Das despotische Regime
des letzten flavischen Kaisers, des
herrschsüchtigen
Domitian, stürzt den Geschichtsschreiber
Flavius Josephus in immer
neue Konflikte. Josef, der Jude,
der sich einst berufen
fühlte, den Aufstieg der Flavier zu
verkünden und Mittler zu
sein zwischen Rom und Judäa,
kehrt, nachdem er seinen
hoffnungsvollen Sohn Matthias
durch das grausame
Intrigenspiel des Kaisers verloren hat,
ins Land seiner Väter
zurück. Für immer scheint der welter
fahrene Mann, der den
Gipfel seines Erfolgs überschritten
hat, die Bühne
politischer Betätigung verlassen zu haben.
Als aber die ständig
gärende jüdische Freiheitsbewegung
erneut aufflammt, um die
verhaßte römische Herrschaft
abzuschütteln, da wird
Josef – der Zweideutige, der Schil
lernde, der Verräter –
mitgerissen wie am Anfang seiner
Laufbahn. Ehe er sich
jedoch bewähren kann, verlischt
sein merkwürdiges,
ungewöhnliches Leben am Rande einer
Lion
Feuchtwanger
Der
Tag wird
kommen
Roman
AUFBAU-VERLAG
Die „Josephus“-Trilogie umfaßt die Romane
DER JÜDISCHE KRIEG
DIE SÖHNE
DER TAG WIRD KOMMEN
„Der jüdische Krieg“ erschien erstmalig im
Jahre 1932, „Die Söhne“ im Jahre 1935, „Der Tag wird kommen“ in
englischer Übersetzung 1942,
in deutscher Sprache 1945
5. Auflage 1989
Alle Rechte Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
© Marta Feuchtwanger 1968
Einbandgestaltung Heinz Unzner
Karl-Marx-Werk, Graphischer Großbetrieb, Pößneck V 15/3o
Printed in the German Democratic Republic
Lizenznummer 301.120/113/89
Bestellnummer 611362 5
I-III 03150
Feuchtwanger, Ges. Werke
ISBN 3-351-00623-3
Bd. 2-4
ISBN 3-351-00681-0
ERSTES
BUCH
Domitian
ERSTES KAPITEL
Nein, was Josef da
hingeschrieben hat, wird er kaum stehenlassen können. Von neuem
überliest er seine Sätze
über Saul, den
Hebräerkönig, wie dieser, wiewohl ihm kundgeworden ist, er werde
den Tod finden und die Seinen in den Untergang führen, entschlossen
in den Kampf zieht. »Das hat Saul getan«, hat er geschrieben, »und
dadurch gezeigt, daß solche, die nach ewigem Ruhme streben, ähnlich
handeln sollten.« Nein, sie sollten nicht ähnlich handeln. Gerade
jetzt dürfte er so was nicht schreiben. Seine Landsleute sind in
diesen Jahrzehnten nach dem Untergang ihres Staates und ihres
Tempels ohnedies geneigt, ein neues, unsinniges kriegerisches
Unternehmen zu versuchen. Jene Geheimverbindung, die den Anbruch
des Tages beschleunigen will, die »Eiferer des Tages«, gewinnen
immer neue Anhänger und neuen Einfluß. Josef darf ihre
hoffnungslose Tapferkeit nicht durch sein Buch noch weiter spornen.
Sosehr der finstere Mut dieses Königs Saul ihn anzieht, er muß der
Vernunft folgen, nicht seinem Gefühl, er darf seinen Juden diesen
König nicht als nachahmenswerten Helden hinstellen.
