Heiter, dankbaren Gemütes, trennte sich Domitian von seinen Göttern.
Und der Großdoktor wartete.
  Bald schon wird die gute Jahreszeit zu Ende sein, bald schon wird der Winter die Schiffahrt unmöglich machen. Wenn der Großdoktor zurück will nach seinem Judäa, muß er die Reise rüsten.
  Er rüstete sie nicht. Es kümmerte ihn nicht, daß sein langes Bleiben allgemach befremdlich wirkte, ja anstößig. Mit keinem Wort verriet er, wie sehr ihn das Verhalten des Kaisers wurmte, die freche Mißachtung, welche der Mann in seiner Person der Judenheit bezeigte. Fürstlich und liebenswürdig wie bisher hielt er hof.
  Die Sitte hätte verlangt, daß Josef dem Großdoktor einen Besuch abstattete. Johann von Gischala suchte ihn dazu zu bewegen; doch Josef blieb fern. Er hatte in Judäa erleben müssen, zu welcher Grausamkeit zuweilen diesen Erzpriester der Judenheit sein Amt zwang, und wiewohl sein Verstand diese Härte billigte, lehnte sein Herz sie ab.
  Gamaliel, die Kränkung nicht achtend, bat ihn zu sich.
  Der Großdoktor war in den sechs Jahren, die ihn Josef nicht gesehen hatte, sehr gealtert. In seinem kurzen, rotbraunen Bart, der viereckig, kantig geschnitten, Mund und Kinn mehr zur Schau stellte als versteckte, zeigten sich graue Haare, und wenn der stattliche, kräftige Herr sich nicht beobachtet glaubte, dann erschlaffte ihm wohl zuweilen der Körper, die gewölbten braunen Augen verloren ihr Strahlen, das starke Kinn seine Straffheit.
  Gamaliel nahm, als hätte sich inzwischen nichts ereignet, das Gespräch da auf, wo man es vor sechs Jahren beendet hatte. »Welch ein Jammer«, fing er an, »daß Sie damals meine Bitte zurückgewiesen haben, in Cäsarea und in Rom unsere Außenpolitik zu vertreten. Wir haben viele Köpfe von ungewöhnlicher Intelligenz unter uns, aber wenige, die einem Manne helfen können, der verurteilt ist, die Politik der Juden zu machen. Ich bin sehr allein, mein Josef.« – »Ich glaube«, antwortete Josef, »ich habe damals recht getan. Der Auftrag, mit dem Sie mich betrauen wollten, verlangte gleichzeitig Härte und Geschmeidigkeit. Ich habe nicht das eine noch das andere.«
  Gamaliel behandelte ihn auch diesmal wie einen Vertrauten. Mit keiner Silbe ließ er den Josef merken, daß dessen Ansehen in der Zwischenzeit abgenommen hatte. Vielmehr sprach er zu ihm wie zu einem gleichberechtigten Führer der Juden. Er warb um ihn, er tat geradezu, als habe er ihm Rechenschaft abzulegen über seine Politik.
  Er versuchte zu erweisen, daß der grausame Schnitt, mit dem er damals die Minäer von den Juden abgetrennt hatte, gerechtfertigt worden sei durch die Entwicklung. »Was wir brauchten«, erklärte er, »war Klarheit. Heute haben wir sie. Es gibt heute, außer dem Glauben an Jahve natürlich, ein einziges Kriterium, das darüber entscheidet, ob einer zu uns gehört oder nicht, ob einer Jude ist oder nicht. Dieses Kriterium ist der Glaube, daß der Messias erst in Zukunft kommen wird. Wer glaubt, daß der Messias bereits erschienen sei, wer also die Hoffnung aufgibt auf die Wiedergeburt Israels, wer auf die Wiedererrichtung Jerusalems und des Tempels verzichtet, mit einem solchen haben wir nichts gemein. Ich gestehe es Ihnen offen, mein Josef, ich halte dafür, die Leiden, mit denen Gott uns schlug, haben uns Gewinn gebracht. Die Prüfung hilft uns scheiden zwischen denen, die stark genug sind, weiter zu hoffen, und jenen Weichlingen, die sich versinken lassen in dem Opfer, das ihr gekreuzigter Messias für sie gebracht haben soll. Mögen die Minäer mit ihrem süßen und verlockenden Evangelium neue Anhänger gewinnen. Ich trauere keinem nach, der zu ihnen stößt, er war niemals ein Jude. Der Jahve der Minäer, dieser sogenannte Jahve der ganzen Welt, ist heute nicht zu retten, wir müssen auf ihn verzichten. Wir können keinen Gott brauchen, der sich verflüchtigt, sowie man ihn greifen, sowie man sich an ihn halten will. Durch die Bräuche und das Gesetz retten wir wenigstens den Jahve Israels.«
  Ach, Josef kannte dieses Leid. Er hatte es hundertmal erfahren, daß ein Mann, der Politik treiben will, seine Wahrheit mit vielen Lügen legieren muß. »Wer die Idee nicht nur verkündet«, hörte er denn auch den Großdoktor sagen, »wer für sie handelt, der muß ihr etwas abhandeln. Wer schreibt, braucht nur Kopf und Finger; wer in die Welt des Tuns gestellt ist, bedarf der Faust.« Nein, er, Josef, hat recht daran getan, wenn er sich
zurückgezogen hat in die Betrachtung.
  »Wir müssen unser Jabne retten!« kam unvermittelt, heftig der Großdoktor zur Sache. »Mag man über meine Politik denken, wie man will: aber Jabne müssen wir retten! Es wäre zu Ende mit den Juden, Jahve verschwände aus dieser Welt, wenn es die Einundsiebzig von Jabne nicht mehr gäbe. Ist das Gotteslästerung?« fragte er sich selber, erschreckt, daß er sein Inneres so freimütig vor Josef hingestellt hatte. »Aber in seinem Herzen, glaube ich, denkt jeder Jude so«, beruhigte er sich.
  Josef sah das offene, dunkelhäutige, energische Gesicht des Mannes. Der war bestätigt durch den Erfolg. Sein wilder Tatwille hatte es erreicht, Jahve mittels einer lächerlichen, kleinen Universität in Judäa festzuhalten. Der Großdoktor hatte Jerusalem durch sein Jabne ersetzt, den Tempel durch sein Lehrhaus, das Synhedrion durch sein Kollegium. Nun war eine neue Zuflucht da, und erst wer Jabne zerschlug, zerschlug das Judentum.
  Gamaliel sprach jetzt ganz beiläufig, im Ton leichten Gespräches. »Vor Ihnen, mein Josef«, meinte er, »darf ich das Kind ruhig beim Namen nennen. Natürlich ist das Lehrhaus und das Kollegium von Jabne im gleichen Grad eine politische Institution wie eine religiöse. Wir legen es geradezu darauf an, die Lehre mit Politik zu durchtränken. In unserer Eigenschaft als Kommentatoren der Lehre haben wir es nicht zur Kenntnis genommen, daß der Tempel zerstört ist und daß der Staat nicht mehr existiert. Wir führen die Debatten über die einzelnen Verrichtungen des Tempeldienstes mit der gleichen Beflissenheit wie die über die realen Verrichtungen unseres täglichen Lebens, und wir räumen ihnen den gleichen Platz ein. Wir diskutieren mit der gleichen Hitze Fragen aus jenen Gebieten der Rechtsprechung, die uns entzogen sind, wie Fragen aus dem Ritual, dessen Festsetzung uns erlaubt ist. Ja, es nehmen jene Fragen in unserem Lehrprogramm einen breiteren Raum ein als diese. Sollen die Römer versuchen, uns nachzuweisen, wo die Theorie endet und die praktische Rechtsprechung beginnt, wo die Theologie aufhört und die Politik beginnt! Was wir treiben, ist nichts als Theologie. Wenn es jemand vorzieht, statt der kaiserlichen Gerichte das Lehrhaus in Jabne anzurufen, ist das nicht seine private Angelegenheit? Ist es nicht unsere Pflicht, ihm Auskunft zu geben, wenn er uns fragt, wie sich seine Sache vom Standpunkt der Lehre aus ansieht? Und wenn er sich unserer Entscheidung fügt, sollen wir ihn abhalten? Wir können ihn weder dazu zwingen noch es ihm verbieten. Vielleicht, wahrscheinlich tut er es, um sein Gewissen zu beruhigen. Wir wissen es nicht, uns sind seine Motive nicht bekannt. Sie gehen uns nichts an. Auf keinen Fall haben unsere Entscheidungen etwas zu tun mit der Rechtsprechung des Senats und Volks von Rom. Wir beschränken uns auf unser Ressort, auf die Theologie, auf die Lehre, auf das Ritual.« Seine vollen Lippen, seine großen, auseinanderstehenden Zähne lächelten listig aus dem viereckigen Bart heraus.
  Dann aber verschwand dieses Lächeln, er sprang auf, seine Augen begannen zu glühen und: »Sagen Sie selber, Doktor Josef«, rief er, und seine Stimme belebte sich, »sagen Sie selber, ist es nicht großartig, ist es nicht ein Wunder, daß ein Volk, ein ganzes Volk, eine so ungeheure Disziplin übt? Daß es sich neben dem von einer fremden Macht eingesetzten Gerichtshof, dem es sich beugen muß, einen freiwilligen schafft, dem es sich beugt aus dem Drang seines Herzens? Daß es neben den hohen Steuern, die der Kaiser ihm auspreßt, freiwillige Steuern zahlt, um sich seinen Gott als Kaiser zu erhalten? Ist solche Selbstzucht nicht etwas Großes, Herrliches, Einmaliges? Ich finde unser jüdisches Volk, ich finde diesen wilden Drang, weiter zu existieren, sich nicht unterkriegen zu lassen, das Erhabenste, Wunderbarste, was es auf dieser arm und dunkel gewordenen Erde gibt.«
  Josef sah die Begeisterung des Mannes, sie riß ihn mit. Aber seine Vorbehalte riß sie nicht nieder. Es war eine gewaltige Leistung, die da vollbracht war, man hatte mit bewundernswertem Scharfsinn und höchster Energie ein Gefäß geschaffen, den zerrinnenden Geist zu halten. Aber nun war eben der Geist eingesperrt in ein Gefäß, das bedeutete Verengung, Verzicht, Preisgabe, und das Preisgegebene war Josef sehr teuer.
  »Die Römer also«, fuhr Gamaliel fort, wieder leicht und heiter, »wittern natürlich das Gefährliche, Aufrührerische, das hinter unserer Universität Jabne steckt. Allein«, und jetzt war sein ganzes Gesicht wieder eine einzige fröhliche List, »sie können es nicht herausfinden, worin eigentlich dieses Gefährliche besteht. Die Römer können die Welt nur begreifen, soweit sie sie in aktenmäßige Formeln pressen können; eine andere Art Geistigkeit kennen sie nicht, im Grunde sind sie Barbaren. Was wir gemacht haben, das aber entzieht sich jeder Möglichkeit, in eine juristische Formel gepreßt zu werden. Wir fügen uns in allem, wir sind dienstwillig, wir geben uns keine Blöße, wir haben selbst den Aufstand bekämpft. Kurz, wenn man das Recht, wenn man römisches Recht und römische Tradition nicht beugen will, kann man unserer Universität nicht an. Und fühlt sich nicht gerade dieser Kaiser Domitian als der von seinen Göttern eingesetzte Hüter römischen Rechtes und römischer Tradition?
  Nun aber sind da unsere Feinde, viele und mächtige Feinde. Da sind die Prinzen Sabin und Clemens und ihr ganzer Anhang, da ist der Kriegsminister Annius Bassus und Ihre frühere Gattin Dorion, da ist das ganze Minäergesindel. Alle diese unsere Feinde liegen dem Kaiser an, uns zu verbieten, und er möchte am liebsten diesen Bitten nachgeben. Das einzige also, was zwischen uns und der Vernichtung steht, ist des Kaisers Andacht zur Tradition, zu den römischen Prinzipien. So schwankt er zwischen seinem, nennen wir es, Rechtssinn und seinen von unsern Feinden geschürten Antipathien gegen uns, schwankt, wartet, hört uns einfach nicht an, läßt uns nicht vor. Von seinem Standpunkt aus gesehen, ist das das Beste, was er tun kann. Er vermeidet so das Odium, die Universität Jabne zu zerschlagen, gleichzeitig aber schwächt er, indem er mich hier warten läßt, unser Prestige, er macht Jahve und das Judentum lächerlich, er zermürbt unser Jabne.«
  Josef mußte zugeben, man konnte die Situation nicht klarer darstellen als dieser Großdoktor. Der sprach weiter. »Dabei wüßte ich«, sagte er nachdenklich, »wie ich diesen Kaiser zu nehmen hätte. Ich würde ihn bei seinem Traditionalismus zu packen suchen, bei seiner Religion. Denn, so seltsam es klingt, dieser Mann hat bestimmt Religion in sich; vieles, was er tut und nicht tut, läßt sich anders nicht erklären. Es mag eine ver zwickte, sehr heidnische Religion sein, sicher glaubt er an viele Baalim, aber es ist Religion, und bei dieser seiner Religion müßte man ansetzen. Man müßte sich der List bedienen, man müßte für ihn Jahve zu einem Baal machen, zu einem plumpen, gefährlichen Götzen, zu einer Gottheit, wie er sie versteht und vor der er Angst hat. Ist das auch wieder Gotteslästerung? Klingen Ihnen solche Worte verrucht, wenn Jahves Erzpriester sie spricht? Aber heute mehr als je muß der Erzpriester Politiker sein. Jedes Mittel ist recht, wenn es nur dazu hilft, daß das Volk Jahves diese seine dritte Wüste übersteht, daß es nicht darin umkommt. Am Leben muß es bleiben! Denn die Idee, denn Jahve kann nicht leben ohne sein Volk.«
  Jetzt erschrak Josef in seinem Herzen. Dieser letzte Satz war in Wahrheit Gotteslästerung und verrucht, gerade im Munde des Großdoktors. Auf so gefährliche Gipfel führte die Politik einen Mann, der nichts wollte als Gott und Gottes Dienst.
  »Ja, ich wüßte, wie ich diesen Kaiser zu nehmen hätte«, nahm Gamaliel seine Rede wieder auf. »Nur: er läßt mich ja nicht an sich heran. Ich gestehe es Ihnen«, brach er aus, ergrimmt, »manchmal brennt mir die Haut vor Warten und Ungeduld! Es ist nicht meinethalb, ich bin nicht eitel; ich kann Kränkungen einstecken. Aber es geht nicht um mich, es geht um Israel. Ich muß diese Zusammenkunft haben. Aber unsere Freunde, so guten Willens und so geschickt sie sind, diesmal versagen sie. Regin schafft es nicht, Marull schafft es nicht, Johann von Gischala schafft es nicht. Es gibt nur einen Mann, der es vielleicht noch schaffen könnte: Sie, mein Josef. Helfen Sie uns!«
  Josef, so angerufen, stand zwiespältigen Gefühles. Es war schwer, sich dem Werben des Großdoktors zu entziehen. Die bedenkenlose Politik des Mannes, der den Gott der ganzen Welt aufgegeben hatte, um dem Gotte Israels zu dienen, stieß Josef ebenso ab, wie sie ihn anzog. Was Gamaliel von ihm verlangte, das war Aktion, Betrieb, Geschäftigkeit, genau das, was Josef mit vollem Bedacht alle diese Jahre hindurch vermieden hatte. Wer handeln will, muß Kompromisse machen; wer handeln will, muß sein Gewissen schweigen heißen. Der Großdoktor war eingesetzt, Taten zu tun, das war ihm aufge geben, er hatte den Kopf dafür und die Hand. Er aber, der Josef, war stark nur in der Betrachtung, sein Amt war es, die Geschichte seines Volkes vor sich hinzustellen und ihr Sinn zu geben; sowie er indes selber handelnd eingriff, war er ein Stümper und Pfuscher.
  Was er, Josef, denkt, spricht, schreibt, das wird vielleicht in späten Zeiten den oder jenen die Ereignisse von heute so sehen lassen, wie er, Josef, sie gesehen haben will, es wird vielleicht die Handlungen sehr später Nachfahren bestimmen. Was hingegen dieser Gamaliel spricht und denkt, das verwandelt sich sogleich in Geschichte, das setzt sich heute und morgen um in die Geschicke der Menschen. Es riß den Josef, es zog ihn. Die Mauern, in die er sich so kunstvoll eingesperrt hatte, um seinen Frieden zu wahren, stürzten zusammen. Er versprach dem Großdoktor, was der von ihm verlangte.

Als sich Josef bei Lucia ansagte, beschied sie ihn schon zum nächsten Tag.
  Sie musterte ihn mit unverhohlenem Interesse. »Es sind wohl zwei Jahre«, sagte sie, »daß wir uns nicht gesehen haben; aber wenn ich Sie jetzt anschaue, ist mir, als wären es fünf. Bin ich so anders geworden während meiner Verbannung oder Sie? Ich bin enttäuscht, mein Josephus«, sagte sie freimütig. »Sie sind gealtert. Und verrucht schauen Sie auch nicht mehr aus.« Ein Lächeln ging über Josefs gekerbtes Gesicht; sie erinnerte sich also noch des Ausrufs, der ihr damals beim Anblick seiner entstehenden Büste entfahren war: »Sie sind ja ein Verruchter!« – »Was treiben Sie?« fuhr Lucia fort. »Man hat lange nichts mehr von Ihnen gehört. Sie kommen mir beschattet vor«, und sie betrachtete ihn mit Anteilnahme. »Was man Ihren Juden tut, ist ja wohl auch niederträchtig. Diese ekelhaften, kleinlichen Quälereien. Wenn meine Kusine Faustina schlecht geschlafen hat, dann pikt sie die Zofe, die sie frisiert, mit einer Nadel in den Arm oder in den Rücken. Das mag Faustina tun, aber so kann nicht das römische Reich eine ganze Nation behandeln. Wie immer, es tut mir leid, daß Sie niedergedrückt sind. Auch ich habe manches Böse erlebt in diesen letzten Jahren. Ich bereue es nicht, und ich möchte es nicht missen. Das Leben wäre zu grau ohne den Wechsel von Gut und Böse.«
  Ein wenig kränkte es den Josef, daß ihn Lucia so verändert fand. Jene erste Unterredung kam ihm in den Sinn, die er mit einer großen römischen Dame gehabt hatte, die Unterredung mit Poppäa, der Frau des Nero. Wie war damals sein ganzes Wesen Sammlung gewesen, Eifer für den Sieg, Zuversicht auf den Sieg. Es wurde etwas in ihm wach von jenem Josephus, er spannte sich schärfer an. »Das glaub ich Ihnen, Herrin Lucia«, sagte er belebt, »daß Sie ja sagen zum Bösen wie zum Guten«, und er schaute ihr mit unverlegener Aufmerksamkeit ins Gesicht, mit der gleichen huldigenden Frechheit wie damals der Poppäa.
  Lucia lachte ihr volles, starkes Lachen. »Sagen Sie mir, bitte«, forderte sie ihn auf, »warum eigentlich Sie mich sehen wollten. Denn Sie sind doch nicht einfach gekommen, um mir Ihre Aufwartung zu machen. Wie Sie mich zwar gerade angeschaut haben, das war reichlich unverschämt, es war da in Ihrem Blick ein wenig von der Verruchtheit des Josephus jener Büste, und man hätte beinahe denken können, Sie seien wirklich nur aus Neugierde hier, um zu sehen, wie mir meine Verbannung bekommen ist. Ich habe mir übrigens jüngst im Friedenstempel Ihre Büste wieder angeschaut, sie ist großartig; ein Bild gibt sie dennoch nicht, weil die Augen fehlen. Sie hätten sich damals nicht sträuben sollen, als Kritias sie Ihnen einsetzen wollte. Aber jetzt sagen Sie geschwind, wie finden Sie meine neue Haartracht? Es wird Geschrei geben.« Sie hatte ihr Haar in mehreren Lockenreihen hintereinander geordnet, verzichtend auf den turmartigen Aufbau, den die Mode vorschrieb.
  Das Regsame, Lebendige, das von dieser Frau ausging, frischte den Josef auf. Ja, sie stand über dem Schicksal, weder Gutes noch Böses konnte an sie heran, sie strotzte von Leben, ihre Verbannung hatte sie nur lebendiger gemacht.
  »Sie haben recht, Herrin Lucia«, sagte er. »Es ist wirklich das Unglück meiner Juden, das mich bedrückt, und ich bin gekommen, Ihre Gunst für sie zu erbitten. Wir haben viel hinnehmen müssen in diesem letzten Jahrzehnt. Wir sind gewohnt, viel hinzunehmen; wir betrachten es als eine Auszeichnung, daß uns unser Gott so hart prüft. Wir haben eine tiefe, große Dichtung, handelnd von einem Manne namens Hiob, den Gott schlägt, weil er ihn auszeichnen will, er ihn darauf bringen will, daß eine geheime Sünde in ihm ist, eine Sünde, die der Mann sonst nicht erkennen könnte und die übrigens nur wenigen als Sünde gilt.« – »Was ist das für eine Sünde?« fragte Lucia. »Der Hochmut im Geiste«, antwortete Josef.
  »Sünde, hm«, meinte Lucia, nachdenklich. »Auch ich bin einigermaßen geprüft, aber nach meinen Sünden habe ich mich deshalb nie gefragt. Ich weiß nicht, ob ich voll geistigen Hochmuts bin. Eigentlich glaube ich nicht. Tauschen freilich möchte ich mit niemand, ich bin zufrieden, so wie ich bin. Alles in allem, scheint mir, sind Sie beträchtlich hochmütiger als ich, mein Josephus.«
  »Der Schriftsteller Flavius Josephus«, antwortete Josef, »hoffe ich, ist nicht allzu hochmütig. Der Jude Josef Ben Matthias ist es. Aber ein anderes ist der geistige Hochmut eines einzelnen, ein anderes der geistige Stolz eines Volkes. Es ist keine Sünde, wenn wir Juden stolz sind auf unsern Jahve und auf unsere geistige Art. Ich glaube, die Welt kann unser nicht entraten. Wir sind notwendig für die Welt. Wir sind das Salz der Erde.«
  Die ruhige Überzeugtheit, mit der er sprach, erheiterte Lucia. »Welches Volk«, meinte sie lachend, »glaubte nicht, auserwählt zu sein? Die Griechen glauben es, die Ägypter, ihr Juden. Nur wir Römer machen uns da nichts vor. Das Salz der Erde lassen wir ruhig die andern sein: wir begnügen uns, dieses Salz für uns zu verwerten und die andern zu beherrschen.«
  Josef aber lächelte nicht, wie sie erwartet hatte, er wurde ernst. »Wenn es so wäre!« ereiferte er sich. »Wenn ihr euch damit begnügtet! Aber es ist nicht so. Ihr wollt mehr als uns beherrschen. Gegen eure Herrschaft sträuben sich nur die Toren unter uns. Bestraft sie, so hart ihr wollt, wir klagen nicht. Aber ihr wollt uns an unsere Seele. Darum bin ich hier, Herrin Lucia. Bitten Sie den Kaiser, daß er davon absteht! Laßt uns unsere Seele! Laßt uns unsern Gott! Laßt uns unser Buch, unsere Lehre! Jedem Volk bis jetzt hat Rom seinen Gott gelassen. Warum will es uns den unsern wegnehmen?«
  Lucia zog die Brauen hoch über den weit auseinanderstehenden Augen. »Wer will euch euern Gott und eure Lehre nehmen?« fragte sie zurück, ablehnend. »Eine ganze Menge Leute wollen das«, antwortete Josef, »Ihre Kusine an der Spitze, die Prinzessin Julia. Man will unsere Universität Jabne schließen, die Vespasian privilegiert hat. Es ist eine kleine theologische Hochschule, eine Kultstätte, nichts sonst. Helfen Sie uns, meine Lucia!« sagte er dringlich, vertraulich, ohne ihr ihren Titel zu geben. »Wir wollen wirklich nichts andres für uns als Freiheit im Geiste, eine Freiheit, die Rom nichts kostet, die sich nicht gegen die Herrschaft Roms richtet. Aber gerade die wollen uns gewisse Leute nicht lassen. Aus Haß. Sie verhindern uns, zum Kaiser vorzudringen, weil sie fürchten, wir könnten den Kaiser überzeugen. Seit Monaten hält man den Kaiser davon ab, unsern Erzpriester zu sehen.« – »Ach, dieser Erzpriester«, sagte Lucia ein wenig verächtlich, »von dem man soviel spricht.« Josef sagte: »Es wäre uns allen lieber, man spräche weniger von ihm.« – »Und es liegt euch also viel daran«, fragte Lucia, »daß der Kaiser ihn empfängt?« – »Wenn Sie das durchsetzen«, erwiderte Josef, »dann würden Sie sich ein hohes Verdienst erwerben um mein Volk, das erwiesene Wohltaten mit heftigerer Dankbarkeit in der Erinnerung festhält als irgendein anderes.« – »Das haben Sie elegant und höflich ausgedrückt, mein Josephus«, lachte Lucia. »Aber an mir ist ein solches Argument verloren. Ich schere mich wenig um das, was man nach meinem Tod über mich denkt. Ich glaube nicht recht an ein Leben unten im Hades oder sonstwo. Wenn ich einmal verbrannt sein werde, dann, fürchte ich, werde ich von eurer Dankbarkeit wenig zu spüren bekommen.«
  Sie überlegte. »Übrigens weiß ich nicht«, sagte sie, »ob ich euch werde helfen können, selbst wenn ich wollte. Der Kaiser ist schwierig zur Zeit«, vertraute sie ihm an, »und mir nicht sehr geneigt. Ich habe oft Streitigkeiten mit ihm. Ich koste ihn viel Geld.« Und mit freundschaftlich gesprächiger Offenheit erzählte sie: »Wissen Sie, daß ich immer geldgieriger werde? Ich finde das Leben großartig, aber gerade deshalb werde ich mit zunehmendem Alter immer anspruchsvoller. Ich muß Bilder haben, Statuen, immer mehr, ich muß bauen, ich muß Schmuck haben, Schauspiele, viele Leibeigene, Feste, an denen man nicht spart. Ich vertue höllisch viel Geld in letzter Zeit. Übrigens, auf Geld versteht ihr euch, ihr Juden, das muß man euch lassen. Da ist Regin, der gehört freilich nur halb zu euch, und da ist dieser Mann mit den Möbeln, Cajus Barzaarone, dann ein anderer, mit dem ich zuweilen zu tun habe, ein gewisser Johann von Gischala, ein amüsanter, verschlagener, verwegener Mensch: sie alle machen Geld, viel und mühelos. Diesem letzten ist es sogar gelungen, meine Preise zu drücken. Sie sehen, ich weiß eure Verdienste zu schätzen, ich habe mancherlei für euch übrig.«
  Sie wurde ernst. »Also Julia, sagen Sie, will eure Universität schließen?« – »Ja, Julia«, bestätigte Josef; er hatte den Namen mit guter Absicht erwähnt. »Sie ist in diesen letzten Wochen sehr angesehen bei Wäuchlein«, überlegte Lucia, »und ich bin so gut wie völlig aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Was für eine Art Mann ist euer Erzpriester?« erkundigte sie sich. »Ist er ein Heiliger oder ein Herr?« – »Beides«, antwortete Josef. »Hm, dann wäre er ein großer Mann«, meinte Lucia. »Aber wie bringe ich Wäuchlein herum?«
  »Vielleicht indem Sie den Wunsch äußern, den Erzpriester zu sehen«, legte ihr Josef nahe. »Dann müßte ihn der Kaiser vorher empfangen. Es geht nicht an, daß der Großdoktor Ihnen seine Aufwartung macht, Herrin Lucia, bevor er dem Gott Domitian seine Ehrfurcht bezeigt hat.« – »Sie gehörten wirklich an den Hof«, lächelte Lucia. »Und Sie glauben ernsthaft, es ist wichtig für euch, daß ich den Besuch eures Großdoktors im Palatin durchsetze?« – »Ich wußte es, daß Sie uns helfen würden, meine Lucia«, antwortete Josef.


Domitian hatte sich in diesen Tagen, da er Lucia nicht gesehen, immer von neuem alles gesagt, was gegen sie vorzubringen war. Sie entwürdigte ihn, sie machte sich über ihn lustig. Es war auch keineswegs ausgeschlossen, daß sie wieder mit einem andern schlief. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sie ein zweites Mal nach den Bestimmungen des von ihm verschärften Ehebruchgesetzes aburteilen zu lassen oder auch sie ohne Urteil in Verbannung und Tod zu schicken. Dann aber sah er vor sich ihr kühnes, hochfahrendes Gesicht mit der reinen, kindlichen Stirn und der langen, kräftigen Nase, er hörte ihr Lachen. Ach, er kann sie mit seinem Senat nicht schrecken. Töten lassen kann er sie, schrecken kann er sie nicht. Und wenn er sie töten läßt, dann straft er sich mehr als sie; denn sie wird hernach nicht mehr zu leiden haben, wohl aber er.

