Heiter, dankbaren Gemütes,
trennte sich Domitian von seinen Göttern.
Und der Großdoktor wartete.
Bald schon wird die gute
Jahreszeit zu Ende sein, bald schon wird der Winter die Schiffahrt
unmöglich machen. Wenn der Großdoktor zurück will nach seinem
Judäa, muß er die Reise rüsten.
Er rüstete sie nicht. Es kümmerte
ihn nicht, daß sein langes Bleiben allgemach befremdlich wirkte, ja
anstößig. Mit keinem Wort verriet er, wie sehr ihn das Verhalten
des Kaisers wurmte, die freche Mißachtung, welche der Mann in
seiner Person der Judenheit bezeigte. Fürstlich und liebenswürdig
wie bisher hielt er hof.
Die Sitte hätte verlangt, daß
Josef dem Großdoktor einen Besuch abstattete. Johann von Gischala
suchte ihn dazu zu bewegen; doch Josef blieb fern. Er hatte in
Judäa erleben müssen, zu welcher Grausamkeit zuweilen diesen
Erzpriester der Judenheit sein Amt zwang, und wiewohl sein Verstand
diese Härte billigte, lehnte sein Herz sie ab.
Gamaliel, die Kränkung nicht
achtend, bat ihn zu sich.
Der Großdoktor war in den sechs
Jahren, die ihn Josef nicht gesehen hatte, sehr gealtert. In seinem
kurzen, rotbraunen Bart, der viereckig, kantig geschnitten, Mund
und Kinn mehr zur Schau stellte als versteckte, zeigten sich graue
Haare, und wenn der stattliche, kräftige Herr sich nicht beobachtet
glaubte, dann erschlaffte ihm wohl zuweilen der Körper, die
gewölbten braunen Augen verloren ihr Strahlen, das starke Kinn
seine Straffheit.
Gamaliel nahm, als hätte sich
inzwischen nichts ereignet, das Gespräch da auf, wo man es vor
sechs Jahren beendet hatte. »Welch ein Jammer«, fing er an, »daß
Sie damals meine Bitte zurückgewiesen haben, in Cäsarea und in Rom
unsere Außenpolitik zu vertreten. Wir haben viele Köpfe von
ungewöhnlicher Intelligenz unter uns, aber wenige, die einem Manne
helfen können, der verurteilt ist, die Politik der Juden zu machen.
Ich bin sehr allein, mein Josef.« – »Ich glaube«, antwortete Josef,
»ich habe damals recht getan. Der Auftrag, mit dem Sie mich
betrauen wollten, verlangte gleichzeitig Härte und Geschmeidigkeit.
Ich habe nicht das eine noch das andere.«
Gamaliel behandelte ihn auch
diesmal wie einen Vertrauten. Mit keiner Silbe ließ er den Josef
merken, daß dessen Ansehen in der Zwischenzeit abgenommen hatte.
Vielmehr sprach er zu ihm wie zu einem gleichberechtigten Führer
der Juden. Er warb um ihn, er tat geradezu, als habe er ihm
Rechenschaft abzulegen über seine Politik.
Er versuchte zu erweisen, daß der
grausame Schnitt, mit dem er damals die Minäer von den Juden
abgetrennt hatte, gerechtfertigt worden sei durch die Entwicklung.
»Was wir brauchten«, erklärte er, »war Klarheit. Heute haben wir
sie. Es gibt heute, außer dem Glauben an Jahve natürlich, ein
einziges Kriterium, das darüber entscheidet, ob einer zu uns gehört
oder nicht, ob einer Jude ist oder nicht. Dieses Kriterium ist der
Glaube, daß der Messias erst in Zukunft kommen wird. Wer glaubt,
daß der Messias bereits erschienen sei, wer also die Hoffnung
aufgibt auf die Wiedergeburt Israels, wer auf die Wiedererrichtung
Jerusalems und des Tempels verzichtet, mit einem solchen haben wir
nichts gemein. Ich gestehe es Ihnen offen, mein Josef, ich halte
dafür, die Leiden, mit denen Gott uns schlug, haben uns Gewinn
gebracht. Die Prüfung hilft uns scheiden zwischen denen, die stark
genug sind, weiter zu hoffen, und jenen Weichlingen, die sich
versinken lassen in dem Opfer, das ihr gekreuzigter Messias für sie
gebracht haben soll. Mögen die Minäer mit ihrem süßen und
verlockenden Evangelium neue Anhänger gewinnen. Ich trauere keinem
nach, der zu ihnen stößt, er war niemals ein Jude. Der Jahve der
Minäer, dieser sogenannte Jahve der ganzen Welt, ist heute nicht zu
retten, wir müssen auf ihn verzichten. Wir können keinen Gott
brauchen, der sich verflüchtigt, sowie man ihn greifen, sowie man
sich an ihn halten will. Durch die Bräuche und das Gesetz retten
wir wenigstens den Jahve Israels.«
Ach, Josef kannte dieses Leid. Er
hatte es hundertmal erfahren, daß ein Mann, der Politik treiben
will, seine Wahrheit mit vielen Lügen legieren muß. »Wer die Idee
nicht nur verkündet«, hörte er denn auch den Großdoktor sagen, »wer
für sie handelt, der muß ihr etwas abhandeln. Wer schreibt, braucht
nur Kopf und Finger; wer in die Welt des Tuns gestellt ist, bedarf
der Faust.« Nein, er, Josef, hat recht daran getan, wenn er
sich
zurückgezogen hat in die
Betrachtung.
»Wir müssen unser Jabne retten!«
kam unvermittelt, heftig der Großdoktor zur Sache. »Mag man über
meine Politik denken, wie man will: aber Jabne müssen wir retten!
Es wäre zu Ende mit den Juden, Jahve verschwände aus dieser Welt,
wenn es die Einundsiebzig von Jabne nicht mehr gäbe. Ist das
Gotteslästerung?« fragte er sich selber, erschreckt, daß er sein
Inneres so freimütig vor Josef hingestellt hatte. »Aber in seinem
Herzen, glaube ich, denkt jeder Jude so«, beruhigte er
sich.
Josef sah das offene,
dunkelhäutige, energische Gesicht des Mannes. Der war bestätigt
durch den Erfolg. Sein wilder Tatwille hatte es erreicht, Jahve
mittels einer lächerlichen, kleinen Universität in Judäa
festzuhalten. Der Großdoktor hatte Jerusalem durch sein Jabne
ersetzt, den Tempel durch sein Lehrhaus, das Synhedrion durch sein
Kollegium. Nun war eine neue Zuflucht da, und erst wer Jabne
zerschlug, zerschlug das Judentum.
Gamaliel sprach jetzt ganz
beiläufig, im Ton leichten Gespräches. »Vor Ihnen, mein Josef«,
meinte er, »darf ich das Kind ruhig beim Namen nennen. Natürlich
ist das Lehrhaus und das Kollegium von Jabne im gleichen Grad eine
politische Institution wie eine religiöse. Wir legen es geradezu
darauf an, die Lehre mit Politik zu durchtränken. In unserer
Eigenschaft als Kommentatoren der Lehre haben wir es nicht zur
Kenntnis genommen, daß der Tempel zerstört ist und daß der Staat
nicht mehr existiert. Wir führen die Debatten über die einzelnen
Verrichtungen des Tempeldienstes mit der gleichen Beflissenheit wie
die über die realen Verrichtungen unseres täglichen Lebens, und wir
räumen ihnen den gleichen Platz ein. Wir diskutieren mit der
gleichen Hitze Fragen aus jenen Gebieten der Rechtsprechung, die
uns entzogen sind, wie Fragen aus dem Ritual, dessen Festsetzung
uns erlaubt ist. Ja, es nehmen jene Fragen in unserem Lehrprogramm
einen breiteren Raum ein als diese. Sollen die Römer versuchen, uns
nachzuweisen, wo die Theorie endet und die praktische
Rechtsprechung beginnt, wo die Theologie aufhört und die Politik
beginnt! Was wir treiben, ist nichts als Theologie. Wenn es jemand
vorzieht, statt der kaiserlichen Gerichte das Lehrhaus in Jabne
anzurufen, ist das nicht seine private Angelegenheit? Ist es nicht
unsere Pflicht, ihm Auskunft zu geben, wenn er uns fragt, wie sich
seine Sache vom Standpunkt der Lehre aus ansieht? Und wenn er sich
unserer Entscheidung fügt, sollen wir ihn abhalten? Wir können ihn
weder dazu zwingen noch es ihm verbieten. Vielleicht,
wahrscheinlich tut er es, um sein Gewissen zu beruhigen. Wir wissen
es nicht, uns sind seine Motive nicht bekannt. Sie gehen uns nichts
an. Auf keinen Fall haben unsere Entscheidungen etwas zu tun mit
der Rechtsprechung des Senats und Volks von Rom. Wir beschränken
uns auf unser Ressort, auf die Theologie, auf die Lehre, auf das
Ritual.« Seine vollen Lippen, seine großen, auseinanderstehenden
Zähne lächelten listig aus dem viereckigen Bart heraus.
Dann aber verschwand dieses
Lächeln, er sprang auf, seine Augen begannen zu glühen und: »Sagen
Sie selber, Doktor Josef«, rief er, und seine Stimme belebte sich,
»sagen Sie selber, ist es nicht großartig, ist es nicht ein Wunder,
daß ein Volk, ein ganzes Volk, eine so ungeheure Disziplin übt? Daß
es sich neben dem von einer fremden Macht eingesetzten Gerichtshof,
dem es sich beugen muß, einen freiwilligen schafft, dem es sich
beugt aus dem Drang seines Herzens? Daß es neben den hohen Steuern,
die der Kaiser ihm auspreßt, freiwillige Steuern zahlt, um sich
seinen Gott als Kaiser zu erhalten? Ist solche Selbstzucht nicht
etwas Großes, Herrliches, Einmaliges? Ich finde unser jüdisches
Volk, ich finde diesen wilden Drang, weiter zu existieren, sich
nicht unterkriegen zu lassen, das Erhabenste, Wunderbarste, was es
auf dieser arm und dunkel gewordenen Erde gibt.«
Josef sah die Begeisterung des
Mannes, sie riß ihn mit. Aber seine Vorbehalte riß sie nicht
nieder. Es war eine gewaltige Leistung, die da vollbracht war, man
hatte mit bewundernswertem Scharfsinn und höchster Energie ein
Gefäß geschaffen, den zerrinnenden Geist zu halten. Aber nun war
eben der Geist eingesperrt in ein Gefäß, das bedeutete Verengung,
Verzicht, Preisgabe, und das Preisgegebene war Josef sehr
teuer.
»Die Römer also«, fuhr Gamaliel
fort, wieder leicht und heiter, »wittern natürlich das Gefährliche,
Aufrührerische, das hinter unserer Universität Jabne steckt.
Allein«, und jetzt war sein ganzes Gesicht wieder eine einzige
fröhliche List, »sie können es nicht herausfinden, worin eigentlich
dieses Gefährliche besteht. Die Römer können die Welt nur
begreifen, soweit sie sie in aktenmäßige Formeln pressen können;
eine andere Art Geistigkeit kennen sie nicht, im Grunde sind sie
Barbaren. Was wir gemacht haben, das aber entzieht sich jeder
Möglichkeit, in eine juristische Formel gepreßt zu werden. Wir
fügen uns in allem, wir sind dienstwillig, wir geben uns keine
Blöße, wir haben selbst den Aufstand bekämpft. Kurz, wenn man das
Recht, wenn man römisches Recht und römische Tradition nicht beugen
will, kann man unserer Universität nicht an. Und fühlt sich nicht
gerade dieser Kaiser Domitian als der von seinen Göttern
eingesetzte Hüter römischen Rechtes und römischer
Tradition?
Nun aber sind da unsere Feinde,
viele und mächtige Feinde. Da sind die Prinzen Sabin und Clemens
und ihr ganzer Anhang, da ist der Kriegsminister Annius Bassus und
Ihre frühere Gattin Dorion, da ist das ganze Minäergesindel. Alle
diese unsere Feinde liegen dem Kaiser an, uns zu verbieten, und er
möchte am liebsten diesen Bitten nachgeben. Das einzige also, was
zwischen uns und der Vernichtung steht, ist des Kaisers Andacht zur
Tradition, zu den römischen Prinzipien. So schwankt er zwischen
seinem, nennen wir es, Rechtssinn und seinen von unsern Feinden
geschürten Antipathien gegen uns, schwankt, wartet, hört uns
einfach nicht an, läßt uns nicht vor. Von seinem Standpunkt aus
gesehen, ist das das Beste, was er tun kann. Er vermeidet so das
Odium, die Universität Jabne zu zerschlagen, gleichzeitig aber
schwächt er, indem er mich hier warten läßt, unser Prestige, er
macht Jahve und das Judentum lächerlich, er zermürbt unser
Jabne.«
Josef mußte zugeben, man konnte
die Situation nicht klarer darstellen als dieser Großdoktor. Der
sprach weiter. »Dabei wüßte ich«, sagte er nachdenklich, »wie ich
diesen Kaiser zu nehmen hätte. Ich würde ihn bei seinem
Traditionalismus zu packen suchen, bei seiner Religion. Denn, so
seltsam es klingt, dieser Mann hat bestimmt Religion in sich;
vieles, was er tut und nicht tut, läßt sich anders nicht erklären.
Es mag eine ver zwickte, sehr heidnische Religion sein, sicher
glaubt er an viele Baalim, aber es ist Religion, und bei dieser
seiner Religion müßte man ansetzen. Man müßte sich der List
bedienen, man müßte für ihn Jahve zu einem Baal machen, zu einem
plumpen, gefährlichen Götzen, zu einer Gottheit, wie er sie
versteht und vor der er Angst hat. Ist das auch wieder
Gotteslästerung? Klingen Ihnen solche Worte verrucht, wenn Jahves
Erzpriester sie spricht? Aber heute mehr als je muß der Erzpriester
Politiker sein. Jedes Mittel ist recht, wenn es nur dazu hilft, daß
das Volk Jahves diese seine dritte Wüste übersteht, daß es nicht
darin umkommt. Am Leben muß es bleiben! Denn die Idee, denn Jahve
kann nicht leben ohne sein Volk.«
Jetzt erschrak Josef in seinem
Herzen. Dieser letzte Satz war in Wahrheit Gotteslästerung und
verrucht, gerade im Munde des Großdoktors. Auf so gefährliche
Gipfel führte die Politik einen Mann, der nichts wollte als Gott
und Gottes Dienst.
»Ja, ich wüßte, wie ich diesen
Kaiser zu nehmen hätte«, nahm Gamaliel seine Rede wieder auf. »Nur:
er läßt mich ja nicht an sich heran. Ich gestehe es Ihnen«, brach
er aus, ergrimmt, »manchmal brennt mir die Haut vor Warten und
Ungeduld! Es ist nicht meinethalb, ich bin nicht eitel; ich kann
Kränkungen einstecken. Aber es geht nicht um mich, es geht um
Israel. Ich muß diese Zusammenkunft haben. Aber unsere Freunde, so
guten Willens und so geschickt sie sind, diesmal versagen sie.
Regin schafft es nicht, Marull schafft es nicht, Johann von
Gischala schafft es nicht. Es gibt nur einen Mann, der es vielleicht noch schaffen könnte:
Sie, mein Josef. Helfen Sie uns!«
Josef, so angerufen, stand
zwiespältigen Gefühles. Es war schwer, sich dem Werben des
Großdoktors zu entziehen. Die bedenkenlose Politik des Mannes, der
den Gott der ganzen Welt aufgegeben hatte, um dem Gotte Israels zu
dienen, stieß Josef ebenso ab, wie sie ihn anzog. Was Gamaliel von
ihm verlangte, das war Aktion, Betrieb, Geschäftigkeit, genau das,
was Josef mit vollem Bedacht alle diese Jahre hindurch vermieden
hatte. Wer handeln will, muß Kompromisse machen; wer handeln will,
muß sein Gewissen schweigen heißen. Der Großdoktor war eingesetzt,
Taten zu tun, das war ihm aufge geben, er hatte den Kopf dafür und
die Hand. Er aber, der Josef, war stark nur in der Betrachtung,
sein Amt war es, die Geschichte seines Volkes vor sich hinzustellen
und ihr Sinn zu geben; sowie er indes selber handelnd eingriff, war
er ein Stümper und Pfuscher.
Was er, Josef, denkt, spricht,
schreibt, das wird vielleicht in späten Zeiten den oder jenen die
Ereignisse von heute so sehen lassen, wie er, Josef, sie gesehen
haben will, es wird vielleicht die Handlungen sehr später
Nachfahren bestimmen. Was hingegen dieser Gamaliel spricht und
denkt, das verwandelt sich sogleich in Geschichte, das setzt sich
heute und morgen um in die Geschicke der Menschen. Es riß den
Josef, es zog ihn. Die Mauern, in die er sich so kunstvoll
eingesperrt hatte, um seinen Frieden zu wahren, stürzten zusammen.
Er versprach dem Großdoktor, was der von ihm verlangte.
Als sich Josef bei Lucia ansagte, beschied
sie ihn schon zum nächsten Tag.
Sie musterte ihn mit
unverhohlenem Interesse. »Es sind wohl zwei Jahre«, sagte sie, »daß
wir uns nicht gesehen haben; aber wenn ich Sie jetzt anschaue, ist
mir, als wären es fünf. Bin ich so anders geworden während meiner
Verbannung oder Sie? Ich bin enttäuscht, mein Josephus«, sagte sie
freimütig. »Sie sind gealtert. Und verrucht schauen Sie auch nicht
mehr aus.« Ein Lächeln ging über Josefs gekerbtes Gesicht; sie
erinnerte sich also noch des Ausrufs, der ihr damals beim Anblick
seiner entstehenden Büste entfahren war: »Sie sind ja ein
Verruchter!« – »Was treiben Sie?« fuhr Lucia fort. »Man hat lange
nichts mehr von Ihnen gehört. Sie kommen mir beschattet vor«, und
sie betrachtete ihn mit Anteilnahme. »Was man Ihren Juden tut, ist
ja wohl auch niederträchtig. Diese ekelhaften, kleinlichen
Quälereien. Wenn meine Kusine Faustina schlecht geschlafen hat,
dann pikt sie die Zofe, die sie frisiert, mit einer Nadel in den
Arm oder in den Rücken. Das mag Faustina tun, aber so kann nicht
das römische Reich eine ganze Nation behandeln. Wie immer, es tut
mir leid, daß Sie niedergedrückt sind. Auch ich habe manches Böse
erlebt in diesen letzten Jahren. Ich bereue es nicht, und ich
möchte es nicht missen. Das Leben wäre zu grau ohne den Wechsel von
Gut und Böse.«
Ein wenig kränkte es den Josef,
daß ihn Lucia so verändert fand. Jene erste Unterredung kam ihm in
den Sinn, die er mit einer großen römischen Dame gehabt hatte, die
Unterredung mit Poppäa, der Frau des Nero. Wie war damals sein
ganzes Wesen Sammlung gewesen, Eifer für den Sieg, Zuversicht auf
den Sieg. Es wurde etwas in ihm wach von jenem Josephus, er spannte
sich schärfer an. »Das glaub ich Ihnen, Herrin Lucia«, sagte er
belebt, »daß Sie ja sagen zum Bösen wie zum Guten«, und er schaute
ihr mit unverlegener Aufmerksamkeit ins Gesicht, mit der gleichen
huldigenden Frechheit wie damals der Poppäa.
Lucia lachte ihr volles, starkes
Lachen. »Sagen Sie mir, bitte«, forderte sie ihn auf, »warum
eigentlich Sie mich sehen wollten. Denn Sie sind doch nicht einfach
gekommen, um mir Ihre Aufwartung zu machen. Wie Sie mich zwar
gerade angeschaut haben, das war reichlich unverschämt, es war da
in Ihrem Blick ein wenig von der Verruchtheit des Josephus jener
Büste, und man hätte beinahe denken können, Sie seien wirklich nur
aus Neugierde hier, um zu sehen, wie mir meine Verbannung bekommen
ist. Ich habe mir übrigens jüngst im Friedenstempel Ihre Büste
wieder angeschaut, sie ist großartig; ein Bild gibt sie dennoch
nicht, weil die Augen fehlen. Sie hätten sich damals nicht sträuben
sollen, als Kritias sie Ihnen einsetzen wollte. Aber jetzt sagen
Sie geschwind, wie finden Sie meine neue Haartracht? Es wird
Geschrei geben.« Sie hatte ihr Haar in mehreren Lockenreihen
hintereinander geordnet, verzichtend auf den turmartigen Aufbau,
den die Mode vorschrieb.
Das Regsame, Lebendige, das von
dieser Frau ausging, frischte den Josef auf. Ja, sie stand über dem
Schicksal, weder Gutes noch Böses konnte an sie heran, sie strotzte
von Leben, ihre Verbannung hatte sie nur lebendiger
gemacht.
»Sie haben recht, Herrin Lucia«,
sagte er. »Es ist wirklich das Unglück meiner Juden, das mich
bedrückt, und ich bin gekommen, Ihre Gunst für sie zu erbitten. Wir
haben viel hinnehmen müssen in diesem letzten Jahrzehnt. Wir sind
gewohnt, viel hinzunehmen; wir betrachten es als eine Auszeichnung,
daß uns unser Gott so hart prüft. Wir haben eine tiefe, große
Dichtung, handelnd von einem Manne namens Hiob, den Gott schlägt,
weil er ihn auszeichnen will, er ihn darauf bringen will, daß eine
geheime Sünde in ihm ist, eine Sünde, die der Mann sonst nicht
erkennen könnte und die übrigens nur wenigen als Sünde gilt.« –
»Was ist das für eine Sünde?« fragte Lucia. »Der Hochmut im
Geiste«, antwortete Josef.
»Sünde, hm«, meinte Lucia,
nachdenklich. »Auch ich bin einigermaßen geprüft, aber nach meinen
Sünden habe ich mich deshalb nie gefragt. Ich weiß nicht, ob ich
voll geistigen Hochmuts bin. Eigentlich glaube ich nicht. Tauschen
freilich möchte ich mit niemand, ich bin zufrieden, so wie ich bin.
Alles in allem, scheint mir, sind Sie beträchtlich hochmütiger als
ich, mein Josephus.«
»Der Schriftsteller Flavius
Josephus«, antwortete Josef, »hoffe ich, ist nicht allzu hochmütig.
Der Jude Josef Ben Matthias ist es. Aber ein anderes ist der
geistige Hochmut eines einzelnen, ein anderes der geistige Stolz
eines Volkes. Es ist keine Sünde, wenn wir Juden stolz sind auf
unsern Jahve und auf unsere geistige Art. Ich glaube, die Welt kann
unser nicht entraten. Wir sind notwendig für die Welt. Wir sind das
Salz der Erde.«
Die ruhige Überzeugtheit, mit der
er sprach, erheiterte Lucia. »Welches Volk«, meinte sie lachend,
»glaubte nicht, auserwählt zu sein? Die Griechen glauben es, die
Ägypter, ihr Juden. Nur wir Römer machen uns da nichts vor. Das
Salz der Erde lassen wir ruhig die andern sein: wir begnügen uns,
dieses Salz für uns zu verwerten und die andern zu
beherrschen.«
Josef aber lächelte nicht, wie
sie erwartet hatte, er wurde ernst. »Wenn es so wäre!« ereiferte er
sich. »Wenn ihr euch damit begnügtet! Aber es ist nicht so. Ihr
wollt mehr als uns beherrschen. Gegen eure Herrschaft sträuben sich
nur die Toren unter uns. Bestraft sie, so hart ihr wollt, wir
klagen nicht. Aber ihr wollt uns an unsere Seele. Darum bin ich
hier, Herrin Lucia. Bitten Sie den Kaiser, daß er davon absteht!
Laßt uns unsere Seele! Laßt uns unsern Gott! Laßt uns unser Buch,
unsere Lehre! Jedem Volk bis jetzt hat Rom seinen Gott gelassen.
Warum will es uns den unsern wegnehmen?«
Lucia zog die Brauen hoch über
den weit auseinanderstehenden Augen. »Wer will euch euern Gott und
eure Lehre nehmen?« fragte sie zurück, ablehnend. »Eine ganze Menge
Leute wollen das«, antwortete Josef, »Ihre Kusine an der Spitze,
die Prinzessin Julia. Man will unsere Universität Jabne schließen,
die Vespasian privilegiert hat. Es ist eine kleine theologische
Hochschule, eine Kultstätte, nichts sonst. Helfen Sie uns, meine
Lucia!« sagte er dringlich, vertraulich, ohne ihr ihren Titel zu
geben. »Wir wollen wirklich nichts andres für uns als Freiheit im
Geiste, eine Freiheit, die Rom nichts kostet, die sich nicht gegen
die Herrschaft Roms richtet. Aber gerade die wollen uns gewisse
Leute nicht lassen. Aus Haß. Sie verhindern uns, zum Kaiser
vorzudringen, weil sie fürchten, wir könnten den Kaiser überzeugen.
Seit Monaten hält man den Kaiser davon ab, unsern Erzpriester zu
sehen.« – »Ach, dieser Erzpriester«, sagte Lucia ein wenig
verächtlich, »von dem man soviel spricht.« Josef sagte: »Es wäre
uns allen lieber, man spräche weniger von ihm.« – »Und es liegt
euch also viel daran«, fragte Lucia, »daß der Kaiser ihn empfängt?«
– »Wenn Sie das durchsetzen«, erwiderte Josef, »dann würden Sie
sich ein hohes Verdienst erwerben um mein Volk, das erwiesene
Wohltaten mit heftigerer Dankbarkeit in der Erinnerung festhält als
irgendein anderes.« – »Das haben Sie elegant und höflich
ausgedrückt, mein Josephus«, lachte Lucia. »Aber an mir ist ein
solches Argument verloren. Ich schere mich wenig um das, was man
nach meinem Tod über mich denkt. Ich glaube nicht recht an ein
Leben unten im Hades oder sonstwo. Wenn ich einmal verbrannt sein
werde, dann, fürchte ich, werde ich von eurer Dankbarkeit wenig zu
spüren bekommen.«
Sie überlegte. »Übrigens weiß ich
nicht«, sagte sie, »ob ich euch werde helfen können, selbst wenn
ich wollte. Der Kaiser ist schwierig zur Zeit«, vertraute sie ihm
an, »und mir nicht sehr geneigt. Ich habe oft Streitigkeiten mit
ihm. Ich koste ihn viel Geld.« Und mit freundschaftlich
gesprächiger Offenheit erzählte sie: »Wissen Sie, daß ich immer
geldgieriger werde? Ich finde das Leben großartig, aber gerade
deshalb werde ich mit zunehmendem Alter immer anspruchsvoller. Ich
muß Bilder haben, Statuen, immer mehr, ich muß bauen, ich muß
Schmuck haben, Schauspiele, viele Leibeigene, Feste, an denen man
nicht spart. Ich vertue höllisch viel Geld in letzter Zeit.
Übrigens, auf Geld versteht ihr euch, ihr Juden, das muß man euch
lassen. Da ist Regin, der gehört freilich nur halb zu euch, und da
ist dieser Mann mit den Möbeln, Cajus Barzaarone, dann ein anderer,
mit dem ich zuweilen zu tun habe, ein gewisser Johann von Gischala,
ein amüsanter, verschlagener, verwegener Mensch: sie alle machen
Geld, viel und mühelos. Diesem letzten ist es sogar gelungen, meine
Preise zu drücken. Sie sehen, ich weiß eure Verdienste zu schätzen,
ich habe mancherlei für euch übrig.«
Sie wurde ernst. »Also Julia,
sagen Sie, will eure Universität schließen?« – »Ja, Julia«,
bestätigte Josef; er hatte den Namen mit guter Absicht erwähnt.
»Sie ist in diesen letzten Wochen sehr angesehen bei Wäuchlein«,
überlegte Lucia, »und ich bin so gut wie völlig aus seinem
Gesichtsfeld verschwunden. Was für eine Art Mann ist euer
Erzpriester?« erkundigte sie sich. »Ist er ein Heiliger oder ein
Herr?« – »Beides«, antwortete Josef. »Hm, dann wäre er ein großer
Mann«, meinte Lucia. »Aber wie bringe ich Wäuchlein
herum?«
»Vielleicht indem Sie den Wunsch
äußern, den Erzpriester zu sehen«, legte ihr Josef nahe. »Dann
müßte ihn der Kaiser vorher empfangen. Es geht nicht an, daß der
Großdoktor Ihnen seine Aufwartung macht, Herrin Lucia, bevor er dem
Gott Domitian seine Ehrfurcht bezeigt hat.« – »Sie gehörten
wirklich an den Hof«, lächelte Lucia. »Und Sie glauben ernsthaft,
es ist wichtig für euch, daß ich den Besuch eures Großdoktors im
Palatin durchsetze?« – »Ich wußte es, daß Sie uns helfen würden,
meine Lucia«, antwortete Josef.
Domitian hatte sich in diesen Tagen, da er
Lucia nicht gesehen, immer von neuem alles gesagt, was gegen sie
vorzubringen war. Sie entwürdigte ihn, sie machte sich über ihn
lustig. Es war auch keineswegs ausgeschlossen, daß sie wieder mit
einem andern schlief. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sie ein
zweites Mal nach den Bestimmungen des von ihm verschärften
Ehebruchgesetzes aburteilen zu lassen oder auch sie ohne Urteil in
Verbannung und Tod zu schicken. Dann aber sah er vor sich ihr
kühnes, hochfahrendes Gesicht mit der reinen, kindlichen Stirn und
der langen, kräftigen Nase, er hörte ihr Lachen. Ach, er kann sie
mit seinem Senat nicht schrecken. Töten lassen kann er sie,
schrecken kann er sie nicht. Und wenn er sie töten läßt, dann
straft er sich mehr als sie; denn sie wird hernach nicht mehr zu
leiden haben, wohl aber er.
Er freute sich, daß nach
anfänglichem Sträuben wenigstens Julia ihn nun doch wieder näher an
sich heranließ. Er hatte ihr offenbar unrecht getan, sie liebte
ihn, und die Frucht, die sie getragen, war sein Kind gewesen. Er
ist ärgerlich, daß das, was Norban und Messalin gegen Julias Mann,
Sabin, zusammengetragen haben, nach der Meinung dieser beiden noch
immer nicht genügt, den Sabin zu erledigen, wenn man nicht Gerede
heraufbeschwören will, das ihm schädlich sein könnte. Aber
vielleicht wird er dieses schädliche Gerede in Kauf nehmen. Julia
ist es wert. Zweifellos hat er sie unterschätzt. Sie ist gar nicht
dumm; sie hat zum Beispiel unlängst über ein edles und langweiliges
Poem des Hofdichters Statius eine hübsche, ironische Anmerkung
gemacht, wie er selber sie nicht besser hätte machen können. Auch
äußerlich gefiel sie ihm immer mehr, seitdem sie weniger füllig
war. Basil muß sie modellieren, ein drittes Mal. Sie ist eine
schöne Frau, eine Flavierin, eine Römerin, eine liebenswerte Frau.
Sie kann ihm Lucia ersetzen.
Nie kann sie ihm Lucia ersetzen.
Er wußte es in dem Augenblick, da Lucia bei ihm eintrat. Sein
ganzer Groll gegen Lucia war weggewischt. Er wunderte sich, wie
groß und stattlich sie aussah trotz ihrer einfachen, niedrigen
Frisur. Julia schien ihm auf einmal lächerlich. Wie hatte er daran
denken können, ihrethalb den Sabin zu beseitigen und die Rücksicht
auf seine Herrscherpflicht und auf seine Popularität
hintanzusetzen! Wie überhaupt hatte er Julia so lange ertragen
können, ihr ewiges, kindisches Geschmolle, ihre Empfindlichkeit bei
jeder klein sten vermeintlichen Kränkung, das ganze laue,
lamentierende Gewese! Hier seine Lucia mit ihrer Kühnheit, ihrem
Stolz, ihrer Selbstverständlichkeit, das war eine Römerin, das war
die Frau, die zu ihm gehörte.
Lucia, in ihrer unbekümmerten
Art, stellte zunächst fest, daß seine Glatze wenig und sein Bauch
gar nicht zugenommen habe. Dann ging sie geradewegs auf ihr Ziel
los. »Ich bin gekommen«, sagte sie, »um Ihnen einen Rat zu geben.
Es hält sich hier seit einiger Zeit der Erzpriester der Juden auf,
der Großdoktor Gamaliel, von Ihnen in seiner Würde bestätigt.
Diesem Manne gegenüber verhalten Sie sich nicht so, wie Sie müßten.
Wenn Sie sein Lehrhaus verbieten wollen, dann, finde ich, müßten
Sie, der Imperator Domitianus Germanicus, den Mut aufbringen, es
dem Manne ins Gesicht zu sagen. Aber den Mann weder sehen noch ihn
wegschicken, dem Manne weder ja antworten noch nein, das sind
Methoden, die an die Zeit erinnern, da man Sie noch Bübchen oder
Früchtchen nannte. Ich hatte geglaubt, diese Zeiten seien vorbei.
Ich hatte geglaubt, Sie seien männlicher geworden, seitdem Titus
tot ist und Sie Kaiser sind. Ich bedaure Ihren Rückfall.«
Domitian feixte. »Haben Sie
schlecht geschlafen, Lucia?« fragte er. »Oder haben Sie schlechte
Geschäfte gemacht? Haben Sie sich verkalkuliert bei einer Lieferung
Ihrer Ziegeleien?« – »Werden Sie den Großdoktor sehen?« beharrte
Lucia. »Sie haben starkes Interesse an dem Mann«, meinte Domitian,
und sein Feixen wurde finster bösartig.
»Ich werde ihn sehen«, entschloß
sich Lucia und legte einen kleinen Ton auf das »ich«. »Es wird
Aufsehen machen, wenn ich ihn empfange. Der Großdoktor selber wird
es wahrscheinlich unschicklich finden, bei mir zu erscheinen, bevor
er von Ihnen empfangen worden ist.« – »Das geht den Hofmarschall
Crispin an«, erwiderte Domitian.
