfangen.«
Rezitationen waren beliebt in der Stadt Rom.
Man war überzeugt, daß das gesprochene Wort tiefer eindringe und
länger hafte als das geschriebene und daß es mehr vom Wesen des
Autors gebe. In den letzten Jahren indes hatten die Rezitationen
überhandgenommen, man war ihrer ein wenig überdrüssig, und
gemeinhin hatten es die Autoren, die Rezitationen veranstalteten,
nicht mehr leicht, ihre Säle vollzubekommen; man suchte alle
möglichen Vorwände, um sich vor dem Besuch solcher Veranstaltungen
zu drücken. Josefs Rezitation aber war ein Ereignis, zu dem die
ganze Stadt drängte. Der Amtliche Anzeiger hatte gemeldet, daß der
Kaiser der Veranstaltung beiwohnen werde. Von weither kam man, um
Josef zu hören. Es war nicht nur die Sensation, welche die Hörer
anlockte, sondern jetzt, nachdem der Kaiser durch das Versprechen
seiner Anwesenheit kundgetan, daß man gegen diesen Autor nichts
mehr einzuwenden habe, waren viele, Römer, Griechen und Juden,
froh, öffentlich zu bekunden, daß sie zu diesem Schriftsteller und
seinem Werke standen.
Josef bereitete sich auf die
Rezitation so sorgfältig vor, wie er sich noch nie auf ein Ereignis
vorbereitet hatte. Zehnmal suchte er die Kapitel aus, die er lesen
wollte, wählte, verwarf, wählte und verwarf von neuem; politische
Gesichtspunkte und literarische wollten bedacht sein. Kühnheit und
Zagheit lösten einander ab. Er beriet sich mit seinen Freunden, las
ihnen das Ausgewählte vor, zur Probe, wie ein Anfänger.
Auch auf die Vorbereitung seines
Äußeren achtete er. Wie ein Schauspieler oder junger Fant überlegte
er Tracht und Frisur, erwog, ob die Hand, die das Manuskript zu
halten bestimmt war, besser geschmückt sein sollte oder nackt. Auch
nahm er Tränke und Mittel, um seine Stimme zu stärken und
geschmeidig zu machen. Er wußte nicht, vor wem er mehr glänzen
wollte, vor dem Kaiser, vor Lucia, vor den Römern und Griechen, vor
den Literaten, seinen Freunden und Nebenbuhlern, vor den Juden, vor
Justus oder vor Matthias.
Als dann die Stunde da war,
fühlte er sich gut in Form und seiner Sache sicher. Sein Friseur
und der Gesichtspfleger der Lucia hatten lange an seinem Kopf
herumgearbeitet, er sah männlich aus und eindrucksvoll, seine Augen
schauten heftig und doch gesammelt über seine Hörer. Alles war da,
was in Rom Ansehen hatte, die Freunde des Kaisers, weil sie
natürlich nicht fehlen durften, wenn ihr Herr erschien, seine
Feinde, weil sie es für das Eingeständnis einer Niederlage hielten,
daß der Kaiser der Vorlesung eines Schriftstellers beiwohnte in
einem Raum, aus dem er die Büste dieses Schriftstellers verbannt
hatte. Josef also sah sie alle, sah und erkannte sie, Lucia, der er
sich tief verbunden fühlte, den Kaiser, seinen mächtigen Feind, den
jungen, strahlenden Matthias, den er liebte, die Literaten, wartend
auf jede Blöße, die er sich geben könnte. Er sah dieses ganze Meer
von hellen und dunklen Gesichtern, er fühlte sich zuversichtlich,
er freute sich darauf, diese alle sich, seinem Werk und seinem
Glauben zu unterwerfen.
Er las zunächst Kapitel aus der
frühen Geschichte seines Volkes, die wärmsten und stolzesten, die
er hatte finden können. Er las gut, und was er las, war geeignet,
ein unvoreingenommenes Publikum zu interessieren. Seine Hörer waren
kaum voreingenommen, aber sie wagten nicht, sich zu äußern. Sie
spürten alle, daß jede Äußerung, Zustimmen wie Mißfallen,
gefährlich werden konnte, sie wußten, daß die Leute des Norban und
des Messalin Augen und Ohren offenhielten und auf die Hände und
Münder der Hörer genau achteten. Selbst die Claqueure des Regin
hatten Anweisung, sich nicht hervorzuwagen, solange der Kaiser
selber kein Zeichen gegeben habe.
Domitian aber gab kein Zeichen.
Aufrecht saß er da, kaiserlich angetan, wenn auch nicht in großer
Gala, die Arme eckig nach hinten, Ernst und Unbehagen ausströmend.
Mit seinen vorgewölbten, etwas kurzsichtigen Augen starrte er bald
auf Josef, bald gerade vor sich hin, bald auch schloß er die Augen,
dann wieder hüstelte er, er hörte höflich zu, doch konnte es auch
sehr wohl sein, daß er sich langweilte.
Der Kaiserin war die Haltung des
Domitian ein Ärgernis. Sie betrachtete die Veranstaltung als ihre
eigene Sache, und DDD wußte das. Sie wartete gespannt, ob er auch
während des Fortgangs der Vorlesung in dieser Haltung verharren
werde. In diesem späteren Teil nämlich wollte Josephus aus dem
sechzehnten Buch seines Werkes lesen, einige Kapitel, die auf große
und höchst spannende Art die Geschichte der Familie des Herodes
darstellten. Schade, daß er leider nur den Beginn und die
Verwicklung dieser Geschicke wird lesen können, die wirren und
seltsamen Beziehungen des Judenkönigs zu seinen Söhnen, wie man
diese seine Söhne bei ihm verleumdet und wie er sie festsetzen und
vor Gericht stellen läßt. Den Ausgang der Geschichte aber wird er
leider nicht lesen können, wie nämlich Herodes diese seine Söhne
grausam hinrichtet. Denn wenn Josephus das läse, dann müßte das die
Hörer peinlich erinnern daran, wie DDD die Prinzen Sabin und
Clemens hat hinrichten lassen. Es war Lucia leid, daß also ihr
Josephus das Beste fortlassen mußte, den Schluß seiner Erzählung
und seine besonders wohlgeglückte Wertung des Königs
Herodes.
Immerhin waren auch die
Begebenheiten, die der Hinrichtung vorangingen, hinreißend erzählt,
Josef las ausgezeichnet, man sah, wie ihn selber die Dinge, von
denen er las, von neuem erregten, und Lucia merkte zu ihrer
Genugtuung, mit welcher Anteilnahme man ihm folgte. Nicht aber
änderte sich Gesicht und Haltung des Kaisers. Da hielt es Lucia
nicht mehr, sie wollte nun nicht länger höfisch und wohlerzogen
stumm bleiben. Als Josef einen mit besonderer Verve und dennoch
sehr ruhig geschriebenen Absatz beendet hatte, klatschte sie und
rief ihm mit ihrer lauten, klingenden Stimme Beifall zu. Einige
stimmten ein, auch die Claqueure mühten sich. Doch die meisten
schauten auf den Kaiser, und da dieser stumm blieb, blieben auch
sie stumm und rührten sich nicht.
Josef hörte die Beifallsrufe, er
sah das Gesicht Lucias und das liebevolle, bewundernde, glückliche
seines Sohnes Matthias. Allein er sah auch das starre, kühle,
ablehnende Gesicht des Kaisers, des Feindes. Er wußte, darauf kam
es an und nur darauf, diese Miene in Bewegung zu setzen. Er
erkannte, daß der Mann, der Feind, entschlossen war, seine Taktik
des Schweigens fortzusetzen, sein Gesicht nicht in Bewegung bringen
zu lassen und sein, des Josef, Werk dadurch für alle Zeiten zu
begraben. Da faßte ihn ein maßloser Zorn, und er schwor sich: Ich
werde es dennoch in Bewegung bringen, dieses Gesicht!
Und er hörte nicht da zu lesen
auf, wo er sich’s vorgenommen hatte, sondern er sprach weiter. Mit
Betretenheit zunächst, dann mit einer wachsenden Erregung,
zusammengesetzt aus Schrecken über soviel Tollheit, Bewunderung für
soviel Mut und wilder Spannung, was nun geschehen werde, hörten
Lucia, Marull und Regin, hörten diejenigen, die des Josef Buch
kannten, ihn seine Erzählung weiterlesen. Mit schönem Ausdruck, in
wohlgemeißelten Sätzen, mit verbissener und empörter Ruhe
berichtete er, wie der Judenkönig Herodes seine Söhne vor Gericht
stellen und grausam hinrichten ließ.
Während er las, wußte er genau,
daß es tollkühn war, dem Kaiser eine solche Geschichte in sein
Antlitz hinein vor Tausenden von Zuhörern vorzulesen. Um sehr viel
weniger gewagter Anspielungen willen war der Philosoph Dio vor
Gericht gestellt, der Senator Priscus getötet worden. Allein
während sich Josef dies alles sagte, war er gleichwohl höchst
gesammelt bei seiner Sache und las wirksam und gelassen. Mit tiefer
Befriedigung nahm er wahr, daß jetzt das starre Antlitz sich regte.
Ja, es war an dem, des Kaisers Gesicht rötete sich, heftig sog er
an der Oberlippe, seine Augen begannen dunkel zu blitzen. Es hob
den Josef, ein schwindelnd beseligendes Gefühl trug ihn hoch, um so
beglückender, da er wußte, er werde vielleicht im nächsten
Augenblick jäh und grausig herunterstürzen. Und er las immer
weiter, er las die großartige psychologische Wertung des Herodes,
die Moral, die er seiner Darstellung angehängt hat. Vielleicht wird
er es mit dem Leben bezahlen müssen, daß er das liest. Aber es ist
ein Leben wert, diese Sätze, diesen seinen Glauben, dem römischen
Kaiser, dem Feind, ins Gesicht zu sagen.
Immer deutlicher, während er las,
wurde er sich bewußt, daß die Parallele zwischen seinem Herodes und
diesem Domitian, der da vor ihm saß, nicht zu verkennen war.
Bestimmt jetzt gab es unter diesen mehreren tausend atemlos
Hörenden keinen, der nicht an die Prinzen Sabin und Clemens dachte.
Aber gerade darum las Josef weiter: »Wenn er sich von ihnen
gefährdet fühlte, so wäre es wohl Vorsicht genug gewesen, sie
gefangenzuhalten oder aus dem Reich zu verbannen, so daß er einen
plötzlichen Überfall oder offene Gewalttätigkeit nicht hätte
gewärtigen müssen. Sie aber aus Haß und Leidenschaft zu morden, ist
das etwas anderes als tyrannische Grausamkeit? Daß der König die
Ausführung seines Planes, die Hinrichtung, lange hinausgezögert
hat, belastet ihn mehr, als daß es ihn entschuldigt. Denn daß sich
jemand in der ersten Aufwallung zu grausamen Handlungen hinreißen
läßt, ist zwar schrecklich, doch erklärlich. Wenn er aber eine
solche Freveltat erst nach reiflicher Überlegung und nach öfterem
Schwanken begeht, so kann das nicht anders gedeutet werden denn als
Zeichen eines rohen, blutdürstigen Gemütes.«
Josef war zu Ende, er schwieg,
seine eigene Kühnheit verschlug ihm den Atem. Es war in dem großen
Saal so still, daß man das Knittern des Manuskriptes hörte, das er
mechanisch rollte. Da, in das lautlose Schweigen hinein, tönte eine
hohe Lache. Es war nicht einmal eine bösartige Lache, dennoch
erschreckte sie alle, als wäre der Tod unter sie getreten. Ja,
Domitian lachte, er lachte scharf, nicht sehr laut und auch nicht
sehr lange, und mit seiner hohen Stimme, auch das nicht sehr laut,
sagte er in das weite, tiefe Schweigen hinein: »Interessant, sehr
interessant.«
Dieses Lachen aber reizte den
Josef zum Äußersten. Da nun doch alles verloren war und da er
sicherlich in seinem Leben keine weitere Rezitation wird
veranstalten können, warum soll er dem hier versammelten Rom nicht
auf großartige und jüdische Art zeigen, wie einer abgeht?
»Und zum Abschluß«, rief er in
den totenstillen Saal, »lese ich Ihnen, mein Herr und Gott
Domitian, und Ihnen, meine sehr ehrenwerten Gäste, eine Ode, die
den Sinn meiner Universalgeschichte wiedergibt, die
Gemütsverfassung, aus der heraus das Werk geschrieben ist, und die
Weltanschauung, welche die Geschichte des jüdischen Volkes
beherrscht. Es sind keine reinen Verse, sie sind gestammelt in
einer Sprache, welche nicht die Muttersprache des Autors ist, aber
ich denke, die Klarheit ihres Inhalts hat darunter nicht gelitten.«
Und er
sprach die Verse des Psalmes vom Mut, er
verkündete:
»Darum sag ich:
Heil dem Manne, der den Tod auf sich
nimmt,
Sein Wort zu sagen, weil das Herz ihn drängt ...
Darum sag ich:
Heil dem Manne, den du nicht zwingen kannst,
Zu sagen, was nicht ist.«
Erstarrt hörten die Tausende, wie es der Jude
wagte, Rom und seinem Kaiser ins Antlitz zu erklären, daß er es
verneinte. Erstarrt schauten sie auf ihren Kaiser, der reglos
zuhörte. Reglos saßen sie alle, als Josef geschlossen hatte, eine
halbe Minute blieb die ganze Versammlung reglos, reglos der sehr
blasse Josef auf seiner Bühne, reglos der Kaiser auf seinem
erhöhten Sitz.
Dann, wieder in das ungeheure
Schweigen hinein, klang die Stimme Domitians: »Was meinst du,
Silen, mein Narr? Das ist eine Ode, für die du mir zuständig
scheinst.« Und Silen, auf seine gewohnte Art den Kaiser nachahmend,
die Arme eckig nach hinten, antwortete: »Interessant, was der Mann
da oben gesagt hat, eine sehr interessante Auffassung.«
Dann, immer unter lautlosem
Schweigen, wandte sich Domitian an die Kaiserin. »Sie stellten mir
in Aussicht«, sagte er, »wenn ich der Rezitation unseres Juden
Josephus beiwohnte, würde ich mancherlei Belehrung finden. Ich habe
sie gefunden.« Und: »Kommen Sie mit, meine Lucia?« fragte er. Doch
Lucia, die Stimme etwas gepreßt, erwiderte: »Nein, mein Herr und
Gott Domitian, ich bleibe noch.« Der Kaiser aber grüßte sie
zeremoniös, und, gefolgt von seinem Narren, durch die lautlos bis
zur Erde sich neigenden Hörer ging er dem Ausgang zu.
Schnell leerte sich der Saal. Um Josef blieben
nur seine Nächsten. Bald gingen auch diese. Zuerst Cajus
Barzaarone, dann Marull, dann Johann von Gischala. Schließlich war
Josef allein mit Lucia, Claudius Regin und Matthias.
Die Fülle und Straffheit des
Willens, die Josef in sich hatte aufbringen müssen, um diese Stunde
zu überstehen, war noch nicht verbraucht. Er hatte die Kraft, zu
seinen Freunden gelassen, ja mit einem kleinen Lächeln zu sagen:
»Und doch war es gut, daß wir die Rezitation veranstaltet haben.«
Regin schaute nach dem leeren Platz, auf dem ehemals die Büste des
Josef gestanden war. »Eine neue Büste werden Sie hier wohl kaum
bekommen«, meinte er, »aber gelesen wird das Buch jetzt wohl
werden.« – »Es war eine großartige Stunde«, sagte naiv Matthias.
»Und daß die Leute dich nicht recht verstanden haben, macht nichts.
Bei solchen Rezitationen«, sagte er altklug und sentenziös, »hat
wohl immer nur das Sensationelle, Wohlfeile Erfolg.« – »Sensation
hat es ja genug gegeben«, sagte Claudius Regin. Lucia aber sagte:
»Ich weiß Mut zu schätzen. Aber was in aller Welt ist eigentlich
über Sie gekommen, mein Josephus, daß Sie es plötzlich unternommen
haben, allein gegen das ganze Römische Reich Attacke zu
reiten?«
»Ich weiß selber nicht, was in
mich gefahren ist«, sagte Josef. Seine künstliche Gespanntheit
verschwand, müde sank er auf eine der Bänke, er war den Künsten des
Gesichtspflegers zum Trotz auf einmal alt. »Ich war verrückt«,
versuchte er den andern das Vorgefallene zu erklären. »Wie ich sah,
daß der Mann sich vorgenommen hatte, weiter zu schweigen, wie ich
sah, daß sie alle feig waren und daß keiner Ihnen zu folgen wagte,
meine Lucia, sondern daß sie alle nur auf den Mann starrten, und
wie ich den Hohn und die Feindschaft auf dem Gesicht des Mannes
sah, da ist die Narrheit über mich gekommen. Ich war von Anfang an
toll und vermessen, schon als ich die Idee dieser Rezitation faßte,
schon als ich Sie bat, ihn zu laden, meine Lucia. Sie konnten es
nicht wissen, meine Freunde, wie toll es war, aber ich hätte es
wissen müssen. Ich hatte gewisse Begegnungen mit ihm, und ich hätte
wissen müssen, daß es nur so kommen konnte. Ich hätte diese
Vorlesung nicht unternehmen dürfen. Der ohnmächtige Zorn darüber,
daß ich es doch getan hatte, hat mich verrückt gemacht.«
»Ich weiß nicht, was ihr alle
wollt«, sagte unzufrieden mit seiner jungen, tiefen, unschuldigen
Stimme Matthias. »Ich finde, es ist ein ungeheurer, für immer
denkwürdiger Sieg, daß der Kaiser der Römer zu Flavius Josephus
gekommen ist. Du sagst, mein Vater, er sei dein Gegner. Um so
größer ist der Sieg. Der Kaiser, mit seinen hundert Millionen
Römern hinter sich, betrachtet also den einzelnen Mann Josef Ben
Matthias als einen Feind, den zu bestehen er sich selber aufmachen
muß. Josef Ben Matthias aber fürchtet sich nicht und sagt ihm die
Wahrheit. Ich finde, das ist ein gewaltiger Sieg.«
Innerlich lächelten, beinahe
gerührt, die drei Erwachsenen über die ungeschickten Versuche des
Jungen, seinen Vater zu trösten. Claudius Regin und Lucia
erörterten, diesmal nicht unbesorgt, was nun Domitian wohl
beschließen werde. Aber man konnte nichts voraussehen, man konnte
nur warten. Es gab auch keinerlei Vorsichtsmaßnahmen, die man hätte
treffen können. Es wäre sinnlos gewesen und hätte die Gefahr nur
vermehrt, wenn etwa Josef versucht hätte, die Stadt zu
verlassen.