  Er freute sich, daß nach anfänglichem Sträuben wenigstens Julia ihn nun doch wieder näher an sich heranließ. Er hatte ihr offenbar unrecht getan, sie liebte ihn, und die Frucht, die sie getragen, war sein Kind gewesen. Er ist ärgerlich, daß das, was Norban und Messalin gegen Julias Mann, Sabin, zusammengetragen haben, nach der Meinung dieser beiden noch immer nicht genügt, den Sabin zu erledigen, wenn man nicht Gerede heraufbeschwören will, das ihm schädlich sein könnte. Aber vielleicht wird er dieses schädliche Gerede in Kauf nehmen. Julia ist es wert. Zweifellos hat er sie unterschätzt. Sie ist gar nicht dumm; sie hat zum Beispiel unlängst über ein edles und langweiliges Poem des Hofdichters Statius eine hübsche, ironische Anmerkung gemacht, wie er selber sie nicht besser hätte machen können. Auch äußerlich gefiel sie ihm immer mehr, seitdem sie weniger füllig war. Basil muß sie modellieren, ein drittes Mal. Sie ist eine schöne Frau, eine Flavierin, eine Römerin, eine liebenswerte Frau. Sie kann ihm Lucia ersetzen.
  Nie kann sie ihm Lucia ersetzen. Er wußte es in dem Augenblick, da Lucia bei ihm eintrat. Sein ganzer Groll gegen Lucia war weggewischt. Er wunderte sich, wie groß und stattlich sie aussah trotz ihrer einfachen, niedrigen Frisur. Julia schien ihm auf einmal lächerlich. Wie hatte er daran denken können, ihrethalb den Sabin zu beseitigen und die Rücksicht auf seine Herrscherpflicht und auf seine Popularität hintanzusetzen! Wie überhaupt hatte er Julia so lange ertragen können, ihr ewiges, kindisches Geschmolle, ihre Empfindlichkeit bei jeder klein sten vermeintlichen Kränkung, das ganze laue, lamentierende Gewese! Hier seine Lucia mit ihrer Kühnheit, ihrem Stolz, ihrer Selbstverständlichkeit, das war eine Römerin, das war die Frau, die zu ihm gehörte.
  Lucia, in ihrer unbekümmerten Art, stellte zunächst fest, daß seine Glatze wenig und sein Bauch gar nicht zugenommen habe. Dann ging sie geradewegs auf ihr Ziel los. »Ich bin gekommen«, sagte sie, »um Ihnen einen Rat zu geben. Es hält sich hier seit einiger Zeit der Erzpriester der Juden auf, der Großdoktor Gamaliel, von Ihnen in seiner Würde bestätigt. Diesem Manne gegenüber verhalten Sie sich nicht so, wie Sie müßten. Wenn Sie sein Lehrhaus verbieten wollen, dann, finde ich, müßten Sie, der Imperator Domitianus Germanicus, den Mut aufbringen, es dem Manne ins Gesicht zu sagen. Aber den Mann weder sehen noch ihn wegschicken, dem Manne weder ja antworten noch nein, das sind Methoden, die an die Zeit erinnern, da man Sie noch Bübchen oder Früchtchen nannte. Ich hatte geglaubt, diese Zeiten seien vorbei. Ich hatte geglaubt, Sie seien männlicher geworden, seitdem Titus tot ist und Sie Kaiser sind. Ich bedaure Ihren Rückfall.«
  Domitian feixte. »Haben Sie schlecht geschlafen, Lucia?« fragte er. »Oder haben Sie schlechte Geschäfte gemacht? Haben Sie sich verkalkuliert bei einer Lieferung Ihrer Ziegeleien?« – »Werden Sie den Großdoktor sehen?« beharrte Lucia. »Sie haben starkes Interesse an dem Mann«, meinte Domitian, und sein Feixen wurde finster bösartig.
  »Ich werde ihn sehen«, entschloß sich Lucia und legte einen kleinen Ton auf das »ich«. »Es wird Aufsehen machen, wenn ich ihn empfange. Der Großdoktor selber wird es wahrscheinlich unschicklich finden, bei mir zu erscheinen, bevor er von Ihnen empfangen worden ist.« – »Das geht den Hofmarschall Crispin an«, erwiderte Domitian.
  »Ich warne Sie, Wäuchlein«, sagte Lucia. »Machen Sie keine Ausflüchte! Versuchen Sie es nicht, dieses unwillkommene Geschäft so zu erledigen, wie Sie gewisse andere erledigt haben! Schicken Sie den Mann nicht fort, ehe Sie ihn gehört haben! Bringen Sie ihn nicht aus dem Weg! Daß Sie mich verbannt haben, ist mir nicht übel bekommen. Wenn Sie weiter in


dieser Sache mit dem Großdoktor unanständig handeln, dann könnte es sein, daß ich mich selber verbanne.«


Der Kaiser, nachdem sie gegangen war, sagte sich, sie habe mit ihren groben Reden nur offene Türen eingerannt. Denn wenn er auch dieses aufsässige Judenpack durch Angst und Spannung ein wenig hatte mürbe machen wollen, so hatte er, der berufene Beschirmer der Götter aller ihm unterworfenen Völker, noch niemals im Ernste daran gedacht, dem Großdoktor und den Seinen ihre Kultstätte zu nehmen. Er brachte es aber auch jetzt, nach Lucias Besuch, nicht über sich, die Juden von ihrer Angst zu befreien, sondern schwieg weiter, ließ sie warten, unternahm nichts.
  Der einzige, der vorläufig die Folgen von Lucias Intervention zu spüren bekam, war Hofmarschall Crispin. Als er sich am Morgen nach Lucias Besuch, geschniegelt und parfümiert wie stets, auf dem Palatin einstellte, fragte ihn der Kaiser: »Sag einmal, mein Lieber, was eigentlich verstehst du unter ›Barbaren‹?« – »Barbaren?« fragte der verblüffte Crispin zurück, und zögernd definierte er: »Das sind Menschen, denen römische und griechische Zivilisation fremd ist.« – »Hm«, meinte Domitian, »und sprechen die Juden in meiner Stadt Rom griechisch oder nicht? Und sprechen die Juden in Alexandrien griechisch oder nicht? Wieso also«, brach er plötzlich aus, dunkel überrötet, »sind die Juden mehr Barbaren als etwa ihr Ägypter? Warum soll dieser Großdoktor länger auf Audienz warten als dein Isispriester Manetho? Glaubst du, du Lumpenkerl, weil du im Jahr fünf Talente ausgibst für dein Parfüm, bist du zivilisierter als mein Geschichtsschreiber Josephus?« Crispin war zurückgewichen; sein schlanker Körper unter dem weißen Galakleid fröstelte, sein hübsches, freches, lasterhaftes Gesicht war unter der braunen Schminke grünlich erblaßt. »Soll ich also«, stammelte er, »dem Großdoktor eine Zeit für eine Audienz bestimmen?« – »Nichts sollst du!« schrie ihn mit überkippender Stimme Domitian an. »Fortscheren sollst du dich! Nachdenken sollst du!« Der betretene Hofmarschall entfernte sich eilig, nicht wissend, was er von dem Zorn des Kaisers halten, nicht wissend, was er tun sollte.
  Und weiter wartete der Großdoktor, und weiter zögerte der Kaiser, nichts geschah.
  Da, am achten Tag, nachdem Lucia den Kaiser zur Rede gestellt hatte, traf auf dem Palatin ein Kurier ein mit der unheilkündenden Feder; er überbrachte Depeschen vom dakischen Kriegsschauplatz.
  Eingeschlossen in sein Arbeitskabinett, studierte Domitian die Berichte. Sein Marschall Fuscus hatte eine vernichtende Niederlage erlitten. Er hatte sich vom König Diurpan weit ins Innere des Dakerlandes locken lassen und hatte dort mit einem großen Teil seiner Armee den Untergang gefunden. Die Einundzwanzigste Legion, die Rapax, war so gut wie aufgerieben.
  Mechanisch nahm Domitian die Kapsel in die Hand, welche die Unglücksdepeschen verwahrt hatte, hob sie hoch, legte sie wieder zurück. Die Papiere, die sie enthalten hatte, waren zum Teil auf dem Tisch zerstreut, zum Teil waren sie zu Boden geflattert. Abwesenden Gesichtes raffte Domitian einige der Papiere auf, zerknitterte sie, glättete sie wieder, legte sie säuberlich wieder hin. Für diesen Fuscus, der sich jetzt hatte besiegen lassen, war nur er selber, Domitian, verantwortlich. Er hatte ihm das Oberkommando anvertraut trotz des Abratens des Frontin und des Annius Bassus, die vor seiner Tollkühnheit, vor seinem forschen Drauflosgehen gewarnt hatten. Er aber, Domitian, hatte bestanden. Des Fuscus Mut sollte die Bedachtsamkeit des Bassus und des Frontin ausgleichen. Die Niederlage in Dakien ist seine, des Domitian, Schuld.
  Und trotzdem: seine Berechnung war richtig. Mit ständigem Warten kommt man auch nicht ans Ziel. Die Legionen waren bewährt, wohlausgerüstet, das Wagnis hätte ebensowohl auch gut ausgehen können. Es war eine Niedertracht des Schicksals, diesen Krieg so übel enden zu lassen.
  War es Zufall? Oder war es ein Tort, der ihm persönlich galt? Domitians Gesicht wurde auf einmal starr, beinahe töricht. Was sich dort unten im Osten ereignet hatte, das war kein Zufall, das war ein Racheakt, es war die Rache eines Gottes, die Rache dieses Gottes Jahve. Er hätte den Erzpriester dieses Jahve nicht so lange warten lassen dürfen. Er ist mächtig im Osten, dieser Gott Jahve, und er hat, dem römischen Kaiser zum Tort, dem Diurpan seine niederträchtig schlaue Strategie eingegeben.
  Da gibt es nur eines: Rückzug, schleunigen Rückzug. Er, Domitian, ist nicht dumm genug, den Kampf mit dem Gotte Jahve fortzuführen. Er wird den Streit mit diesem Gott, in den er unwillentlich geraten ist, raschestens, unmißverständlich und ein für allemal beenden. Er wird diesen Großdoktor empfangen. Er wird ihm sagen, er möge glücklich werden mit seiner lächerlichen Universität Jabne.
  Als am andern Morgen Crispin erschien, fragte ihn der Kaiser mit gefährlicher Freundlichkeit: »Hast du mir jetzt den Großdoktor und seine Leute bestellt?« – »Ich wußte nicht«, erwiderte fassungslos Crispin, »ich wollte Ihrer Entscheidung nicht...« – »Was heißt das, du wußtest nicht, du wolltest nicht?« unterbrach ihn heftig der Kaiser. »Ich will, genügt das nicht? Beim Herkules, was für einen Dummkopf hab ich mir da zum Minister gemacht!« – »Ich lade also den Großdoktor auf morgen«, schlug behutsam Crispin vor. »Auf morgen?« wütete der Kaiser. »Wie soll ich bis morgen eine Lösung finden, um die Beleidigung gutzumachen, die du durch deine Dummheit diesem Erzpriester und seinem Gott angetan hast? Bestell den Großdoktor auf den fünften Tag!« beschied er unwirsch den Hofmarschall. »Und nach Alba!«
  »Nach Alba?« fragte verwundert Crispin zurück. Offizielle Empfänge ausländischer Gesandten fanden gemeinhin auf dem Palatin statt; daß der Kaiser die jüdischen Herren nach Alba beschied, widersprach jedem Brauch. »Nach Alba?« fragte also Crispin nochmals, er glaubte, er habe sich verhört. Aber: »Ja, nach Alba«, bestätigte der Kaiser. »Wohin denn sonst?«


Er selber fuhr schon am nächsten Tag nach Alba hinaus. Es war demütigend, daß er nun doch noch diesen Großdoktor und seine Juden empfangen mußte, und bestimmt werden es diese Burschen als Eingeständnis einer Niederlage ansehen. Er muß etwas finden, um ihren Übermut zu dämpfen und ihnen die Freude an der Rettung ihrer Universität zu versalzen. Aber er muß dabei behutsam zu Werke gehen; wie sich gezeigt hat, ist dieser unheimliche, unsichtbare Gott Jahve höllisch rachsüchtig.

  Mit seinen Ministern kann er sich darüber leider nicht beraten. Für den schlichten Soldaten Annius Bassus, für den eleganten Hohlkopf Crispin, für den gewalttätigen Norban ist die Angelegenheit zu fein und zu hoch. Marull und Regin verstünden eher, worum es geht, sind aber Partei. Nein, er kann darüber nur mit sich selber Rates pflegen.
  Er stelzt herum in den Gärten von Alba. Lange Zeit steht er vor dem Käfig eines Panthers, aus gelben, schläfrigen, gefährlichen Augen blinzelt das schöne Tier ihn an. Aber des Kaisers Phantasie bleibt unfruchtbar. Seine Menschenverachtung, die ihm in ähnlichen Fällen manchmal treffliche Ideen eingegeben hat, läßt ihn im Stich. Er findet nichts, womit er die Juden verwunden könnte, ohne sich selber der berechtigten Rache ihres Gottes auszusetzen.
  Er ließ den Messalin nach Alba kommen. Zusammen mit ihm spazierte er durch die weite, kunstvolle Vielfältigkeit seines Parks. Er tat, als sei er sehr besorgt, dem Blinden jedes Straucheln zu ersparen, aber er beobachtete nicht ohne Vergnügen, wie der Mann zuweilen stolperte und wie ängstlich er’s verbarg. Dahinter der Zwerg Silen machte die würdigen, auf Natürlichkeit bedachten Bewegungen des Messalin nach.
  Domitian führte seinen Gast in einen unter der Erde gelegenen, kellerartigen Raum. Das weitläufige Palais, an dem man nun seit zehn Jahren arbeitete, war noch immer nicht fertig, und der Kaiser wußte nicht, wofür seine Architekten dieses nicht ausgebaute, verwahrloste Gelaß bestimmt haben mochten. Ein paar rohe Stufen führten hinunter, die rohe Erde des Bodens war uneben, in der Ecke war ein Haufen Sandes geschichtet, der Raum war voll von einer feuchten Dämmerung, die widrig abstach von der frischen spätherbstlichen Klarheit draußen.
  Domitian scheuchte seinen Zwerg fort, leitete den Messalin zu einer Art Stufe und hieß ihn dort sich setzen. Er selber kauerte sich auf dem Boden. Da hockten die beiden in dem dunkeln, modrigen Loch, der Kaiser und sein blinder Rat, und der Kaiser bat ihn um Hilfe in seinem schwierigen Streit gegen Jahve. Ja, vor diesem Blinden, der noch finsterer ist und menschenfeindlicher als er selber, kann er reden. Und von der Brust redet er sich seinen fressenden Ärger. Er muß den Juden ihr Lehrhaus lassen, er muß den Großdoktor empfangen, davor kann er sich leider nicht drücken. Was aber kann er tun, dem Großdoktor die Lust an seinem Lehrhaus zu verderben, ohne doch die Rache seines Gottes auf sich herabzubeschwören?
  Messalin sitzt auf den Stufen, das Ohr dem Redenden zugeneigt, wie das seine Art ist. In dem Dämmer ringsum, das nur die Umrisse erkennen läßt, wirkt seine stattliche Gestalt doppelt groß. Der Kaiser ist zu Ende, doch Messalin verharrt weiter unbeweglich und tut den Mund nicht auf. Domitian erhebt sich. Mit leisen Schritten, um das Nachdenken seines Rates durch kein Geräusch zu stören, geht er auf dem unebenen, erdigen Boden des Gelasses auf und ab. Allerlei Getier ist da, Asseln, ein Molch.
  Messalin, nach einer Weile, beginnt, seine Gedanken Worte werden zu lassen. »Es ist für uns nicht ganz leicht«, erwägt er mit einer Stimme, die auffallend hell, freundlich und schmeichlerisch aus dem mächtigen, dunklen Manne herauskommt, »die abergläubischen Vorstellungen dieser Juden zu verstehen und ihre Zwistigkeiten. Soweit ich unterrichtet bin, finden sich die heftigsten Gegner dieses Lehrhauses in Jabne nicht unter uns Römern, sondern unter den Juden selber. Und zwar sind es die Angehörigen einer jüdischen Sekte, jene Leute, die in einem gekreuzigten Sklaven, einem gewissen Jesus, ihren Gott sehen und die Minäer genannt werden oder auch Christen, Leute, von denen Sie bestimmt gehört haben, mein Gott und Herr. Der Unterschied zwischen dem Aberglauben dieser Christen und dem Aberglauben der andern Juden besteht, soweit ich aus ihren verworrenen Reden klug geworden bin, in folgendem. Die einen, die Christen, nehmen an, ihr Erlöser, Messias heißt er in ihrer Sprache, sei bereits erschienen, und zwar in Gestalt eben jenes von ihnen göttlich verehrten gekreuzigten Leibeigenen. Die andern nehmen an, der von ihrem Gott versprochene Erlöser werde erst kommen. An sich können uns diese Zwistigkeiten gleichgültig lassen, aber fraglos sind sie der Grund, aus dem die Christen das Lehrhaus von Jabne anfein den. Daraus dürfen wir wohl schließen, daß die Hoffnung auf den Messias, der da kommen soll, die wichtigste Lehre dieser Universität Jabne ist. Es wird behauptet, daß dieses Jabne politischen Einfluß habe. Wenn das stimmt, dann wird wohl auch diese Politik in Verbindung stehen mit der Lehre von dem Erlöser, der da kommen soll.«
  Domitian war stehengeblieben, bald nachdem der Blinde zu sprechen begonnen, er hatte gespannt zugehört, jetzt hockte auch er wieder nieder. »Wenn ich dich recht verstehe, mein Messalin«, sagte er nachdenklich, »dann wäre also dieser Erlöser, der Messias, ein Mensch, der mir meine Provinz Judäa streitig machen will?«
  »Genau das meine ich, mein Herr und Gott Domitian«, kam die höfliche, helle Stimme des Blinden. »Und kein Gott könnte es dir verargen, wenn du dich wehrtest und deine Provinz gegen diesen Messias verteidigtest.«
  »Interessant, das ist interessant«, anerkannte der Kaiser. »Wenn man diesen Messias treffen könnte«, überlegte er, »dann träfe man also auch den Großdoktor, und zwar ungestraft. Mir scheint, du bist da auf einer guten Fährte, mein findiger Messalin.« Und da Messalin nichts weiter zu sagen hatte, fuhr Domitian fort: »Der Erlöser, der Messias. Vielleicht könnte einem da der Jude Josephus Auskunft geben, der seinerzeit meinen Vater als den Messias begrüßt hat, obgleich ich nicht weiß, wieweit das abgekartet war. Leicht wird es auf keinen Fall sein, aus diesem Juden etwas über ihre Geheimlehren herauszubekommen, sie sind störrisch. Trotzdem wittert mir, als sei dein Rat sehr wertvoll, mein Messalin. Willst du mir weiterhelfen auf diesem Wege?«
  »Wenn dieser Messias etwas Unsichtbares an sich haben sollte«, erwiderte Messalin, »wie der Gott Jahve selber, dann, fürchte ich, werde ich dir nicht helfen können, Kaiser Domitian. Es wäre dann der ganze Weg falsch; denn es wäre dann kein irdischer Prätendent, und Jahve hätte das Recht, ihn zu schützen und dich zu bekämpfen. Wenn aber der Messias aus Fleisch und Blut sein sollte, greifbar, dann haben wir Rechte gegen ihn, dann werden wir ihn auffinden, dann werden wir dieses Lehrhaus in Jabne unschädlich machen und den, der dahintersteht.« »Still, still«, antwortete mit unterdrückter Stimme Domitian, »sag das nicht so laut, mein Messalin! Denk es, aber sag es nicht laut, gerade weil du recht haben könntest! Jedenfalls danke ich dir«, fuhr er fort, aufgehellt. »Und wolle, bitte, darüber nachdenken, ob und wie wir diesen Messias aufspüren können. Laß dir rasch etwas einfallen, mein Messalin! Vergiß nicht, daß diese Angelegenheit mich wurmt und daß ich schlecht schlafe, solange sie nicht erledigt ist!«
  Messalin kehrte nach Rom zurück, doch schon am dritten Tag stellte er sich wieder ein. »Hast du etwas herausbekommen?« fragte Domitian. »Ich würde es nicht wagen«, antwortete Messalin, »vor dem Angesicht des Herrn und Gottes Domitian zu erscheinen, leeren Hirnes und leerer Zunge. Ich habe dieses ermittelt. Der Messias, der den Juden ihren Tempel und ihren Staat wieder errichten und dem römischen Kaiser die Provinz Judäa entreißen soll, ist nichts Geisterhaftes. Er ist vielmehr von Fleisch und Blut und der Polizei greifbar. Zudem ist er versehen mit einem deutlichen Merkmal. Es muß nämlich nach Ansicht der Juden der Messias, der Anspruch erheben darf auf ihren Thron, dem Geschlecht eines alten Judenkönigs entstammen, eines gewissen David. Nur ein solcher kann, nach Meinung des Lehrhauses von Jabne und aller Juden, ihr König und Messias werden. Auch der gekreuzigte jüdische Leibeigene, den die Minäer als ihren Gott anbeten, soll ein Stämmling dieses alten Judenkönigs gewesen sein. Abkömmlinge dieses Geschlechts, hab ich mir sagen lassen, gibt es nach wie vor. Genaue Ziffern hat man mir nicht nennen können. Es sollen ihrer mehrere sein, doch sehr wenige, Leute verschiedenen Standes indes, ein Fischer soll darunter sein, ein Zimmermann, doch auch ein Priester und ein großer Herr. Auf alle Fälle sind sie aufzuspüren, sind sie zu fassen, und mit ihnen die treibende politische Kraft des Lehrhauses von Jabne.«
  »Das ist wertvoll, mein Messalin«, anerkannte Domitian, »das ist ein wichtiger Fingerzeig. Du meinst also, man brauchte nur die Abkömmlinge jenes Judenkönigs in die Hand zu bekommen, zuzudrücken, und die Universität Jabne wäre erledigt, und vielleicht auch«, setzte er scheu und begierig hinzu, »der Unsichtbare hinter ihr?« – »Ich hielte es für angebracht«, erwiderte die geschmeidige, helle Stimme des Blinden, »jene Leute unschädlich zu machen. Sicher dann würde die politische Spannung in der Provinz Judäa nachlassen.
  »Und Sie glauben, mein Messalin«, forschte Domitian weiter, »es sei nicht schwer, die Leute aufzuspüren, die nach dem erwähnten ungeschriebenen Gesetz Anspruch auf den Thron der Juden haben?« – »Ganz leicht wird es nicht sein«, überlegte Messalin. »Es ist eine Geheimlehre, sie haben nichts davon aufgeschrieben. Es gibt keine Listen«, lächelte er. »Auch machen sie nicht viel her von diesen Nachkömmlingen Davids, und diese selber verbergen ihre Berufung nicht geradezu, doch sie stellen sie auch nicht ins Licht. Sie haben ja wohl auch etwas Lächerliches an sich, diese Leute. Denn sie sind zwar, heißt es, berufen, aber auserwählt ist schließlich nur einer, und auch der wohl nur als Vater oder Urahn eines vielleicht sehr späten Nachfahrs.«
  »Ich danke Ihnen, mein Messalin«, antwortete der Kaiser. »Ich werde dem Norban und dem Gouverneur Pompejus Longin Auftrag geben, zu recherchieren. Da aber, wie Sie sagen, die Aufgabe nicht leicht ist, wäre es gut, mein Messalin, wenn Sie selber sich ihrer annähmen und zu erforschen suchten, wer unter die Kategorie dieser Messiasse fällt.« – »Ich stehe zur Verfügung meines Kaisers«, sagte der Blinde.