»Ich warne Sie, Wäuchlein«, sagte
Lucia. »Machen Sie keine Ausflüchte! Versuchen Sie es nicht, dieses
unwillkommene Geschäft so zu erledigen, wie Sie gewisse andere
erledigt haben! Schicken Sie den Mann nicht fort, ehe Sie ihn
gehört haben! Bringen Sie ihn nicht aus dem Weg! Daß Sie mich
verbannt haben, ist mir nicht übel bekommen. Wenn Sie weiter
in
dieser Sache mit dem Großdoktor unanständig
handeln, dann könnte es sein, daß ich mich selber verbanne.«
Der Kaiser, nachdem sie gegangen war, sagte
sich, sie habe mit ihren groben Reden nur offene Türen eingerannt.
Denn wenn er auch dieses aufsässige Judenpack durch Angst und
Spannung ein wenig hatte mürbe machen wollen, so hatte er, der
berufene Beschirmer der Götter aller ihm unterworfenen Völker, noch
niemals im Ernste daran gedacht, dem Großdoktor und den Seinen ihre
Kultstätte zu nehmen. Er brachte es aber auch jetzt, nach Lucias
Besuch, nicht über sich, die Juden von ihrer Angst zu befreien,
sondern schwieg weiter, ließ sie warten, unternahm
nichts.
Der einzige, der vorläufig die
Folgen von Lucias Intervention zu spüren bekam, war Hofmarschall
Crispin. Als er sich am Morgen nach Lucias Besuch, geschniegelt und
parfümiert wie stets, auf dem Palatin einstellte, fragte ihn der
Kaiser: »Sag einmal, mein Lieber, was eigentlich verstehst du unter
›Barbaren‹?« – »Barbaren?« fragte der verblüffte Crispin zurück,
und zögernd definierte er: »Das sind Menschen, denen römische und
griechische Zivilisation fremd ist.« – »Hm«, meinte Domitian, »und
sprechen die Juden in meiner Stadt Rom griechisch oder nicht? Und
sprechen die Juden in Alexandrien griechisch oder nicht? Wieso
also«, brach er plötzlich aus, dunkel überrötet, »sind die Juden
mehr Barbaren als etwa ihr Ägypter? Warum soll dieser Großdoktor
länger auf Audienz warten als dein Isispriester Manetho? Glaubst
du, du Lumpenkerl, weil du im Jahr fünf Talente ausgibst für dein
Parfüm, bist du zivilisierter als mein Geschichtsschreiber
Josephus?« Crispin war zurückgewichen; sein schlanker Körper unter
dem weißen Galakleid fröstelte, sein hübsches, freches,
lasterhaftes Gesicht war unter der braunen Schminke grünlich
erblaßt. »Soll ich also«, stammelte er, »dem Großdoktor eine Zeit
für eine Audienz bestimmen?« – »Nichts sollst du!« schrie ihn mit
überkippender Stimme Domitian an. »Fortscheren sollst du dich!
Nachdenken sollst du!« Der betretene Hofmarschall entfernte sich
eilig, nicht wissend, was er von dem Zorn des Kaisers halten, nicht
wissend, was er tun sollte.
Und weiter wartete der
Großdoktor, und weiter zögerte der Kaiser, nichts
geschah.
Da, am achten Tag, nachdem Lucia
den Kaiser zur Rede gestellt hatte, traf auf dem Palatin ein Kurier
ein mit der unheilkündenden Feder; er überbrachte Depeschen vom
dakischen Kriegsschauplatz.
Eingeschlossen in sein
Arbeitskabinett, studierte Domitian die Berichte. Sein Marschall
Fuscus hatte eine vernichtende Niederlage erlitten. Er hatte sich
vom König Diurpan weit ins Innere des Dakerlandes locken lassen und
hatte dort mit einem großen Teil seiner Armee den Untergang
gefunden. Die Einundzwanzigste Legion, die Rapax, war so gut wie
aufgerieben.
Mechanisch nahm Domitian die
Kapsel in die Hand, welche die Unglücksdepeschen verwahrt hatte,
hob sie hoch, legte sie wieder zurück. Die Papiere, die sie
enthalten hatte, waren zum Teil auf dem Tisch zerstreut, zum Teil
waren sie zu Boden geflattert. Abwesenden Gesichtes raffte Domitian
einige der Papiere auf, zerknitterte sie, glättete sie wieder,
legte sie säuberlich wieder hin. Für diesen Fuscus, der sich jetzt
hatte besiegen lassen, war nur er selber, Domitian, verantwortlich.
Er hatte ihm das Oberkommando anvertraut trotz des Abratens des
Frontin und des Annius Bassus, die vor seiner Tollkühnheit, vor
seinem forschen Drauflosgehen gewarnt hatten. Er aber, Domitian,
hatte bestanden. Des Fuscus Mut sollte die Bedachtsamkeit des
Bassus und des Frontin ausgleichen. Die Niederlage in Dakien ist
seine, des Domitian, Schuld.
Und trotzdem: seine Berechnung
war richtig. Mit ständigem Warten kommt man auch nicht ans Ziel.
Die Legionen waren bewährt, wohlausgerüstet, das Wagnis hätte
ebensowohl auch gut ausgehen können. Es war eine Niedertracht des
Schicksals, diesen Krieg so übel enden zu lassen.
War es Zufall? Oder war es ein
Tort, der ihm persönlich galt? Domitians Gesicht wurde auf einmal
starr, beinahe töricht. Was sich dort unten im Osten ereignet
hatte, das war kein Zufall, das war ein Racheakt, es war die Rache
eines Gottes, die Rache dieses Gottes Jahve. Er hätte den
Erzpriester dieses Jahve nicht so lange warten lassen dürfen. Er
ist mächtig im Osten, dieser Gott Jahve, und er hat, dem römischen
Kaiser zum Tort, dem Diurpan seine niederträchtig schlaue Strategie
eingegeben.
Da gibt es nur eines: Rückzug,
schleunigen Rückzug. Er, Domitian, ist nicht dumm genug, den Kampf
mit dem Gotte Jahve fortzuführen. Er wird den Streit mit diesem
Gott, in den er unwillentlich geraten ist, raschestens,
unmißverständlich und ein für allemal beenden. Er wird diesen
Großdoktor empfangen. Er wird ihm sagen, er möge glücklich werden
mit seiner lächerlichen Universität Jabne.
Als am andern Morgen Crispin
erschien, fragte ihn der Kaiser mit gefährlicher Freundlichkeit:
»Hast du mir jetzt den Großdoktor und seine Leute bestellt?« – »Ich
wußte nicht«, erwiderte fassungslos Crispin, »ich wollte Ihrer
Entscheidung nicht...« – »Was heißt das, du wußtest nicht, du
wolltest nicht?« unterbrach ihn heftig der Kaiser. »Ich will,
genügt das nicht? Beim Herkules, was für einen Dummkopf hab ich mir
da zum Minister gemacht!« – »Ich lade also den Großdoktor auf
morgen«, schlug behutsam Crispin vor. »Auf morgen?« wütete der
Kaiser. »Wie soll ich bis morgen eine Lösung finden, um die
Beleidigung gutzumachen, die du durch deine Dummheit diesem
Erzpriester und seinem Gott angetan hast? Bestell den Großdoktor
auf den fünften Tag!« beschied er unwirsch den Hofmarschall. »Und
nach Alba!«
»Nach Alba?« fragte verwundert
Crispin zurück. Offizielle Empfänge ausländischer Gesandten fanden
gemeinhin auf dem Palatin statt; daß der Kaiser die jüdischen
Herren nach Alba beschied, widersprach jedem Brauch. »Nach Alba?«
fragte also Crispin nochmals, er glaubte, er habe sich verhört.
Aber: »Ja, nach Alba«, bestätigte der Kaiser. »Wohin denn
sonst?«
Er selber fuhr schon am nächsten Tag nach Alba
hinaus. Es war demütigend, daß er nun doch noch diesen Großdoktor
und seine Juden empfangen mußte, und bestimmt werden es diese
Burschen als Eingeständnis einer Niederlage ansehen. Er muß etwas
finden, um ihren Übermut zu dämpfen und ihnen die Freude an der
Rettung ihrer Universität zu versalzen. Aber er muß dabei behutsam
zu Werke gehen; wie sich gezeigt hat, ist dieser unheimliche,
unsichtbare Gott Jahve höllisch rachsüchtig.
Mit seinen Ministern kann er sich
darüber leider nicht beraten. Für den schlichten Soldaten Annius
Bassus, für den eleganten Hohlkopf Crispin, für den gewalttätigen
Norban ist die Angelegenheit zu fein und zu hoch. Marull und Regin
verstünden eher, worum es geht, sind aber Partei. Nein, er kann
darüber nur mit sich selber Rates pflegen.
Er stelzt herum in den Gärten von
Alba. Lange Zeit steht er vor dem Käfig eines Panthers, aus gelben,
schläfrigen, gefährlichen Augen blinzelt das schöne Tier ihn an.
Aber des Kaisers Phantasie bleibt unfruchtbar. Seine
Menschenverachtung, die ihm in ähnlichen Fällen manchmal treffliche
Ideen eingegeben hat, läßt ihn im Stich. Er findet nichts, womit er
die Juden verwunden könnte, ohne sich selber der berechtigten Rache
ihres Gottes auszusetzen.
Er ließ den Messalin nach Alba
kommen. Zusammen mit ihm spazierte er durch die weite, kunstvolle
Vielfältigkeit seines Parks. Er tat, als sei er sehr besorgt, dem
Blinden jedes Straucheln zu ersparen, aber er beobachtete nicht
ohne Vergnügen, wie der Mann zuweilen stolperte und wie ängstlich
er’s verbarg. Dahinter der Zwerg Silen machte die würdigen, auf
Natürlichkeit bedachten Bewegungen des Messalin nach.
Domitian führte seinen Gast in
einen unter der Erde gelegenen, kellerartigen Raum. Das weitläufige
Palais, an dem man nun seit zehn Jahren arbeitete, war noch immer
nicht fertig, und der Kaiser wußte nicht, wofür seine Architekten
dieses nicht ausgebaute, verwahrloste Gelaß bestimmt haben mochten.
Ein paar rohe Stufen führten hinunter, die rohe Erde des Bodens war
uneben, in der Ecke war ein Haufen Sandes geschichtet, der Raum war
voll von einer feuchten Dämmerung, die widrig abstach von der
frischen spätherbstlichen Klarheit draußen.
Domitian scheuchte seinen Zwerg
fort, leitete den Messalin zu einer Art Stufe und hieß ihn dort
sich setzen. Er selber kauerte sich auf dem Boden. Da hockten die
beiden in dem dunkeln, modrigen Loch, der Kaiser und sein blinder
Rat, und der Kaiser bat ihn um Hilfe in seinem schwierigen Streit
gegen Jahve. Ja, vor diesem Blinden, der noch finsterer ist und
menschenfeindlicher als er selber, kann er reden. Und von der Brust
redet er sich seinen fressenden Ärger. Er muß den Juden ihr
Lehrhaus lassen, er muß den Großdoktor empfangen, davor kann er
sich leider nicht drücken. Was aber kann er tun, dem Großdoktor die
Lust an seinem Lehrhaus zu verderben, ohne doch die Rache seines
Gottes auf sich herabzubeschwören?
Messalin sitzt auf den Stufen,
das Ohr dem Redenden zugeneigt, wie das seine Art ist. In dem
Dämmer ringsum, das nur die Umrisse erkennen läßt, wirkt seine
stattliche Gestalt doppelt groß. Der Kaiser ist zu Ende, doch
Messalin verharrt weiter unbeweglich und tut den Mund nicht auf.
Domitian erhebt sich. Mit leisen Schritten, um das Nachdenken
seines Rates durch kein Geräusch zu stören, geht er auf dem
unebenen, erdigen Boden des Gelasses auf und ab. Allerlei Getier
ist da, Asseln, ein Molch.
Messalin, nach einer Weile,
beginnt, seine Gedanken Worte werden zu lassen. »Es ist für uns
nicht ganz leicht«, erwägt er mit einer Stimme, die auffallend
hell, freundlich und schmeichlerisch aus dem mächtigen, dunklen
Manne herauskommt, »die abergläubischen Vorstellungen dieser Juden
zu verstehen und ihre Zwistigkeiten. Soweit ich unterrichtet bin,
finden sich die heftigsten Gegner dieses Lehrhauses in Jabne nicht
unter uns Römern, sondern unter den Juden selber. Und zwar sind es
die Angehörigen einer jüdischen Sekte, jene Leute, die in einem
gekreuzigten Sklaven, einem gewissen Jesus, ihren Gott sehen und
die Minäer genannt werden oder auch Christen, Leute, von denen Sie
bestimmt gehört haben, mein Gott und Herr. Der Unterschied zwischen
dem Aberglauben dieser Christen und dem Aberglauben der andern
Juden besteht, soweit ich aus ihren verworrenen Reden klug geworden
bin, in folgendem. Die einen, die Christen, nehmen an, ihr Erlöser,
Messias heißt er in ihrer Sprache, sei bereits erschienen, und zwar
in Gestalt eben jenes von ihnen göttlich verehrten gekreuzigten
Leibeigenen. Die andern nehmen an, der von ihrem Gott versprochene
Erlöser werde erst kommen. An sich können uns diese Zwistigkeiten
gleichgültig lassen, aber fraglos sind sie der Grund, aus dem die
Christen das Lehrhaus von Jabne anfein den. Daraus dürfen wir wohl
schließen, daß die Hoffnung auf den Messias, der da kommen soll,
die wichtigste Lehre dieser Universität Jabne ist. Es wird
behauptet, daß dieses Jabne politischen Einfluß habe. Wenn das
stimmt, dann wird wohl auch diese Politik in Verbindung stehen mit
der Lehre von dem Erlöser, der da kommen soll.«
Domitian war stehengeblieben,
bald nachdem der Blinde zu sprechen begonnen, er hatte gespannt
zugehört, jetzt hockte auch er wieder nieder. »Wenn ich dich recht
verstehe, mein Messalin«, sagte er nachdenklich, »dann wäre also
dieser Erlöser, der Messias, ein Mensch, der mir meine Provinz
Judäa streitig machen will?«
»Genau das meine ich, mein Herr
und Gott Domitian«, kam die höfliche, helle Stimme des Blinden.
»Und kein Gott könnte es dir verargen, wenn du dich wehrtest und
deine Provinz gegen diesen Messias verteidigtest.«
»Interessant, das ist
interessant«, anerkannte der Kaiser. »Wenn man diesen Messias
treffen könnte«, überlegte er, »dann träfe man also auch den
Großdoktor, und zwar ungestraft. Mir scheint, du bist da auf einer
guten Fährte, mein findiger Messalin.« Und da Messalin nichts
weiter zu sagen hatte, fuhr Domitian fort: »Der Erlöser, der
Messias. Vielleicht könnte einem da der Jude Josephus Auskunft
geben, der seinerzeit meinen Vater als den Messias begrüßt hat,
obgleich ich nicht weiß, wieweit das abgekartet war. Leicht wird es
auf keinen Fall sein, aus diesem Juden etwas über ihre Geheimlehren
herauszubekommen, sie sind störrisch. Trotzdem wittert mir, als sei
dein Rat sehr wertvoll, mein Messalin. Willst du mir weiterhelfen
auf diesem Wege?«
»Wenn dieser Messias etwas
Unsichtbares an sich haben sollte«, erwiderte Messalin, »wie der
Gott Jahve selber, dann, fürchte ich, werde ich dir nicht helfen
können, Kaiser Domitian. Es wäre dann der ganze Weg falsch; denn es
wäre dann kein irdischer Prätendent, und Jahve hätte das Recht, ihn
zu schützen und dich zu bekämpfen. Wenn aber der Messias aus
Fleisch und Blut sein sollte, greifbar, dann haben wir Rechte gegen
ihn, dann werden wir ihn auffinden, dann werden wir dieses Lehrhaus
in Jabne unschädlich machen und den, der dahintersteht.« »Still,
still«, antwortete mit unterdrückter Stimme Domitian, »sag das
nicht so laut, mein Messalin! Denk es, aber sag es nicht laut,
gerade weil du recht haben könntest! Jedenfalls danke ich dir«,
fuhr er fort, aufgehellt. »Und wolle, bitte, darüber nachdenken, ob
und wie wir diesen Messias aufspüren können. Laß dir rasch etwas
einfallen, mein Messalin! Vergiß nicht, daß diese Angelegenheit
mich wurmt und daß ich schlecht schlafe, solange sie nicht erledigt
ist!«
Messalin kehrte nach Rom zurück,
doch schon am dritten Tag stellte er sich wieder ein. »Hast du
etwas herausbekommen?« fragte Domitian. »Ich würde es nicht wagen«,
antwortete Messalin, »vor dem Angesicht des Herrn und Gottes
Domitian zu erscheinen, leeren Hirnes und leerer Zunge. Ich habe
dieses ermittelt. Der Messias, der den Juden ihren Tempel und ihren
Staat wieder errichten und dem römischen Kaiser die Provinz Judäa
entreißen soll, ist nichts Geisterhaftes. Er ist vielmehr von
Fleisch und Blut und der Polizei greifbar. Zudem ist er versehen
mit einem deutlichen Merkmal. Es muß nämlich nach Ansicht der Juden
der Messias, der Anspruch erheben darf auf ihren Thron, dem
Geschlecht eines alten Judenkönigs entstammen, eines gewissen
David. Nur ein solcher kann, nach Meinung des Lehrhauses von Jabne
und aller Juden, ihr König und Messias werden. Auch der gekreuzigte
jüdische Leibeigene, den die Minäer als ihren Gott anbeten, soll
ein Stämmling dieses alten Judenkönigs gewesen sein. Abkömmlinge
dieses Geschlechts, hab ich mir sagen lassen, gibt es nach wie vor.
Genaue Ziffern hat man mir nicht nennen können. Es sollen ihrer
mehrere sein, doch sehr wenige, Leute verschiedenen Standes indes,
ein Fischer soll darunter sein, ein Zimmermann, doch auch ein
Priester und ein großer Herr. Auf alle Fälle sind sie aufzuspüren,
sind sie zu fassen, und mit ihnen die treibende politische Kraft
des Lehrhauses von Jabne.«
»Das ist wertvoll, mein
Messalin«, anerkannte Domitian, »das ist ein wichtiger Fingerzeig.
Du meinst also, man brauchte nur die Abkömmlinge jenes Judenkönigs
in die Hand zu bekommen, zuzudrücken, und die Universität Jabne
wäre erledigt, und vielleicht auch«, setzte er scheu und begierig
hinzu, »der Unsichtbare hinter ihr?« – »Ich hielte es für
angebracht«, erwiderte die geschmeidige, helle Stimme des Blinden,
»jene Leute unschädlich zu machen. Sicher dann würde die politische
Spannung in der Provinz Judäa nachlassen.
»Und Sie glauben, mein Messalin«,
forschte Domitian weiter, »es sei nicht schwer, die Leute
aufzuspüren, die nach dem erwähnten ungeschriebenen Gesetz Anspruch
auf den Thron der Juden haben?« – »Ganz leicht wird es nicht sein«,
überlegte Messalin. »Es ist eine Geheimlehre, sie haben nichts
davon aufgeschrieben. Es gibt keine Listen«, lächelte er. »Auch
machen sie nicht viel her von diesen Nachkömmlingen Davids, und
diese selber verbergen ihre Berufung nicht geradezu, doch sie
stellen sie auch nicht ins Licht. Sie haben ja wohl auch etwas
Lächerliches an sich, diese Leute. Denn sie sind zwar, heißt es,
berufen, aber auserwählt ist schließlich nur einer, und auch der wohl nur als Vater oder Urahn
eines vielleicht sehr späten Nachfahrs.«
»Ich danke Ihnen, mein Messalin«,
antwortete der Kaiser. »Ich werde dem Norban und dem Gouverneur
Pompejus Longin Auftrag geben, zu recherchieren. Da aber, wie Sie
sagen, die Aufgabe nicht leicht ist, wäre es gut, mein Messalin,
wenn Sie selber sich ihrer annähmen und zu erforschen suchten, wer
unter die Kategorie dieser Messiasse fällt.« – »Ich stehe zur
Verfügung meines Kaisers«, sagte der Blinde.
In zwei Wagen fuhren die Herren der jüdischen
Deputation nach Alba; mit ihnen war Josef, den der Kaiser
aufgefordert hatte, sich mit dem Großdoktor und seinem Gefolge in
Alba einzufinden.
Gamaliel und Josef saßen im
ersten Wagen zusammen mit den Doktoren Ben Ismael und Chilkias,
Vertretern der milden, gemäßigten Richtung von Jabne. Gamaliel trug
römische Galatracht. Während er aber sonst trotz seines Bartes sehr
römisch aussah, wirkte heute sein römisches Äußeres wie eine
Verkleidung. Er war nicht der weltläufige Politiker, als den Rom
und Judäa ihn kannten, eher einer jener fanatischen, in sich
gekehrten Juden, die ohne Blick durch ihre Umwelt hindurchgehen,
beschäftigt nur mit Jahve, dem Gott in ihrer Brust. Den Gott in
sich suchte denn auch der Großdoktor während dieser Wagenfahrt; er
beschwor ihn, in ihm war nichts als brünstiges Gebet: Herr, gib mir
vor diesem Römer die rechten Worte! Herr, laß mich die Sache deines
Volkes wirksam führen! Herr, nicht um meinetwillen, nicht um
unsertwillen, sondern um der künftigen Geschlechter willen gib mir
und meinen Worten Kraft!
War man im ersten Wagen
schweigsam, so war man um so beredter im zweiten. Hier führten das
Wort die Vertreter der strengen Richtung von Jabne, die Doktoren
Helbo und Simon, genannt der Weber. In grimmigen Worten gaben sie
ihren Gewissensbissen Ausdruck, daß man gegen ihren Einspruch
gerade heute, am Tag vor dem Sabbat, zum Kaiser fuhr. Sehr leicht
konnte es geschehen, daß man auf der Rückfahrt in den Spätabend
hineingeriet, in den Sabbatanfang also, und am Sabbat über Land zu
fahren verbot das Ritualgesetz. Von vornherein also gefährdete man
das ganze Unternehmen, da man sich der Gefahr aussetzte, das Gesetz
Mosis übertreten zu müssen. Wäre es nach ihnen gegangen, dann hätte
man dem Kaiser mitgeteilt, die Deputation könne ihn erst zwei Tage
später aufsuchen. Doch Gamaliel hatte sie vergewaltigt, er hatte
seine Autorität mißbraucht und sie gezwungen, den Wagen zu
besteigen, ja, durch einen zweiten Machtspruch hatte er sie
gezwungen, die gewohnte jüdische Tracht mit der vorgeschriebenen
Galakleidung zu vertauschen. Sie führten einen eifrigen
theologischen Disput, gegen wie viele von den
dreihundertfünfundsechzig Verboten man durch diese Fahrt verstoße
und wie viele von den zweihundertachtundvierzig Geboten dadurch zu
vernachlässigen man gezwungen sei. Zudem habe der Großdoktor noch
den Ketzer Josef Ben Matthias mit zum Kaiser genommen, jenen Mann,
der Israel an Edom verraten habe. Doppelt notwendig sei es unter
diesen Umständen, daß sie, die Doktoren der strengen Richtung, sich
hart machten und nicht zuließen, daß Gamaliel in der Audienz seiner
gefährlichen Neigung zu Kompromissen nachgebe und die Prinzipien
Jabnes verwässere.
Der Großdoktor, schon erstaunt
darüber, daß man ihn nicht auf den Palatin beschieden hatte,
sondern nach Alba, war doppelt verwundert über den Empfang, den er
und seine Herren hier fanden. Man hatte ihm viel erzählt von dem
umständlichen, prunkvollen Zeremoniell der kaiserlichen Audienzen.
Hier in Alba aber wurden er und seine Herren nicht etwa in einen
Vorsaal oder in einen Empfangsraum geleitet, sondern auf
umständlichen Wegen führte man sie durch den ausgedehnten Park,
durch Ziergärten, über geschwungene Brücken und Brückchen, an
Teichen vorbei, an Gruppen zierlich verschnittener Bäume, an
Blumenbeeten.
Es war ein launischer
Spätherbsttag, der Himmel zeigte ein starkes Blau, gefleckt von
fetten, weißen Wolken. Den Doktoren waren die Beine steif geworden
vom langen Sitzen im Wagen. Jetzt stapften sie ungelenk die vielen
Pfade, es ging auf und ab über Terrassen, über lange, sich windende
Treppenwege.
Endlich wurde der Kaiser
sichtbar. Um ihn waren einige Herren. Josef erkannte den
Polizeiminister Norban, den Kriegsminister Annius Bassus und des
Kaisers Freund, den Senator Messalin. Domitian trug einen leichten,
grauen Mantel, sein Gesicht war infolge der frischen Luft noch mehr
gerötet als sonst, er schien guter Laune. »Ah, da sind die Doktoren
von Jabne«, sagte er lebhaft mit seiner hohen Stimme. »Ich habe es
nicht länger hinausschieben wollen, mein heiliger Herr«, wandte er
sich an Gamaliel, »Ihre Bekanntschaft zu machen. Nicht weitere zwei
Stunden, nicht bis zum Ende der Besichtigung meiner neuen Bauten
habe ich warten wollen. Jetzt freilich müssen Sie mir erlauben, daß
ich, während ich mit Ihnen spreche, meine Geschäfte hier weiter
betreibe. Das hier«, stellte er vor, »sind meine Baumeister Grovius
und Larinas, deren Namen Ihnen bekannt sein werden. Und jetzt,
während wir plaudern, fahre ich in der Besichtigung fort. Wir
wollen uns zunächst das kleine Sommertheater anschauen, das ich für
die Kaiserin zu errichten im Begriffe bin.«
Man setzte sich von neuem in
Bewegung. Die jüdischen Herren, befremdet von dem sonderbaren
Empfang, stolperten ungelenk weiter. Sie und diese Umgebung
stimmten durchaus nicht zusammen, und sie spürten es. Der Kaiser,
während man so dahinging, stelzte, stapfte, sprach über die
Schulter zu dem Großdoktor. »Es ist jetzt«, sagte er, »viel die
Rede von eurer Universität Jabne. Man beklagt sich, sie sei ein
Herd des Aufruhrs. Ich wäre Ihnen verbunden, heiliger Herr, wenn
Sie mich darüber belehrten.« Der Großdoktor war ein geschmeidiger
Mann, der sich in jede Situation zu finden wußte. Sich sorgfältig
einen halben Schritt hinter dem Kaiser haltend, erwiderte er: »Ich
begreife nicht, wie unsere stille Gelehrtentätigkeit in Jabne Anlaß
zu solchem Gerede geben kann. Unser einziges Geschäft ist, die
alten Lehren unseres Gottes auszudeuten, sie den Bedingungen
unserer neuen, unpolitischen, rein religiösen Gemeinschaft
anzupassen, die Vorschriften eines Lebens festzusetzen, das dem
Kaiser gibt, was des Kaisers ist, und unserm Gotte Jahve, was sein
ist. Unsere oberste Richtschnur heißt: die Gesetze der Regierung
sind auch Religionsgesetze. Durch diese Grundregel haben wir jeden
Kompetenzstreit und jeden Gewissenskonflikt ein für allemal aus dem
Wege geschafft.«
Man war inzwischen auf der
Baustelle angelangt. Die Fundamente des kleinen Theaters waren
gelegt. Der Kaiser stand und beschaute sie; es war fraglich, ob er
die Worte des Großdoktors gehört und aufgenommen hatte. Vorläufig
jedenfalls antwortete er nicht, sondern wandte sich an seine
Baumeister. »Die Aussicht«, sagte er, »über die Bühne dieses
kleinen Theaters auf den See hin ist noch schöner, als ich erwartet
hatte. Aber vielleicht hätten wir doch, wie ich zuerst vorschlug,
die Szene etwas breiter machen sollen, etwa um zwei Meter.« Und
ohne Übergang, brüsk, wandte er sich an den Großdoktor: »Aber sind
nicht vielleicht eure schönen Reden bloße Theorien? Ist eure Lehre
nicht ihrem Wesen nach staatsfeindlich? Ist euer Gott nicht auch
euer König, so daß seine Gesetze die Gesetze des Senats und Volkes
von Rom von vornherein aufheben? Haben sich nicht die Führer des
niederträchtigen Aufruhrs auch auf euch berufen und auf eure
Lehre?«
Der Architekt Larinas legte dar:
»Wenn wir die Szene breiter gemacht hätten, dann hätte das Haus den
Charakter des Schmuckkästchens verloren, den der Herr und Gott
Domitian für dieses Theater der Kaiserin befohlen hatte.« Der
Großdoktor sagte: »Wir haben den Bann ausgesprochen über
diejenigen, die sich der Aufruhrbewegung anschlossen.« Der Kaiser
erklärte: »Ich will mir den Bau von der Seite anschauen. Ich glaube
noch immer nicht, daß Sie recht haben, mein Larinas.«
Während man sich nach der andern
Seite des kleinen Theaters begab, hänselte Annius Bassus auf seine
joviale, lärmende Art die jüdischen Herren: »Ja, meine verehrten
Doktoren, Sie haben die Aufrührer in Bann getan, stimmt: aber doch
erst, nachdem der Aufstand mißglückt war und die Aufrührer tot.«
Der Kaiser beschaute sich den Bau. »Sie haben recht, mein Larinas«,
entschied er, »und ich habe mich geirrt. Das Theater verlöre seinen
Sinn, wenn man die Szene größer machte.« Doktor Chilkias widerlegte
höflich den Annius Bassus: »Es war gar nicht anders möglich, als
daß der Bann erst ausgesprochen wurde, nachdem die Aufrührer tot
waren. Die Formalitäten und die Verkündigung, wenn man sie noch so
sehr beschleunigt, nehmen mindestens sechs Wochen in
Anspruch.«
»So«, sagte der Kaiser, »und
jetzt zeigen Sie mir den Pavillon.« Von neuem machte man sich
umständlich auf den Weg, bis man vor einem kleinen, nach allen
Seiten offenen Bau stand. »Können Sie sich vorstellen, heiliger
Herr«, wandte sich leutselig der Kaiser an den Großdoktor, auf die
zierlich emporstrebenden Säulen weisend, »wie das ausschauen wird,
wenn es erst ganz fertig ist? Ist das nicht wie aus Spitzen gewebt,
so leicht und fein? Stellen Sie sich das vor, wie es in einen
heißen, blauen Sommerhimmel hineinsticht. Beim Herkules, mein
Grovius, das haben Sie ausgezeichnet gemacht. Ja, und wie ist das
mit eurem Messias?« packte er wiederum jäh den Gamaliel an. »Ich
habe mir sagen lassen, ihr verkündet da zweideutige Lehren über
einen Messias, der da kommen soll, euer König zu sein und euern
Staat wiederherzustellen. Wenn Worte Sinn haben, dann kann das doch
nur bedeuten, daß dieser Messias mir meine Provinz Judäa zu
entreißen bestimmt ist.«
Die Doktoren, wie der Kaiser
plötzlich von dem Messias anhub, zuckten zusammen. Domitian sprach
griechisch, das war eine Höflichkeit für die östlichen Herren, aber
einige von ihnen vermochten doch nur mit Mühe zu folgen. Diese
letzten Sätze indes und ihre bösartige Meinung hatten sie alle
begriffen. Da standen sie, bärtig, hilflos, ratlos, ziemlich
unglücklich in der ungewohnten Umgebung; zierlich vor den schweren
Gestalten hob sich der Sommerpavillon.
Der Großdoktor indes bewahrte
seine Fassung. Das Kommen des Messias, erklärte er, sei eine
Weissagung allgemeiner Art, die nichts mit Politik zu tun habe. Der
Messias sei eine Manifestation Gottes jenseits aller realen
Vorstellungen, er gehöre in die Welt des rein Geistigen. Der Kaiser
stelle sich ihn am besten als so etwas vor wie eine Idee Platos.
Gewiß, es gebe Leute, die mit der Lehre vom Messias reale
Vorstellungen verbänden. Diese Leute nennten sich Minäer oder auch
Christen, dies letztere eben nach der griechischen Bezeichnung des
Wortes Messias. Sie zögen aus jener Weissagung praktische
Konsequenzen. Sie verehrten einen persönlichen, verleiblichten
Messias. »Wir aber«, erklärte er würdevoll und bestimmt, »wir, das
Lehrhaus und das Kollegium von Jabne, haben diese Leute als Ketzer
aus unserer Mitte ausgestoßen. Wir haben mit Messiasgläubigen
solcher Art nichts zu schaffen.«
»Schade«, meinte Domitian, »daß
ich den Pavillon nicht sehr oft werde benutzen können. Gerade im
Sommer zwingt mich die Rücksicht auf dumme Repräsentation, beinahe
täglich große Tafel zu halten. Aber der Pavillon ist ein Wunder in
seiner Art.« Dann, sehr sanft, sagte er zu dem Großdoktor: »Jetzt
haben Sie aber ein wenig geschwindelt, heiliger Herr. Ich bin
besser informiert, als Sie annehmen. Die Messiasgläubigen, von
denen Sie sprechen, Ihre Christen, die behaupten doch, der Messias
sei bereits gestorben; ihr gekreuzigter Gott wird mir somit
schwerlich mehr die Provinz Judäa wegnehmen, und die Leute sind in
dieser Hinsicht ganz ungefährlich. Euer Messias hingegen, da ihr
ihn erst erwartet, der bleibt bedenklich.«
Unter den Doktoren war sichtbare
Verwirrung. Die Weissagung des Messias, versuchte Gamaliel zu
erklären, beziehe sich auf eine ferne Zukunft. Von dem Reich, das
er gründen solle, heiße es, es werde dort alles Kriegsgerät in
Friedenswerkzeug umgeschmiedet werden, und es würden dort Löwe,
Wolf und Bär zusammen mit dem Lamme weiden. »Sie sehen, Majestät«,
schloß er, »es handelt sich um eine religiöse Utopie, die mit
realer Politik nichts zu schaffen hat.« Doktor Chilkias sprang dem
Gamaliel bei. »Fest steht nur eines«, sagte
er, »daß nämlich ein Messias kommen wird. Wann er indes kommen wird
und was seine Funktion sein wird, sich darüber ein Bild zu machen
bleibt dem einzelnen überlassen.«
Schon während Gamaliel
gesprochen, hatten einige der Doktoren zu tuscheln angefangen. Sie
fanden es offenbar lästerlich, unerträglich, daß aus berufenem
Munde ein so wichtiger Bestandteil ihres Glaubens so zweideutig
erklärt, ja geradezu abgeleugnet wurde. Kaum hatte Doktor Chilkias
geendet, da korrigierte denn auch schon Doktor Helbo ihn und vor
allem den Großdoktor. Mit seiner tiefen, brüchigen Stimme,
unbeholfen, in schlechtem Griechisch, sagte er: »Es mag sein fern,
es mag sein nah, es mag sein so, es mag sein anders: aber der Tag
wird kommen. Der Tag wird kommen«, wiederholte er grob, bedrohlich
und richtete die alten, zürnenden Augen auf den Großdoktor und
zurück auf den Kaiser.