Josef, allein, erkannte sehr
genau, daß das, was er getan hatte, dem gleichen Wahnsinn
entsprungen war, der vor zehn Jahren die »Eiferer des Tages« in
ihren sinnlosen Aufstand getrieben hatte. Doch was ihnen, diesen
Jungen, Zwanzigjährigen, erlaubt war, ihm, dem
Achtundfünfzigjährigen, war es nicht erlaubt. Und trotzdem, es war
eine ehrenvolle Niederlage, eine Niederlage, die das Herz des
Besiegten mit einem stolzen, hohen Schmerz erfüllte, eine
Niederlage, hundertmal besser als jene schalen Siege der Vernunft,
die ihm während der letzten Jahre das Herz so kahl und kalt gemacht
hatten. Er war keineswegs zerknirscht, er war stolz auf seine
Niederlage, und selbst die Erwartung dessen, was da kommen mochte,
beglückte ihn.
Übrigens brachte ihm seine
Wahnsinnstat zunächst nur Freuden. Matthias schaute mit einer so
bewundernden Liebe zu ihm auf, wie er’s nach einem noch so großen
Erfolg nicht anders hätte tun können. Lucia schalt ihn zwar, doch
in ihre Scheltworte mischte sich ein beinahe zärtliches Verständnis
seines achtundfünfzigjährigen und noch so jung brennenden Herzens.
Von den Juden gar, und diesmal von den Juden des ganzen Reichs,
wurde Josef stürmisch gefeiert. Das Bedenken einiger Vorsichtiger
ging unter in einer Ungeheuern Woge von Popularität. Josef, der dem
judenfeindlichen Kaiser inmitten einer tausendköpfigen Menge die
Wahrheit Jahves an den Kopf geworfen hatte, wurde zum größten
Aufrührer der Epoche. Claudius Regin hatte recht gehabt, bald wurde
die Universalgeschichte von noch mehr Menschen gelesen als
seinerzeit der »Jüdische Krieg«.
Es war vornächst nicht Josef selber, dem aus
jener denkwürdigen Vorlesung Übel erwuchs, sondern Matthias. Denn
mit Ausnahme der ganz wenigen intimen Freunde Josefs schloß jetzt
der Adel der Stadt Rom seine Türen vor Josef zu, und das bekam
Matthias noch mehr zu spüren als der Vater.
Wie rasch des Matthias Glanz
gerade in den Häusern der großen Welt verblaßt war, mußte er
merken, als er das nächste Mal mit dem Mädchen Caecilia
zusammenkam. Caecilia war ihm in den letzten Monaten mit sichtbar
steigender Achtung begegnet, kein Wort mehr war gefallen vom
rechten Tiberufer und von einer späteren Hausierertätigkeit des
Matthias. Um so stärker jetzt kam der Rückschlag. Ihr
Literaturlehrer hatte ihr in der Homerstunde erzählt von dem großen
ägyptischjüdischen Homerinterpreten Apion. Bei dieser Gelegenheit
war auch die Rede gewesen von den berühmten Büchern des Apion gegen
die Juden, und einige der verächtlichsten und tückischsten
Argumente dieses Apion hatte sich nun Caecilia zu eigen gemacht.
Sich rötend, eifrig, brachte sie diese Argumente gegen Matthias an,
sie verhöhnte ihn als Angehörigen eines rohen, schmutzigen,
tierisch abergläubischen Stammes.
Als Matthias dem Josef von diesem
Disput erzählte, traf diesen die läppische Angelegenheit über
Erwarten tief. Nicht nur verdroß ihn, daß er wieder einmal an einem
Symptom zu sehen bekam, wie er durch seinen tollkühnen Streich auch
die Laufbahn seines Sohnes behindert hatte, sondern noch mehr
erregte ihn, daß er wieder einmal auf Apion stieß. Mit Grimm
erinnerte er sich jener Stunde mit Phineas, da er diesen, den
Lehrer seines Paulus, sinnlos angebellt hatte um der Argumente des
Apion willen. Als ihm jetzt Matthias von den Worten des Mädchens
Caecilia berichtete, machte ihm sein Haß diesen toten Apion
plötzlich von neuem lebendig. Es war viele, viele Jahre her, daß er
ihn gesehen hatte, er war sehr jung gewesen damals und Apion Rektor
der Universität Alexandrien. Deutlich jetzt, als wäre es erst heute
morgen gewesen, erinnerte sich Josef, wie der Mann dagestanden war,
eitel, gebläht, bedeutungsvoll, in seinen weißen Schuhen, dem
Kennzeichen der Judenfeinde von Alexandrien. Immer wieder während
seines wechselvollen Lebens war Josef auf diesen Apion gestoßen,
alle Feinde der Juden schöpften aus dem vergifteten Brunnen dieses
Apion. Das Bild des geckenhaften, niederträchtigen, eingebildeten
und höchst erfolgreichen Gegners, der mit seinem ebenso närrischen
wie tückischen Gescheite die ganze Welt erfüllte, wurde Josef zum
Gleichnis aller Judenfeindschaft überhaupt, ja zum Gleichnis aller
triumphierenden Dummheit in der Welt, und wie dem Sokrates war ihm
das Dumme mit dem Bösen identisch.
Im Arbeitszimmer seines neuen,
hübschen, hellen Hauses ging er auf und nieder und setzte sich
auseinander mit Apion, seinem Gegner, der das Maul so voll und den
Schädel so leer hatte. Wie anders war dieser Josef, der jetzt,
erfüllt von seinem Gotte, seine neue Arbeit vorbereitete, wie
anders jener, der die Universalgeschichte geschrieben hatte.
Vielleicht war das Ziel, das er sich mit der Universalgeschichte
gesteckt, ein höheres gewesen, aber dieses Ziel war eben nur der
Vernunftgläubigkeit eines Justus erreichbar. Er, Josef, hatte sich
vermessen, als er es anstrebte. Ihm lag das nicht, und er hatte
alles falsch gemacht. Jetzt hat er sich selbst erkannt, jetzt ist
er weise geworden, jetzt gibt er keinen Strohhalm mehr für dieses
erhabene Ziel. Er kehrt zurück zu dem Weg, von dem er ausgegangen.
Er hat viele Jahre vertan, aber noch ist es nicht zu spät. Er ist
von neuem jung geworden mit seinem Matthias.
Mit Erleichterung fühlte er die
schwere Bürde der kritischen Verantwortung von sich abfallen, die
beengende Pflicht, alle Gefühle zu sieben durch Vernunft. Er dachte
an Justus, und siehe, nichts mehr war in ihm von dem beißenden
Gefühl der Unterlegenheit, von dem liebenden Haß auf den Größeren.
Nach keinem Richter wird er jetzt schielen, nach keiner Nachwelt.
Er wird sich gehenlassen. Er wird schreiben, wie es ihm ums Herz
ist, nicht objektiv, sondern mit Eifer und Zorn, mit dem ganzen
Grimm, den seine Gegner verdienen, ihre Hoffart, ihre
Leichtfertigkeit, ihre Dummheit. Er wird es ihnen geben, diesem
toten Apion und denen vor und nach ihm, die ihren billigen Spott
ausgegossen haben über das Hohe und Heilige, das ihnen
Unerreichbare, über Jahve und sein Volk.
Und er setzte sich hin und
schrieb sein Buch »Gegen Apion oder Über die alte Kultur der
Juden«. Welch ein Wohlgefühl war es, aus der befreiten Brust das
Lob des eigenen Volkes zu singen, ohne den schnürenden Panzer der
Wissenschaftlichkeit. Nie in seinem Leben hatte Josef eine höhere
Lust verspürt als in den zwei Wochen, da er, in einem Zug, die fünftausend Zeilen dieses Werkes
niederschrieb. Er sah sie vor sich, die Weißbeschuhten, die
Judenfeinde, diese vergriechten Ägypter, die Manetho und Apion.
Groß und aufgeblasen standen sie da, und er hieb sie zusammen, sie
und ihre Argumente, in Stücke und in Staub hieb er sie, bis nichts
mehr von ihnen da war. Die Worte flogen ihm zu, daß er sich ihrer
Fülle kaum erwehren konnte, und während er seine glänzenden Kapitel
niederschrieb, dachte er an die ägyptische Griechin Dorion und an
seinen Sohn Paulus, und es waren die Apion und Manetho, die ihm die
beiden entfremdet hatten. Mit bitterem Witz machte er sich lustig
über diese Griechlein, die Zwerge, die über nichts verfügten als
über hübsche, leichte, lockere, elegante, zierliche Worte. Und er
stellte ihnen entgegen die wahren Griechen, die großen Griechen,
einen Plato und einen Pythagoras, welche die Juden kannten und
schätzten; sonst hätten sie nicht Teile ihrer Lehre in ihre eigene
aufgenommen.
Und nachdem Josef seine Gegner
auf solche Art zerschmettert hatte, setzte er auf alle diese Nein
ein großes, heftiges, glühendes Ja. Nichts mehr war da von seinem
Weltbürgertum. Alles, was er während der Arbeit an der
Universalgeschichte mühsam niedergedrückt hatte, seine ganze,
maßlos stolze Liebe zu seinem Volk, ließ er nun einströmen in
dieses Buch. Mit heißen Worten pries er den Adel seines Volkes. Es
hatte Weisheit, Schrifttum, Gesetze, Geschichte gehabt, lange ehe
die Griechen existierten. Es hatte einen großen Gesetzgeber gehabt,
tausend Jahre vor Homer und dem Trojanischen Krieg. Keines Volkes
Gottesverehrung war reiner als die der Juden, keines Volkes Liebe
zur Gesittung tiefer, keines Volkes Schrif ten reicher. Einen Kanon
haben wir zusammengestellt aus den Zehntausenden unserer Bücher,
nur zweiundzwanzig haben wir auserlesen aus diesen Myriaden, und
diese zweiundzwanzig Bücher haben wir zusammengefaßt zu einem Buch. Aber was für ein Buch ist das! Das Buch
der Bücher! Und wir sind das Volk dieses Buches. Wie lieben wir es,
wie lesen wir es, wie deuten wir es! Das Buch ist der Inhalt
unseres Lebens, es ist unsere Seele und unser Staat. Unser Gott
manifestiert sich nicht in einer Gestalt, er offenbart sich in
Geist, in diesem Buch.
In kaum zwei Wochen hatte er das
Werk vollendet. Nun aber, nach dem Hochgefühl des Schreibens, nach
dem ungeheuern Rausch der Arbeit, ernüchterte er sich. Furcht
überkam ihn, ob er seine Begeisterung so weit in Form habe gießen
können, daß sie sich übertrug und andere mit fortriß. Schon war
auch der Gedanke an Justus wieder da und das erkältende Gefühl, wie
sich denn nun sein »Apion« ausnehme, wenn man ihn dem »Jüdischen
Krieg« des Justus gegenüberstelle.
Zaghaft und gespannt brachte er
das Buch dem Claudius Regin. Der war offenbar skeptisch infolge der
raschen Fertigstellung des Werkes. Faul lag er auf dem Sofa und bat
den Josef, ihm vorzulesen. Mit halbgeschlossenen Augen lag er da,
nicht sehr geneigt, an das Werk zu glauben, und bald auch
unterbrach er den Lesenden und sagte hänselnd: »Unserm Justus wird
dieses Buch kaum gefallen.« Ähnliches hatte Josef selber gedacht,
während er las, und es kostete ihn Überwindung, weiterzulesen.
Allmählich aber packte ihn von neuem der Rausch, der ihn während
des Schreibens hochgetragen hatte, und bald auch hatte Regin die
Augen geöffnet, und bald auch richtete er sich hoch, und
schließlich, nachdem Josef etwa eine halbe Stunde gelesen hatte,
riß er ihm das Manuskript aus der Hand, und: »Sie lesen mir zu
langsam, lassen Sie mich selber lesen«, sagte er, und während Josef
still dasaß, las Regin still weiter, gierig, und: »Schon morgen
müssen sich meine Schreiber daranmachen«, sagte er, und mit
ungewohnt lebendigen Augen: »Wenn die Juden Olympische Spiele
hätten, dann müßten Sie ihnen dieses Buch vorlesen, wie seinerzeit
Herodot den Griechen sein Geschichtswerk vorlas in Olympia.« Und
das war ein so enthusiastisches Wort, wie es Claudius Regin seit
Jahren nicht gesprochen hatte.
Und wie es dem Regin erging, so
erging es allen ringsum. Lucia, ergriffen von der Wärme und
Heftigkeit des Buches, erklärte: »Ich weiß nicht, ob alles stimmt,
was Sie da vorbringen, mein Josephus, aber es hat den Klang der
Wahrheit.« Matthias war hingerissen. Jetzt hatte er das Material,
das er so bitter brauchte, um aufzukommen gegen Caecilia und ihren
Apion. Jetzt wußte er, warum er so stolz war auf sein Volk, auf
seinen Stamm, auf seinen Vater. Alle Welt, Freunde und Feinde,
wurden gepackt von dem Buch, es wurde zu einem größern Erfolg, als
ihn Josef je gehabt hatte. Unbestritten jetzt war Flavius Josephus
der erste Schriftsteller der Epoche.
Es gab Stunden, da Josef dieser
Erfolg schal vorkam. Er vermied es, den Justus zu sehen, aber
manchmal, wenn er allein war, des Nachts vor allem, setzte er sich
mit Justus auseinander. Er hörte den Hohn des Justus und er suchte
sich zu rechtfertigen und er wies hin auf die Begeisterung der
andern. Aber was nutzte ihm das? Er hatte seine Sendung verraten.
Er wußte: Recht hatte Justus, und unrecht hatten diejenigen, die
ihm zujubelten. Und er fühlte sich müde, müde der Erfolge und müde
der Niederlagen.
Solcher Stunden aber hatte er
nicht viele. Er hatte so lange nach Erfolg gedürstet, und nun
freute er sich seines Erfolges. Er kostete es aus, daß die Juden,
die ihn so lange verkannt und beschimpft hatten, nun sehen mußten,
wer er war, ihr wirksamster Verteidiger. Er kostete es aus, daß
seine römischen und griechischen Feinde den Elan seines Buches zu
spüren bekamen. Auch war ihm der langentbehrte Ruhm eine neue, sehr
willkommene Bestätigung vor Lucia und vor allem vor
Matthias.
Auch Mara hatte den »Apion« gelesen. In ihren
einfachen, naiven Worten schrieb sie ihm darüber, begeistert. Das
war ein Buch, das sie ganz verstehen konnte, das war ein Buch nach
ihrem Herzen. Ohne Übergang dann berichtete sie von dem Gute Be’er
Simlai. Der Verwalter Theodor Bar Theodor war ein Mann von gutem
Verstand und treuem Herzen, und er unterwies Daniel mit schönem
Erfolg. Daniel war geeignet für die Landwirtschaft, alle fühlten
sie sich wohl, obgleich man hier in Samaria und in der Nähe von
Cäsarea inmitten von Heiden lebte, und die paar Juden machten es
einem auch nicht leicht, sie schauten alles, was zu Josef gehörte,
mit scheelen Augen an, vor allem um der Vergünstigungen willen, die
ihm die Heiden einräumten. Aber vielleicht wird das jetzt nach dem
»Apion« besser werden. Für die Tochter Jalta habe sich ein Bewerber
gemeldet, der ihr, der Mara, wohlgefalle. Er habe den Doktortitel
von Jabne, sei aber trotzdem nicht stolz, sondern betreibe einfach
und tüchtig das Gewerbe eines Silberschmiedes. Freilich arbeite er
zumeist für Heiden, und sie wisse nicht recht, ob das ein
Hinderungsgrund sei. Der Frühling sei ja nun da, und Josef werde
sich jetzt wohl bald auf den Weg machen, um zu ihnen zu kommen, und
dann werde er alles selber richten. Und für Daniel wäre es gut,
wenn er wieder unter die Augen des Vaters käme, und sicher auch für
Matthias, wenn er nicht zu lang in Rom bleibe. Auf der »Felix«
hätten sie übrigens viel zu essen bekommen, aber Unbekömmliches.
Josef möge sich vorsehen, daß er sich nicht verderbe.
Josef las, und er sah Mara vor
sich, und er war erfüllt von einem warmen, zärtlichen Gefühl. Aber
er dachte gar nicht daran, nach Judäa zu gehen. Jetzt mehr als je
gehörte er hierher nach Rom. Jetzt, gerade nachdem er den »Apion«
geschrieben. Er fühlte sich glücklich, und eben noch zur rechten
Zeit war das Glück gekommen, zu einer Zeit, da er es noch genießen
konnte, da er noch die Kraft des Genusses hatte. Und Rom war der
rechte Rahmen, der einzige, dieses Glückes. Er fühlt sich jetzt
berufen, nur mehr so zu schreiben, wie es ihm ums Herz ist, er ist
auserkoren zum großen Lobredner und Verteidiger seines Volkes. Das
aber kann er nur sein inmitten der feindlichen
Hauptstadt.