In zwei Wagen fuhren die Herren der jüdischen Deputation nach Alba; mit ihnen war Josef, den der Kaiser aufgefordert hatte, sich mit dem Großdoktor und seinem Gefolge in Alba einzufinden.
  Gamaliel und Josef saßen im ersten Wagen zusammen mit den Doktoren Ben Ismael und Chilkias, Vertretern der milden, gemäßigten Richtung von Jabne. Gamaliel trug römische Galatracht. Während er aber sonst trotz seines Bartes sehr römisch aussah, wirkte heute sein römisches Äußeres wie eine Verkleidung. Er war nicht der weltläufige Politiker, als den Rom und Judäa ihn kannten, eher einer jener fanatischen, in sich gekehrten Juden, die ohne Blick durch ihre Umwelt hindurchgehen, beschäftigt nur mit Jahve, dem Gott in ihrer Brust. Den Gott in sich suchte denn auch der Großdoktor während dieser Wagenfahrt; er beschwor ihn, in ihm war nichts als brünstiges Gebet: Herr, gib mir vor diesem Römer die rechten Worte! Herr, laß mich die Sache deines Volkes wirksam führen! Herr, nicht um meinetwillen, nicht um unsertwillen, sondern um der künftigen Geschlechter willen gib mir und meinen Worten Kraft!
  War man im ersten Wagen schweigsam, so war man um so beredter im zweiten. Hier führten das Wort die Vertreter der strengen Richtung von Jabne, die Doktoren Helbo und Simon, genannt der Weber. In grimmigen Worten gaben sie ihren Gewissensbissen Ausdruck, daß man gegen ihren Einspruch gerade heute, am Tag vor dem Sabbat, zum Kaiser fuhr. Sehr leicht konnte es geschehen, daß man auf der Rückfahrt in den Spätabend hineingeriet, in den Sabbatanfang also, und am Sabbat über Land zu fahren verbot das Ritualgesetz. Von vornherein also gefährdete man das ganze Unternehmen, da man sich der Gefahr aussetzte, das Gesetz Mosis übertreten zu müssen. Wäre es nach ihnen gegangen, dann hätte man dem Kaiser mitgeteilt, die Deputation könne ihn erst zwei Tage später aufsuchen. Doch Gamaliel hatte sie vergewaltigt, er hatte seine Autorität mißbraucht und sie gezwungen, den Wagen zu besteigen, ja, durch einen zweiten Machtspruch hatte er sie gezwungen, die gewohnte jüdische Tracht mit der vorgeschriebenen Galakleidung zu vertauschen. Sie führten einen eifrigen theologischen Disput, gegen wie viele von den dreihundertfünfundsechzig Verboten man durch diese Fahrt verstoße und wie viele von den zweihundertachtundvierzig Geboten dadurch zu vernachlässigen man gezwungen sei. Zudem habe der Großdoktor noch den Ketzer Josef Ben Matthias mit zum Kaiser genommen, jenen Mann, der Israel an Edom verraten habe. Doppelt notwendig sei es unter diesen Umständen, daß sie, die Doktoren der strengen Richtung, sich hart machten und nicht zuließen, daß Gamaliel in der Audienz seiner gefährlichen Neigung zu Kompromissen nachgebe und die Prinzipien Jabnes verwässere.
  Der Großdoktor, schon erstaunt darüber, daß man ihn nicht auf den Palatin beschieden hatte, sondern nach Alba, war doppelt verwundert über den Empfang, den er und seine Herren hier fanden. Man hatte ihm viel erzählt von dem umständlichen, prunkvollen Zeremoniell der kaiserlichen Audienzen. Hier in Alba aber wurden er und seine Herren nicht etwa in einen Vorsaal oder in einen Empfangsraum geleitet, sondern auf umständlichen Wegen führte man sie durch den ausgedehnten Park, durch Ziergärten, über geschwungene Brücken und Brückchen, an Teichen vorbei, an Gruppen zierlich verschnittener Bäume, an Blumenbeeten.
  Es war ein launischer Spätherbsttag, der Himmel zeigte ein starkes Blau, gefleckt von fetten, weißen Wolken. Den Doktoren waren die Beine steif geworden vom langen Sitzen im Wagen. Jetzt stapften sie ungelenk die vielen Pfade, es ging auf und ab über Terrassen, über lange, sich windende Treppenwege.
  Endlich wurde der Kaiser sichtbar. Um ihn waren einige Herren. Josef erkannte den Polizeiminister Norban, den Kriegsminister Annius Bassus und des Kaisers Freund, den Senator Messalin. Domitian trug einen leichten, grauen Mantel, sein Gesicht war infolge der frischen Luft noch mehr gerötet als sonst, er schien guter Laune. »Ah, da sind die Doktoren von Jabne«, sagte er lebhaft mit seiner hohen Stimme. »Ich habe es nicht länger hinausschieben wollen, mein heiliger Herr«, wandte er sich an Gamaliel, »Ihre Bekanntschaft zu machen. Nicht weitere zwei Stunden, nicht bis zum Ende der Besichtigung meiner neuen Bauten habe ich warten wollen. Jetzt freilich müssen Sie mir erlauben, daß ich, während ich mit Ihnen spreche, meine Geschäfte hier weiter betreibe. Das hier«, stellte er vor, »sind meine Baumeister Grovius und Larinas, deren Namen Ihnen bekannt sein werden. Und jetzt, während wir plaudern, fahre ich in der Besichtigung fort. Wir wollen uns zunächst das kleine Sommertheater anschauen, das ich für die Kaiserin zu errichten im Begriffe bin.«
  Man setzte sich von neuem in Bewegung. Die jüdischen Herren, befremdet von dem sonderbaren Empfang, stolperten ungelenk weiter. Sie und diese Umgebung stimmten durchaus nicht zusammen, und sie spürten es. Der Kaiser, während man so dahinging, stelzte, stapfte, sprach über die Schulter zu dem Großdoktor. »Es ist jetzt«, sagte er, »viel die Rede von eurer Universität Jabne. Man beklagt sich, sie sei ein Herd des Aufruhrs. Ich wäre Ihnen verbunden, heiliger Herr, wenn Sie mich darüber belehrten.« Der Großdoktor war ein geschmeidiger Mann, der sich in jede Situation zu finden wußte. Sich sorgfältig einen halben Schritt hinter dem Kaiser haltend, erwiderte er: »Ich begreife nicht, wie unsere stille Gelehrtentätigkeit in Jabne Anlaß zu solchem Gerede geben kann. Unser einziges Geschäft ist, die alten Lehren unseres Gottes auszudeuten, sie den Bedingungen unserer neuen, unpolitischen, rein religiösen Gemeinschaft anzupassen, die Vorschriften eines Lebens festzusetzen, das dem Kaiser gibt, was des Kaisers ist, und unserm Gotte Jahve, was sein ist. Unsere oberste Richtschnur heißt: die Gesetze der Regierung sind auch Religionsgesetze. Durch diese Grundregel haben wir jeden Kompetenzstreit und jeden Gewissenskonflikt ein für allemal aus dem Wege geschafft.«
  Man war inzwischen auf der Baustelle angelangt. Die Fundamente des kleinen Theaters waren gelegt. Der Kaiser stand und beschaute sie; es war fraglich, ob er die Worte des Großdoktors gehört und aufgenommen hatte. Vorläufig jedenfalls antwortete er nicht, sondern wandte sich an seine Baumeister. »Die Aussicht«, sagte er, »über die Bühne dieses kleinen Theaters auf den See hin ist noch schöner, als ich erwartet hatte. Aber vielleicht hätten wir doch, wie ich zuerst vorschlug, die Szene etwas breiter machen sollen, etwa um zwei Meter.« Und ohne Übergang, brüsk, wandte er sich an den Großdoktor: »Aber sind nicht vielleicht eure schönen Reden bloße Theorien? Ist eure Lehre nicht ihrem Wesen nach staatsfeindlich? Ist euer Gott nicht auch euer König, so daß seine Gesetze die Gesetze des Senats und Volkes von Rom von vornherein aufheben? Haben sich nicht die Führer des niederträchtigen Aufruhrs auch auf euch berufen und auf eure Lehre?«
  Der Architekt Larinas legte dar: »Wenn wir die Szene breiter gemacht hätten, dann hätte das Haus den Charakter des Schmuckkästchens verloren, den der Herr und Gott Domitian für dieses Theater der Kaiserin befohlen hatte.« Der Großdoktor sagte: »Wir haben den Bann ausgesprochen über diejenigen, die sich der Aufruhrbewegung anschlossen.« Der Kaiser erklärte: »Ich will mir den Bau von der Seite anschauen. Ich glaube noch immer nicht, daß Sie recht haben, mein Larinas.«
  Während man sich nach der andern Seite des kleinen Theaters begab, hänselte Annius Bassus auf seine joviale, lärmende Art die jüdischen Herren: »Ja, meine verehrten Doktoren, Sie haben die Aufrührer in Bann getan, stimmt: aber doch erst, nachdem der Aufstand mißglückt war und die Aufrührer tot.« Der Kaiser beschaute sich den Bau. »Sie haben recht, mein Larinas«, entschied er, »und ich habe mich geirrt. Das Theater verlöre seinen Sinn, wenn man die Szene größer machte.« Doktor Chilkias widerlegte höflich den Annius Bassus: »Es war gar nicht anders möglich, als daß der Bann erst ausgesprochen wurde, nachdem die Aufrührer tot waren. Die Formalitäten und die Verkündigung, wenn man sie noch so sehr beschleunigt, nehmen mindestens sechs Wochen in Anspruch.«
  »So«, sagte der Kaiser, »und jetzt zeigen Sie mir den Pavillon.« Von neuem machte man sich umständlich auf den Weg, bis man vor einem kleinen, nach allen Seiten offenen Bau stand. »Können Sie sich vorstellen, heiliger Herr«, wandte sich leutselig der Kaiser an den Großdoktor, auf die zierlich emporstrebenden Säulen weisend, »wie das ausschauen wird, wenn es erst ganz fertig ist? Ist das nicht wie aus Spitzen gewebt, so leicht und fein? Stellen Sie sich das vor, wie es in einen heißen, blauen Sommerhimmel hineinsticht. Beim Herkules, mein Grovius, das haben Sie ausgezeichnet gemacht. Ja, und wie ist das mit eurem Messias?« packte er wiederum jäh den Gamaliel an. »Ich habe mir sagen lassen, ihr verkündet da zweideutige Lehren über einen Messias, der da kommen soll, euer König zu sein und euern Staat wiederherzustellen. Wenn Worte Sinn haben, dann kann das doch nur bedeuten, daß dieser Messias mir meine Provinz Judäa zu entreißen bestimmt ist.«
  Die Doktoren, wie der Kaiser plötzlich von dem Messias anhub, zuckten zusammen. Domitian sprach griechisch, das war eine Höflichkeit für die östlichen Herren, aber einige von ihnen vermochten doch nur mit Mühe zu folgen. Diese letzten Sätze indes und ihre bösartige Meinung hatten sie alle begriffen. Da standen sie, bärtig, hilflos, ratlos, ziemlich unglücklich in der ungewohnten Umgebung; zierlich vor den schweren Gestalten hob sich der Sommerpavillon.
  Der Großdoktor indes bewahrte seine Fassung. Das Kommen des Messias, erklärte er, sei eine Weissagung allgemeiner Art, die nichts mit Politik zu tun habe. Der Messias sei eine Manifestation Gottes jenseits aller realen Vorstellungen, er gehöre in die Welt des rein Geistigen. Der Kaiser stelle sich ihn am besten als so etwas vor wie eine Idee Platos. Gewiß, es gebe Leute, die mit der Lehre vom Messias reale Vorstellungen verbänden. Diese Leute nennten sich Minäer oder auch Christen, dies letztere eben nach der griechischen Bezeichnung des Wortes Messias. Sie zögen aus jener Weissagung praktische Konsequenzen. Sie verehrten einen persönlichen, verleiblichten Messias. »Wir aber«, erklärte er würdevoll und bestimmt, »wir, das Lehrhaus und das Kollegium von Jabne, haben diese Leute als Ketzer aus unserer Mitte ausgestoßen. Wir haben mit Messiasgläubigen solcher Art nichts zu schaffen.«
  »Schade«, meinte Domitian, »daß ich den Pavillon nicht sehr oft werde benutzen können. Gerade im Sommer zwingt mich die Rücksicht auf dumme Repräsentation, beinahe täglich große Tafel zu halten. Aber der Pavillon ist ein Wunder in seiner Art.« Dann, sehr sanft, sagte er zu dem Großdoktor: »Jetzt haben Sie aber ein wenig geschwindelt, heiliger Herr. Ich bin besser informiert, als Sie annehmen. Die Messiasgläubigen, von denen Sie sprechen, Ihre Christen, die behaupten doch, der Messias sei bereits gestorben; ihr gekreuzigter Gott wird mir somit schwerlich mehr die Provinz Judäa wegnehmen, und die Leute sind in dieser Hinsicht ganz ungefährlich. Euer Messias hingegen, da ihr ihn erst erwartet, der bleibt bedenklich.«
  Unter den Doktoren war sichtbare Verwirrung. Die Weissagung des Messias, versuchte Gamaliel zu erklären, beziehe sich auf eine ferne Zukunft. Von dem Reich, das er gründen solle, heiße es, es werde dort alles Kriegsgerät in Friedenswerkzeug umgeschmiedet werden, und es würden dort Löwe, Wolf und Bär zusammen mit dem Lamme weiden. »Sie sehen, Majestät«, schloß er, »es handelt sich um eine religiöse Utopie, die mit realer Politik nichts zu schaffen hat.« Doktor Chilkias sprang dem Gamaliel bei. »Fest steht nur eines«, sagte er, »daß nämlich ein Messias kommen wird. Wann er indes kommen wird und was seine Funktion sein wird, sich darüber ein Bild zu machen bleibt dem einzelnen überlassen.«
  Schon während Gamaliel gesprochen, hatten einige der Doktoren zu tuscheln angefangen. Sie fanden es offenbar lästerlich, unerträglich, daß aus berufenem Munde ein so wichtiger Bestandteil ihres Glaubens so zweideutig erklärt, ja geradezu abgeleugnet wurde. Kaum hatte Doktor Chilkias geendet, da korrigierte denn auch schon Doktor Helbo ihn und vor allem den Großdoktor. Mit seiner tiefen, brüchigen Stimme, unbeholfen, in schlechtem Griechisch, sagte er: »Es mag sein fern, es mag sein nah, es mag sein so, es mag sein anders: aber der Tag wird kommen. Der Tag wird kommen«, wiederholte er grob, bedrohlich und richtete die alten, zürnenden Augen auf den Großdoktor und zurück auf den Kaiser.
  Ein unbehagliches Schweigen war. »Interessant«, sagte Domitian, »das ist interessant.« Er setzte sich auf die Stufen des Pavillons, schlug salopp ein Bein über das andere und wippte mit dem Fuß; es war angenehm, nicht die feierlichen, hochgesohlten Schuhe zu tragen, sondern bequeme, sandalenartige. »Darüber möchte ich mehr hören«, fuhr er fort. Und, immer sehr sanft, wandte er sich an den Großdoktor, mit dem Finger drohend: »Und da sagen Sie, euer Messias sei eine utopische Vorstellung, eine platonische Idee!« Und, wieder zu dem alten, groben Helbo: »Der Tag wird kommen. Welcher Tag, bitte? ›Kommen wird er, der Tag, da die heilige Ilion hinsinkt‹«, zitierte er den Homer. »An welche Ilion denken Sie, mein Doktor und Herr? An Rom?« fragte er geradezu.
  Die Doktoren standen jetzt ein wenig gesondert. Die Römer schauten auf sie, warteten auf die Antwort. Der Kaiser indes, ihre Verlegenheit nicht ausnützend, unterbrach das peinliche Schweigen und fuhr fort, ungewohnt jovial: »Es müssen manche unter euch sich diesen Messias nicht als etwas rein Geistiges, sondern als ein Wesen aus Fleisch und Blut vorgestellt haben. Dieser mein Flavius Josephus zum Beispiel hat seinerzeit meinen Vater, den Gott Vespasian, als den Messias bezeichnet. Und Sie, mein Flavius Josephus«, er schaute ihm voll, sanft, mokant und gefährlich ins Gesicht, »haben doch sicher nicht meinem Vater die Absicht zugetraut, Wölfe oder Löwen so zu zähmen, daß sie neben Lämmern weiden. Aber schön«, wandte er sich wieder an die Doktoren, »dieser Ritter Flavius Josephus ist im Hauptamt Soldat, Schriftsteller, Staatsmann und nur im Nebenamt Theolog und Prophet; lassen wir also seine Deutung auf sich beruhen. Sie indes, meine Herren Doktoren, Sie sind die berufenen Ausleger der jüdischen Lehre, die Sachwalter Jahves. Ich bitte Sie um eine klare, unmißverständliche Auskunft: wer oder was ist Ihr Messias? Ich bitte Sie um eine Erklärung, so eindeutig, wie ich sie in Rapporten meiner Beamten zu finden erwarte.«
  »Es steht geschrieben«, begann Doktor Helbo, »bei unserm Propheten Jesajas: ›Von Zion wird das Gesetz ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und strafen viele Völker.‹« Zornig und gefährlich kam das aus seinem großen Mund. Aber: »Nicht doch, nicht doch, mein Bruder und Herr«, fiel ihm eifrig Doktor Chilkias ins Wort, »dies ist eine halbe Wahrheit, die ihren rechten Sinn erst aus späteren Sätzen gewinnt. Denn es ist gesagt bei dem gleichen Propheten Jesajas: ›Es ist ein Geringes, daß du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten. Sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, auf daß du mein Heil seist bis zum Ende der Welt.‹« Allein: »Entstellen Sie nicht, mein Bruder und Herr«, ereiferte sich hartnäckig Doktor Helbo, »legen Sie nicht den Ton auf Nebensachen. Steht nicht etwa auch geschrieben bei dem Propheten Micha: ›Er wird richten unter großen Völkern und viele Heiden strafen in fernen Landen‹?« Doch auch Doktor Chilkias beharrte: »Sie sind es, der entstellt, und schon ein zweites Mal. Denn Sie lassen fort, wie es weitergeht bei dem Propheten Micha: ›Und ein jeglicher wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen ohne Furcht.‹« Nun aber sprang dem Doktor Helbo sein Gesinnungsgenosse bei, der Doktor Simon, genannt der Weber. »Und was ist es«, fragte er streitbar, »mit Gog und Magog, die der Messias vorher hinstrecken wird?« Alle begannen sie jetzt zu debattieren. Sie waren nicht mehr in den Gärten von Alba und in Gegenwart des Kaisers, sie waren in Jabne, in ihrem Lehrsaal, sie gerieten aus dem Griechi schen ins Aramäische, ihre Stimmen gingen ineinander, erhitzt, zornig. Der Kaiser und seine Herren hörten still zu und zeigten kaum, wie belustigt sie waren.
  »Ich muß gestehen, viel klüger bin ich nicht geworden«, sagte schließlich der Kaiser. Messalin, mit seiner sanften Stimme, griff ein. »Darf ich mir den Versuch erlauben«, fragte er, »den Herren klarzumachen, was eigentlich unser Herr und Gott von Ihnen will? Es geht der Majestät darum, meine Herren Doktoren, von Ihnen als von der autorisierten Stelle folgendes zu erfahren. Gibt es Männer in Fleisch und Blut, Männer mit genauen Namen, Wohnort und Geburtsjahr, die eine Anwartschaft darauf haben, der von Ihnen erwartete Messias zu sein? Mir hat man gelegentlich gesagt, ein Kriterium werde von Ihnen allen als Grundlage solcher Eignung und Anwartschaft anerkannt; es werde nämlich der von Ihnen erwartete Messias ein Reis sein aus dem Stamme eures Königs David. Bin ich da recht unterrichtet oder nicht?«
  »Ja«, sagte lebhaft der Kaiser, »das ist interessant. Ist der Kreis derer, aus deren Mitte der von euch erwartete Messias kommen soll, streng umgrenzt? Ist er zu suchen ausschließlich unter den Abkömmlingen eures Königs David? Ich bitte um klare Antwort«, forderte er den Großdoktor auf.
  Gamaliel erwiderte: »Es ist so, und es ist nicht so. Unsere Heilige Schrift bedient sich oft einer dichterischen Ausdrucksweise. Wenn unter unsern Propheten der eine oder andere erklärt, es werde uns ein Messias kommen aus dem Stamme Davids, so ist das mit Absicht vag ausgedrückt und bildlich zu verstehen. Die ganze Vorstellungswelt um den Messias herum ist poetisch. Sie hat«, schloß er lächelnd, weltmännisch, »wenig mit einer Realität zu tun, die man in Akten und Listen einfangen könnte.«
  Doktor Ben Ismael wandte das edle, elfenbeinfarbene, zerknitterte Gesicht dem Kaiser zu, die alten, müden, eingesunkenen Augen richtete er voll auf ihn, und er erklärte: »Ja, es handelt sich um eine höhere Realität. Wer über den Messias ein Einzelnes aussagt, sagt im besten Falle eine Teilwahrheit aus und somit etwas Falsches. Denn die Lehre vom Messias ist eine vielfältige Wahrheit, sie kann nicht mit dem Verstand allein begriffen, sie kann nur geahnt werden, geschaut. Nur der Prophet schaut sie. Eines allein ist gewiß: der Messias, der da kommen soll, wird sein die Verbindung Gottes mit der Welt. Seine Sendung geht nicht Israel allein an, sondern den Erdkreis und alle seine Völker.«
  Aber: »Es ist nicht so«, erklärte grob der wilde Eiferer Doktor Helbo, »und Sie, Doktor Ben Ismael, wissen, daß es nicht so ist. Es sind Einzelheiten offenbart über den Messias«, wandte er sich an Messalin, »so eindeutige Merkmale, daß sie nicht zu verwischen sind und daß sogar ihr Römer sie verstehen könnt. Der Messias wird sein ein Sprößling Davids. Dies ist die Wahrheit, und da hat man Sie recht unterrichtet, mein Herr.«
  »Danke«, sagte Messalin.
  »Was Sie meinem Vater verkündet haben, mein Flavius Josephus«, meinte liebenswürdig der Kaiser, »stimmt aber damit nicht überein. Denn soweit ich über unsere Abstammung unterrichtet bin, geht sie auf Herkules zurück, nicht auf diesen David.« Ein kleines Gelächter lief ringsum, es klang harmlos, der Großdoktor atmete auf. Josef selber, trotz der Demütigung, atmete auf, froh, daß die Gefahr vorüberzuziehen schien an der Hochschule von Jabne, an der Lehre. »Aus den Meinungsverschiedenheiten der verehrten Herren und Doktoren«, verteidigte er sich, »mag der Herr und Gott Domitian ersehen, daß die Verkündigungen des Messias dunkel sind und das meiste dem Gefühl überlassen. Was ich damals spürte, als ich dem Herrn und Gott Vespasian huldigte, war ehrlich, die Ereignisse haben es bewährt, und ich rühme mich meiner Verkündigung.«
  Ein tiefes, zorniges Brummen kam aus der Kehle des Doktors Helbo. War es schon Lästerung, daß dieser Josef Ben Matthias, immerhin noch Jude, den Kaiser der Heiden als Herrn und Gott ansprach, so war es doppelte Blasphemie, daß er den toten Kaiser Vespasian, den Feind Jahves, in Gegenwart der Doktoren von Jabne nochmals den Messias nannte. Doktor Helbo rüstete sich also, etwas Eiferndes, Bekennerisches, Vernichtendes zu sagen. Doch weder dem Annius Bassus noch dem Norban, noch gar dem Messalin gefiel es, daß sich das Gespräch jenen alten, abgelebten Vorgängen zugekehrt hatte. Ihnen lag daran, die Doktoren auf Definitionen festzulegen, die man für gewisse praktische Maßnahmen verwerten konnte. »Soviel jedenfalls dürfen wir als gesichert unterstellen«, faßte Annius Bassus zusammen, »daß der gemeine Mann überall in der Judenheit einen, der vom König David abstammt, dem Kreis derjenigen zurechnet, aus denen der echte Messias kommen wird.« – »Ja, so ist es«, gab der grimmige Doktor Helbo zu. »Nun«, erklärte zufrieden der Polizeiminister Norban, »da haben wir immerhin etwas Rundes, Faßbares, Greifbares.« Und: »Gibt es solche Abkömmlinge Davids?« stieß sogleich mit seiner sanften Stimme der blinde Messalin weiter vor. »Kennt man sie? Gibt es viele? Und wo findet man sie?«
  Außer Josef und Gamaliel wußte unter den Juden wohl keiner Bescheid um die dunkle Funktion dieses Senators Messalin. Trotzdem überfröstelte es die Doktoren. Sie merkten den bösen Hintersinn der sanften Frage, sie erkannten, daß dies die gefährlichste Minute dieses schicksalsträchtigen Gespräches war, die gefährlichste Minute dieser bedenklichen Reise nach Rom. Was sollte man antworten? Sollte man die Namen der Sprößlinge Davids und ihrer Häupter diesen bösartigen Heiden und ihrem Kaiser preisgeben? Nicht als ob sie sehr geachtet gewesen wären, diejenigen, die heute der Finger des Volkes, und nicht einmal mit Sicherheit, als Sprößlinge Davids bezeichnete; seit vielen Geschlechtern waren viele berufen. Trotzdem waren sie heilig, denn unter ihnen war der Auserwählte oder der Stammvater des Auserwählten. Und die Hoffnung auf den Auserwählten war das Lichteste an der Lehre. Ja, ein großes Licht würde für immer verlöschen, wenn man leichtfertig das Geschlecht Davids preisgäbe und damit die Möglichkeit, daß der Messias je erscheine. Es wob um die Hoffnung auf den Messias Geheimnis, ein anziehend Urheiliges; wenn mit dem Geschlechte Davids dieses Heilige, Geheimnisvolle aus der Welt verschwand, dann war der Lehre ihr tiefster Zauber genommen.
  Was also sollte man tun? Wich man der sanften, tückischen Frage des blinden Mannes aus, verweigerte man die Namen, dann, sicherlich, wird sich der Zorn des Kaisers über das Lehrhaus von Jabne ergießen. Sollte man also die Sprößlinge Davids ausliefern?
  Der Wind war stärker geworden, er ging in Stößen und bauschte die Galakleider. Dunkelgrün glänzten Buchs und Taxus, silbern glitzerten die Ölbäume, von unten erschimmerte besonnt, leicht bewegt der See. Doch niemand achtete darauf. Der Kaiser saß auf den Stufen des Pavillons, die andern standen herum. Sie schauten auf den Großdoktor, an ihm jetzt lag es, zu antworten, und was wird er antworten? Selbst die Architekten Grovius und Larinas vergaßen den Ärger darüber, daß die Schaustellung ihrer Leistung beeinträchtigt war durch die Anwesenheit der barbarischen Gesandtschaft. Was wird der Erzpriester der Juden jetzt sagen?
  Bevor er indes antworten konnte, erklang die brüchige, grobe Stimme Doktor Helbos. Hatte nicht dieser Josef Ben Matthias soeben erst nochmals den Frevel der Lästerung begangen und so sich selber zur Ausrottung bestimmt? »Die vom Stamme Davids sind berufen«, sagte also Doktor Helbo, »aber nur wenige sind auserwählt. Da ist zum Beispiel dieser Josef Ben Matthias, früher Priester der Ersten Reihe, jetzt aber in Bann und ein Ketzer. Wie könnte ein solcher auserwählt sein? Und dennoch ist er vom Stamme Davids, wenn auch nur von Großmutterseite her. Sein Vater jedenfalls hat sich des vor meinen Ohren gerühmt.«
  »Interessant«, sagte der Kaiser, »interessant.«
  Alle Blicke richteten sich auf Josef. Es hatte sich um ihn ein kleiner, freier Raum gebildet; es war so wie damals, als der Bann gegen ihn ausgesprochen war und alle die sieben Schritte Abstand hielten. Sonderbar teilnahmslos stand er da, als wäre von einem Dritten die Rede, das Galakleid mit dem schmalen Purpurstreif legte sich im Wind an seine magern Glieder, mit abwesenden Augen beschaute er den Ring an seinem Finger, den Goldenen Reif des Zweiten Adels. In seinem Innern war Panik. Aus dem Geschlechte Davids, dachte er. Es ist wohl so. Aus Königsgeschlecht vom Vater und von der Mutter her, aus dem Geschlechte Davids und aus dem Geschlechte der Hasmonäer. Daß dieses jetzt über mich kommt, ist die Strafe dafür, daß ich damals den Römer als den Messias begrüßt habe. Mittlerweile aber hatte der Großdoktor seine Antwort gefunden. In seiner überlegenen, weltmännischen Art erklärte er: »Wenn das Volk den oder jenen als einen Abkömmling Davids bezeichnet, so ist das ein vulgärer Aberglaube, gegründet nicht auf die leiseste Spur eines Beweises. Manchmal sind es sehr geringe Männer, an welche dieser Aberglaube sich heftet, ein Fischer, ein Zimmermann. Wie sollte ein Sprößling Davids so herunterkommen?« Diesmal wurde er berichtigt von einem, von dem es keiner erwartet hätte. »Es ist aber manchmal ein großer Glanz auch um diese niedrigen Männer«, sagte die milde Stimme des alten Doktors Ben Ismael.
  »Laß dich anschauen, mein Josephus«, lächelte Domitian, »ob ein Glanz um dich ist!« Er stand auf, kam nah an den Juden heran. »Auf alle Fälle bleibt diese Angelegenheit mit eurem Messias dunkel und bedenklich«, entschied er, es klang abschließend.
  Nun aber dachte der Großdoktor an das, was er sich zurechtgelegt hatte über die Religiosität und Gottesscheu dieses Kaisers und fand es an der Zeit, seinesteils anzugreifen. »Ich bitte Eure Majestät«, bat er, »die Angelegenheit nicht als bedenklich anzuschauen. Dunkel ist die Lehre vom Messias, aber hüllen sich nicht die Götter vieler Völker in Dunkelheit?« Er stand jetzt Aug in Aug mit dem Kaiser, seine Stimme klang hell, stark, mutvoll, bedrohlich. »Es ist nicht gut«, warnte er, »wenn der Mensch versucht, zu tief in die Geheimnisse der Gottheit einzudringen. Vielleicht geschah es aus Gründen solcher Art, daß uns unser Gott so schwer gezüchtigt hat.« Ein kleines Zucken ging über das Gesicht des Kaisers, fast unmerklich, Gamaliel aber bemerkte es. Mehr zu erreichen, hatte er nicht gehofft; den Kaiser weiter zu bedrohen hätte die Wirkung nur verdorben. Gamaliel ließ es also bei seinem undeutlichen Ausspruch bewenden, ja er tat, als hätte er keine Warnung vorgebracht, sondern nur eine Entschuldigung, und er fuhr, leiser, fort: »Es ist kein leichter, heiterer Gott, unser Gott Jahve, es ist schwer, ihm zu dienen, er ist schnell gekränkt.«
  Die Drohung des Großdoktors bereitete dem Kaiser gerade durch ihre Vieldeutigkeit Unbehagen, Gamaliels schmetternde Stimme erinnerte ihn peinlich an die seines Bruders Titus, und dieser letzte Hinweis, Jahve sei schnell gekränkt, beunruhigte ihn tief. Was will er denn, dachte er, der jüdische Pfaffe? Ich denke doch gar nicht daran, ihm seine Universität zu schließen. Das könnte diesem Jahve passen, daß ich etwas gegen ihn unternehme und ihm den Vorwand liefere, mich zu schädigen. Ich werde mich hüten.
  »Ich habe gehört«, sagte er mit Anlauf, entschlossen, »ihr hättet Angst davor, man könnte euer Lehrhaus sperren. Wie kommt ihr auf solchen Aberwitz? Wie könnt ihr so unsinnigem Gerede Glauben schenken?« Er richtete sich hoch auf, blitzend, kaiserlich stand er im starken Wind. »Rom schützt die Götter der Völker, die sich seinem Schirm anvertraut haben«, verkündete er, und: »Habt keine Angst!« fuhr er fort, leutselig. »Ich werde euch ein Handschreiben mitgeben an meinen Gouverneur Pompejus Longin, das euch jeder weiteren Sorge überheben soll.« Mit einer leichten, anmutigen Bewegung legte er dem Großdoktor die Hand auf die Schulter. »Man sollte nicht gleich kleinmütig werden«, sagte er mit liebenswürdigem Spott, »und verzagen, mein heiliger Herr, unter der Regierung des Domitian, den Senat und Volk von Rom ihren Herrn und Gott nennen. Und vielleicht auch sollte man etwas mehr Vertrauen zu seinen eigenen Göttern haben.« Und, zu Josef gewandt, abschließend, mit einer lockern und gleichwohl fürstlichen Geste, sagte er: »Sind Sie zufrieden mit mir, mein Flavius Josephus, Geschichtsschreiber meines Hauses?«


Die Woche darauf, trotz der schlechten Jahreszeit, schifften sich der Großdoktor und seine Herren nach Judäa ein. Josef und Claudius Regin begleiteten Gamaliel ans Schiff.
  Gamaliel fand auch jetzt herzliche und sehr achtungsvolle Worte, um sich bei Josef zu bedanken, daß er ihm die Audienz beim Kaiser verschafft hatte. »Wieder«, sagte er, »haben Sie sich hohes Verdienst um die Sache Israels erworben. Ich hoffe nur, daß nicht am Ende Sie den Preis für unsere Privilegien zu zahlen haben werden. Da Domitian bis jetzt aus den unbesonnenen Äußerungen unseres Doktors Helbo keine Konsequen zen gezogen hat, wird er das, hoffe ich, auch weiter unterlassen.«
  Josef schwieg. Claudius Regin wiegte aber, besorgt, den Kopf und sagte: »Domitian ist ein langsamer Gott.«
  Dann bestiegen die Doktoren das Schiff, glücklich, im Besitz des sehr gnädig gehaltenen kaiserlichen Handschreibens. Aller Herzen waren erfüllt von Dank für Josef. Nur die Doktoren Helbo und Simon der Weber grollten ihm auch weiter.

Kurze Zeit darauf forderte der Senator Messalin den Josef auf, ihn zu besuchen. Der Kaiser erweise dem Senator die Gunst, bei ihm zu speisen, und wünsche, daß ihm Josef aus dem Manuskript seines Geschichtswerkes die Kapitel über den jüdischen König David vorlese.
  Da wußte Josef, daß Claudius Regin recht gehabt und daß der langsame Gott Domitian die Maßnahmen gegen ihn aufgeschoben, doch nicht aufgegeben hatte. Er erschrak in seinem Herzen. Gleichzeitig aber beschloß er, daß, wenn Gott ihn wirklich als Opfer an Stelle Jabnes bestimmt haben sollte, er nicht dagegen murren, sondern dieses Opfer voll demütigen Stolzes auf sich nehmen werde.
  Messalin, während Domitian faul auf dem Sofa lag, eröffnete dem Josef, der Kaiser sei interessiert an gewissen jüdischen Fragen, und da die Doktoren von Jabne nicht mehr in Rom seien, möchte er von Josephus Auskunft haben als von dem besten Kenner der Materie. »Ja«, nickte träg und wohlwollend der Kaiser, »es wäre freundlich von Ihnen, mein Josephus, wenn Sie uns belehren wollten.«
  Josef, sich an Messalin allein wendend, fragte: »Habe ich diese Unterredung als ein Verhör zu betrachten?« – »Was für harte Worte, mein Josephus«, tadelte lächelnd von seinem Sofa her der Kaiser, und: »Es handelt sich lediglich um eine Unterredung über historische Gegenstände«, betonte nochmals liebenswürdig der Blinde. »Es interessiert den Herrn und Gott Domitian zum Beispiel, wie Sie, ein Mann des Ostens, über das Schicksal des Cäsarion denken, jenes Sohnes des Julius Cäsar und der Kleopatra.« – »Ja«, pflichtete der Kaiser bei, »das interessiert mich. Cäsar hat ihn offenbar geliebt, diesen seinen Sohn«, setzte er auseinander, »und ihm die Rolle zugedacht, der vermittelnde Herrscher zwischen Ost und West zu sein. Es scheint auch, daß sich Cäsarion zu einem jungen Mann von vielen Gaben entwickelt hat.« – »Und worüber«, fragte betreten Josef, »wünschen Sie mein Urteil?« Messalin beugte sich vor, richtete die blinden Augen auf Josefs Gesicht, als sähe er, und fragte langsam und sehr deutlich: »Finden Sie, daß Augustus recht daran getan hat, diesen Cäsarion zu beseitigen?«
  Jetzt war es dem Josef klar, worum es ging. Domitian wollte sich, ehe er die Sprößlinge Davids erledigte, auch noch von einem seiner Opfer bestätigen lassen, daß er recht daran tue, es zu beseitigen. Vorsichtig sagte er: »Julius Cäsar hätte vor dem Tribunal der Geschichte sicher gute und schlagende Gründe vorbringen können, um die Tat des Augustus zu verurteilen. Augustus seinesteils hätte wohl nicht weniger gute Gründe gewußt, seine Tat zu rechtfertigen.« Domitian lachte ein kleines Lachen. Auch über das Antlitz des Blinden ging ein Lächeln, und er anerkannte: »Gut geantwortet. Allein was uns hier interessiert, ist nicht das Urteil des Cäsar, auch nicht das Urteil des Augustus, sondern nur Ihr Urteil, mein Flavius Josephus.« Und: »Finden Sie«, wiederholte er langsam, jedes Wort unterstreichend, »daß Augustus recht daran tat, als er den Prätendenten Cäsarion beseitigte?« Er neigte das Ohr dem Josef hin, begierig.
  Josef biß sich auf die Lippen. Schamlos und geradewegs sprach der Mann aus, worum es ging, um die Beseitigung unliebsamer Prätendenten, um seine, des Josef, Beseitigung. Er war wortgewandt, er hätte weiter ausweichen und sich der billigen Schlinge entziehen können; doch sein Stolz sträubte sich dagegen. »Augustus hat recht getan«, urteilte er kühl und ohne Umschweif, »den Cäsarion zu beseitigen. Der Erfolg hat ihn bestätigt.« – »Danke«, sagte Messalin, wie er es vor Gericht zu tun pflegte, wenn ihm der Gegner hatte einräumen müssen, daß er im Recht war.
  »Und jetzt erzählen Sie uns von Ihrem König David«, fuhr er munter fort, »dessen Sprößlinge zu euern künftigen Herrschern bestimmt sind!« – »Ja«, pflichtete ihm Domitian bei, »lesen Sie uns vor, was Sie über diesen Ihren Ahnherrn geschrieben haben! Zu diesem Zweck hat unser Messalin Sie hergebeten.«
  In seinem Herzen liebte Josef mehr den dunklen, zerrissenen Saul als jenen David, dem sich so vieles so leicht und glücklich erfüllte, und er wußte, daß die Kapitel über David nicht die besten seines Werkes waren. Heute aber, als er las, riß ihn sein Gegenstand mit, und er las gut. Es bereitete ihm Genugtuung, diesem römischen Kaiser zu berichten von dem großen, jüdischen König, der ein so gewaltiger Herrscher war und ein Sieger über die Völker. Josef las gut, und Domitian hörte gut zu. Er verstand etwas von Geschichte, er verstand etwas von Literatur, Josephus interessierte ihn, König David interessierte ihn, sein Gesicht spiegelte seine Anteilnahme.
  Einmal unterbrach er den Josef. »Es ist wohl schon ziemlich lange her, daß er regiert hat, dieser David?« fragte er. »Es war etwa um die Zeit des Trojanischen Krieges«, gab Josef Auskunft, und stolz fügte er hinzu: »Unsere Geschichte reicht sehr weit zurück.« – »Unsere römische«, räumte friedfertig der Kaiser ein, »beginnt erst mit der Flucht des Äneas aus dem brennenden Troja. Da hattet ihr also schon diesen großen König auf dem Thron eures Volkes sitzen. Aber lesen Sie weiter, mein Josephus!«
  Josef las, und wie er so dem römischen Kaiser vorlas, kam er sich selber ein wenig vor wie jener David, vor dem zerklüfteten König Saul auf der Harfe spielend. Er las lange, und als er aufhören wollte, verlangte der Kaiser, daß er weiterlese.
  Dann, als Josef zu Ende war, machte Domitian einige recht verständige Anmerkungen. »Er scheint die Technik des Regierens besessen zu haben, euer David«, meinte er etwa, »wiewohl ich seine verschiedenen Anfälle von Großmut nicht billige. Er hat zum Beispiel offenbar töricht gehandelt, wenn er den Saul, der in seine Hand gegeben war, verschonte, und das sogar ein zweites Mal. Später hat er denn auch zugelernt und sich klüger verhalten. Eines vor allem erscheint mir gut und königlich: daß er nämlich den Fürstenmord bestraft, selbst wenn dieser Mord an seinem Gegner und also zu seinen Gunsten vollzogen wird.«
  Ja, jene Maßnahmen des David, daß der den Mann, der den Saul erschlagen, hatte hinrichten lassen, schien den Kaiser zu befruchten, und mit einem kleinen Schauder mußte Josef erleben, mit welch ausgeklügelter Kunst dieser Domitian aus dem scheinbar Fernstliegenden eine Nutzanwendung für sich selber zu ziehen wußte. »Kaiser Nero«, wandte er sich nämlich an Messalin, »war gewiß ein Feind meines Hauses, und es war gut, daß er umkam. Trotzdem begreife ich nicht, daß der Senat seinen Mörder Epaphrodit ungestraft hat weiterleben lassen. Wer an einen Kaiser die Hand legt, darf nicht weiter in der Welt sein. Und lebt er nicht jetzt noch, dieser Epaphrodit? Lebt er nicht hier in Rom? Geht er nicht herum, eine zweibeinige Aufforderung zum Fürstenmord? Ich begreife nicht, wie der Senat das so lange hat dulden können.« Messalin, mit seiner liebenswürdigsten Stimme, entschuldigte seine Kollegen. »Vieles«, sagte er, »was die Berufenen Väter tun und lassen, ist mir nicht verständlich, mein Herr und Gott. Im Falle des Epaphrodit aber hoffe ich meine Kollegen mit Erfolg auf das Beispiel des alten Judenkönigs hinweisen zu können.« Finster und gramvoll fiel es den Josef an. Er schätzte den Epaphrodit; der war ein guter Mann, er liebte und förderte Künste und Wissenschaften, Josef hatte manche gute Stunde mit ihm verbracht. Jetzt also, ohne es zu wollen, hat er den Untergang dieses Mannes herbeigeführt.
  Bald darauf, unter einem Vorwand, ließ Messalin den Kaiser mit Josef allein. Domitian richtete sich auf seinem Sofa halb auf, und lächelnd, mit einladender Vertraulichkeit, sagte er: »Und jetzt, mein Josephus, reden Sie offen. Hat jener plumpe Mann unter denen von Jabne recht gehabt, der behauptete, Sie seien ein Sproß aus dem Hause des David? Es ist das, wie ja auch eure Doktoren erklären, mehr eine Sache des Gefühls, der Intuition, als aktenmäßiger Beweise. In diesem Gedankengang kann ich euch folgen. Wenn ich zum Beispiel selber glaube, ich sei ein Abkömmling des Herkules, dann bin ich es. Sicher haben Sie bereits begriffen, mein Flavius Josephus, wo ich hinauswill. Es ist dies: ich lege es in Ihre Hand, ob Sie für einen Sproß des David betrachtet werden wollen oder nicht. Wir stellen da nämlich Listen auf. Wir notieren, wer als Nach fahr des großen Königs zu betrachten ist, dessen Wirksamkeit Sie so vortrefflich geschildert haben. Verwaltungstechnische Gründe lassen meiner Regierung die Aufstellung einer solchen Liste wünschenswert erscheinen. Wie ist das nun mit Ihnen, mein Josephus? Sie sind ein begeisterter Jude. Sie rühmen sich Ihres Volkes, Sie rühmen sein Alter, seine großen zivilisatorischen Leistungen. Sie sind ein Bekenner. Ich glaube dem Bekenner Josephus. Was immer Sie mir sagen werden, ich glaub es Ihnen, es gilt. Sagen Sie mir: ›Ich bin ein Sproß aus dem Hause des David‹, und Sie sind es. Sagen Sie: ›Ich bin es nicht‹, und Ihr Name erscheint nicht auf jener Liste.« Er erhob sich, er ging ganz nah an Josef heran. Mit einer lächelnden, fast grinsenden, schaurigen Vertraulichkeit fragte er ihn: »Wie ist das, mein Jude? Alle Fürsten sind verwandt. Bist du mein Verwandter? Bist du ein Sproß des David?«
  Wirr stürmten in Josef Gedanken und Gefühle. Wenn das Volk von dem oder jenem behauptete, er sei aus Davids Geschlecht, so war das schieres Gerede und nicht weiter nachprüfbar. Auch hat er selber niemals von dieser seiner angeblichen Abstammung Aufhebens gemacht. Es wäre also sinnlos, jetzt Bekennermut zu zeigen und stolz zu erklären: Ja, ich bin aus Davids Geschlecht. Niemand hätte Nutzen davon, das einzige, was er dadurch erreichen könnte, wäre das eigene Verderben. Weshalb wohl treibt es ihn trotzdem so mächtig, ja zu sagen? Deshalb, weil dieser Kaiser der Heiden seltsamerweise recht hat. Er, Josef, weiß aus dem Gefühl, also aus einem tiefen Wissen heraus, daß er wirklich zu den Berufenen gehört, zu denen aus Davids Geschlecht. Der Kaiser der Heiden will ihn demütigen und ihn verlocken, sein Bestes zu verleugnen. Und wenn er sich dahin bringen läßt, wenn er seinen großen Ahn David abschwört, dann wird dieser Kaiser nicht nur ihn, er wird sein ganzes Volk verachten, und mit Recht. Was sich da zwischen Domitian und ihm abspielt, das ist eine der vielen Schlachten in dem Krieg, den sein Volk gegen Rom um seinen Jahve führt. Aber wo ist der rechte Weg? Was erwartet die Gottheit von ihm? Es ist Feigheit, wenn er seine »Berufung« verleugnet. Aber ist es nicht geistiger Hochmut, wenn er sich, gegen die Vernunft, zu seinem Gefühl bekennt? Still stand er da, hager. Nichts von seiner Ratlosigkeit zeigte sich auf seinem fleischlosen Gesicht; die brennenden Augen unter der breiten, hohen, gebuckelten Stirn hielt er auf den Kaiser gerichtet, nachdenklich, sehend und nicht sehend, und nur mit Mühe hielt Domitian den Blick aus. »Ich merke schon«, sagte er, »du willst mir nicht ja sagen und auch nicht nein. Das begreife ich. Aber wenn dem so ist, dann, mein Lieber, weiß ich dir ein Drittes. Du hast meinen Vater, den Gott Vespasian, als den Messias begrüßt. Wenn du das zu Recht getan hast, dann muß von diesem Messias-Wesen doch auch etwas in mir selber sein. Ich frage dich also: bin ich der Sohn und Erbe des Messias? Bedenke dich gut, ehe du antwortest. Wenn ich der Erbe des Messias bin, dann ist, was das Volk über die Sprößlinge Davids schwatzt, leeres Gefasel, nichts weiter, dann droht keine Gefahr von den Sprößlingen Davids, und es lohnt nicht, daß meine Beamten ihre Listen anlegen. Weich mir also nicht aus, mein Jude. Rette deine Sprößlinge Davids und dich selber. Sag es, das Wort. Sag zu mir: ›Du bist der Messias‹, und fall nieder und bete mich an, wie du meinen Vater angebetet hast.«
  Josef erbleichte tief. Das hat er doch schon erlebt. Wann nur? Wann und wie? Er hat es im Geiste erlebt. So wird es erzählt in den Geschichten von dem reinen und von dem gefallenen Engel, und so auch fordert in den Schriften der Minäer der Versucher, der Verleumder, der Diabolus den Messias auf, sein eigenes Wesen zu verleugnen und ihn anzubeten, und verspricht ihm dafür alle Herrlichkeit der Welt. Seltsam, wie sich in seinem eigenen Leben die Sagen und Geschichten seines Volkes spiegeln. Er ist so durchtränkt mit der Vergangenheit seines Volkes, daß er sich selber verwandelt in die Gestalten dieser Vergangenheit. Und wenn er jetzt diesem römischen Kaiser, dem Versucher, gehorcht und ihn verehrt, wie er’s verlangt, dann verleugnet er sich selber, sein Werk, sein Volk, seinen Gott.
  Noch immer schaute er unverwandt auf den Kaiser; sein Blick hatte sich nicht geändert, seine brennenden Augen behielten jenes tief Nachdenkliche, sehend nicht Sehende. Verändert aber hatte sich das Gesicht des Kaisers. Domitian lächelte, er grinste, mit scheußlicher, Grauen einflößender Freundlichkeit. Sein Gesicht war überrötet, seine kurzsichtigen Augen zwinkerten den Josef mit gespielter, falscher, einladender Vertraulichkeit an, seine Hand fächelte grotesk die Luft, es war wie ein Winken. Kein Zweifel, der Kaiser, der Herr und Teufel Domitian, Dominus ac Diabolus Domitianus, wollte ein Einverständnis mit ihm herstellen, ein Einverständnis, wie er es vermutete zwischen ihm und seinem weiland Vater Vespasian.
  Josefs Gedanken, so ruhig sein Gesicht blieb, trübten sich. Er hätte nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen können, ob Domitian diese letzten Worte, er solle vor ihm niederfallen und ihn anbeten, wirklich gesprochen hatte oder ob es nur die Erinnerung war an den gefallenen Engel der alten Geschichten und an den Diabolus der Minäer. Gedauert jedenfalls hatte diese seine Versuchung durch Domitian nur sehr kurz. Schon war der Kaiser wieder nur mehr der Kaiser; die Arme eckig nach hinten, stand er da, herrscherhaft, und er sagte förmlich: »Ich danke Ihnen für Ihre interessante Vorlesung, mein Ritter Flavius Josephus. Was die Frage anlangt, die ich an Sie gerichtet habe, ob Sie ein Sproß des von Ihnen geschilderten Königs David sind, so mögen Sie sich die Antwort in Ruhe überlegen. Ich erwarte Sie in den nächsten Tagen beim Morgenempfang. Dann werde ich Sie von neuem fragen. Wo aber bleibt unser liebenswürdiger Wirt?«
  Er klatschte in die Hände, und: »Wo bleibt unser Messalin?« sagte er zu den herbeistürzenden Dienern. »Ruft mir den Messalin! Wir verlangen nach ihm, ich und mein Jude Flavius Josephus.«


In diesen Tagen schrieb Josef den »Psalm vom Mut«:

Wohl rühm ich den, der in der Schlacht seinen Mann
steht.
Pferde stürmen an,
Pfeile schwirren, Eisen klirrt,
Arme mit Äxten und Schwertern sausen Ihm vorm Aug auf ihn zu.