Flavius Josephus, Ritter des
Zweiten römischen Adels, der große Schriftsteller, dessen
Ehrenbüste in der Bibliothek des Friedenstempels aufgestellt ist,
oder besser der Doktor Josef Ben Matthias, Priester der Ersten
Reihe aus Jerusalem, wirft den Schreibgriffel beiseit, geht auf und
nieder, setzt sich schließlich in einen Winkel seines
Arbeitszimmers. Da sitzt er, im Halbdunkel, die Öllampe hebt nur
den Schreibtisch heraus mit den paar Büchern und Rollen, die darauf
liegen, und dem goldenen Schreibzeug, das ihm einstmals der
verstorbene Kaiser Titus geschenkt hat. Fröstelnd – denn kein Feuer
kommt auf gegen die feuchte Kälte dieses frühen Dezember –, mit
abwesenden Augen schaut Josef auf das mattgleißende Gold.
Merkwürdig, daß er die enthusiastischen Sätze hingeschrieben hat
über Sauls sinnlose Tapferkeit. Ist ihm also doch wieder einmal das
Herz durchgegangen? Will es sich, dieses fünfzigjährige Herz, noch
immer nicht bescheiden mit der ruhevollen Betrachtsamkeit, die
allein in seinem großen Buch zu Worte kommen soll?
Wenigstens unterläuft es ihm
jetzt immer seltener, daß ihm Griffel oder Feder durchgeht. Er hat
sich den Gleichmut erkämpft, den sein großes Werk bedingt, seine
»Universalgeschichte des jüdischen Volkes«. Er hat dem Getriebe
entsagt, er jammert dem wilden Leben nicht nach, das hinter ihm
liegt. Er hat sich seinerzeit mit heißem Eifer hineingestürzt in
den großen Krieg seines Volkes, hat daran teilgenommen auf Seite
der Juden und auf Seite der Römer, als Politiker und als Soldat.
Hat tiefer hineingesehen in die Begebenheiten dieses Krieges als
die weitaus meisten Zeitgenossen. Hat die großen Geschehnisse
miterlebt in der nächsten Umgebung des ersten flavischen Kaisers
und des zweiten, als Tätiger und als Leidender, als Römer, Jude und
Weltbürger. Hat schließlich die klassische Geschichte dieses
jüdischen Krieges geschrieben. Ist gefeiert worden wie wenige
andere und erniedrigt und beschimpft wie wenige andere. Jetzt ist
er müde der Erfolge und der Niederlagen, das heftige Tun ist ihm
schal geworden, er hat erkannt, daß seine Aufgabe und seine Kraft
in der Betrachtung liegen. Nicht Geschichte zu machen, ist er
eingesetzt von Gott und von den Menschen, sondern die Geschichte
seines Volkes zu ordnen und aufzubewahren, ihren Sinn zu
erforschen, ihre Träger beispielhaft hinzustellen zum Ansporn und
zur Warnung. Dazu ist er da, und er ist es zufrieden.
Ist er zufrieden? Die schöne und
unweise Stelle über den König Saul zeugt nicht dafür. Er ist fast
fünfzig, aber den ersehnten Gleichmut hat er noch nicht
gefunden.
Er hat alles getan, ihn sich zu
erwerben. Durch keinerlei Bemühungen um äußern Erfolg hat er sich
von seinem Werk ablenken lassen. Nichts von ihm ist während dieser
ganzen vier Jahre an die Öffentlichkeit gelangt. Während Vespasian
und Titus ihm freundlich gesinnt waren, hat er keinen Finger
gerührt, um an den Kaiser von heut, an den mißtrauischen Domitian
heranzukommen. Nein, es ist in dem stillen, abseits lebenden Josef
dieser letzten Zeit nichts mehr von jenem früheren, heftigen,
betriebsamen.
Die Sätze über den dunkeln Mut
des Königs Saul, die er da geschrieben hat, sind schön und
hinreißend, und die »Eiferer des Tages« würden sie mit Begeisterung
lesen. Aber ach, gerade das sollen sie ja nicht. Nicht in der
Begeisterung sollen sie sich üben, sondern in der Vernunft, in der
schlauen Geduld. Sie sollen sich fügen und kein zweites Mal sinnlos
gegen Rom die Waffen erheben.