Und soll er etwa Matthias allein
lassen? Ihn fortnehmen aus Rom, ihn herausreißen aus dem Dienst der
Lucia kann er nicht, das würde alle glänzenden Träume des Knaben,
das würde den Knaben selber zerbrechen. Nein, er denkt gar nicht
daran. Und sich von dem Knaben zu trennen, daran denkt er auch
nicht. Das ist das Beste, was er hat, der Glanz, der von seinem
Matthias ausgeht, die Liebe und die Bewunderung seines Sohnes. Wie
liebt er ihn, diesen Sohn! Wie Jakob der Patriarch seinen Sohn
Josef geliebt hat, abgöttisch, verbrecherisch, so liebt er ihn. Und
wenn Jakob seinem Sohne den prunkenden Leibrock geschenkt hat, der
den Neid und das Unglück herbeirief, er, Josef, versteht das. Er
würde es genauso machen, seinen Matthias zu schmücken mit allem
Lieblichen der Welt. Und wenn es Bedenkliche gibt, er hat doch
recht daran getan, seinen Matthias hineinzustellen in den Glanz des
Palatin. Wem geht nicht das Herz auf, wenn er den Jungen sieht? Der
Palatin ist zu gering für ihn. Der Leibrock ist immer noch nicht
prunkvoll genug. Übrigens ist seit dem »Apion« selbst Johann von
Gischala verstummt und hat keine Bedenken mehr.
Dabei ist die Gefahr noch
keineswegs vorbei, die er selber heraufbeschworen hat durch seine
Kühnheit vor Domitian. Aber er nimmt sie leicht, diese Gefahr.
Selbst wenn Domitian sich rächen sollte an dem Autor des »Jüdischen
Kriegs«, der Universalgeschichte, des »Apion«, selbst wenn er ihm
ans Leben gehen sollte, was dann? Durch ein solches Sterben würde
Josef nur neues Zeugnis ablegen für Jahve und sein Volk, er würde
so sein Buch besiegeln und sich und seinem Werk die Unsterblichkeit
sichern.
Josef ging in Rom herum,
glücklich, strahlend, wie ein älterer Bruder seines Matthias.
Täglich war er auf dem Palatin, bei Lucia. Immer unentbehrlicher
wurde ihm die Frau. Er spürte für sie eine Freundschaft, die
untermischt war mit einem Begehren, das ihm, dem Wortgewandten,
manchmal die Worte verwirrte und ihn verstummen machte. Sie
sprachen nicht über ihre Beziehungen, die klare, offene Lucia ließ
das, was zwischen ihnen war, so wenig Wort werden wie der
wortgewandte Josef. Gerade diese mit vielen und wirren Dingen
geladene Stummheit war das Beste und Reizvollste an ihrer
Freundschaft.
Längst vergessene Gefühle und
Gedanken wurden in ihm wach, wenn er so mit ihr zusammen war,
Gedanken und Gefühle, wie er sie verspürt hatte, als er, ein sehr
junger Mensch, sich in die Wüste zurückgezogen, um nur Gott und der
Weisheit zu leben. Ihm war, als rechnete es ihm Gott als Verdienst
an, wenn er sich der Lucia enthalte, ihm war, als wüchse ihm Kraft
zu, wenn er sich der Lucia enthalte.
Einmal, während sie so beisammen
saßen, sagte Lucia, ein seltsames Lächeln um die geschwungenen
Lippen: »Mein Josephus, wenn er es wüßte.« – »Er würde toben«,
antwortete Josef, »er würde toben und schweigen und mich einen
martervollen Tod sterben lassen. Aber es wäre keine Marter, da es
um Sie geschähe.« – »Ach«, lachte Lucia, »Sie denken an Wäuchlein.
Ich habe nicht an ihn gedacht. Ich habe an Matthias gedacht.« Und
plötzlich sehr ernst und ihn mit ihren weitauseinanderstehenden
Augen nachdenklich anschauend, sagte sie: »Wissen Sie, mein
Josephus, daß wir ihn betrügen, Ihren Sohn Matthias?«
Es war so, daß sich der Knabe
Matthias, wie zahllose andere, in Lucia verliebt hatte. Ihre
Offenheit, ihre Heiterkeit, die Fülle, aus der ihr Leben floß, die
Unersättlichkeit, mit der sie Leben gab und nahm, faszinierte ihn.
So wie sie zu sein, das war das Höchste, was ein Sterblicher
erreichen konnte. Sie scherzte oft mit ihm, auf eine harmlose,
vertrauliche Art, das band ihn noch enger an sie. Doch nahm sie ihn
auch ernst, sie hörte auf seinen Rat. Er rechnete es ihr hoch an,
daß sie auf seine Empfehlung in ihrer Villa an der Appischen Straße
und auf ihrem Landsitz in Baaje Pfauengehege anlegte und die Leute
zu Wärtern bestellte, die er sich von seinem Freunde Amphion, dem
Pfauenwärter des Regin, hatte bezeichnen lassen. Er wußte nicht,
wie er das Zarte, Tastende nennen sollte, was ihn an Lucia band. Es
wäre ihm blasphemisch erschienen, es auch nur in Gedanken Liebe zu
nennen, und er erschrak, als er etwas in sich aufsteigen spürte,
das er schwerlich anders nennen konnte denn Begier. Sie zu begehren
war so sinnlos vermessen, wie wenn ein römischer Junge die Göttin
Venus begehrt hätte.
Das hinderte nicht, daß er
manchmal seinen Vater beinahe beneidete um die Art, wie Lucia ihn
anschaute und wie er sie anschauen durfte. Denn es war so, daß die
beiden ihre Freundschaft zwar nicht offen zur Schau trugen, sich
aber auch nicht ernstlich bemühten, sie zu verheimlichen. Matthias
verbot sich jeden unehrerbietigen Gedanken gegen den Vater oder
gegen die Kaiserin, seine Herrin, aber tot waren solche dreisten
Zweifel darum noch lange nicht. Er suchte ihrer Herr zu werden,
indem er seine Bewunderung des Vaters noch steigerte. Wo auf dem
Erdkreis gab es einen zweiten Mann, der einfach durch sein Wort die
Herzen bewegte von Menschen aller Zonen, jeden Standes und jeder
Art, der die einfachen bäurischen Juden Galiläas ebenso bewegte wie
die feinen, lasterhaften Griechen und die große, ragende Frau, die
Kaiserin?
Ihr aber, Lucia, war er doppelt
dienstwillig gerade um der seltenen und sogleich verbannten
Gedanken willen, mit denen er sie und seinen Vater
verdächtigte.
ZWEITES KAPITEL
un
war er also fort, und sie bedauerte es nicht einmal sehr. Sie
spürte in sich eine Leere, gewiß, aber wenn
sie
sich genau nachprüfte, sie bedauerte es nicht, daß er jetzt fort
war.
Die Hoffnungen, die sie an ihren
Paulus geknüpft hat, haben sich nicht erfüllt. Er ist platt
geworden und gewöhnlich. Die Erziehung des Phineas und ihre eigene
hat nichts gefruchtet. Er ist hochmütig, ihr Paulus, aber es ist
nicht jener ästhetisierende Hochmut ihres Vaters, des großen Malers
Fabull, und es ist auch nicht der wilde, nervöse Hochmut des
Josephus und nicht der spitze, herrische Hochmut, wie sie selber
ihn gehabt hat. Nein, der Stolz ihres Sohnes Paulus ist nichts als
der dumme, leere, brutale Nationalstolz der Römer, der Stolz, zu
jenen zu gehören, die mit Blut und Eisen die Welt unterworfen
haben.
Sanft und gleichmäßig schaukelte
die Sänfte auf den Schultern der trainierten kappadokischen Träger.
Dorion kam zurück vom zweiten Meilenstein der Appischen Straße, bis
dahin hatte sie ihrem Sohne das Geleite gegeben. Ja, fast ohne
Schwanken bewegte sich die Sänfte; sie hatte Vorrechte, der
Vorläufer hielt den rostbraunen Schild mit dem goldenen Kranz hoch,
und auch die rostbraunen Vorhänge der Sänfte zeigten den goldenen
Kranz, das Zeichen, daß man der Sänfte ausweichen mußte, da sie zum
Haushalt eines kaiserlichen Ministers gehörte. Doch der leichte
Gang der Sänfte machte die Gedanken der Dame Dorion nicht
angenehmer.
Jetzt also ist Paulus auf dem Weg
zurück nach Judäa. Er hat es zu etwas gebracht, er hat sich als
Soldat bewährt, er ist der Adjutant des Gouverneurs Falco, er hat
mitzureden; seinem Stiefvater Annius, ihrem Mann, hat Paulus
diesmal ganz besonders gefallen. Er wird Karriere machen. Er wird
sich auszeichnen im nächsten Feldzug, er wird auch einmal, da er es
so heftig wünscht und da er Energie hat, Gouverneur in Judäa werden
und den Juden zeigen, was ein Römer ist. Und es ist durchaus nicht
ausgeschlossen, daß sich auch sein höchster Traum erfüllt und daß
er einmal die Armeen des Reichs verwaltet wie jetzt Annius. Er ist
sehr römisch, und die Zeit ist sehr römisch, und der Kaiser ist
sehr römisch, und Annius liebt den ausgezeichneten Offizier Paulus;
warum soll er schließlich nicht des Annius Nachfolger
werden?
Und was wird sein, wenn er das
alles erreicht hat? Er wird sich auf der Höhe des Lebens vorkommen.
Und er wird glauben, auch sie, Dorion, sei bis ins Innerste
befriedigt von dem, was er erreicht hat. Ach, wie wenig weiß er von
ihr, ihr Sohn Paulus!
Mit Grimm denkt sie an die
vulgären Ausbrüche des Judenhasses, zu denen er sich bei Tische hat
hinreißen lassen, der ehemals so prinzliche Paulus. Seine wüsten
und törichten Reden sind ihr doppelt zuwider gewesen, weil sie kurz
vorher den »Apion« gelesen hatte. Sie hat geschwankt, ob sie’s tun
solle, aber da alle Welt von dem Buche sprach, hat sie es getan.
Und es erging ihr wie aller Welt, denn sie hat die Stimme des Josef
gehört, während sie las, sie hat die Stimme nicht aus dem Ohr
bekommen, und oft war ihr, als spräche er allein zu ihr durch
dieses Buch. Sie war voll glühenden Zornes, während sie las, und
sie war voll glühender Scham, und, warum soll sie sich’s nicht
selber eingestehen, ein wenig auch hat sich in ihr gerührt von
jenen alten, heftigen Gefühlen für den Mann, der aus diesem Buche
mit solcher Hitze und mit solcher Wildheit zu ihr redete.
Mehrmals hat sie daran gedacht,
dem Paulus das Buch zu geben. Sie wird sich immer wieder vorhalten,
daß sie’s nicht getan hat. Aber sie ist froh, daß sie’s nicht getan
hat. Denn durchaus möglich war es, daß er auch zum »Apion« nichts
hätte vorbringen können als plattes, bösartiges Geschwätz, und das
hätte sie schwer verwunden.
Das Leben ist voll von
merkwürdigen Zufällen. Vielleicht wird sie, nachdem sie an Paulus
eine solche Enttäuschung hat erleben müssen, um so mehr Freude an
Junius haben, ihrem zweiten Sohn. Vorläufig freilich sieht es nicht
so aus. Vorläufig sieht es aus, als werde er dem Vater nachgeraten,
dem Annius, als werde er ein wackerer, lauter, selbstbewußter, sehr
römischer junger Herr werden und sich gut in die Zeit fügen. Es
geschieht oft, daß sie das nicht wahrhaben will, oft sieht sie
allerlei hinein in ihren Junius. Aber jetzt, in der Sänfte
heimkehrend vom zweiten Meilenstein an der Appischen Straße,
scheint ihr auch da alles trüb und aussichtslos.
Von außen her durch die
heruntergelassenen Vorhänge der Sänfte dringt der Lärm der Stadt
Rom. Sie weichen ihrer Sänfte aus, die Bürger der großen Stadt, sie
geben ihr Raum und Ehre. Sicher beneidet man sie. Ist sie nicht
auch hoch hinaufgelangt, die Tochter des Malers, der sich verzehrte
in niemals gesättigtem Ehrgeiz? Er hätte es genossen, das, was sie
erreicht hat. Sie hat ihren erprobten Gatten, der sie liebt, den
Kriegsminister Annius Bassus, fest in der Gunst des Kaisers seit so
vielen Jahren. Sie hat ihre beiden, wie sagt man doch?, blühenden
Söhne, wohlgeraten beide. Sie gehört zum Ersten Adel des Reichs,
und ihre Söhne werden menschlicher Voraussicht nach erste Stellen
des Reichs einnehmen. Was also will sie?
Vieles will sie, und wenn es ihr
untertags gelingt, die bösen Gedanken zu vertreiben, ihre Nächte
sind voll von Bitterkeit. Wo ist sie geblieben, die schmale Dorion
von einst mit dem leichten, reinen Profil und dem zarten,
hochfahrenden Gesicht? Wenn sie sich jetzt in den Spiegel schaut,
dann sieht ihr eine dürre, säuerliche, unfrohe, alternde Frau
entgegen, und es nützt ihr wenig, daß ihr wackerer Annius das nicht
sehen will und an ihr hängt wie von je. In den Vierzig ist sie, das
Alter ist da, und was hat sie vom Leben gehabt? Wie viel aber hätte
sie haben können! Verpfuscht hat sie ihr Leben, auf frivole Art
vertan hat sie es. Selber böswillig getrennt hat sie sich von dem
einzigen Manne, zu dem sie gehört. Und wenn das Leben ihres Sohnes
leer und gemein und niedrig geworden ist, dann trägt sie die
Schuld, eben durch diese Trennung. Denn wenn sie bei dem Manne
geblieben wäre, dann hätte sich auch Paulus bewährt, so wie er
begonnen hat.
In letzter Zeit hat sie, ob sie
es wollte oder nicht, viel gehört über ihren weiland Mann. Wohin
immer sie kam, klang ihr sein Name entgegen. Sie hat gehört von der
Abreise der Mara und der Kinder des Josef, und sie hat die Achseln
gezuckt. Sie hat gehört von der Universalgeschichte, und sie hat
sie gelesen, und sie hat die Achseln gezuckt und das Buch beiseite
gelegt, und sie hat gehört, daß es die andern ebenso gemacht haben.
Das ist ihr eine Genugtuung gewesen. Der Mann war ein guter
Schriftsteller, solange er voll Leidenschaft war, solange er mit
ihr zusammen war und sie begehrte, und seitdem sie sich von ihm
getrennt hat, ist er ausgeschrieben. Sie hat dann gehört, daß er
seinen Sohn auf den Palatin gebracht hat und in den Dienst der
Lucia, und sie hat die Achseln gezuckt. Er ist immer ein Streber
gewesen, dieser Josef, und da er mit seiner Literatur nicht mehr
vorankommt, versucht er es mit Streberei. Mag er! Ihr war es recht,
daß sie sein Bild mit einer Schicht leiser Verachtung und
Gleichgültigkeit zudecken konnte. Und sie hat Weiteres über ihn
gehört. Sie hat gehört, daß er eine Vorlesung veranstalten wollte,
und merkwürdigerweise im Friedenstempel, und daß der Kaiser dieser
Vorlesung beiwohnen wird. Um ein Haar wäre sie hingegangen. Aber
sie überlegte, daß das Getuschel geben wird und daß es dem Annius
nicht angenehm sein wird, und soviel lag ihr wirklich nicht mehr an
Josef, daß sie das hätte auf sich nehmen wollen, um dabeizusein,
wenn er sich eitel blähte. Und sie hat die Achseln gezuckt und ist
nicht in den Friedenstempel gegangen.
Dann aber hat sie anderes gehört,
und sie hat es brennend bereut, daß sie seiner Vorlesung nicht
beiwohnte. Denn streberisch hat er sich nicht gezeigt bei dieser
Vorlesung, das kann man wirklich nicht behaupten, ja eigentlich muß
es großartig gewesen sein, wie er dem Kaiser seine Wahrheit und
seine Anklagen ins Gesicht geschleudert hat, vor den dreitausend
Zuhörern. Nein, feig ist er nicht, feig ist er ganz und gar nicht.
Freilich, auch ihr Annius ist nicht feig, und ihr Paulus nicht. Sie
stehen beide ihren Mann in der Schlacht. Aber die Tapferkeit des
Josef ist doch wohl eine ganz andere Art von Mut, eine viel
reizvollere. Ein wenig marktschreierisch, vielleicht, aber
gleichwohl großartig. Wenn er diesen merkwürdigen,
marktschreierischen, schamlosen und großartigen Mut nicht hätte,
dann hätte er wohl auch damals die Geißelung nicht auf sich
genommen, ihrethalb. Eine ganz feine Röte überwölkt ihr bräunliches
Gesicht, wie sie daran denkt.
Sie will nicht länger daran
denken, sie will nicht länger allein sein, sie will sich ablenken,
sie will Menschen sehen. Sie ließ die Sänfte halten und die
Vorhänge hochschlagen. Jetzt drang die Buntheit der Stadt auf sie
ein, die Fülle der Gesichter, viele begrüßten sie, ab und zu ließ
sie die Sänfte halten und sprach mit dem, mit jenem. Es glückte
ihr, die bösen Gedanken zu übertäuben.
Zu Hause angekommen indes, fand
sie einen Besucher vor, der sie zwang, sich noch mehr und
dringlicher mit ihrer Vergangenheit und mit Josef abzugeben als
bisher. Phineas wartete auf sie, der Grieche Phineas, der Lehrer
ihres Paulus, Josefs Feind.
Er stand, als Dorion eintrat,
vollendet ruhig da, sein großer, ungewöhnlich blasser Kopf schaute
unbewegt über dem dürren Körper, er hielt die dünnen, langen Hände
vollkommen ruhig. Doch Dorion wußte, mit wieviel Überwindung diese
Ruhe erkauft war. Phineas hing an Paulus. Wiewohl er vergeblich
viele Jahre besten Lebens daran gehängt hatte, seinen geliebten,
prinzlichen Paulus zu einem rechten Griechen zu machen, wiewohl der
Junge ihm entglitten und das geworden war, was der Grieche Phineas
so tief verabscheute, ein rechter Römer: trotzdem hing Phineas
weiter an dem Jungen. Als Paulus vor zwei Jahren in Rom gewesen,
hatte sich Phineas heiß darum bemüht, ihn neu zu gewinnen,
Menschliches schwingen zu machen zwischen seinem geliebten Schüler
und sich selber. Doch Paulus hatte sich gesträubt, er hatte sich
steif und verstockt gegeben und voll von unbeteiligter
Freundlichkeit, und es hatte Dorion das Herz bewegt, wie würdig und
ohne billige Ironie, wie in einem großen Sinne griechisch Phineas
das hingenommen hatte. Diesmal nun, als Paulus nach Rom gekommen
war, mit wie ängstlicher Spannung mußte Phineas ihm entgegensehen,
wie mußte er darauf gewartet haben, daß Paulus zu ihm komme oder
ihn rufe. Aber Paulus hatte den Unbequemen satt gehabt, er war
gekommen und war gegangen, ohne daß sein Lehrer ihn hätte sehen
dürfen.