Er aber duckt sich nicht. Er sieht den Tod, reckt sich und steht ihm.


Mut verlangt das. Doch nicht mehr Mut
Als den eines jeden, der mit Recht sich Mann nennt.
Tapfer zu sein in der Schlacht ist nicht schwer.
Überspringt da der Mut von einem zum andern.
Keiner glaubt,
Er könnte es sein, den der Tod meint.
Niemals fester glaubst du
An viele Tage des Lebens noch vor dir
Als in der Schlacht.

Höher schon steht jenem der Mut,
Der hinauszieht in ödes Land der Barbaren, Es zu erforschen,
Oder der ein Schiff steuert hinaus in die leere See, Immer weiter hinaus,
Zu sichten, ob dort nicht neues Land sei Und neue Feste.

Aber wie der Mond verbleicht, wenn die Sonne kommt,
So verblaßt der Ruhm auch dieses Mannes
Vor dem Ruhme jenes,
Der da kämpft für ein Unsichtbares.
Sie wollen ihn zwingen,
Ein Wort zu sprechen, ein körperloses, wesenloses,
Es verfliegt, sowie er’s gesprochen,
Keiner mehr hört es, es ist nicht mehr da:
Er aber sagt das Wort nicht.

Oder aber es drängt ihn das Herz,
Ein Wort zu sagen, ein bestimmtes,
Und er weiß, das Wort bringt ihm Tod.
Kein Preis ist gesetzt auf das Wort,
Nur der Untergang,
Und er weiß es
Und sagt sein Wort dennoch.
Wenn einer das Leben einsetzt,
Gold zu erlangen, Macht zu gewinnen,
Dann kennt er den Preis seiner Fährnis,
Vor ihm schwebt er, greifbar,
Er kann ihn wägen.
Was aber ist ein Wort?

Darum sag ich:
Heil dem Manne, der den Tod auf sich nimmt,
Sein Wort zu sagen, weil das Herz ihn drängt.
Darum sag ich:
Heil dem Manne, der sagt, was ist.
Darum sag ich:
Heil dem Manne, den du nicht zwingen kannst, Zu sagen, was nicht ist.

Denn er nimmt es auf sich, das Schwerste.
Sehend, mitten im nüchternen Tag,
Winkt den Tod er herbei und spricht zu ihm:
komm!
Für ein körperloses Wort Steht er dem Tode,
Es zu verweigern, wenn es seine Lüge ist,
Es zu bekennen, wenn es seine Wahrheit ist.

Heil dem Manne,
Der dafür dem Untergang steht.
Denn das ist der Mut,
Zu dem Gott ja sagt.


An einem der nächsten Morgen ließ sich Josef dem Gebot des Kaisers zufolge die Heilige Straße hinauftragen zum Empfang im Palatin.
  Am Eingang des Palais wurde er wie alle Besucher nach Waffen untersucht, dann ließ man ihn in die erste Vorhalle. Es waren mehrere hundert Menschen da, die Türhüter riefen die Namen auf, die Beamten des Hofmarschalls Crispin notierten sie, wiesen fort, ließen zu. Im zweiten Vorraum drängten sich die Gäste. Von einem zum andern eilten die Zeremonialbeamten und ordneten nach Anweisung des Crispin die Listen.
  Josefs Anwesenheit fiel auf. Er sah, daß sein Besuch auch den Crispin beunruhigte, und nahm nicht ohne ein kleines Lächeln wahr, daß ihn Crispin nach einigem Zögern nicht unter die Bevorzugten auf die Liste der »Freunde der Ersten Vorlassung« setzte, sondern nur auf die Liste aller andern vom Zweiten Adel. Auf dem Wege war Josef mutig gewesen und hatte sich gesagt, je eher die qualvolle Stunde vorbei sei, so besser; jetzt war er froh, daß er, da er nur auf der Zweiten Liste stand, vielleicht unbeachtet und unverrichteterdinge wieder gehen könne.
  Endlich erscholl der Ruf: »Der Herr und Gott Domitian ist erwacht!«, und die Türen, die zum Schlafgemach des Kaisers führten, öffneten sich. Man sah Domitian halbaufgerichtet auf dem breiten Lager, Gardeoffiziere in voller Rüstung ihm zur Rechten und zur Linken.
  Die Ausrufer riefen die Namen der Ersten Liste aus, und einer nach dem andern traten die Träger dieser Namen ins innere Gemach. Gierig spähten die Außenstehenden, wie der Kaiser jeden einzelnen begrüßte. Den meisten streckte er nur die Hand zum Kuß hin, nur wenige würdigte er der Umarmung, die der Brauch vorschrieb. Es war verständlich, daß er nicht Tag für Tag eine Reihe von Menschen küssen wollte, die ihm zuwider waren, ganz abgesehen von der Gefahr der Anstekkung. Allein kein Kaiser vor ihm hatte es so offen gezeigt, als eine wie peinliche Aufgabe er diese Begrüßung empfand, es erregte böses Blut, daß gerade Domitian, der Hüter der Bräuche, sich diesem guten Brauch mehr und mehr entzog, und viele waren gekränkt.
  Schon nach kurzer Weile ließ der Kaiser eine Pause eintreten. Ohne Rücksicht auf die Menge seiner Gäste gähnte er, rekelte sich, schickte langsam verdrossene Blicke über die Versammelten, winkte den Crispin herbei, überflog die Listen. Dann, plötzlich, belebte er sich. Klatschte seinen Zwerg Silen heran, flüsterte mit ihm. Der Zwerg watschelte in den Vorraum, alle Blicke folgten ihm; sein Weg ging zu Josef. In das lautlose Schweigen hinein, tief sich neigend, sagte der Zwerg: »Der Herr und Gott Domitian befiehlt Sie an sein Bett, mein Ritter Flavius Josephus.«
  Josef, vor den Augen der ganzen Versammlung, begab sich in den Innenraum. Der Kaiser hieß ihn sich auf sein Bett setzen, das war eine hohe Auszeichnung, deren heute kein anderer gewürdigt worden war. Er umarmte und küßte ihn, nicht widerwillig, sondern langsam und ernst, wie es die Sitte gebot.
  Während aber seine Wange an die Wange des Josef geschmiegt war, flüsterte er: »Bist du der Sproß des David, mein Josephus?« Und Josef erwiderte: »Du sagst es, Kaiser Domitian.«
  Der Kaiser löste sich aus der Umarmung. »Sie sind ein mutiger Mann, Flavius Josephus«, sagte er. Dann geleitete der Zwerg Silen, der alles mit angehört hatte, den Josef zurück in den Vorraum. Diesmal neigte er sich noch tiefer und sagte: »Leben Sie wohl, Flavius Josephus, Sproß des David!« Der Kaiser aber ließ die Türen des Schlafgemachs schließen, der Empfang war zu Ende.

Wieder wenige Tage später wurde im Amtlichen Tagesbericht folgendes verkündet. Der Kaiser habe das Geschichtswerk geprüft, an welchem der Schriftsteller Flavius Josephus jetzt arbeite. Es habe sich ergeben, daß dieses Buch dem Wohl des Römischen Reiches nicht förderlich sei. Es habe somit der genannte Flavius Josephus nicht die Hoffnungen erfüllt, die sich an sein erstes Werk, das über den jüdischen Krieg, geknüpft hätten. Der Herr und Gott Domitian habe deshalb angeordnet, die Büste dieses Schriftstellers Flavius Josephus aus dem Ehrensaal des Friedenstempels zu entfernen.
  Jene Büste, welche den Kopf des Josef darstellte, schräg über die Schulter gewandt, hager, kühn, wurde also aus dem Friedenstempel entfernt. Sie wurde dem Bildhauer Basil übergeben, damit er ihr kostbares Metall – korinthisches Erz, eine einmalige Mischung, entstanden bei der Einäscherung der Stadt Korinth aus dem ineinanderfließenden Metall verschiedener Statuen – verwende für eine Büste des Senators Messalin, mit deren Modellierung ihn der Kaiser beauftragt hatte.



DRITTES KAPITEL



»Haben Sie sich versprochen, oder habe ich mich verhört?« fragte Regin den Marull und wandte den fleischigen Kopf
     so jäh herum, daß ihn der leibeigene Friseur bei aller Geschicklichkeit beinahe geschnitten hätte. »Nicht das eine noch das andere«, erwiderte Marull. »Die Anklage gegen die Vestalin Cornelia wird erhoben werden, das steht fest. Der Kurier gestern aus Pola hat die Anweisung mitgebracht. Es muß DDD viel an der Sache liegen. Sonst hätte er den Befehl nicht von der Reise aus gegeben, sondern gewartet, bis er zurück ist.« Regin brummelte etwas, die schweren, schläfrigen Augen unter der vorgebauten Stirn schauten noch nachdenklicher als sonst, und noch ehe der Friseur mit seiner Arbeit recht zu Ende war, winkte er ihm ungeduldig, sich zu entfernen.
  Dann aber, allein mit dem Freund, sagte er nichts. Er begnügte sich, langsam den Kopf zu schütteln und die Achseln zu zucken. Er brauchte auch nichts zu sagen, Marull verstand ihn ohne Worte, für ihn war das Ereignis genauso unglaubhaft. Hatte DDD nicht genug an dem Sturm von damals, als er von den sechs Vestalinnen jene beiden andern prozessierte, die Schwestern Oculatae? Und war die Stimmung nicht ohnedies flau genug jetzt, nach diesem nicht geradezu glänzenden sarmatischen Feldzug? Was, beim Herkules, versprach sich DDD davon, wenn er die altmodisch brutalen Gesetze hervorholte und die Vestalin Cornelia auf Unkeuschheit verklagen ließ?
  Junius Marull, an den schmerzenden Zähnen saugend, beschaute mit den scharfen, blaugrauen Augen gelassen den verdrießlich schnaufenden Freund. Bis aufs Wort erriet er dessen Gedanken. »Ja«, erwiderte er, »die Stimmung ist flau, da haben Sie recht. Für den Mann von der Straße sieht der Ausgang des sarmatischen Feldzugs nicht glänzend aus, obwohl es ein ganz solider Erfolg ist. Aber vielleicht ist es gerade deshalb. Unsere lieben Senatoren werden das Ergebnis des Krieges bestimmt in eine Niederlage umfälschen. Die Vestalin Cornelia ist verwandt und verschwägert mit dem halben Adel. Vielleicht glaubt Wäuchlein, die Herren werden sich mehr hüten, wenn er vor einer Anklage selbst gegen Cornelia nicht zurückschreckt.«
  »Arme Cornelia!« sagte statt aller Antwort Regin. Beide jetzt sahen sie Cornelia vor sich, das zarte und doch frisch und heitere Gesicht der Achtundzwanzigjährigen unter dem braunschwarzen Haar, sie sahen sie, wie sie ihnen zulächelte in ihrer Ehrenloge im Zirkus, oder wie sie, mit den fünf andern Vestalinnen, an der Spitze der Prozession zum Tempel des Jupiter hinanstieg, groß, schlank, unberührt, freundlich und sicher in sich ruhend, Priesterin, Mädchen, große Dame.
  »Man muß zugeben«, meinte schließlich Marull, »seit dem Aufstand des Saturnin hat er die innere Berechtigung, gegen seine Feinde jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Ziel führt.« – »Erstens führt dieses Mittel nicht zum Ziel«, entgegnete Regin, »und zweitens glaube ich nicht, daß dieser Prozeß gegen den Senat gerichtet ist. DDD weiß so gut wie wir, daß es da weniger gefährliche Maßnahmen gäbe. Nein, mein Lieber, seine Gründe sind simpler und tiefer. Er ist einfach unzufrieden mit dem Ausgang des Feldzugs und will sich seine Sendung auf andere Art beweisen. Ich höre ihn schon große Worte wälzen. ›Das Jahrhundert des Domitian wird durch solche Beispiele strenger Sitte und Religiosität in fernste Zeiten hinüberstrahlen.‹ Ich fürchte«, schloß er seufzend, »manchmal glaubt er selber an seine Reden.«
  Eine Weile saßen die beiden schweigend. Dann fragte Regin : »Und weiß man, wer eigentlich den Partner der unseligen Cornelia abgeben soll?« – »Man nicht«, antwortete Marull, »aber Norban weiß es. Ich vermute, es ist Crispin, der in die Geschichte hineinverwickelt ist.« – »Unser Crispin?« fragte ungläubig Regin. »Es ist eine bloße Vermutung«, erwiderte rasch Marull, »Norban hat natürlich zu niemand ein Wort gesagt, es sind Blicke und halbe Gesten, aus denen ich es schließe.« – »Ihre Vermutungen«, gab Regin zu, die Zunge nachdenklich von einem Mundwinkel zum andern führend, »haben die Eigenschaft, einzutreffen, und Norban ist sehr findig, wenn er einen haßt. Es wäre ein Jammer, wenn wirklich, bloß weil Norban eifersüchtig auf den Ägypter ist, dieses erfreuliche Geschöpf Cornelia vor die Hunde gehen sollte.«
  Marull, teils weil er keine Sentimentalität in sich hochkommen lassen wollte, teils aus alter Gewohnheit, spielte den Frivolen. »Schade«, sagte er, »daß man nicht selber daraufgekommen ist, daß Cornelia nicht nur Vestalin ist, sondern eine Frau. Aber, beim Herkules, wenn sie zum Capitol hinaufstieg in dem schweren, altmodischen, weißen Kleid und mit der altmodischen Frisur, dann hat nicht einmal ein so abgebrühter Materialist wie ich daran gedacht, was wohl unter diesem Kleid stecken mag. Dabei ist doch gerade so was Heiliges, Verbotenes mein Fall. Ich habe einmal, in meiner wildesten Zeit, mit der Pythia von Delphi geschlafen. Sie war nicht besonders hübsch, auch schon etwas angejahrt, das Vergnügen stand in gar keinem Verhältnis zu der Gefahr; was mich gereizt hat, war nur das Heilige. Man hätte ein Mädchen wie diese Cornelia nicht auslassen dürfen, man hätte sie nicht einem Crispin überlassen dürfen.«
  Claudius Regin, sonst nicht prüde, ging heute auf diesen Ton nicht ein. Während er sich ächzend niederbeugte, um den Schuhriemen fester zu binden, der sich wieder einmal gelokkert hatte, sagte er: »Schwer macht es einem DDD, ihm freund zu bleiben.« – »Haben Sie Geduld mit ihm«, redete ihm Marull zu. »Er hat viele Feinde. Er ist jetzt zweiundvierzig«, überlegte er und suchte mit seinen scharfen Augen die schläfrigen des andern. »Aber ich fürchte, wir haben Aussicht, ihn zu überleben.«
  Regin erschrak. Was da Marull gesagt hatte, war so richtig und so tollkühn, daß man es auch unter nahen Freunden nicht hätte über die Lippen bringen dürfen. Aber nun Marull einmal so weit gegangen war, wollte sich auch Regin nicht bezähmen. »Eine solche Fülle von Macht«, sagte er, bemüht, die helle, fettige Stimme zu dämpfen, »das ist schon eine Krankheit; eine Krankheit, die das Leben auch eines kräftigen Mannes rasch aufzehrt.« – »Ja«, meinte, auch er jetzt fast flüsternd, Marull, »der Geist eines Mannes muß höllisch feste Wände haben, wenn er nicht bersten soll unter einer solchen Fülle von Macht. DDD hat erstaunlich lange standgehalten. Erst seit dem Staatsstreich des Saturnin ist er so« – er suchte das Wort – »merkwürdig geworden.« – »Dabei«, erwiderte Regin, »hat er gerade in dieser Sache so unmenschliches Glück gehabt.« – »Cäsar und sein Glück«, entgegnete sententiös Marull. »Aber soviel Glück hält eben keiner aus.« – »Cäsar«, überlegte Regin, »ist sechsundfünfzig geworden, ehe ihn sein Glück verließ.« – »Schade um ihn«, sagte etwas dunkel Marull. Und: »Schade um Cornelia«, sagte Regin.

»Er wird es nicht wagen«, brach plötzlich der Senator Helvid aus. Man hatte von den Garnisonsverstärkungen im Nordosten gesprochen, die der Friedensschluß zur Folge haben mußte, und was der jähzornige Helvid da auf einmal hereinwarf, hatte mit dieser Frage nicht das leiseste zu tun. Trotzdem wußten alle, was er meinte. Denn, auch wenn man von anderm sprach, drehten sich ihrer aller Gedanken unaufhörlich um die Schmach, die der Kaiser der Vestalin Cornelia und in ihr dem ganzen alten Adel anzutun sich anschickte.
  Viele Gewalttaten hatte ihnen Domitian bereits angetan, den vier Männern und den beiden Frauen, die sich hier im Hause des Helvid versammelt hatten. Da waren Gratilla, die Schwester, und Fannia, die Frau des Caepio, den er hatte hinrichten lassen. Und alle hier waren sie Freunde und Vertraute gewesen des Prinzen Sabin und des Aelius und der neun andern Senatoren, die gleichzeitig mit Caepio hatten sterben müssen, weil sie in den mißglückten Staatsstreich des Saturnin verwickelt gewesen waren. Allein, wenn der Kaiser diese Männer getötet hatte, ja wenn er gegen sie selber, die hier Zusammengekommenen, vorging, so hatten solche Gewalttaten, von seinem Standpunkt aus gesehen, Sinn und Zweck. Die Verfolgung der Cornelia aber war nichts als eine wüste, jeden Sinnes bare Laune. Es war über alle Vorstellung hinaus schamlos, wenn dieser Kaiser, wenn just dieser geile Bock Domitian Cornelia antastete, unsere reine, süße Cornelia. Wo immer sie erschien, da hatte man das Gefühl: die Welt ist doch noch nicht verloren, da sie in ihr ist, Cornelia. Und sie, gerade sie, mußte sich der Unmensch herausgreifen!
  Es war, ohne daß sie viele Worte darum hätten machen müssen, das Gleichnishafte des Vorgangs, was die vier Männer und die beiden Frauen im Hause des Helvid so tief aufwühlte. Wenn Domitian, die zweibeinige Lasterhaftigkeit, das wahrhaft adelige Mädchen Cornelia durch falsche Zeugen der Unkeuschheit überführen und schimpflich hinrichten ließ, so zeigte sich darin bildhaft die ganze grinsende Verderbtheit dieses Roms. Nichts auf der Welt gab es, wovor dieser Kaiser zurückgeschreckt wäre. Unter seinem Regiment verzerrte sich das Adelige ins Gemeine.
  »Er wird es nicht wagen«, damit haben sie sich getröstet vom ersten Tag an, da sie von dem Gerücht gehört hatten. Doch in wie vielen ähnlichen Fällen hatten sie sich mit ähnlichen Worten getröstet. Sooft von einem neuen, schamlosen Vorhaben des Kaisers die Rede ging, hatten sie geknirscht: das wird er sich nicht erdreisten, das werden sich Senat und Volk nicht bieten lassen. Aber insbesondere seit dem verunglückten Aufstand des Saturnin hatte er sich alles erdreistet, und Senat und Volk hatten sich alles bieten lassen. Trüb war die Erinnerung an diese vielen Niederlagen in ihnen, aber sie ließen sie nicht in sich hochkommen. »Er wird es nicht wagen.« Sie hängten ihre Hoffnung an die Worte, die der Senator Helvid so wütend und zuversichtlich hervorgestoßen hatte.
  Da aber tat der Jüngste unter ihnen den Mund auf, der Senator Publius Cornel. »Er wird es wagen«, sagte er, »und wir werden schweigen. Es hinnehmen und schweigen. Und wir werden recht daran tun; denn es ist das einzige, was uns in dieser Zeit übrigbleibt.«
  Aber: »Ich will nicht schweigen, und man soll nicht schweigen«, sagte Fannia. Uralten, erdbraunen, kühnen und finsteren Gesichtes saß sie da und richtete erzürnte Blicke auf Publius Cornel. Der war ein naher Verwandter der bedrohten Vestalin, ihn ging ihr Schicksal mehr an als die andern, und er bereute auch schon beinahe, was er gesprochen hatte. Vor Gleichgesinnten hätte er so reden dürfen, nicht aber in Gegenwart dieser alten Fannia. Sie war die Tochter des Paetus, dem, unter Nero, sein republikanischer Bekennermut den Tod gebracht hatte, sie war die Witwe des Caepio, den, nach der Niederschlagung des Saturnin, Domitian hatte hinrichten lassen. Immer wenn Fannia sprach, überkamen den Cornel Zweifel, ob er nicht doch vielleicht jenes Schweigen, das er mit soviel Gründen der Vernunft empfahl, zu Unrecht als heldenhaft hinstellte und ob nicht doch am Ende das demonstrative Märtyrertum einer Fannia die bessere Tugend sei.
  Langsam wandte er das trotz seiner Jugend stark zerkerbte, düstere Gesicht von einem zum andern. Nur der maßvolle Decian sandte ihm einen halben Blick des Einverständnisses. Ohne viel Hoffnung also suchte Cornel darzulegen, warum er jede Art Demonstration gerade in Sachen der Vestalin Cornelia für schädlich halte. Das Volk liebe und verehre Cornelia. Ein Prozeß gegen sie oder gar ihre Exekution werde dem Volk nicht, wie es Domitian wahrscheinlich wünsche, als strenger Dienst an den Göttern erscheinen, sondern einfach als etwas Unmenschliches, als Frevel. Wenn aber wir von der Senatspartei demonstrieren, dann drücken wir dadurch nur die Angelegenheit aus der Sphäre des allgemein Menschlichen ins Politische hinunter.
  Decian pflichtete bei. »Ich fürchte«, sagte er, »unser Cornel hat recht. Wir sind machtlos, wir können nichts als schweigen.« Aber er brachte diese Worte nicht sachlich und gehalten vor, wie es sonst seine Art war, sondern so gequält und bar aller Hoffnung, daß die andern betroffen aufschauten.
  Es war dies, daß dem Decian eine Botschaft von Cornelia zugekommen war. Eine Freigelassene der Cornelia hatte sie überbracht, eine gewisse Melitta. In verstörten Worten hatte ihm dieses Mädchen berichtet, es habe sich beim Fest der Guten Göttin im Hause der Volusia, der Frau des Konsuls, etwas höchst Peinliches ereignet. Worin dieses Peinliche bestanden hatte, hatte Decian den wirren Worten der Melitta nicht entnehmen können; gewiß war, daß Melitta hineinverwickelt war und Cornelia ernstlich bedroht. Nun liebte der ruhige, nicht mehr junge Senator Decian die Vestalin Cornelia, und er glaubte wahrgenommen zu haben, daß auch ihr Lächeln sich vertiefte und freundschaftlicher wurde, wenn sie ihn sah. Es war eine stille, nicht zudringliche, so gut wie aussichtslose Liebe. Der Cornelia sich zu nähern war schwer, beinahe unmöglich, und wenn sie das Haus der Vesta wird verlassen dürfen, wird er ein alter Mann sein. Daß sie seine Hilfe anrief, hatte ihn tief aufgerührt. Melitta, im Namen ihrer Herrin und Freundin, hatte ihn beschworen, sie aus Rom fortzubringen, sie unauffindbar zu machen. Er hatte alles getan, Melitta zu helfen, er hatte sie durch Vertrauensleute in großer Heimlichkeit auf seine Besitzung in Sizilien schaffen lassen, dort lebte sie jetzt, verborgen, und wahrscheinlich war mit ihr die Hauptzeugin verschwunden, auf welche die Feinde der Cornelia sich hätten berufen können. Allein wenn Domitian ernstlich gewillt war, Cornelia zu vernichten, dann kam es wohl auf einen Zeugen mehr oder weniger nicht an, dann entschied wohl kaum die Gerechtigkeit, sondern lediglich Haß und Willkür. Dieses Gefühl der Fesselung und Machtlosigkeit hatte jetzt, während Cornel sprach, den Decian zwiefach angefallen, und sein Kummer war durch seine Worte durchgeklungen.
  Fannia indes achtete weder auf den Kummer des Decian noch auf die Vernunft des Publius Cornel. Das erdbraune Gesicht verhärtet in Leid und Strenge, saß sie da. »Wir dürfen nicht schweigen«, beharrte sie, und ihre Stimme klang voll aus dem uralten Gesicht, »es wäre ein Verbrechen und eine Schande.« Das lebt immer nur fürs Lesebuch, dachte unzufrieden Publius Cornel, und will durchaus die Heldentradition der Familie fortsetzen. Dabei wird sie in meinem Geschichtswerk höchstens eine gute Episodenfigur abgeben, Geschichte wird sie nicht machen. Doch konnte er trotz dieser sachlichen Kritik nicht umhin, die Frau zu bewundern, die sich so heldisch und so töricht heraushob aus ihren Zeitgenossen, und die eigene Vernunft zu bedauern.
  Gratilla, die Schwester des getöteten Caepio, eine gelassene, vornehme, etwas füllige ältere Dame, pflichtete ihrer Schwägerin Fannia bei. »Vernunft«, höhnte sie, »Vorsicht, Politik. Alles gut und schön. Aber wie soll jemand, der ein Herz im Leibe hat, auf die Dauer die Scheußlichkeiten dieses Domitian ohne Widerspruch hinunterschlucken? Ich bin eine einfache Frau, ich verstehe nichts von Politik, ich kenne keinen Ehrgeiz. Doch mir steigt die Galle hoch, wenn ich daran denke, was einmal die Späteren von uns halten sollen, unsere Söhne und Enkel, falls wir uns dieses Regiment der Lüge und Gewalt widerspruchslos sollten gefallen lassen.«
  »Wann wird Ihre Biographie des Paetus fertig, mein Pris cus?« nahm wieder Fannia das Wort. »Wann wird sie erscheinen? Es ist mir eine tiefe Befriedigung, daß wenigstens einer nicht schweigt, daß wenigstens einer spricht und seinen Grimm nicht einsperrt.«
  Priscus, so angerufen, sah hoch, wandte den völlig kahlen Kopf von einem zum andern, sah, daß alle auf ihn schauten, gespannt auf seine Antwort wartend. Priscus galt als der größte Jurist des Reichs, er war berühmt darum, daß er jedes Für und Wider sorglich wäge. So übersah er denn nicht die Verdienste des Domitian um die Verwaltung des Reichs, aber er sah auch sehr genau die Willkür und Verantwortungslosigkeit dieses persönlichen Regimes, die vielen klaren Verletzungen des Rechts. Von dieser seiner Erkenntnis aber konnte er nur im Kreise seiner Vertrauten reden, vor allen andern mußte er sie, wenn er nicht einen Prozeß wegen Majestätsverletzung gegen sich heraufbeschwören wollte, in seinem Busen wahren. Für sich persönlich nun hatte er einen Ausweg gefunden. Er schwieg, und schwieg dennoch nicht. Er legte seinen Groll nieder in einem historischen Werk, in einer Darstellung des Lebens des großen Paetus Thrasea, des Vaters der Fannia. Es reizte ihn, das Leben dieses Republikaners, den Nero um seiner freiheitlichen Gesinnung willen hatte hinrichten lassen und den die Legende verklärte, in höchster Sachlichkeit darzustellen, entkleidet der legendarischen Züge, und so darzutun, daß dieser Paetus Thrasea, auch bar allen mythischen Beiwerks, ein großer Mann gewesen sei und höchster Verehrung wert. Fannia konnte ihm für dieses sein Werk viel Material liefern, eine große Menge unbekannter und exakter Details.
  Dieses jetzt beinahe vollendete Werk aber war nur für den Autor selber bestimmt und für seine nächsten Vertrauten, vor allem für Fannia. Ein solches Werk unter dem Regime des Domitian zu veröffentlichen, das hieß Stellung und Vermögen, ja das Leben aufs Spiel setzen, und daran hatte er nie gedacht. Wenn also Fannia jetzt erklärte, er, Priscus, schweige nicht, er sperre seinen Grimm nicht ein, dann war das, gelinde gesagt, eine Übertreibung und ein Mißverständnis. Denn eigentlich hatte er ja in einem gewissen Sinne gerade das beabsichtigt. Seinen Grimm einsperren, das Buch in die Truhe sperren, genau das hatte er wollen, und sein einziger Zweck war gewesen, sich das Herz zu erleichtern. Von einer Publikation versprach er sich wenig. Eine solche Veröffentlichung wäre nichts gewesen als eine demonstrative Geste, und recht, dreimal recht hatte dieser Publius Cornel, mit solchen ostentativen Gesten war nichts getan, sie konnten an den Dingen selber nichts ändern, wie sollte Literatur gegen Macht aufkommen?
  Dies also waren die Meinungen des Priscus. Da aber sah er auf sich gerichtet die wartenden Blicke aller, er sah das strenge, fordernde Gesicht der Fannia, er wußte, daß alle ihn für einen Feigling halten würden, wenn er jetzt auswich, und er brachte den Mut nicht auf, feig zu erscheinen. Während sein Hirn ihm sagte: Was tust du da, du Narr?, sagte sein Mund scharf und schneidend: »Nein, ich werde meinen Grimm nicht einsperren«, und noch ehe er diesen Satz ausgesprochen hatte, bereute er ihn schon.
  Wozu will er den Paetus nachmachen? dachte bekümmert Decian, und: Ein Narr und Held auch er, dachte Publius Cornel, und laut und grimmig sagte er: »Sache eines Mannes ist es, sich zu überwinden, Sache eines Mannes ist es, diese Zeiten zu durchschweigen, um sie zu überleben.«
  Das alte, erdbraune, zerklüftete Antlitz der Fannia war eine einzige Maske des Hohnes und der Ablehnung. »Arme Cornelia«, sagte sie, und herausfordernd fragte sie den Publius Cornel: »Werden Sie wenigstens den Mut aufbringen, sich uns anzuschließen, wenn wir Ihren Onkel Lentulus besuchen?« Der alte Vater der Cornelia hatte sich schon lange aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und lebte still auf seinem Landsitz im Sabinischen; ein solcher gemeinsamer Besuch bedeutete eine Demonstration gegen den Kaiser. »Ich fürchte«, meinte, unbewegt von der Beschimpfung der Fannia, Publius Cornel, »wir werden meinem Onkel nicht sehr willkommen sein. Er hat Kummer, und er hat wenig Freude an Menschen.« – »Sie werden also nicht kommen?« fragte Fannia. »Ich werde kommen«, antwortete mit sachlicher Höflichkeit Publius Cornel.
  Der arme Priscus muß seine Biographie veröffentlichen, dachte er im stillen, und ich muß diesen dummen Besuch mit machen, weil es das Heldenweib verlangt. Es ist alles so hoffnungslos. Wir haben die Würde, Domitian hat die Armee und die Massen. Was für finstere Ohnmacht!