Ein unbehagliches Schweigen war.
»Interessant«, sagte Domitian, »das ist interessant.« Er setzte
sich auf die Stufen des Pavillons, schlug salopp ein Bein über das
andere und wippte mit dem Fuß; es war angenehm, nicht die
feierlichen, hochgesohlten Schuhe zu tragen, sondern bequeme,
sandalenartige. »Darüber möchte ich mehr hören«, fuhr er fort. Und,
immer sehr sanft, wandte er sich an den Großdoktor, mit dem Finger
drohend: »Und da sagen Sie, euer Messias sei eine utopische
Vorstellung, eine platonische Idee!« Und, wieder zu dem alten,
groben Helbo: »Der Tag wird kommen. Welcher Tag, bitte? ›Kommen
wird er, der Tag, da die heilige Ilion hinsinkt‹«, zitierte er den
Homer. »An welche Ilion denken Sie, mein Doktor und Herr? An Rom?«
fragte er geradezu.
Die Doktoren standen jetzt ein
wenig gesondert. Die Römer schauten auf sie, warteten auf die
Antwort. Der Kaiser indes, ihre Verlegenheit nicht ausnützend,
unterbrach das peinliche Schweigen und fuhr fort, ungewohnt jovial:
»Es müssen manche unter euch sich diesen Messias nicht als etwas
rein Geistiges, sondern als ein Wesen aus Fleisch und Blut
vorgestellt haben. Dieser mein Flavius Josephus zum Beispiel hat
seinerzeit meinen Vater, den Gott Vespasian, als den Messias
bezeichnet. Und Sie, mein Flavius Josephus«, er schaute ihm voll,
sanft, mokant und gefährlich ins Gesicht, »haben doch sicher nicht
meinem Vater die Absicht zugetraut, Wölfe oder Löwen so zu zähmen,
daß sie neben Lämmern weiden. Aber schön«, wandte er sich wieder an
die Doktoren, »dieser Ritter Flavius Josephus ist im Hauptamt
Soldat, Schriftsteller, Staatsmann und nur im Nebenamt Theolog und
Prophet; lassen wir also seine Deutung auf sich beruhen. Sie indes,
meine Herren Doktoren, Sie sind die berufenen Ausleger der
jüdischen Lehre, die Sachwalter Jahves. Ich bitte Sie um eine
klare, unmißverständliche Auskunft: wer oder was ist Ihr Messias?
Ich bitte Sie um eine Erklärung, so eindeutig, wie ich sie in
Rapporten meiner Beamten zu finden erwarte.«
»Es steht geschrieben«, begann
Doktor Helbo, »bei unserm Propheten Jesajas: ›Von Zion wird das
Gesetz ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Und er wird
richten unter den Heiden und strafen viele Völker.‹« Zornig und
gefährlich kam das aus seinem großen Mund. Aber: »Nicht doch, nicht
doch, mein Bruder und Herr«, fiel ihm eifrig Doktor Chilkias ins
Wort, »dies ist eine halbe Wahrheit, die ihren rechten Sinn erst
aus späteren Sätzen gewinnt. Denn es ist gesagt bei dem gleichen
Propheten Jesajas: ›Es ist ein Geringes, daß du mein Knecht bist,
die Stämme Jakobs aufzurichten. Sondern ich habe dich auch zum
Licht der Heiden gemacht, auf daß du mein Heil seist bis zum Ende
der Welt.‹« Allein: »Entstellen Sie nicht, mein Bruder und Herr«,
ereiferte sich hartnäckig Doktor Helbo, »legen Sie nicht den Ton
auf Nebensachen. Steht nicht etwa auch geschrieben bei dem
Propheten Micha: ›Er wird richten unter großen Völkern und viele
Heiden strafen in fernen Landen‹?« Doch auch Doktor Chilkias
beharrte: »Sie sind es, der entstellt, und schon ein zweites Mal.
Denn Sie lassen fort, wie es weitergeht bei dem Propheten Micha:
›Und ein jeglicher wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum
wohnen ohne Furcht.‹« Nun aber sprang dem Doktor Helbo sein
Gesinnungsgenosse bei, der Doktor Simon, genannt der Weber. »Und
was ist es«, fragte er streitbar, »mit Gog und Magog, die der
Messias vorher hinstrecken wird?« Alle begannen sie jetzt zu
debattieren. Sie waren nicht mehr in den Gärten von Alba und in
Gegenwart des Kaisers, sie waren in Jabne, in ihrem Lehrsaal, sie
gerieten aus dem Griechi schen ins Aramäische, ihre Stimmen gingen
ineinander, erhitzt, zornig. Der Kaiser und seine Herren hörten
still zu und zeigten kaum, wie belustigt sie waren.
»Ich muß gestehen, viel klüger
bin ich nicht geworden«, sagte schließlich der Kaiser. Messalin,
mit seiner sanften Stimme, griff ein. »Darf ich mir den Versuch
erlauben«, fragte er, »den Herren klarzumachen, was eigentlich
unser Herr und Gott von Ihnen will? Es geht der Majestät darum,
meine Herren Doktoren, von Ihnen als von der autorisierten Stelle
folgendes zu erfahren. Gibt es Männer in Fleisch und Blut, Männer
mit genauen Namen, Wohnort und Geburtsjahr, die eine Anwartschaft
darauf haben, der von Ihnen erwartete Messias zu sein? Mir hat man
gelegentlich gesagt, ein Kriterium werde von Ihnen allen als
Grundlage solcher Eignung und Anwartschaft anerkannt; es werde
nämlich der von Ihnen erwartete Messias ein Reis sein aus dem
Stamme eures Königs David. Bin ich da recht unterrichtet oder
nicht?«
»Ja«, sagte lebhaft der Kaiser,
»das ist interessant. Ist der Kreis derer, aus deren Mitte der von
euch erwartete Messias kommen soll, streng umgrenzt? Ist er zu
suchen ausschließlich unter den Abkömmlingen eures Königs David?
Ich bitte um klare Antwort«, forderte er den Großdoktor
auf.
Gamaliel erwiderte: »Es ist so,
und es ist nicht so. Unsere Heilige Schrift bedient sich oft einer
dichterischen Ausdrucksweise. Wenn unter unsern Propheten der eine
oder andere erklärt, es werde uns ein Messias kommen aus dem Stamme
Davids, so ist das mit Absicht vag ausgedrückt und bildlich zu
verstehen. Die ganze Vorstellungswelt um den Messias herum ist
poetisch. Sie hat«, schloß er lächelnd, weltmännisch, »wenig mit
einer Realität zu tun, die man in Akten und Listen einfangen
könnte.«
Doktor Ben Ismael wandte das
edle, elfenbeinfarbene, zerknitterte Gesicht dem Kaiser zu, die
alten, müden, eingesunkenen Augen richtete er voll auf ihn, und er
erklärte: »Ja, es handelt sich um eine höhere Realität. Wer über
den Messias ein Einzelnes aussagt, sagt im besten Falle eine
Teilwahrheit aus und somit etwas Falsches. Denn die Lehre vom
Messias ist eine vielfältige Wahrheit, sie kann nicht mit dem
Verstand allein begriffen, sie kann nur geahnt werden, geschaut.
Nur der Prophet schaut sie. Eines allein ist gewiß: der Messias,
der da kommen soll, wird sein die Verbindung Gottes mit der Welt.
Seine Sendung geht nicht Israel allein an, sondern den Erdkreis und
alle seine Völker.«
Aber: »Es ist nicht so«, erklärte
grob der wilde Eiferer Doktor Helbo, »und Sie, Doktor Ben Ismael,
wissen, daß es nicht so ist. Es sind Einzelheiten offenbart über
den Messias«, wandte er sich an Messalin, »so eindeutige Merkmale,
daß sie nicht zu verwischen sind und daß sogar ihr Römer sie
verstehen könnt. Der Messias wird sein ein Sprößling Davids. Dies
ist die Wahrheit, und da hat man Sie recht unterrichtet, mein
Herr.«
»Danke«, sagte
Messalin.
»Was Sie meinem Vater verkündet
haben, mein Flavius Josephus«, meinte liebenswürdig der Kaiser,
»stimmt aber damit nicht überein. Denn soweit ich über unsere
Abstammung unterrichtet bin, geht sie auf Herkules zurück, nicht
auf diesen David.« Ein kleines Gelächter lief ringsum, es klang
harmlos, der Großdoktor atmete auf. Josef selber, trotz der
Demütigung, atmete auf, froh, daß die Gefahr vorüberzuziehen schien
an der Hochschule von Jabne, an der Lehre. »Aus den
Meinungsverschiedenheiten der verehrten Herren und Doktoren«,
verteidigte er sich, »mag der Herr und Gott Domitian ersehen, daß
die Verkündigungen des Messias dunkel sind und das meiste dem
Gefühl überlassen. Was ich damals spürte, als ich dem Herrn und
Gott Vespasian huldigte, war ehrlich, die Ereignisse haben es
bewährt, und ich rühme mich meiner Verkündigung.«
Ein tiefes, zorniges Brummen kam
aus der Kehle des Doktors Helbo. War es schon Lästerung, daß dieser
Josef Ben Matthias, immerhin noch Jude, den Kaiser der Heiden als
Herrn und Gott ansprach, so war es doppelte Blasphemie, daß er den
toten Kaiser Vespasian, den Feind Jahves, in Gegenwart der Doktoren
von Jabne nochmals den Messias nannte. Doktor Helbo rüstete sich
also, etwas Eiferndes, Bekennerisches, Vernichtendes zu sagen. Doch
weder dem Annius Bassus noch dem Norban, noch gar dem Messalin
gefiel es, daß sich das Gespräch jenen alten, abgelebten Vorgängen
zugekehrt hatte. Ihnen lag daran, die Doktoren auf Definitionen
festzulegen, die man für gewisse praktische Maßnahmen verwerten
konnte. »Soviel jedenfalls dürfen wir als gesichert unterstellen«,
faßte Annius Bassus zusammen, »daß der gemeine Mann überall in der
Judenheit einen, der vom König David abstammt, dem Kreis derjenigen
zurechnet, aus denen der echte Messias kommen wird.« – »Ja, so ist
es«, gab der grimmige Doktor Helbo zu. »Nun«, erklärte zufrieden
der Polizeiminister Norban, »da haben wir immerhin etwas Rundes,
Faßbares, Greifbares.« Und: »Gibt es solche Abkömmlinge Davids?«
stieß sogleich mit seiner sanften Stimme der blinde Messalin weiter
vor. »Kennt man sie? Gibt es viele? Und wo findet man
sie?«
Außer Josef und Gamaliel wußte
unter den Juden wohl keiner Bescheid um die dunkle Funktion dieses
Senators Messalin. Trotzdem überfröstelte es die Doktoren. Sie
merkten den bösen Hintersinn der sanften Frage, sie erkannten, daß
dies die gefährlichste Minute dieses schicksalsträchtigen
Gespräches war, die gefährlichste Minute dieser bedenklichen Reise
nach Rom. Was sollte man antworten? Sollte man die Namen der
Sprößlinge Davids und ihrer Häupter diesen bösartigen Heiden und
ihrem Kaiser preisgeben? Nicht als ob sie sehr geachtet gewesen
wären, diejenigen, die heute der Finger des Volkes, und nicht
einmal mit Sicherheit, als Sprößlinge Davids bezeichnete; seit
vielen Geschlechtern waren viele berufen. Trotzdem waren sie
heilig, denn unter ihnen war der Auserwählte oder der Stammvater
des Auserwählten. Und die Hoffnung auf den Auserwählten war das
Lichteste an der Lehre. Ja, ein großes Licht würde für immer
verlöschen, wenn man leichtfertig das Geschlecht Davids preisgäbe
und damit die Möglichkeit, daß der Messias je erscheine. Es wob um
die Hoffnung auf den Messias Geheimnis, ein anziehend Urheiliges;
wenn mit dem Geschlechte Davids dieses Heilige, Geheimnisvolle aus
der Welt verschwand, dann war der Lehre ihr tiefster Zauber
genommen.
Was also sollte man tun? Wich man
der sanften, tückischen Frage des blinden Mannes aus, verweigerte
man die Namen, dann, sicherlich, wird sich der Zorn des Kaisers
über das Lehrhaus von Jabne ergießen. Sollte man also die
Sprößlinge Davids ausliefern?
Der Wind war stärker geworden, er
ging in Stößen und bauschte die Galakleider. Dunkelgrün glänzten
Buchs und Taxus, silbern glitzerten die Ölbäume, von unten
erschimmerte besonnt, leicht bewegt der See. Doch niemand achtete
darauf. Der Kaiser saß auf den Stufen des Pavillons, die andern
standen herum. Sie schauten auf den Großdoktor, an ihm jetzt lag
es, zu antworten, und was wird er antworten? Selbst die Architekten
Grovius und Larinas vergaßen den Ärger darüber, daß die
Schaustellung ihrer Leistung beeinträchtigt war durch die
Anwesenheit der barbarischen Gesandtschaft. Was wird der
Erzpriester der Juden jetzt sagen?
Bevor er indes antworten konnte,
erklang die brüchige, grobe Stimme Doktor Helbos. Hatte nicht
dieser Josef Ben Matthias soeben erst nochmals den Frevel der
Lästerung begangen und so sich selber zur Ausrottung bestimmt? »Die
vom Stamme Davids sind berufen«, sagte also Doktor Helbo, »aber nur
wenige sind auserwählt. Da ist zum Beispiel dieser Josef Ben
Matthias, früher Priester der Ersten Reihe, jetzt aber in Bann und
ein Ketzer. Wie könnte ein solcher auserwählt sein? Und dennoch ist
er vom Stamme Davids, wenn auch nur von Großmutterseite her. Sein
Vater jedenfalls hat sich des vor meinen Ohren gerühmt.«
»Interessant«, sagte der Kaiser,
»interessant.«
Alle Blicke richteten sich auf
Josef. Es hatte sich um ihn ein kleiner, freier Raum gebildet; es
war so wie damals, als der Bann gegen ihn ausgesprochen war und
alle die sieben Schritte Abstand hielten. Sonderbar teilnahmslos
stand er da, als wäre von einem Dritten die Rede, das Galakleid mit
dem schmalen Purpurstreif legte sich im Wind an seine magern
Glieder, mit abwesenden Augen beschaute er den Ring an seinem
Finger, den Goldenen Reif des Zweiten Adels. In seinem Innern war
Panik. Aus dem Geschlechte Davids, dachte er. Es ist wohl so. Aus
Königsgeschlecht vom Vater und von der Mutter her, aus dem
Geschlechte Davids und aus dem Geschlechte der Hasmonäer. Daß
dieses jetzt über mich kommt, ist die Strafe dafür, daß ich damals
den Römer als den Messias begrüßt habe. Mittlerweile aber hatte der
Großdoktor seine Antwort gefunden. In seiner überlegenen,
weltmännischen Art erklärte er: »Wenn das Volk den oder jenen als
einen Abkömmling Davids bezeichnet, so ist das ein vulgärer
Aberglaube, gegründet nicht auf die leiseste Spur eines Beweises.
Manchmal sind es sehr geringe Männer, an welche dieser Aberglaube
sich heftet, ein Fischer, ein Zimmermann. Wie sollte ein Sprößling
Davids so herunterkommen?« Diesmal wurde er berichtigt von einem,
von dem es keiner erwartet hätte. »Es ist aber manchmal ein großer
Glanz auch um diese niedrigen Männer«, sagte die milde Stimme des
alten Doktors Ben Ismael.
»Laß dich anschauen, mein
Josephus«, lächelte Domitian, »ob ein Glanz um dich ist!« Er stand
auf, kam nah an den Juden heran. »Auf alle Fälle bleibt diese
Angelegenheit mit eurem Messias dunkel und bedenklich«, entschied
er, es klang abschließend.
Nun aber dachte der Großdoktor an
das, was er sich zurechtgelegt hatte über die Religiosität und
Gottesscheu dieses Kaisers und fand es an der Zeit, seinesteils
anzugreifen. »Ich bitte Eure Majestät«, bat er, »die Angelegenheit
nicht als bedenklich anzuschauen. Dunkel ist die Lehre vom Messias,
aber hüllen sich nicht die Götter vieler Völker in Dunkelheit?« Er
stand jetzt Aug in Aug mit dem Kaiser, seine Stimme klang hell,
stark, mutvoll, bedrohlich. »Es ist nicht gut«, warnte er, »wenn
der Mensch versucht, zu tief in die Geheimnisse der Gottheit
einzudringen. Vielleicht geschah es aus Gründen solcher Art, daß
uns unser Gott so schwer gezüchtigt hat.« Ein kleines Zucken ging
über das Gesicht des Kaisers, fast unmerklich, Gamaliel aber
bemerkte es. Mehr zu erreichen, hatte er nicht gehofft; den Kaiser
weiter zu bedrohen hätte die Wirkung nur verdorben. Gamaliel ließ
es also bei seinem undeutlichen Ausspruch bewenden, ja er tat, als
hätte er keine Warnung vorgebracht, sondern nur eine
Entschuldigung, und er fuhr, leiser, fort: »Es ist kein leichter,
heiterer Gott, unser Gott Jahve, es ist schwer, ihm zu dienen, er
ist schnell gekränkt.«
Die Drohung des Großdoktors
bereitete dem Kaiser gerade durch ihre Vieldeutigkeit Unbehagen,
Gamaliels schmetternde Stimme erinnerte ihn peinlich an die seines
Bruders Titus, und dieser letzte Hinweis, Jahve sei schnell
gekränkt, beunruhigte ihn tief. Was will er denn, dachte er, der
jüdische Pfaffe? Ich denke doch gar nicht daran, ihm seine
Universität zu schließen. Das könnte diesem Jahve passen, daß ich
etwas gegen ihn unternehme und ihm den Vorwand liefere, mich zu
schädigen. Ich werde mich hüten.
»Ich habe gehört«, sagte er mit
Anlauf, entschlossen, »ihr hättet Angst davor, man könnte euer
Lehrhaus sperren. Wie kommt ihr auf solchen Aberwitz? Wie könnt ihr
so unsinnigem Gerede Glauben schenken?« Er richtete sich hoch auf,
blitzend, kaiserlich stand er im starken Wind. »Rom schützt die
Götter der Völker, die sich seinem Schirm anvertraut haben«,
verkündete er, und: »Habt keine Angst!« fuhr er fort, leutselig.
»Ich werde euch ein Handschreiben mitgeben an meinen Gouverneur
Pompejus Longin, das euch jeder weiteren Sorge überheben soll.« Mit
einer leichten, anmutigen Bewegung legte er dem Großdoktor die Hand
auf die Schulter. »Man sollte nicht gleich kleinmütig werden«,
sagte er mit liebenswürdigem Spott, »und verzagen, mein heiliger
Herr, unter der Regierung des Domitian, den Senat und Volk von Rom
ihren Herrn und Gott nennen. Und vielleicht auch sollte man etwas
mehr Vertrauen zu seinen eigenen Göttern haben.« Und, zu Josef
gewandt, abschließend, mit einer lockern und gleichwohl fürstlichen
Geste, sagte er: »Sind Sie zufrieden mit mir, mein Flavius
Josephus, Geschichtsschreiber meines Hauses?«
Die Woche darauf, trotz der schlechten
Jahreszeit, schifften sich der Großdoktor und seine Herren nach
Judäa ein. Josef und Claudius Regin begleiteten Gamaliel ans
Schiff.
Gamaliel fand auch jetzt
herzliche und sehr achtungsvolle Worte, um sich bei Josef zu
bedanken, daß er ihm die Audienz beim Kaiser verschafft hatte.
»Wieder«, sagte er, »haben Sie sich hohes Verdienst um die Sache
Israels erworben. Ich hoffe nur, daß nicht am Ende Sie den Preis
für unsere Privilegien zu zahlen haben werden. Da Domitian bis
jetzt aus den unbesonnenen Äußerungen unseres Doktors Helbo keine
Konsequen zen gezogen hat, wird er das, hoffe ich, auch weiter
unterlassen.«
Josef schwieg. Claudius Regin
wiegte aber, besorgt, den Kopf und sagte: »Domitian ist ein
langsamer Gott.«
Dann bestiegen die Doktoren das
Schiff, glücklich, im Besitz des sehr gnädig gehaltenen
kaiserlichen Handschreibens. Aller Herzen waren erfüllt von Dank
für Josef. Nur die Doktoren Helbo und Simon der Weber grollten ihm
auch weiter.
Kurze Zeit darauf forderte der Senator
Messalin den Josef auf, ihn zu besuchen. Der Kaiser erweise dem
Senator die Gunst, bei ihm zu speisen, und wünsche, daß ihm Josef
aus dem Manuskript seines Geschichtswerkes die Kapitel über den
jüdischen König David vorlese.
Da wußte Josef, daß Claudius
Regin recht gehabt und daß der langsame Gott Domitian die Maßnahmen
gegen ihn aufgeschoben, doch nicht aufgegeben hatte. Er erschrak in
seinem Herzen. Gleichzeitig aber beschloß er, daß, wenn Gott ihn
wirklich als Opfer an Stelle Jabnes bestimmt haben sollte, er nicht
dagegen murren, sondern dieses Opfer voll demütigen Stolzes auf
sich nehmen werde.
Messalin, während Domitian faul
auf dem Sofa lag, eröffnete dem Josef, der Kaiser sei interessiert
an gewissen jüdischen Fragen, und da die Doktoren von Jabne nicht
mehr in Rom seien, möchte er von Josephus Auskunft haben als von
dem besten Kenner der Materie. »Ja«, nickte träg und wohlwollend
der Kaiser, »es wäre freundlich von Ihnen, mein Josephus, wenn Sie
uns belehren wollten.«
Josef, sich an Messalin allein
wendend, fragte: »Habe ich diese Unterredung als ein Verhör zu
betrachten?« – »Was für harte Worte, mein Josephus«, tadelte
lächelnd von seinem Sofa her der Kaiser, und: »Es handelt sich
lediglich um eine Unterredung über historische Gegenstände«,
betonte nochmals liebenswürdig der Blinde. »Es interessiert den
Herrn und Gott Domitian zum Beispiel, wie Sie, ein Mann des Ostens,
über das Schicksal des Cäsarion denken, jenes Sohnes des Julius
Cäsar und der Kleopatra.« – »Ja«, pflichtete der Kaiser bei, »das
interessiert mich. Cäsar hat ihn offenbar geliebt, diesen seinen
Sohn«, setzte er auseinander, »und ihm die Rolle zugedacht, der
vermittelnde Herrscher zwischen Ost und West zu sein. Es scheint
auch, daß sich Cäsarion zu einem jungen Mann von vielen Gaben
entwickelt hat.« – »Und worüber«, fragte betreten Josef, »wünschen
Sie mein Urteil?« Messalin beugte sich vor, richtete die blinden
Augen auf Josefs Gesicht, als sähe er, und fragte langsam und sehr
deutlich: »Finden Sie, daß Augustus recht daran getan hat, diesen
Cäsarion zu beseitigen?«
Jetzt war es dem Josef klar,
worum es ging. Domitian wollte sich, ehe er die Sprößlinge Davids
erledigte, auch noch von einem seiner Opfer bestätigen lassen, daß
er recht daran tue, es zu beseitigen. Vorsichtig sagte er: »Julius
Cäsar hätte vor dem Tribunal der Geschichte sicher gute und
schlagende Gründe vorbringen können, um die Tat des Augustus zu
verurteilen. Augustus seinesteils hätte wohl nicht weniger gute
Gründe gewußt, seine Tat zu rechtfertigen.« Domitian lachte ein
kleines Lachen. Auch über das Antlitz des Blinden ging ein Lächeln,
und er anerkannte: »Gut geantwortet. Allein was uns hier
interessiert, ist nicht das Urteil des Cäsar, auch nicht das Urteil
des Augustus, sondern nur Ihr Urteil, mein Flavius Josephus.« Und:
»Finden Sie«, wiederholte er langsam, jedes Wort unterstreichend,
»daß Augustus recht daran tat, als er den Prätendenten Cäsarion
beseitigte?« Er neigte das Ohr dem Josef hin, begierig.
Josef biß sich auf die Lippen.
Schamlos und geradewegs sprach der Mann aus, worum es ging, um die
Beseitigung unliebsamer Prätendenten, um seine, des Josef,
Beseitigung. Er war wortgewandt, er hätte weiter ausweichen und
sich der billigen Schlinge entziehen können; doch sein Stolz
sträubte sich dagegen. »Augustus hat recht getan«, urteilte er kühl
und ohne Umschweif, »den Cäsarion zu beseitigen. Der Erfolg hat ihn
bestätigt.« – »Danke«, sagte Messalin, wie er es vor Gericht zu tun
pflegte, wenn ihm der Gegner hatte einräumen müssen, daß er im
Recht war.
»Und jetzt erzählen Sie uns von
Ihrem König David«, fuhr er munter fort, »dessen Sprößlinge zu
euern künftigen Herrschern bestimmt sind!« – »Ja«, pflichtete ihm
Domitian bei, »lesen Sie uns vor, was Sie über diesen Ihren
Ahnherrn geschrieben haben! Zu diesem Zweck hat unser Messalin Sie
hergebeten.«
In seinem Herzen liebte Josef
mehr den dunklen, zerrissenen Saul als jenen David, dem sich so
vieles so leicht und glücklich erfüllte, und er wußte, daß die
Kapitel über David nicht die besten seines Werkes waren. Heute
aber, als er las, riß ihn sein Gegenstand mit, und er las gut. Es
bereitete ihm Genugtuung, diesem römischen Kaiser zu berichten von
dem großen, jüdischen König, der ein so gewaltiger Herrscher war
und ein Sieger über die Völker. Josef las gut, und Domitian hörte
gut zu. Er verstand etwas von Geschichte, er verstand etwas von
Literatur, Josephus interessierte ihn, König David interessierte
ihn, sein Gesicht spiegelte seine Anteilnahme.
Einmal unterbrach er den Josef.
»Es ist wohl schon ziemlich lange her, daß er regiert hat, dieser
David?« fragte er. »Es war etwa um die Zeit des Trojanischen
Krieges«, gab Josef Auskunft, und stolz fügte er hinzu: »Unsere
Geschichte reicht sehr weit zurück.« – »Unsere römische«, räumte
friedfertig der Kaiser ein, »beginnt erst mit der Flucht des Äneas
aus dem brennenden Troja. Da hattet ihr also schon diesen großen
König auf dem Thron eures Volkes sitzen. Aber lesen Sie weiter,
mein Josephus!«
Josef las, und wie er so dem
römischen Kaiser vorlas, kam er sich selber ein wenig vor wie jener
David, vor dem zerklüfteten König Saul auf der Harfe spielend. Er
las lange, und als er aufhören wollte, verlangte der Kaiser, daß er
weiterlese.
Dann, als Josef zu Ende war,
machte Domitian einige recht verständige Anmerkungen. »Er scheint
die Technik des Regierens besessen zu haben, euer David«, meinte er
etwa, »wiewohl ich seine verschiedenen Anfälle von Großmut nicht
billige. Er hat zum Beispiel offenbar töricht gehandelt, wenn er
den Saul, der in seine Hand gegeben war, verschonte, und das sogar
ein zweites Mal. Später hat er denn auch zugelernt und sich klüger
verhalten. Eines vor allem erscheint mir gut und königlich: daß er
nämlich den Fürstenmord bestraft, selbst wenn dieser Mord an seinem
Gegner und also zu seinen Gunsten vollzogen wird.«
Ja, jene Maßnahmen des David, daß
der den Mann, der den Saul erschlagen, hatte hinrichten lassen,
schien den Kaiser zu befruchten, und mit einem kleinen Schauder
mußte Josef erleben, mit welch ausgeklügelter Kunst dieser Domitian
aus dem scheinbar Fernstliegenden eine Nutzanwendung für sich
selber zu ziehen wußte. »Kaiser Nero«, wandte er sich nämlich an
Messalin, »war gewiß ein Feind meines Hauses, und es war gut, daß
er umkam. Trotzdem begreife ich nicht, daß der Senat seinen Mörder
Epaphrodit ungestraft hat weiterleben lassen. Wer an einen Kaiser
die Hand legt, darf nicht weiter in der Welt sein. Und lebt er
nicht jetzt noch, dieser Epaphrodit? Lebt er nicht hier in Rom?
Geht er nicht herum, eine zweibeinige Aufforderung zum Fürstenmord?
Ich begreife nicht, wie der Senat das so lange hat dulden können.«
Messalin, mit seiner liebenswürdigsten Stimme, entschuldigte seine
Kollegen. »Vieles«, sagte er, »was die Berufenen Väter tun und
lassen, ist mir nicht verständlich, mein Herr und Gott. Im Falle
des Epaphrodit aber hoffe ich meine Kollegen mit Erfolg auf das
Beispiel des alten Judenkönigs hinweisen zu können.« Finster und
gramvoll fiel es den Josef an. Er schätzte den Epaphrodit; der war
ein guter Mann, er liebte und förderte Künste und Wissenschaften,
Josef hatte manche gute Stunde mit ihm verbracht. Jetzt also, ohne
es zu wollen, hat er den Untergang dieses Mannes
herbeigeführt.
Bald darauf, unter einem Vorwand,
ließ Messalin den Kaiser mit Josef allein. Domitian richtete sich
auf seinem Sofa halb auf, und lächelnd, mit einladender
Vertraulichkeit, sagte er: »Und jetzt, mein Josephus, reden Sie
offen. Hat jener plumpe Mann unter denen von Jabne recht gehabt,
der behauptete, Sie seien ein Sproß aus dem Hause des David? Es ist
das, wie ja auch eure Doktoren erklären, mehr eine Sache des
Gefühls, der Intuition, als aktenmäßiger Beweise. In diesem
Gedankengang kann ich euch folgen. Wenn ich zum Beispiel selber
glaube, ich sei ein Abkömmling des Herkules, dann bin ich es.
Sicher haben Sie bereits begriffen, mein Flavius Josephus, wo ich
hinauswill. Es ist dies: ich lege es in Ihre Hand, ob Sie für einen
Sproß des David betrachtet werden wollen oder nicht. Wir stellen da
nämlich Listen auf. Wir notieren, wer als Nach fahr des großen
Königs zu betrachten ist, dessen Wirksamkeit Sie so vortrefflich
geschildert haben. Verwaltungstechnische Gründe lassen meiner
Regierung die Aufstellung einer solchen Liste wünschenswert
erscheinen. Wie ist das nun mit Ihnen, mein Josephus? Sie sind ein
begeisterter Jude. Sie rühmen sich Ihres Volkes, Sie rühmen sein
Alter, seine großen zivilisatorischen Leistungen. Sie sind ein
Bekenner. Ich glaube dem Bekenner Josephus. Was immer Sie mir sagen
werden, ich glaub es Ihnen, es gilt. Sagen Sie mir: ›Ich bin ein
Sproß aus dem Hause des David‹, und Sie sind es. Sagen Sie: ›Ich
bin es nicht‹, und Ihr Name erscheint nicht auf jener Liste.« Er
erhob sich, er ging ganz nah an Josef heran. Mit einer lächelnden,
fast grinsenden, schaurigen Vertraulichkeit fragte er ihn: »Wie ist
das, mein Jude? Alle Fürsten sind verwandt. Bist du mein
Verwandter? Bist du ein Sproß des David?«
Wirr stürmten in Josef Gedanken
und Gefühle. Wenn das Volk von dem oder jenem behauptete, er sei
aus Davids Geschlecht, so war das schieres Gerede und nicht weiter
nachprüfbar. Auch hat er selber niemals von dieser seiner
angeblichen Abstammung Aufhebens gemacht. Es wäre also sinnlos,
jetzt Bekennermut zu zeigen und stolz zu erklären: Ja, ich bin aus
Davids Geschlecht. Niemand hätte Nutzen davon, das einzige, was er
dadurch erreichen könnte, wäre das eigene Verderben. Weshalb wohl
treibt es ihn trotzdem so mächtig, ja zu sagen? Deshalb, weil
dieser Kaiser der Heiden seltsamerweise recht hat. Er, Josef, weiß
aus dem Gefühl, also aus einem tiefen Wissen heraus, daß er
wirklich zu den Berufenen gehört, zu denen aus Davids Geschlecht.