Und da also stand nun Phineas und
wartete brennend darauf, was sie ihm über Paulus zu berichten
hätte. Aber er zeigte nichts von seiner Ungeduld, er machte
Konversation, höflich sprach er von Gleichgültigem.
Dorion hatte Mitleid mit ihm. Sie
waren bei aller Gehal tenheit ihres äußeren Verkehrs sehr vertraut,
er wußte um ihre wirren Beziehungen zu Josef, die Enttäuschung über
den abgeglittenen, fremdgewordenen, verplumpten Paulus band sie
aneinander, und Phineas war wohl der einzige Mensch, der ganz
begriffen hatte, wie wenig Dorion befriedigt war von ihrem eigenen
glänzenden Leben und dem ihres glänzenden Sohnes.
Bald also begann sie, ohne eine
Frage von ihm abzuwarten, selber von Paulus zu erzählen. Sie
berichtete von ihren Gesprächen mit ihm, sachlich und ohne Wertung,
sie klagte nicht, sie machte niemand Vorwürfe. Als sie aber zu Ende
war, sagte sie: »Und schuld an alledem ist Josef«, und während ihre
Haltung und ihre Stimme ruhig geblieben waren, flackerte in ihren
meerfarbenen Augen unbeherrschte Wut auf.
»Mag sein«, antwortete Phineas,
»mag sein auch nicht. Ich verstehe Flavius Josephus nicht; nicht,
was er ist, nicht, was er tut, er ist mir fremd, unverstanden und
unverständlich wie ein Tier. Und wenn ich einmal glaubte, seine
Motive zu erkennen, so hat sich später immer wieder herausgestellt,
daß alles ganz anders zusammenhing. Da haben wir uns zum Beispiel
vor nicht langer Zeit gewundert über den Mut, mit dem der Mann dem
Kaiser ins Gesicht seine frechen und aufrührerischen Überzeugungen
bekannte. Was er tat und sagte, und wie er’s tat, das schien uns
zwar lächerlich und gegen die Vernunft, aber wir haben den Mut
anerkannt, der aus seinem absurden Verhalten sprach. Nun aber
stellt sich heraus, daß unser Josephus für sein Heldenstück gar
nicht die Tapferkeit benötigte, die wir ihm zugute
hielten.«
Dorion schaute ihm mit ihren
meerfarbenen Augen aufmerksam ins Gesicht. »Bitte, sprechen Sie
weiter, mein Phineas!« forderte sie ihn auf. »Der Mann«, erklärte
mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme Phineas, »benötigte nicht
vielen Mutes deshalb, weil er einer sehr starken Rückendeckung
sicher war, der mächtigsten Fürsprecherin auf dem Palatin.« – »Sie
enttäuschen mich, mein Phineas«, antwortete Dorion. »Erst tun Sie,
als hätten Sie mir wunder was Neues zu berichten, und dann erzählen
Sie mir bedeutend, daß Lucia für die Juden und insbesondere für
Josephus etwas übrig hat. Wem war das neu? Und wieso wird dadurch
der Mut unseres Josephus geringer? Ein freundliches Wort unserer
Kaiserin ist kein starker Schild gegen gewisse Gefahren.«
»Ein freundliches Wort vielleicht
nicht«, sagte Phineas, »wohl aber das Bewußtsein, daß die erste
Dame des Reichs, eine Frau, ohne die der Kaiser nicht leben kann,
ihr ganzes Sein dafür einsetzen würde, ihn, den Helden, in jeder
Gefahr zu schützen.«
Nun war Dorion doch erblaßt. »Sie
sind kein Schwätzer, mein Phineas«, sagte sie, »der den Klatsch des
Palatin ungeprüft weitergibt. Sie werden sicher über Gründe und
Beweise verfügen, wenn Sie so gefährliche Dinge herumtragen.« –
»Ich trage nicht herum«, wies sie sanft Phineas zurecht, »ich
erzähle Ihnen, Herrin Dorion. Und Gründe und Beweise?« Er lächelte,
er setzte zu einer längeren Rede an. »Sie wissen, Herrin Dorion,
daß ich nicht einverstanden bin mit sehr vielem, was unser Herr und
Gott Domitian zu sagen und zu tun geruht. Ich bin vielmehr – ich
habe vor Ihnen immer ohne Umschweife gesprochen – ein Staatsfeind
im Sinne des Norban, ich verlange eine viel weitergehende Autonomie
für Griechenland, ich gefährde den Bestand des Reichs, Sie und
Annius Bassus dürften mich eigentlich nicht in Ihrem Hause dulden,
und es wird sicher einmal ein schlechtes Ende mit mir nehmen. Es
ist ein Wunder, daß mich der Kaiser noch nicht hat exekutieren oder
zumindest an seine Grenzen hat verbannen lassen wie meinen großen
Freund Dio von Prusa.« – »Sie sind geschwätzig«, sagte ungeduldig
Dorion, »und Sie kommen vom Thema ab.« – »Ich bin geschwätzig«,
antwortete ungekränkt Phineas, »wir Griechen sind es alle, wir
haben Freude am schöngesetzten Wort. Aber vom Thema komme ich nicht
ab. Da einige der mißvergnügten Senatoren meine Gesinnung genau
kennen und wissen, daß ich ein Feind des Regimes bin, geben sie
sich offen vor mir und schließen mich nicht aus, wenn sie über den
Palatin abfällige Reden führen. Ich weiß also, daß Senator Proculus
im vertrauten Kreis folgendes zum besten gegeben hat. Er habe jetzt
dreimal Gelegenheit gehabt, den Juden Josephus im Gespräch mit der
Kaiserin zu beobachten, wenn sich die Herrin Lucia und der Jude
unbeobachtet glaubten. Er habe da gewisse Blicke wahrgenommen,
halbe Wendungen, kleine Gesten, nichts weiter, und wisse nun doch,
und zwar mit einer Gewißheit, die unumstößlicher sei, als wenn er
einen Beischlaf mitangesehen hätte, daß es mehr sei als die Neigung
zu einem talentierten Schriftsteller, was die Herrin Lucia mit
diesem Manne verbindet. Nun kann man gegen Senator Proculus vieles
vorbringen, er ist ein verbohrter Republikaner und stur römisch,
aber eines muß man ihm lassen: er hat die
praktische Psychologie, die vielen Römern eignet. Das ist alles,
Herrin Dorion, und nun behaupten Sie noch einmal, ich hätte nicht
zum Thema gesprochen.«
Dorion war immer tiefer erblaßt.
Nie war sie auf Mara eifersüchtig gewesen, nie eifersüchtig auf
eine der vielen Frauen, mit denen Josef geschlafen hatte. Aber daß
Beziehungen sein sollten zwischen Lucia und Josef, wie sie dieser
Senator Proculus wahrgenommen haben wollte, das verstörte ihr das
Innere. Ihre Lebendigkeit war immer etwas erkünstelt gewesen, sie
hatte sie aus allen Winkeln ihres Seins zusammenkratzen müssen.
Jetzt hatte sie das ihr zugemessene Teil Vitalität verbraucht und
war eine alte Frau, aber da Annius in ihr immer noch die frühere
Dorion sah, hatte sie sich bis jetzt weismachen dürfen, auch Josef
werde, wenn er an sie denke, immer noch an die frühere Dorion
denken. Lucia aber war das, was Dorion gern hätte sein wollen, das
wilde, strotzende Leben. Lucia ist, obwohl so anders geartet, eine
vollendete Dorion, eine jüngere, bessere. Und Lucia ist schöner,
Lucia ist lebendiger, Lucia ist die Kaiserin. Wenn es so ist, wie
dieser Senator Proculus wahrgenommen haben will, dann wird Lucia
den letzten Schatten der Dorion aus Josefs Herzen verdrängen. Dann
bleibt nichts von Dorion in Josef.
Aber es ist eben nicht so. Das
Ganze ist nichts als das Gerede eines mißvergnügten Senators, eines
sturen Republikaners, den der Haß in jeder Maus einen Elefanten
sehen macht, und der Haß des Phineas tut ein übriges
dazu.
Und selbst wenn es wahr sein
sollte, was dann? Liebt sie denn den Josef?
Natürlich liebt sie ihn. Und sie
hat ihn immer geliebt. Und sie ist eine Närrin gewesen, daß sie
sich von ihm getrennt hat. Und jetzt hat sie den Annius an Stelle
des Josef. Und Josef, der kluge, der Sohn des Glücks, hat Lucia
eingetauscht gegen sie. Er war nicht einmal klug, er hat es nicht
einmal gewollt, er hat nur sie gewollt, Dorion, aber sie hat ihn
dazu gezwungen, sich Ersatz zu suchen, sie hat ihn der Lucia in die
Arme getrieben.
Aber nein. Das duldet sie nicht.
Das darf nicht so bleiben. Sie denkt nicht daran, beiseite zu
stehen und zuzuschauen. Sie wird ihm diese Suppe
versalzen.
»Und Domitian?« fragte sie
unvermittelt.
Phineas richtete den Blick voll
auf Dorion, ein böses, listiges, haßvolles, vertrauliches Flackern
war darin. Daß sie so frage, hatte er gewollt. Sehr wohl hatte er
zum Thema gesprochen, mit guter Kunst, dahin hatte er sie lenken
wollen, in ihr sollte der Plan entstehen. Wie damals die
Universität Jabne, so hatte er jetzt von neuem eine Stelle
gefunden, an der er den Gegner verwunden konnte, viele Umwege
freilich waren nötig, aber schwach war die Stelle, verwundbar war
sie, und die Aussichten sind gut, daß er diesmal den Josephus, den
Verhaßten, endlich treffen wird. »Ja, und Domitian«, erwiderte er
also, »das eben ist die Frage: wie trägt es Domitian?« Dorion,
ebenso langsam wie er, sagte, mit ihrer dünnen, schleppenden
Stimme: »Er ist sehr mißtrauisch. Er errät oft mehr, als da ist.
Wie sollte er das, was ist, nicht entdeckt haben?« Phineas aber
sagte: »Wer kann in den Kaiser hineinschauen? Er ist noch schwerer
durchschaubar als der Jude Josephus.« – »Es ist merkwürdig«,
grübelte Dorion weiter, »daß er den Josef nach jener Rezitation
unbehelligt gelassen hat. Vielleicht sind hier Zusammenhänge.
Vielleicht weiß DDD etwas und will es nicht zur Kenntnis
nehmen.«
Und Phineas gab zu erwägen:
»Vielleicht könnte man den Kaiser zwingen, davon Kenntnis zu
nehmen, daß seine Frau auf ärgerniserregende Art befreundet ist mit
dem Juden Josephus.«
Dorion aber, und jetzt war in
ihren meerfarbenen Augen das gleiche, leise böse Flackern wie in
den seinen, erwiderte: »Auf alle Fälle danke ich Ihnen, mein
Phineas. Ihr geschwätziger Bericht war doch nicht so weit vom Thema
ab, wie ich ursprünglich glaubte.«
Von da an wurde das Getuschel, das in Rom
über die Beziehungen der Kaiserin zu dem Juden umging, immer
lauter, bald konnte man es auf allen Straßen hören.
Norban, in der Erinnerung an den
Zorn des Kaisers, als er ihm den Witz des Aelius über sie berichtet
hatte, beriet mit Messalin, ob man DDD von dem Gerede informieren
solle. »Lucia ist in Bajae«, überlegte Messalin, »der Jude Josephus
hat mehrere Wochen in Bajae verbracht. Ich sehe keinen Grund, DDD
das zu verschweigen.« – »DDD wird sich darüber wundern, daß man es
ihm berichtet. Es ist auch nicht verwunderlich und will gar nichts
besagen, wenn der Jude Josephus in der Nähe seines Sohnes sein
will, in Bajae. DDD wird es grotesk finden, daß jemand dabei auf
anstößige Gedanken kommen kann.« – »Es ist auch grotesk«, gab der
Blinde mit seiner sanften Stimme zu. »Dennoch wäre es vielleicht
angebracht, DDD darüber zu informieren, daß die Kaiserin an dem
Juden und seinem Sohn einen Anteil nimmt, der Ärgernis erregt.« –
»Das wäre angebracht«, erwiderte Norban, »aber es ist ein heikles
Geschäft. Würden Sie es übernehmen, mein Messalin? Sie würden sich
ein Verdienst um das Römische Reich erwerben.« – »DDD muß von
selber daraufkommen«, regte Messalin an. »Es scheint mir zu Ihrem
Amtsbereich zu gehören, mein Norban, zu bewirken, daß DDD von
selber daraufkommt.« – »Und selbst wenn er auf solche Gedanken
käme«, erwog Norban, »Lucia brauchte nur zu lachen, und diese
Gedanken verschwänden, und übrig blieben höchstens gefährliche
Gefühle gegen jenen Mann, der ihn auf solche Gedanken gebracht
hat.« – »Es ist nicht gut«, sagte sentenziös Messalin, »daß der
Herr und Gott Domitian so eng und tief an einer Frau hängt. Sie
sollten es vielleicht doch wagen, mein Norban, ihn auf die
erwähnten Gedanken zu stoßen. Es gehört nun einmal zu Ihrem
Amtsbereich, und Sie würden sich ein Verdienst um den Staat
erwerben.«
Norban dachte lange über diese
Unterredung nach. Er war dem Kaiser sehr freund, er war ihm treu,
er hielt ihn für den größten Römer, und er haßte Lucia aus vielen
Gründen. Er spürte genau, daß ihre Art höher war als die seine, und
die freundlich unbeteiligte Manier, wie sie ihn gelegentlich
aufzog, erbitterte ihn tief. Viel lieber wäre ihm gewesen, sie
hätte ihn gehaßt und bei DDD gegen ihn gearbeitet. Auch kränkte es
ihn, daß sie, die der Herr und Gott Domitian seiner Liebe würdigte,
diese Liebe offenbar nicht recht schätzte. Er war des ehrlichen
Glaubens, daß ihr Einfluß Kaiser und Reich schade. Daß sie sich gar
mit dem Juden abgab, verkleinerte DDD, es war seinem Ansehen
abträglich, und überdies war es Lucia wohl zuzutrauen, daß sie mit
dem Juden schlief.
Was aber konnte er, Norban,
dagegen unternehmen? Messalin hatte leicht sagen: »Stoßen Sie den
Kaiser darauf!« Wie war das zu machen? Was konnte Norban
unternehmen, was den Kaiser dahin hätte bringen können, endlich
gegen den Juden und gegen die Frau einzuschreiten?
Während er sich mit solchen
Gedanken abquälte, fand er eines Tages in seinem Einlauf ein
vertrauliches Schreiben des Falco, Gouverneurs von Judäa, über die
Zustände der Provinz. In diesem Schreiben teilte der Gouverneur
unter anderem mit, er habe in seinem Archiv eine Liste vorgefunden,
auf der sogenannte Abkömmlinge des Königs David verzeichnet seien.
Man habe seinerzeit in Rom seinen Vorgängern ans Herz gelegt, auf
diese Leute besonders zu achten, in den letzten Jahren aber scheine
die Angelegenheit in Vergessenheit geraten zu sein. Er habe nun
neue Nachforschungen angestellt und ermittelt, daß von diesen
Abkömmlingen des alten Königs, soweit sie sich in Judäa befänden,
jetzt nur mehr zwei am Leben seien, ein gewisser Jakob und ein
gewisser Michael. In letzter Zeit sei um diese beiden, die sich
übrigens nicht Juden, sondern Christen oder Minäer nennten, wieder
mehr Gewese und Betrieb. Er selber habe deshalb die beiden
festnehmen lassen, und da er es für gut erachte, wenn sie zumindest
für eine Weile außer Landes seien, habe er sie aufs Schiff nach
Italien bringen lassen, damit man sie sich auf dem Palatin genauer
anschaue und über sie verfüge. Die sogenannten Davidssprößlinge
Jakob und Michael befänden sich also auf dem Weg nach
Rom.
Als Norban dieses Schreiben des
Gouverneurs Falco las, sah er deutlich vor sich den zierlichen
Sommerpavillon des Parks von Alba und davor die schweren Gestalten
der Doktoren von Jabne, und jäh dachte er daran, daß ja auch der
Jude Josephus nach wie vor ein sogenannter Davidssproß sei und daß
somit nach dem Glauben der Juden sowohl er wie sein Sohn Matthias
Anwartschaft hätten auf die Herrschaft über den Erdkreis. Mit
einemmal erschien ihm der Psalm vom Mut, den Josephus in höchster
Frechheit dem Kaiser ins Gesicht aufgesagt hatte, in ganz anderem,
viel gefährlicherem Licht; auch des Josephus und seines Sohnes
Freundschaft mit Lucia gewann auf einmal eine sehr andere, viel
bedrohlichere Bedeutung. Es war eine Kampfansage an den Kaiser und
an das Reich. Des Norban breites, viereckiges Gesicht verzog sich
in einem Lächeln, das seine großen, gesunden, gelben Zähne
freilegte. Er sah den Weg, wie er, ohne sich selber zu gefährden,
seinen Herrn auf die Gefahr hinweisen könnte, die aus den
Beziehungen des Josephus zu Lucia erwuchs. Erinnert an den
jüdischen Aberglauben von den Davidssprossen und vom Messias, wird
der Kaiser seine Gedanken bestimmt die gleiche Richtung nehmen
lassen, wie er selber es getan. Notwendig wird sich bei der
Erwähnung oder gar beim Anblick der beiden Davidssprossen Jakob und
Michael auch DDD daran erinnern, daß Josephus und sein Sohn die
gleiche Eigenschaft haben, und notwendig dann wird auch der
umsichtige, mißtrauische DDD gründlich nachdenken über den Juden
Josephus, seinen Sohn und die Beziehungen dieser beiden zu
Lucia.