Es war noch Winter, als Domitian zurückkehrte. Er begnügte sich, dem Capitolinischen Jupiter den Lorbeer darzubringen, und verzichtete auf große öffentliche Ehrungen. Im Senat machte man darüber bösartige Witze. Marull und Regin fanden, Domitian habe es nicht leicht. Feiere er einen Triumph, dann mache man sich darüber lustig, wie er Niederlagen umfälsche; verzichte er auf den Triumph, dann spotte man, seine Niederlage sei so groß, daß selbst er sie zugeben müsse.
  Guter Kenner der Volksseele, schrieb Domitian, statt sich persönliche Ehrungen erweisen zu lassen, eine große Geschenkverteilung aus, deren Kosten aus seinem Anteil an der sarmatischen Beute bestritten werden sollten. Jeder in Rom ansässige Bürger hatte Anspruch, sein Teil an der Schenkung zu erhalten. Der Kaiser war, wenn es um solche Dinge ging, überaus großzügig, es verschlug ihm nichts, wenn ein solcher Schenkungsakt Millionen und aber Millionen fraß. Im besondern Fall konnte er dadurch überdies noch beweisen, wie gewaltig die sarmatische Beute gewesen sein mußte.
  Da thronte er also in der Säulenhalle des Minucius, zu seinen Häupten seine Lieblingsgöttin Minerva, rings um ihn seine Hofbeamten, Schreiber, Offiziere. In Ungeheuern Scharen drängte sich die Bevölkerung; jeder, nach der Reihenfolge, in der er kam, erhielt seine Marke aus Ton, Blei, Bronze, und wenn der Zufall seiner Listennummer es fügte, aus Silber oder Gold. Es waren Anweisungen auf sehr ansehnliche Geschenke darunter. Der Jubel, wenn einer eine solche Marke erhielt! Aus wie ehrlichem Herzen pries er den Herrn und Gott Domitian, wie der Rom und sein Volk beglücke! Und nicht nur der Beschenkte rühmte den Kaiser, sondern seine Freunde und Verwandten taten desgleichen, ja, alle waren glücklich, denn ein jeder hatte Anspruch, und wenn er heute nicht eine goldene Marke erhielt, vielleicht glänzte sie ihm das nächste Mal. So wurde Domitians Geschenkverteilung zu einem strahlen deren Triumph, als es ein noch so üppiger Schauzug hätte werden können.
  Er selber aber, der Kaiser, thronte vor seiner klugen, ratwissenden Minerva. Er war in diesen sieben Jahren sehr viel dicker geworden, sein Gesicht war rot und gedunsen. Unbewegt saß er, göttergleich, und genoß den Jubel seines Volkes. Diejenigen, denen eine goldene Geschenkmarke zugefallen war, hatten das Recht, ihm die Hand zu küssen. Ohne sie anzuschauen, streckte er sie ihnen hin; doch keiner empfand das als unziemlichen Stolz, sie waren beseligt auch so. Knirschend mußten die Senatoren einräumen: das Volk – oder, wie sie es nannten, der Pöbel – liebte seinen Herrn und Gott Domitian. Den Tag darauf fand das Schenkungsfest sein Ende in einer Schaustellung in der flavischen Arena, im Colosseum, in jenem größten Zirkus der Welt, den Domitians Bruder hatte errichten lassen. Münzen wurden ausgeworfen, mittels einer kunstvollen Maschinerie flogen luftige, lustige Genien über die Arena und streuten Geschenkmarken über die Menge, am Ende gar erschien die Göttin der Freigebigkeit selber, die Liberalitas, und schüttete aus ihrem Füllhorn Gaben aus, vom Kaiser unterzeichnete Anweisungen auf Landbesitz, Privilegien, einbringliche Stellungen. Grenzenlos war der Jubel, und es tat ihm keinen Eintrag, daß im Gedränge Frauen und Kinder erdrückt oder zertrampelt wurden.

Domitian gab am Abend dieses Tages ein Festessen für den Senat und seine Freunde. Er zeichnete viele durch eine liebenswürdige Ansprache aus, doch sein menschenfeindlicher Witz machte manchen seiner freundlichen Sätze recht finster. Dem Großrichter Aper etwa, einem Vetter des niedergeworfenen aufrührerischen Generals Saturnin, sprach er mit seiner scharfen, hohen Stimme von der Freude, welche die Massen bei der großen Schenkung bezeigt hätten. Dieser Zulauf der Massen sei ein sehenswertes Schauspiel gewesen, noch sehenswerter vielleicht als jenes Schauspiel von damals, da er den Kopf des besiegten Meuterers Saturnin auf dem Forum habe ausstellen lassen. Dann wieder sprach er von seinem Glück, das seit der Niederlage des Saturnin anfange, sprichwörtlich zu werden. Damals war nämlich der sorgfältig vorbereitete Staatsstreich lediglich an einem Zufall der Witterung gescheitert; das plötzlich einsetzende Tauwetter hatte die von Saturnin gewonnenen Barbarentruppen verhindert, den vereisten Strom zu überschreiten und dem aufständischen General die vereinbarte Hilfe zu leisten. Ja, stellte Domitian fest, man dürfe sein Glück schon dem des großen Julius Cäsar vergleichen. Freilich sei auch dieser glückliche Cäsar zuletzt unter den Dolchen seiner Feinde gefallen. »Wir Fürsten«, meinte er leichthin inmitten einer versteinert dasitzenden Gruppe, »haben es nicht einfach. Packen wir unsere Gegner noch rechtzeitig, bevor sie den geplanten Streich ausführen, dann wirft man uns vor, wir hätten die verbrecherischen Projekte unserer Feinde nur erfunden als Vorwand, um sie zu beseitigen. Man glaubt uns die gegen uns gerichteten Verschwörungen erst dann, wenn wir glücklich ermordet sind. Was meinen Sie, mein Priscus, und Sie, mein Helvid?«

  Kein Wort verlauten ließ er vorläufig von seinen Absichten im Falle der Vestalin Cornelia. Denn schwerlich ließen sich Schlüsse ziehen aus der Tatsache, daß eine der ersten Handlungen, die er nach seiner Rückkehr vornahm, in der Bestrafung eines andern Religionsvergehens bestand, das ein kleiner Mann verübt hatte.
  Hatte da nämlich ein Freigelassener, ein gewisser Lydus, in der Trunkenheit seine Notdurft verrichtet in einen jener kleinen, brunnenartigen Schächte, wie man sie auszuheben pflegte, um Blitze darin zu begraben. Denn es mußte jeder Blitz, der in einen öffentlichen Platz eingeschlagen hatte und darin erstorben war, gleich einem Verstorbenen ordentlich begraben werden, wenn er nicht noch schlimme Folgen haben sollte. Es wurde daher dort, wo er eingeschlagen hatte, die Erde ausgehoben, die Priester opferten Zwiebel, Menschenhaare, lebendige Fische – Lebendiges aus den drei Reichen der Lebewesen –, dann wurde in der Tiefe eine Art Sarg gemauert, darüber aber im Umfang dieses Sarges ein viereckiger Schacht bis zur Erdoberfläche aufgeführt und mit der Inschrift versehen: »Hier ist ein Blitz begraben.« Ein solches altes Blitzgrab also, noch aus den Zeiten des Kaisers Tiberius, befand sich in der Nähe des Lateinischen Tores, und in diese heilige Stätte hatte der unselige Lydus seine Notdurft verrichtet. Der Kaiser, in seiner Eigenschaft als Erzpriester, ließ ihn vor Gericht rufen. Er wurde verurteilt zur Auspeitschung, zum Verlust seines Vermögens, und es wurde ihm Feuer und Wasser Italiens verboten.

Wenige Tage später dann berief Domitian den Rat der höchsten Priester, das Kollegium der Fünfzehn, nach Alba in seine Residenz. Die Ladung war wie stets in größter Heimlichkeit erfolgt. Dennoch wußte jedermann davon, wahrscheinlich hatte das der Kaiser so gewünscht, und als sich die Fünfzehn nach Alba begaben, säumte ganz Rom die Albanische Straße.
  Denn sie waren selten sichtbar, diese höchsten Priester, und Neugier und Scheu umgab sie. Der Opferpriester des Jupiter insbesondere war wohl unter den Bewohnern der Stadt Rom der am merkwürdigsten anzuschauende, altertümlichste. Die seltenen Male, da er seine Behausung verließ, schritt ihm ein Liktor voran, ausrufend, es habe ein jeder seine Arbeit fortzulegen, denn es nahe der Priester des Jupiter; Festtag mußte sein, wo er war, heilige Scheu, er durfte keinen Arbeitenden erblicken. Auch keinen Bewaffneten und keinen Gefesselten. Schwer und heilig war sein ganzes Leben. Sowie er erwachte, hatte er die volle Amtstracht anzulegen, und er durfte sie abtun erst, wenn er schlafen ging. Es bestand aber diese Amtstracht in einer dicken, wollenen Toga, die gewebt sein mußte von des Priesters eigener Frau, und es gehörte dazu ein weißer, spitzer Fellhut, auslaufend in eine Quaste und umschlungen von einem Ölzweig und einem wollenen Faden. Niemals, auch in seinem Hause nicht, durfte er dieses Hoheitszeichen ablegen. Nichts Gebundenes oder Geknotetes durfte sich an seinem Leib befinden, sein Kleid mußte durch Spangen gehalten, selbst sein Siegelring mußte durchbrochen sein. Einen kleinen Stab hatte er ständig mit sich zu führen, um die Leute fernzuhalten; denn er war erhaben über jede menschliche Berührung.
  Ihn also zu beschauen und die andern vom Kollegium der Fünfzehn, drängte sich das Volk. Erregung war und Geraun. Alle wußten, worum es ging, um das Schicksal der Cornelia, der Vestalin, des Lieblings von Rom.
  Das Unheimliche an den Versammlungen des Kollegiums der Fünfzehn war, daß sie in allen Fällen von Verbrechen gegen die Religion ihr Schuldig oder Unschuldig nach Willkür aussprechen konnten. Weder brauchten sie den Beklagten zu vernehmen noch Zeugen, sie waren nur den Göttern verantwortlich. Hilflos in ihre Hand gegeben war der Beklagte. Freilich hatten sie nur zu finden, ob jemand schuldig sei oder nicht; die Strafe auszusprechen oblag dem Senat. Doch da dieser ein Schuldig des Priestergerichts nicht umstoßen konnte und da die Gesetze die Strafen unzweideutig vorschrieben, hatte er nur die undankbare Aufgabe, das vom Priestergericht gefällte Urteil vollstrecken zu lassen.
  Voll Schreck und dennoch ein wenig gekitzelt, flüsterte man sich am Abend die Entscheidung des Kollegiums der Fünfzehn zu. Die Vestalin Cornelia war für schuldig der Unkeuschheit erkannt worden.
  Für dieses Verbrechen, für Unkeuschheit einer Vestalin, hatte die barbarische Sitte der Altvordern eine barbarische Strafe festgesetzt. Die Schuldige sollte auf einem Weidengeflecht vor das Hügeltor geschleift werden und dort gegeißelt, dann sollte sie lebendig in einem Kerker eingemauert werden und mit etwas Nahrung und einer Lampe einem langsamen Tode überlassen bleiben.
  Vor Domitian war hundertdreißig Jahre lang keine Vestalin auf Unkeuschheit verklagt worden. Domitian als erster hatte wieder ein derartiges Verfahren angestrengt, gegen die Schwestern Oculatae; allein auch er hatte das Urteil nicht vollziehen lassen, er hatte es dahin gemildert, daß er den Schwestern die Art des Sterbens freistellte.
  Was wird er jetzt tun? Was wird der liebenswerten und verehrten Cornelia geschehen? Wird er es wagen?

An diesem Abend waren, nachdem sich die Herren des Priestergerichts entfernt hatten, in dem weitläufigen Schlosse von Alba nur mehr der Kaiser und der Hofmarschall Crispin. Crispin hockte in seinem Arbeitszimmer, müßig, verzehrt

von einer rasenden Spannung. DDD hatte ihn diesen ganzen Tag nicht vor sein Antlitz gelassen, nun wartete er ängstlich darauf, wann er ihn wohl berufen werde. Der sonst so elegante Herr sah ramponiert aus. Wo war sein vornehmer, überlegener Gleichmut, wo jene Blasiertheit, die das feine, dünne, lange Gesicht so hochfahrend hatte erscheinen lassen? Jetzt war dieses Gesicht nervös und zerrüttet, und darauf geschrieben stand nichts als Angst.
  Immer von neuem überdachte er das Geschehene, verstand es nicht, verstand sich selber nicht. Welcher böse Geist hatte ihm die unsinnige Idee eingegeben, verkleidet den Mysterien der Guten Göttin beizuwohnen. Jedes kleine Kind hätte ihm sagen können, daß ihm DDD bei aller Freundschaft das nicht durchgehen lassen werde. Jedes andere Laster würde er ihm nachsehen, einen Religionsfrevel nicht. Dabei hatte er gar nicht daran gedacht, die Götter zu beleidigen, er hatte sich zum Fest der Guten Göttin nur deshalb eingeschlichen, weil es einfach kein andres Mittel gab, Cornelia näherzukommen. So hatte es auch seinerzeit Clodius gemacht, der berühmte Elegant aus der 2eit des Julius Cäsar, um sich Cäsars schwer zugänglicher Frau zu nähern. Dem Clodius war es damals gut hinausgegangen. Aber das waren liberale Zeiten. Unser DDD hingegen versteht leider keinen Spaß, wenn es um Dinge der Religion geht.
  Aber hat man denn einen Beweis gegen ihn? Niemand hat ihn damals gesehen, als er sich in Frauenkleidung zum Fest der Guten Göttin schlich, dem kein Mann beiwohnen darf. Nur diese Melitta könnte gegen ihn zeugen, die Freigelassene, mit der er im Einverständnis war. Doch sie ist verschwunden, und Cornelia selber hat alle Ursache zu schweigen. Nein, es gibt kein Zeugnis gegen ihn. Oder doch? Norban hat hundert Augen, und wenn es sich um ihn handelt, um Crispin, dann sind diese Augen geschärft von Haß.
  Von der Rückkehr des Kaisers hatte er erhofft, daß sie Klärung über seine Situation bringen werde. Aber nichts hatte sich geklärt, DDD hatte ihn gelassen und freundlich behandelt wie stets. Allein er kannte seinen DDD, er wußte, das besagte gar nichts, der schreckliche Druck war nicht von ihm gewichen. Alle die Zeit her war ihm, als werde sich im nächsten Augen blick die Erde auftun und ihn verschlingen. Sein hübsches Gesicht war hohl geworden, er hatte sich zusammenreißen müssen, um nicht plötzlich im Gespräch zu verstummen und in sich zu versinken, das köstlichste Gericht, die modischste Frau, der hübscheste Knabe, alles hatte seinen Reiz für ihn verloren. Er achtete nicht auf die Kleider, die ihm sein Kammerdiener zurechtlegte; sein Friseur konnte die Parfüms verwechseln, ohne daß er’s merkte. Seine Freuden waren keine Freuden mehr, und wenn er des Nachts schlaflos lag, dann, mehrere Male, kam eine furchtbare Vision zu ihm, immer die gleiche. Er sah sich selber, wie er auf den Rindermarkt geschleift wurde, vor zehntausend Zuschauern in einen Block gespannt und zu Tode gepeitscht, nach dem Wortlaut des Gesetzes. Seltsamerweise trugen die zehntausend Zuschauer allesamt sein eigenes Gesicht, selbst der Beamte, der die Exekution leitete, und der Henker trugen sein Gesicht, auch sprachen sie alle mit seiner Stimme. Und er hörte sich selber, und das erschreckte ihn am meisten, in seinem flüsternden, eleganten Griechisch kleine, bissige Scherze machen über die unerträglichen, tödlichen Qualen seiner Folterung und seines grauenvollen Absterbens.
  Heute, in Alba, diesen ganzen Tag über, da das Kollegium der Fünfzehn beriet, war das Gefühl der bevorstehenden Vernichtung noch drückender, dieses Gefühl, als ob ein Berg auf ihn zukäme und sich langsam über ihn senkte, um ihn zu begraben; so körperlich war es, daß es ihm zuweilen den Atem raubte. Er irrte herum in den endlosen Gängen des Schlosses, durch den weiten Park, durch die Ziergärten, die Treibhäuser, zwischen den Käfigen der Tiere, augenlos; wenn ihn einer gefragt hätte, wo er gewesen sei, dann hätte er’s nicht sagen können.
  Dann war es Nacht geworden, und er schaute, versteckt, zu, wie sich die Herren des Priestergerichts entfernten. Etwas in ihm, ein Rest des früheren Crispin, nahm mit lausbübischem Hohn wahr, welche Mühe sich die Herren geben mußten, damit ihnen nicht beim Einsteigen in den Wagen die spitzen, weißen, lächerlichen Fellhüte von den Köpfen fielen. Gleichzeitig aber dachte der neue, der am Leben bedrohte Crispin in ihm: Was mögen sie beschlossen haben? Und nun also hockte er in seinem Arbeitszimmer, voll von hilflosem Zorn, daß es ganz im Belieben dieser läppisch angezogenen Burschen gestanden war, ihn zu einem schimpflichen, martervollen Ende zu verurteilen, ihn, den großen Crispin, den allmächtigen Minister des Kaisers. Hatten sie es getan? Hatten sie es gewagt? Seine Hände waren die eines Toten, sein Kopf drehte immer nur die eine Frage: Hat er mich verurteilt, hat er es gewagt? Hat er mich verurteilt, hat er es gewagt?
  Endlich rief man ihn zu Domitian. Er gab dem Kammerdiener, der ihm behilflich war, das Galakleid und die hohen Schuhe anzulegen, schroffe, ungeduldige Weisungen, doch die Stimme gehorchte ihm nicht recht, und als er selber knüpfte und band, zitterten ihm die Hände, und als er, Diener mit Leuchtern voran, durch die langen Korridore schritt, zitterten ihm die Knie. Er bemühte sich, auf seinen Schatten zu achten, der ihn grotesk begleitete, um sich so von seiner Furcht abzulenken und gelassen vor dem Kaiser zu erscheinen. Auch in Gedanken nicht mehr nannte er den Domitian DDD, sondern nur mehr den Kaiser.
  Der Kaiser lag auf einem breiten Sofa, im Schlafrock, er sah müd aus, lasch, fleischig. Er streckte ihm die Hand hin, und Crispin, vorsichtig, damit die Lippenschminke keine Spur hinterlasse, küßte die Hand. »Das war ein anstrengender Tag heute«, meinte Domitian, gähnend. »Ja«, erzählte er, »wir haben sie verurteilen müssen. Das ist ein Schlag für mich. Ich habe Stadt und Reich in schlechtem Zustand übernommen. Es ist ein verwilderter Garten, man jätet und jätet und muß sehen, daß doch immer nur neues Unkraut nachwächst. Warum bist du so schweigsam, mein Crispin? Sag mir etwas Tröstliches! Der Herr und Gott Domitian dürstet heute nach tröstlichen Worten seiner Freunde.«
  Crispin wußte nicht, was er von diesen Reden halten sollte. Wenn Cornelia verurteilt war, dann doch nur um dessentwillen, was sich beim Fest der Guten Göttin ereignet hatte, und dann war doch er, Crispin, der Mitschuldige. Was also wollte der Kaiser? Machte er einen seiner schauerlichen Späße? »Ich sehe«, redete Domitian weiter, »es hat dir die Sprache verschlagen. Ich begreife das. Seit den Zeiten des Cicero ist keine Vestalin mehr gerichtet worden. Und unter mir: erst die Schwestern Oculatae, und nun diese. Die Götter machen es mir nicht leicht.«
  Crispin, die eigene Stimme klang ihm sonderbar fremd, fragte mühsam: »Waren da Beweise?« Der Kaiser lächelte. Es war ein langes, tiefes Lächeln, und an diesem Lächeln erkannte Crispin, daß er verloren war. »Beweise?« fragte Domitian, zuckte die Achseln und breitete ein wenig die Arme, die Handflächen gegen Crispin hin. »Was willst du, mein Crispin? Unser Norban hat eine Reihe von Tatsachen zusammengestellt, Indizien sagt man ja wohl in der Juristensprache, schlüssige Indizien. Aber was sind Beweise? Wenn man Cornelia gehört hätte und den Mann und die Frau, die Norban als ihre Mitschuldigen bezichtigt hat, dann hätten diese drei Beklagten sicher ebenso viele und ebenso schlüssige Gegenbeweise vorgebracht. Was sind Beweise?« Er richtete sich hoch, beugte sich gegen den steif und kalt dasitzenden Crispin vor und sagte ihm, vertraulich, ins Gesicht: »Es gibt einen einzigen Beweis. Der wiegt mehr als alles, was Norban gegen Cornelia, und alles, was Cornelia und ihre Mitschuldigen für sich anführen können. Auch den Herren Priestern meines Kollegiums schien dieser Beweis vollwichtig. Ich bin nämlich – dir kann ich es ja sagen, mein Crispin – nicht zufrieden mit dem Ausgang des sarmatischen Feldzugs. Die Götter haben meine Waffen nicht gesegnet. Und warum nicht? Deshalb«, er sprang hoch, »deshalb, weil diese Stadt Rom voll von Sünde und Unzucht ist. Als mir Norban mitteilte, was am Feste der Guten Göttin geschehen ist, da sind mir die Augen aufgegangen. Da erkannte ich, warum dieser sarmatische Feldzug nicht die Ernte einbrachte, die ich mir erhofft hatte. Was meinst du, mein Crispin? Sag es ehrlich, sprich dich aus: ist das nicht ein schlüssiger Beweis?«
  »Ja«, stammelte Crispin, auch er war aufgesprungen, als sich der Kaiser erhoben hatte, mit schlotternden Knien stand er da, leise schwankend, das hübsche Braun seines schmalen Gesichtes stach grünlich unter der Schminke hervor. »Ja, ja«, stotterte er, und, er konnte sich nicht länger zähmen, »aber wer, wenn ich das wissen darf, wer sind die Mitschuldigen?« fragte er. »Das ist ein anderer Punkt«, sagte der Kaiser schlau, doch immer mit dem gleichen Ton freundschaftlicher Offenheit. »Es geht natürlich um die Vorgänge bei dem Fest der Guten Göttin. Aber das weißt du ja wohl selber«, meinte er beiläufig, selbstverständlich, und ein neuer Schauer überlief den Crispin, als der Kaiser dieses: »Aber das weißt du ja wohl selber«, hinwarf. »Was der Kerl, der das Fest schändete«, fuhr Domitian fort, »angestellt hat, das ist im Grunde nichts als eine unsäglich dumme Nachahmung des Streiches des Clodius aus den Zeiten Julius Cäsars. Und gerade darum kann ich es noch immer nicht glauben, was unser Norban berichtet, so solid seine Unterlagen sind. Ich kann es einfach nicht glauben, daß in unserm Rom, in meinem Rom einer auf einen so unsäglich albernen Einfall hat kommen können. Ich versteh es nicht. Die Männer von damals mochten einem Clodius verzeihen: aber mein Priestergericht, mein Senat – das mußte sich doch jeder sagen, der auch nur den Verstand eines Huhnes hat –, ich und meine Richter, wir verzeihen solche Verbrechen nicht.«
  Da aber versagte dem Crispin die Kraft, die Glieder erschlafften ihm, er sackte vor dem Kaiser zusammen. »Ich bin unschuldig, mein Herr und Gott Domitian«, winselte er auf den Knien, und, immer von neuem, heulend, flennend: »Ich bin unschuldig.«
  »So, so, so«, meinte der Kaiser. »Dann ist also Norban im Irrtum. Oder ein Verleumder. So, so, so. Interessant. Das ist interessant.« Und plötzlich, blaurot im Gesicht, da er sah, wie Crispin seinen Schlafrock, ihn küssend, mit der Schminke seiner Wangen und seiner Lippen befleckte, brach er aus: »Und meinen Rock besudelst du auch noch mit deinen gemeinen Lippen, du Aussatz, du Sohn einer Hündin und eines besoffenen Fuhrknechts!« Er holte Atem, er entfernte sich von Crispin, der liegenblieb, er ging auf und ab und sprach grimmig vor sich hin: »So danken es einem diejenigen, die man aus dem Schmutz erhöht hat. Meine Cornelia. Sie versauen einem das Beste, was man hat. Sie beschlafen einem die Töchter. Wahrscheinlich hast du’s nicht gewußt, du, dem die Götter ein hohles Ei gegeben haben statt eines Kopfes, daß die Vestalinnen meine, des Erzpriesters, Töchter sind. Wahrscheinlich begreifst du nicht einmal, du Auswurf von einem Ägypter, was du angerichtet hast. Du hast meine Verbindung zerrissen zu den Göttern, du Aas, du dreimal Verruchter. Dabei ist es nicht das erstemal, daß du mich bei den Göttern mißliebig gemacht hast.« Und nun ließ er es aus sich heraus, was er, ein langsamer Rächer, sieben Jahre über im Busen bewahrt hatte. »Du warst es ja auch, du Pest, du Wegwurf, du trauriger Narr, der mich in den Streit hineingezogen hat mit dem Gott Jahve, damals vor sieben Jahren! Wer anders als du ist schuld daran gewesen, daß ich den Großdoktor so lange warten ließ damals? Deine Sache wäre es gewesen, mich darauf aufmerksam zu machen, daß ich ihn empfangen muß. Und jetzt beschläfst du mir auch noch meine Vestalin, du Pflichtvergessener, du Schakal, du Ägypter!«
  Crispin war in einen Winkel gekrochen. Der Kaiser, ein wenig ächzend, ging auf ihn zu, fleischig, koloßhaft. Crispin drückte sich in die Mauer hinein, der Kaiser trat nach ihm. Sein bloßer Fuß in der Sandale hatte keine Kraft, der Tritt tat nicht weh. Trotzdem schrie Crispin, und sein Schreck war ehrlich. Des Kaisers aufgeworfene Oberlippe wölbte sich noch verächtlicher. »Nicht ein Fünkchen Mut hat der Schakal«, sagte er und ließ ab von ihm.
  Unvermutet indes kam er wieder auf ihn zu, beugte sich zu dem Wimmernden nieder, und leise, flüsternd, ganz nah an seinem Ohr, fragte er: »Und wie war es? Hast du wenigstens was davon gehabt? Wie war sie, diese Jungfrau Cornelia? War es eine große Lust? Schmeckte sie? Schmeckte sie anders als andere, diese Heilige? Sag es, sag es!« Da indes Crispin stammelte: »Aber ich weiß ja nichts, ich bin ja ...«, richtete sich der Kaiser wieder hoch, und: »Schon gut, natürlich«, sagte er, distanziert, hochmütig. »Norban hat dich verleumdet, du bist ein armer Unschuldiger, du weißt von nichts. Du hast es mir ja bereits gesagt. Schon gut.« Und plötzlich, abgekehrt, über die Schulter, warf er ihm hin: »Du kannst gehen. Du bleibst in deinem Zimmer. Und zu baden rate ich dir. Du hast dich ganz bedreckt, du Feigling.«
  »Schenk mir das Leben, mein Herr und Gott Domitian!« heulte auf einmal der Ägypter von neuem los. »Schenk mir das Leben, und ich will dir danken, wie dir noch keiner von den andern gedankt hat!« – »So ein Haufen Schmutz!« sagte Domitian vor sich hin, angewidert, unsäglich hochmütig. Und: »Daß du dich nicht umbringst, hörst du!« befahl er ihm noch. »Aber das tust du sowieso nicht.«
  Crispin war schon in der Tür. Domitian, wieder ganz kaiserlich, erklärte: »Was dein Leben anlangt, so steht die Entscheidung nicht bei mir. Sie steht, nachdem das Kollegium der Fünfzehn gesprochen, beim Senat.«
  Während aber der Kaiser aus richterlicher Höhe herunter diese abgründig höhnischen Worte sprach, war auf einmal der Zwerg Silen aufgetaucht, der sich bisher in einem Winkel versteckt gehalten haben mochte, und stand nun hinter dem Kaiser, seine Haltung nachahmend. Und wenn sich Crispin während der wenigen Tage, die ihm noch blieben, den Domitian vorstellte, dann trennte sich in seinen Gedanken der Zwerg Silen nicht mehr von dem Kaiser. Denn dieses war das letztemal, daß der Minister Crispin den Domitian zu Gesicht bekommen, und die höhnisch feierlichen Worte waren die letzten, die er aus seinem Munde gehört hatte.