Der Kaiser der Heiden will ihn demütigen und ihn verlocken, sein
Bestes zu verleugnen. Und wenn er sich dahin bringen läßt, wenn er
seinen großen Ahn David abschwört, dann wird dieser Kaiser nicht
nur ihn, er wird sein ganzes Volk verachten, und mit Recht. Was
sich da zwischen Domitian und ihm abspielt, das ist eine der vielen
Schlachten in dem Krieg, den sein Volk gegen Rom um seinen Jahve
führt. Aber wo ist der rechte Weg? Was erwartet die Gottheit von
ihm? Es ist Feigheit, wenn er seine »Berufung« verleugnet. Aber ist
es nicht geistiger Hochmut, wenn er sich, gegen die Vernunft, zu
seinem Gefühl bekennt? Still stand er da, hager. Nichts von seiner
Ratlosigkeit zeigte sich auf seinem fleischlosen Gesicht; die
brennenden Augen unter der breiten, hohen, gebuckelten Stirn hielt
er auf den Kaiser gerichtet, nachdenklich, sehend und nicht sehend,
und nur mit Mühe hielt Domitian den Blick aus. »Ich merke schon«,
sagte er, »du willst mir nicht ja sagen und auch nicht nein. Das
begreife ich. Aber wenn dem so ist, dann, mein Lieber, weiß ich dir
ein Drittes. Du hast meinen Vater, den Gott Vespasian, als den
Messias begrüßt. Wenn du das zu Recht getan hast, dann muß von
diesem Messias-Wesen doch auch etwas in mir selber sein. Ich frage
dich also: bin ich der Sohn und Erbe des Messias? Bedenke dich gut,
ehe du antwortest. Wenn ich der Erbe des Messias bin, dann ist, was
das Volk über die Sprößlinge Davids schwatzt, leeres Gefasel,
nichts weiter, dann droht keine Gefahr von den Sprößlingen Davids,
und es lohnt nicht, daß meine Beamten ihre Listen anlegen. Weich
mir also nicht aus, mein Jude. Rette deine Sprößlinge Davids und
dich selber. Sag es, das Wort. Sag zu mir: ›Du bist der Messias‹,
und fall nieder und bete mich an, wie du meinen Vater angebetet
hast.«
Josef erbleichte tief. Das hat er
doch schon erlebt. Wann nur? Wann und wie? Er hat es im Geiste
erlebt. So wird es erzählt in den Geschichten von dem reinen und
von dem gefallenen Engel, und so auch fordert in den Schriften der
Minäer der Versucher, der Verleumder, der Diabolus den Messias auf,
sein eigenes Wesen zu verleugnen und ihn anzubeten, und verspricht
ihm dafür alle Herrlichkeit der Welt. Seltsam, wie sich in seinem
eigenen Leben die Sagen und Geschichten seines Volkes spiegeln. Er
ist so durchtränkt mit der Vergangenheit seines Volkes, daß er sich
selber verwandelt in die Gestalten dieser Vergangenheit. Und wenn
er jetzt diesem römischen Kaiser, dem Versucher, gehorcht und ihn
verehrt, wie er’s verlangt, dann verleugnet er sich selber, sein
Werk, sein Volk, seinen Gott.
Noch immer schaute er unverwandt
auf den Kaiser; sein Blick hatte sich nicht geändert, seine
brennenden Augen behielten jenes tief Nachdenkliche, sehend nicht
Sehende. Verändert aber hatte sich das Gesicht des Kaisers.
Domitian lächelte, er grinste, mit scheußlicher, Grauen
einflößender Freundlichkeit. Sein Gesicht war überrötet, seine
kurzsichtigen Augen zwinkerten den Josef mit gespielter, falscher,
einladender Vertraulichkeit an, seine Hand fächelte grotesk die
Luft, es war wie ein Winken. Kein Zweifel, der Kaiser, der Herr und
Teufel Domitian, Dominus ac Diabolus Domitianus, wollte ein
Einverständnis mit ihm herstellen, ein Einverständnis, wie er es
vermutete zwischen ihm und seinem weiland Vater
Vespasian.
Josefs Gedanken, so ruhig sein
Gesicht blieb, trübten sich. Er hätte nicht einmal mehr mit
Sicherheit sagen können, ob Domitian diese letzten Worte, er solle
vor ihm niederfallen und ihn anbeten, wirklich gesprochen hatte
oder ob es nur die Erinnerung war an den gefallenen Engel der alten
Geschichten und an den Diabolus der Minäer. Gedauert jedenfalls
hatte diese seine Versuchung durch Domitian nur sehr kurz. Schon
war der Kaiser wieder nur mehr der Kaiser; die Arme eckig nach
hinten, stand er da, herrscherhaft, und er sagte förmlich: »Ich
danke Ihnen für Ihre interessante Vorlesung, mein Ritter Flavius
Josephus. Was die Frage anlangt, die ich an Sie gerichtet habe, ob
Sie ein Sproß des von Ihnen geschilderten Königs David sind, so
mögen Sie sich die Antwort in Ruhe überlegen. Ich erwarte Sie in
den nächsten Tagen beim Morgenempfang. Dann werde ich Sie von neuem
fragen. Wo aber bleibt unser liebenswürdiger Wirt?«
Er klatschte in die Hände, und:
»Wo bleibt unser Messalin?« sagte er zu den herbeistürzenden
Dienern. »Ruft mir den Messalin! Wir verlangen nach ihm, ich und
mein Jude Flavius Josephus.«
In diesen Tagen schrieb Josef den »Psalm vom
Mut«:
Wohl rühm ich den, der in der Schlacht seinen
Mann
steht.
Pferde stürmen an,
Pfeile schwirren, Eisen klirrt,
Arme mit Äxten und Schwertern sausen Ihm vorm
Aug auf ihn zu.
Er aber duckt sich nicht. Er sieht den Tod,
reckt sich und steht ihm.
Mut verlangt das. Doch nicht mehr
Mut
Als den eines jeden, der mit Recht sich Mann
nennt.
Tapfer zu sein in der Schlacht ist nicht schwer.
Überspringt da der Mut von einem zum andern.
Keiner glaubt,
Er könnte es sein, den der Tod meint.
Niemals fester glaubst du
An viele Tage des Lebens noch vor dir
Als in der Schlacht.
Höher schon steht jenem der Mut,
Der hinauszieht in ödes Land der Barbaren, Es
zu erforschen,
Oder der ein Schiff steuert hinaus in die
leere See, Immer weiter hinaus,
Zu sichten, ob dort nicht neues Land sei Und
neue Feste.
Aber wie der Mond verbleicht, wenn die Sonne
kommt,
So verblaßt der Ruhm auch dieses Mannes
Vor dem Ruhme jenes,
Der da kämpft für ein Unsichtbares.
Sie wollen ihn zwingen,
Ein Wort zu sprechen, ein körperloses, wesenloses,
Es verfliegt, sowie er’s gesprochen,
Keiner mehr hört es, es ist nicht mehr da:
Er aber sagt das Wort nicht.
Oder aber es drängt ihn das Herz,
Ein Wort zu sagen, ein bestimmtes,
Und er weiß, das Wort bringt ihm Tod.
Kein Preis ist gesetzt auf das Wort,
Nur der Untergang,
Und er weiß es
Und sagt sein Wort dennoch.
Wenn einer das Leben einsetzt,
Gold zu erlangen, Macht zu gewinnen,
Dann kennt er den Preis seiner Fährnis,
Vor ihm schwebt er, greifbar,
Er kann ihn wägen.
Was aber ist ein Wort?
Darum sag ich:
Heil dem Manne, der den Tod auf sich
nimmt,
Sein Wort zu sagen, weil das Herz ihn drängt.
Darum sag ich:
Heil dem Manne, der sagt, was ist.
Darum sag ich:
Heil dem Manne, den du nicht zwingen kannst,
Zu sagen, was nicht ist.
Denn er nimmt es auf sich, das
Schwerste.
Sehend, mitten im nüchternen Tag,
Winkt den Tod er herbei und spricht zu ihm:
komm!
Für ein körperloses Wort Steht er dem Tode,
Es zu verweigern, wenn es seine Lüge ist,
Es zu bekennen, wenn es seine Wahrheit ist.
Heil dem Manne,
Der dafür dem Untergang steht.
Denn das ist der Mut,
Zu dem Gott ja sagt.
An einem der nächsten Morgen ließ sich Josef
dem Gebot des Kaisers zufolge die Heilige Straße hinauftragen zum
Empfang im Palatin.
Am Eingang des Palais wurde er
wie alle Besucher nach Waffen untersucht, dann ließ man ihn in die
erste Vorhalle. Es waren mehrere hundert Menschen da, die Türhüter
riefen die Namen auf, die Beamten des Hofmarschalls Crispin
notierten sie, wiesen fort, ließen zu. Im zweiten Vorraum drängten
sich die Gäste. Von einem zum andern eilten die Zeremonialbeamten
und ordneten nach Anweisung des Crispin die Listen.
Josefs Anwesenheit fiel auf. Er
sah, daß sein Besuch auch den Crispin beunruhigte, und nahm nicht
ohne ein kleines Lächeln wahr, daß ihn Crispin nach einigem Zögern
nicht unter die Bevorzugten auf die Liste der »Freunde der Ersten
Vorlassung« setzte, sondern nur auf die Liste aller andern vom
Zweiten Adel. Auf dem Wege war Josef mutig gewesen und hatte sich
gesagt, je eher die qualvolle Stunde vorbei sei, so besser; jetzt
war er froh, daß er, da er nur auf der Zweiten Liste stand,
vielleicht unbeachtet und unverrichteterdinge wieder gehen
könne.
Endlich erscholl der Ruf: »Der
Herr und Gott Domitian ist erwacht!«, und die Türen, die zum
Schlafgemach des Kaisers führten, öffneten sich. Man sah Domitian
halbaufgerichtet auf dem breiten Lager, Gardeoffiziere in voller
Rüstung ihm zur Rechten und zur Linken.
Die Ausrufer riefen die Namen der
Ersten Liste aus, und einer nach dem andern traten die Träger
dieser Namen ins innere Gemach. Gierig spähten die Außenstehenden,
wie der Kaiser jeden einzelnen begrüßte. Den meisten streckte er
nur die Hand zum Kuß hin, nur wenige würdigte er der Umarmung, die
der Brauch vorschrieb. Es war verständlich, daß er nicht Tag für
Tag eine Reihe von Menschen küssen wollte, die ihm zuwider waren,
ganz abgesehen von der Gefahr der Anstekkung. Allein kein Kaiser
vor ihm hatte es so offen gezeigt, als eine wie peinliche Aufgabe
er diese Begrüßung empfand, es erregte böses Blut, daß gerade
Domitian, der Hüter der Bräuche, sich diesem guten Brauch mehr und
mehr entzog, und viele waren gekränkt.
Schon nach kurzer Weile ließ der
Kaiser eine Pause eintreten. Ohne Rücksicht auf die Menge seiner
Gäste gähnte er, rekelte sich, schickte langsam verdrossene Blicke
über die Versammelten, winkte den Crispin herbei, überflog die
Listen. Dann, plötzlich, belebte er sich. Klatschte seinen Zwerg
Silen heran, flüsterte mit ihm. Der Zwerg watschelte in den
Vorraum, alle Blicke folgten ihm; sein Weg ging zu Josef. In das
lautlose Schweigen hinein, tief sich neigend, sagte der Zwerg: »Der
Herr und Gott Domitian befiehlt Sie an sein Bett, mein Ritter
Flavius Josephus.«
Josef, vor den Augen der ganzen
Versammlung, begab sich in den Innenraum. Der Kaiser hieß ihn sich
auf sein Bett setzen, das war eine hohe Auszeichnung, deren heute
kein anderer gewürdigt worden war. Er umarmte und küßte ihn, nicht
widerwillig, sondern langsam und ernst, wie es die Sitte
gebot.
Während aber seine Wange an die
Wange des Josef geschmiegt war, flüsterte er: »Bist du der Sproß
des David, mein Josephus?« Und Josef erwiderte: »Du sagst es,
Kaiser Domitian.«
Der Kaiser löste sich aus der
Umarmung. »Sie sind ein mutiger Mann, Flavius Josephus«, sagte er.
Dann geleitete der Zwerg Silen, der alles mit angehört hatte, den
Josef zurück in den Vorraum. Diesmal neigte er sich noch tiefer und
sagte: »Leben Sie wohl, Flavius Josephus, Sproß des David!« Der
Kaiser aber ließ die Türen des Schlafgemachs schließen, der Empfang
war zu Ende.
Wieder wenige Tage später wurde im Amtlichen
Tagesbericht folgendes verkündet. Der Kaiser habe das
Geschichtswerk geprüft, an welchem der Schriftsteller Flavius
Josephus jetzt arbeite. Es habe sich ergeben, daß dieses Buch dem
Wohl des Römischen Reiches nicht förderlich sei. Es habe somit der
genannte Flavius Josephus nicht die Hoffnungen erfüllt, die sich an
sein erstes Werk, das über den jüdischen Krieg, geknüpft hätten.
Der Herr und Gott Domitian habe deshalb angeordnet, die Büste
dieses Schriftstellers Flavius Josephus aus dem Ehrensaal des
Friedenstempels zu entfernen.
Jene Büste, welche den Kopf des
Josef darstellte, schräg über die Schulter gewandt, hager, kühn,
wurde also aus dem Friedenstempel entfernt. Sie wurde dem Bildhauer
Basil übergeben, damit er ihr kostbares Metall – korinthisches Erz,
eine einmalige Mischung, entstanden bei der Einäscherung der Stadt
Korinth aus dem ineinanderfließenden Metall verschiedener Statuen –
verwende für eine Büste des Senators Messalin, mit deren
Modellierung ihn der Kaiser beauftragt hatte.
DRITTES KAPITEL
»Haben Sie sich
versprochen, oder habe ich mich verhört?« fragte Regin den Marull
und wandte den fleischigen Kopf
so jäh herum,
daß ihn der leibeigene Friseur bei aller Geschicklichkeit beinahe
geschnitten hätte. »Nicht das eine noch das andere«, erwiderte
Marull. »Die Anklage gegen die Vestalin Cornelia wird erhoben
werden, das steht fest. Der Kurier gestern aus Pola hat die
Anweisung mitgebracht. Es muß DDD viel an der Sache liegen. Sonst
hätte er den Befehl nicht von der Reise aus gegeben, sondern
gewartet, bis er zurück ist.« Regin brummelte etwas, die schweren,
schläfrigen Augen unter der vorgebauten Stirn schauten noch
nachdenklicher als sonst, und noch ehe der Friseur mit seiner
Arbeit recht zu Ende war, winkte er ihm ungeduldig, sich zu
entfernen.
Dann aber, allein mit dem Freund,
sagte er nichts. Er begnügte sich, langsam den Kopf zu schütteln
und die Achseln zu zucken. Er brauchte auch nichts zu sagen, Marull
verstand ihn ohne Worte, für ihn war das Ereignis genauso
unglaubhaft. Hatte DDD nicht genug an dem Sturm von damals, als er
von den sechs Vestalinnen jene beiden andern prozessierte, die
Schwestern Oculatae? Und war die Stimmung nicht ohnedies flau genug
jetzt, nach diesem nicht geradezu glänzenden sarmatischen Feldzug?
Was, beim Herkules, versprach sich DDD davon, wenn er die
altmodisch brutalen Gesetze hervorholte und die Vestalin Cornelia
auf Unkeuschheit verklagen ließ?
Junius Marull, an den
schmerzenden Zähnen saugend, beschaute mit den scharfen, blaugrauen
Augen gelassen den verdrießlich schnaufenden Freund. Bis aufs Wort
erriet er dessen Gedanken. »Ja«, erwiderte er, »die Stimmung ist
flau, da haben Sie recht. Für den Mann von der Straße sieht der
Ausgang des sarmatischen Feldzugs nicht glänzend aus, obwohl es ein
ganz solider Erfolg ist. Aber vielleicht ist es gerade deshalb.
Unsere lieben Senatoren werden das Ergebnis des Krieges bestimmt in
eine Niederlage umfälschen. Die Vestalin Cornelia ist verwandt und
verschwägert mit dem halben Adel. Vielleicht glaubt Wäuchlein, die
Herren werden sich mehr hüten, wenn er vor einer Anklage selbst
gegen Cornelia nicht zurückschreckt.«
»Arme Cornelia!« sagte statt
aller Antwort Regin. Beide jetzt sahen sie Cornelia vor sich, das
zarte und doch frisch und heitere Gesicht der
Achtundzwanzigjährigen unter dem braunschwarzen Haar, sie sahen
sie, wie sie ihnen zulächelte in ihrer Ehrenloge im Zirkus, oder
wie sie, mit den fünf andern Vestalinnen, an der Spitze der
Prozession zum Tempel des Jupiter hinanstieg, groß, schlank,
unberührt, freundlich und sicher in sich ruhend, Priesterin,
Mädchen, große Dame.
»Man muß zugeben«, meinte
schließlich Marull, »seit dem Aufstand des Saturnin hat er die
innere Berechtigung, gegen seine Feinde jedes Mittel anzuwenden,
wenn es nur zum Ziel führt.« – »Erstens führt dieses Mittel nicht
zum Ziel«, entgegnete Regin, »und zweitens glaube ich nicht, daß
dieser Prozeß gegen den Senat gerichtet ist. DDD weiß so gut wie
wir, daß es da weniger gefährliche Maßnahmen gäbe. Nein, mein
Lieber, seine Gründe sind simpler und tiefer. Er ist einfach
unzufrieden mit dem Ausgang des Feldzugs und will sich seine
Sendung auf andere Art beweisen. Ich höre ihn schon große Worte
wälzen. ›Das Jahrhundert des Domitian wird durch solche Beispiele
strenger Sitte und Religiosität in fernste Zeiten hinüberstrahlen.‹
Ich fürchte«, schloß er seufzend, »manchmal glaubt er selber an
seine Reden.«
Eine Weile saßen die beiden
schweigend. Dann fragte Regin : »Und weiß man, wer eigentlich den
Partner der unseligen Cornelia abgeben soll?« – »Man nicht«,
antwortete Marull, »aber Norban weiß es. Ich vermute, es ist
Crispin, der in die Geschichte hineinverwickelt ist.« – »Unser
Crispin?« fragte ungläubig Regin. »Es ist eine bloße Vermutung«,
erwiderte rasch Marull, »Norban hat natürlich zu niemand ein Wort
gesagt, es sind Blicke und halbe Gesten, aus denen ich es
schließe.« – »Ihre Vermutungen«, gab Regin zu, die Zunge
nachdenklich von einem Mundwinkel zum andern führend, »haben die
Eigenschaft, einzutreffen, und Norban ist sehr findig, wenn er
einen haßt. Es wäre ein Jammer, wenn wirklich, bloß weil Norban
eifersüchtig auf den Ägypter ist, dieses erfreuliche Geschöpf
Cornelia vor die Hunde gehen sollte.«
Marull, teils weil er keine
Sentimentalität in sich hochkommen lassen wollte, teils aus alter
Gewohnheit, spielte den Frivolen. »Schade«, sagte er, »daß man
nicht selber daraufgekommen ist, daß Cornelia nicht nur Vestalin
ist, sondern eine Frau. Aber, beim Herkules, wenn sie zum Capitol
hinaufstieg in dem schweren, altmodischen, weißen Kleid und mit der
altmodischen Frisur, dann hat nicht einmal ein so abgebrühter
Materialist wie ich daran gedacht, was wohl unter diesem Kleid
stecken mag. Dabei ist doch gerade so was Heiliges, Verbotenes mein
Fall. Ich habe einmal, in meiner wildesten Zeit, mit der Pythia von
Delphi geschlafen. Sie war nicht besonders hübsch, auch schon etwas
angejahrt, das Vergnügen stand in gar keinem Verhältnis zu der
Gefahr; was mich gereizt hat, war nur das Heilige. Man hätte ein
Mädchen wie diese Cornelia nicht auslassen dürfen, man hätte sie
nicht einem Crispin überlassen dürfen.«
Claudius Regin, sonst nicht
prüde, ging heute auf diesen Ton nicht ein. Während er sich ächzend
niederbeugte, um den Schuhriemen fester zu binden, der sich wieder
einmal gelokkert hatte, sagte er: »Schwer macht es einem DDD, ihm
freund zu bleiben.« – »Haben Sie Geduld mit ihm«, redete ihm Marull
zu. »Er hat viele Feinde. Er ist jetzt zweiundvierzig«, überlegte
er und suchte mit seinen scharfen Augen die schläfrigen des andern.
»Aber ich fürchte, wir haben Aussicht, ihn zu überleben.«
Regin erschrak. Was da Marull
gesagt hatte, war so richtig und so tollkühn, daß man es auch unter
nahen Freunden nicht hätte über die Lippen bringen dürfen. Aber nun
Marull einmal so weit gegangen war, wollte sich auch Regin nicht
bezähmen. »Eine solche Fülle von Macht«, sagte er, bemüht, die
helle, fettige Stimme zu dämpfen, »das ist schon eine Krankheit;
eine Krankheit, die das Leben auch eines kräftigen Mannes rasch
aufzehrt.« – »Ja«, meinte, auch er jetzt fast flüsternd, Marull,
»der Geist eines Mannes muß höllisch feste Wände haben, wenn er
nicht bersten soll unter einer solchen Fülle von Macht. DDD hat
erstaunlich lange standgehalten. Erst seit dem Staatsstreich des
Saturnin ist er so« – er suchte das Wort – »merkwürdig geworden.« –
»Dabei«, erwiderte Regin, »hat er gerade in dieser Sache so
unmenschliches Glück gehabt.« – »Cäsar und sein Glück«, entgegnete
sententiös Marull. »Aber soviel Glück hält eben keiner aus.« –
»Cäsar«, überlegte Regin, »ist sechsundfünfzig geworden, ehe ihn
sein Glück verließ.« – »Schade um ihn«, sagte etwas dunkel Marull.
Und: »Schade um Cornelia«, sagte Regin.
»Er wird es nicht wagen«, brach plötzlich der
Senator Helvid aus. Man hatte von den Garnisonsverstärkungen im
Nordosten gesprochen, die der Friedensschluß zur Folge haben mußte,
und was der jähzornige Helvid da auf einmal hereinwarf, hatte mit
dieser Frage nicht das leiseste zu tun. Trotzdem wußten alle, was
er meinte. Denn, auch wenn man von anderm sprach, drehten sich
ihrer aller Gedanken unaufhörlich um die Schmach, die der Kaiser
der Vestalin Cornelia und in ihr dem ganzen alten Adel anzutun sich
anschickte.
Viele Gewalttaten hatte ihnen
Domitian bereits angetan, den vier Männern und den beiden Frauen,
die sich hier im Hause des Helvid versammelt hatten. Da waren
Gratilla, die Schwester, und Fannia, die Frau des Caepio, den er
hatte hinrichten lassen. Und alle hier waren sie Freunde und
Vertraute gewesen des Prinzen Sabin und des Aelius und der neun
andern Senatoren, die gleichzeitig mit Caepio hatten sterben
müssen, weil sie in den mißglückten Staatsstreich des Saturnin
verwickelt gewesen waren. Allein, wenn der Kaiser diese Männer
getötet hatte, ja wenn er gegen sie selber, die hier
Zusammengekommenen, vorging, so hatten solche Gewalttaten, von
seinem Standpunkt aus gesehen, Sinn und Zweck. Die Verfolgung der
Cornelia aber war nichts als eine wüste, jeden Sinnes bare Laune.
Es war über alle Vorstellung hinaus schamlos, wenn dieser Kaiser,
wenn just dieser geile Bock Domitian Cornelia antastete, unsere
reine, süße Cornelia. Wo immer sie erschien, da hatte man das
Gefühl: die Welt ist doch noch nicht verloren, da sie in ihr ist,
Cornelia. Und sie, gerade sie, mußte sich der Unmensch
herausgreifen!
Es war, ohne daß sie viele Worte
darum hätten machen müssen, das Gleichnishafte des Vorgangs, was
die vier Männer und die beiden Frauen im Hause des Helvid so tief
aufwühlte. Wenn Domitian, die zweibeinige Lasterhaftigkeit, das
wahrhaft adelige Mädchen Cornelia durch falsche Zeugen der
Unkeuschheit überführen und schimpflich hinrichten ließ, so zeigte
sich darin bildhaft die ganze grinsende Verderbtheit dieses Roms.
Nichts auf der Welt gab es, wovor dieser Kaiser zurückgeschreckt
wäre. Unter seinem Regiment verzerrte sich das Adelige ins
Gemeine.
»Er wird es nicht wagen«, damit
haben sie sich getröstet vom ersten Tag an, da sie von dem Gerücht
gehört hatten. Doch in wie vielen ähnlichen Fällen hatten sie sich
mit ähnlichen Worten getröstet. Sooft von einem neuen, schamlosen
Vorhaben des Kaisers die Rede ging, hatten sie geknirscht: das wird
er sich nicht erdreisten, das werden sich Senat und Volk nicht
bieten lassen. Aber insbesondere seit dem verunglückten Aufstand
des Saturnin hatte er sich alles erdreistet, und Senat und Volk
hatten sich alles bieten lassen. Trüb war die Erinnerung an diese
vielen Niederlagen in ihnen, aber sie ließen sie nicht in sich
hochkommen. »Er wird es nicht wagen.« Sie hängten ihre Hoffnung an
die Worte, die der Senator Helvid so wütend und zuversichtlich
hervorgestoßen hatte.
Da aber tat der Jüngste unter
ihnen den Mund auf, der Senator Publius Cornel. »Er wird es wagen«,
sagte er, »und wir werden schweigen. Es hinnehmen und schweigen.
Und wir werden recht daran tun; denn es ist das einzige, was uns in
dieser Zeit übrigbleibt.«
Aber: »Ich will nicht schweigen,
und man soll nicht schweigen«, sagte Fannia. Uralten, erdbraunen,
kühnen und finsteren Gesichtes saß sie da und richtete erzürnte
Blicke auf Publius Cornel. Der war ein naher Verwandter der
bedrohten Vestalin, ihn ging ihr Schicksal mehr an als die andern,
und er bereute auch schon beinahe, was er gesprochen hatte. Vor
Gleichgesinnten hätte er so reden dürfen, nicht aber in Gegenwart
dieser alten Fannia. Sie war die Tochter des Paetus, dem, unter
Nero, sein republikanischer Bekennermut den Tod gebracht hatte, sie
war die Witwe des Caepio, den, nach der Niederschlagung des
Saturnin, Domitian hatte hinrichten lassen. Immer wenn Fannia
sprach, überkamen den Cornel Zweifel, ob er nicht doch vielleicht
jenes Schweigen, das er mit soviel Gründen der Vernunft empfahl, zu
Unrecht als heldenhaft hinstellte und ob nicht doch am Ende das
demonstrative Märtyrertum einer Fannia die bessere Tugend
sei.
Langsam wandte er das trotz
seiner Jugend stark zerkerbte, düstere Gesicht von einem zum
andern. Nur der maßvolle Decian sandte ihm einen halben Blick des
Einverständnisses. Ohne viel Hoffnung also suchte Cornel
darzulegen, warum er jede Art Demonstration gerade in Sachen der
Vestalin Cornelia für schädlich halte. Das Volk liebe und verehre
Cornelia. Ein Prozeß gegen sie oder gar ihre Exekution werde dem
Volk nicht, wie es Domitian wahrscheinlich wünsche, als strenger
Dienst an den Göttern erscheinen, sondern einfach als etwas
Unmenschliches, als Frevel. Wenn aber wir von der Senatspartei
demonstrieren, dann drücken wir dadurch nur die Angelegenheit aus
der Sphäre des allgemein Menschlichen ins Politische
hinunter.
Decian pflichtete bei. »Ich
fürchte«, sagte er, »unser Cornel hat recht. Wir sind machtlos, wir
können nichts als schweigen.« Aber er brachte diese Worte nicht
sachlich und gehalten vor, wie es sonst seine Art war, sondern so
gequält und bar aller Hoffnung, daß die andern betroffen
aufschauten.
Es war dies, daß dem Decian eine
Botschaft von Cornelia zugekommen war. Eine Freigelassene der
Cornelia hatte sie überbracht, eine gewisse Melitta. In verstörten
Worten hatte ihm dieses Mädchen berichtet, es habe sich beim Fest
der Guten Göttin im Hause der Volusia, der Frau des Konsuls, etwas
höchst Peinliches ereignet. Worin dieses Peinliche bestanden hatte,
hatte Decian den wirren Worten der Melitta nicht entnehmen können;
gewiß war, daß Melitta hineinverwickelt war und Cornelia ernstlich
bedroht. Nun liebte der ruhige, nicht mehr junge Senator Decian die
Vestalin Cornelia, und er glaubte wahrgenommen zu haben, daß auch
ihr Lächeln sich vertiefte und freundschaftlicher wurde, wenn sie
ihn sah. Es war eine stille, nicht zudringliche, so gut wie
aussichtslose Liebe. Der Cornelia sich zu nähern war schwer,
beinahe unmöglich, und wenn sie das Haus der Vesta wird verlassen
dürfen, wird er ein alter Mann sein. Daß sie seine Hilfe anrief,
hatte ihn tief aufgerührt. Melitta, im Namen ihrer Herrin und
Freundin, hatte ihn beschworen, sie aus Rom fortzubringen, sie
unauffindbar zu machen. Er hatte alles getan, Melitta zu helfen, er
hatte sie durch Vertrauensleute in großer Heimlichkeit auf seine
Besitzung in Sizilien schaffen lassen, dort lebte sie jetzt,
verborgen, und wahrscheinlich war mit ihr die Hauptzeugin
verschwunden, auf welche die Feinde der Cornelia sich hätten
berufen können. Allein wenn Domitian ernstlich gewillt war,
Cornelia zu vernichten, dann kam es wohl auf einen Zeugen mehr oder
weniger nicht an, dann entschied wohl kaum die Gerechtigkeit,
sondern lediglich Haß und Willkür. Dieses Gefühl der Fesselung und
Machtlosigkeit hatte jetzt, während Cornel sprach, den Decian
zwiefach angefallen, und sein Kummer war durch seine Worte
durchgeklungen.
Fannia indes achtete weder auf
den Kummer des Decian noch auf die Vernunft des Publius Cornel. Das
erdbraune Gesicht verhärtet in Leid und Strenge, saß sie da. »Wir
dürfen nicht schweigen«, beharrte sie, und ihre Stimme klang voll
aus dem uralten Gesicht, »es wäre ein Verbrechen und eine Schande.«
Das lebt immer nur fürs Lesebuch, dachte unzufrieden Publius
Cornel, und will durchaus die Heldentradition der Familie
fortsetzen. Dabei wird sie in meinem Geschichtswerk höchstens eine
gute Episodenfigur abgeben, Geschichte wird sie nicht machen. Doch
konnte er trotz dieser sachlichen Kritik nicht umhin, die Frau zu
bewundern, die sich so heldisch und so töricht heraushob aus ihren
Zeitgenossen, und die eigene Vernunft zu bedauern.
Gratilla, die Schwester des
getöteten Caepio, eine gelassene, vornehme, etwas füllige ältere
Dame, pflichtete ihrer Schwägerin Fannia bei. »Vernunft«, höhnte
sie, »Vorsicht, Politik. Alles gut und schön. Aber wie soll jemand,
der ein Herz im Leibe hat, auf die Dauer die Scheußlichkeiten
dieses Domitian ohne Widerspruch hinunterschlucken? Ich bin eine
einfache Frau, ich verstehe nichts von Politik, ich kenne keinen
Ehrgeiz. Doch mir steigt die Galle hoch, wenn ich daran denke, was
einmal die Späteren von uns halten sollen, unsere Söhne und Enkel,
falls wir uns dieses Regiment der Lüge und Gewalt widerspruchslos
sollten gefallen lassen.«
»Wann wird Ihre Biographie des
Paetus fertig, mein Pris cus?« nahm wieder Fannia das Wort. »Wann
wird sie erscheinen? Es ist mir eine tiefe Befriedigung, daß
wenigstens einer nicht schweigt, daß
wenigstens einer spricht und seinen Grimm
nicht einsperrt.«
Priscus, so angerufen, sah hoch,
wandte den völlig kahlen Kopf von einem zum andern, sah, daß alle
auf ihn schauten, gespannt auf seine Antwort wartend. Priscus galt
als der größte Jurist des Reichs, er war berühmt darum, daß er
jedes Für und Wider sorglich wäge. So übersah er denn nicht die
Verdienste des Domitian um die Verwaltung des Reichs, aber er sah
auch sehr genau die Willkür und Verantwortungslosigkeit dieses
persönlichen Regimes, die vielen klaren Verletzungen des Rechts.
Von dieser seiner Erkenntnis aber konnte er nur im Kreise seiner
Vertrauten reden, vor allen andern mußte er sie, wenn er nicht
einen Prozeß wegen Majestätsverletzung gegen sich heraufbeschwören
wollte, in seinem Busen wahren. Für sich persönlich nun hatte er
einen Ausweg gefunden. Er schwieg, und schwieg dennoch nicht. Er
legte seinen Groll nieder in einem historischen Werk, in einer
Darstellung des Lebens des großen Paetus Thrasea, des Vaters der
Fannia. Es reizte ihn, das Leben dieses Republikaners, den Nero um
seiner freiheitlichen Gesinnung willen hatte hinrichten lassen und
den die Legende verklärte, in höchster Sachlichkeit darzustellen,
entkleidet der legendarischen Züge, und so darzutun, daß dieser
Paetus Thrasea, auch bar allen mythischen Beiwerks, ein großer Mann
gewesen sei und höchster Verehrung wert. Fannia konnte ihm für
dieses sein Werk viel Material liefern, eine große Menge
unbekannter und exakter Details.
Dieses jetzt beinahe vollendete
Werk aber war nur für den Autor selber bestimmt und für seine
nächsten Vertrauten, vor allem für Fannia. Ein solches Werk unter
dem Regime des Domitian zu veröffentlichen, das hieß Stellung und
Vermögen, ja das Leben aufs Spiel setzen, und daran hatte er nie
gedacht. Wenn also Fannia jetzt erklärte, er, Priscus, schweige
nicht, er sperre seinen Grimm nicht ein, dann war das, gelinde
gesagt, eine Übertreibung und ein Mißverständnis. Denn eigentlich
hatte er ja in einem gewissen Sinne gerade das beabsichtigt. Seinen
Grimm einsperren, das Buch in die Truhe sperren, genau das hatte er
wollen, und sein einziger Zweck war gewesen, sich das Herz zu
erleichtern. Von einer Publikation versprach er sich wenig. Eine
solche Veröffentlichung wäre nichts gewesen als eine demonstrative
Geste, und recht, dreimal recht hatte dieser Publius Cornel, mit
solchen ostentativen Gesten war nichts getan, sie konnten an den
Dingen selber nichts ändern, wie sollte Literatur gegen Macht
aufkommen?