Er sandte einen Kurier nach Alba,
ob der Herr und Gott Domitian die Gnade haben werde, ihn in den
nächsten Tagen vor sein Angesicht zu lassen.
Der Herr und Gott Domitian
verbrachte jetzt wieder den größten Teil seiner Zeit in Alba und
allein. Es war ein schöner Frühsommer, aber er hatte keine Freude
daran. Er lag in seinen Treibhäusern herum, er stand vor den
Käfigen seiner wilden Tiere, aber er wurde sich der künstlich
gereiften Früchte ebensowenig bewußt wie des Panthers, der ihn aus
dem Winkel seines Käfigs schläfrig anblinzelte. Er zwang sich zur
Arbeit, doch seine Gedanken glitten ab. Er befahl seine Räte zu
sich, er hörte ihre Ausführungen nur mit halbem Ohr und später
überhaupt nicht. Er befahl Frauen zu sich und ließ sie gehen, wie
sie gekommen waren.
Er hat die Frechheit des Juden
Josephus nicht vergessen, und er denkt natürlich nicht daran, ihm
sein Verbrechen hingehen zu lassen. Aber die Strafe will bedacht
sein. Denn das Ungeheuerliche, daß der Jude ihm und seiner Welt und
seinen Göttern offen vor aller Ohren den Krieg angesagt hat, das
hat er nicht etwa nur dem Trieb der eigenen Brust folgend getan,
sondern als Sendung seines Gottes. Und auch daß Lucia ihn
beschwatzt hat, jener Rezitation der Ode vom Mut beizuwohnen,
geschah nicht aus einfacher böser Lust, sondern auch hinter ihr
stand, wahrscheinlich ihr unbewußt, sein schlimmer Feind, der Gott
Jahve. Es ist merkwürdig und beschäftigt den Kaiser auch jenseits
seines persönlichen Interesses an Lucia, daß es Jahve geglückt ist,
diese Frau auf seine Seite zu bringen und dem Jupiter abzuwenden,
dem sie doch durch ihre Geburt zugehört. Er ist ein überaus
verschlagener Gott, dieser Jahve, und Domitian muß jeden seiner
Schritte mit größter Vorsicht bedenken.
Ab lehnt er von vornherein jeden
Verdacht, daß es sich bei den Beziehungen zwischen Lucia und dem
Juden um eine Bettfreundschaft handeln könnte. Ginge es um
fleischliche Lust, dann würden die beiden ihre Beziehungen
verstecken. Statt dessen hat der Jude, offenbar verblendet durch
seinen Gott, ihm vor ganz Rom und unter dem Beifall der Kaiserin
den Streit verkündet.
Das einfachste wäre natürlich,
sie allesamt zu zertreten, den Juden Josephus und seine Frucht, den
Knaben Matthias, und Lucia dazu. Aber Domitian weiß leider sehr
gut, daß diese einfachen Mittel keineswegs so radikal wirken, wie
man glauben sollte. Es haben sich zu viele von dem Gift des
jüdischen Wahnwitzes anstecken lassen, und der Tod einiger
Angesteckter schreckt die andern nicht, sondern macht sie nur noch
gieriger nach dem Gift. Irrwahn wird, wenn Menschen dafür sterben,
nicht bitter, sondern süß.
Wie rottet er die östliche
Tollheit aus? Jedes Mittel ist ihm recht, List, Liebe, Drohung.
Doch wo findet er ein Mittel? Er findet keines.
Er sammelt sich, er betritt seine
Hauskapelle, er wendet sich um Rat an seine Göttin, an die Göttin
der Klarheit, an Minerva. Er schmeichelt ihr, droht ihr,
schmeichelt ihr von neuem. Versenkt sich in sie. Mit seinen großen,
vorgewölbten, kurzsichtigen Augen starrt er in die großen, runden
Eulenaugen der Göttin. Doch sie läßt sich nicht zwingen, sie steht
ihm nicht Rede, stumm und dunkel mit ihren Tieraugen schaut sie ihn
an. Er aber fleht von neuem, nimmt alle Kraft zusammen, beschwört
sie. Und zuletzt gelingt es ihm doch, er reißt das Wort aus ihr
heraus, sie tut den Mund auf, sie spricht. »Oh, mein Domitian«,
sagte sie, »mein Bruder, mein Liebster, mein Schützling, warum
zwingst du mich, daß ich dir spreche? Denn mein liebes Herz
schmerzt mich, daß ich dir sagen muß, was ich dir nicht sagen
möchte. Aber Jupiter und die Schicksale haben es mir befohlen. Höre
also und bleibe mutig. Ich muß fort von dir, ich darf dir nicht
länger raten, mein Bild hier in deiner Hauskapelle wird eine leere
Hülle sein und ohne Leben. Oh, wie bin ich traurig, Domitian, mein
sehr geliebter! Aber ich muß dir fernbleiben fortan, ich darf dich
nicht länger beschützen.«
Die Knie wurden Domitian weich,
der Atem setzte ihm aus, sein ganzer Körper schwamm in kaltem
Schweiß, er mußte sich an die Wand lehnen. Er sagte sich, es sei
nicht die Stimme seiner Minerva gewesen, sein Feind, der Gott
Jahve, habe aus ihrem Bild gesprochen, trügerisch, um ihn zu
ängstigen. Ein Tagtraum sei es gewesen, eines jener falschen
Gesichte, wie sie so häufig sind im Lande Jahves und von denen ihm
sein Soldat Annius Bassus erzählt hat. Doch diese Tröstungen
nützten nichts, die blasse, kalte Furcht blieb.
Seine Feindschaft gegen die
Menschen und sein Mißtrauen wuchsen. Er gab seinem Hofmarschall und
seinem Gardepräfekten Order, den Zugang zu ihm mit allen Mitteln zu
erschweren und einen jeden, der das Palais betrat, noch schärfer
nach Waffen untersuchen zu lassen. Und er beauftragte seine
Architekten, auf dem Palatin sowohl wie in Alba die Wohn- und
Empfangsräume mit einem spiegelnden Metall zu verkleiden, so daß
er, wo immer er stand, ging oder lag, jeden wahrnehmen könne, der
ihm nahe.
So also hatte der Kaiser seine
Tage in Alba verbracht, als ihn der Polizeiminister aufsuchte. Er
freute sich, Norban zu sehen. Er freute sich darauf, aus der Welt
seiner Träume hinaufzutauchen in die Welt der Tatsachen. Neugierig
und wohlwollend, ja mit einer gewissen Zärtlichkeit, schaute er
seinem Norban in das treue, brutale und verschlagene Gesicht und
hatte wie immer seine Freude daran, die modischen Locken des
tiefschwarzen, dicken Haares unordentlich und etwas grotesk in die
Stirn des vierschrötigen Antlitzes fallen zu sehen.
»Also«, forderte er ihn auf und
setzte sich bequem zurecht, »und jetzt lassen Sie mich ausführlich
hören, was es in Rom Neues gibt!« Das tat denn auch Norban, er
erstattete eingehenden Bericht über die letzten Ereignisse in Stadt
und Reich, und seine kräftige, feste Stimme war wirklich dazu
angetan, die wüsten Träume des Kaisers zu verscheuchen und ihn
zurückzuführen in die nüchterne Wirklichkeit.
»Und was hören wir aus Bajae?«
fragte nach einer Weile der Kaiser. Norban hatte sich vorgenommen,
über Lucia, Josephus und Matthias so wenig wie möglich zu sprechen,
der Kaiser sollte von alleine auf die Zusammenhänge kommen. »Aus
Bajae?« wiederholte er behutsam. »Die Kaiserin fühlt sich dort
wohl, soweit ich unterrichtet bin. Sie treibt viel Sport, sie
schwimmt, wiewohl es noch so früh im Jahr ist, sie veranstaltet
Ruderrennen in der Bucht, sie hat viele Menschen um sich, Menschen
jeder Art, sie beschäftigt sich mit Büchern.« Er machte eine ganz
kleine Pause, dann aber konnte er sich doch nicht enthalten,
hinzuzufügen: »Sie hat sich zum Beispiel von dem Juden Josephus aus
seinem neuen Buch vorlesen lassen, das, wie meine Herren mir
berichten, eine glühende Verteidigung des jüdischen Aberglaubens
ist, ohne indes die erlaubte Grenze zu überschreiten.« – »Ja«,
erwiderte der Kaiser, »es ist ein heftiges und sehr vaterländisches
Buch. Wenn sich mein Jude Josephus so unverstellt zeigt, ist er mir
lieber, als wenn er seine römisch-griechisch-jüdische
Mischmaschweisheit verkündigt. Im übrigen«, erwog er weiter, genau
wie seinerzeit Norban selber, »ist es nicht weiter verwunderlich,
wenn sich mein Jude Josephus in Bajae aufhält, da die Kaiserin
seinen Sohn in ihr Gefolge aufgenommen hat.« Und da Norban schwieg,
setzte er hinzu: »Sie ist sehr zufrieden mit diesem jungen Sohne
des Josephus, höre ich.« Norban hätte gern über Josephus und seinen
jungen Sohn allerlei geäußert, aber er hatte sich nun einmal
vorgesetzt, es nicht zu tun, und blieb seinem Vorsatz treu. Er
schwieg.
»Und was sonst?« fragte Domitian.
»Eigentlich nichts mehr«, antwortete Norban. »Höchstens noch dies,
daß ich dem Herrn und Gott Domitian einen kleinen, amüsanten
Zeitvertreib vorschlagen könnte. Vielleicht erinnert sich Eure
Majestät daran, daß wir einmal in einer erheiternden Zusammenkunft
mit einigen jüdischen Doktoren festgestellt haben, die Juden sähen
in den Nachkommen eines gewissen Königs David Anwärter auf den
Thron des Erdkreises. Wir haben seinerzeit die Liste dieser
Prätendenten aufgestellt.« – »Ich erinnere mich«, nickte der
Kaiser. »Nun berichtet mir Gouverneur Falco«, fuhr Norban fort,
»daß in seiner Provinz Judäa noch zwei dieser Davidssprößlinge
existieren. Es war in letzter Zeit Gerede und Gewese um diese
beiden. Daraufhin hat sie Falco nach Rom geschickt, damit wir über
sie befänden. Ich wollte nun den Herrn und Gott Domitian fragen, ob
er sich nicht vielleicht den Spaß machen will, sich diese beiden
Anwärter auf die Weltherrschaft zu beschauen. Es handelt sich um
einen gewissen Jakob und um einen gewissen Michael.«
Genau wie es Norban beabsichtigt
und vorausgesehen hatte, weckte dieser Vorschlag in der Seele des
Domitian zahllose Gedanken, Schlüsse, Wünsche, Ängste, die darauf
gewartet hatten, erweckt zu werden. Domitian hatte es wirklich
vergessen, daß der gefürchtete und verachtete Jude Josephus und
sein Sohn für eine Reihe von Leuten als Nachkommen eines Königs ihm
selber gleichgestellt waren. Jetzt aber, da Norban die Erinnerung
an jenes merkwürdige Gespräch mit den Doktoren und seine Folgen
wieder aufgefrischt hatte, stand ihm diese Vorstellung, daß ja
dieser Josephus und sein Sohn Prätendenten waren, Nebenbuhler,
ungeheuer lebendig wieder auf. So lächerlich die Ansprüche dieser
Leute waren, sie waren deshalb nicht weniger in der Welt und nicht
weniger gefährlich. Und es war klar, daß diese Davidssprossen
gerade jetzt die Zeit für gekommen hielten, ihre Ansprüche neu
anzumelden. Durch diesen Anspruch auch, das ging ihm bei dem
Bericht des Norban auf, durch diese seine vorgebliche Abstammung
von den alten östlichen Königen, hatte er offenbar die Phantasie
Lucias angezogen, durch diese Behauptung hatte er’s erwirkt, daß
sie seinen jungen, lächerlichen Sohn in ihren Dienst nahm. Und so
auch, pochend auf sein Recht als Königssproß, hatte er es gewagt,
ihm seine Verse vom Mut ins Gesicht zu schleudern. Er, Domitian,
hatte also recht gehabt, wenn er hinter dem allem seinen großen
Feind vermutete, den Gott Jahve.
Keine fünf Sekunden indes
dauerten diese Erwägungen. Des Kaisers Gesicht freilich hatte sich
gerötet wie immer, wenn er in Erregung und Wirrnis war, aber seine
Haltung zeigte nichts von dieser Erregung. »Das ist ein guter
Vorschlag«, erklärte er munter, und: »Schön«, sagte er, »führ mir
die Leute vor, mein Norban! Und recht bald!«
Schon in der nächsten Woche also wurden die
Davidssprossen Jakob und Michael nach Alba gebracht.
Ein Feldwebel der Leibgarde
führte sie in einen kleinen, prunkvollen Saal. Da standen sie,
breit, derb und unbeholfen, inmitten des kostbaren Rahmens. Es
waren bäurisch aussehende Männer, um die Leiber geschlagen hatten
sie die langen, grobstoffigen Kleider Galiläas, sie trugen große
Bärte um ihre stillen Gesichter, Michael mochte achtundvierzig,
Jakob fünfundvierzig Jahre alt sein. Sie sprachen wenig, die fremde
Umgebung schien ihnen Unbehagen, doch keine Angst
einzuflößen.
Der Kaiser kam herein, steifen
Schrittes, gefolgt von Norban und einigen Herren, auch einem
Dolmetsch, denn die beiden Männer sprachen nur aramäisch. Als der
Kaiser eintrat, sagten sie etwas in ihrem Kauderwelsch. Domitian
fragte, was sie gesagt hätten; der Dolmetsch erklärte, es sei eine
Begrüßung. Ob es eine ehrfürchtige Begrüßung gewesen sei, fragte
Domitian; der Dolmetsch, etwas zögernd, erwiderte, es sei eine
Begrüßung gewesen, wie sie zwischen Gleichgestellten üblich sei.
»Hm, hm!« sagte der Kaiser. Er ging um die Männer herum. Es waren
gewöhnliche Männer, Bauern, grob von Gliedern und von Gesichtern
wie Bauern; sie rochen auch wie Bauern, wiewohl man sie, bevor man
sie vor ihn ließ, bestimmt gewaschen hatte.
Domitian, mit seiner hohen,
schrillen Stimme, fragte: »Ihr seid also vom Stamme eures Königs
David?« – »Ja«, erwiderte schlicht Michael, und Jakob erklärte:
»Wir sind verwandt mit dem Messias, wir sind Urgroßneffen.«
Domitian, nachdem ihm der Dolmetsch das übersetzt hatte, schaute
sie aus seinen vorgewölbten, kurzsichtigen Augen verständnislos an.
»Was meinen sie jetzt, diese Männer?« wandte er sich an Norban.
»Wenn diese späte Verwandte des Messias sind, dann nehmen sie doch
offenbar an, daß der Messias schon lange dagewesen sei«, und:
»Fragen Sie die!« befahl er dem Dolmetsch.
»Was heißt das, ihr seid
Urgroßneffen des Messias?« fragte der Dolmetsch. Michael erklärte
geduldig: »Der Messias hieß mit Namen Josua Ben Josef und starb am
Kreuz um der Erlösung des Menschengeschlechtes willen. Er war der
Menschensohn. Er hatte einen Bruder namens Juda. Von diesem Bruder
stammen wir ab.« – »Können Sie folgen, meine Herren?« wandte sich
Domitian an seine Umgebung. »Mir scheint das etwas wirr. Fragen Sie
sie«, befahl er, »ob also das Reich des Messias schon da ist!« –
»Es ist da, und es ist nicht da«, erklärte Jakob. »Josua Ben Josef
aus Nazareth ist am Kreuz gestorben und wieder auferstanden, da hat
es begonnen. Er wird aber noch einmal auferstehen, und dann erst
wird er sich in seiner ganzen Glorie zeigen, richten über die
Lebendigen und die Toten und einen jeden behandeln nach seinem
Verdienst.« – »Interessant«, meinte der Kaiser, »sehr interessant.
Und wann wird das sein?« – »Das wird am Ende der Zeiten sein, beim
Jüngsten Gericht«, erklärte Michael. »Eine sehr präzise Zeitangabe
ist das nicht«, kommentierte der Kaiser, »aber ich denke, der Mann
will sagen, es werde noch eine Weile dauern. Und wer wird herrschen
in diesem Reiche des Messias?« fragte er weiter. »Der Messias
natürlich«, antwortete Jakob. »Welcher Messias«, fragte der Kaiser,
»der tote?« – »Der auferstandene, gewiß«, erwiderte Michael. »Und
wird er Gouverneure einsetzen«, fragte Domitian, »Stellvertreter?
Und wen wird er da berufen? Seine Verwandten doch wohl in erster
Linie. Sagt mir, welcher Art wird seine Herrschaft sein?« – »Von
Gouverneuren wissen wir nichts«, erklärte ablehnend Jakob, und
Michael beharrte: »Es wird keine irdi sche, sondern eine himmlische
Herrschaft sein.« – »Das sind plumpe Träumer«, meinte der Kaiser,
»mit denen man nicht reden kann. Und ihr seid also aus dem Stamme
David?« vergewisserte er sich noch einmal. »Wir sind es«, erwiderte
Jakob. »Wieviel Steuern habt ihr zu zahlen?« erkundigte sich der
Kaiser. »Wir haben einen kleinen Hof, er hat neununddreißig
Plethren«, gab Michael Auskunft. »Von den Einkünften dieses
Besitzes leben wir. Wir bebauen ihn mit zwei Knechten und einer
Magd. Dein Steuereinnehmer hat den Wert des Besitzes auf
neuntausend Denare geschätzt.« Domitian überlegte: »Hohe Revenuen
sind das nicht für die Abkömmlinge eines großen Königs und die
Anwärter auf Königreiche und Provinzen. Zeigt mir eure Hände!«
befahl er unvermittelt. Sie zeigten sie ihm, Domitian beschaute sie
aufmerksam, es waren harte, schwielige Bauernhände. »Gebt ihnen
anständig zu essen«, entschied der Kaiser, »und schickt sie zurück,
aber auf einem einfachen Schiff, und verwöhnt sie mir
nicht!«
Zu Norban aber, nachdem sie
gegangen waren, sagte er: »Was für ein lächerliches Volk sind die
Juden, in solchen Leuten Thronprätendenten zu sehen! Waren die
beiden nicht komisch in ihrem einfältigen Stolz?«
»Diese waren komisch«, antwortete
Norban, und er legte den Ton auf das »diese«. Da wurde Domitian
sehr rot, und dann wieder blaß, und dann wieder rot. Denn Norban
hatte recht; diese waren komisch, andere Davidssprossen aber,
Josephus und sein Sohn, waren durchaus nicht komisch, und neu
aufstand in Domitian die Furcht vor Josephus und vor seinem Gotte
Jahve.