Die Zelle der Cornelia war die zweite links vom Eingang. Wie alle sechs Zellen war sie einfach eingerichtet, nur ein Vorhang trennte sie von der großen Halle, an die weiter hinten der Speisesaal anschloß.
  Schon vor Wochen hatte in Vertretung des Kaisers der Priester des Jupiter ihr mitgeteilt, daß sie ihrer Funktionen enthoben sei und ihre Zelle nicht mehr verlassen dürfe. Hinter ihrem geschlossenen Vorhang hörte sie, wie die andern ihr Leben weiterlebten. Der Dienst der Vesta war bis ins kleinste geregelt; die Einholung des Opferwassers in den Krügen, die, auf daß sie nie den Boden berührten, unten spitz zuliefen, die Ausschüttung dieses geweihten Wassers, die Bewachung des heiligen, jungfräulichen Feuers, jeder Schritt und Tritt in dem einfachen, altertümlichen Heiligtum war vorgeschrieben. Cornelia also kannte genau jede Einzelheit des Tageslaufes, sie wußte, welche ihrer Mitschwestern jetzt die Wache hatte, jetzt dieses Opfer vollziehen mußte, jetzt jenes heilige Brot backen. Sie wußte, daß durch ihr Ausscheiden die drei Schwestern, die nach ihr in das Heiligtum eingetreten waren, nun jede einen Grad aufrückten. Bald, sowie der Kaiser zurückkommt, werden zwanzig Mädchen, alle unter zehn Jahren und von beiden Eltern her aus den ältesten Geschlechtern stammend, als Kandidatinnen präsentiert, und eine wird erlost werden, um sie, die ausgeschiedene Cornelia, als sechste zu ersetzen. Ins Heiligtum der Vesta einzutreten war eine der höchsten Ehren, welche die Götter und das Reich zu vergeben hatten. Töchter aller alten Geschlechter bewarben sich darum, viele Eifersüchte kämpften, wer berufen und erlost werden sollte. Ob Cornelia noch erfahren wird, wer sie ersetzen soll?
  Wer immer diese Neue sein wird, Cornelia beneidete sie von vornherein darum, daß nun sie das Leben wird führen dürfen, das bisher ihr, Cornelias, Leben gewesen war. Schön war Cornelias Leben gewesen. Genau zwanzig Jahre waren es jetzt, die sie im Heiligtum verbracht hat, eintönige, streng geregelte Jahre mit Vorschriften für Tag, Stunde, Minute. Und wie schön bewegt trotzdem waren die Tage dieses Lebens, wie still, gleichmäßig und dennoch in stetem Wechsel glitten sie vorbei. Man fühlte sich wie ein Fluß, so gelenkt, gebettet, geregelt, alles gehorchte einem hohen Gesetz.
  Die stille, fromme Heiterkeit, welche das Volk auf dem Gesichte der Cornelia wahrgenommen hatte, wenn an den großen Festen die Vestalinnen in der Prozession mitschritten, diese stille, fromme Heiterkeit, die sie mehr als die fünf andern zum Liebling der ganzen Stadt machte, war keine Maske. Vom ersten Tag an, da sie als Achtjährige in das Haus der Vesta gebracht worden war, hatte sie sich hier wohlgefühlt. Die Bedrückung, welche die andern als kleine Mädchen manchmal im Dämmer des heiligen Hauses empfunden haben wollten, sie, Cornelia, hatte sie nie gespürt. Keinerlei Angst hatte sie gespürt, als ihr Vater Lentulus sie in großer, festlicher Zeremonie dem Kaiser – es war damals Vespasian – als dem Erzpriester übergab und als sie mit kindlichem Eifer dem schlau und freundlich lächelnden alten Mann die Formel nachsprach, sie gelobe der Göttin und dem Reich, die Seele rein und den Körper fleckenlos zu bewahren. Dann, zehn Jahre lang, war sie von der freundlich ernsten Oberin Junia unterwiesen worden. Die einzelnen Verrichtungen, die es vorzunehmen galt, waren nicht schwer, aber es waren ihrer sehr viele, und wenn der Staat nicht unter dem Zorn der Göttin leiden sollte, dann durfte nicht das geringste Versäumnis unterlaufen. Doch zehn Jahre waren eine lange Zeit, da konnte man alles so lernen, daß es einem selbstverständlich wurde wie Ein- und Ausatmen. Cornelia lernte überdies mit Eifer; ihr gefiel der schlichte Sinn, der hinter den schlichten Bräuchen stand. Man lernte das Wasser in den spitzen Krügen schöpfen, auf das Feuer achten und es nach strengen Regeln unterhalten, man lernte Kränze flechten, um am Feste der Vesta die hellgrauen Esel zu schmücken, welche einem die Müller brachten, man lernte den geweihten Teig bereiten, welcher die Frauen vor Krankheit und Unheil schützen sollte. Die vielerlei Obliegenheiten waren alle leicht, doch sie mußten mit Würde und Anmut verrichtet werden, denn zahlreiche dieser Dienste geschahen unter den Augen des ganzen Volkes. Wenn die Jungfrauen der Vesta zum Capitol hinanstiegen, wenn sie ihre Ehrensitze einnahmen im Theater oder im Zirkus, immer waren nächst dem Kaiser sie diejenigen, auf welche die Zehntausende am meisten achteten.
  Cornelia liebte die Bräuche, und sie gefiel sich gut, wenn sie in der Öffentlichkeit erschien. Sie wie keine verstand es, ihren Dienst frommen, heiteren Gesichtes zu vollziehen und so, als ob sie nicht wüßte, daß hunderttausend Augen auf sie gerichtet waren. Im Innern spürte sie mit großer Freude, daß diese Augen auf ihr waren und daß sie, Cornelia, diese Augen nicht enttäuschte. Die Mittelfigur eines schönen, heiligen und heiteren Schauspiels zu sein füllte sie aus, und zu wissen, daß es das Wohl des Staates förderte, wenn sie ihre Obliegenheiten geordnet und gesammelt besorgte, wärmte ihr das Herz.
  In ihnen, in den sechs Jungfrauen der Vesta, verkörperte sich die einfache Gravität und keusche Würde des alten römischen Hauses, sie waren die Wahrerinnen des Herdfeuers, ihrem Schutze anvertraut waren das Palladium und die wichtigsten Akten des Reichs. Keuschheit und Wachsamkeit waren Cornelia selbstverständlich geworden.
  Viele ehrenvolle Titel führten die Vestalinnen. Ihr, Cornelia, war der Titel »Amata«, »Liebling«, der teuerste, und sie war sich bewußt, daß sie diesen Titel zu Recht trug. Sie fühlte sich geliebt, nicht von einem einzelnen, sondern von den Göttern und vom Senat und Volk von Rom. Natürlich gab es Eifersüchteleien unter den sechs Jungfrauen, die ständig zusammen lebten; doch selbst im Kreise der Schwestern war sie die am meisten geliebte.
  Höchstens Tertullia wird eine ganz kleine Befriedigung spüren über ihr, der Cornelia, Unglück. Tertullia hat sie nie leiden mögen. Was für böse Augen zum Beispiel hat sie gemacht, als bei den Capitolinischen Spielen sie, Cornelia, ausgelost worden war, an der Hand des Kaisers zum Jupiter hinaufzusteigen. Dabei hat sie gerade an dieser Zeremonie nicht viel Freude gehabt. Gewiß, Domitian war sehr großartig anzuschauen, und sie hat gespürt, daß ihre ernst und heitere Anmut neben dem Kaiser doppelt zur Geltung kam. Trotzdem war sie nicht froh, und jener Tag war einer der nicht vielen, da sie geradezu Unbehagen gespürt hat; Wirrnis, »Trübung«, so hat sie es in ihrem Innern genannt. Die Hand des Mannes, mit dem gemeinsam sie die Stufen erschritten hat, diese Hand des Kaisers, des Erzpriesters, ihres »Vaters«, ist eine kalte, feuchte Hand gewesen, und sie hat, als sie die ihre hineinlegte, Angst und Widerwillen gespürt, ähnlich wie beim Feste der Guten Göttin.
  Ja, eine Vorahnung war es, eine Warnung, und kein Zufall war es, daß sie die gleiche »Trübung« verspürt hat und von jeher und bei allem, was mit dem Feste der Guten Göttin zusammenhing. Für die andern Vestalinnen war dieses Fest der Guten Göttin der Höhepunkt des Jahres, sie aber hat sich, immer wenn dieses Fest näherrückte, mehr davor geängstigt als darauf gefreut.
  Das Fest fand alljährlich statt, im Winter. Gastgeberin war die Gattin des höchsten Reichsbeamten, des Konsuls; der mußte zu diesem Zweck sein Haus für zwei Tage seiner Frau überlassen, er selber durfte es nicht betreten, denn ihm, wie jedem Manne, war der Zutritt zu diesem Fest bei Todesstrafe verboten. Es wurden bei diesem Fest altertümliche Sprüche gesprochen, seltsame Opfer vollzogen, dunkle, aufregende Bräuche geübt, alles unter ihrer, der Vestalinnen, Anleitung.
  Gegen Ende ihrer Lehrzeit, kurz bevor sie achtzehn wurde, war Cornelia von ihrer Lehrerin Junia über Sinn und Meinung dieser Sitten und Bräuche aufgeklärt worden. Es war aber die Gute Göttin eine nahe Anverwandte des Bacchus, sie war die Göttin der häuslichen Fruchtbarkeit, und wie Bacchus den Wein, so hatte sie die Weinranke zum Attribut; doch wurde ihr Trank, wiewohl er Wein war, nicht so genannt, sondern er hieß »Milch der Guten Göttin«. Diese Milch der Guten Göttin war das Symbol häuslicher Fruchtbarkeit, keuschen, doch dadurch nicht minder lustvollen Liebesgenusses. Dies alles wurde der Novizin erklärt, und so erklärten sich ihr auch die dunklen, erregenden Bräuche, welche bei den Mysterien der Guten Göttin geübt wurden. Festlich geschmückt mit Weinranken war das Haus der Ersten Dame des Reichs, welche die Gäste der Göttin empfing; Weintrauben in Fülle waren da, jetzt, mitten im Winter, in den Treibhäusern gezüchtet; mit ihren spitzen, altertümlichen Krügen schöpften die Vestalinnen Milch der Guten Göttin, Wein also, und geschmückt mit Weinlaub waren die Frauen alle. Sie umfaßten und küßten sich, in strenger, steifer Zeremonie zuerst, sie führten sakrale Tänze auf, jede Geste war vorgeschrieben. Allmählich dann, in der zweiten Stunde, wurden die Tänze heftiger, die Verschlingungen der Frauen wilder, erregter ihre Küsse und Umarmungen, in größerer Fülle floß die Milch der Göttin. Wüster wurde mit dem Fortschreiten der Nacht das Fest. Es war aber eine lange Winternacht, und wenn endlich, kurz vor Tage, die Vestalinnen das Haus verließen, dann war es voll von Frauen, die in den Winkeln herumlagen, zu zweien oder zu dreien, und nicht mehr erkannten, wer zu ihnen sprach.
  Oft jetzt in der Verlassenheit ihrer Zelle mühte sich Cornelia, sich in genauer Reihenfolge die Vorgänge zurückzurufen, die sich beim letzten Fest der Göttin ereignet und die ihr ganzes Leben umgestülpt hatten.
  Melitta, die Freigelassene, hatte ihr gemeldet, eine Frau erwarte sie im Toilettezimmer der Gastgeberin, der Volusia. Was für eine Frau? hatte sie, Cornelia, gefragt. Eine besondere Frau, hatte Melitta erwidert, die Besonderes mit ihr zu besprechen habe und besondere Hilfe von ihr begehre, und Melitta hatte bei diesen Worten auf eine seltsam auffordernde Art gelächelt. Eigentlich war es dieses Lächeln gewesen, das dazu geführt hatte, daß sie jetzt allein, geächtet und vom Dienst ihrer Göttin ausgeschlossen, in ihrer Zelle saß. Sie war also in das Toilettezimmer der Volusia gegangen, nicht mit der ganzen Schwerelosigkeit wie sonst und dennoch leichter, da sie von der Milch der Göttin genossen hatte. Ihr weißes Kleid war ihr beim Tanz zerrissen worden, der Schlitz gab den Blick auf ihre Beine frei, und sie erinnerte sich, daß sie, während sie ging, bemüht gewesen war, den widerspenstigen Schlitz zuzuhalten.
  Merkwürdigerweise hatte sie, während sie ins Toilettezimmer der Volusia ging, an den Senator Decian gedacht, jenen ruhigen, freundlichen Herrn, der sie immer mit so besonderem Respekt und mit mehr als Respekt begrüßte. Dabei war es sinnlos, gerade diesen mit dem Fest und den Mysterien der Guten Göttin in Zusammenhang zu bringen.
  Die Frau, die sie im Toilettezimmer der Volusia erwartete, hatte ihr gut gefallen. Sie war groß, schlank, das Gesicht bräunlich, mit einem Stich ins Olivfarbene, mit wissenden Augen und wissenden Lippen; das hatte sie erkannt, als die Frau sie mit dem Kuß der Guten Göttin begrüßte, und sogleich war die »Trübung« stärker geworden, jenes besondere und ängstigende Gefühl, das für sie dem Feste der Guten Göttin anhaftete. »Ich bin sehr kühn«, hatte die Frau zu ihr gesagt, »aber ich kann nicht anders, ich muß Sie, gerade Sie, meine Herrin und Geliebte Cornelia, bitten, mich tiefer in die Mysterien der Guten Göttin einzuweihen; denn ich kann nicht mehr schlafen, wenn ich nicht mehr erfahre von diesen Mysterien.« – »Kenne ich Sie, meine Herrin?« hatte sie, Cornelia, zurückgefragt. Und: »Ja und nein«, hatte die Unbekannte erwidert, hatte ihre Hand gefaßt und sie umarmt und gestreichelt, wie das üblich war beim Fest der Guten Göttin. Während dieser Umarmung aber war ihr plötzlich aufgegangen, daß die Unbekannte keine Brust hatte.
  Naiv, wie sie war, und erfüllt von Vorstellungen aus der Urzeit, da Götter und sagenhafte Wesen den Erdkreis bevölkerten, hatte sie zuerst geglaubt, die andere sei eine verspätete Amazone. Spät, zu spät war ihr die Vorstellung der ganzen, grauenhaften Wirklichkeit aufgegangen. Gehört hatten sie natürlich alle von jenem Clodius, der sich damals, zur Zeit des großen Julius Cäsar, als Harfenistin verkleidet zum Fest der Guten Göttin eingeschlichen hatte. Doch dies war geschehen in abgelebten Zeiten, die so unwirklich waren wie die Zeiten der Götter und Halbgötter. Daß sich dergleichen noch heute sollte ereignen können, in der greifbaren Wirklichkeit des heutigen Rom, das war einfach unvorstellbar.
  Daß es sich nun doch ereignete, hatte sie gelähmt. Es lähmte sie noch weiter. Noch jetzt nicht wußte sie genau, was eigentlich geschehen war, es war wirklich und gleichwohl unwirklich, sie wußte es nicht, aber sie spürte es weiter, immer noch, täglich, stündlich. Es waren keine Vorgänge und Bilder, die sich infolge jenes Ereignisses in ihr aufgestaut hatten, es waren eher Gefühle, Erregungen, ein undeutliches, schmerzhaftes, schauerliches Durcheinander, Abwehr und Abscheu, und eine winzige Neugier, wüst gemischt.
  Es war eine Vergewaltigung, das war gewiß. Vielleicht hätte sie schreien sollen. Aber wenn sie geschrien hätte, dann hätten alle gewußt, daß das Fest der Guten Göttin geschändet war, und aus einem solchen bösen Vorzeichen wäre größtes Übel gewachsen für den Feldzug und für das Reich. Es war besser, daß sie sich stumm gewehrt hat, verbissen, keuchend. Sie hat sich gewehrt, sie hat sich nach Kräften gesträubt, und sie war kräftig. Aber sie war wie betäubt gewesen von dem ungeheuern und unausdenkbaren Frevel. Auch war sie behindert gewesen durch das schwere, altertümliche Gewand. Was sie unmittelbar hernach am meisten erschreckt hatte, das war gewesen, daß dieses heilige Gewand durch die Spuren des Verbrechens besudelt war, im Wortsinn besudelt, wie auch ihre Haut.
  Das Ganze hatte eine Ewigkeit gedauert und doch wohl nur sehr kurz. An äußere Folgen hatte sie in jener Nacht überhaupt nicht gedacht. Ob den andern ihre Abwesenheit und ihre Verstörtheit aufgefallen war, damit hatte sie sich nicht beschäftigt. Erst am andern Tag, als Melitta zu ihr kam und sie beschwor, sie im eigensten Interesse zu retten, war ihr die Gefahr aufgegangen. Sie hatte Melitta jenen Brief an Decian gegeben. Was daraus entstanden war, wußte sie nicht. Sie hatte nur ihre dumpfe Erinnerung an die kurze und ewige Umarmung jener »Frau« und an ein paar wirre Sätze der Melitta. Niemand sonst hatte mit ihr über die Ereignisse jener Nacht und über ihre Folgen gesprochen. Auch der Opferpriester des Jupiter hatte den Grund nicht angegeben, aus dem er sie hinter ihren Vorhang verbannte.
  Was wohl mit ihr geschehen wird? Niemals hätte irgendwer, niemals sie selber es anders gedacht, als daß, wenn sie einmal gestorben sein wird, ein Steinbild von ihr werde errichtet werden mit der Inschrift: »Der höchst keuschen, höchst schamhaften, höchst reinen, höchst wachsamen Jungfrau Pulchra Cornelia Cossa.« Statt dessen wird sie jetzt hinunter müssen in das Gewölbe vor dem Hügeltor; denn als sie bei der Prozession ihre Hand in die des Herrn und Gottes Domitian legte, hat sie gespürt, daß er sie nicht liebt, und er wird nicht zugeben, daß sie sich, wie damals die süßen und geliebten Schwestern Oculatae, die Art des Sterbens selber bestimme. Vielmehr wird sie eingemauert werden mit einem Krug Wasser und etwas Speise, ein Weidengeflecht wird gebreitet werden über das Gewölbe, in dem sie elend verreckt, und scheu werden diejenigen, welche die Stelle passieren, einen Kreis des Grauens und des Ekels um ihr Grab machen.
  Aber sie hat doch ihr Gelübde nicht verletzt. Sie hat das, was geschah, doch nicht gewollt, sie ist hineingerissen worden, sie hat es nicht getan. Vielleicht auch ist es gar nicht geschehen, sie weiß es nicht, vielleicht hat sie sich alles nur eingebildet in ihrer »Trübung«. Vielleicht, wenn sie dem Priestergericht die Probe anbietet, wird sie ihr glücken, wie sie seinerzeit der Vestalin Tuccia glückte, vielleicht wird sie es vermögen, mit dem Sieb aus dem Flusse Tiber Wasser zu schöpfen und es vor die Priester zu tragen.
  Sie phantasiert. Es ist geschehen, und man würde sie nicht zur Probe zulassen, das Schicksal hat sich gegen sie entschieden, das Schicksal hat es gewollt, niemand fragt nach der Absicht, eingemauert in das Gewölbe wird sie werden.
  Der Vorhang wurde vom Boden hochgerafft, eine Hand schob eine Schüssel mit Speisen herein und einen Krug mit Milch. Cornelia erkannte die Hand, die das besorgte, es war die Hand der Postumia. Die Speisen waren mit Liebe zubereitet, es waren ihre Lieblingsspeisen, und sorglich waren Deckel darübergestülpt, damit sie sich warm erhielten. Die andern liebten sie, die andern bedauerten sie. »Amata«, »die Geliebte«, sie trug ihren Titel zu Recht.
  Sie wird nicht mit priesterlichen Ehren an der Attischen Straße bestattet werden, sie wird keine Ehrensäule haben, ihr Name wird gelöscht werden aus jedem Stein und von jedem Papier. Dennoch werden die andern an sie denken, oft, liebevoll, nicht einmal der Haß der Tertullia wird dagegen aufkommen. Wenn sie den heiligen Teig bereiten, werden sie an sie denken, und wenn sie am ersten März das Feuer der Göttin erneuern; wie gerne hätte sie diesen ersten März noch erlebt! Und flüstern werden sie von ihr, voll Scheu, Geheimnis und Zärtlichkeit, wenn sie das heilige Wasser schöpfen und weihen und wenn eine Wache die andere ablöst am Feuer der Vesta.
  Dieser Gedanke beruhigte Cornelia ein wenig, und sie aß mit Lust von den guten Speisen. Dann schlief sie, und es war über ihrem jungen Gesicht jene ernste und freudige Ruhe, welche ihr die liebende Verehrung des Volkes erworben hatte.


Der Kaiser war in dieser ersten Zeit nach seiner Rückkehr aus dem sarmatischen Feldzug wenig in Rom, er hielt sich fast immer in Alba auf. Hatte er früher dort am liebsten vor den Tierkäfigen verweilt, so zog er es jetzt vor, in den ausgedehnten Teilen des Parks herumzustreifen, aus denen sein Obergärtner, der Topiarius Felix, die ursprüngliche Natur völlig vertrieben hatte, das Gelände in eine Art von ungeheuerm Teppich verwandelnd. Geometrisch abgezirkelt waren da Beete, Hecken, Alleen. Zierlich und steif standen Gruppen von Buchsbäumen und Taxus, die einzelnen Bäume verschnitten zu Kegeln und Pyramiden, dünn und starr reckten sich Zypressen, allerlei Blumen und Pflanzen bildeten Namenszüge, Figuren, selbst kleine Gemälde. Die Wege waren sorgfältig gekiest, die Teile des großen Ziergartens, die nicht bepflanzt waren, waren gepflastert. Brunnen und Wasserwerke sprudelten, Ruheplätze jeder Art gab es, Rundbänke, künstliche Grotten, Lauben, aus Stein gebildete Baumstümpfe, künstliche Ruinen, auch ein Labyrinth. Teiche waren da mit Schwänen und Reihern, auf weißschimmernden Freitreppen spreizten sich Pfauen. Wandelhallen, mit Fresken geschmückt, schnitten einzelne Teile des Gartens heraus. Terrassen und Freitreppen verbanden da und dort Partien des riesigen, auf hügligem Terrain angelegten Parkes, Holz- und Steinbrücken schwangen sich über Bäche, das Ganze senkte sich zum Ufer des Sees. Alles war zierlich, niedlich, steif, gravitätisch, künstlich, prunkvoll.

  Wenn sich Domitian in diesem Ziergarten erging, dann hob ihn der Gedanke, daß man Lebendiges auf solche Art ändern konnte, es in Zucht bringen, in bestimmte Normen. Da es seinem Topiarius Felix gelang, solche Wunder und Metamorphosen zu erwirken an lebendig blühendem Gewächs, wie sollte es ihm, dem römischen Kaiser, nicht glücken, Menschen nach seinem Willen zu bilden, sie, ein zweiter Prometheus, nach seinen Wünschen und Erkenntnissen zu formen?
  In solchen Betrachtungen wandelte der Kaiser durch seine Gärten in Alba. Mit ihm war der Zwerg, in einiger Entfernung folgte der Obergärtner, wieder etwas weiter zurück waren die Träger mit der Sänfte, falls der Kaiser ermüden sollte. Viele Stunden erging er sich so. Mit Genugtuung betrachtete er die Lauben, die Grotten, diese ganze kleingehackte, zerkünstelte Natur. Gelegentlich auch betastete er die Kletterpflanzen, den Efeu, die Winden, die Kletterrosen, die den Weg wachsen mußten, den der Wille des Menschen ihnen vorschrieb. Dann wieder rief er den Obergärtner, ließ sich das oder jenes erklären und wärmte sich das Herz an der Beschreibung, wie man auch hohe, starke Bäume zwingen konnte, die Gestalt anzunehmen, die ordnender Sinn ihnen diktierte.
  Am liebsten aber hielt er sich in den Treibhäusern auf. Alles dort gefiel ihm, die künstliche Reife, die künstliche Wärme, das listige Glas, mittels dessen man die Sonne einfing. Mit nachdenklicher Befriedigung erlebte er, daß man also Bäume und Sträucher zwingen konnte, Früchte im Winter zu tragen, die


im Sommer zu reifen bestimmt waren. Das war ein Gleichnis, das ihm behagte.


In einem Treibhaus auch, auf einem Ruhebett, das er sich hatte hinstellen lassen, lag er dösend, brütend, als Lucia zu ihm kam.
  Des Kaisers Beziehungen zu ihr waren wieder gefährlicher geworden, ja sie waren neuerdings so voll von Untiefen, daß Lucia nicht erstaunt gewesen wäre, wenn Wäuchlein plötzlich zu einem zweiten, tödlichen Schlag gegen sie ausgeholt hätte.
  Begonnen hatte diese Veränderung, als er den Prinzen Sabin hatte hinrichten lassen. Domitian hatte, da er sich vor Julia in Schuld fühlte, den Sabin lange geschont, obgleich Norban im Lauf der Jahre gegen den Prinzen Material genug zusammengetragen hatte, um eine Verurteilung durch den Senat zu rechtfertigen. Erst nachdem die Beteiligung des Sabin an dem Putsche des Saturnin einwandfrei erwiesen war – ein Schreiben des unbesonnenen, hochmütigen Prinzen, in dem er das Angebot des Generals annahm, ihn an Stelle Domitians zum Kaiser zu machen, war den Leuten des Norban in die Hände gefallen –, hatte Domitian zugeschlagen. Und damals hatte Lucia einen schweren Fehler gemacht. Da sie dem Sabin soviel Dummheit nicht zugetraut und angenommen hatte, es handle sich um einen Willkürakt Domitians, hatte sie ihm vorgeworfen, er habe den Vetter lediglich aus Eifersucht auf Julia beseitigen lassen. Damit aber hatte sie ihm offenbar unrecht getan, und er war ihr gegenüber lange im Vorteil gewesen.
  Ernsthaft gefährlich indes waren ihre Beziehungen zu Domitian erst seit Julias unseligem Ende. Gekommen war dies so: Julia war nach dem Tode des Sabin von neuem schwanger geworden, zu einem Zeitpunkt, der einen Zweifel an der Vaterschaft des Domitian ausschloß. Domitian beabsichtigte, das Kind zu adoptieren, und wünschte deshalb, daß es nicht als Bastard zur Welt komme. Er schlug Julia eine neue Heirat vor. Julia, die in ihrer ersten Ehe unter der Eifersucht Domitians genügend zu leiden gehabt hatte, lehnte ab. Domitian wollte ihr den Mann aufzwingen, den er ihr ausgesucht. Sie sträubte sich. Der Kaiser bekam einen Wutanfall. Widerspruch hatte er bisher von einem einzigen Menschen geduldet, von Lucia. Er war nicht gewillt, es hinzunehmen, daß nun auch Julia infolge ihrer Schwangerschaft übermütig und zu einer zweiten Lucia werde. Eher verzichtete er auf den Sohn. In zwei wüsten Auseinandersetzungen zwang er Julia, das Kind abtreiben zu lassen. Über dieser Operation war Julia gestorben.
  Domitian litt unter dem Tod der Julia, den er verschuldet. Er wollte sich das aber nicht anmerken lassen, vor allem nicht vor Lucia, und er fragte sie auf seine höhnische Art: »Nun, meine Lucia, sind Sie es zufrieden, daß Sie Julia losgeworden sind?« Die Kaiserin hatte Julia nie leiden mögen, sie hatte sie mit gelassenem, leicht spöttischem Stolz behandelt. Ihr Tod aber empörte sie, die Frau in ihr empörte sich gegen die Manneswillkür des Domitian, und vollends erbitterte sie seine alberne Frage. Sie mühte sich nicht, diese Gefühle zu verbergen, ihr helles, großes Gesicht verzog sich in Ablehnung und Widerwillen, und sie sagte: »Deine Liebe, Wäuchlein, scheint den davon Betroffenen nicht gut zu bekommen.«
  Hatte Domitian ihre Beschuldigung im Falle des Sabin verziehen, weil sie ungerecht und ungereimt war, so traf ihn diese Anmerkung über Julia um so tiefer, weil sie stimmte. Das Feindselige, das von Anfang an in seinen Beziehungen zu Lucia gewesen war, verschärfte sich, und es war seither in seinen Umarmungen ebensoviel Groll wie Begier. Ein solches Verhältnis war Lucia nur recht. Ihn indes wurmte es, daß er von ihr nicht loskam, er war klein vor sich selber, wenn er mit ihr zusammen war, er bezähmte sich, seine Umarmungen wurden immer seltener, und schließlich beschränkten sich seine Zusammenkünfte mit ihr auf jene Gelegenheiten, da sie sich der Öffentlichkeit zusammen zeigen mußten. Ihre Begegnungen wurden förmlich, wachsam, sie waren einer auf der Hut vor dem andern. Seit mehreren Wochen, seit mehr als einem Monat, hatte Lucia den Kaiser überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen.
  Es war also ein Wagnis gewesen, jetzt zu ihm vorzudringen, unangemeldet, es war nicht ganz leicht gewesen, die vielen Wachen und Kämmerer zu passieren, und mit einer etwas unbehaglichen Spannung wartete Lucia, wie er sich verhalten werde. »Sie hier, meine Lucia?« begrüßte er sie, und schon an seiner Stimme merkte sie, daß er eher angenehm als unangenehm überrascht war. So war es auch. Wenn Domitian in den letzten Monaten Auseinandersetzungen mit ihr vermieden hatte, dann deshalb, weil er fürchtete, sie werde ihm Wahrheiten sagen, die zu hören er nicht geneigt war. Diesmal indes vermutete er, sie komme wegen Cornelia – sie war mit ihr verwandt und hatte sie gern, wie jedermann in Rom sie gern hatte –, und in der Sache mit Cornelia fühlte er sich sicher; sich darüber mit ihr auseinanderzusetzen, darauf freute er sich geradezu.
  Richtig begann sie denn auch, und schon nach wenigen Sätzen, von Cornelia. Ohne Rücksicht auf den im Winkel kauernden Silen sprach sie mit ihm, doch nicht ohne Schmeichelei; denn ihr lag daran, Cornelia zu retten. »Ich nehme an«, sagte sie, »Sie wollen den Senat schrecken. Sie wollen zeigen, daß es niemand im Reich gibt, er sei so geachtet und beliebt, wie er wolle, vor dem Sie zurückwichen. Außerdem bezwecken Sie wahrscheinlich, dem Senat zu zeigen, daß Sie ein strengerer Hüter römischer Tradition sind als wer immer vor Ihnen. Aber Sie sind zu klug, um nicht selber zu wissen, daß hier Preis und Einsatz nicht im rechten Verhältnis stehen. Was sie im besten Fall gewinnen können, wiegt nicht auf, was Sie in jedem Fall verlieren müssen. Schonen Sie Cornelia!« Domitian grinste. »Interessant diese Ihre Auffassung«, sagte er, »interessant. Aber Sie haben sich erhitzt, meine Lucia, ich fürchte, der Aufenthalt in diesem Glashaus bekommt Ihnen nicht. Darf ich Ihnen einen Spaziergang durch den Garten vorschlagen?«
  Sie gingen durch eine Platanenallee; sie waren jetzt allein, der Kaiser hatte mit einer heftigen Bewegung alles ringsum verscheucht. »Ich weiß, daß dergleichen Gerede über meine Absichten in Rom umgeht«, sagte er beiläufig, »aber Sie, meine Lucia, sollten derlei billiges Zeug nicht nachschwatzen. Der Fall liegt höchst einfach. Es geht um Religion, um Moral, um nichts sonst. Ich nehme mein Amt als Erzpriester ernst. Das Heiligtum der Vesta, ihr Herd, ist meinem Schutze anvertraut. Ich kann verzeihen, wenn es um meinen eigenen Herd geht« – er lächelte Lucia bösartig-höflich an –, »aber unmöglich kann ich verzeihen, wenn es um die Reinheit des Herdes geht, der die Makellosigkeit des Ganzen versinnbildlicht.«
  Er wollte in einen Seitengang einbiegen, sie aber zog es vor, die Platanenallee zurückzugehen, und er folgte gehorsam. »Merken Sie nicht«, fragte sie, »daß Sie, sagen wir, widerspruchsvoll handeln? Ein Mann, der ein Leben führt wie Sie – man erzählt sich, daß Sie es jüngst mit mehreren Frauen getrieben haben in Gegenwart des blinden Messalin, den Blinden hetzend und höhnend, daß er errate, wen, wer und wie –, ein Mann, der ein solches Leben führt, wirkt sonderbar, wenn er den Richter spielt über die Vestalin Cornelia.«
  »Und abermals«, sagte sanft Domitian, »muß ich Ihnen raten, teure Lucia, sich so wohlfeiles Gefasel meiner Senatoren nicht zu eigen zu machen. Niemand weiß besser als Sie, daß ein Unterschied ist zwischen Domitian, dem Privatmann, der sich eine seiner seltenen leeren Stunden mit Vergnügen anfüllt, und dem Herrn und Gott Domitian, dem Zensor, von den Göttern eingesetzt zum Richter über Sitte, Wandel und Tradition des Reichs. Nicht ich verfolge Cornelia, ich liebe sie weder, noch hasse ich sie, sie ist mir vollkommen gleichgültig. Die Staatsreligion verfolgt sie, das Imperium, Rom, dessen reine Flamme sie zu hüten hat. Sie müssen das begreifen, meine Lucia, und ich weiß, Sie begreifen es. Es sind nun einmal Unterschiede festgesetzt vom Schicksal und von den Göttern. Nicht alles, was ein glattes Gesicht und einen Schoß hat, ist gleich. Eine Frau, die römisches Bürgerrecht hat, eine mater familias, und gar eine Vestalin, ist etwas anderes als die übrigen Weiber der Welt. Diese übrigen Weiber mögen tun und lassen, was sie wollen, mögen herumhuren wie Fliegen in der Sonne, mögen sich bespringen lassen, wann und von wem sie belieben. Sie existieren nur vom Gürtel an abwärts. Eine römische Bürgerin aber und gar eine Vestalin existiert nur vom Gürtel an aufwärts. Man verwische nicht die Unterschiede, man vertausche nicht die Maße, man fälsche nicht die Gewichte. Der Privatmann Domitian mag meinethalb gemessen werden mit dem Maß, mit dem man einen kappadokischen Lastträger mißt, aber ich verwahre mich dagegen, ich verbiete es, daß man den Zeitvertreib meiner leeren Stunden zusam menwirft mit den Geschäften des Gottes Domitian.« Nun waren sie gleichwohl in den Seitengang eingetaucht. »Ich danke Ihnen«, erwiderte Lucia, »für Ihre lichtvollen Belehrungen. Mich wundert nur eines: daß Sie nämlich nicht auch den römischen Bürgerinnen zugestehen, was Sie sich selber zugestehen. Warum darf nicht auch eine römische Bürgerin unterscheiden zwischen dem Zeitvertreib ihrer leeren Stunden und den Geschäften, die sie als römische Bürgerin verrichtet? Warum darf nicht auch sie sich spalten, wie Sie es tun, und bald die römische Bürgerin sein, existierend nur vom Gürtel an aufwärts, und bald das Weibchen wie die übrigen?«
  Darauf ging Domitian nicht ein. »Begreif mich doch, meine Lucia!« bat er. »Es ist wirklich das Pflichtbewußtsein des Fürsten, des Erzpriesters, und nichts sonst, was diese Cornelia verurteilt. Ich will dieser Gesellschaft, diesem Adel, der verkommen ist durch eine Reihe schlechter Herrscher, den Sinn wieder öffnen für die Strenge, die Einfachheit und das Pflichtgefühl der Altvordern. Ich will dieses Volk zurückführen zur Religion, zur Familie, zu den Tugenden, welche die Gegenwart sichern und die Zukunft gewährleisten. Mit größerm Recht als von der Epoche jenes Augustus soll man vom Zeitalter des Domitian sagen können: ›Nicht schändet Unzucht das reine Haus. Austrieb Sitte und Recht das Laster, die Geilheit. Ehre gebührt den Frauen; denn gleich sehn sich Gatte und Kind. Und nicht hinter der Schuld, neben ihr her geht die Strafe.‹« Etwas pathetisch mit seiner scharfen, hohen Stimme deklamierte er die edlen Verse des Horaz.
  Da aber hielt sich Lucia nicht länger, ihr dunkles, klingendes Lachen schlug sie auf. »Verzeih«, antwortete sie, »ich glaube dir, daß du es ehrlich meinst. Aber die Verse klingen zu komisch im Munde des Mannes, welcher Julias Liebster war und der Mann der Lucia ist.« Und da sich Domitian tief rötete, fuhr sie fort: »Ich will dich nicht kränken, ich bin, beim Herkules, nicht hergekommen, um dich zu kränken. Aber glaubst du wirklich, du kannst es durch Verwaltungsmaßnahmen erreichen, daß mehr Tugend in Rom sei? Dieses Rom, wie es nun einmal ist, diese unsere Zeit, wie sie nun einmal geworden ist, die wirkliche Epoche des Domitian, glaubst du, du kannst sie zurückdrehen und zu der Epoche machen, die du haben willst? Da müßtest du ganz Rom einreißen und drei Viertel seiner Institutionen verbieten. Willst du die Huren abschaffen? Willst du die Theater verbieten, die Komödien von den gehörnten Ehegatten? Willst du aus den Fresken der Häuser die Liebesabenteuer der Götter herauskratzen lassen? Glaubst du, du erreichst wirklich etwas, wenn du Cornelia begräbst? Ich weiß nicht, was du ihr nachweisen kannst; aber das weiß ich, meine Kusine Cornelia, was immer sie getan haben mag, hat im kleinen Finger mehr Keuschheit als du und ich zusammen. Wenn Cornelia vorübergeht, dann spürt das Volk, was Keuschheit ist. Wenn es dich sieht und wenn du noch so scharfe Gesetze erläßt, dann, fürchte ich, spürt es das nicht.«
  »Ich glaube nicht, daß du recht hast«, erwiderte er und bemühte sich, seinen Zorn zu unterdrücken und seine Stimme gehalten zu machen. »Aber sei dem, wie ihm wolle, ich will deine Senatoren lehren, daß ihnen ihr Adel nicht nur Privilegien gibt, sondern auch Pflichten auflegt. Gut, ich leiste mir dies oder jenes Vergnügen; aber jemand, der mir so nahesteht wie du, muß doch auch sehen, daß sich der Kaiser Domitian tausend Lüste versagt, die ihm das Blut hitzen, und dafür tausend Lasten auf sich nimmt. Glaubst du vielleicht, es war ein Spaß, in den sarmatischen Feldzug zu gehn? Dich fröstelt schon hier unter der Sonne Roms; du hättest dort bei den Sarmaten sein müssen, um zu erleben, was Frost ist. Und du hättest diese Barbaren sehen müssen, mit denen wir zu tun hatten. Wenn man die Leichen dieser Burschen auf den Schlachtfeldern sah, wenn man sich die Gefangenen anschaute, die eingebracht wurden, dann überlief es einem bei dem Gedanken, welche Gefahr man überstanden hatte. Man mußte ein festes Herz haben, um sie lebendig anrennen zu sehen, diese ungeschlachten Halbmenschen, zu Zehntausenden, mit ihren verfluchten Pfeilen. Meine Liebe, glaubst du, ich wäre nicht lieber mit dir im Bett gelegen, als auf unsicherm, rutschendem Pferd über die vereisten Schlachtfelder der Sarmaten zu traben? Und wenn ich das von mir verlange, dann verlange ich einiges auch von meinen Senatoren.« Er blieb stehen; unter den zierlich verschnittenen Bäumen stand er, groß anzusehen, und hielt eine Rede. »Die Herren machen sich’s bequem. Ihr Dienst am Staat besteht darin, daß sie die Provinzen untereinander auslosen und sie reihum ausräubern. Aber so einfach werden sie’s bei mir nicht mehr lange haben. Wer dem Ersten Adel angehört, der hat seine Kraft nicht zu vergeuden in Liebesabenteuern oder in weibischen Träumen und Betrachtungen über den Aberglauben der Minäer oder dergleichen, der hat seine Kraft aufzusparen für den Staat. Ein Mensch kann nur eines: dem Staat dienen oder den eigenen Lüsten frönen. Nur ein Gott wie ich kann beides vereinen. Eine Gesellschaft, die sich gehen und treiben läßt wie der Adel Roms, hat schließlich keine Beamten und keine Soldaten mehr, sondern nur Lüstlinge. Das Reich verdirbt, wenn sein Adel weiter so verkommt.«
  Lucias kühnes, helles Antlitz zeigte jenen spöttischen Ausdruck, gegen den er nicht ankam. »Und darum also läßt du Cornelia umbringen?« fragte sie. »Auch darum«, antwortete er, aber es klang nicht streitbar. Mit sanfter Gewalt führte er sie fort aus dem hellen Teil des Gartens zu einer Grotte, zog sie hinein in den Schatten, fort aus dem lichten Vorfrühlingstag. »Ich will dir etwas sagen, Lucia«, vertraute er ihr an, fast flüsternd. »Diese östlichen Götter, dieser Jahve und der Gott der Minäer, hassen mich. Sie sind gefährlich, und wenn ich mich nicht beizeiten vorsehe, dann kriegen sie mich unter. Wenn ich gegen sie aufkommen will, dann brauche ich den ganzen Beistand unserer Götter. Ich darf mir Vesta nicht zur Feindin machen. Ich darf kein Verbrechen an ihr ungesühnt lassen. Wenn ich heuer die Säkularspiele feiern will, dann soll es in einem reinen Rom geschehen. Und ich werde den Weg weitergehen, den ich beschritten habe. Die Herren vom Senat, deren Meinungen du so gern wiedergibst, haben in meinen ersten Jahren gesagt, ich sei ein strenger Kaiser. Seitdem ich die Verschwörung des Saturnin ahndete, haben sie gesagt, ich sei grausam. Sie werden lange nach einem Wort suchen müssen, um auszudrücken, wofür sie mich halten, wenn sie erst meine späteren Jahre erleben. Aber das wird mich nicht von meinem Wege abbringen. Er ist Schritt für Schritt bedacht. Ich reiße das Unkraut aus. Ich halte Musterung unter den Senatoren. Ich zertrete den östlichen Unfug. Ich werde es gewissen Leute verleiden, mit dem östlichen Aberglauben zu liebäugeln. Jupiter hat einen guten Diener an mir.«
  Er sagte das alles leise, doch es strahlte von ihm eine solche Entschlossenheit aus, ein so dunkel-heftiger Glaube an seine Bestimmung, daß ihn Lucia keineswegs lächerlich fand. Sie strebte aus der Grotte hinaus ins Licht, er mußte ihr wohl oder übel folgen. »Schon gut, Wäuchlein, schon gut!« sagte sie, strich ihm mit ihrer großen Hand leicht über das immer spärlicher werdende Haar, und, mit einer Stimme zwischen Anerkennung und Ironie, gab sie zu: »In manchem hast du vielleicht sogar recht. Aber bestimmt nicht recht hast du mit deinem Vorhaben gegen Cornelia. Cornelia ist die beliebteste Frau im Reich. Das Volk, das dich liebt, wird dich sehr viel weniger lieben, wenn du wirklich das Urteil gegen sie vollstrecken willst. Tu es nicht! Du wirst es zu büßen haben.« Mit dem Schuh, unwillkürlich, versuchte sie die winterlich harte Erde zu lockern, es gelang nicht. Ein kleiner Schauer überkam sie. Lebenden Leibes unter diese Erde müssen, und Strohgeflecht darüber!
  Er lächelte sein hochfahrendes, finsteres Lächeln. »Haben Sie keine Angst, meine Lucia«, sagte er. »Mein Volk wird mich weiter lieben. Wollen wir wetten? Darf ich Sie daran erinnern, wenn sich zeigt, daß ich recht habe?«