Dies also waren die Meinungen des
Priscus. Da aber sah er auf sich gerichtet die wartenden Blicke
aller, er sah das strenge, fordernde Gesicht der Fannia, er wußte,
daß alle ihn für einen Feigling halten würden, wenn er jetzt
auswich, und er brachte den Mut nicht auf, feig zu erscheinen.
Während sein Hirn ihm sagte: Was tust du da, du Narr?, sagte sein
Mund scharf und schneidend: »Nein, ich werde meinen Grimm nicht
einsperren«, und noch ehe er diesen Satz ausgesprochen hatte,
bereute er ihn schon.
Wozu will er den Paetus
nachmachen? dachte bekümmert Decian, und: Ein Narr und Held auch
er, dachte Publius Cornel, und laut und grimmig sagte er: »Sache
eines Mannes ist es, sich zu überwinden, Sache eines Mannes ist es,
diese Zeiten zu durchschweigen, um sie zu überleben.«
Das alte, erdbraune, zerklüftete
Antlitz der Fannia war eine einzige Maske des Hohnes und der
Ablehnung. »Arme Cornelia«, sagte sie, und herausfordernd fragte
sie den Publius Cornel: »Werden Sie wenigstens den Mut aufbringen,
sich uns anzuschließen, wenn wir Ihren Onkel Lentulus besuchen?«
Der alte Vater der Cornelia hatte sich schon lange aus der
Öffentlichkeit zurückgezogen und lebte still auf seinem Landsitz im
Sabinischen; ein solcher gemeinsamer Besuch bedeutete eine
Demonstration gegen den Kaiser. »Ich fürchte«, meinte, unbewegt von
der Beschimpfung der Fannia, Publius Cornel, »wir werden meinem
Onkel nicht sehr willkommen sein. Er hat Kummer, und er hat wenig
Freude an Menschen.« – »Sie werden also nicht kommen?« fragte
Fannia. »Ich werde kommen«, antwortete mit sachlicher Höflichkeit
Publius Cornel.
Der arme Priscus muß seine
Biographie veröffentlichen, dachte er im stillen, und ich muß
diesen dummen Besuch mit machen, weil es das Heldenweib verlangt.
Es ist alles so hoffnungslos. Wir haben die Würde, Domitian hat die
Armee und die Massen. Was für finstere Ohnmacht!
Es war noch Winter, als Domitian
zurückkehrte. Er begnügte sich, dem Capitolinischen Jupiter den
Lorbeer darzubringen, und verzichtete auf große öffentliche
Ehrungen. Im Senat machte man darüber bösartige Witze. Marull und
Regin fanden, Domitian habe es nicht leicht. Feiere er einen
Triumph, dann mache man sich darüber lustig, wie er Niederlagen
umfälsche; verzichte er auf den Triumph, dann spotte man, seine
Niederlage sei so groß, daß selbst er sie zugeben müsse.
Guter Kenner der Volksseele,
schrieb Domitian, statt sich persönliche Ehrungen erweisen zu
lassen, eine große Geschenkverteilung aus, deren Kosten aus seinem
Anteil an der sarmatischen Beute bestritten werden sollten. Jeder
in Rom ansässige Bürger hatte Anspruch, sein Teil an der Schenkung
zu erhalten. Der Kaiser war, wenn es um solche Dinge ging, überaus
großzügig, es verschlug ihm nichts, wenn ein solcher Schenkungsakt
Millionen und aber Millionen fraß. Im besondern Fall konnte er
dadurch überdies noch beweisen, wie gewaltig die sarmatische Beute
gewesen sein mußte.
Da thronte er also in der
Säulenhalle des Minucius, zu seinen Häupten seine Lieblingsgöttin
Minerva, rings um ihn seine Hofbeamten, Schreiber, Offiziere. In
Ungeheuern Scharen drängte sich die Bevölkerung; jeder, nach der
Reihenfolge, in der er kam, erhielt seine Marke aus Ton, Blei,
Bronze, und wenn der Zufall seiner Listennummer es fügte, aus
Silber oder Gold. Es waren Anweisungen auf sehr ansehnliche
Geschenke darunter. Der Jubel, wenn einer eine solche Marke
erhielt! Aus wie ehrlichem Herzen pries er den Herrn und Gott
Domitian, wie der Rom und sein Volk beglücke! Und nicht nur der
Beschenkte rühmte den Kaiser, sondern seine Freunde und Verwandten
taten desgleichen, ja, alle waren glücklich, denn ein jeder hatte
Anspruch, und wenn er heute nicht eine goldene Marke erhielt,
vielleicht glänzte sie ihm das nächste Mal. So wurde Domitians
Geschenkverteilung zu einem strahlen deren Triumph, als es ein noch
so üppiger Schauzug hätte werden können.
Er selber aber, der Kaiser,
thronte vor seiner klugen, ratwissenden Minerva. Er war in diesen
sieben Jahren sehr viel dicker geworden, sein Gesicht war rot und
gedunsen. Unbewegt saß er, göttergleich, und genoß den Jubel seines
Volkes. Diejenigen, denen eine goldene Geschenkmarke zugefallen
war, hatten das Recht, ihm die Hand zu küssen. Ohne sie
anzuschauen, streckte er sie ihnen hin; doch keiner empfand das als
unziemlichen Stolz, sie waren beseligt auch so. Knirschend mußten
die Senatoren einräumen: das Volk – oder, wie sie es nannten, der
Pöbel – liebte seinen Herrn und Gott Domitian. Den Tag darauf fand
das Schenkungsfest sein Ende in einer Schaustellung in der
flavischen Arena, im Colosseum, in jenem größten Zirkus der Welt,
den Domitians Bruder hatte errichten lassen. Münzen wurden
ausgeworfen, mittels einer kunstvollen Maschinerie flogen luftige,
lustige Genien über die Arena und streuten Geschenkmarken über die
Menge, am Ende gar erschien die Göttin der Freigebigkeit selber,
die Liberalitas, und schüttete aus ihrem Füllhorn Gaben aus, vom
Kaiser unterzeichnete Anweisungen auf Landbesitz, Privilegien,
einbringliche Stellungen. Grenzenlos war der Jubel, und es tat ihm
keinen Eintrag, daß im Gedränge Frauen und Kinder erdrückt oder
zertrampelt wurden.
Domitian gab am Abend dieses Tages ein
Festessen für den Senat und seine Freunde. Er zeichnete viele durch
eine liebenswürdige Ansprache aus, doch sein menschenfeindlicher
Witz machte manchen seiner freundlichen Sätze recht finster. Dem
Großrichter Aper etwa, einem Vetter des niedergeworfenen
aufrührerischen Generals Saturnin, sprach er mit seiner scharfen,
hohen Stimme von der Freude, welche die Massen bei der großen
Schenkung bezeigt hätten. Dieser Zulauf der Massen sei ein
sehenswertes Schauspiel gewesen, noch sehenswerter vielleicht als
jenes Schauspiel von damals, da er den Kopf des besiegten Meuterers
Saturnin auf dem Forum habe ausstellen lassen. Dann wieder sprach
er von seinem Glück, das seit der Niederlage des Saturnin anfange,
sprichwörtlich zu werden. Damals war nämlich der sorgfältig
vorbereitete Staatsstreich lediglich an einem Zufall der Witterung
gescheitert; das plötzlich einsetzende Tauwetter hatte die von
Saturnin gewonnenen Barbarentruppen verhindert, den vereisten Strom
zu überschreiten und dem aufständischen General die vereinbarte
Hilfe zu leisten. Ja, stellte Domitian fest, man dürfe sein Glück
schon dem des großen Julius Cäsar vergleichen. Freilich sei auch
dieser glückliche Cäsar zuletzt unter den Dolchen seiner Feinde
gefallen. »Wir Fürsten«, meinte er leichthin inmitten einer
versteinert dasitzenden Gruppe, »haben es nicht einfach. Packen wir
unsere Gegner noch rechtzeitig, bevor sie den geplanten Streich
ausführen, dann wirft man uns vor, wir hätten die verbrecherischen
Projekte unserer Feinde nur erfunden als Vorwand, um sie zu
beseitigen. Man glaubt uns die gegen uns gerichteten Verschwörungen
erst dann, wenn wir glücklich ermordet sind. Was meinen Sie, mein
Priscus, und Sie, mein Helvid?«
Kein Wort verlauten ließ er
vorläufig von seinen Absichten im Falle der Vestalin Cornelia. Denn
schwerlich ließen sich Schlüsse ziehen aus der Tatsache, daß eine
der ersten Handlungen, die er nach seiner Rückkehr vornahm, in der
Bestrafung eines andern Religionsvergehens bestand, das ein kleiner
Mann verübt hatte.
Hatte da nämlich ein
Freigelassener, ein gewisser Lydus, in der Trunkenheit seine
Notdurft verrichtet in einen jener kleinen, brunnenartigen
Schächte, wie man sie auszuheben pflegte, um Blitze darin zu
begraben. Denn es mußte jeder Blitz, der in einen öffentlichen
Platz eingeschlagen hatte und darin erstorben war, gleich einem
Verstorbenen ordentlich begraben werden, wenn er nicht noch
schlimme Folgen haben sollte. Es wurde daher dort, wo er
eingeschlagen hatte, die Erde ausgehoben, die Priester opferten
Zwiebel, Menschenhaare, lebendige Fische – Lebendiges aus den drei
Reichen der Lebewesen –, dann wurde in der Tiefe eine Art Sarg
gemauert, darüber aber im Umfang dieses Sarges ein viereckiger
Schacht bis zur Erdoberfläche aufgeführt und mit der Inschrift
versehen: »Hier ist ein Blitz begraben.« Ein solches altes
Blitzgrab also, noch aus den Zeiten des Kaisers Tiberius, befand
sich in der Nähe des Lateinischen Tores, und in diese heilige
Stätte hatte der unselige Lydus seine Notdurft verrichtet. Der
Kaiser, in seiner Eigenschaft als Erzpriester, ließ ihn vor Gericht
rufen. Er wurde verurteilt zur Auspeitschung, zum Verlust seines
Vermögens, und es wurde ihm Feuer und Wasser Italiens
verboten.
Wenige Tage später dann berief Domitian den
Rat der höchsten Priester, das Kollegium der Fünfzehn, nach Alba in
seine Residenz. Die Ladung war wie stets in größter Heimlichkeit
erfolgt. Dennoch wußte jedermann davon, wahrscheinlich hatte das
der Kaiser so gewünscht, und als sich die Fünfzehn nach Alba
begaben, säumte ganz Rom die Albanische Straße.
Denn sie waren selten sichtbar,
diese höchsten Priester, und Neugier und Scheu umgab sie. Der
Opferpriester des Jupiter insbesondere war wohl unter den Bewohnern
der Stadt Rom der am merkwürdigsten anzuschauende, altertümlichste.
Die seltenen Male, da er seine Behausung verließ, schritt ihm ein
Liktor voran, ausrufend, es habe ein jeder seine Arbeit
fortzulegen, denn es nahe der Priester des Jupiter; Festtag mußte
sein, wo er war, heilige Scheu, er durfte keinen Arbeitenden
erblicken. Auch keinen Bewaffneten und keinen Gefesselten. Schwer
und heilig war sein ganzes Leben. Sowie er erwachte, hatte er die
volle Amtstracht anzulegen, und er durfte sie abtun erst, wenn er
schlafen ging. Es bestand aber diese Amtstracht in einer dicken,
wollenen Toga, die gewebt sein mußte von des Priesters eigener
Frau, und es gehörte dazu ein weißer, spitzer Fellhut, auslaufend
in eine Quaste und umschlungen von einem Ölzweig und einem wollenen
Faden. Niemals, auch in seinem Hause nicht, durfte er dieses
Hoheitszeichen ablegen. Nichts Gebundenes oder Geknotetes durfte
sich an seinem Leib befinden, sein Kleid mußte durch Spangen
gehalten, selbst sein Siegelring mußte durchbrochen sein. Einen
kleinen Stab hatte er ständig mit sich zu führen, um die Leute
fernzuhalten; denn er war erhaben über jede menschliche
Berührung.
Ihn also zu beschauen und die
andern vom Kollegium der Fünfzehn, drängte sich das Volk. Erregung
war und Geraun. Alle wußten, worum es ging, um das Schicksal der
Cornelia, der Vestalin, des Lieblings von Rom.
Das Unheimliche an den
Versammlungen des Kollegiums der Fünfzehn war, daß sie in allen
Fällen von Verbrechen gegen die Religion ihr Schuldig oder
Unschuldig nach Willkür aussprechen konnten. Weder brauchten sie
den Beklagten zu vernehmen noch Zeugen, sie waren nur den Göttern
verantwortlich. Hilflos in ihre Hand gegeben war der Beklagte.
Freilich hatten sie nur zu finden, ob jemand schuldig sei oder
nicht; die Strafe auszusprechen oblag dem Senat. Doch da dieser ein
Schuldig des Priestergerichts nicht umstoßen konnte und da die
Gesetze die Strafen unzweideutig vorschrieben, hatte er nur die
undankbare Aufgabe, das vom Priestergericht gefällte Urteil
vollstrecken zu lassen.
Voll Schreck und dennoch ein
wenig gekitzelt, flüsterte man sich am Abend die Entscheidung des
Kollegiums der Fünfzehn zu. Die Vestalin Cornelia war für schuldig
der Unkeuschheit erkannt worden.
Für dieses Verbrechen, für
Unkeuschheit einer Vestalin, hatte die barbarische Sitte der
Altvordern eine barbarische Strafe festgesetzt. Die Schuldige
sollte auf einem Weidengeflecht vor das Hügeltor geschleift werden
und dort gegeißelt, dann sollte sie lebendig in einem Kerker
eingemauert werden und mit etwas Nahrung und einer Lampe einem
langsamen Tode überlassen bleiben.
Vor Domitian war hundertdreißig
Jahre lang keine Vestalin auf Unkeuschheit verklagt worden.
Domitian als erster hatte wieder ein derartiges Verfahren
angestrengt, gegen die Schwestern Oculatae; allein auch er hatte
das Urteil nicht vollziehen lassen, er hatte es dahin gemildert,
daß er den Schwestern die Art des Sterbens freistellte.
Was wird er jetzt tun? Was wird
der liebenswerten und verehrten Cornelia geschehen? Wird er es
wagen?
An diesem Abend waren, nachdem sich die Herren
des Priestergerichts entfernt hatten, in dem weitläufigen Schlosse
von Alba nur mehr der Kaiser und der Hofmarschall Crispin. Crispin
hockte in seinem Arbeitszimmer, müßig, verzehrt
von einer rasenden Spannung. DDD hatte ihn
diesen ganzen Tag nicht vor sein Antlitz gelassen, nun wartete er
ängstlich darauf, wann er ihn wohl berufen werde. Der sonst so
elegante Herr sah ramponiert aus. Wo war sein vornehmer,
überlegener Gleichmut, wo jene Blasiertheit, die das feine, dünne,
lange Gesicht so hochfahrend hatte erscheinen lassen? Jetzt war
dieses Gesicht nervös und zerrüttet, und darauf geschrieben stand
nichts als Angst.
Immer von neuem überdachte er das
Geschehene, verstand es nicht, verstand sich selber nicht. Welcher
böse Geist hatte ihm die unsinnige Idee eingegeben, verkleidet den
Mysterien der Guten Göttin beizuwohnen. Jedes kleine Kind hätte ihm
sagen können, daß ihm DDD bei aller Freundschaft das nicht
durchgehen lassen werde. Jedes andere Laster würde er ihm
nachsehen, einen Religionsfrevel nicht. Dabei hatte er gar nicht
daran gedacht, die Götter zu beleidigen, er hatte sich zum Fest der
Guten Göttin nur deshalb eingeschlichen, weil es einfach kein
andres Mittel gab, Cornelia näherzukommen. So hatte es auch
seinerzeit Clodius gemacht, der berühmte Elegant aus der 2eit des
Julius Cäsar, um sich Cäsars schwer zugänglicher Frau zu nähern.
Dem Clodius war es damals gut hinausgegangen. Aber das waren
liberale Zeiten. Unser DDD hingegen versteht leider keinen Spaß,
wenn es um Dinge der Religion geht.
Aber hat man denn einen Beweis
gegen ihn? Niemand hat ihn damals gesehen, als er sich in
Frauenkleidung zum Fest der Guten Göttin schlich, dem kein Mann
beiwohnen darf. Nur diese Melitta könnte gegen ihn zeugen, die
Freigelassene, mit der er im Einverständnis war. Doch sie ist
verschwunden, und Cornelia selber hat alle Ursache zu schweigen.
Nein, es gibt kein Zeugnis gegen ihn. Oder doch? Norban hat hundert
Augen, und wenn es sich um ihn handelt, um Crispin, dann sind diese
Augen geschärft von Haß.
Von der Rückkehr des Kaisers
hatte er erhofft, daß sie Klärung über seine Situation bringen
werde. Aber nichts hatte sich geklärt, DDD hatte ihn gelassen und
freundlich behandelt wie stets. Allein er kannte seinen DDD, er
wußte, das besagte gar nichts, der schreckliche Druck war nicht von
ihm gewichen. Alle die Zeit her war ihm, als werde sich im nächsten
Augen blick die Erde auftun und ihn verschlingen. Sein hübsches
Gesicht war hohl geworden, er hatte sich zusammenreißen müssen, um
nicht plötzlich im Gespräch zu verstummen und in sich zu versinken,
das köstlichste Gericht, die modischste Frau, der hübscheste Knabe,
alles hatte seinen Reiz für ihn verloren. Er achtete nicht auf die
Kleider, die ihm sein Kammerdiener zurechtlegte; sein Friseur
konnte die Parfüms verwechseln, ohne daß er’s merkte. Seine Freuden
waren keine Freuden mehr, und wenn er des Nachts schlaflos lag,
dann, mehrere Male, kam eine furchtbare Vision zu ihm, immer die
gleiche. Er sah sich selber, wie er auf den Rindermarkt geschleift
wurde, vor zehntausend Zuschauern in einen Block gespannt und zu
Tode gepeitscht, nach dem Wortlaut des Gesetzes. Seltsamerweise
trugen die zehntausend Zuschauer allesamt sein eigenes Gesicht,
selbst der Beamte, der die Exekution leitete, und der Henker trugen
sein Gesicht, auch sprachen sie alle mit seiner Stimme. Und er
hörte sich selber, und das erschreckte ihn am meisten, in seinem
flüsternden, eleganten Griechisch kleine, bissige Scherze machen
über die unerträglichen, tödlichen Qualen seiner Folterung und
seines grauenvollen Absterbens.
Heute, in Alba, diesen ganzen Tag
über, da das Kollegium der Fünfzehn beriet, war das Gefühl der
bevorstehenden Vernichtung noch drückender, dieses Gefühl, als ob
ein Berg auf ihn zukäme und sich langsam über ihn senkte, um ihn zu
begraben; so körperlich war es, daß es ihm zuweilen den Atem
raubte. Er irrte herum in den endlosen Gängen des Schlosses, durch
den weiten Park, durch die Ziergärten, die Treibhäuser, zwischen
den Käfigen der Tiere, augenlos; wenn ihn einer gefragt hätte, wo
er gewesen sei, dann hätte er’s nicht sagen können.
Dann war es Nacht geworden, und
er schaute, versteckt, zu, wie sich die Herren des Priestergerichts
entfernten. Etwas in ihm, ein Rest des früheren Crispin, nahm mit
lausbübischem Hohn wahr, welche Mühe sich die Herren geben mußten,
damit ihnen nicht beim Einsteigen in den Wagen die spitzen, weißen,
lächerlichen Fellhüte von den Köpfen fielen. Gleichzeitig aber
dachte der neue, der am Leben bedrohte Crispin in ihm: Was mögen
sie beschlossen haben? Und nun also hockte er in seinem
Arbeitszimmer, voll von hilflosem Zorn, daß es ganz im Belieben
dieser läppisch angezogenen Burschen gestanden war, ihn zu einem
schimpflichen, martervollen Ende zu verurteilen, ihn, den großen
Crispin, den allmächtigen Minister des Kaisers. Hatten sie es
getan? Hatten sie es gewagt? Seine Hände waren die eines Toten,
sein Kopf drehte immer nur die eine Frage: Hat er mich verurteilt,
hat er es gewagt? Hat er mich verurteilt, hat er es
gewagt?
Endlich rief man ihn zu Domitian.
Er gab dem Kammerdiener, der ihm behilflich war, das Galakleid und
die hohen Schuhe anzulegen, schroffe, ungeduldige Weisungen, doch
die Stimme gehorchte ihm nicht recht, und als er selber knüpfte und
band, zitterten ihm die Hände, und als er, Diener mit Leuchtern
voran, durch die langen Korridore schritt, zitterten ihm die Knie.
Er bemühte sich, auf seinen Schatten zu achten, der ihn grotesk
begleitete, um sich so von seiner Furcht abzulenken und gelassen
vor dem Kaiser zu erscheinen. Auch in Gedanken nicht mehr nannte er
den Domitian DDD, sondern nur mehr den Kaiser.
Der Kaiser lag auf einem breiten
Sofa, im Schlafrock, er sah müd aus, lasch, fleischig. Er streckte
ihm die Hand hin, und Crispin, vorsichtig, damit die Lippenschminke
keine Spur hinterlasse, küßte die Hand. »Das war ein anstrengender
Tag heute«, meinte Domitian, gähnend. »Ja«, erzählte er, »wir haben
sie verurteilen müssen. Das ist ein Schlag für mich. Ich habe Stadt
und Reich in schlechtem Zustand übernommen. Es ist ein verwilderter
Garten, man jätet und jätet und muß sehen, daß doch immer nur neues
Unkraut nachwächst. Warum bist du so schweigsam, mein Crispin? Sag
mir etwas Tröstliches! Der Herr und Gott Domitian dürstet heute
nach tröstlichen Worten seiner Freunde.«
Crispin wußte nicht, was er von
diesen Reden halten sollte. Wenn Cornelia verurteilt war, dann doch
nur um dessentwillen, was sich beim Fest der Guten Göttin ereignet
hatte, und dann war doch er, Crispin, der Mitschuldige. Was also
wollte der Kaiser? Machte er einen seiner schauerlichen Späße? »Ich
sehe«, redete Domitian weiter, »es hat dir die Sprache verschlagen.
Ich begreife das. Seit den Zeiten des Cicero ist keine Vestalin
mehr gerichtet worden. Und unter mir: erst die Schwestern Oculatae,
und nun diese. Die Götter machen es mir nicht leicht.«
Crispin, die eigene Stimme klang
ihm sonderbar fremd, fragte mühsam: »Waren da Beweise?« Der Kaiser
lächelte. Es war ein langes, tiefes Lächeln, und an diesem Lächeln
erkannte Crispin, daß er verloren war. »Beweise?« fragte Domitian,
zuckte die Achseln und breitete ein wenig die Arme, die Handflächen
gegen Crispin hin. »Was willst du, mein Crispin? Unser Norban hat
eine Reihe von Tatsachen zusammengestellt, Indizien sagt man ja
wohl in der Juristensprache, schlüssige Indizien. Aber was sind
Beweise? Wenn man Cornelia gehört hätte und den Mann und die Frau,
die Norban als ihre Mitschuldigen bezichtigt hat, dann hätten diese
drei Beklagten sicher ebenso viele und ebenso schlüssige
Gegenbeweise vorgebracht. Was sind Beweise?« Er richtete sich hoch,
beugte sich gegen den steif und kalt dasitzenden Crispin vor und
sagte ihm, vertraulich, ins Gesicht: »Es gibt einen einzigen
Beweis. Der wiegt mehr als alles, was Norban gegen Cornelia, und
alles, was Cornelia und ihre Mitschuldigen für sich anführen
können. Auch den Herren Priestern meines Kollegiums schien dieser
Beweis vollwichtig. Ich bin nämlich – dir kann ich es ja sagen,
mein Crispin – nicht zufrieden mit dem Ausgang des sarmatischen
Feldzugs. Die Götter haben meine Waffen nicht gesegnet. Und warum
nicht? Deshalb«, er sprang hoch, »deshalb, weil diese Stadt Rom
voll von Sünde und Unzucht ist. Als mir Norban mitteilte, was am
Feste der Guten Göttin geschehen ist, da sind mir die Augen
aufgegangen. Da erkannte ich, warum dieser sarmatische Feldzug
nicht die Ernte einbrachte, die ich mir erhofft hatte. Was meinst
du, mein Crispin? Sag es ehrlich, sprich dich aus: ist das nicht
ein schlüssiger Beweis?«
»Ja«, stammelte Crispin, auch er
war aufgesprungen, als sich der Kaiser erhoben hatte, mit
schlotternden Knien stand er da, leise schwankend, das hübsche
Braun seines schmalen Gesichtes stach grünlich unter der Schminke
hervor. »Ja, ja«, stotterte er, und, er konnte sich nicht länger
zähmen, »aber wer, wenn ich das wissen darf, wer sind die
Mitschuldigen?« fragte er. »Das ist ein anderer Punkt«, sagte der
Kaiser schlau, doch immer mit dem gleichen Ton freundschaftlicher
Offenheit. »Es geht natürlich um die Vorgänge bei dem Fest der
Guten Göttin. Aber das weißt du ja wohl selber«, meinte er
beiläufig, selbstverständlich, und ein neuer Schauer überlief den
Crispin, als der Kaiser dieses: »Aber das weißt du ja wohl selber«,
hinwarf. »Was der Kerl, der das Fest schändete«, fuhr Domitian
fort, »angestellt hat, das ist im Grunde nichts als eine unsäglich
dumme Nachahmung des Streiches des Clodius aus den Zeiten Julius
Cäsars. Und gerade darum kann ich es noch immer nicht glauben, was
unser Norban berichtet, so solid seine Unterlagen sind. Ich kann es
einfach nicht glauben, daß in unserm Rom, in meinem Rom einer auf
einen so unsäglich albernen Einfall hat kommen können. Ich versteh
es nicht. Die Männer von damals mochten einem Clodius verzeihen:
aber mein Priestergericht, mein Senat – das mußte sich doch jeder
sagen, der auch nur den Verstand eines Huhnes hat –, ich und meine
Richter, wir verzeihen solche Verbrechen nicht.«
Da aber versagte dem Crispin die
Kraft, die Glieder erschlafften ihm, er sackte vor dem Kaiser
zusammen. »Ich bin unschuldig, mein Herr und Gott Domitian«,
winselte er auf den Knien, und, immer von neuem, heulend, flennend:
»Ich bin unschuldig.«
»So, so, so«, meinte der Kaiser.
»Dann ist also Norban im Irrtum. Oder ein Verleumder. So, so, so.
Interessant. Das ist interessant.« Und plötzlich, blaurot im
Gesicht, da er sah, wie Crispin seinen Schlafrock, ihn küssend, mit
der Schminke seiner Wangen und seiner Lippen befleckte, brach er
aus: »Und meinen Rock besudelst du auch noch mit deinen gemeinen
Lippen, du Aussatz, du Sohn einer Hündin und eines besoffenen
Fuhrknechts!« Er holte Atem, er entfernte sich von Crispin, der
liegenblieb, er ging auf und ab und sprach grimmig vor sich hin:
»So danken es einem diejenigen, die man aus dem Schmutz erhöht hat.
Meine Cornelia. Sie versauen einem das Beste, was man hat. Sie
beschlafen einem die Töchter. Wahrscheinlich hast du’s nicht
gewußt, du, dem die Götter ein hohles Ei gegeben haben statt eines
Kopfes, daß die Vestalinnen meine, des Erzpriesters, Töchter sind.
Wahrscheinlich begreifst du nicht einmal, du Auswurf von einem
Ägypter, was du angerichtet hast. Du hast meine Verbindung
zerrissen zu den Göttern, du Aas, du dreimal Verruchter. Dabei ist
es nicht das erstemal, daß du mich bei den Göttern mißliebig
gemacht hast.« Und nun ließ er es aus sich heraus, was er, ein
langsamer Rächer, sieben Jahre über im Busen bewahrt hatte. »Du
warst es ja auch, du Pest, du Wegwurf, du trauriger Narr, der mich
in den Streit hineingezogen hat mit dem Gott Jahve, damals vor
sieben Jahren! Wer anders als du ist schuld daran gewesen, daß ich
den Großdoktor so lange warten ließ damals? Deine Sache wäre es
gewesen, mich darauf aufmerksam zu machen, daß ich ihn empfangen
muß. Und jetzt beschläfst du mir auch noch meine Vestalin, du
Pflichtvergessener, du Schakal, du Ägypter!«
Crispin war in einen Winkel
gekrochen. Der Kaiser, ein wenig ächzend, ging auf ihn zu,
fleischig, koloßhaft. Crispin drückte sich in die Mauer hinein, der
Kaiser trat nach ihm. Sein bloßer Fuß in der Sandale hatte keine
Kraft, der Tritt tat nicht weh. Trotzdem schrie Crispin, und sein
Schreck war ehrlich. Des Kaisers aufgeworfene Oberlippe wölbte sich
noch verächtlicher. »Nicht ein Fünkchen Mut hat der Schakal«, sagte
er und ließ ab von ihm.
Unvermutet indes kam er wieder
auf ihn zu, beugte sich zu dem Wimmernden nieder, und leise,
flüsternd, ganz nah an seinem Ohr, fragte er: »Und wie war es? Hast
du wenigstens was davon gehabt? Wie war sie, diese Jungfrau
Cornelia? War es eine große Lust? Schmeckte sie? Schmeckte sie
anders als andere, diese Heilige? Sag es, sag es!« Da indes Crispin
stammelte: »Aber ich weiß ja nichts, ich bin ja ...«, richtete sich
der Kaiser wieder hoch, und: »Schon gut, natürlich«, sagte er,
distanziert, hochmütig. »Norban hat dich verleumdet, du bist ein
armer Unschuldiger, du weißt von nichts. Du hast es mir ja bereits
gesagt. Schon gut.« Und plötzlich, abgekehrt, über die Schulter,
warf er ihm hin: »Du kannst gehen. Du bleibst in deinem Zimmer. Und
zu baden rate ich dir. Du hast dich ganz bedreckt, du
Feigling.«
»Schenk mir das Leben, mein Herr
und Gott Domitian!« heulte auf einmal der Ägypter von neuem los.
»Schenk mir das Leben, und ich will dir danken, wie dir noch keiner
von den andern gedankt hat!« – »So ein Haufen Schmutz!« sagte
Domitian vor sich hin, angewidert, unsäglich hochmütig. Und: »Daß
du dich nicht umbringst, hörst du!« befahl er ihm noch. »Aber das
tust du sowieso nicht.«
Crispin war schon in der Tür.
Domitian, wieder ganz kaiserlich, erklärte: »Was dein Leben
anlangt, so steht die Entscheidung nicht bei mir. Sie steht,
nachdem das Kollegium der Fünfzehn gesprochen, beim
Senat.«
Während aber der Kaiser aus
richterlicher Höhe herunter diese abgründig höhnischen Worte
sprach, war auf einmal der Zwerg Silen aufgetaucht, der sich bisher
in einem Winkel versteckt gehalten haben mochte, und stand nun
hinter dem Kaiser, seine Haltung nachahmend. Und wenn sich Crispin
während der wenigen Tage, die ihm noch blieben, den Domitian
vorstellte, dann trennte sich in seinen Gedanken der Zwerg Silen
nicht mehr von dem Kaiser. Denn dieses war das letztemal, daß der
Minister Crispin den Domitian zu Gesicht bekommen, und die höhnisch
feierlichen Worte waren die letzten, die er aus seinem Munde gehört
hatte.
Die Zelle der Cornelia war die zweite links
vom Eingang. Wie alle sechs Zellen war sie einfach eingerichtet,
nur ein Vorhang trennte sie von der großen Halle, an die weiter
hinten der Speisesaal anschloß.
Schon vor Wochen hatte in
Vertretung des Kaisers der Priester des Jupiter ihr mitgeteilt, daß
sie ihrer Funktionen enthoben sei und ihre Zelle nicht mehr
verlassen dürfe. Hinter ihrem geschlossenen Vorhang hörte sie, wie
die andern ihr Leben weiterlebten. Der Dienst der Vesta war bis ins
kleinste geregelt; die Einholung des Opferwassers in den Krügen,
die, auf daß sie nie den Boden berührten, unten spitz zuliefen, die
Ausschüttung dieses geweihten Wassers, die Bewachung des heiligen,
jungfräulichen Feuers, jeder Schritt und Tritt in dem einfachen,
altertümlichen Heiligtum war vorgeschrieben. Cornelia also kannte
genau jede Einzelheit des Tageslaufes, sie wußte, welche ihrer
Mitschwestern jetzt die Wache hatte, jetzt dieses Opfer vollziehen
mußte, jetzt jenes heilige Brot backen. Sie wußte, daß durch ihr
Ausscheiden die drei Schwestern, die nach ihr in das Heiligtum
eingetreten waren, nun jede einen Grad aufrückten. Bald, sowie der
Kaiser zurückkommt, werden zwanzig Mädchen, alle unter zehn Jahren
und von beiden Eltern her aus den ältesten Geschlechtern stammend,
als Kandidatinnen präsentiert, und eine wird erlost werden, um sie,
die ausgeschiedene Cornelia, als sechste zu ersetzen. Ins Heiligtum
der Vesta einzutreten war eine der höchsten Ehren, welche die
Götter und das Reich zu vergeben hatten. Töchter aller alten
Geschlechter bewarben sich darum, viele Eifersüchte kämpften, wer
berufen und erlost werden sollte. Ob Cornelia noch erfahren wird,
wer sie ersetzen soll?
Wer immer diese Neue sein wird,
Cornelia beneidete sie von vornherein darum, daß nun sie das Leben
wird führen dürfen, das bisher ihr, Cornelias, Leben gewesen war.
Schön war Cornelias Leben gewesen. Genau zwanzig Jahre waren es
jetzt, die sie im Heiligtum verbracht hat, eintönige, streng
geregelte Jahre mit Vorschriften für Tag, Stunde, Minute. Und wie
schön bewegt trotzdem waren die Tage dieses Lebens, wie still,
gleichmäßig und dennoch in stetem Wechsel glitten sie vorbei. Man
fühlte sich wie ein Fluß, so gelenkt, gebettet, geregelt, alles
gehorchte einem hohen Gesetz.