Soweit hatte die Unterredung mit
den Davidssprossen genau die Wirkung, die sich Norban davon
versprochen hatte. Dann aber nahm sie einen Weg, der dem
Polizeiminister keineswegs erwünscht sein konnte. Der Kaiser
nämlich, argwöhnisch, wie er war, sagte sich plötzlich, sehr wohl
möglich sei es, ja wahrscheinlich, daß Norban mit Absicht diese
Gedanken in ihm habe entstehen lassen. Darum vermutlich hatte
Norban von Anfang an soviel Gewicht gelegt auf diese beiden
Davidssprossen, denen er ja sicher so gut wie er selber angesehen
hatte, wie harmlos sie waren.
Auch Norban also hat offenbar von
Anfang an erkannt, wie gefährlich Josephus war, und wenn er ihn,
den Kaiser, auf diese Gefahr aufmerksam gemacht hat, so hat der
Treue nur seine Pflicht getan, hat sie übrigens mit einem Takt
erfüllt, den er, Domitian, dem plumpen Manne nie zugetraut hätte.
Trotzdem, es ist schwer erträglich, daß dieser Norban seine
Gedanken so genau erraten kann; es grenzt an Aufruhr, daß dieser
Untertan sich erkühnt, den Gedanken des Gottes Domitian ihre Bahn
vorschreiben zu wollen. Er hat diesen Norban zu nah an sich
herangelassen. Jetzt ist einer in der Welt, der ihn zu genau kennt.
Gefühle solcher Art bewegen den Kaiser, es sind keine Gedanken, so
weit läßt er das Verworrene nicht erst Gestalt annehmen, aber er
kann nicht verhindern, daß sein Blick, der den Kopf seines
Polizeiministers mustert, Mißtrauen zeigt, etwas wie Furcht. Das
dauert freilich nur einen Teil eines Augenblicks; denn das Gesicht,
das er sieht, ist kräftig, verlässig, brutal, das Gesicht eines
treuen Hundes, genau das Gesicht des Polizeiministers, wie er ihn
sich wünscht.
Norban hat ihm mit der Zuführung
der Davidssprossen eine willkommene Unterhaltung geboten, er hat
ihn willkommene Einblicke tun lassen. Er ist seinem treuen
Polizeiminister dankbar dafür, er sagt das auch, aber er entläßt
ihn schnell, beinahe abrupt.
Allein, überlegt er. Was diesen
Kampf gegen Jahve so besonders schwer macht, das ist, daß er sich
eigentlich in dieser Sache keinem Menschen ganz anvertrauen kann.
Norban ist treu, aber seine Seele ist nicht subtil genug, um etwas
so Kompliziertes, Abgründiges, wie die Feindschaft dieses
unsichtbaren, ungreifbaren Jahve, ganz zu erfassen, und überdies
will ihn der Kaiser nun nicht noch tiefer in sein Inneres
hineinblicken lassen. Marull und Regin würden vielleicht verstehen,
worum es in diesem Kampfe geht. Aber selbst wenn er sich ihnen mit
großen Mühen verständlich machen könnte, was dann hätte er
erreicht? Die beiden sind alte Männer, lässig, duldsam, liberal,
keine Kämpfer, wie dieser Kampf sie erfordert, in dem es hart auf
hart geht. Annius Bassus wäre ein guter Kämpfer, aber er ist nun
bestimmt zu simpel für einen so schlauen und schwer faßbaren Feind.
Bleibt Messalin. Der hat Kopf genug, zu erfassen, wer der Feind ist
und wo er steht, er hat Mut und Kraft genug, und er ist treu. Aber
die Erinnerung ist in Domitian an das Unbehagen, als er wahrnehmen
mußte, wie ihn sein Norban durchschaute. Er wird sich an Messalin
wenden, doch erst dann, wenn er sich allein durchaus nicht mehr
zurechtfindet.
Er wird sich aber zurechtfinden.
Vor seinem Schreibtisch sitzt er, die Schreibtafel hat er
herausgezogen. Er grübelt. Er sucht sich zu sammeln. Es gelingt
nicht. Die Gedanken zerrinnen ihm. Wohl gräbt sein Griffel in das
Wachs der Schreibtafel, aber es sind keine Worte, die er formt,
sondern mechanisch zeichnet er Kreise und Ringe. Und mit Schreck
nimmt er wahr, daß es die Augen der Minerva sind, die er geformt
hat, die großen, runden Eulenaugen, die ihm jetzt leer und ohne
Licht und ohne Rat bleiben.
Und mit einemmal ist ihm die
Gefahr, die ihn so oft bedroht hat, der Meuchelmord, den ihm seine
Gegner so oft angekündigt haben, nichts Wesenloses mehr, kein
Abstraktum, wie es einem blühenden Manne in seinem Alter der Tod zu
sein pflegt, der ihn in fernen Jahren einmal erreichen wird,
sondern etwas sehr Wesenhaftes, Nahes. Er ist nicht feige. Doch das
Gefühl grenzenloser Sicherheit, das ihn bis jetzt erfüllt hat, da
er sich im Schutz seiner Göttin wußte, dieses Gefühl hat ihn
verlassen. Der Tod, ihm bisher ein sehr Fernes, ist ihm ein Nahes
geworden, das bedacht sein will.
Wenn er unter die Götter gehen
sollte, wenn er von dieser Erde verschwinden sollte, er, dieses
Fleisch und Bein des Mannes Domitian, was dann wird aus seiner
Idee, was dann wird aus dieser Idee Rom, die er tiefer und neuer
erfaßt hat als die vor ihm? Wer, wenn er nicht mehr da ist, soll
diese Idee schützen und weitertragen?
Diese Idee Rom, wie er sie
versteht, ist geknüpft an die Herrschaft der Flavier. In seinem
Innersten, ganz heimlich, hat er trotz allem immer noch gehofft auf
Nachkommenschaft von Lucia. Aber sich noch länger an diese nebelige
Hoffnung zu klammern, jetzt, da Gefahr für ihn ist, wäre Wahnsinn.
Hinunter mit der Hoffnung, fort mit ihr! Schade, daß er sich
gefürchtet hat vor den frechen Zungen seiner Feinde, daß er nicht
das Kind, das ihm Julia trug, hat zur Welt kommen lassen. Wie schön
wäre es, wenn er einen selbstgezeugten Sohn als seinen Nachfolger
designieren könnte.
Aber das kann er nun einmal
nicht. Die flavische Dynastie steht auf den beiden Knaben, auf den
Zwillingen Constans und Petron. Wenigstens sind die Knaben reinstes
flavisches Blut vom Vater und von der Mutter her. Und es ist gut,
daß er die Einflüsse, welche die beiden hätten verderben können,
getilgt hat, daß er Clemens in den Tod und Domitilla auf die
balearische Insel geschickt hat. Jetzt wachsen seine jungen Löwen
heran in der guten Zucht des sehr römischen Quintilian und entzogen
dem Gotte Jahve.
Ganz entzogen freilich hat er sie
dem Jahve nicht. Für diese heißen Monate hat Lucia die Knaben zu
sich genommen, nach Bajae, sie wollte nicht, daß die Zwillinge,
getroffen von dem Schicksal ihrer Eltern, noch länger in dem öden
Haus des toten Vaters und der verbannten Mutter wohnen sollten, und
er hat es zugelassen. Wie hat er es zulassen können? Es war
selbstverständlich einfach eine List des Gottes Jahve, daß er der
Lucia eingegeben hat, sie möge sich der Söhne des toten Clemens
annehmen. Vielleicht steckt auch wieder einmal unser Josephus
dahinter, der Sendling des Jahve. Es ist unfaßbar, daß er,
Domitian, das alles nicht gleich durchschaut hat. Er hat sich
schließlich als der Vetter der Knaben gefühlt, als ihr Verwandter,
er hat sich ihnen nicht allzu streng zeigen wollen, denn ihm lag,
ihm liegt noch an der Liebe der Zwillinge. Vor allem aber, er will
offen vor sich sein, hat er sich vor Lucia nicht zu schroff zeigen
wollen.
Aber jetzt wird das ein Ende
finden. Er weiß auch, wie. Er wird seinen alten Vorsatz, die
Zwillinge zu adoptieren, endlich wahr machen. Er wird sie an seinen
Hof berufen, so werden sie von selber dem Dunst des Josephus und
seines Matthias entzogen sein. Er wird dann das Seine getan haben,
der Idee Rom, wenn er, unbeschützt von Minerva, von dieser Erde
sollte wegmüssen, neue Verteidiger zu hinterlassen.
Sein gesammeltes Gesicht
entspannt sich, er lächelt. Es ist ihm etwas Erfreuliches
eingefallen. Wenn er die Knaben adoptiert, dann ist das ein
selbstverständlicher Anlaß, auch Lucia vor sein Angesicht zu rufen.
Und wenn sie erst da ist, dann wird sich vieles klären. Sie hat
trotz allem, trotz der Blendung durch Jahve, immer Verständnis
gezeigt für seine Ideen, denn sie ist Römerin. Er wird, der Römer,
zur Römerin sprechen, er fühlt in sich die Kraft, Lucia
zurückzugewinnen.
Er lächelt. Er fühlt sich auch
ohne den Schutz der Minerva noch nicht verloren. Auch das Böse hat
seine guten Seiten. Hätte sich nicht die Gefahr, die von Jahve
droht, von neuem so sichtbar vor ihm aufgerichtet, dann hätte er
die Adoption noch weiter hinausgeschoben. So aber, durch diese
schnelle Adoption, erreicht er zwei Ziele mit einem Schlag. Nicht
nur errichtet er auch für die Zukunft der Idee Rom neuen Schutz und
Schirm, er wird dadurch vermutlich auch diesem Jahve die
neugewonnene Bundesgenossin Lucia wieder abspenstig machen. Lucia
ist römisch durch und durch, Lucia liebt ihn, das ist keine Frage,
wenn auch auf ihre stolze, widerspenstige Art, Der Gott Jahve hat
ihr den Sinn vernebelt. Aber ihm, dem Gotte Domitian, wird es
gelingen, die unheilvollen Dämpfe zu zerstreuen, mit welchen der
östliche Gott sie getrübt hat, so daß sie wieder klar sieht wie er
selber.
Unverweilt machte er sich ans
Werk und traf die nötigen Vorbereitungen für die Adoption. Auch
schrieb er noch am gleichen Tag einen ausführlichen Brief an Lucia.
Er diktierte nicht, er schrieb selber und bemühte sich, die Sätze
persönlich und sehr herzlich zu halten. Um der Fortführung der
Dynastie willen, schrieb er, und da er doch von ihr weitere
Nachkommenschaft kaum zu erwarten habe, erachte er es für seine
Pflicht, die Nachkommen jenes Flavius Clemens, den er leider habe
hinrichten lassen müssen, zu adoptieren. Die Zwillinge lägen ihm am
Herzen, und er habe mit Freuden wahrgenommen, daß sie auch ihr zu
gefallen schienen. So hoffe er, daß ihr sein Entschluß willkommen
sein werde. Schon zu lange habe er die Angelegenheit
hinausgezögert. Um so mehr jetzt werde er sie beschleunigen. Er
gebe also am gleichen Tag dem Quintilian Auftrag, sich mit den
Knaben zu ihm nach Alba zu begeben. Er halte es für richtig, die
Knaben unmittelbar nach der Adoption trotz zarten Alters die
Männertoga anlegen zu lassen. Beide Zeremonien, Adoption und
Anlegung der Männertoga, wünsche er mit Feierlichkeit vorzunehmen.
Es solle den Römern in den Kopf gehämmert werden, daß er der
Dynastie neue Reiser aufpfropfe. Es wäre ihm eine große Freude,
wenn sie sich entschlösse, die Bedeutung des vorzunehmenden Aktes
durch ihre Anwesenheit zu erhöhen.
Die Zwillinge waren, als sie mit ihrem
Lehrmeister Quintilian bei Lucia in Bajae ankamen, sehr verstört
gewesen. Der Tod des Vaters, die Verbannung der Mutter hatte ihre
von Natur offenen Gesichter verschlossen gemacht, und es hatte von
seiten des Quintilian vieler Behutsamkeit bedurft, sie ohne schwere
Seelenstörungen über diese schlimme Zeit hinwegzubringen. Jetzt,
bei Lucia, wurden sie langsam gelöster, weniger scheu. Domitilla
hatte sich, bevor sie auf ihre balearische Insel ging, von Lucia
versprechen lassen, daß diese sich ihrer Söhne annehmen und dem
lateinischen Einfluß des Quintilian entgegenwirken werde. Lucia
behandelte die beiden Jungen durchaus als Erwachsene, sie ging mit
ihnen vorsichtig um, doch ohne ihr Mitleid allzu deutlich zu
zeigen. Allmählich brach denn auch die Verkrustung der Knaben, und
sie wurden wieder zutraulich und jung, so wie sie geboren
waren.
Es war dies vor allem das
Verdienst des Matthias. Zwischen ihm und den beiden Prinzen hatte
sich rasch eine gute Knabenfreundschaft angesponnen. Die Zwillinge
waren angenehm von Wesen, das Strahlende, Jungmännliche, das von
Matthias ausging, wirkte auf sie noch stärker als auf die andern,
sie anerkannten neidlos, daß er ihnen überlegen war. Wenn sie mit
ihm zusammen waren, dann konnten sie trotz der finstern Ereignisse,
die sie hatten durchleben müssen, harmlos sein, ja vergnügt wie
früher und die Intrigen und Kämpfe ringsum vergessen. Sie trieben
dann mit knabenhaftem Ehrgeiz allerhand Sport, balgten sich,
dalberten.
Daß man ihren Freund Matthias
verspottete um seiner jüdischen Abstammung willen, focht sie nicht
an. Durch ihre Eltern waren sie vertraut mit minäischen
Gedankengängen, sie waren gefeit gegen judenfeindliche
Einflüsterungen. Daß ihr Vater wegen seiner judaisierenden
Neigungen hatte sterben müssen, machte es ihnen zur Ehrenpflicht,
für Matthias einzutreten; sie hingen an ihm mit eifriger
Freundschaft. Dem Matthias gefielen nicht nur seine Kameraden, es
steigerte auch sein Selbstgefühl, daß ihm die beiden Prinzen, die
nächsten Anverwandten des Kaisers, so ergeben waren. Einmal hörte
er, wie ein neu eingetretener ägyptischer Leibeigener der nach ihm
fragenden Caecilia die Auskunft gab: »Die drei Prinzen sind beim
Fischfang.« Da war ihm vor Stolz, als ob er Flügel hätte.
Den Quintilian verdroß diese
Freundschaft. Er hatte von Anfang an Bedenken gehabt, die Prinzen
hierher nach Bajae zu lassen in den Dunstkreis der Kaiserin. Es war
nicht zu leugnen, daß Lucia in einem hohen Grade römisch war,
dennoch störte ihn das meiste, was sie tat, ließ und sagte, und es
war ihm unbehaglich, seine Zöglinge so lange in ihrer Nähe zu
wissen. Nun also hatten sie sich noch in die Freundschaft mit dem
jungen Juden verstrickt. Quintilian, immer bemüht, gerecht zu
urteilen, gestand dem Matthias zu, daß an seinem Gehaben nichts
war, was gegen römisches Wesen verstoßen hätte. So unterließ er es
denn auch, beim Kaiser vorstellig zu werden wegen der Beziehungen
seiner Zöglinge zu dem Sohne des Josephus, und beschränkte sich auf
leise Mahnungen, die, ohne den Matthias zu beleidigen, von seinen
Zöglingen gleichwohl nicht mißverstanden werden konnten.
Es ging also zwischen ihm auf der
einen, Lucia und Matthias auf der andern Seite ein beharrlicher
Kampf um die Seelen der Zwillinge. Dieser Kampf wurde still
geführt, unterirdisch. Einmal indes zeigte sich der Gegensatz offen
und vor aller Augen.
Matthias hatte die knabenhafte
Freude an der Pfauenfarm, die er auf Lucias Besitz hatte anlegen
dürfen, auch auf seine Freunde übertragen. Täglich besuchten die
drei das Gehege, sie kannten gut die einzelnen Vögel, sie
vergnügten sich damit, dieses oder jenes der Tiere auf die
Freitreppe des Hauptgebäudes zu bringen, und sie ergötzten sich an
dem Anblick der Vögel, wie sie auf der schönen, weitausladenden
Treppe des weißglänzenden Hauses standen und Rad schlugen, als
fächelten sie dem besonnten Schlosse Kühlung.
Eines Tages nun, als Senator
Ostorius, ein berühmter Fein
schmecker, bei Lucia zu Gast war, setzte man
ihm eine Pastete aus Pfauenfleisch vor. In Abwesenheit Lucias und
der Knaben hatten der Haushofmeister und der Koch den unglücklichen
Pfauenwärter gezwungen, ihnen sechs der kostbaren und geliebten
Tiere herauszugeben. Die Knaben wüteten. Quintilian suchte ihre
Erregung auf ein vernünftiges Maß zu dämpfen. Ein Genuß des
Gaumens, fand er, stehe einem Genuß des Auges keineswegs nach, und
die laute Trauer um die Schlachtung der Vögel, wie sie Matthias und
die Knaben bezeigten, sei unrömisch, sei östliche Sentimentalität.