Die Senatoren begaben sich höchst unlustig zu der Sitzung, in welcher sie das Urteil fällen sollten über die Vestalin Cornelia und über ihren Mittäter Crispin, welche beide das Kollegium der Fünfzehn für schuldig befunden hatte. Es widerstrebte ihnen, den zweifelhaften Spruch zu bestätigen und den barbarischen Akt, den der Kaiser offenbar vornehmen lassen wollte, mit ihrer Autorität zu decken. Allein Domitian hatte verbreiten lassen, er werde der Sitzung beiwohnen, und diese deutliche Warnung bewog die Senatoren, sich fast ohne Ausnahme einzufinden.
  Auch das Volk schien sehr mißvergnügt. Eine große Menge umlagerte die Kurie, wo die Sitzung stattfinden sollte, und selbst den Kaiser begrüßte nicht Zuruf und Verehrung wie sonst, sondern um ihn war nichts als erregtes Geflüster oder feindseliges Schweigen.
  Von Eröffnung der Sitzung an war der Senat ungebärdig. Als erster verlangte Helvid das Wort. Er habe, erklärte er, den Berufenen Vätern eine Mitteilung zu machen, die den gesamten Aspekt der Angelegenheit verändere, über die zu beraten sie zusammengekommen seien. Es erübrige sich, ein Urteil zu fällen über den Hofmarschall Crispin, Minister des Kaisers. Es liege sichere Meldung vor, der Mann habe sich dem Urteil des Senats entzogen, er habe sich die Adern geöffnet, er sei tot.
  Es gelang dem amtierenden Konsul nicht, die Sitzung ordnungsgemäß weiterzuführen. Die Senatoren waren aufgesprungen, sie sprachen und schrien durcheinander. Einen besseren Vorwand, die unwillkommene Aufgabe abzulehnen, hätte man nicht geben können. Der einzige Zeuge, der gegen die Vestalin Cornelia hatte angeführt werden können, war verschwunden, der Schuldspruch des Priestergerichts war erschüttert, wie sollte man da ein Urteil fällen? Nur mit größter Mühe stellte der Konsul die Ruhe wieder her.
  Messalin versuchte zu sänftigen. Mit geübter Rhetorik führte er aus, ein stärkeres Eingeständnis als dieser Selbstmord lasse sich schwer vorstellen, und gerade nachdem sich einer der Schuldigen der Ahndung entzogen habe, müsse man, um den Zorn der Göttin zu beschwichtigen, die andere um so strenger bestrafen vor den Augen der Stadt und der Welt. Aber seine Rede verfing nicht. Die Unruhe war nur gewachsen. Von außen her – die Türen mußten nach der Vorschrift des Gesetzes offenbleiben, damit das Volk den Beratungen folgen könne – hörte man die Debatten und die aufgebrachten Rufe der Menge, und innerhalb und außerhalb des Senats eiferte man, wenn jemand sich an der Göttin versündigt habe, dann bestimmt nur dieser Crispin, der jetzt auf eine so verhältnismäßig glimpfliche und dem Kaiser willkommene Art gestorben war.
  In der Kurie mittlerweile erwiderte dem Messalin der Senator Helvid. Es sei unverständlich, erklärte er, daß das Kollegium der Fünfzehn nicht durch schärfere Haft und Bewachung den Selbstmord des Crispin verhindert habe. Erschreckt ob einer so kühnen Sprache sahen die Senatoren auf den Kaiser. Der saß da, hochroten Gesichtes, wild an der Oberlippe saugend; er war ergrimmt über diese frechen Senatoren und über sich selber, er hatte den Crispin schonen und ihm den Selbstmord ermöglichen wollen, hatte aber wie manchmal in derlei Fällen, um sich vor sich selber zu decken, halbe Weisungen gegeben. Helvid kam zu seinem Schluß. Es sei, fand er, nach diesem seltsamen Tod des Crispin Pflicht des Senats, die Sache der Vestalin Cornelia zurückzuverweisen an das Kollegium der Fünfzehn, auf daß es sie nochmals überprüfe.
  Nach ihm nahm Priscus das Wort, und nach der bitteren und empörten Rede des Helvid wirkte die Sachlichkeit des großen Juristen doppelt überzeugend. Es lägen, führte er mit seiner hellen, schneidend klaren Stimme aus, Präzedenzfälle nicht vor. Dem Senat sei der Fall unterbreitet worden als Prozeßsache gegen den Hofmarschall Crispin und Genossen. Es gehe nicht an, nun auf einmal die Sache der Vestalin Cornelia von der Hauptsache abzutrennen. Dazu bedürfe es einer neuen Untersuchung und einer neuen Weisung des Priestergerichts. Im übrigen müsse er gestehen, daß er, bei aller Ehrfurcht vor dem Spruch des Priestergerichts, nur mit schweren Bedenken in diese Sitzung gegangen sei. Ihm, als einem Manne, der mit tiefster Ehrfurcht das Walten der Gottheit beobachte und Sinn und Zusammenhang sehe in allen Geschehnissen, habe von Anfang an ein schwerer Zweifel keine Ruhe gelassen. Wenn wirklich eine der Vestalinnen solche Schuld auf sich geladen und dadurch den Zorn der Götter auf Senat und Volk und auf das Haupt des Kaisers herabgerufen hätte, wie dann, führte er mit tückischer Logik aus, hätte der Herr und Gott Domitian die glorreichen Siege des sarmatischen Feldzugs erringen können?
  Dies war, in unangreifbare Sachlichkeit gekleidet, die kaltbösartigste Verhöhnung des Kaisers, die sich denken ließ, jedermann in Rom verstand sie und hatte seine Freude daran, und den Priscus selber erfüllte tiefe Befriedigung, als er mit seiner schneidenden, trompetenden Stimme diesen Satz in die Versammlung und die Welt hineinrief. Domitian nahm ihn auf, Domitian verstand ihn ganz, Domitians Herz setzte einen Augenblick aus, aber Priscus selber sollte seine süße Rache bitter zu bezahlen haben; denn von jetzt an stand es dem Kaiser fest, daß er, und sehr bald, diesen Priscus dem Sabin und dem Aelius und den andern nachschicken werde, die es gewagt hatten, ihn zu verhöhnen.
  Messalin meldete sich und machte sich daran, den Priscus zu widerlegen und den empörten Senat in seine Schranken zurückzuweisen. Müsse er die erlauchte Versammlung, die mit solcher Eifersucht ihre Rechte wahre, daran erinnern, daß sie im Begriff sei, einen gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen, indem sie eingreifen wolle in die Befugnisse einer ebenso erlauchten autonomen Körperschaft? Die Verfassung gebe dem Senat nicht das Recht, die Gründe zu untersuchen, welche die Herren Priester zu ihrem Spruche hätten veranlassen können. Den Senat gingen diese Gründe nichts an. Spitzfindige, formal-juristische Bedenken, wie sie der ehrenwerte Senator Priscus vorgebracht habe, hätten vielleicht Gewicht vor profanen Richtern, sie seien aber wesenlos und windig vor dem Kollegium der Fünfzehn, das seinen Spruch fälle im Auftrag der Götter und von ihnen geleitet. Habe das Fünfzehnerkollegium einmal befunden, so stehe sein Spruch für die Ewigkeit, es gebe keine Appellation, und an ihnen, den Senatoren, sei es lediglich, auf Grund dieses Befundes das Urteil zu fällen.
  Höchst widerstrebend machte sich der Senat an die verhaßte Aufgabe. Eine ganze Reihe von Anträgen wurde gestellt, alle dahin zielend, den Senat von der Verantwortung zu befreien. Die Fassung des Urteils, die schließlich angenommen wurde, schob denn auch geschickt die Verantwortung auf den Kaiser zurück. Das Urteil bestimmte, es sei die Vestalin Cornelia so zu bestrafen wie seinerzeit die Schwestern Oculatae. Diese aber waren zwar verurteilt worden, den vom Gesetz vorgeschriebenen Tod zu erleiden, den Tod also in der ummauerten Grube, gleichzeitig indes waren sie der Milde des Kaisers empfohlen worden, und tatsächlich hatte ihnen ja auch Domitian die Art des Sterbens freigestellt. Der Senat also hatte es durch seinen zweideutigen Spruch geschickt vermieden, selber Cornelia zu der grausamen Strafe zu verurteilen, er hatte die Verantwortung über die Art ihres Todes auf den Kaiser zurückgewälzt.
  Ängstlich über die eigene Kühnheit schauten die Senatoren auf Domitian. Wie es das Gesetz vorschrieb, fragte der amtierende Konsul den Kaiser, ob er in seiner Eigenschaft als höchster Richter und Erzpriester das Urteil billige und seine Vollziehung anordne. Alle schauten gespannt auf den großen, dunkelgeröteten Kopf des Kaisers. Norban, hinter ihm sitzend, ein wenig tiefer, wandte das Gesicht zu ihm hinauf, um seine Antwort entgegenzunehmen; doch er brauchte sie dem Senat nicht erst zu verkünden. Alle sahen, daß der schwere, dunkelrote Kopf ja nickte, noch bevor Norban ihn befragt hatte.
  So verkündete denn der Konsul das Urteil, die Krone billigte es, die Schreiber schrieben es, der Henker rüstete sich.


Bisher war der Kaiser bei den Massen beliebt gewesen. Auch die blutige Strenge, mit der er den Staatsstreich des Saturnin bestraft, hatte Verständnis gefunden. Die Exekution an Cornelia fand kein Verständnis. Die Römer murrten. Norban versuchte einzugreifen. Die Römer ließen sich den Mund nicht verbieten, sie schimpften und murrten immer lauter.
  Man erzählte sich rührende Züge von der Hinrichtung der Cornelia. Als sie die Stufen in ihr Grab hinuntersteigen sollte, sei ihr Kleid hängengeblieben. Einer aus dem Exekutivkommando habe ihr helfen wollen, es zu lösen; sie aber habe seine Hand mit solchem Abscheu zurückgewiesen, daß jedermann habe erkennen müssen, wie ihre reine Natur zurückscheute vor jeder Berührung eines Mannes. So tief prägte sich dieser Bericht in das Herz aller, daß zwei Wochen später, als bei einer Aufführung der »Hekuba« des Euripides die Verse gesprochen wurden: »Sie blieb bemüht, höchst würdevoll zu sterben«, das Publikum in langen, demonstrativen Beifall ausbrach. Übrigens hieß es, Freunde – man sprach von Lucia selber – hätten der Cornelia ein Fläschchen Giftes zugesteckt, und ihre stille, reine Würde habe auch auf die Wächter gewirkt, daß sie nicht gewagt hätten, es ihr zu nehmen. Zu alledem kam, daß Crispin vor seinem Tod an verschiedene Freunde Briefe gerichtet hatte des Inhalts, er sterbe schuldlos. Abschriften dieser Briefe zirkulierten im ganzen Reich. Kein Mensch mehr glaubte an eine Schuld der Cornelia, der Kaiser galt als sinnlos wütender Tyrann.
  Von Tag zu Tag mehr schien es, daß Lucia recht und daß der Kaiser das Urteil gegen Cornelia mit seiner Popularität zu bezahlen hatte. Bisher waren die Massen den oppositionellen Senatoren kalt, beinahe feindselig gegenübergestanden. Jetzt begrüßte das Volk die Damen Fannia und Gratilla, wo immer sie erschienen, mit Sympathie. Ein Stück wurde aufgeführt, »Paris und Önone«, das voll war von Anspielungen auf die Beziehungen des Kaisers zu Lucia und zu Julia, und fand ungeheuern Erfolg. Auf der Straße sprachen Wildfremde den Senator Priscus an, er möge doch die Rede, die er im Senat für Cornelia gehalten, veröffentlichen.
  So weit zwar wagte sich Priscus nicht vor. Wohl aber machte er sich jetzt daran, das Versprechen einzulösen, das er damals der alten Fannia gegeben hatte, seinen Grimm nicht länger einzusperren und sein »Leben des Paetus« zu verbreiten. Er überreichte das vollendete Werk der Fannia, für die er es geschrieben, und ließ es zu, daß sie das kleine Buch weitergab. Bald zirkulierten Abschriften im ganzen Reich.
  Dargestellt aber war in diesem Buch in schöner Klarheit das Leben des Republikaners Paetus. Wie dieser in altrömischer Strenge aufgewachsene Mann, als die Tyrannei des Nero immer unerträglicher wurde, sich, um seine Gesinnung zu bekunden, der Teilnahme an den Sitzungen des Senats enthielt. Wie er zwar schwieg, schwieg, schwieg, wie indes sein ganzes Wesen seinen tiefen Unmut über den Lauf der öffentlichen Angelegenheiten bekundete. Wie ihn schließlich Nero anklagen und verurteilen ließ. Wie er sich gleichmütig, ja fröhlich darüber, daß er in diesem heruntergekommenen Rom nicht länger leben müsse, die Adern öffnete und stoischen Mutes starb. Siebenundzwanzig Jahre war das nun her. Kein leisestes Wort sagte Priscus in seiner Biographie gegen den Kaiser Domitian, er beschränkte sich vielmehr mit vorbildlicher Sachlichkeit auf eine exakte Darstellung des Lebens seines Helden, die Daten verwertend, die er sich von Fannia, der Tochter des Paetus, hatte geben lassen. Dennoch und gerade durch seine Sachlichkeit wurde das Buch zu einer einzigen, Ungeheuern Anklage gegen Domitian, und als solche auch wurde es gelesen und verstanden.
  Waren derartige Angriffe die Wagnisse einzelner, so ging bald darauf der Senat in seiner Gesamtheit zum offenen Kampf gegen den Kaiser über. Dies geschah anläßlich des Falles des Gouverneurs Ligarius.
  Diesem Ligarius, einem seiner Günstlinge, hatte Domitian die Verwaltung der Provinz Spanien übertragen, und der Mann hatte sein Amt dazu benutzt, das Land rücksichtslos auszuplündern. Nun waren Vertreter der Provinz nach Rom gekommen, um beim Senat gegen ihren unehrlichen Gouverneur Klage zu führen. Früher, bevor das Ansehen Domitians durch die Hinrichtung der Cornelia erschüttert war, hätte der Senat einen solchen Prozeß gegen einen Günstling des Kaisers kaum zugelassen. Jetzt, da er seine Macht täglich wachsen fühlte, zwang er nicht nur dem Kaiser die Zustimmung zu diesem Prozeß ab, sondern rückte auch die Angelegenheit ins hellste Licht.
  Zum Sachwalter der Provinz Spanien bestellte der Senat den Helvid. Der entfaltete seine ganze wilde Beredsamkeit, der Senat folgte ihm und nahm fast jeden seiner Beweisanträge an. Bis in die kleinsten Einzelheiten wurden die Erpressungen erörtert, die Ligarius, Freund und Günstling des Kaisers, an der unglücklichen Provinz Spanien verübt hatte. Voll heimlichen Triumphes hörte der Senat, wie Ligarius sich mußte überführen und mit den wüstesten Schmähungen überhäufen lassen. Als die Beweisaufnahme geschlossen wurde, war es so gut wie gewiß, daß der Senat in seiner nächsten Sitzung, die zwei Wochen später stattfinden sollte, den Günstling des Kaisers nicht nur zum Ersatz der geraubten Gelder und Güter verurteilen würde, sondern darüber hinaus zur Konfiskation seines Vermögens und zur Verbannung.
  Dies war ein Schlag gegen Domitian, wie ihn noch vor wenigen Monaten niemand für denkbar gehalten hatte. Jetzt waren zwar im Staatsarchiv die Gesetzestafeln hinterlegt, die« ihm mehr Befugnisse zusprachen, als sie jemals ein Mann in seiner Hand vereinigt hatte seit Bestehen der Stadt, aber Domitian wußte, er durfte es nicht wagen, von diesen Befug nissen Gebrauch zu machen. Im Gegenteil, seit mehr als zwei Menschenaltern hatte der Senat nicht mehr gewagt, dem Herrscher so viel Trotz entgegenzustellen, wie es jetzt dieser sein Senat tat.
  Im Treibhaus in Alba lag er, ausgestreckt auf dem Ruhebett, das er sich dort hatte aufstellen lassen. Er überdachte, was geschehen war und wie das hatte geschehen können. Hat er sich überhoben? Hat Lucia recht gehabt? Sie hat nicht. Er muß nur die Kraft finden, sich zu zähmen, nicht zu früh zuzuschlagen, nicht zur Unzeit zuzuschlagen, er muß die Kraft aufbringen, zu warten. Und das kann er. Er hat sich im Warten geübt. Es ist ein weiter Weg gewesen von seiner bittern, armseligen Jugend bis heute.
  Viel kann man erreichen mit Geduld. Viele Gewächse kann man zwingen, den Weg zu wachsen, den man ihnen vorschreibt. Was sich nicht fügen will, schneidet man weg, tilgt man aus. Im Augenblick muß er sich bescheiden, aber der Tag wird kommen, da er austilgen kann. Er weiß sich in Übereinstimmung mit der Gottheit. Lucia wird nicht auf die Dauer recht behalten.
  Woran lag es, daß man in Rom nicht einsehen wollte, daß er gar nicht anders konnte als die Cornelia verurteilen? Er war sich bewußt, daß die Schuld manches Mannes, den er hatte verurteilen lassen, nicht über jedem Zweifel feststand. Aber diese Cornelia war doch schuldig: warum wollte man gerade an ihre Schuld nicht glauben? Es mußte möglich sein, die erwiesene Schuld der Cornelia auch den blöden Augen seiner ungläubigen Untertanen deutlich zu machen.
  Er berief den Norban. Hatte der nicht eine gewisse Melitta erwähnt, eine Freigelassene der Vestalin, die Bescheid wußte um die Vorgänge beim Feste der Guten Göttin? Wo war sie, diese Melitta? Was für ein unfähiger Mensch war sein Polizeiminister, daß er diese Melitta hatte entwischen lassen, daß er sie nicht zu seiner Verfügung gehalten hatte. Der Kaiser beschimpfte den Norban mit wüsten, gemeinen Worten, dann wieder schmeichelte er ihm und beschwor ihn, die verschwundene Melitta beizubringen, daß man sie foltern und Geständnisse aus ihr herausholen könne.
  Norban blieb vor den Beschwörungen des Kaisers so gleichmütig wie vor seinen Beschimpfungen. Vierschrötig stand er da, der mächtige Kopf ruhte auf den eckigen Schultern, grotesk fiel die schwarze Locke in die niedrige Stirn, die Augen, bräunliche Augen eines treuen, doch vielleicht nicht bis ins Letzte gezähmten Hundes, schauten auf den Kaiser, spähend, dienstwillig und ein klein wenig überlegen. »Der Herr und Gott Domitian weiß«, sagte er, »daß er sich auf seinen Norban verlassen kann. Die Frevlerin Cornelia liegt, um einer wohlbewiesenen Schuld willen zur Vergessenheit bestimmt, unter dem Weidengeflecht. Ich werde Ihnen die Mittel geben, mein Herr und Gott, auch den dummen Pöbel von dieser Schuld zu überzeugen.«