Die stille, fromme Heiterkeit,
welche das Volk auf dem Gesichte der Cornelia wahrgenommen hatte,
wenn an den großen Festen die Vestalinnen in der Prozession
mitschritten, diese stille, fromme Heiterkeit, die sie mehr als die
fünf andern zum Liebling der ganzen Stadt machte, war keine Maske.
Vom ersten Tag an, da sie als Achtjährige in das Haus der Vesta
gebracht worden war, hatte sie sich hier wohlgefühlt. Die
Bedrückung, welche die andern als kleine Mädchen manchmal im Dämmer
des heiligen Hauses empfunden haben wollten, sie, Cornelia, hatte
sie nie gespürt. Keinerlei Angst hatte sie gespürt, als ihr Vater
Lentulus sie in großer, festlicher Zeremonie dem Kaiser – es war
damals Vespasian – als dem Erzpriester übergab und als sie mit
kindlichem Eifer dem schlau und freundlich lächelnden alten Mann
die Formel nachsprach, sie gelobe der Göttin und dem Reich, die
Seele rein und den Körper fleckenlos zu bewahren. Dann, zehn Jahre
lang, war sie von der freundlich ernsten Oberin Junia unterwiesen
worden. Die einzelnen Verrichtungen, die es vorzunehmen galt, waren
nicht schwer, aber es waren ihrer sehr viele, und wenn der Staat
nicht unter dem Zorn der Göttin leiden sollte, dann durfte nicht
das geringste Versäumnis unterlaufen. Doch zehn Jahre waren eine
lange Zeit, da konnte man alles so lernen, daß es einem
selbstverständlich wurde wie Ein- und Ausatmen. Cornelia lernte
überdies mit Eifer; ihr gefiel der schlichte Sinn, der hinter den
schlichten Bräuchen stand. Man lernte das Wasser in den spitzen
Krügen schöpfen, auf das Feuer achten und es nach strengen Regeln
unterhalten, man lernte Kränze flechten, um am Feste der Vesta die
hellgrauen Esel zu schmücken, welche einem die Müller brachten, man
lernte den geweihten Teig bereiten, welcher die Frauen vor
Krankheit und Unheil schützen sollte. Die vielerlei Obliegenheiten
waren alle leicht, doch sie mußten mit Würde und Anmut verrichtet
werden, denn zahlreiche dieser Dienste geschahen unter den Augen
des ganzen Volkes. Wenn die Jungfrauen der Vesta zum Capitol
hinanstiegen, wenn sie ihre Ehrensitze einnahmen im Theater oder im
Zirkus, immer waren nächst dem Kaiser sie diejenigen, auf welche
die Zehntausende am meisten achteten.
Cornelia liebte die Bräuche, und
sie gefiel sich gut, wenn sie in der Öffentlichkeit erschien. Sie
wie keine verstand es, ihren Dienst frommen, heiteren Gesichtes zu
vollziehen und so, als ob sie nicht wüßte, daß hunderttausend Augen
auf sie gerichtet waren. Im Innern spürte sie mit großer Freude,
daß diese Augen auf ihr waren und daß sie, Cornelia, diese Augen
nicht enttäuschte. Die Mittelfigur eines schönen, heiligen und
heiteren Schauspiels zu sein füllte sie aus, und zu wissen, daß es
das Wohl des Staates förderte, wenn sie ihre Obliegenheiten
geordnet und gesammelt besorgte, wärmte ihr das Herz.
In ihnen, in den sechs Jungfrauen
der Vesta, verkörperte sich die einfache Gravität und keusche Würde
des alten römischen Hauses, sie waren die Wahrerinnen des
Herdfeuers, ihrem Schutze anvertraut waren das Palladium und die
wichtigsten Akten des Reichs. Keuschheit und Wachsamkeit waren
Cornelia selbstverständlich geworden.
Viele ehrenvolle Titel führten
die Vestalinnen. Ihr, Cornelia, war der Titel »Amata«, »Liebling«,
der teuerste, und sie war sich bewußt, daß sie diesen Titel zu
Recht trug. Sie fühlte sich geliebt, nicht von einem einzelnen,
sondern von den Göttern und vom Senat und Volk von Rom. Natürlich
gab es Eifersüchteleien unter den sechs Jungfrauen, die ständig
zusammen lebten; doch selbst im Kreise der Schwestern war sie die
am meisten geliebte.
Höchstens Tertullia wird eine
ganz kleine Befriedigung spüren über ihr, der Cornelia, Unglück.
Tertullia hat sie nie leiden mögen. Was für böse Augen zum Beispiel
hat sie gemacht, als bei den Capitolinischen Spielen sie, Cornelia,
ausgelost worden war, an der Hand des Kaisers zum Jupiter
hinaufzusteigen. Dabei hat sie gerade an dieser Zeremonie nicht
viel Freude gehabt. Gewiß, Domitian war sehr großartig anzuschauen,
und sie hat gespürt, daß ihre ernst und heitere Anmut neben dem
Kaiser doppelt zur Geltung kam. Trotzdem war sie nicht froh, und
jener Tag war einer der nicht vielen, da sie geradezu Unbehagen
gespürt hat; Wirrnis, »Trübung«, so hat sie es in ihrem Innern
genannt. Die Hand des Mannes, mit dem gemeinsam sie die Stufen
erschritten hat, diese Hand des Kaisers, des Erzpriesters, ihres
»Vaters«, ist eine kalte, feuchte Hand gewesen, und sie hat, als
sie die ihre hineinlegte, Angst und Widerwillen gespürt, ähnlich
wie beim Feste der Guten Göttin.
Ja, eine Vorahnung war es, eine
Warnung, und kein Zufall war es, daß sie die gleiche »Trübung«
verspürt hat und von jeher und bei allem, was mit dem Feste der
Guten Göttin zusammenhing. Für die andern Vestalinnen war dieses
Fest der Guten Göttin der Höhepunkt des Jahres, sie aber hat sich,
immer wenn dieses Fest näherrückte, mehr davor geängstigt als
darauf gefreut.
Das Fest fand alljährlich statt,
im Winter. Gastgeberin war die Gattin des höchsten Reichsbeamten,
des Konsuls; der mußte zu diesem Zweck sein Haus für zwei Tage
seiner Frau überlassen, er selber durfte es nicht betreten, denn
ihm, wie jedem Manne, war der Zutritt zu diesem Fest bei
Todesstrafe verboten. Es wurden bei diesem Fest altertümliche
Sprüche gesprochen, seltsame Opfer vollzogen, dunkle, aufregende
Bräuche geübt, alles unter ihrer, der Vestalinnen,
Anleitung.
Gegen Ende ihrer Lehrzeit, kurz
bevor sie achtzehn wurde, war Cornelia von ihrer Lehrerin Junia
über Sinn und Meinung dieser Sitten und Bräuche aufgeklärt worden.
Es war aber die Gute Göttin eine nahe Anverwandte des Bacchus, sie
war die Göttin der häuslichen Fruchtbarkeit, und wie Bacchus den
Wein, so hatte sie die Weinranke zum Attribut; doch wurde ihr
Trank, wiewohl er Wein war, nicht so genannt, sondern er hieß
»Milch der Guten Göttin«. Diese Milch der Guten Göttin war das
Symbol häuslicher Fruchtbarkeit, keuschen, doch dadurch nicht
minder lustvollen Liebesgenusses. Dies alles wurde der Novizin
erklärt, und so erklärten sich ihr auch die dunklen, erregenden
Bräuche, welche bei den Mysterien der Guten Göttin geübt wurden.
Festlich geschmückt mit Weinranken war das Haus der Ersten Dame des
Reichs, welche die Gäste der Göttin empfing; Weintrauben in Fülle
waren da, jetzt, mitten im Winter, in den Treibhäusern gezüchtet;
mit ihren spitzen, altertümlichen Krügen schöpften die Vestalinnen
Milch der Guten Göttin, Wein also, und geschmückt mit Weinlaub
waren die Frauen alle. Sie umfaßten und küßten sich, in strenger,
steifer Zeremonie zuerst, sie führten sakrale Tänze auf, jede Geste
war vorgeschrieben. Allmählich dann, in der zweiten Stunde, wurden
die Tänze heftiger, die Verschlingungen der Frauen wilder, erregter
ihre Küsse und Umarmungen, in größerer Fülle floß die Milch der
Göttin. Wüster wurde mit dem Fortschreiten der Nacht das Fest. Es
war aber eine lange Winternacht, und wenn endlich, kurz vor Tage,
die Vestalinnen das Haus verließen, dann war es voll von Frauen,
die in den Winkeln herumlagen, zu zweien oder zu dreien, und nicht
mehr erkannten, wer zu ihnen sprach.
Oft jetzt in der Verlassenheit
ihrer Zelle mühte sich Cornelia, sich in genauer Reihenfolge die
Vorgänge zurückzurufen, die sich beim letzten Fest der Göttin
ereignet und die ihr ganzes Leben umgestülpt hatten.
Melitta, die Freigelassene, hatte
ihr gemeldet, eine Frau erwarte sie im Toilettezimmer der
Gastgeberin, der Volusia. Was für eine Frau? hatte sie, Cornelia,
gefragt. Eine besondere Frau, hatte Melitta erwidert, die
Besonderes mit ihr zu besprechen habe und besondere Hilfe von ihr
begehre, und Melitta hatte bei diesen Worten auf eine seltsam
auffordernde Art gelächelt. Eigentlich war es dieses Lächeln
gewesen, das dazu geführt hatte, daß sie jetzt allein, geächtet und
vom Dienst ihrer Göttin ausgeschlossen, in ihrer Zelle saß. Sie war
also in das Toilettezimmer der Volusia gegangen, nicht mit der
ganzen Schwerelosigkeit wie sonst und dennoch leichter, da sie von
der Milch der Göttin genossen hatte. Ihr weißes Kleid war ihr beim
Tanz zerrissen worden, der Schlitz gab den Blick auf ihre Beine
frei, und sie erinnerte sich, daß sie, während sie ging, bemüht
gewesen war, den widerspenstigen Schlitz zuzuhalten.
Merkwürdigerweise hatte sie,
während sie ins Toilettezimmer der Volusia ging, an den Senator
Decian gedacht, jenen ruhigen, freundlichen Herrn, der sie immer
mit so besonderem Respekt und mit mehr als Respekt begrüßte. Dabei
war es sinnlos, gerade diesen mit dem Fest und den Mysterien der
Guten Göttin in Zusammenhang zu bringen.
Die Frau, die sie im
Toilettezimmer der Volusia erwartete, hatte ihr gut gefallen. Sie
war groß, schlank, das Gesicht bräunlich, mit einem Stich ins
Olivfarbene, mit wissenden Augen und wissenden Lippen; das hatte
sie erkannt, als die Frau sie mit dem Kuß der Guten Göttin
begrüßte, und sogleich war die »Trübung« stärker geworden, jenes
besondere und ängstigende Gefühl, das für sie dem Feste der Guten
Göttin anhaftete. »Ich bin sehr kühn«, hatte die Frau zu ihr
gesagt, »aber ich kann nicht anders, ich muß Sie, gerade Sie, meine
Herrin und Geliebte Cornelia, bitten, mich tiefer in die Mysterien
der Guten Göttin einzuweihen; denn ich kann nicht mehr schlafen,
wenn ich nicht mehr erfahre von diesen Mysterien.« – »Kenne ich
Sie, meine Herrin?« hatte sie, Cornelia, zurückgefragt. Und: »Ja
und nein«, hatte die Unbekannte erwidert, hatte ihre Hand gefaßt
und sie umarmt und gestreichelt, wie das üblich war beim Fest der
Guten Göttin. Während dieser Umarmung aber war ihr plötzlich
aufgegangen, daß die Unbekannte keine Brust hatte.
Naiv, wie sie war, und erfüllt
von Vorstellungen aus der Urzeit, da Götter und sagenhafte Wesen
den Erdkreis bevölkerten, hatte sie zuerst geglaubt, die andere sei
eine verspätete Amazone. Spät, zu spät war ihr die Vorstellung der
ganzen, grauenhaften Wirklichkeit aufgegangen. Gehört hatten sie
natürlich alle von jenem Clodius, der sich damals, zur Zeit des
großen Julius Cäsar, als Harfenistin verkleidet zum Fest der Guten
Göttin eingeschlichen hatte. Doch dies war geschehen in abgelebten
Zeiten, die so unwirklich waren wie die Zeiten der Götter und
Halbgötter. Daß sich dergleichen noch heute sollte ereignen können,
in der greifbaren Wirklichkeit des heutigen Rom, das war einfach
unvorstellbar.
Daß es sich nun doch ereignete,
hatte sie gelähmt. Es lähmte sie noch weiter. Noch jetzt nicht
wußte sie genau, was eigentlich geschehen war, es war wirklich und
gleichwohl unwirklich, sie wußte es nicht, aber sie spürte es
weiter, immer noch, täglich, stündlich. Es waren keine Vorgänge und
Bilder, die sich infolge jenes Ereignisses in ihr aufgestaut
hatten, es waren eher Gefühle, Erregungen, ein undeutliches,
schmerzhaftes, schauerliches Durcheinander, Abwehr und Abscheu, und
eine winzige Neugier, wüst gemischt.
Es war eine Vergewaltigung, das
war gewiß. Vielleicht hätte sie schreien sollen. Aber wenn sie
geschrien hätte, dann hätten alle gewußt, daß das Fest der Guten
Göttin geschändet war, und aus einem solchen bösen Vorzeichen wäre
größtes Übel gewachsen für den Feldzug und für das Reich. Es war
besser, daß sie sich stumm gewehrt hat, verbissen, keuchend. Sie
hat sich gewehrt, sie hat sich nach Kräften gesträubt, und sie war
kräftig. Aber sie war wie betäubt gewesen von dem ungeheuern und
unausdenkbaren Frevel. Auch war sie behindert gewesen durch das
schwere, altertümliche Gewand. Was sie unmittelbar hernach am
meisten erschreckt hatte, das war gewesen, daß dieses heilige
Gewand durch die Spuren des Verbrechens besudelt war, im Wortsinn
besudelt, wie auch ihre Haut.
Das Ganze hatte eine Ewigkeit
gedauert und doch wohl nur sehr kurz. An äußere Folgen hatte sie in
jener Nacht überhaupt nicht gedacht. Ob den andern ihre Abwesenheit
und ihre Verstörtheit aufgefallen war, damit hatte sie sich nicht
beschäftigt. Erst am andern Tag, als Melitta zu ihr kam und sie
beschwor, sie im eigensten Interesse zu retten, war ihr die Gefahr
aufgegangen. Sie hatte Melitta jenen Brief an Decian gegeben. Was
daraus entstanden war, wußte sie nicht. Sie hatte nur ihre dumpfe
Erinnerung an die kurze und ewige Umarmung jener »Frau« und an ein
paar wirre Sätze der Melitta. Niemand sonst hatte mit ihr über die
Ereignisse jener Nacht und über ihre Folgen gesprochen. Auch der
Opferpriester des Jupiter hatte den Grund nicht angegeben, aus dem
er sie hinter ihren Vorhang verbannte.
Was wohl mit ihr geschehen wird?
Niemals hätte irgendwer, niemals sie selber es anders gedacht, als
daß, wenn sie einmal gestorben sein wird, ein Steinbild von ihr
werde errichtet werden mit der Inschrift: »Der höchst keuschen,
höchst schamhaften, höchst reinen, höchst wachsamen Jungfrau
Pulchra Cornelia Cossa.« Statt dessen wird sie jetzt hinunter
müssen in das Gewölbe vor dem Hügeltor; denn als sie bei der
Prozession ihre Hand in die des Herrn und Gottes Domitian legte,
hat sie gespürt, daß er sie nicht liebt, und er wird nicht zugeben,
daß sie sich, wie damals die süßen und geliebten Schwestern
Oculatae, die Art des Sterbens selber bestimme. Vielmehr wird sie
eingemauert werden mit einem Krug Wasser und etwas Speise, ein
Weidengeflecht wird gebreitet werden über das Gewölbe, in dem sie
elend verreckt, und scheu werden diejenigen, welche die Stelle
passieren, einen Kreis des Grauens und des Ekels um ihr Grab
machen.
Aber sie hat doch ihr Gelübde
nicht verletzt. Sie hat das, was geschah, doch nicht gewollt, sie
ist hineingerissen worden, sie hat es nicht getan. Vielleicht auch
ist es gar nicht geschehen, sie weiß es nicht, vielleicht hat sie
sich alles nur eingebildet in ihrer »Trübung«. Vielleicht, wenn sie
dem Priestergericht die Probe anbietet, wird sie ihr glücken, wie
sie seinerzeit der Vestalin Tuccia glückte, vielleicht wird sie es
vermögen, mit dem Sieb aus dem Flusse Tiber Wasser zu schöpfen und
es vor die Priester zu tragen.
Sie phantasiert. Es ist
geschehen, und man würde sie nicht zur Probe zulassen, das
Schicksal hat sich gegen sie entschieden, das Schicksal hat es
gewollt, niemand fragt nach der Absicht, eingemauert in das Gewölbe
wird sie werden.
Der Vorhang wurde vom Boden
hochgerafft, eine Hand schob eine Schüssel mit Speisen herein und
einen Krug mit Milch. Cornelia erkannte die Hand, die das besorgte,
es war die Hand der Postumia. Die Speisen waren mit Liebe
zubereitet, es waren ihre Lieblingsspeisen, und sorglich waren
Deckel darübergestülpt, damit sie sich warm erhielten. Die andern
liebten sie, die andern bedauerten sie. »Amata«, »die Geliebte«,
sie trug ihren Titel zu Recht.
Sie wird nicht mit priesterlichen
Ehren an der Attischen Straße bestattet werden, sie wird keine
Ehrensäule haben, ihr Name wird gelöscht werden aus jedem Stein und
von jedem Papier. Dennoch werden die andern an sie denken, oft,
liebevoll, nicht einmal der Haß der Tertullia wird dagegen
aufkommen. Wenn sie den heiligen Teig bereiten, werden sie an sie
denken, und wenn sie am ersten März das Feuer der Göttin erneuern;
wie gerne hätte sie diesen ersten März noch erlebt! Und flüstern
werden sie von ihr, voll Scheu, Geheimnis und Zärtlichkeit, wenn
sie das heilige Wasser schöpfen und weihen und wenn eine Wache die
andere ablöst am Feuer der Vesta.
Dieser Gedanke beruhigte Cornelia
ein wenig, und sie aß mit Lust von den guten Speisen. Dann schlief
sie, und es war über ihrem jungen Gesicht jene ernste und freudige
Ruhe, welche ihr die liebende Verehrung des Volkes erworben
hatte.
Der Kaiser war in dieser ersten Zeit nach
seiner Rückkehr aus dem sarmatischen Feldzug wenig in Rom, er hielt
sich fast immer in Alba auf. Hatte er früher dort am liebsten vor
den Tierkäfigen verweilt, so zog er es jetzt vor, in den
ausgedehnten Teilen des Parks herumzustreifen, aus denen sein
Obergärtner, der Topiarius Felix, die ursprüngliche Natur völlig
vertrieben hatte, das Gelände in eine Art von ungeheuerm Teppich
verwandelnd. Geometrisch abgezirkelt waren da Beete, Hecken,
Alleen. Zierlich und steif standen Gruppen von Buchsbäumen und
Taxus, die einzelnen Bäume verschnitten zu Kegeln und Pyramiden,
dünn und starr reckten sich Zypressen, allerlei Blumen und Pflanzen
bildeten Namenszüge, Figuren, selbst kleine Gemälde. Die Wege waren
sorgfältig gekiest, die Teile des großen Ziergartens, die nicht
bepflanzt waren, waren gepflastert. Brunnen und Wasserwerke
sprudelten, Ruheplätze jeder Art gab es, Rundbänke, künstliche
Grotten, Lauben, aus Stein gebildete Baumstümpfe, künstliche
Ruinen, auch ein Labyrinth. Teiche waren da mit Schwänen und
Reihern, auf weißschimmernden Freitreppen spreizten sich Pfauen.
Wandelhallen, mit Fresken geschmückt, schnitten einzelne Teile des
Gartens heraus. Terrassen und Freitreppen verbanden da und dort
Partien des riesigen, auf hügligem Terrain angelegten Parkes, Holz-
und Steinbrücken schwangen sich über Bäche, das Ganze senkte sich
zum Ufer des Sees. Alles war zierlich, niedlich, steif,
gravitätisch, künstlich, prunkvoll.
Wenn sich Domitian in diesem
Ziergarten erging, dann hob ihn der Gedanke, daß man Lebendiges auf
solche Art ändern konnte, es in Zucht bringen, in bestimmte Normen.
Da es seinem Topiarius Felix gelang, solche Wunder und
Metamorphosen zu erwirken an lebendig blühendem Gewächs, wie sollte
es ihm, dem römischen Kaiser, nicht glücken, Menschen nach seinem
Willen zu bilden, sie, ein zweiter Prometheus, nach seinen Wünschen
und Erkenntnissen zu formen?
In solchen Betrachtungen wandelte
der Kaiser durch seine Gärten in Alba. Mit ihm war der Zwerg, in
einiger Entfernung folgte der Obergärtner, wieder etwas weiter
zurück waren die Träger mit der Sänfte, falls der Kaiser ermüden
sollte. Viele Stunden erging er sich so. Mit Genugtuung betrachtete
er die Lauben, die Grotten, diese ganze kleingehackte, zerkünstelte
Natur. Gelegentlich auch betastete er die Kletterpflanzen, den
Efeu, die Winden, die Kletterrosen, die den Weg wachsen mußten, den
der Wille des Menschen ihnen vorschrieb. Dann wieder rief er den
Obergärtner, ließ sich das oder jenes erklären und wärmte sich das
Herz an der Beschreibung, wie man auch hohe, starke Bäume zwingen
konnte, die Gestalt anzunehmen, die ordnender Sinn ihnen
diktierte.
Am liebsten aber hielt er sich in
den Treibhäusern auf. Alles dort gefiel ihm, die künstliche Reife,
die künstliche Wärme, das listige Glas, mittels dessen man die
Sonne einfing. Mit nachdenklicher Befriedigung erlebte er, daß man
also Bäume und Sträucher zwingen konnte, Früchte im Winter zu
tragen, die
im Sommer zu reifen bestimmt waren. Das war ein
Gleichnis, das ihm behagte.
In einem Treibhaus auch, auf einem Ruhebett,
das er sich hatte hinstellen lassen, lag er dösend, brütend, als
Lucia zu ihm kam.
Des Kaisers Beziehungen zu ihr
waren wieder gefährlicher geworden, ja sie waren neuerdings so voll
von Untiefen, daß Lucia nicht erstaunt gewesen wäre, wenn Wäuchlein
plötzlich zu einem zweiten, tödlichen Schlag gegen sie ausgeholt
hätte.
Begonnen hatte diese Veränderung,
als er den Prinzen Sabin hatte hinrichten lassen. Domitian hatte,
da er sich vor Julia in Schuld fühlte, den Sabin lange geschont,
obgleich Norban im Lauf der Jahre gegen den Prinzen Material genug
zusammengetragen hatte, um eine Verurteilung durch den Senat zu
rechtfertigen. Erst nachdem die Beteiligung des Sabin an dem
Putsche des Saturnin einwandfrei erwiesen war – ein Schreiben des
unbesonnenen, hochmütigen Prinzen, in dem er das Angebot des
Generals annahm, ihn an Stelle Domitians zum Kaiser zu machen, war
den Leuten des Norban in die Hände gefallen –, hatte Domitian
zugeschlagen. Und damals hatte Lucia einen schweren Fehler gemacht.
Da sie dem Sabin soviel Dummheit nicht zugetraut und angenommen
hatte, es handle sich um einen Willkürakt Domitians, hatte sie ihm
vorgeworfen, er habe den Vetter lediglich aus Eifersucht auf Julia
beseitigen lassen. Damit aber hatte sie ihm offenbar unrecht getan,
und er war ihr gegenüber lange im Vorteil gewesen.
Ernsthaft gefährlich indes waren
ihre Beziehungen zu Domitian erst seit Julias unseligem Ende.
Gekommen war dies so: Julia war nach dem Tode des Sabin von neuem
schwanger geworden, zu einem Zeitpunkt, der einen Zweifel an der
Vaterschaft des Domitian ausschloß. Domitian beabsichtigte, das
Kind zu adoptieren, und wünschte deshalb, daß es nicht als Bastard
zur Welt komme. Er schlug Julia eine neue Heirat vor. Julia, die in
ihrer ersten Ehe unter der Eifersucht Domitians genügend zu leiden
gehabt hatte, lehnte ab. Domitian wollte ihr den Mann aufzwingen,
den er ihr ausgesucht. Sie sträubte sich. Der Kaiser bekam einen
Wutanfall. Widerspruch hatte er bisher von einem einzigen Menschen
geduldet, von Lucia. Er war nicht gewillt, es hinzunehmen, daß nun
auch Julia infolge ihrer Schwangerschaft übermütig und zu einer
zweiten Lucia werde. Eher verzichtete er auf den Sohn. In zwei
wüsten Auseinandersetzungen zwang er Julia, das Kind abtreiben zu
lassen. Über dieser Operation war Julia gestorben.
Domitian litt unter dem Tod der
Julia, den er verschuldet. Er wollte sich das aber nicht anmerken
lassen, vor allem nicht vor Lucia, und er fragte sie auf seine
höhnische Art: »Nun, meine Lucia, sind Sie es zufrieden, daß Sie
Julia losgeworden sind?« Die Kaiserin hatte Julia nie leiden mögen,
sie hatte sie mit gelassenem, leicht spöttischem Stolz behandelt.
Ihr Tod aber empörte sie, die Frau in ihr empörte sich gegen die
Manneswillkür des Domitian, und vollends erbitterte sie seine
alberne Frage. Sie mühte sich nicht, diese Gefühle zu verbergen,
ihr helles, großes Gesicht verzog sich in Ablehnung und
Widerwillen, und sie sagte: »Deine Liebe, Wäuchlein, scheint den
davon Betroffenen nicht gut zu bekommen.«
Hatte Domitian ihre Beschuldigung
im Falle des Sabin verziehen, weil sie ungerecht und ungereimt war,
so traf ihn diese Anmerkung über Julia um so tiefer, weil sie
stimmte. Das Feindselige, das von Anfang an in seinen Beziehungen
zu Lucia gewesen war, verschärfte sich, und es war seither in
seinen Umarmungen ebensoviel Groll wie Begier. Ein solches
Verhältnis war Lucia nur recht. Ihn indes wurmte es, daß er von ihr
nicht loskam, er war klein vor sich selber, wenn er mit ihr
zusammen war, er bezähmte sich, seine Umarmungen wurden immer
seltener, und schließlich beschränkten sich seine Zusammenkünfte
mit ihr auf jene Gelegenheiten, da sie sich der Öffentlichkeit
zusammen zeigen mußten. Ihre Begegnungen wurden förmlich, wachsam,
sie waren einer auf der Hut vor dem andern. Seit mehreren Wochen,
seit mehr als einem Monat, hatte Lucia den Kaiser überhaupt nicht
mehr zu Gesicht bekommen.
Es war also ein Wagnis gewesen,
jetzt zu ihm vorzudringen, unangemeldet, es war nicht ganz leicht
gewesen, die vielen Wachen und Kämmerer zu passieren, und mit einer
etwas unbehaglichen Spannung wartete Lucia, wie er sich verhalten
werde. »Sie hier, meine Lucia?« begrüßte er sie, und schon an
seiner Stimme merkte sie, daß er eher angenehm als unangenehm
überrascht war. So war es auch. Wenn Domitian in den letzten
Monaten Auseinandersetzungen mit ihr vermieden hatte, dann deshalb,
weil er fürchtete, sie werde ihm Wahrheiten sagen, die zu hören er
nicht geneigt war. Diesmal indes vermutete er, sie komme wegen
Cornelia – sie war mit ihr verwandt und hatte sie gern, wie
jedermann in Rom sie gern hatte –, und in der Sache mit Cornelia
fühlte er sich sicher; sich darüber mit ihr auseinanderzusetzen,
darauf freute er sich geradezu.
Richtig begann sie denn auch, und
schon nach wenigen Sätzen, von Cornelia. Ohne Rücksicht auf den im
Winkel kauernden Silen sprach sie mit ihm, doch nicht ohne
Schmeichelei; denn ihr lag daran, Cornelia zu retten. »Ich nehme
an«, sagte sie, »Sie wollen den Senat schrecken. Sie wollen zeigen,
daß es niemand im Reich gibt, er sei so geachtet und beliebt, wie
er wolle, vor dem Sie zurückwichen. Außerdem bezwecken Sie
wahrscheinlich, dem Senat zu zeigen, daß Sie ein strengerer Hüter
römischer Tradition sind als wer immer vor Ihnen. Aber Sie sind zu
klug, um nicht selber zu wissen, daß hier Preis und Einsatz nicht
im rechten Verhältnis stehen. Was sie im besten Fall gewinnen
können, wiegt nicht auf, was Sie in jedem Fall verlieren müssen.
Schonen Sie Cornelia!« Domitian grinste. »Interessant diese Ihre
Auffassung«, sagte er, »interessant. Aber Sie haben sich erhitzt,
meine Lucia, ich fürchte, der Aufenthalt in diesem Glashaus bekommt
Ihnen nicht. Darf ich Ihnen einen Spaziergang durch den Garten
vorschlagen?«
Sie gingen durch eine
Platanenallee; sie waren jetzt allein, der Kaiser hatte mit einer
heftigen Bewegung alles ringsum verscheucht. »Ich weiß, daß
dergleichen Gerede über meine Absichten in Rom umgeht«, sagte er
beiläufig, »aber Sie, meine Lucia, sollten derlei billiges Zeug
nicht nachschwatzen. Der Fall liegt höchst einfach. Es geht um
Religion, um Moral, um nichts sonst. Ich nehme mein Amt als
Erzpriester ernst. Das Heiligtum der Vesta, ihr Herd, ist meinem
Schutze anvertraut. Ich kann verzeihen, wenn es um meinen eigenen
Herd geht« – er lächelte Lucia bösartig-höflich an –, »aber
unmöglich kann ich verzeihen, wenn es um die Reinheit des Herdes
geht, der die Makellosigkeit des Ganzen
versinnbildlicht.«
Er wollte in einen Seitengang
einbiegen, sie aber zog es vor, die Platanenallee zurückzugehen,
und er folgte gehorsam. »Merken Sie nicht«, fragte sie, »daß Sie,
sagen wir, widerspruchsvoll handeln? Ein Mann, der ein Leben führt
wie Sie – man erzählt sich, daß Sie es jüngst mit mehreren Frauen
getrieben haben in Gegenwart des blinden Messalin, den Blinden
hetzend und höhnend, daß er errate, wen, wer und wie –, ein Mann,
der ein solches Leben führt, wirkt sonderbar, wenn er den Richter
spielt über die Vestalin Cornelia.«
»Und abermals«, sagte sanft
Domitian, »muß ich Ihnen raten, teure Lucia, sich so wohlfeiles
Gefasel meiner Senatoren nicht zu eigen zu machen. Niemand weiß
besser als Sie, daß ein Unterschied ist zwischen Domitian, dem
Privatmann, der sich eine seiner seltenen leeren Stunden mit
Vergnügen anfüllt, und dem Herrn und Gott Domitian, dem Zensor, von
den Göttern eingesetzt zum Richter über Sitte, Wandel und Tradition
des Reichs. Nicht ich verfolge Cornelia, ich liebe sie weder, noch
hasse ich sie, sie ist mir vollkommen gleichgültig. Die
Staatsreligion verfolgt sie, das Imperium, Rom, dessen reine Flamme
sie zu hüten hat. Sie müssen das begreifen, meine Lucia, und ich
weiß, Sie begreifen es. Es sind nun einmal Unterschiede festgesetzt
vom Schicksal und von den Göttern. Nicht alles, was ein glattes
Gesicht und einen Schoß hat, ist gleich. Eine Frau, die römisches
Bürgerrecht hat, eine mater familias, und gar eine Vestalin, ist
etwas anderes als die übrigen Weiber der Welt. Diese übrigen Weiber
mögen tun und lassen, was sie wollen, mögen herumhuren wie Fliegen
in der Sonne, mögen sich bespringen lassen, wann und von wem sie
belieben. Sie existieren nur vom Gürtel an abwärts. Eine römische
Bürgerin aber und gar eine Vestalin existiert nur vom Gürtel an
aufwärts. Man verwische nicht die Unterschiede, man vertausche
nicht die Maße, man fälsche nicht die Gewichte. Der Privatmann
Domitian mag meinethalb gemessen werden mit dem Maß, mit dem man
einen kappadokischen Lastträger mißt, aber ich verwahre mich
dagegen, ich verbiete es, daß man den Zeitvertreib meiner leeren
Stunden zusam menwirft mit den Geschäften des Gottes Domitian.« Nun
waren sie gleichwohl in den Seitengang eingetaucht. »Ich danke
Ihnen«, erwiderte Lucia, »für Ihre lichtvollen Belehrungen. Mich
wundert nur eines: daß Sie nämlich nicht
auch den römischen Bürgerinnen zugestehen, was Sie sich selber
zugestehen. Warum darf nicht auch eine römische Bürgerin
unterscheiden zwischen dem Zeitvertreib ihrer leeren Stunden und
den Geschäften, die sie als römische Bürgerin verrichtet? Warum
darf nicht auch sie sich spalten, wie Sie es tun, und bald die
römische Bürgerin sein, existierend nur vom Gürtel an aufwärts, und
bald das Weibchen wie die übrigen?«
Darauf ging Domitian nicht ein.