Die Knaben schwiegen, aber sie brachten in Anwesenheit Lucias und
Josefs die Angelegenheit nochmals zur Sprache. Josef fand, es sei
seltsam, daß ein Römer nicht Scheu davor empfinde, das Fleisch
eines Pfaus zu essen, eines Vogels, der doch der Göttin Juno heilig
sei. Quintilian erklärte, es beweise wenig Sinn für die Realität,
wenn man die Bedeutung einer Sache, die Idee einer Sache, mit der
Sache selber verwechsle. Das sei so, wie wenn man das Papier eines
Buches für etwas Heiliges hielte, weil große Dinge darauf
geschrieben seien. Solche Gleichsetzung sei etwas dem sachlichen
Römer völlig Fremdes. Quintilian, der große Redner und
ausgezeichnete Stilist, blieb in der Debatte dem Josef überlegen,
vor allem da es diesem verwehrt war, sich in seiner Muttersprache
auszudrücken; er mußte seine Argumente in einer erst später
erlernten Sprache verfechten.
Nach diesem Zwischenfall hatte
sich Quintilian ernstlich überlegt, ob es nicht doch seine Pflicht
sei, den Kaiser zu bitten, seine Zöglinge dem Einfluß des jungen
jüdischen Herrn zu entziehen, der ihnen nicht förderlich sei; als
er, aufatmend, den Brief des Kaisers erhielt mit der Weisung, sich
mit den Prinzen auf dem Palatin einzufinden zum Zwecke der
Adoption.
Auch der Lucia bereitete des
Kaisers Vorsatz, die Zwillinge zu adoptieren, mehr Freude als
Ärger. Zwar war es ihr leid, wenn sie daran dachte, daß die Knaben
fortan in der wilden, kalten Luft des Palatin leben sollten,
ständig in Gesellschaft des verquerten und römisch rigorosen
Domitian. Andernteils freute sie sich ehrlich für die Knaben, daß
DDD endlich seinen Entschluß wahr machen und sie so hoch
hinaufheben wollte.
Übrigens wird man die Zwillinge
auch auf dem Palatin schwerlich ganz von ihr und von Matthias
fernhalten können, und sie wird auch weiter ihr möglichstes tun,
die Knaben vor dem starren Lateinertum des Quintilian zu schützen.
Davon abgesehen aber wird sie vermutlich eine gute Helferin haben.
Denn wenn DDD die Kinder der Domitilla zu seinen Nachfolgern
bestimmt, dann wird er sich wahrscheinlich auch bereit finden
lassen, die Mutter aus der Verbannung zurückzuholen. Lucia liebte
Domitilla ganz und gar nicht, im Gegenteile, die kalte Glut, die
Verbissenheit der Domitilla war Lucia unangenehm. Doch Lucia war
frei vom formalistischen Rechtsgefühl des flavischen Rom, es wollte
ihr nicht gefallen, daß man die Meinungsfreiheit des einzelnen
derart einschränkte, und sie war empört über die Vergewaltigung der
Domitilla. Was eigentlich hatte Domitilla verbrochen? Sie hatte
sich mit der Philosophie der Christen befaßt, das war alles. Sie
war also verbannt lediglich aus einer willkürlich-heftigen Laune
des Kaisers heraus. DDD muß sie zurückrufen, er muß einfach, sie,
Lucia, wird ihn dazu bewegen.
Sie fühlte die Kraft in sich, ihn
dahin zu bringen. Sie war sehr ehrlich von Wesen und konnte sich
schwer verstellen. Sie konnte von DDD nichts erreichen, wenn er ihr
zuwider war. Wenn sie sich indes von Wäuchlein angezogen fühlte,
dann konnte sie ihm das unbefangen zeigen, und dann vermochte sie
alles über ihn. In der letzten Zeit hatte sie sich gegen ihn
zugesperrt, sein langes Schweigen hatte in ihr die Furcht reifen
lassen, er bereite auf seine langsame und heimtückische Art einen
Schlag gegen Josef und gegen Matthias vor. Sein Brief beruhigte
sie. Im Grunde hatte sie sein Wesen immer angezogen, seine wilde
Starrheit, sein Überstolz, seine verstiegene, verzerrte, verrenkte,
überdimensionierte Tatkraft, das alles hatte sie von jeher gelockt.
Auch war sie sich bewußt, daß er sie, im Grunde nur sie liebte. Der
Brief also wärmte ihr das Herz, sie freute sich darauf, ihn zu
sehen.
Mit Eifer bereitete sie ihre
Reise nach Alba vor. Voll streitbaren Vergnügens dachte sie an die
Auseinandersetzung mit Wäuchlein. Bestimmt wird sie durchsetzen,
was sie sich vorgenommen hat. Erreichen will sie, daß den
Zwillingen auch weiterhin der Weg zu ihr und zu Matthias
offenbleibt, und erreichen will sie, daß Domitilla von ihrer
balearischen Insel zurückgerufen wird.
Die ersten drei Tage ihres neuen
Beisammenseins mit DDD in Alba waren ausgefüllt mit den feierlichen
Zeremonien der Adoption. Es waren dies vor allem religiöse
Feierlichkeiten, und man sah dem Kaiser an, wie tief er sich von
ihnen ergreifen ließ. Seine Familie, das war ihm ein heiliger
Begriff, der Altar seiner Familiengottheiten, der Herd mit der
Ewigen Flamme, der in seinem Atrium stand, das waren ihm keine
leeren Symbole, sondern etwas Lebendiges, und daß er jetzt den
Göttern seiner Familie junge Wesen zuführen konnte, die sie auch in
Zukunft verehren würden, wühlte ihm das Innere auf; denn die Götter
werden am Leben erhalten nur durch die Verehrung ihrer Gläubigen.
Und er selber, der einmal einer dieser Götter seines Hauses sein
wird, sicherte sich seine eigene Fortdauer nur dadurch, daß er die
Verehrung seines Hausaltars sicherte. Diese Feier also war ihm
etwas Lebenswichtiges, durch sie kam er in neue, lebendige
Berührung mit seinen göttlichen Vätern. Die Worte der uralten,
heiligen Formeln hatten ihm einen tiefen Sinn, und es war ihm kein
leerer Rechtsakt, sondern greifbarer Ernst, als er die Knaben in
seinen väterlichen Schutz nahm und ihnen ihre neuen Namen gab:
Vespasian und Domitian. Er hatte damit die beiden Jünglinge
verändert, sie zu neuen Wesen umgeschaffen. Er und sie hatten jetzt
Verantwortungen und Verpflichtungen voreinander, eine unzerreißbare
Kette band sie.
Er spürte vom ersten Augenblick
an, daß Lucia freundwillig zu ihm gekommen war. Aber pedantisch,
wie er war, schob er es auf später auf, sich mit ihr zu
beschäftigen und seine Beziehungen zu ihr zu klären. Jetzt, in
diesen Tagen der Adoption, waren seine Gedanken und Gefühle
ausgefüllt mit ernsten, bedeutungsvollen, gleichnishaften
Handlungen, die ihm keine Zeit frei ließen für anderes. Es waren
glückliche, erhebende Tage, seine neuen Söhne, die jungen Löwen,
gefielen ihm, das einzige, was ihn an ihnen störte, war die
Wahrnehmung, wie sehr sie verbunden waren mit dem jüngsten
Adjutanten der Kaiserin, mit Flavius Matthias.
Dann, nachdem die offiziellen
Feierlichkeiten zu Ende gegangen und die zahlreichen Gäste
abgereist waren, gab Domitian eine Familientafel. Anwesend waren
außer den Zwillingen und ihrem Hofmeister nur Lucia und
Matthias.
Der Kaiser fand natürlich, das
richtigste wäre es, das Band zwischen seinen neuen Söhnen und dem
jungen Juden sogleich und für immer zu zerschneiden. Warum er es
nicht so hielt, warum er vielmehr Matthias sogar diesem vertrauten
Kreise beigesellte, hätte er nicht genau angeben können. Sich
selber sagte er, er tue es, um dem Sohn des Josephus einmal
gründlich auf den Zahn zu fühlen; denn er hat nicht umhinkönnen,
auf den ersten Blick zu erkennen, daß von dem Knaben viel Glanz
ausging und große Magie und daß es also nicht ganz leicht sein
werde, sein Bild in der Brust der Zwillinge auszulöschen. Wenn ihm
das gelingen sollte, dann mußte er zuerst einmal diesen jungen
Menschen gut studieren. Dann aber – doch diese weiteren Gründe
gestand er sich nicht recht ein – zog er den Matthias auch deshalb
bei, weil er nicht von vornherein Lucia und die Knaben verstimmen
wollte. Vor allem aber geschah es aus List. Er wollte Matthias und
den hinter ihm stehenden Gott Jahve in Sicherheit wiegen; denn
soviel war klar: es war ein Trick des Gottes Jahve, daß er gerade
diesen, mit soviel Reizen ausgestatteten jungen Menschen jenen
beiden über den Weg geschickt hatte, die er, der Erzpriester Roms,
zu den künftigen Herrschern des Reichs bestimmt hatte.
Matthias war während dieses
Mahles an der Tafel des Domitian erfüllt von einem hohen Glück. In
ihm standen Erinnerungen auf an Worte, die ihm seine Mutter oft
gesagt hatte, wenn sie den Josef rühmte: er sei der Tischgenosse
dreier Kaiser. Jetzt war er, Matthias, Tischgenosse dreier Kaiser,
er, dem das Mädchen Caecilia gesagt hatte, er gehöre aufs rechte
Tiberufer und werde als Hausierer enden.
Des Matthias Glück machte ihn
noch strahlender als sonst. Er wirkte durch sein bloßes Wesen,
durch sein lebendiges Gesicht, durch seine Bewegungen; seine junge
und doch so männliche Stimme gewann alle, sowie er nur den Mund
auftat. Der Kaiser wandte sich an ihn mehr als an die andern. Es
waren aber in Domitian, während er mit dem jungen Günstling seiner
Lucia sprach, Gefühle und Gedanken von mancherlei Art. Er fand
Wohlgefallen an der natürlichen Anmut des Matthias, er hatte an ihm
das gleiche Vergnügen wie etwa an der täppischen Possierlichkeit
junger wilder Tiere in seinen Käfigen. Da er ein guter Beobachter
war, entging es ihm auch nicht, wie sehr der Junge an Lucia hing,
und er spürte ein bewußt lächerliches, doch darum nicht minder
starkes Triumphgefühl bei dem Gedanken, daß er, Domitian, mit
dieser Lucia schlief und nicht der junge, liebenswerte Schützling
des Gottes Jahve.
Quintilian legte es darauf an,
dem Kaiser die lateinische Bildung seiner Zöglinge vorzuführen. Die
jungen Prinzen hielten sich wacker, ohne besondere Fähigkeiten an
den Tag zu legen. Auch Matthias zeigte keinerlei Eigenheit, aber er
brachte, was er zu sagen hatte, auf bescheidene und angenehme Art
vor und bewies, daß er durchtränkt war von römischer Bildung.
»Eines klugen Vaters kluger Sohn«, anerkannte Domitian. Die
Zwillinge übrigens verhehlten auch bei Tafel nicht, daß sie zu
Matthias als zu einem überlegenen, begnadeten Wesen aufschauten,
und das war für den Kaiser eine Art grimmiger Bestätigung. So war
also seine Furcht begründet: der fremde Gott Jahve bediente sich
mit tiefer List dieses Matthias, um sich wurmgleich in die Seelen
der Jünglinge einzugraben.
Dann endlich nach aufgehobener
Tafel war Lucia mit dem Kaiser allein. Sie waren in seinem
Arbeitskabinett, das er mit dem spiegelnden Metall hatte verkleiden
lassen. Sie sah es zum erstenmal. »Was hast du da für scheußliche
Spiegel?« fragte sie. »Es ist«, erwiderte er, »damit ich auch über
dem Rücken Augen habe. Ich habe viele Feinde.« Er schwieg ein
wenig, dann fuhr er fort: »Aber jetzt habe ich vorgesorgt. Wenn mir
etwas zustößt, dann sind jetzt wenigstens die jungen Löwen da. Ich
freue mich, daß ich die Knaben adoptiert habe. Es gehörte Entschluß
dazu, die Hoffnung auf Kinder von dir aufzugeben. Aber ich fühle
mich leichter, seitdem ich weiß, daß mein Herd nicht erlöschen
wird.« – »Du hast recht«, sagte verständig Lucia. »Aber«, stieß sie
geradewegs vor, »was mich stört, ist der Gedanke an Domitilla. Ich
mag sie nicht, die dürre, pretiöse Frau, aber schließlich ist sie
es, die die beiden gebo ren hat. Es gefällt mir nicht, sie auf der
wüsten Insel im balearischen Meer zu wissen, während du ihre Söhne
zu den Herrschern Roms erziehen willst.«
Domitians Mißtrauen war sogleich
rege geworden. Aha, sie wollte eine Bundesgenossin haben, um die
Zwillinge für sich zu gewinnen. Er hatte Lust, scharf zu erwidern,
doch sie gefiel ihm sehr, und er hielt an sich. »Ich will
versuchen, meine Lucia«, begann er, »Ihnen die Gründe darzulegen,
aus denen ich Domitilla fernhalten muß. Ich habe nichts gegen sie.
Clemens und Sabin waren mir verhaßt, ich fand ihre Trägheit, ihre
Lässigkeit, ihr ganzes Gehabe unrömisch, widerwärtig. Mit Domitilla
ist es ein anderes. Sie ist eine Frau, niemand verlangt von ihr,
daß sie sich im Staatsdienst betätige, auch hat sie etwas Zähes,
Kräftiges, was mir eher zusagt. Aber es hat sich nun leider einmal
in ihrem verquerten Kopf dieser Aberglaube der Minäer festgesetzt.
An sich ist es vollkommen gleichgültig, was Flavia Domitilla glaubt
oder nicht glaubt, und ich könnte es hingehen lassen. Aber es geht
um die Knaben. Diese Knaben sollen unterrichtet werden von dem
Hofmeister, den ich ihnen bestimmt habe, und von niemand sonst. Ich
will nicht, daß Domitilla in ihrer Nähe sei. Ich will nicht, daß
die harten, klaren Lehren, die mein Quintilian den Knaben
beibringt, aufgeweicht und getrübt werden durch das alberne,
weibische, abergläubische Gerede über den gekreuzigten Gott. Alles
an dieser Lehre, der nun einmal Domitilla leider anhängt, ihre
Weltabgewandtheit, ihre Wirklichkeitsfremdheit, ihre Indolenz gegen
den Staat, das alles ist gefährlich für so junge
Menschen.«
Lucia beschloß, den Kampf
aufzunehmen, zum Angriff vorzugehen. Das kühne, helle Gesicht
geradezu drohend auf ihn gerichtet, fragte sie: »Und halten Sie es
auch für eine Gefahr, wenn die Knaben mit mir verkehren?« Der
Kaiser zögerte. Er hätte ja sagen müssen, es wäre seine Pflicht vor
Jupiter und Rom gewesen, ja zu sagen. Aber das nahe Antlitz der
Frau, die er liebte, verwirrte ihn, er schwankte. Er suchte ihr
Gesicht zu vermeiden, er kehrte den Blick ab, doch in dem
spiegelnden Metall ringsum begegnete ihm ihr Gesicht immer wieder.
Lucia, sein Zögern wahrnehmend, fuhr fort: »Daß ich’s Ihnen offen
gestehe, ich finde Ihren Quintilian reichlich ledern. Ich halte es
für sehr notwendig, daß ab und zu ein frischerer Wind um die Knaben
weht.« Domitian hatte sich eine Antwort zurechtgelegt.
»Selbstverständlich«, sagte er galant, »habe ich nichts dagegen,
daß auch meine jungen Löwen sich Ihrer Nähe erfreuen, meine Lucia.
Aber nicht wünsche ich, daß etwa Ihr Matthias sie mit seinen
Überzeugungen anstecke oder gar der Jude Josephus mit seinem
sentimentalen Gewäsch über die Lasterhaftigkeit des Genusses von
Pfauenpastete.«
Lucia ärgerte sich, daß also der
stolze Römer Quintilian nicht Würde genug hatte, den Mund zu
halten, sondern Matthias und seinen Vater sogleich verpetzen mußte,
als wäre er ein Spitzel des Norban. Aber sie nahm die Worte DDDs
als Zugeständnis, zumindest wird er den Zwillingen den Umgang mit
ihr selber nicht verwehren. »Es ist freundlich von dir«, anerkannte
sie, »daß du wenigstens mir nicht vorschreiben willst, wen ich
sehen darf und wen nicht.« Weiter aber beharrte sie nicht auf
diesem heiklen Gegenstand, sondern sie trat nah an ihn heran,
strich ihm über das spärliche Haar und sagte: »Ich muß dir ein
Kompliment machen, Wäuchlein. Du hast nicht verloren dadurch, daß
ich dich längere Zeit nicht sah, im Gegenteil, du bist
erfreulicher, als ich dich in Erinnerung hatte.« Domitian hatte
sich gesehnt nach ihrer Berührung; er mußte an sich halten, um
nicht heftiger zu atmen. Sie schmeichelt mir, dachte er, sie tut
mir schön, ich muß fest bleiben, ich darf mich nicht herumkriegen
lassen. »Ich danke Ihnen«, sagte er etwas steif.