Bald darauf wurde dem Decian, der sehr zurückgezogen auf seinem Landgut bei Bajae lebte, ein unerwarteter Besuch gemeldet, der Senator Messalin. Unbehaglich fragte sich Decian, was wohl der unheimliche Mensch von ihm wolle, doch in seinem Innern wußte er’s, sowie der Diener den Namen Messalin nannte. Der Mann wollte Melitta.
  Bald denn auch brachte der Blinde die Rede auf die Vestalin Cornelia. »Welch ein Jammer«, klagte Decian, »daß diese Frau hat hinuntermüssen!« Es war unvorsichtig, daß er so sprach, aber er mußte es, es drängte ihn, sein Leid um Cornelia zu bekennen.
  »Wäre es nicht ein noch größerer Jammer«, fragte Messalin, »wenn sie umsonst gestorben sein sollte?« Da war man also bei dem Gegenstand, um dessentwillen der Mann offenbar gekommen war. Decian beschloß, unter keinen Umständen die tote Cornelia zu verraten; doch schon während er dieses Gelöbnis tat, war in ihm die innere Gewißheit, daß er’s nicht halten werde.
  Es habe, führte unterdessen Messalin aus, DDD viel Überwindung gekostet, den harten Spruch vollziehen zu lassen. Nun aber bemühten sich gewisse sture Republikaner, den Kaiser um den Erfolg seiner schwer errungenen Härte und Cornelia um den Sinn ihres Todes zu bestehlen. Sie verbreiteten, Cornelia sei schuldlos gestorben, und gefährdeten so Ziel und Zweck des beispielhaft strengen Urteils, die Förderung der Sitte und der Religion. Mit Trauer müsse jeder wahre Freund des Reichs dieses ebenso törichte wie gottlose Treiben mitansehen.
  Decian wußte, es ging um sein eigenes Leben. Trotzdem vergaß er für einen Augenblick seine Angst und betrachtete den Blinden mit Neugier und Grauen. Mit so sanfter, schmeichlerischer, teuflischer Logik also verstanden diese Leute ihr Verbrechen ins Gegenteil zu drehen. Vielleicht taten sie es sogar vor sich selber; zumindest jener Mann, in dessen Namen dieser Messalin kam, glaubte das, was da vorgebracht wurde, sei die reine Wahrheit. »Es ging nun einmal«, antwortete er tapfer, »von Cornelia jenes Strahlen aus, mit dem die Götter nur ganz wenige begnaden, und darum«, schloß er mit höflicher Zweideutigkeit, »wird es schwer sein, ihren Tod sinnvoll erscheinen zu lassen.«
  »Es gibt einen Mann«, erwiderte Messalin, »der dem Herrn und Gott Domitian bei diesem Unternehmen helfen könnte. Dieser Mann sind Sie, mein Decian.« Mit einer leichten Handbewegung, als sähe er die gespielte Entrüstung und Verwunderung auf dem Gesicht des andern, schnitt er ihm die überflüssige Entgegnung ab und fuhr fort: »Wir wissen, wo sich die Freigelassene Melitta befindet. Nur weil wir den Skandal um den Fall der Cornelia nicht noch vermehren wollen, vermeiden wir es, uns ihrer durch Gewalt zu bemächtigen. Es wäre vernünftig, mein Decian, wenn Sie uns diese Melitta herausgäben. Sie würden sich viel Leid, der Melitta mancherlei sehr Qualvolles und uns den Skandal ersparen. Mir scheint, das wäre auch im Sinne unserer toten Cornelia.«
  Decian war sehr blaß geworden, und es war ihm eine Genugtuung, daß der Blinde wenigstens diese Blässe nicht wahrnehmen konnte. »Ich verstehe nicht, was Sie wollen«, erwiderte er gehalten.
  Messalin winkte mit einer kleinen, höflichen Handbewegung ab. »Sie sind kein eisenstirniger Narr wie gewisse Ihrer Freunde«, stellte er ihm vor. »DDD schätzt Sie als einen Mann von Klugheit und von Welt. Wir verstehen es, daß Sie Cornelia haben schützen wollen. Aber was versprechen Sie sich davon, wenn Sie weiter Widerstand leisten? Glauben Sie, Sie können DDD eine Ehrenerklärung für die tote Cornelia abzwingen? Bewähren Sie Ihre oft bewährte Klugheit! Geben Sie Melitta heraus, reden Sie ihr Vernunft zu, und Sie werden ziemlich viel gewonnen haben. Ich will Ihnen nichts vormachen. Eine Anklage gegen Sie wegen Beihilfe zur Verschleierung des Verbrechens der Cornelia wird auch dann erfolgen müssen, wenn Sie uns Melitta herausgeben. Aber wie immer der Senat urteilen wird, ich kann Ihnen versichern, Sie werden mit einer leichten Verbannung davonkommen. Geben Sie mir jetzt keine Antwort, mein Decian! Überlegen Sie sich gut, was ich Ihnen gesagt habe! Ich bin überzeugt, Sie werden zu dem Schluß kommen, daß es einen andern sinnvollen Ausweg nicht gibt. Lassen Sie es sich angelegen sein, Melitta vor der Tortur und sich selber vor dem Tode zu retten, und fangen Sie heute schon an, alles, was Sie an beweglicher Habe besitzen, aus Italien hinauszuschaffen für die zwei oder drei Jahre, die Sie außerhalb Italiens werden verbringen müssen! Ich kann Ihnen versprechen, daß Norban wenig davon wahrnehmen wird. Glauben Sie mir, der Rat, den ich Ihnen gebe, ist der Rat eines Freundes!«
  Decian, nachdem Messalin gegangen war, sagte sich, daß dem Kaiser und seinen Räten die tote Cornelia vermutlich gleichgültig sei und daß es ihnen nur darum gehe, die verlorengegangene Popularität Domitians neu zu gewinnen. Sowie der Senat nicht mehr darauf rechnen konnte, bei den breiten Massen Unterstützung zu finden, mußte er die Positionen wieder aufgeben, die er in seinem Kampf gegen den Kaiser in der letzten Zeit errungen hatte. Das also wußte Decian genau. Durfte er, um sein Leben zu retten, dem Kaiser helfen, den Senat von neuem zu schwächen?
  Er durfte es nicht. Aber was war erreicht, wenn er sich opferte? Er konnte Melitta endgültig verschwinden lassen. Was dann würden Messalin und Norban unternehmen? Sie würden ihn festsetzen, sie würden ihm durch die Folter Geständnisse abzwingen, wie und warum er Melitta habe verschwinden lassen. Nichts wäre gewonnen. Der Sieg des Kaisers über den Senat, der ja doch als letztes Ergebnis kommen mußte, würde durch seine Opferung um einige Wochen verschoben, verhindert würde er nicht.
  Decian teilte dem Messalin mit, wo sich Melitta befand.
  Dem Decian wurde Schweigen auferlegt, er durfte sein Landgut bei Bajae nicht verlassen, er wurde überwacht. Die Freigelassene Melitta wurde in aller Eile und Heimlichkeit aufgehoben.
  Domitian lächelte tief und befriedigt. »Ich habe gute Freunde«, sagte er zu Messalin, »ich habe gute Freunde«, sagte er zu Norban, und in seinem engsten Kabinettsrat, der jetzt nur mehr aus Regin, Marull, Annius Bassus und Norban bestand, erklärte er: »Diese Angelegenheit bleibt vorläufig unter uns. Wir erheben noch keine Anklage gegen Decian. Wir lassen die Herren vom Senat ruhig weitermachen. Wir wollen sehen, was sie alles noch vorzubringen haben gegen Ligarius und gegen Uns.« Er lächelte stärker. »Lassen wir die Feinde des Reichs immer tiefer in ihr Verderben rennen! Wir können warten.«
  Die Herren von der senatorischen Opposition also hatten keine Ahnung von dem, was sich ereignet hatte, und daß der Kaiser jetzt in der Lage war, das viele Gerede um die Schuld der gerichteten Vestalin, wann immer er wollte, zum Schweigen zu bringen. Sie glaubten vielmehr, die Helvid und Priscus und die übrigen Herren von der senatorischen Opposition, sie hätten die Republik bereits wiederhergestellt, der Kaiser sei nun wirklich zurückgedrängt auf den Platz, den die Verfassung ihm zuwies, er sei nicht mehr als der Erste unter Gleichen, sie seien in Wahrheit seine Peers. Strahlend herum ging der alte Helvid, sein verwittertes Gesicht hatte sich verjüngt vor Stolz über den errungenen Sieg. Er war der große Republikaner, der Anwalt der guten Sache, er hatte die unterdrückten Spanier an Ligarius und dem Kaiser gerächt, er sonnte sich in seinem Erfolg, er brüstete sich, und mit ihm die andern Führer der senatorischen Sache, Priscus und die Seinen und die Angehörigen des gerichteten Paetus, Fannia, Gratilla. Übermorgen sollte der Senat das Urteil fällen über Ligarius, den Aussauger der Provinz Spanien. Einige von den Senatoren wünschten, daß man sich damit begnüge, den Ligarius zur Vermögenskonfiskation und zur Verbannung zu verurteilen, aber sie, die Führer der Opposition, werden nicht so bescheiden und gemäßigt sein. Sie werden verlangen, daß man den Freund des Tyrannen, den Verbrecher, zum Tod verurteile, und sie werden es durchsetzen.
  Die Minister Regin und Marull wußten natürlich um dieses Gerede. Sie waren ältere Herren, die unendlich viel erlebt hatten, sie hatten viele Freunde und Bekannte eines unerwarteten Todes sterben sehen, und es hatte sich nicht immer vermeiden lassen, daß sie mithalfen, diesen raschen Tod herbeizuführen. Sie waren müde geworden, sie waren von Natur eher gutmütig als bösartig, sie waren konziliant, und sie verspürten ein leises Bedauern, als sich jetzt der alte Helvid anschickte, so blind und wild in seinen Tod zu rennen. Auf die Dauer zu retten war der Mann nicht, aber warum sollte er nicht noch ein paar Jahre oder wenigstens Monate haben? Sie waren menschlich, sie wollten ihn davon abhalten, seinen Untergang zu überstürzen.
  Es war nichts Ungewöhnliches, daß die beiden Herren, deren Liberalität auch die Gegner kannten – sie nannten sie Laschheit –, mit diesen Gegnern mehr oder minder offenherzige Gespräche führten, die freilich akademisch blieben. Auch jetzt suchten Marull und Regin die Gelegenheit einer solchen vertraulichen Aussprache. An dem Tag, bevor der Senat das Urteil in der Sache des Ligarius fällen sollte, traf es sich, daß sie sich mit Helvid, Priscus und Cornel auf die gewünschte Art auseinandersetzen konnten.
  »Sie haben Ihrem Spanien zum Sieg verholfen, mein Helvid«, meinte Marull, »und den Ligarius gefällt. Das ist sehr viel, dazu kann man Ihnen gratulieren. Aber was wollen Sie eigentlich mehr? Wenn ein Mann wie unser Cornel so stürmisch und jugendlich vorginge, das wäre verständlich. Aber ein Herr in unserm Alter, das ist gegen die Natur.« Und Regin, auf seine gemütliche Art, fügte hinzu: »Warum geben Sie sich eigentlich so blutdürstig? Sie wissen doch genausogut wie wir, daß DDD im besten Fall ein Urteil auf Vermögenskonfiskation und Verbannung bestätigen könnte, aber nie ein Todesurteil. Ein solcher Antrag wäre also ein reines Schaustück. Haben Sie das nötig? Sie kompromittieren nur Ihren Sieg.«
  »Ich will dem Senat und dem Volk von Rom zeigen«, sagte finster Helvid, »daß dieses Regime sich nicht scheut, die wichtigsten Ämter im Reich Verbrechern anzuvertrauen.« – »Mein lieber Helvid«, fragte Regin, »ist das nicht eine bedenkliche Verallgemeinerung? Es soll auch zu den Zeiten, da der Senat unbeschränkt herrschte, ab und zu ein Gouverneur wegen Unterschlagung verurteilt worden sein. Wir haben in der Schule einiges darüber gelernt. Mir sind ein paar Reden in Erinnerung über solche Gegenstände, Reden, ohne deren Vorbild selbst Ihr ausgezeichnetes Plädoyer gegen Ligarius nicht hätte gehalten werden können.« Und: »Wenn Sie ehrlich sein wollen«, sekundierte Marull, »dann müssen Sie zugeben, daß gerade unter diesem unserm Herrn und Gott Domitian die Verwaltung der Provinzen sich verbessert hat. Schön, Spanien hat einen schlechten Mann erwischt: aber schließlich hat das Reich neununddreißig Provinzen, und es sind seit Menschengedenken unter keinem Herrscher so wenig Klagen aus den Provinzen eingelaufen wie unter DDD. Nein, mein Helvid, was Sie da machen wollen, Ihr Antrag auf die Todesstrafe, das hat nichts mehr mit sachlicher Politik zu tun, das zielt nicht mehr nur auf die Abstellung von Mißständen, das ist einfach eine Demonstration gegen das Regime als solches.« Und wieder Regin: »Reden Sie Ihrem Freunde zu, mein Priscus, und Sie, mein Cornel. Er dient niemand, wenn er einen solchen Antrag stellt, uns nicht und Ihnen nicht und sich selber nicht. Es kann nur Unheil daraus entstehen.« Er sprach besonders ruhig, geradezu gemütlich. Trotzdem hörten Priscus und Cornel die Warnung heraus.
  Nicht aber vernahm sie Helvid, der, noch berauscht von seinem Erfolg, nur mehr in großen Worten dachte. »Natürlich«, sagte er unwirsch, »kämpfe ich nicht gegen den Mann Ligarius als solchen; es ist mir gleichgültig, ob der verbannt wird oder getötet. Wogegen ich kämpfe – und das wissen Sie ganz genau –, das ist, daß Rom verkörpert werde durch einen einzelnen Mann. Ich kämpfe für die Souveränität der senatorischen Gerichtsbarkeit. Ich kämpfe für Roms Freiheit.« Das waren gefährliche Worte, selbst jetzt, und der besonnene Cornel versuchte abzulenken. »Sie halten eine Rede, mein Helvid«, sagte er, »Sie sprechen nicht zum Thema.« Doch Regin beschwichtigte den Besorgten durch eine kleine Handbewegung. »Keine Gefahr!« sagte er lächelnd. Er wollte sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, seinesteils einmal ein paar Worte zu diesem Thema Freiheit zu sagen, über welches sich die Senatoren so gern in absurden Phrasen ergingen. »Freiheit«, also wiederholte er das letzte Wort des Helvid, und mit seiner hellen, fettigen Stimme definierte er: »Freiheit ist ein senatorisches Vorurteil. Sie wünschen, daß Rom nicht durch einen einzelnen Mann verkörpert werde, sondern durch die zweihundert Familien des Senats, und das nennen Sie Freiheit. Setzen Sie einmal den Fall, Sie erreichten Ihr Ziel hundertprozentig. Sie erreichten mehr Macht für den Senat als für den Kaiser. Was, beim Herkules, wäre dann gewonnen? Welche Art Freiheit? Worin bestünde sie, Ihre Freiheit? In einem wüsten Durcheinander, in einem planlosen Hin und Her der zweihundert sich bekämpfenden Familien, die sich untereinander um die Provinzen, Privilegien und Monopole noch mehr herumbalgen, vertragen und begaunern würden als jetzt. Wenn Sie Ihrem Verstand folgen und nicht Ihrem Gefühl, dann müssen Sie zugeben, daß eine solche Freiheit der Gesamtheit schlechter bekäme als das planvolle Regiment eines einzelnen, das Sie abtun wollen mit dem bequemen Schlagwort Despotie.«
  Helvid wollte antworten, doch Priscus hielt ihn zurück, er hatte selber zuviel darauf zu erwidern. »Sie sagen wegwerfend ›Gefühl‹«, erwiderte er, und seine schneidend klare Stimme stach seltsam ab von der hellen, fettigen des Regin. »Sie vergessen, Sie wollen es nicht spüren, wie das Gefühl, der Willkür eines einzelnen ausgesetzt zu sein, einen bedrückt. Das Bewußtsein, meine Handlungen unterliegen dem Urteil und dem Gewissen eines sorgfältig nach Verdienst erlesenen Gremiums, ist wie frische Luft, das Gefühl, einem einzelnen preisgegeben zu sein, ist wie Stickluft.« Und auch Cornel konnte nicht mehr an sich halten, sondern, mit seiner dunkeln, gewichtigen, drohenden Stimme, fügte er hinzu: »Freiheit ist kein Vorurteil, mein Regin, Freiheit ist etwas sehr Bestimmtes, Greifbares. Wenn ich mir überlegen muß, ob ich das, was ich zu sagen habe, sagen darf, dann wird mein Leben enger, ich werde ärmer, ich kann schließlich nicht mehr unbehindert denken, ich zwinge mich gegen meinen Willen, nur mehr das ›Erlaubte‹ zu denken, ich verkomme, ich sperre mich ein in tausend armselige Rücksichten und Bedenklichkeiten, statt unbehindert ins Weite und Große zu schauen, mein Gehirn verfettet. In der Knechtschaft atmet man: leben kann man nur in der Freiheit.«
  Jetzt aber wollte Helvid nicht länger warten. »Der Kaiser«, wetterte er, »bemüht sich heiß darum, Zucht und Tugend in Rom wieder einzubürgern. Er wütet mit Strafen, die man seit anderthalb Jahrhunderten nicht mehr gekannt hat. Was hat er erreicht? Als der Senat herrschte, das werden selbst Sie nicht leugnen, gab es in Rom mehr Sitte, mehr Tugend, mehr Zucht.« Und Priscus setzte hinzu: »Mehr Recht.« Cornel aber ergänzte, abschließend: »Mehr Glück.« – »Worte, meine Herren«, sagte gemütlich Regin, »nichts als große Worte. Glück! Sie verlangen von einer Regierung, daß sie die Menschen glücklich mache? Damit beweisen Sie nur, daß Sie zum Regieren nicht geeignet sind. Moral verlangen Sie von einer Regierung, Tugend, Recht? Ich gebe Ihnen zu, daß wir da viel bescheidener sind. Wir, Marull und ich, wir halten eine Regierung für gut, wenn sie möglichst viele Ursachen aus der Welt schafft, aus denen Unglück entstehen könnte, Hungersnöte, Seuchen, Kriege, eine allzu ungleiche Verteilung der Güter. Wenn ich wählen soll zwischen einem Regime und dem andern, wenn ich werten soll, welches das bessere ist, dann schere ich mich nicht um den Namen, dann ist es mir höchst gleichgültig, ob man es als freiheitlich bezeichnet oder als despotisch, dann frage ich einzig und allein: welches Regime gewährleistet bessere Planung, bessere Ordnung, bessere Verwaltung, bessere Wirtschaft. Mehr von einer Regierung zu verlangen, Recht oder Glück von ihr verlangen, das heißt Milch von einem Huhn fordern. Geben Sie einer Bevölkerung reichlich Brot und Zirkus, geben Sie ihr etwas Fleisch und Wein, geben Sie ihr Richter und Steuerbeamte, die nicht allzu bestechlich sind, und verhindern Sie, daß sich die Privilegierten allzu fett machen: das andere, Recht und Zucht und Glück, das kommt dann von selber. In Ihrem Innern wissen Sie genausogut wie ich, daß unter Domitian auf den Kopf der Bevölkerung mehr Brot, mehr Schlaf und mehr Vergnügen trifft, als das unter einer Senatsherrschaft möglich wäre. Glauben Sie, daß die hundert Millionen Einwohner des Reichs dieses Mehr an Brot und Schlaf und Vergnügen würden hergeben wollen für Ihre ›Freiheit‹? Noch keine halbe Million unter diesen hundert wünscht sich eine andere Regierungsform.«
  Alle wollten erwidern. Marull aber wurde der fruchtlosen Erörterung überdrüssig und sagte abschließend: »Auf alle Fälle, mein Helvid, rate ich Ihnen, freuen Sie sich Ihres Triumphes über Ligarius, fordern Sie die Götter nicht heraus und geben Sie sich zufrieden!« Und: »Ich glaube, das ist ein guter Rat«, sagte trocken, gemütlich und dennoch sehr eindringlich Claudius Regin.
  Die drei Senatoren waren ehrlich entrüstet über den Zynismus der beiden Minister, aber sie kannten sie gut genug, um zu wissen, daß die Warnung ehrlich gemeint war: Priscus und Cornel redeten denn auch dem draufgängerischen Alten zu, er möge sich mäßigen und sich mit der Verbannung des Ligarius begnügen. Dies war sehr viel mehr, als man noch vor einem halben Jahr zu hoffen gewagt hatte. Volksstimmungen verflogen, man durfte den Kaiser nicht allzusehr reizen, schließlich stand hinter ihm die Armee, man war rasch und kühn und sehr erfolgreich vorgestoßen, es war angebracht, Atem zu holen. Doch Helvid hatte sich verrannt in seinen Plan. Er hatte so vielen davon erzählt, daß er sich nicht mit der Verbannung des Ligarius begnügen, daß er seinen Tod beantragen werde: er konnte es seinem Stolz nicht abringen, jetzt zurückzuweichen. Er beschloß, sein Vorhaben durchzuführen.
  Das tat er denn auch. Die Warnung der Leute des Domitian machte ihn nur um so verbissener, und er sprach wilder, heftiger, hinreißender als je. Selbst Cornel und Priscus vergaßen ihre Bedenken, als er sprach. Es war eine große Stunde. Den Atem an hielten die alten Republikaner, es leuchteten ihre Augen, es schwindelte ihnen vor Glück, als Helvid, seine Sätze großartig steigernd, die härteste Strafe, die das Gesetz vorsah, für den Verbrecher Ligarius verlangte, den Tod, den Tod und nochmals den Tod.
  Seit langen Jahren, seitdem Domitian die Herrschaft angetreten, war die Opposition im Senat so gut wie verstummt. Jetzt, in diesen letzten Monaten, war sie auf einmal wieder dagewesen, einen Sieg nach dem andern hatte sie erfochten, jetzt gar wagte es einer von den Ihren, die Todesstrafe zu fordern für einen Freund und Günstling des Kaisers. Waren die Tage der Freiheit wiedergekommen? Die Rede des Helvid, dieser sein Antrag war der stärkste Triumph der Opposition.
  Er war auch ihr letzter.
  Dies zeigte sich sogleich, als der Angeklagte dem Ankläger erwiderte. Bis jetzt hatte sich Ligarius still und klein verhalten, wie es einem Manne ziemte, der mit gutem Grund eines so schweren Vergehens bezichtigt worden war. Man hatte erwartet, daß er also nach dieser Rede und nach diesem Antrag zerschmettert sein werde, daß er demütig die Milde des Senats erflehen werde. Statt dessen schien der Antrag des Helvid ihn keineswegs niederzuschlagen, im Gegenteil, er lächelte, als Helvid diesen Antrag vorbrachte, er leuchtete geradezu auf, ja es war, als hätte er einen so übermäßig strengen Antrag herbeigesehnt. Und schon aus seinen ersten Worten erhellte, daß er ganz sicher war, er werde niemals die von Helvid geforderte Strafe erleiden müssen, ob der Senat sie nun beschließe oder nicht. Seine Rede war, und zwar schon von den ersten Worten an, keine Verteidigung, sondern eine Anklage.
  Was er sich habe zuschulden kommen lassen, erklärte er, wisse die Stadt und der Erdkreis, er habe es zugegeben, er habe sich bereit gezeigt, zu bereuen und die Strafe auf sich zu nehmen, die der Senat ihm zuerkennen werde. Mit aller Kraft aber wehre und verwahre er sich gegen Anträge wie den des Senators Helvid. Noch sei er, Ligarius, Senator und ein Mann konsularischen Ranges. Als solcher verteidige er die Würde des Senats, die gefährdet werde durch derartig maßlose und aller Vernunft bare Anträge wie den des Helvid. Aus einem solchen Antrag spreche nicht mehr die berechtigte Empörung gegen einen Schuldigen, sondern einzig und allein persönliche Gehässigkeit, eine wüste, sinnlose, verbrecherische Feindschaft. Nun aber bestehe keinerlei Feindschaft zwischen ihm und dem Helvid. Gegen wen also, gegen wen allein könne sich diese Unverschämtheit richten? Zweifellos doch nur gegen jene Persönlichkeit, die einer solchen erbärmlichen Feindseligkeit am fernsten entrückt sein sollte, gegen den Herrn und Gott Domitian. Ihn und nur ihn wolle Helvid in seiner, des Ligarius, Person treffen. Der Antrag sei eine dreiste Provokation, der Antrag sei ein Majestätsverbrechen, und wenn ihm, dem Ligarius, nach der heutigen Sitzung und dem Urteilsspruch nicht mehr die Möglichkeit gegeben sei, Anklage zu erheben gegen dieses Majestätsverbrechen, so fordere er die Berufenen Väter, annoch seine Kollegen, auf, die Schamlosigkeit des Helvid nicht auf sich beruhen zu lassen, sondern die Würde des Senats und das Ansehen des Reichs zu verteidigen und gegen Helvid Anklage zu erheben wegen Majestätsverletzung.
  Es war klar, daß Ligarius eine solche Sprache nicht gewagt hätte, wenn er nicht sicher gewesen wäre, er werde von den Räten des Kaisers gedeckt werden. Es war klar, daß Domitian ein Mittel gefunden haben mußte, sich gegen den Senat mit neuer Kraft zu wehren. Auf alle Fälle war der Kaiser entschlossen, keine weitere Herausforderung von seiten des Senats zu dulden; wahrscheinlich auch hatte er ein Mittel gefunden, die Volksstimmung zu wenden. Wie immer, es war nicht geraten, sich noch weiter vorzuwagen, man tat besser, sich vorzusehen, der Antrag des Helvid wurde so gut wie einstimmig abgelehnt. Nicht einmal die Anträge auf Vermögenskonfiskation und auf Verbannung wurden angenommen. Ligarius, der Freund und Günstling des Kaisers, wurde lediglich dazu verurteilt, die Beträge zu ersetzen, die er der Provinz Spanien widerrechtlich entzogen hatte.
  Bald denn auch zeigte sich, daß die Senatoren die Rede des Ligarius richtig gedeutet hatten und daß der Kaiser im Besitz von Zeugnissen war, geeignet, seine Beliebtheit bei den Massen wiederherzustellen und den Senat in seine alte Machtlosigkeit zurückzuverweisen.
  Schon wenige Tage nach der Urteilssprechung über den Ligarius wurde der Senat befaßt mit einer Anklage gegen den Decian. Decian wurde bezichtigt, versucht zu haben, das Verbrechen der abgeurteilten Vestalin Cornelia zu verschleiern.
  Der Kaiser selber wohnte der Verhandlung des Senats bei.
Decian war nicht erschienen. An seiner Stelle erklärte nach der Anklageerhebung sein Verteidiger: »Der Senator Decian verzichtet auf Verteidigung. Ich bin hier eher Postbote als Anwalt. Der Senator Decian teilt durch mich den Berufenen Vätern mit, daß er sich des Verbrechens schuldig bekennt, dessen man ihn verklagt.«
  Ein einziger Antrag wurde gestellt: Tod für den Schuldigen und Ächtung seines Andenkens. Keine Gegenstimme wurde laut. Da griff Domitian selber ein. Er bat die Berufenen Väter, Milde gegen den Reuigen und Geständigen walten zu lassen. Es wurde denn auch nur auf Verbannung erkannt und auf Konfiskation der in Italien befindlichen Güter des Decian.
  Während er sich entfernte, drohte der Kaiser einer Gruppe von Senatoren, die sich um Helvid und Priscus versammelt hatten, lächelnd und leutselig mit dem Finger: »Sehen Sie, meine Herren, jetzt hat mich gar Ihr Freund Decian von gewissen Beschuldigungen freigesprochen.«
  Die Massen waren betroffen, als bekannt wurde, daß ein um seiner Rechtlichkeit willen so angesehener Mann wie Decian Zeugnis abgelegt hatte für den Kaiser und gegen die Vestalin. Auch Melitta, die Freundin und Freigelassene der Cornelia, hatte also gegen sie gezeugt. Folglich hatte man wohl dem Domitian Unrecht getan. Schnell schlug die Empörung gegen ihn in den alten Enthusiasmus um. Man bezichtigte sich selber der Leichtgläubigkeit, und Verwünschungen wurden laut gegen die Vestalin Cornelia, die das Reich und den guten, großen Kaiser durch ihre Geilheit beinahe um die Hilfe der Götter gebracht hatte. Gepriesen wurde Domitian, weil er mit so starker Hand durchgegriffen, ohne Ansehen der Person, um die Göttin zu rächen. Welche Überwindung mußte es den guten Kaiser gekostet haben, selbst eine Cornelia vor Gericht zu stellen und das Odium einer solchen Verurteilung auf sich zu nehmen! Was für einen großen Kaiser hatte man! Schließlich war es an dem, daß die Verurteilung der Cornelia dem Domitian eine Geschenkverteilung ersparte.

Nachdem Domitian so lange an sich gehalten, genoß er jetzt in vollen Zügen seine Rache. In rascher Folge fanden eine Reihe von Prozessen statt, die endlich jene Häupter der alten Adelspartei wegrafften, an die sein Vater und Bruder und an die er selber sich bisher noch nicht herangewagt hatten.

  Die ersten, gegen die er Anklage erheben ließ, waren die Senatoren Helvid und Priscus und die Damen Fannia und Gratilla. Die Anklage lautete auf Majestätsverletzung. Sie war schamlos zusammengeklittert. Man hatte das ganze Leben der Angeklagten durchsucht, und alles, was sie getan, und alles, was sie gelassen hatten, wurde ausgelegt als Beleidigung des Kaisers. Jedes harmlose kleine Witzwort, das sich einer geleistet hatte, wurde so lange gedreht und gewendet, bis es eine hochverräterische Rede war. Dem vorsichtigen Priscus, der sich, um sich nicht zu gefährden, lange Jahre in ländliche Abgeschiedenheit zurückgezogen hatte, wurde gerade diese Vorsicht als Verbrechen ausgelegt; es sei kränkend für den Kaiser, daß sich ein Mann von der Begabung und Tatkraft des Priscus just unter seiner Herrschaft dem Staatsdienst entziehe. Selbstverständlich wurde seine Biographie des Paetus als aufrührerischer Hymnus auf einen Aufrührer, als verschleierte Beleidigung des Kaisers angesehen. Ungestraft überhäuften die Ankläger die Beklagten mit kalten und niedrigen Schmähungen. Der Senat wagte nicht, dagegen aufzubegehren. Die Kurie, in der er tagte, war umstellt von der Leibgarde des Kaisers. Es war seit Gründung der Stadt das erstemal, daß die regierende Körperschaft Beschlüsse fassen mußte unter der Drohung der Waffen.
  Zwei Episoden dieses Prozesses blieben besonders lange im Gedächtnis der Römer haften. Da war einmal die Vernehmung der Fannia. Der Ankläger erklärte, es gehe die Rede, Priscus habe seine aufrührerische Biographie des Paetus auf ihren, der Fannia, Wunsch geschrieben, sie vor allem habe das Werk verbreitet, und er fragte sie, ob das wahr sei. Alle wußten, daß ein Ja sie ihr Vermögen kosten werde. »Ja«, erwiderte sie. Ob sie, fragte der Ankläger weiter, dem Priscus auch Material für sein Buch gegeben habe. Alle wußten, daß sie, wenn sie ein zweites Mal ja sagte, im günstigsten Fall aus Rom verbannt, daß sie vielleicht getötet werden würde. »Ja«, erwiderte sie. Ob ihre Schwägerin Gratilla, die Schwester des Paetus, darum gewußt habe, wurde sie weiter gefragt. »Nein«, antwortete sie. Auf diese drei schlichten, unerschrockenen und verächtlichen Worte, auf diese beiden Ja und auf dieses Nein beschränkte sich die Zeugnisablegung der Fannia, die sich dem Senat und dem Volk von Rom tiefer einprägte als die ausgezeichnete Rede des Anklägers.
  Das zweite Geschehnis war das folgende: Helvid, der sich verloren wußte, nutzte die letzte Gelegenheit, die ihm gegeben war, noch einmal zu den Römern zu sprechen, zu einer finstern und gewaltigen Drohrede gegen den Kaiser, der der Rache Roms und der Götter nicht entgehen wird. Lautlos hörte man zu. Der blinde Messalin aber erhob sich, sichern Schrittes, als ob er sähe, ging er durch die Bänke auf Helvid zu, um selber Hand an den Schmähsüchtigen zu legen. Da indes, es war das erstemal, daß dem Blinden dies geschah, rissen ihn die andern zurück, sie schrien ihm zu: »Dieser Mann ist hundertmal wertvoller als du!«, sie beschimpften ihn, sie brachten ihn zu Fall.
  Diese Zornesausbrüche verhinderten aber nicht, daß die Berufenen Väter den Helvid und den Priscus zum Tod, die Damen Fannia und Gratilla zur Verbannung, das Buch des Priscus zur Verbrennung verurteilten.
  Zwei Tage später wurde der Holzstoß gerichtet für das Buch, in dem der zu richtende Priscus das Leben des gerichteten Paetus beschrieben hatte. Die Verbrennung fand statt am späten Abend. Die Flammen waren blaß, als sie sich entzündeten, denn da war es noch Tageslicht, aber sie leuchteten immer stärker mit der einfallenden Nacht, und immer lauter wurden die Rufe des zuschauenden Pöbels. Dem Priscus war es anheimgegeben worden, der Verbrennung zuzuschauen. Er tat es. Reglos hielt er den runden, völlig kahlen Kopf, mit den tiefliegenden, kleinen Augen starrte er in die Flamme, die sein Buch verzehrte. Die Exemplare, die man für die Verbrennung ausgewählt hatte, waren auf Pergament geschrieben, der alten Fannia war das kostbarste Material für dieses Buch nicht kostbar genug gewesen, und das Pergament brannte langsam und zäh, es sträubte sich gegen die Vernichtung. Priscus war ein kühler, sachlicher Herr, er hatte oft gelächelt über die Metaphern und Gleichnisse seines Freundes Helvid, dennoch verbanden sich jetzt in seiner eigenen Vorstellung mancherlei pathetische Gedanken und Bilder mit diesem Scheiterhaufen. Feuer erhellte, Feuer reinigte, Feuer war ewig, Feuer verband Menschen und Götter und machte in einem gewissen Sinne den Menschen mächtiger als die Gottheit. Vielleicht, wahrscheinlich wird gerade durch dieses Feuer sein Leben des Paetus länger dauern als das Regiment des Domitian und der Despoten, die ihm folgen mochten; aber wahrscheinlich wird ihm keiner mehr folgen.
  Dieses war das letzte Feuer, das Priscus sah, sein letzter Abend und seine letzte Nacht. Auch der verwitterte, heftige Helvid büßte in dieser Nacht die Befriedigung, die er gespürt hatte, als er durch seinen Antrag gegen den Ligarius dem Kaiser seinen ganzen Haß und seine ganze Verachtung ins Gesicht geschleudert hatte, und folgte seinem Vater in den Hades, gewaltsam dorthin gestoßen wie dieser. Domitian aber durfte sich sagen, jetzt werde der alte Vespasian mit ihm zufrieden sein.

Eine Woche später dann gingen die verurteilten Frauen in die Verbannung. Es war eine wilde, barbarische Gegend, in die man sie schickte. Die füllige, damenhaft lässige Gratilla, gewohnt, drei Zofen um sich zu haben nur für ihre Körperpflege, wird es nicht leicht haben, wenn sie nun allein mit der alten, finsteren Fannia das kleine, rohe Haus bewohnen wird an der kalten, unwirtlichen Küste der nordöstlichen See. Wohl nahm Fannia die Lobschrift des Priscus auf ihren toten Gatten, diese Ursache ihres Exils, mit ins Exil. Wohl standen, als die Frauen dem Latinischen Tor zugingen, um die Stadt zu verlassen, sehr viele an ihrem Weg, aber ihre getöteten Männer wurden davon nicht lebendig, und der Pontus wurde dadurch nicht der Tiber.
  An ihrem Wege stand auch der Senator Cornel, der Schriftsteller. Er hatte nicht teilhaben wollen am Tod seiner Freunde und war der Sitzung ferngeblieben, in der ihr Prozeß verhandelt wurde. Das war kühn gewesen. Freilich nicht allzu kühn, denn natürlich hatte er sich vorgesehen und drei Ärzte an sein Lager gerufen, um Zeugen einer Lungenentzündung zu haben. Auch jetzt hatte er sich, der bedachtsame Mann, lange gefragt, ob er sich unter diejenigen mischen solle, die die Frauen begrüßten, da sie ein letztes Mal vorübergingen. Er hatte sich überwunden, er wagte es, da stand er, sich tadelnd ob der überflüssigen Kühnheit, wartete, und als die Frauen kamen, streckte er den rechten Arm aus, sie auf lange Zeit, vielleicht für immer, ein letztes Mal grüßend. In seinem Herzen aber dachte er: Wie sinnlos und unnütz ist das alles! Arme, törichte Freunde! Warum habt ihr nicht gewartet, ob nicht der günstige Augenblick komme, diesen Kaiser zu fällen? Dann hättet ihr, nach seinem Tode, viel klarer und heftiger sagen können, was gegen ihn vorzubringen ist, als ihr es jetzt habt sagen können. Arme, törichte, tote Freunde, die ihr nicht begriffen habt, daß diese Zeit an uns eine einzige Forderung stellt: sie zu überleben! Arme, törichte, verbannte Heldenweiber! Eure einzige Chance ist, daß ich, der ich weniger töricht bin, euch vielleicht doch noch einmal ein Denkmal setzen kann.
  Nachdem Domitian die Stadt gereinigt hatte von den Leuten, die seine und der Gottheit Feinde waren, beging er seine Säkularfeier. Es waren seit der Gründung der Stadt achthundertneunundvierzig Jahre vergangen, und es bedurfte einer kühnen Chronologie, um zu errechnen, daß nun ein neues Jahrhundert abgelaufen sei. Allein Domitian war ein kühner Mann, er errechnete es. Zusammengerufen durch Herolde wurde das Volk. Das Kollegium der Fünfzehn ließ die Mittel verteilen, wodurch ein jeder sich reinigen sollte, Fackeln, Pech und Schwefel. Das Volk seinerseits überbrachte dem Priesterkollegium die Erstlinge der Saat und des Viehes für die Götter. Der Kaiser selber opferte auf dem Marsfeld dem Jupiter und der Minerva, in seiner Gegenwart richteten adelige Frauen Gebete an die Juno, eine lebendige Forelle wurde der Erde geopfert, Chöre von Jünglingen und Jungfrauen sangen Hymnen, und der Kaiser weihte dem Gotte Vulkan ein Gelände, auf daß er die Stadt fürderhin gegen Feuer schütze.
Josephus- Trilogie. Der jüdische Krieg / Die Söhne / Der Tag wird kommen.
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