Warum wohl sind ihm gerade heute
die schönen und verruchten Sätze über den König Saul in die Feder
gekommen? Er hat es gewußt, schon während er die Worte hinschrieb;
er hat es nicht wissen wollen, doch jetzt kann er sein Wissen nicht
länger vor sich selber verbergen. Es geschah, weil ihm gestern
Paulus begegnet ist, sein Junge, der Sechzehnjährige, der Sohn
seiner geschiedenen Frau. Josef hat diese Begegnung nicht wahrhaben
wollen, hat sich’s nicht eingestehen wollen, daß der junge Mensch,
der da an ihm vorbeiritt, sein Paulus sei. Er hat sich befohlen,
dem Jungen nicht nachzuschauen, aber sein Herz hat einen Sprung
getan, und er hat gewußt: es war Paulus.
Ein kleines Stöhnen kommt aus dem
Munde des im Halbdunkel sitzenden Mannes. Wie hat er seinerzeit
geworben um diesen seinen Sohn Paulus, den Halbfremden, den Sohn
der Griechin, wieviel schwere Schuld hat er auf sich geladen
seinethalb. Der Junge hat trotzdem alles ausgetilgt, was er mit
soviel scheuer Beharrlichkeit in ihn einzusenken versucht hat, und
jetzt er hat für ihn, den Vater, den Juden, nur Verachtung. Josef
denkt an die schauerliche Stunde, da er unter dem Joch des Siegers
hat durchschreiten müssen, unter dem Bogen des Titus, er denkt
daran, wie ihm da für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht
seines Sohnes Paulus erschienen ist. Unter den vielen tausend
höhnischen Gesichtern jener dunkeln Stunde wird es ihm unvergeßbar
bleiben, eingefressen ins Herz, dieses blaßbräunliche, hagere,
feindselige Gesicht. Nichts anderes als die Erinnerung an dieses
Gesicht war es, Selbstverteidigung gegen dieses Gesicht, die ihm
die Feder geführt hat, als er jene Sätze schrieb über den
Judenkönig Saul.
Denn ach, in die Schlacht zu
gehen, auch wenn sie sichern Untergang bringt, wie leicht ist das,
gemessen an dem, was er damals auf sich genommen hat.
Herzzerdrückend ist es, schmachvoll, Bewunderung zeigen zu müssen
für den frechen Sieger, weil man weiß, daß solche
Selbsterniedrigung der einzige Dienst ist, den man dem eigenen
Volke leisten kann.
Später, in hundert Jahren oder in
tausend, wird man das erkennen. Heute aber, an diesem neunten
Kislev des Jahres
3847 nach Erschaffung der Welt, ist es ihm
ein geringer Trost, daß ihn die sehr viel Späteren einmal bewundern
werden. In seinen Ohren ist nichts von diesem Ruhm, in seinem
Herzen ist nichts als die Erinnerung an jenes Geschrei aus
hunderttausend Mündern: »Lump, Verräter, Hund«, und darüber,
lautlos und doch lauter als alle anderen Stimmen, die seines Sohnes
Paulus: »Mein Vater, der Lump, mein Vater, der Hund.«
Weil er sich gegen diese Stimme
hat verteidigen wollen, deshalb hat er die Sätze über den düstern
Mut des Saul geschrieben. Süß und erhebend war es, sie zu
schreiben. Süß und erhebend ist es, sich von seinem Mut fortreißen
zu lassen, bedenkenlos. Aber höllisch schwer ist es,
niederdrückend, taub zu bleiben vor der Lockung und nichts zu hören
als die ruhige, keineswegs hinreißende Stimme der
Vernunft.