»Begreif mich doch, meine Lucia!« bat er. »Es ist wirklich das
Pflichtbewußtsein des Fürsten, des Erzpriesters, und nichts sonst,
was diese Cornelia verurteilt. Ich will dieser Gesellschaft, diesem
Adel, der verkommen ist durch eine Reihe schlechter Herrscher, den
Sinn wieder öffnen für die Strenge, die Einfachheit und das
Pflichtgefühl der Altvordern. Ich will dieses Volk zurückführen zur
Religion, zur Familie, zu den Tugenden, welche die Gegenwart
sichern und die Zukunft gewährleisten. Mit größerm Recht als von
der Epoche jenes Augustus soll man vom Zeitalter des Domitian sagen
können: ›Nicht schändet Unzucht das reine Haus. Austrieb Sitte und
Recht das Laster, die Geilheit. Ehre gebührt den Frauen; denn
gleich sehn sich Gatte und Kind. Und nicht hinter der Schuld, neben
ihr her geht die Strafe.‹« Etwas pathetisch mit seiner scharfen,
hohen Stimme deklamierte er die edlen Verse des Horaz.
Da aber hielt sich Lucia nicht
länger, ihr dunkles, klingendes Lachen schlug sie auf. »Verzeih«,
antwortete sie, »ich glaube dir, daß du es ehrlich meinst. Aber die
Verse klingen zu komisch im Munde des Mannes, welcher Julias
Liebster war und der Mann der Lucia ist.« Und da sich Domitian tief
rötete, fuhr sie fort: »Ich will dich nicht kränken, ich bin, beim
Herkules, nicht hergekommen, um dich zu kränken. Aber glaubst du
wirklich, du kannst es durch Verwaltungsmaßnahmen erreichen, daß
mehr Tugend in Rom sei? Dieses Rom, wie es nun einmal ist, diese
unsere Zeit, wie sie nun einmal geworden ist, die wirkliche Epoche
des Domitian, glaubst du, du kannst sie zurückdrehen und zu der
Epoche machen, die du haben willst? Da müßtest du ganz Rom
einreißen und drei Viertel seiner Institutionen verbieten. Willst
du die Huren abschaffen? Willst du die Theater verbieten, die
Komödien von den gehörnten Ehegatten? Willst du aus den Fresken der
Häuser die Liebesabenteuer der Götter herauskratzen lassen? Glaubst
du, du erreichst wirklich etwas, wenn du Cornelia begräbst? Ich
weiß nicht, was du ihr nachweisen kannst; aber das weiß ich, meine
Kusine Cornelia, was immer sie getan haben mag, hat im kleinen
Finger mehr Keuschheit als du und ich zusammen. Wenn Cornelia
vorübergeht, dann spürt das Volk, was Keuschheit ist. Wenn es dich
sieht und wenn du noch so scharfe Gesetze erläßt, dann, fürchte
ich, spürt es das nicht.«
»Ich glaube nicht, daß du recht
hast«, erwiderte er und bemühte sich, seinen Zorn zu unterdrücken
und seine Stimme gehalten zu machen. »Aber sei dem, wie ihm wolle,
ich will deine Senatoren lehren, daß ihnen ihr Adel nicht nur
Privilegien gibt, sondern auch Pflichten auflegt. Gut, ich leiste
mir dies oder jenes Vergnügen; aber jemand, der mir so nahesteht
wie du, muß doch auch sehen, daß sich der Kaiser Domitian tausend
Lüste versagt, die ihm das Blut hitzen, und dafür tausend Lasten
auf sich nimmt. Glaubst du vielleicht, es war ein Spaß, in den
sarmatischen Feldzug zu gehn? Dich fröstelt schon hier unter der
Sonne Roms; du hättest dort bei den Sarmaten sein müssen, um zu
erleben, was Frost ist. Und du hättest diese Barbaren sehen müssen,
mit denen wir zu tun hatten. Wenn man die Leichen dieser Burschen
auf den Schlachtfeldern sah, wenn man sich die Gefangenen
anschaute, die eingebracht wurden, dann überlief es einem bei dem
Gedanken, welche Gefahr man überstanden hatte. Man mußte ein festes
Herz haben, um sie lebendig anrennen zu sehen, diese ungeschlachten
Halbmenschen, zu Zehntausenden, mit ihren verfluchten Pfeilen.
Meine Liebe, glaubst du, ich wäre nicht lieber mit dir im Bett
gelegen, als auf unsicherm, rutschendem Pferd über die vereisten
Schlachtfelder der Sarmaten zu traben? Und wenn ich das von mir
verlange, dann verlange ich einiges auch von meinen Senatoren.« Er
blieb stehen; unter den zierlich verschnittenen Bäumen stand er,
groß anzusehen, und hielt eine Rede. »Die Herren machen sich’s
bequem. Ihr Dienst am Staat besteht darin, daß sie die Provinzen
untereinander auslosen und sie reihum ausräubern. Aber so einfach
werden sie’s bei mir nicht mehr lange haben. Wer dem Ersten Adel
angehört, der hat seine Kraft nicht zu vergeuden in
Liebesabenteuern oder in weibischen Träumen und Betrachtungen über
den Aberglauben der Minäer oder dergleichen, der hat seine Kraft
aufzusparen für den Staat. Ein Mensch kann nur eines: dem Staat dienen oder den eigenen Lüsten
frönen. Nur ein Gott wie ich kann beides vereinen. Eine
Gesellschaft, die sich gehen und treiben läßt wie der Adel Roms,
hat schließlich keine Beamten und keine Soldaten mehr, sondern nur
Lüstlinge. Das Reich verdirbt, wenn sein Adel weiter so
verkommt.«
Lucias kühnes, helles Antlitz
zeigte jenen spöttischen Ausdruck, gegen den er nicht ankam. »Und
darum also läßt du Cornelia umbringen?« fragte sie. »Auch darum«,
antwortete er, aber es klang nicht streitbar. Mit sanfter Gewalt
führte er sie fort aus dem hellen Teil des Gartens zu einer Grotte,
zog sie hinein in den Schatten, fort aus dem lichten
Vorfrühlingstag. »Ich will dir etwas sagen, Lucia«, vertraute er
ihr an, fast flüsternd. »Diese östlichen Götter, dieser Jahve und
der Gott der Minäer, hassen mich. Sie sind gefährlich, und wenn ich
mich nicht beizeiten vorsehe, dann kriegen sie mich unter. Wenn ich
gegen sie aufkommen will, dann brauche ich den ganzen Beistand
unserer Götter. Ich darf mir Vesta nicht zur Feindin machen. Ich
darf kein Verbrechen an ihr ungesühnt lassen. Wenn ich heuer die
Säkularspiele feiern will, dann soll es in einem reinen Rom
geschehen. Und ich werde den Weg weitergehen, den ich beschritten
habe. Die Herren vom Senat, deren Meinungen du so gern wiedergibst,
haben in meinen ersten Jahren gesagt, ich sei ein strenger Kaiser.
Seitdem ich die Verschwörung des Saturnin ahndete, haben sie
gesagt, ich sei grausam. Sie werden lange nach einem Wort suchen
müssen, um auszudrücken, wofür sie mich halten, wenn sie erst meine
späteren Jahre erleben. Aber das wird mich nicht von meinem Wege
abbringen. Er ist Schritt für Schritt bedacht. Ich reiße das
Unkraut aus. Ich halte Musterung unter den Senatoren. Ich zertrete
den östlichen Unfug. Ich werde es gewissen Leute verleiden, mit dem
östlichen Aberglauben zu liebäugeln. Jupiter hat einen guten Diener
an mir.«
Er sagte das alles leise, doch es
strahlte von ihm eine solche Entschlossenheit aus, ein so
dunkel-heftiger Glaube an seine Bestimmung, daß ihn Lucia
keineswegs lächerlich fand. Sie strebte aus der Grotte hinaus ins
Licht, er mußte ihr wohl oder übel folgen. »Schon gut, Wäuchlein,
schon gut!« sagte sie, strich ihm mit ihrer großen Hand leicht über
das immer spärlicher werdende Haar, und, mit einer Stimme zwischen
Anerkennung und Ironie, gab sie zu: »In manchem hast du vielleicht
sogar recht. Aber bestimmt nicht recht hast du mit deinem Vorhaben
gegen Cornelia. Cornelia ist die beliebteste Frau im Reich. Das
Volk, das dich liebt, wird dich sehr viel weniger lieben, wenn du
wirklich das Urteil gegen sie vollstrecken willst. Tu es nicht! Du
wirst es zu büßen haben.« Mit dem Schuh, unwillkürlich, versuchte
sie die winterlich harte Erde zu lockern, es gelang nicht. Ein
kleiner Schauer überkam sie. Lebenden Leibes unter diese Erde
müssen, und Strohgeflecht darüber!
Er lächelte sein hochfahrendes,
finsteres Lächeln. »Haben Sie keine Angst, meine Lucia«, sagte er.
»Mein Volk wird mich weiter lieben. Wollen wir wetten? Darf ich Sie
daran erinnern, wenn sich zeigt, daß ich recht habe?«
Die Senatoren begaben sich höchst unlustig zu
der Sitzung, in welcher sie das Urteil fällen sollten über die
Vestalin Cornelia und über ihren Mittäter Crispin, welche beide das
Kollegium der Fünfzehn für schuldig befunden hatte. Es widerstrebte
ihnen, den zweifelhaften Spruch zu bestätigen und den barbarischen
Akt, den der Kaiser offenbar vornehmen lassen wollte, mit ihrer
Autorität zu decken. Allein Domitian hatte verbreiten lassen, er
werde der Sitzung beiwohnen, und diese deutliche Warnung bewog die
Senatoren, sich fast ohne Ausnahme einzufinden.
Auch das Volk schien sehr
mißvergnügt. Eine große Menge umlagerte die Kurie, wo die Sitzung
stattfinden sollte, und selbst den Kaiser begrüßte nicht Zuruf und
Verehrung wie sonst, sondern um ihn war nichts als erregtes
Geflüster oder feindseliges Schweigen.
Von Eröffnung der Sitzung an war
der Senat ungebärdig. Als erster verlangte Helvid das Wort. Er
habe, erklärte er, den Berufenen Vätern eine Mitteilung zu machen,
die den gesamten Aspekt der Angelegenheit verändere, über die zu
beraten sie zusammengekommen seien. Es erübrige sich, ein Urteil zu
fällen über den Hofmarschall Crispin, Minister des Kaisers. Es
liege sichere Meldung vor, der Mann habe sich dem Urteil des Senats
entzogen, er habe sich die Adern geöffnet, er sei tot.
Es gelang dem amtierenden Konsul
nicht, die Sitzung ordnungsgemäß weiterzuführen. Die Senatoren
waren aufgesprungen, sie sprachen und schrien durcheinander. Einen
besseren Vorwand, die unwillkommene Aufgabe abzulehnen, hätte man
nicht geben können. Der einzige Zeuge, der gegen die Vestalin
Cornelia hatte angeführt werden können, war verschwunden, der
Schuldspruch des Priestergerichts war erschüttert, wie sollte man
da ein Urteil fällen? Nur mit größter Mühe stellte der Konsul die
Ruhe wieder her.
Messalin versuchte zu sänftigen.
Mit geübter Rhetorik führte er aus, ein stärkeres Eingeständnis als
dieser Selbstmord lasse sich schwer vorstellen, und gerade nachdem
sich einer der Schuldigen der Ahndung entzogen habe, müsse man, um
den Zorn der Göttin zu beschwichtigen, die andere um so strenger
bestrafen vor den Augen der Stadt und der Welt. Aber seine Rede
verfing nicht. Die Unruhe war nur gewachsen. Von außen her – die
Türen mußten nach der Vorschrift des Gesetzes offenbleiben, damit
das Volk den Beratungen folgen könne – hörte man die Debatten und
die aufgebrachten Rufe der Menge, und innerhalb und außerhalb des
Senats eiferte man, wenn jemand sich an der Göttin versündigt habe,
dann bestimmt nur dieser Crispin, der jetzt auf eine so
verhältnismäßig glimpfliche und dem Kaiser willkommene Art
gestorben war.
In der Kurie mittlerweile
erwiderte dem Messalin der Senator Helvid. Es sei unverständlich,
erklärte er, daß das Kollegium der Fünfzehn nicht durch schärfere
Haft und Bewachung den Selbstmord des Crispin verhindert habe.
Erschreckt ob einer so kühnen Sprache sahen die Senatoren auf den
Kaiser. Der saß da, hochroten Gesichtes, wild an der Oberlippe
saugend; er war ergrimmt über diese frechen Senatoren und über sich
selber, er hatte den Crispin schonen und ihm den Selbstmord
ermöglichen wollen, hatte aber wie manchmal in derlei Fällen, um
sich vor sich selber zu decken, halbe Weisungen gegeben. Helvid kam
zu seinem Schluß. Es sei, fand er, nach diesem seltsamen Tod des
Crispin Pflicht des Senats, die Sache der Vestalin Cornelia
zurückzuverweisen an das Kollegium der Fünfzehn, auf daß es sie
nochmals überprüfe.
Nach ihm nahm Priscus das Wort,
und nach der bitteren und empörten Rede des Helvid wirkte die
Sachlichkeit des großen Juristen doppelt überzeugend. Es lägen,
führte er mit seiner hellen, schneidend klaren Stimme aus,
Präzedenzfälle nicht vor. Dem Senat sei der Fall unterbreitet
worden als Prozeßsache gegen den Hofmarschall Crispin und Genossen.
Es gehe nicht an, nun auf einmal die Sache der Vestalin Cornelia
von der Hauptsache abzutrennen. Dazu bedürfe es einer neuen
Untersuchung und einer neuen Weisung des Priestergerichts. Im
übrigen müsse er gestehen, daß er, bei aller Ehrfurcht vor dem
Spruch des Priestergerichts, nur mit schweren Bedenken in diese
Sitzung gegangen sei. Ihm, als einem Manne, der mit tiefster
Ehrfurcht das Walten der Gottheit beobachte und Sinn und
Zusammenhang sehe in allen Geschehnissen, habe von Anfang an ein
schwerer Zweifel keine Ruhe gelassen. Wenn wirklich eine der
Vestalinnen solche Schuld auf sich geladen und dadurch den Zorn der
Götter auf Senat und Volk und auf das Haupt des Kaisers
herabgerufen hätte, wie dann, führte er mit tückischer Logik aus,
hätte der Herr und Gott Domitian die glorreichen Siege des
sarmatischen Feldzugs erringen können?
Dies war, in unangreifbare
Sachlichkeit gekleidet, die kaltbösartigste Verhöhnung des Kaisers,
die sich denken ließ, jedermann in Rom verstand sie und hatte seine
Freude daran, und den Priscus selber erfüllte tiefe Befriedigung,
als er mit seiner schneidenden, trompetenden Stimme diesen Satz in
die Versammlung und die Welt hineinrief. Domitian nahm ihn auf,
Domitian verstand ihn ganz, Domitians Herz setzte einen Augenblick
aus, aber Priscus selber sollte seine süße Rache bitter zu bezahlen
haben; denn von jetzt an stand es dem Kaiser fest, daß er, und sehr
bald, diesen Priscus dem Sabin und dem Aelius und den andern
nachschicken werde, die es gewagt hatten, ihn zu
verhöhnen.
Messalin meldete sich und machte
sich daran, den Priscus zu widerlegen und den empörten Senat in
seine Schranken zurückzuweisen. Müsse er die erlauchte Versammlung,
die mit solcher Eifersucht ihre Rechte wahre, daran erinnern, daß
sie im Begriff sei, einen gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen,
indem sie eingreifen wolle in die Befugnisse einer ebenso
erlauchten autonomen Körperschaft? Die Verfassung gebe dem Senat
nicht das Recht, die Gründe zu untersuchen, welche die Herren
Priester zu ihrem Spruche hätten veranlassen können. Den Senat
gingen diese Gründe nichts an. Spitzfindige, formal-juristische
Bedenken, wie sie der ehrenwerte Senator Priscus vorgebracht habe,
hätten vielleicht Gewicht vor profanen Richtern, sie seien aber
wesenlos und windig vor dem Kollegium der Fünfzehn, das seinen
Spruch fälle im Auftrag der Götter und von ihnen geleitet. Habe das
Fünfzehnerkollegium einmal befunden, so stehe sein Spruch für die
Ewigkeit, es gebe keine Appellation, und an ihnen, den Senatoren,
sei es lediglich, auf Grund dieses Befundes das Urteil zu
fällen.
Höchst widerstrebend machte sich
der Senat an die verhaßte Aufgabe. Eine ganze Reihe von Anträgen
wurde gestellt, alle dahin zielend, den Senat von der Verantwortung
zu befreien. Die Fassung des Urteils, die schließlich angenommen
wurde, schob denn auch geschickt die Verantwortung auf den Kaiser
zurück. Das Urteil bestimmte, es sei die Vestalin Cornelia so zu
bestrafen wie seinerzeit die Schwestern Oculatae. Diese aber waren
zwar verurteilt worden, den vom Gesetz vorgeschriebenen Tod zu
erleiden, den Tod also in der ummauerten Grube, gleichzeitig indes
waren sie der Milde des Kaisers empfohlen worden, und tatsächlich
hatte ihnen ja auch Domitian die Art des Sterbens freigestellt. Der
Senat also hatte es durch seinen zweideutigen Spruch geschickt
vermieden, selber Cornelia zu der grausamen Strafe zu verurteilen,
er hatte die Verantwortung über die Art ihres Todes auf den Kaiser
zurückgewälzt.
Ängstlich über die eigene
Kühnheit schauten die Senatoren auf Domitian. Wie es das Gesetz
vorschrieb, fragte der amtierende Konsul den Kaiser, ob er in
seiner Eigenschaft als höchster Richter und Erzpriester das Urteil
billige und seine Vollziehung anordne. Alle schauten gespannt auf
den großen, dunkelgeröteten Kopf des Kaisers. Norban, hinter ihm
sitzend, ein wenig tiefer, wandte das Gesicht zu ihm hinauf, um
seine Antwort entgegenzunehmen; doch er brauchte sie dem Senat
nicht erst zu verkünden. Alle sahen, daß der schwere, dunkelrote
Kopf ja nickte, noch bevor Norban ihn befragt hatte.
So verkündete denn der Konsul das
Urteil, die Krone billigte es, die Schreiber schrieben es, der
Henker rüstete sich.
Bisher war der Kaiser bei den Massen beliebt
gewesen. Auch die blutige Strenge, mit der er den Staatsstreich des
Saturnin bestraft, hatte Verständnis gefunden. Die Exekution an
Cornelia fand kein Verständnis. Die Römer murrten. Norban versuchte
einzugreifen. Die Römer ließen sich den Mund nicht verbieten, sie
schimpften und murrten immer lauter.
Man erzählte sich rührende Züge
von der Hinrichtung der Cornelia. Als sie die Stufen in ihr Grab
hinuntersteigen sollte, sei ihr Kleid hängengeblieben. Einer aus
dem Exekutivkommando habe ihr helfen wollen, es zu lösen; sie aber
habe seine Hand mit solchem Abscheu zurückgewiesen, daß jedermann
habe erkennen müssen, wie ihre reine Natur zurückscheute vor jeder
Berührung eines Mannes. So tief prägte sich dieser Bericht in das
Herz aller, daß zwei Wochen später, als bei einer Aufführung der
»Hekuba« des Euripides die Verse gesprochen wurden: »Sie blieb
bemüht, höchst würdevoll zu sterben«, das Publikum in langen,
demonstrativen Beifall ausbrach. Übrigens hieß es, Freunde – man
sprach von Lucia selber – hätten der Cornelia ein Fläschchen Giftes
zugesteckt, und ihre stille, reine Würde habe auch auf die Wächter
gewirkt, daß sie nicht gewagt hätten, es ihr zu nehmen. Zu alledem
kam, daß Crispin vor seinem Tod an verschiedene Freunde Briefe
gerichtet hatte des Inhalts, er sterbe schuldlos. Abschriften
dieser Briefe zirkulierten im ganzen Reich. Kein Mensch mehr
glaubte an eine Schuld der Cornelia, der Kaiser galt als sinnlos
wütender Tyrann.
Von Tag zu Tag mehr schien es,
daß Lucia recht und daß der Kaiser das Urteil gegen Cornelia mit
seiner Popularität zu bezahlen hatte. Bisher waren die Massen den
oppositionellen Senatoren kalt, beinahe feindselig
gegenübergestanden. Jetzt begrüßte das Volk die Damen Fannia und
Gratilla, wo immer sie erschienen, mit Sympathie. Ein Stück wurde
aufgeführt, »Paris und Önone«, das voll war von Anspielungen auf
die Beziehungen des Kaisers zu Lucia und zu Julia, und fand
ungeheuern Erfolg. Auf der Straße sprachen Wildfremde den Senator
Priscus an, er möge doch die Rede, die er im Senat für Cornelia
gehalten, veröffentlichen.
So weit zwar wagte sich Priscus
nicht vor. Wohl aber machte er sich jetzt daran, das Versprechen
einzulösen, das er damals der alten Fannia gegeben hatte, seinen
Grimm nicht länger einzusperren und sein »Leben des Paetus« zu
verbreiten. Er überreichte das vollendete Werk der Fannia, für die
er es geschrieben, und ließ es zu, daß sie das kleine Buch
weitergab. Bald zirkulierten Abschriften im ganzen Reich.
Dargestellt aber war in diesem
Buch in schöner Klarheit das Leben des Republikaners Paetus. Wie
dieser in altrömischer Strenge aufgewachsene Mann, als die Tyrannei
des Nero immer unerträglicher wurde, sich, um seine Gesinnung zu
bekunden, der Teilnahme an den Sitzungen des Senats enthielt. Wie
er zwar schwieg, schwieg, schwieg, wie indes sein ganzes Wesen
seinen tiefen Unmut über den Lauf der öffentlichen Angelegenheiten
bekundete. Wie ihn schließlich Nero anklagen und verurteilen ließ.
Wie er sich gleichmütig, ja fröhlich darüber, daß er in diesem
heruntergekommenen Rom nicht länger leben müsse, die Adern öffnete
und stoischen Mutes starb. Siebenundzwanzig Jahre war das nun her.
Kein leisestes Wort sagte Priscus in seiner Biographie gegen den
Kaiser Domitian, er beschränkte sich vielmehr mit vorbildlicher
Sachlichkeit auf eine exakte Darstellung des Lebens seines Helden,
die Daten verwertend, die er sich von Fannia, der Tochter des
Paetus, hatte geben lassen. Dennoch und gerade durch seine
Sachlichkeit wurde das Buch zu einer einzigen, Ungeheuern Anklage
gegen Domitian, und als solche auch wurde es gelesen und
verstanden.
Waren derartige Angriffe die
Wagnisse einzelner, so ging bald darauf der Senat in seiner
Gesamtheit zum offenen Kampf gegen den Kaiser über. Dies geschah
anläßlich des Falles des Gouverneurs Ligarius.
Diesem Ligarius, einem seiner
Günstlinge, hatte Domitian die Verwaltung der Provinz Spanien
übertragen, und der Mann hatte sein Amt dazu benutzt, das Land
rücksichtslos auszuplündern. Nun waren Vertreter der Provinz nach
Rom gekommen, um beim Senat gegen ihren unehrlichen Gouverneur
Klage zu führen. Früher, bevor das Ansehen Domitians durch die
Hinrichtung der Cornelia erschüttert war, hätte der Senat einen
solchen Prozeß gegen einen Günstling des Kaisers kaum zugelassen.
Jetzt, da er seine Macht täglich wachsen fühlte, zwang er nicht nur
dem Kaiser die Zustimmung zu diesem Prozeß ab, sondern rückte auch
die Angelegenheit ins hellste Licht.
Zum Sachwalter der Provinz
Spanien bestellte der Senat den Helvid. Der entfaltete seine ganze
wilde Beredsamkeit, der Senat folgte ihm und nahm fast jeden seiner
Beweisanträge an. Bis in die kleinsten Einzelheiten wurden die
Erpressungen erörtert, die Ligarius, Freund und Günstling des
Kaisers, an der unglücklichen Provinz Spanien verübt hatte. Voll
heimlichen Triumphes hörte der Senat, wie Ligarius sich mußte
überführen und mit den wüstesten Schmähungen überhäufen lassen. Als
die Beweisaufnahme geschlossen wurde, war es so gut wie gewiß, daß
der Senat in seiner nächsten Sitzung, die zwei Wochen später
stattfinden sollte, den Günstling des Kaisers nicht nur zum Ersatz
der geraubten Gelder und Güter verurteilen würde, sondern darüber
hinaus zur Konfiskation seines Vermögens und zur
Verbannung.
Dies war ein Schlag gegen
Domitian, wie ihn noch vor wenigen Monaten niemand für denkbar
gehalten hatte. Jetzt waren zwar im Staatsarchiv die Gesetzestafeln
hinterlegt, die« ihm mehr Befugnisse zusprachen, als sie jemals ein
Mann in seiner Hand vereinigt hatte seit Bestehen der Stadt, aber
Domitian wußte, er durfte es nicht wagen, von diesen Befug nissen
Gebrauch zu machen. Im Gegenteil, seit mehr als zwei Menschenaltern
hatte der Senat nicht mehr gewagt, dem Herrscher so viel Trotz
entgegenzustellen, wie es jetzt dieser sein Senat tat.
Im Treibhaus in Alba lag er,
ausgestreckt auf dem Ruhebett, das er sich dort hatte aufstellen
lassen. Er überdachte, was geschehen war und wie das hatte
geschehen können. Hat er sich überhoben? Hat Lucia recht gehabt?
Sie hat nicht. Er muß nur die Kraft finden, sich zu zähmen, nicht
zu früh zuzuschlagen, nicht zur Unzeit zuzuschlagen, er muß die
Kraft aufbringen, zu warten. Und das kann er. Er hat sich im Warten
geübt. Es ist ein weiter Weg gewesen von seiner bittern, armseligen
Jugend bis heute.
Viel kann man erreichen mit
Geduld. Viele Gewächse kann man zwingen, den Weg zu wachsen, den
man ihnen vorschreibt. Was sich nicht fügen will, schneidet man
weg, tilgt man aus. Im Augenblick muß er sich bescheiden, aber der
Tag wird kommen, da er austilgen kann. Er weiß sich in
Übereinstimmung mit der Gottheit. Lucia wird nicht auf die Dauer
recht behalten.
Woran lag es, daß man in Rom
nicht einsehen wollte, daß er gar nicht anders konnte als die
Cornelia verurteilen? Er war sich bewußt, daß die Schuld manches
Mannes, den er hatte verurteilen lassen, nicht über jedem Zweifel
feststand. Aber diese Cornelia war doch schuldig: warum wollte man
gerade an ihre Schuld nicht glauben? Es mußte möglich sein, die
erwiesene Schuld der Cornelia auch den blöden Augen seiner
ungläubigen Untertanen deutlich zu machen.
Er berief den Norban. Hatte der
nicht eine gewisse Melitta erwähnt, eine Freigelassene der
Vestalin, die Bescheid wußte um die Vorgänge beim Feste der Guten
Göttin? Wo war sie, diese Melitta? Was für ein unfähiger Mensch war
sein Polizeiminister, daß er diese Melitta hatte entwischen lassen,
daß er sie nicht zu seiner Verfügung gehalten hatte. Der Kaiser
beschimpfte den Norban mit wüsten, gemeinen Worten, dann wieder
schmeichelte er ihm und beschwor ihn, die verschwundene Melitta
beizubringen, daß man sie foltern und Geständnisse aus ihr
herausholen könne.
Norban blieb vor den
Beschwörungen des Kaisers so gleichmütig wie vor seinen
Beschimpfungen. Vierschrötig stand er da, der mächtige Kopf ruhte
auf den eckigen Schultern, grotesk fiel die schwarze Locke in die
niedrige Stirn, die Augen, bräunliche Augen eines treuen, doch
vielleicht nicht bis ins Letzte gezähmten Hundes, schauten auf den
Kaiser, spähend, dienstwillig und ein klein wenig überlegen. »Der
Herr und Gott Domitian weiß«, sagte er, »daß er sich auf seinen
Norban verlassen kann. Die Frevlerin Cornelia liegt, um einer
wohlbewiesenen Schuld willen zur Vergessenheit bestimmt, unter dem
Weidengeflecht. Ich werde Ihnen die Mittel geben, mein Herr und
Gott, auch den dummen Pöbel von dieser Schuld zu
überzeugen.«
Bald darauf wurde dem Decian, der sehr
zurückgezogen auf seinem Landgut bei Bajae lebte, ein unerwarteter
Besuch gemeldet, der Senator Messalin. Unbehaglich fragte sich
Decian, was wohl der unheimliche Mensch von ihm wolle, doch in
seinem Innern wußte er’s, sowie der Diener den Namen Messalin
nannte. Der Mann wollte Melitta.
Bald denn auch brachte der Blinde
die Rede auf die Vestalin Cornelia. »Welch ein Jammer«, klagte
Decian, »daß diese Frau hat hinuntermüssen!« Es war unvorsichtig,
daß er so sprach, aber er mußte es, es drängte ihn, sein Leid um
Cornelia zu bekennen.
»Wäre es nicht ein noch größerer
Jammer«, fragte Messalin, »wenn sie umsonst gestorben sein sollte?«
Da war man also bei dem Gegenstand, um dessentwillen der Mann
offenbar gekommen war. Decian beschloß, unter keinen Umständen die
tote Cornelia zu verraten; doch schon während er dieses Gelöbnis
tat, war in ihm die innere Gewißheit, daß er’s nicht halten
werde.
Es habe, führte unterdessen
Messalin aus, DDD viel Überwindung gekostet, den harten Spruch
vollziehen zu lassen. Nun aber bemühten sich gewisse sture
Republikaner, den Kaiser um den Erfolg seiner schwer errungenen
Härte und Cornelia um den Sinn ihres Todes zu bestehlen. Sie
verbreiteten, Cornelia sei schuldlos gestorben, und gefährdeten so
Ziel und Zweck des beispielhaft strengen Urteils, die Förderung der
Sitte und der Religion. Mit Trauer müsse jeder wahre Freund des
Reichs dieses ebenso törichte wie gottlose Treiben
mitansehen.
Decian wußte, es ging um sein
eigenes Leben. Trotzdem vergaß er für einen Augenblick seine Angst
und betrachtete den Blinden mit Neugier und Grauen. Mit so sanfter,
schmeichlerischer, teuflischer Logik also verstanden diese Leute
ihr Verbrechen ins Gegenteil zu drehen. Vielleicht taten sie es
sogar vor sich selber; zumindest jener Mann, in dessen Namen dieser
Messalin kam, glaubte das, was da vorgebracht wurde, sei die reine
Wahrheit. »Es ging nun einmal«, antwortete er tapfer, »von Cornelia
jenes Strahlen aus, mit dem die Götter nur ganz wenige begnaden,
und darum«, schloß er mit höflicher Zweideutigkeit, »wird es schwer
sein, ihren Tod sinnvoll erscheinen zu lassen.«
»Es gibt einen Mann«, erwiderte
Messalin, »der dem Herrn und Gott Domitian bei diesem Unternehmen
helfen könnte. Dieser Mann sind Sie, mein Decian.« Mit einer
leichten Handbewegung, als sähe er die gespielte Entrüstung und
Verwunderung auf dem Gesicht des andern, schnitt er ihm die
überflüssige Entgegnung ab und fuhr fort: »Wir wissen, wo sich die
Freigelassene Melitta befindet. Nur weil wir den Skandal um den
Fall der Cornelia nicht noch vermehren wollen, vermeiden wir es,
uns ihrer durch Gewalt zu bemächtigen. Es wäre vernünftig, mein
Decian, wenn Sie uns diese Melitta herausgäben. Sie würden sich
viel Leid, der Melitta mancherlei sehr Qualvolles und uns den
Skandal ersparen. Mir scheint, das wäre auch im Sinne unserer toten
Cornelia.«
Decian war sehr blaß geworden,
und es war ihm eine Genugtuung, daß der Blinde wenigstens diese
Blässe nicht wahrnehmen konnte. »Ich verstehe nicht, was Sie
wollen«, erwiderte er gehalten.
Messalin winkte mit einer
kleinen, höflichen Handbewegung ab. »Sie sind kein eisenstirniger
Narr wie gewisse Ihrer Freunde«, stellte er ihm vor. »DDD schätzt
Sie als einen Mann von Klugheit und von Welt. Wir verstehen es, daß
Sie Cornelia haben schützen wollen. Aber was versprechen Sie sich
davon, wenn Sie weiter Widerstand leisten? Glauben Sie, Sie können
DDD eine Ehrenerklärung für die tote Cornelia abzwingen? Bewähren
Sie Ihre oft bewährte Klugheit! Geben Sie Melitta heraus, reden Sie
ihr Vernunft zu, und Sie werden ziemlich viel gewonnen haben. Ich
will Ihnen nichts vormachen. Eine Anklage gegen Sie wegen Beihilfe
zur Verschleierung des Verbrechens der Cornelia wird auch dann
erfolgen müssen, wenn Sie uns Melitta herausgeben. Aber wie immer
der Senat urteilen wird, ich kann Ihnen versichern, Sie werden mit
einer leichten Verbannung davonkommen. Geben Sie mir jetzt keine
Antwort, mein Decian! Überlegen Sie sich gut, was ich Ihnen gesagt
habe! Ich bin überzeugt, Sie werden zu dem Schluß kommen, daß es
einen andern sinnvollen Ausweg nicht gibt. Lassen Sie es sich
angelegen sein, Melitta vor der Tortur und sich selber vor dem Tode
zu retten, und fangen Sie heute schon an, alles, was Sie an
beweglicher Habe besitzen, aus Italien hinauszuschaffen für die
zwei oder drei Jahre, die Sie außerhalb Italiens werden verbringen
müssen! Ich kann Ihnen versprechen, daß Norban wenig davon
wahrnehmen wird. Glauben Sie mir, der Rat, den ich Ihnen gebe, ist
der Rat eines Freundes!«
Decian, nachdem Messalin gegangen
war, sagte sich, daß dem Kaiser und seinen Räten die tote Cornelia
vermutlich gleichgültig sei und daß es ihnen nur darum gehe, die
verlorengegangene Popularität Domitians neu zu gewinnen. Sowie der
Senat nicht mehr darauf rechnen konnte, bei den breiten Massen
Unterstützung zu finden, mußte er die Positionen wieder aufgeben,
die er in seinem Kampf gegen den Kaiser in der letzten Zeit
errungen hatte. Das also wußte Decian genau. Durfte er, um sein
Leben zu retten, dem Kaiser helfen, den Senat von neuem zu
schwächen?