Lucia, von ihm ablassend, wurde
sachlich. Sie dachte laut nach: »Gibt es denn kein andres Mittel,
den Knaben diese Lehre fernzuhalten als die Verbannung ihrer
Mutter? Lenkt man nicht gerade durch so drastische Maßnahmen das
Augenmerk der Zwillinge ständig auf die Schuld der Mutter, also
gerade auf das, was man ihnen fernhalten möchte, und von alledem
abgesehen, wird es nicht der Stadt und dem Reich befremdlich
erscheinen, daß man die Zwillinge so erhöht, die Mutter aber weiter
auf ihrer balearischen Insel beläßt? Tut das nicht dem Ansehen
Ihrer jungen Löwen Eintrag? Und verbiegt es nicht die Seelen der
Knaben, die Sie doch gerade haben wollen?« »Ich hätte nie
vermutet«, sagte bösartig der Kaiser, »daß Domitilla in Ihnen eine
so warme Freundin hat.« – »Domitilla ist mir vollkommen
gleichgültig!« wiederholte heftig Lucia. Doch sogleich hatte sie
sich wieder in der Gewalt und änderte Wesen und Stimme. »Es ist
allein um Ihretwillen, Wäuchlein«, sagte sie, »daß ich Ihnen rate,
Domitilla zu begnadigen. Sie haben sich auch«, scherzte sie, »lange
bitten lassen, ehe Sie mich aus der Verbannung zurückriefen. Und
haben Sie es bereut? Treten Sie sich nicht selber zu nahe!« bat
sie. »Sie haben die Knaben adoptiert, das ist großartig. Aber wenn
Sie Ihre Tat nicht ergänzen durch die Rückberufung der Domitilla,
bringen Sie sie um ihre Wirkung. Niemand weiß besser als ich, wie
oft und sehr Sie verkannt werden. Verhüten Sie es, daß Ihre
Verdienste um die Zwillinge mißdeutet werden durch den Gedanken an
die Mutter! Rufen Sie Domitilla zurück!«
Domitian vermied es, ihr zu
antworten. Mit seinen kurzsichtigen Augen schaute er sie auf und
ab, und: »Sie sind sehr schön«, sagte er, »wenn Sie sich für eine
Sache ereifern.« Lucia indes ließ ihn nicht. »Begreifen Sie«, sagte
sie leise, mit dringlicher, zutunlicher Stimme, »daß ich mich
Ihrethalb ereifere?« Wieder war sie ganz nahe an ihm, und, den Arm
um seine Schulter, bat sie: »Wollen Sie nicht Domitilla
zurückrufen?«
»Ich will es überlegen«, wich
Domitian unbehaglich aus. »Ich verspreche Ihnen, die Sache
ernsthaft mit Quintilian zu überlegen.« – »Mit dem Ledernen«, tat
Lucia den großen Stilisten unmutig ab. »Überlegen Sie es mit mir!«
bedrängte sie ihn. »Aber nicht hier! Hier, zwischen Ihren
scheußlichen Spiegeln kann man ja nicht denken. Kommen Sie zu mir!
Schlafen Sie bei mir und überlegen Sie sich’s!« Und sie entfernte
sich, ohne ihm Zeit zu einer Antwort zu lassen.
Er beschloß, sie vergebens warten
zu lassen. Nein, er wird nicht kommen. Sie will Bezahlung von ihm
dafür, daß sie sich von ihm beschlafen läßt. Nein, meine Liebe, das
denn doch nicht! Er pfeift vor sich hin, ein Couplet, das zur Zeit
im Schwang ist. »Auch ein Kahlkopf kann ein schönes Mädchen haben,
/ Wenn er Geld genug dafür bezahlt.« Norban hat daran gedacht, das
Couplet zu verbieten, aber das hat er nicht zugelassen. Nein, er
wird nicht zu Lucia gehen.
Eine halbe Stunde später war er bei
ihr.
Doch selbst im Bett konnte sie
von ihm nur ein verklausuliertes Versprechen erhalten. Wenn
Domitilla keinen Versuch macht, sich in die Erziehung der Knaben
einzumischen, dann, das sicherte er ihr zu, werde er sie
zurückrufen.
Im übrigen hatte Lucia, als sie
mit ihm schlief, das Gefühl, den Josef mit ihm zu betrügen, wiewohl
oder vielleicht gerade weil sie sich des Josef enthielt. Zum
erstenmal in ihrem Leben spürte sie dergleichen. War es der Einfluß
des Josef? Das also war die »Sünde«, von der sie soviel gehört
hatte. Beinahe freute sie sich, nun also auch diese Dinge,
Gewissen, Sünde, kennengelernt zu haben.
Als Lucia nach Bajae zurückgekehrt war,
schloß sich der Kaiser in sein Arbeitskabinett ein, um zu
überdenken, was er nun gesichert und was er preisgegeben
habe.
Er hat sie jetzt in seiner Hut,
seine neuen Söhne, welche seine Familie fortsetzen und seinen
römischen Gedanken für die Zukunft wahren sollen. Aber ganz
gesichert hat er sie noch nicht vor dem Gift Jahves. Er hätte Lucia
dieses Versprechen nicht geben dürfen, Domitilla zurückzurufen.
Wenigstens hat er Besinnung genug gewahrt, sich Frist zu lassen. Er
wird sein Versprechen halten, er steht, der Erzpriester,
Eidschützer, zu seinem Wort. Aber erst muß Domitilla sich bewähren.
Erst muß sie beweisen, daß sie Ruhe hält, daß sie sich nicht
einmischt in die Erziehung seiner jungen Löwen. Das dauert seine
Zeit.
Lucia hat Bezahlung gefordert, er
hat sie bezahlt für ihre Umarmung, das war schwach und schamlos.
»Auch ein Kahlkopf kann ein schönes Mädchen haben, / Wenn er Geld
genug dafür bezahlt.« Ingrimmig pfeift er es vor sich hin. Aber
trotzdem: Lucia liebte ihn, das war keine Frage. Wenn er an das
Feuer dachte, mit dem ihre Umarmungen ihn erfüllt hatten, dann
schienen ihm alle andern Frauen talentlose Huren. Lucia aber war
lebendig, sie war ein glühender Mensch, sie war die Frau, die zu
ihm, dem Gott, gehörte, und sie liebte ihn.
Doch wenn sie auch römisch war
durch und durch, ganz heil und unberührt hatte sie sich nicht
halten können. Etwas von dem Gift dieses Jahve stak auch in ihr.
Wiewohl sie ver mutlich lachte über das meiste, was dieser Jude
Josef und sein Sohn ihr einzuflüstern suchten, ihnen ihr Ohr ganz
zu verschließen, hatte sie nicht vermocht. Jahve, dieser schlaue,
tückische, rachsüchtige Gott, hatte sich aber auch Gesandte
ausgesucht, wie sie sich besser nicht denken ließen. Dieser Knabe
Matthias! Domitian sah ihn im Geiste vor sich, die brennenden,
fliegenden und dennoch heitern und unschuldigen Augen, er hörte
seine junge, tiefe Stimme. Wenn er, Domitian, ein Knabe wäre, er
selber hätte sich diesem Matthias nicht entziehen können.
Geschweige denn die Zwillinge.
Kein einziges Mal zwar, seitdem
sie jetzt mit ihm zusammenleben, haben sie ihm von Matthias
gesprochen. Aber Domitian ist argwöhnisch; wahrscheinlich hat Lucia
ihnen eingeschärft, sie sollten den Namen des Matthias vorläufig
nicht erwähnen. Sie rechnet wohl damit, daß sie, erst wieder in der
Nähe, die Bande schon werde neu knüpfen können zwischen seinen
jungen Löwen und ihrem jungen Juden.
Lucia hängt sehr an ihm, an
diesem ihrem Adjutanten Flavius Matthias. Nicht als ob in dieser
Neigung irgend etwas wäre von verbrecherischer Leidenschaft. Der
Kaiser hat scharf beobachtet. Es ist einfach der Glanz des
Jünglings, der Lucia anzieht, sie spürt für ihn die Zärtlichkeit
einer Mutter, einer ältern Schwester.
Wie aber steht es zwischen ihr
und Josef? Unsinn! Josef ist ein ausgemergelter, abgetakelter Mann
an der Schwelle des Alters. Es ist lächerlich, unsinnig,
unvorstellbar, daß Lucia, die römische Kaiserin, sich aus den Armen
eines Domitian in die Arme dieses Juden stürzen sollte. Nichts ist
zwischen Lucia und diesem Josef als die etwas sentimentale und
versnobte Freundschaft einer gebildeten Dame zu einem berühmten
Schriftsteller.
Hier ist Enthaltsamkeit,
Enthaltsamkeit von ihr zu ihm und von ihm zu ihr. Er selber aber,
Domitian, hat nicht widerstehen können, er ist vor Lucia schwach
geworden durch Gier, durch Sinnenlust. Er hat sich von seiner Frau,
der Kaiserin, der Römerin, der Hure, das Versprechen ablisten
lassen, Domitilla zurückzurufen. Er hat sich versündigt gegen seine
neuen Söhne, er hat seine Pflicht gegen Jupiter und die Götter
seines Hauses verabsäumt. Er muß es gutmachen. Er muß den Feind und
seine Brut aus dem Weg räumen, den Josef, der es gewagt hat, ihn zu
verhöhnen, ihm die Verse vom Mut ins Gesicht zu schleudern, und
diesen Matthias, den Davidssprossen, den Anwärter auf die
Weltherrschaft, den Schützling des östlichen Gottes.
Freilich, seitdem er den Jungen
an seinem Tisch gehabt hat, scheint ihm diese Aufgabe noch
schwerer. Er muß den Jungen beseitigen, doch wie soll er das
anstellen, ohne den berechtigten Groll des östlichen Gottes auf
sich herabzuziehen?
Um diese Zeit suchte Messalin den
Kaiser auf, der einzige, der ihm geblieben war, der einzige, bei
dem er sich noch Ohr und Herz leihen konnte für seine
Sorgen.
Es war der erste ganz heiße Tag.
Südwind war und schwüle Luft; ganz aussperren ließ sich die Schwüle
nicht einmal aus dem verdunkelten, mit Kunst gekühlten Gemach, in
welchem Domitian den Messalin empfing. Schwer drangen die Gerüche
des Gartens herein, ein Springbrunnen plätscherte, gleichmäßig und
sänftigend begleitete sein Geräusch das Gespräch der
Männer.
Der Kaiser kam zurück auf seine
Begegnung mit den Davidssprossen; er sprach von Einzelheiten dieser
Begegnung mit ironischem Wohlwollen. »Die Juden«, schloß er,
»können nicht viel Ehre einlegen mit ihren Prätendenten. Kannst du
dir zum Beispiel vorstellen, daß so ein alter, ausgedörrter
Schriftsteller wie unser Josephus als Messias gute Figur machen
würde? Ein Mensch, der nicht einmal ordentlich Griechisch
kann?«
In das stille Plätschern des
Springbrunnens hinein klang die sanfte Stimme des Blinden: »Allein
dieser Josephus soll einen Sohn haben, gut anzuschauen und auch
innerlich wohlgebildet.«
Es erschreckte den Kaiser, daß
also auch in dem andern, wenn nur die Rede auf diesen Gegenstand
kam, sogleich die nämlichen sorgenvollen Gedanken auftauchten wie
in ihm selber. »Er ist ein hübscher Junge, der Knabe Matthias«, gab
er zu, zögernd. Mit einer kleinen Angst wartete er auf die Antwort
des Messalin. Eine kurze Weile, ihn aber dünkte sie lang, war
nichts im Raum als der gleichmäßige Fall der Wasserstrah len. Dann
endlich, in seiner wohlabgewogenen, höflichen Art, sagte Messalin:
»Der Himmel hat mir das Augenlicht genommen. Der Herr und Gott
Domitian aber hat gute Augen, und er kann beurteilen, ob dieser
Knabe Matthias Anmut genug hat, um, da er ein Sproß jenes David
ist, die Ruhe und Sicherheit der Provinz Judäa zu
gefährden.«
»Du sprichst von Dingen«,
erwiderte der Kaiser und dämpfte seine schrille Stimme so, daß sie
beinahe übertönt wurde von dem Springbrunnen, »die anzurühren nicht
unbedenklich ist.« Er setzte an, er schluckte, dann entschloß er
sich und teilte dem andern sein Geheimnis mit. »Ich habe mit dem
Gott Jahve eine Art Waffenstillstand geschlossen«, flüsterte er.
»Ich will nicht eingreifen in seine Entscheidungen. Ich will ihn
nicht reizen«, und, lauter, fast großartig: »Es soll niemand
deshalb gefährdet sein, weil er dem Gotte Jahve angenehm und von
ihm ausersehen sein könnte.« Da war es also heraus; sein Herz
schlug so, daß er sorgte, der andere würde es trotz des
Springbrunnens hören. Ob Messalin ihn verstanden hat? Er fürchtete
sich davor, er sehnte sich danach. Gespannt wartete er auf die
Antwort des Blinden.
Da kam sie. »Die Gedanken des
Herrn und Gottes Domitian«, sagte er ehrerbietig und dennoch sehr
gleichmütig, »sind so erhaben, daß ein Sterblicher sie nie ganz
begreifen, daß er sie höchstens ahnen kann. Wir sehen nur Flavius
Josephus und Flavius Matthias, Menschen aus Fleisch und Blut. Der
Gott Domitian erkennt, was hinter ihnen steht.«
Es hatte den Domitian verdrossen,
daß ihn Norban durchschaute; daß ihn Messalin begriff, war ihm eine
Genugtuung. Der Blinde war ein fast ebenbürtiger Geist. Auf wie
feine Art hatte er in Worte gefaßt, was er, Domitian, spürte. Ja,
die Ahnung des Blinden kam nah heran an seine eigene, hohe, den
übrigen verborgene Wirklichkeit. »Du bist sehr weise, mein
Messalin«, sagte er, und jetzt klang seine Stimme laut und befreit,
»und du bist mein Freund. Im Grunde bist du mein einziger Freund.
Vielleicht ist es deshalb, daß du so weise bist. Genauso, wie du es
gesagt hast, liegen die Dinge. Es sind leider keine Menschen, gegen
die ich zu kämpfen habe, es ist der Gott. Stünde nicht der Gott
hinter ihnen, mit dem Hauch meines Mundes bliese ich sie weg. Da du
mich so gut begriffen hast, mein Messalin, so begreifst du bestimmt
auch dies. Denke nach darüber, denke gut nach und gib mir einen
Rat!«
Wieder war eine lange Weile
nichts im Raum als der Springbrunnen. Erregt wartete Domitian,
voller Zuversicht. Er war gewiß, der Gute, Getreue wird ihm einen
Rat wissen. Da begann denn auch Messalin zu sprechen. Sehr behutsam
führte er aus: »Er ist ein Davidssproß und also dein Gegner. Du
aber schonst ihn und hassest ihn nicht an, weil er als Davidssproß
ein Schützling des Gottes Jahve ist und du nichts zu tun haben
willst mit diesem Gotte Jahve. Hab ich die Weisheit meines Herrn
und Gottes recht begriffen?« – »Du hast es«, erwiderte Domitian.
»Wie aber«, fuhr Messalin fort, »wenn der Davidssproß Handlungen
unternähme gegen die Sicherheit des Kaisers oder des Reichs?
Würdest du ihn auch dann schonen, Kaiser Domitian, bloß weil er ein
Davidssproß ist?« Der Kaiser hatte scharf aufgemerkt. »Du meinst,
dann könnte ich ihn bestrafen?« fragte er. »Das Verbrechen«,
antwortete Messalin, »daß er ein Davidssproß ist, kannst du nicht
bestrafen, denn es ist ein Verbrechen des Gottes Jahve, mit dem du
keinen Streit haben willst. Aber jedes andere Verbrechen des
Josephus oder des Matthias könntest du bestrafen, denn es wäre das
Verbrechen eines Menschen und ginge deinen Streit mit dem Gotte
Jahve nichts an. Das ist die Meinung eines gemeinen Sterblichen«,
fügte er ehrerbietig hinzu. »Es steht bei dem Gotte Domitian,
darüber zu befinden, ob sie schlüssig ist oder nicht.«
»Dem Jahve bin ich es schuldig«,
rekapitulierte heiser Domitian, »seinen Davidssprößlingen ihre
Existenz hingehen zu lassen. Dem Jupiter aber bin ich es schuldig,
diejenigen zu bestrafen, die sich gegen ihn und gegen mich
vergehen. Du bist sehr klug, mein Messalin. Du hast ausgesprochen,
was ich selber schon gedacht habe.«
Der Blinde hielt den Kopf sehr
weit vorgeneigt, um die Worte des Kaisers einzutrinken. Eine fast
wollüstige Erregung war in ihm. Das ist ein Meisterstück, das er da
vollbringt. Man kann blind sein und dennoch ganz genau sehen,
welche Schleuse man öffnen muß, damit eine große Flut entfesselt
werde. Domitian hat seine Worte in sich aufgenommen. Jetzt wird
über eine Reihe von Menschen eine große Flut Unheils hereinbrechen,
und er selber in seiner Dunkelheit wird sich daran freuen, daß er
es war, der das alles gemacht hat. »Ich danke dem Herrn und Gott
Domitian«, sagte er ehrfürchtig, »daß er mich hat hineinschauen
lassen in das tiefe und vielfältige Getriebe seiner weisen und
maßvollen Gedanken.«
»Du bist ein ebenso weiser wie
treuer Mann, mein Messalm«, erwiderte Domitian. »Du bist es wert,
die Faust zu meinen Gedanken zu sein.« Und er entließ ihn in großer
Huld.
Als der Abend herabsank und es
kühler wurde, stand der Kaiser vor seinen Tierkäfigen. Herrlich
wäre es, wenn der Knabe Matthias schuldig würde! Herrlich wäre es,
wenn er, Domitian, Anlaß hätte, den Knaben zu bestrafen! Herrlich
wäre es, wenn der Knabe nicht mehr in der Welt wäre! Die Erinnerung
an die tiefe Stimme des Knaben peinigte den Kaiser mehr als je die
Erinnerung an die schmetternde Stimme seines Bruders
Titus.
Es wäre ein schwerer Schlag für
den Juden Josephus, wenn er diesen seinen begnadeten Sohn verlöre.
Er wird zu Lucia laufen, er wird heulen und jammern. Der Kaiser
Domitian stellte sich vor, wie der Jude Josef heulen und jammern
wird, es war keine unangenehme Vorstellung. Herrlich war es, daß
geschickte Hände am Werk waren, ein Netz zu spinnen für diesen
hübschen und wohlgebildeten Knaben Matthias, den
Davidssprossen!