Da hockt er, ein noch nicht alter
Mann, und das Zimmer, dämmerig mit Ausnahme des von der Öllampe
beleuchteten Schreibtisches, ist voll von den ungetanen Taten, nach
denen er sich sehnt. Denn die Gelassenheit, von der er soviel
hermacht, diese seine Stille hier inmitten des lauten, glänzenden,
von Taten berstenden Rom ist künstlich, ist erkrampft, ist
Schwindel. Alles in ihm ist wund und weh vor hungrigem Ehrgeiz und
Tatendrang. Rausch erzeugen, Tatenlust, das ist etwas. Die
Geschichte des Königs Saul so erzählen, daß die Jugend seines
Volkes ihm zujubelt und begeistert in den Tod geht wie damals, als
er sie, jung und dumm, mit seinem Makkabäerbuch hinriß, das ist
etwas. Die Geschichte Sauls und Davids und der Könige und der
Makkabäerfürsten, deren Blut er selber in den Adern trägt, so
schreiben, daß sein Sohn Paulus spürt: Mein Vater ist ein Mann und
ein Held, das ist etwas. Aber die Billigung der eigenen Vernunft,
die Bewunderung der Späteren, der Nachwelt, das ist Schall und
Dunst.
Er darf das nicht denken. Er muß
die Gesichte fortjagen,
die ihm hier im Dunkeln auflauern. Er
klatscht dem Diener, befiehlt: »Licht, Licht!« Alle Lampen und
Kerzen müssen angezündet werden. Erleichtert spürt er, wie er
wirklich, da sich der Raum erhellt, wieder er selber wird. Jetzt
kann er der Vernunft folgen, seiner wahren Führerin.
Er setzt sich von neuem an den
Arbeitstisch, zwingt sich zur Sammlung. »Damit es nicht den
Anschein habe«, schreibt er, »als beabsichtige ich, König Saul über
Gebühr zu loben, fahre ich jetzt in meiner eigentlichen Erzählung
fort.« Und er fuhr fort, erzählte, sachlich, gemessen.
So mochte er eine Stunde
gearbeitet haben, als ihm der Diener meldete, ein Fremder sei da,
der sich nicht abweisen lasse, ein Doktor Justus aus
Tiberias.
Josef hatte seinen großen literarischen
Gegner in den letzten Jahren selten gesehen und kaum je allein. Es
konnte schwerlich Gutes bedeuten, daß ihn Justus zu so ungewohnter
Stunde aufsuchte.
Das graugelbe Antlitz des Mannes,
wie er jetzt ins Zimmer trat, Feuchtigkeit und Kälte mit sich
bringend, schien dem Josef noch härter geworden, trockener,
zerfurchter, als er es in der Erinnerung hatte. Alt, verbraucht,
mühsam hochgehalten saß der Kopf des Justus auf dem erschreckend
dürren Hals. Josef, so gespannt er auf das wartete, was ihm der
andere sagen werde, richtete mechanisch das Aug auf den Stumpf
jenes linken Armes, den man dem Justus damals hatte amputieren
müssen, als ihn Josef vom Kreuz herunterholte. Er hat sich damit
einen scharfen Mahner vom Kreuz geholt, der mit grausam sicherem
Blick jede faule Stelle an ihm durchschaute, einen Mann, vor dem
Josef immer Angst hatte und den er doch nicht entbehren
konnte.
»Und was wollen Sie, mein
Justus?« fragte er ihn nach einigen Sätzen geradezu. »Ich möchte
Ihnen einen dringlichen Rat geben«, erwiderte Justus. »Sehen Sie
sich in den nächsten Wochen gut vor, was Sie reden und zu wem.
Denken Sie auch darüber nach, ob Sie vielleicht in letzter Zeit
Dinge gesagt haben, die Übelwollende zu Ihren Ungunsten ausdeuten
könnten, und überlegen Sie, wie solche Kommentare zu entkräften
wären. Es gibt in der Umgebung des Kaisers Leute, die Ihnen nicht
wohlwollen, und Sie selber sollen ab und zu Leute bei sich sehen,
deren Staatstreue fraglich ist.« – »Darf man nicht mit Leuten
verkehren«, fragte Josef, »die römisches Bürgerrecht haben und die
niemals von einer Behörde verdächtigt worden sind?« Justus verzog
die dünnen Lippen. »Man durfte es«, antwortete er, »in
Friedenszeiten. Aber jetzt sieht man sich besser einen jeden genau
an, mit dem man Worte wechselt, nicht nur darauf, ob einmal etwas
gegen ihn vorgelegen hat, sondern auch, ob einmal in Zukunft etwas
gegen ihn vorliegen könnte.«
»Sie denken, der Friede im Osten
...?« Josef vollendete den Satz nicht.