Er durfte es nicht. Aber was war
erreicht, wenn er sich opferte? Er konnte Melitta endgültig
verschwinden lassen. Was dann würden Messalin und Norban
unternehmen? Sie würden ihn festsetzen, sie würden ihm durch die
Folter Geständnisse abzwingen, wie und warum er Melitta habe
verschwinden lassen. Nichts wäre gewonnen. Der Sieg des Kaisers
über den Senat, der ja doch als letztes Ergebnis kommen mußte,
würde durch seine Opferung um einige Wochen verschoben, verhindert
würde er nicht.
Decian teilte dem Messalin mit,
wo sich Melitta befand.
Dem Decian wurde Schweigen
auferlegt, er durfte sein Landgut bei Bajae nicht verlassen, er
wurde überwacht. Die Freigelassene Melitta wurde in aller Eile und
Heimlichkeit aufgehoben.
Domitian lächelte tief und
befriedigt. »Ich habe gute Freunde«, sagte er zu Messalin, »ich
habe gute Freunde«, sagte er zu Norban, und in seinem engsten
Kabinettsrat, der jetzt nur mehr aus Regin, Marull, Annius Bassus
und Norban bestand, erklärte er: »Diese Angelegenheit bleibt
vorläufig unter uns. Wir erheben noch keine Anklage gegen Decian.
Wir lassen die Herren vom Senat ruhig weitermachen. Wir wollen
sehen, was sie alles noch vorzubringen haben gegen Ligarius und
gegen Uns.« Er lächelte stärker. »Lassen wir die Feinde des Reichs
immer tiefer in ihr Verderben rennen! Wir können warten.«
Die Herren von der senatorischen
Opposition also hatten keine Ahnung von dem, was sich ereignet
hatte, und daß der Kaiser jetzt in der Lage war, das viele Gerede
um die Schuld der gerichteten Vestalin, wann immer er wollte, zum
Schweigen zu bringen. Sie glaubten vielmehr, die Helvid und Priscus
und die übrigen Herren von der senatorischen Opposition, sie hätten
die Republik bereits wiederhergestellt, der Kaiser sei nun wirklich
zurückgedrängt auf den Platz, den die Verfassung ihm zuwies, er sei
nicht mehr als der Erste unter Gleichen, sie seien in Wahrheit
seine Peers. Strahlend herum ging der alte Helvid, sein
verwittertes Gesicht hatte sich verjüngt vor Stolz über den
errungenen Sieg. Er war der große Republikaner, der Anwalt der
guten Sache, er hatte die unterdrückten Spanier an Ligarius und dem
Kaiser gerächt, er sonnte sich in seinem Erfolg, er brüstete sich,
und mit ihm die andern Führer der senatorischen Sache, Priscus und
die Seinen und die Angehörigen des gerichteten Paetus, Fannia,
Gratilla. Übermorgen sollte der Senat das Urteil fällen über
Ligarius, den Aussauger der Provinz Spanien. Einige von den
Senatoren wünschten, daß man sich damit begnüge, den Ligarius zur
Vermögenskonfiskation und zur Verbannung zu verurteilen, aber sie,
die Führer der Opposition, werden nicht so bescheiden und gemäßigt
sein. Sie werden verlangen, daß man den Freund des Tyrannen, den
Verbrecher, zum Tod verurteile, und sie werden es
durchsetzen.
Die Minister Regin und Marull
wußten natürlich um dieses Gerede. Sie waren ältere Herren, die
unendlich viel erlebt hatten, sie hatten viele Freunde und Bekannte
eines unerwarteten Todes sterben sehen, und es hatte sich nicht
immer vermeiden lassen, daß sie mithalfen, diesen raschen Tod
herbeizuführen. Sie waren müde geworden, sie waren von Natur eher
gutmütig als bösartig, sie waren konziliant, und sie verspürten ein
leises Bedauern, als sich jetzt der alte Helvid anschickte, so
blind und wild in seinen Tod zu rennen. Auf die Dauer zu retten war
der Mann nicht, aber warum sollte er nicht noch ein paar Jahre oder
wenigstens Monate haben? Sie waren menschlich, sie wollten ihn
davon abhalten, seinen Untergang zu überstürzen.
Es war nichts Ungewöhnliches, daß
die beiden Herren, deren Liberalität auch die Gegner kannten – sie
nannten sie Laschheit –, mit diesen Gegnern mehr oder minder
offenherzige Gespräche führten, die freilich akademisch blieben.
Auch jetzt suchten Marull und Regin die Gelegenheit einer solchen
vertraulichen Aussprache. An dem Tag, bevor der Senat das Urteil in
der Sache des Ligarius fällen sollte, traf es sich, daß sie sich
mit Helvid, Priscus und Cornel auf die gewünschte Art
auseinandersetzen konnten.
»Sie haben Ihrem Spanien zum Sieg
verholfen, mein Helvid«, meinte Marull, »und den Ligarius gefällt.
Das ist sehr viel, dazu kann man Ihnen gratulieren. Aber was wollen
Sie eigentlich mehr? Wenn ein Mann wie unser Cornel so stürmisch
und jugendlich vorginge, das wäre verständlich. Aber ein Herr in
unserm Alter, das ist gegen die Natur.« Und Regin, auf seine
gemütliche Art, fügte hinzu: »Warum geben Sie sich eigentlich so
blutdürstig? Sie wissen doch genausogut wie wir, daß DDD im besten
Fall ein Urteil auf Vermögenskonfiskation und Verbannung bestätigen
könnte, aber nie ein Todesurteil. Ein solcher Antrag wäre also ein
reines Schaustück. Haben Sie das nötig? Sie kompromittieren nur
Ihren Sieg.«
»Ich will dem Senat und dem Volk
von Rom zeigen«, sagte finster Helvid, »daß dieses Regime sich
nicht scheut, die wichtigsten Ämter im Reich Verbrechern
anzuvertrauen.« – »Mein lieber Helvid«, fragte Regin, »ist das
nicht eine bedenkliche Verallgemeinerung? Es soll auch zu den
Zeiten, da der Senat unbeschränkt herrschte, ab und zu ein
Gouverneur wegen Unterschlagung verurteilt worden sein. Wir haben
in der Schule einiges darüber gelernt. Mir sind ein paar Reden in
Erinnerung über solche Gegenstände, Reden, ohne deren Vorbild
selbst Ihr ausgezeichnetes Plädoyer gegen Ligarius nicht hätte
gehalten werden können.« Und: »Wenn Sie ehrlich sein wollen«,
sekundierte Marull, »dann müssen Sie zugeben, daß gerade unter
diesem unserm Herrn und Gott Domitian die Verwaltung der Provinzen
sich verbessert hat. Schön, Spanien hat einen schlechten Mann
erwischt: aber schließlich hat das Reich neununddreißig Provinzen,
und es sind seit Menschengedenken unter keinem Herrscher so wenig
Klagen aus den Provinzen eingelaufen wie unter DDD. Nein, mein
Helvid, was Sie da machen wollen, Ihr Antrag auf die Todesstrafe,
das hat nichts mehr mit sachlicher Politik zu tun, das zielt nicht
mehr nur auf die Abstellung von Mißständen, das ist einfach eine
Demonstration gegen das Regime als solches.« Und wieder Regin:
»Reden Sie Ihrem Freunde zu, mein Priscus, und Sie, mein Cornel. Er
dient niemand, wenn er einen solchen Antrag stellt, uns nicht und
Ihnen nicht und sich selber nicht. Es kann nur Unheil daraus
entstehen.« Er sprach besonders ruhig, geradezu gemütlich. Trotzdem
hörten Priscus und Cornel die Warnung heraus.
Nicht aber vernahm sie Helvid,
der, noch berauscht von seinem Erfolg, nur mehr in großen Worten
dachte. »Natürlich«, sagte er unwirsch, »kämpfe ich nicht gegen den
Mann Ligarius als solchen; es ist mir gleichgültig, ob der verbannt
wird oder getötet. Wogegen ich kämpfe – und das wissen Sie ganz
genau –, das ist, daß Rom verkörpert werde durch einen einzelnen
Mann. Ich kämpfe für die Souveränität der senatorischen
Gerichtsbarkeit. Ich kämpfe für Roms Freiheit.« Das waren
gefährliche Worte, selbst jetzt, und der besonnene Cornel versuchte
abzulenken. »Sie halten eine Rede, mein Helvid«, sagte er, »Sie
sprechen nicht zum Thema.« Doch Regin beschwichtigte den Besorgten
durch eine kleine Handbewegung. »Keine Gefahr!« sagte er lächelnd.
Er wollte sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, seinesteils
einmal ein paar Worte zu diesem Thema Freiheit zu sagen, über
welches sich die Senatoren so gern in absurden Phrasen ergingen.
»Freiheit«, also wiederholte er das letzte Wort des Helvid, und mit
seiner hellen, fettigen Stimme definierte er: »Freiheit ist ein
senatorisches Vorurteil. Sie wünschen, daß Rom nicht durch einen
einzelnen Mann verkörpert werde, sondern durch die zweihundert
Familien des Senats, und das nennen Sie Freiheit. Setzen Sie einmal
den Fall, Sie erreichten Ihr Ziel hundertprozentig. Sie erreichten
mehr Macht für den Senat als für den Kaiser. Was, beim Herkules,
wäre dann gewonnen? Welche Art Freiheit? Worin bestünde sie, Ihre
Freiheit? In einem wüsten Durcheinander, in einem planlosen Hin und
Her der zweihundert sich bekämpfenden Familien, die sich
untereinander um die Provinzen, Privilegien und Monopole noch mehr
herumbalgen, vertragen und begaunern würden als jetzt. Wenn Sie
Ihrem Verstand folgen und nicht Ihrem Gefühl, dann müssen Sie
zugeben, daß eine solche Freiheit der Gesamtheit schlechter bekäme
als das planvolle Regiment eines einzelnen, das Sie abtun wollen
mit dem bequemen Schlagwort Despotie.«
Helvid wollte antworten, doch
Priscus hielt ihn zurück, er hatte selber zuviel darauf zu
erwidern. »Sie sagen wegwerfend ›Gefühl‹«, erwiderte er, und seine
schneidend klare Stimme stach seltsam ab von der hellen, fettigen
des Regin. »Sie vergessen, Sie wollen es nicht spüren, wie das
Gefühl, der Willkür eines einzelnen ausgesetzt zu sein, einen
bedrückt. Das Bewußtsein, meine Handlungen unterliegen dem Urteil
und dem Gewissen eines sorgfältig nach Verdienst erlesenen
Gremiums, ist wie frische Luft, das Gefühl, einem einzelnen
preisgegeben zu sein, ist wie Stickluft.« Und auch Cornel konnte
nicht mehr an sich halten, sondern, mit seiner dunkeln,
gewichtigen, drohenden Stimme, fügte er hinzu: »Freiheit ist kein
Vorurteil, mein Regin, Freiheit ist etwas sehr Bestimmtes,
Greifbares. Wenn ich mir überlegen muß, ob ich das, was ich zu
sagen habe, sagen darf, dann wird mein Leben enger, ich werde
ärmer, ich kann schließlich nicht mehr unbehindert denken, ich
zwinge mich gegen meinen Willen, nur mehr das ›Erlaubte‹ zu denken,
ich verkomme, ich sperre mich ein in tausend armselige Rücksichten
und Bedenklichkeiten, statt unbehindert ins Weite und Große zu
schauen, mein Gehirn verfettet. In der Knechtschaft atmet man:
leben kann man nur in der Freiheit.«
Jetzt aber wollte Helvid nicht
länger warten. »Der Kaiser«, wetterte er, »bemüht sich heiß darum,
Zucht und Tugend in Rom wieder einzubürgern. Er wütet mit Strafen,
die man seit anderthalb Jahrhunderten nicht mehr gekannt hat. Was
hat er erreicht? Als der Senat herrschte, das werden selbst Sie
nicht leugnen, gab es in Rom mehr Sitte, mehr Tugend, mehr Zucht.«
Und Priscus setzte hinzu: »Mehr Recht.« Cornel aber ergänzte,
abschließend: »Mehr Glück.« – »Worte, meine Herren«, sagte
gemütlich Regin, »nichts als große Worte. Glück! Sie verlangen von
einer Regierung, daß sie die Menschen glücklich mache? Damit
beweisen Sie nur, daß Sie zum Regieren nicht geeignet sind. Moral
verlangen Sie von einer Regierung, Tugend, Recht? Ich gebe Ihnen
zu, daß wir da viel bescheidener sind. Wir, Marull und ich, wir
halten eine Regierung für gut, wenn sie möglichst viele Ursachen
aus der Welt schafft, aus denen Unglück entstehen könnte,
Hungersnöte, Seuchen, Kriege, eine allzu ungleiche Verteilung der
Güter. Wenn ich wählen soll zwischen einem Regime und dem andern,
wenn ich werten soll, welches das bessere ist, dann schere ich mich
nicht um den Namen, dann ist es mir höchst gleichgültig, ob man es
als freiheitlich bezeichnet oder als despotisch, dann frage ich
einzig und allein: welches Regime gewährleistet bessere Planung,
bessere Ordnung, bessere Verwaltung, bessere Wirtschaft. Mehr von
einer Regierung zu verlangen, Recht oder Glück von ihr verlangen,
das heißt Milch von einem Huhn fordern. Geben Sie einer Bevölkerung
reichlich Brot und Zirkus, geben Sie ihr etwas Fleisch und Wein,
geben Sie ihr Richter und Steuerbeamte, die nicht allzu bestechlich
sind, und verhindern Sie, daß sich die Privilegierten allzu fett
machen: das andere, Recht und Zucht und Glück, das kommt dann von
selber. In Ihrem Innern wissen Sie genausogut wie ich, daß unter
Domitian auf den Kopf der Bevölkerung mehr Brot, mehr Schlaf und
mehr Vergnügen trifft, als das unter einer Senatsherrschaft möglich
wäre. Glauben Sie, daß die hundert Millionen Einwohner des Reichs
dieses Mehr an Brot und Schlaf und Vergnügen würden hergeben wollen
für Ihre ›Freiheit‹? Noch keine halbe Million unter diesen hundert
wünscht sich eine andere Regierungsform.«
Alle wollten erwidern. Marull
aber wurde der fruchtlosen Erörterung überdrüssig und sagte
abschließend: »Auf alle Fälle, mein Helvid, rate ich Ihnen, freuen
Sie sich Ihres Triumphes über Ligarius, fordern Sie die Götter
nicht heraus und geben Sie sich zufrieden!« Und: »Ich glaube, das
ist ein guter Rat«, sagte trocken, gemütlich und dennoch sehr
eindringlich Claudius Regin.
Die drei Senatoren waren ehrlich
entrüstet über den Zynismus der beiden Minister, aber sie kannten
sie gut genug, um zu wissen, daß die Warnung ehrlich gemeint war:
Priscus und Cornel redeten denn auch dem draufgängerischen Alten
zu, er möge sich mäßigen und sich mit der Verbannung des Ligarius
begnügen. Dies war sehr viel mehr, als man noch vor einem halben
Jahr zu hoffen gewagt hatte. Volksstimmungen verflogen, man durfte
den Kaiser nicht allzusehr reizen, schließlich stand hinter ihm die
Armee, man war rasch und kühn und sehr erfolgreich vorgestoßen, es
war angebracht, Atem zu holen. Doch Helvid hatte sich verrannt in
seinen Plan. Er hatte so vielen davon erzählt, daß er sich nicht
mit der Verbannung des Ligarius begnügen, daß er seinen Tod
beantragen werde: er konnte es seinem Stolz nicht abringen, jetzt
zurückzuweichen. Er beschloß, sein Vorhaben
durchzuführen.
Das tat er denn auch. Die Warnung
der Leute des Domitian machte ihn nur um so verbissener, und er
sprach wilder, heftiger, hinreißender als je. Selbst Cornel und
Priscus vergaßen ihre Bedenken, als er sprach. Es war eine große
Stunde. Den Atem an hielten die alten Republikaner, es leuchteten
ihre Augen, es schwindelte ihnen vor Glück, als Helvid, seine Sätze
großartig steigernd, die härteste Strafe, die das Gesetz vorsah,
für den Verbrecher Ligarius verlangte, den Tod, den Tod und
nochmals den Tod.
Seit langen Jahren, seitdem
Domitian die Herrschaft angetreten, war die Opposition im Senat so
gut wie verstummt. Jetzt, in diesen letzten Monaten, war sie auf
einmal wieder dagewesen, einen Sieg nach dem andern hatte sie
erfochten, jetzt gar wagte es einer von den Ihren, die Todesstrafe
zu fordern für einen Freund und Günstling des Kaisers. Waren die
Tage der Freiheit wiedergekommen? Die Rede des Helvid, dieser sein
Antrag war der stärkste Triumph der Opposition.
Er war auch ihr
letzter.
Dies zeigte sich sogleich, als
der Angeklagte dem Ankläger erwiderte. Bis jetzt hatte sich
Ligarius still und klein verhalten, wie es einem Manne ziemte, der
mit gutem Grund eines so schweren Vergehens bezichtigt worden war.
Man hatte erwartet, daß er also nach dieser Rede und nach diesem
Antrag zerschmettert sein werde, daß er demütig die Milde des
Senats erflehen werde. Statt dessen schien der Antrag des Helvid
ihn keineswegs niederzuschlagen, im Gegenteil, er lächelte, als
Helvid diesen Antrag vorbrachte, er leuchtete geradezu auf, ja es
war, als hätte er einen so übermäßig strengen Antrag herbeigesehnt.
Und schon aus seinen ersten Worten erhellte, daß er ganz sicher
war, er werde niemals die von Helvid geforderte Strafe erleiden
müssen, ob der Senat sie nun beschließe oder nicht. Seine Rede war,
und zwar schon von den ersten Worten an, keine Verteidigung,
sondern eine Anklage.
Was er sich habe zuschulden
kommen lassen, erklärte er, wisse die Stadt und der Erdkreis, er
habe es zugegeben, er habe sich bereit gezeigt, zu bereuen und die
Strafe auf sich zu nehmen, die der Senat ihm zuerkennen werde. Mit
aller Kraft aber wehre und verwahre er sich gegen Anträge wie den
des Senators Helvid. Noch sei er, Ligarius, Senator und ein Mann
konsularischen Ranges. Als solcher verteidige er die Würde des
Senats, die gefährdet werde durch derartig maßlose und aller
Vernunft bare Anträge wie den des Helvid. Aus einem solchen Antrag
spreche nicht mehr die berechtigte Empörung gegen einen Schuldigen,
sondern einzig und allein persönliche Gehässigkeit, eine wüste,
sinnlose, verbrecherische Feindschaft. Nun aber bestehe keinerlei
Feindschaft zwischen ihm und dem Helvid. Gegen wen also, gegen wen
allein könne sich diese Unverschämtheit richten? Zweifellos doch
nur gegen jene Persönlichkeit, die einer solchen erbärmlichen
Feindseligkeit am fernsten entrückt sein sollte, gegen den Herrn
und Gott Domitian. Ihn und nur ihn wolle Helvid in seiner, des
Ligarius, Person treffen. Der Antrag sei eine dreiste Provokation,
der Antrag sei ein Majestätsverbrechen, und wenn ihm, dem Ligarius,
nach der heutigen Sitzung und dem Urteilsspruch nicht mehr die
Möglichkeit gegeben sei, Anklage zu erheben gegen dieses
Majestätsverbrechen, so fordere er die Berufenen Väter, annoch
seine Kollegen, auf, die Schamlosigkeit des Helvid nicht auf sich
beruhen zu lassen, sondern die Würde des Senats und das Ansehen des
Reichs zu verteidigen und gegen Helvid Anklage zu erheben wegen
Majestätsverletzung.
Es war klar, daß Ligarius eine
solche Sprache nicht gewagt hätte, wenn er nicht sicher gewesen
wäre, er werde von den Räten des Kaisers gedeckt werden. Es war
klar, daß Domitian ein Mittel gefunden haben mußte, sich gegen den
Senat mit neuer Kraft zu wehren. Auf alle Fälle war der Kaiser
entschlossen, keine weitere Herausforderung von seiten des Senats
zu dulden; wahrscheinlich auch hatte er ein Mittel gefunden, die
Volksstimmung zu wenden. Wie immer, es war nicht geraten, sich noch
weiter vorzuwagen, man tat besser, sich vorzusehen, der Antrag des
Helvid wurde so gut wie einstimmig abgelehnt. Nicht einmal die
Anträge auf Vermögenskonfiskation und auf Verbannung wurden
angenommen. Ligarius, der Freund und Günstling des Kaisers, wurde
lediglich dazu verurteilt, die Beträge zu ersetzen, die er der
Provinz Spanien widerrechtlich entzogen hatte.
Bald denn auch zeigte sich, daß
die Senatoren die Rede des Ligarius richtig gedeutet hatten und daß
der Kaiser im Besitz von Zeugnissen war, geeignet, seine
Beliebtheit bei den Massen wiederherzustellen und den Senat in
seine alte Machtlosigkeit zurückzuverweisen.
Schon wenige Tage nach der
Urteilssprechung über den Ligarius wurde der Senat befaßt mit einer
Anklage gegen den Decian. Decian wurde bezichtigt, versucht zu
haben, das Verbrechen der abgeurteilten Vestalin Cornelia zu
verschleiern.
Der Kaiser selber wohnte der
Verhandlung des Senats bei.
Decian war nicht erschienen. An seiner Stelle
erklärte nach der Anklageerhebung sein Verteidiger: »Der Senator
Decian verzichtet auf Verteidigung. Ich bin hier eher Postbote als
Anwalt. Der Senator Decian teilt durch mich den Berufenen Vätern
mit, daß er sich des Verbrechens schuldig bekennt, dessen man ihn
verklagt.«
Ein einziger Antrag wurde
gestellt: Tod für den Schuldigen und Ächtung seines Andenkens.
Keine Gegenstimme wurde laut. Da griff Domitian selber ein. Er bat
die Berufenen Väter, Milde gegen den Reuigen und Geständigen walten
zu lassen. Es wurde denn auch nur auf Verbannung erkannt und auf
Konfiskation der in Italien befindlichen Güter des
Decian.
Während er sich entfernte, drohte
der Kaiser einer Gruppe von Senatoren, die sich um Helvid und
Priscus versammelt hatten, lächelnd und leutselig mit dem Finger:
»Sehen Sie, meine Herren, jetzt hat mich gar Ihr Freund Decian von
gewissen Beschuldigungen freigesprochen.«
Die Massen waren betroffen, als
bekannt wurde, daß ein um seiner Rechtlichkeit willen so
angesehener Mann wie Decian Zeugnis abgelegt hatte für den Kaiser
und gegen die Vestalin. Auch Melitta, die Freundin und
Freigelassene der Cornelia, hatte also gegen sie gezeugt. Folglich
hatte man wohl dem Domitian Unrecht getan. Schnell schlug die
Empörung gegen ihn in den alten Enthusiasmus um. Man bezichtigte
sich selber der Leichtgläubigkeit, und Verwünschungen wurden laut
gegen die Vestalin Cornelia, die das Reich und den guten, großen
Kaiser durch ihre Geilheit beinahe um die Hilfe der Götter gebracht
hatte. Gepriesen wurde Domitian, weil er mit so starker Hand
durchgegriffen, ohne Ansehen der Person, um die Göttin zu rächen.
Welche Überwindung mußte es den guten Kaiser gekostet haben, selbst
eine Cornelia vor Gericht zu stellen und das Odium einer solchen
Verurteilung auf sich zu nehmen! Was für einen großen Kaiser hatte
man! Schließlich war es an dem, daß die Verurteilung der Cornelia
dem Domitian eine Geschenkverteilung ersparte.
Nachdem Domitian so lange an sich gehalten,
genoß er jetzt in vollen Zügen seine Rache. In rascher Folge fanden
eine Reihe von Prozessen statt, die endlich jene Häupter der alten
Adelspartei wegrafften, an die sein Vater und Bruder und an die er
selber sich bisher noch nicht herangewagt hatten.
Die ersten, gegen die er Anklage
erheben ließ, waren die Senatoren Helvid und Priscus und die Damen
Fannia und Gratilla. Die Anklage lautete auf Majestätsverletzung.
Sie war schamlos zusammengeklittert. Man hatte das ganze Leben der
Angeklagten durchsucht, und alles, was sie getan, und alles, was
sie gelassen hatten, wurde ausgelegt als Beleidigung des Kaisers.
Jedes harmlose kleine Witzwort, das sich einer geleistet hatte,
wurde so lange gedreht und gewendet, bis es eine hochverräterische
Rede war. Dem vorsichtigen Priscus, der sich, um sich nicht zu
gefährden, lange Jahre in ländliche Abgeschiedenheit zurückgezogen
hatte, wurde gerade diese Vorsicht als Verbrechen ausgelegt; es sei
kränkend für den Kaiser, daß sich ein Mann von der Begabung und
Tatkraft des Priscus just unter seiner Herrschaft dem Staatsdienst
entziehe. Selbstverständlich wurde seine Biographie des Paetus als
aufrührerischer Hymnus auf einen Aufrührer, als verschleierte
Beleidigung des Kaisers angesehen. Ungestraft überhäuften die
Ankläger die Beklagten mit kalten und niedrigen Schmähungen. Der
Senat wagte nicht, dagegen aufzubegehren. Die Kurie, in der er
tagte, war umstellt von der Leibgarde des Kaisers. Es war seit
Gründung der Stadt das erstemal, daß die regierende Körperschaft
Beschlüsse fassen mußte unter der Drohung der Waffen.
Zwei Episoden dieses Prozesses
blieben besonders lange im Gedächtnis der Römer haften. Da war
einmal die Vernehmung der Fannia. Der Ankläger erklärte, es gehe
die Rede, Priscus habe seine aufrührerische Biographie des Paetus
auf ihren, der Fannia, Wunsch geschrieben, sie vor allem habe das
Werk verbreitet, und er fragte sie, ob das wahr sei. Alle wußten,
daß ein Ja sie ihr Vermögen kosten werde. »Ja«, erwiderte sie. Ob
sie, fragte der Ankläger weiter, dem Priscus auch Material für sein
Buch gegeben habe. Alle wußten, daß sie, wenn sie ein zweites Mal
ja sagte, im günstigsten Fall aus Rom verbannt, daß sie vielleicht
getötet werden würde. »Ja«, erwiderte sie. Ob ihre Schwägerin
Gratilla, die Schwester des Paetus, darum gewußt habe, wurde sie
weiter gefragt. »Nein«, antwortete sie. Auf diese drei schlichten,
unerschrockenen und verächtlichen Worte, auf diese beiden Ja und
auf dieses Nein beschränkte sich die Zeugnisablegung der Fannia,
die sich dem Senat und dem Volk von Rom tiefer einprägte als die
ausgezeichnete Rede des Anklägers.
Das zweite Geschehnis war das
folgende: Helvid, der sich verloren wußte, nutzte die letzte
Gelegenheit, die ihm gegeben war, noch einmal zu den Römern zu
sprechen, zu einer finstern und gewaltigen Drohrede gegen den
Kaiser, der der Rache Roms und der Götter nicht entgehen wird.
Lautlos hörte man zu. Der blinde Messalin aber erhob sich, sichern
Schrittes, als ob er sähe, ging er durch die Bänke auf Helvid zu,
um selber Hand an den Schmähsüchtigen zu legen. Da indes, es war
das erstemal, daß dem Blinden dies geschah, rissen ihn die andern
zurück, sie schrien ihm zu: »Dieser Mann ist hundertmal wertvoller
als du!«, sie beschimpften ihn, sie brachten ihn zu Fall.
Diese Zornesausbrüche
verhinderten aber nicht, daß die Berufenen Väter den Helvid und den
Priscus zum Tod, die Damen Fannia und Gratilla zur Verbannung, das
Buch des Priscus zur Verbrennung verurteilten.
Zwei Tage später wurde der
Holzstoß gerichtet für das Buch, in dem der zu richtende Priscus
das Leben des gerichteten Paetus beschrieben hatte. Die Verbrennung
fand statt am späten Abend. Die Flammen waren blaß, als sie sich
entzündeten, denn da war es noch Tageslicht, aber sie leuchteten
immer stärker mit der einfallenden Nacht, und immer lauter wurden
die Rufe des zuschauenden Pöbels. Dem Priscus war es anheimgegeben
worden, der Verbrennung zuzuschauen. Er tat es. Reglos hielt er den
runden, völlig kahlen Kopf, mit den tiefliegenden, kleinen Augen
starrte er in die Flamme, die sein Buch verzehrte. Die Exemplare,
die man für die Verbrennung ausgewählt hatte, waren auf Pergament
geschrieben, der alten Fannia war das kostbarste Material für
dieses Buch nicht kostbar genug gewesen, und das Pergament brannte
langsam und zäh, es sträubte sich gegen die Vernichtung. Priscus
war ein kühler, sachlicher Herr, er hatte oft gelächelt über die
Metaphern und Gleichnisse seines Freundes Helvid, dennoch verbanden
sich jetzt in seiner eigenen Vorstellung mancherlei pathetische
Gedanken und Bilder mit diesem Scheiterhaufen. Feuer erhellte,
Feuer reinigte, Feuer war ewig, Feuer verband Menschen und Götter
und machte in einem gewissen Sinne den Menschen mächtiger als die
Gottheit. Vielleicht, wahrscheinlich wird gerade durch dieses Feuer
sein Leben des Paetus länger dauern als das Regiment des Domitian
und der Despoten, die ihm folgen mochten; aber wahrscheinlich wird
ihm keiner mehr folgen.
Dieses war das letzte Feuer, das
Priscus sah, sein letzter Abend und seine letzte Nacht. Auch der
verwitterte, heftige Helvid büßte in dieser Nacht die Befriedigung,
die er gespürt hatte, als er durch seinen Antrag gegen den Ligarius
dem Kaiser seinen ganzen Haß und seine ganze Verachtung ins Gesicht
geschleudert hatte, und folgte seinem Vater in den Hades, gewaltsam
dorthin gestoßen wie dieser. Domitian aber durfte sich sagen, jetzt
werde der alte Vespasian mit ihm zufrieden sein.
Eine Woche später dann gingen die
verurteilten Frauen in die Verbannung. Es war eine wilde,
barbarische Gegend, in die man sie schickte. Die füllige, damenhaft
lässige Gratilla, gewohnt, drei Zofen um sich zu haben nur für ihre
Körperpflege, wird es nicht leicht haben, wenn sie nun allein mit
der alten, finsteren Fannia das kleine, rohe Haus bewohnen wird an
der kalten, unwirtlichen Küste der nordöstlichen See. Wohl nahm
Fannia die Lobschrift des Priscus auf ihren toten Gatten, diese
Ursache ihres Exils, mit ins Exil. Wohl standen, als die Frauen dem
Latinischen Tor zugingen, um die Stadt zu verlassen, sehr viele an
ihrem Weg, aber ihre getöteten Männer wurden davon nicht lebendig,
und der Pontus wurde dadurch nicht der Tiber.
An ihrem Wege stand auch der
Senator Cornel, der Schriftsteller. Er hatte nicht teilhaben wollen
am Tod seiner Freunde und war der Sitzung ferngeblieben, in der ihr
Prozeß verhandelt wurde. Das war kühn gewesen. Freilich nicht allzu
kühn, denn natürlich hatte er sich vorgesehen und drei Ärzte an
sein Lager gerufen, um Zeugen einer Lungenentzündung zu haben. Auch
jetzt hatte er sich, der bedachtsame Mann, lange gefragt, ob er
sich unter diejenigen mischen solle, die die Frauen begrüßten, da
sie ein letztes Mal vorübergingen. Er hatte sich überwunden, er
wagte es, da stand er, sich tadelnd ob der überflüssigen Kühnheit,
wartete, und als die Frauen kamen, streckte er den rechten Arm aus,
sie auf lange Zeit, vielleicht für immer, ein letztes Mal grüßend.
In seinem Herzen aber dachte er: Wie sinnlos und unnütz ist das
alles! Arme, törichte Freunde! Warum habt ihr nicht gewartet, ob
nicht der günstige Augenblick komme, diesen Kaiser zu fällen? Dann
hättet ihr, nach seinem Tode, viel klarer und heftiger sagen
können, was gegen ihn vorzubringen ist, als ihr es jetzt habt sagen
können. Arme, törichte, tote Freunde, die ihr nicht begriffen habt,
daß diese Zeit an uns eine einzige Forderung stellt: sie zu
überleben! Arme, törichte, verbannte Heldenweiber! Eure einzige
Chance ist, daß ich, der ich weniger töricht bin, euch vielleicht
doch noch einmal ein Denkmal setzen kann.
Nachdem Domitian die Stadt
gereinigt hatte von den Leuten, die seine und der Gottheit Feinde
waren, beging er seine Säkularfeier. Es waren seit der Gründung der
Stadt achthundertneunundvierzig Jahre vergangen, und es bedurfte
einer kühnen Chronologie, um zu errechnen, daß nun ein neues
Jahrhundert abgelaufen sei. Allein Domitian war ein kühner Mann, er
errechnete es. Zusammengerufen durch Herolde wurde das Volk. Das
Kollegium der Fünfzehn ließ die Mittel verteilen, wodurch ein jeder
sich reinigen sollte, Fackeln, Pech und Schwefel. Das Volk
seinerseits überbrachte dem Priesterkollegium die Erstlinge der
Saat und des Viehes für die Götter. Der Kaiser selber opferte auf
dem Marsfeld dem Jupiter und der Minerva, in seiner Gegenwart
richteten adelige Frauen Gebete an die Juno, eine lebendige Forelle
wurde der Erde geopfert, Chöre von Jünglingen und Jungfrauen sangen
Hymnen, und der Kaiser weihte dem Gotte Vulkan ein Gelände, auf daß
er die Stadt fürderhin gegen Feuer schütze.