»Ich denke, der Friede im Osten
ist wieder einmal zu Ende«, erwiderte Justus. »Die Daker haben die
Donau überschritten und sind in das Gebiet des Reichs eingefallen.
Die Meldung kommt aus dem Palatin.«
Josef war aufgestanden. Er hatte
Mühe, den andern nicht merken zu lassen, wie sehr ihn die Nachricht
aufrührte. Der neue Krieg, der da anrollte, dieser Krieg im Osten,
konnte unabsehbare Folgen haben für ihn und für Judäa. Wenn die
östlichen Legionen in einen Kampf verwickelt waren, wenn man mit
einer Intervention der Parther rechnen durfte, werden dann die
»Eiferer des Tages« nicht losschlagen? Werden sie nicht die
aussichtslose Erhebung wagen?
Und da, vor einer Stunde noch,
hat er König Saul gerühmt, den Mann, der, den sichern Untergang vor
Augen, dennoch in den Krieg geht. Er ist, mit seinen Fünfzig, ein
noch größerer Narr und Verbrecher als damals mit Dreißig.
»Mein Justus, was können wir
tun?« sagte er seine tiefe Sorge geradeheraus, die Stimme heiser
vor Erregung.
»Mann, Josef, das wissen doch Sie
besser als ich«, antwortete Justus, und er höhnte:
»Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und Sie sind
einer von ihnen. Sie müssen sich hören lassen. Sie müssen ein
klares Manifest abfassen, das von allen Unüberlegtheiten abrät. Je
simpler, um so besser. Das können Sie doch. Sie verstehen sich doch
auf die Sprache des gemeinen Mannes, Sie verstehen sich doch auf
die großen und billigen Worte.« Seine scharfe Stimme klang
besonders unangenehm, die dünnen Lippen verzogen sich, und da war
auch wieder jenes peinliche Kichern, das an Josefs Nerven
riß.
Trotzdem ging Josef auf den Hohn
des andern nicht ein. »Wie wollen Sie mit Worten aufkommen gegen
ein so starkes Gefühl?« fragte er. Und: »Ich möchte ja selber nach
Judäa«, brach es aus ihm heraus, »teilnehmen an diesem Aufstand,
als was immer, fallen in diesem Aufstand.«
»Das glaub ich Ihnen«, höhnte
Justus, »das könnte Ihnen so passen. Wenn ein Stärkerer einen
schlägt, dann schlägt man einfach zurück und reizt ihn so lange,
bis er einen totschlägt. Aber wenn die ›Eiferer des Tages‹ eine
Entschuldigung haben, Sie haben keine. Sie sind nicht dumm genug.«
Und da Josef vor sich hin starrte, hilflos, grimmig, sagte er noch:
»Schreiben Sie das Manifest! Sie haben viel gutzumachen.«
Als Justus gegangen war, setzte
sich Josef hin, um seine Mahnung zu befolgen. Es gehöre, schrieb
er, viel mehr Mut dazu, sich zu überwinden und den Aufstand zu
unterlassen als ihn zu beginnen. Vorläufig, auch wenn der Krieg im
Osten ausbräche, gehe es für uns Juden darum, den Staat des
Gesetzes und der Bräuche weiter auszubauen und unsere ganze Kraft
dieser Aufgabe allein zu widmen. Wir müßten es Gott und der
leitenden Vernunft überlassen, die Voraussetzungen zu schaffen
dafür, daß dieser Staat des Gesetzes und der Bräuche, das Jerusalem
im Geiste, auch seinen sichtbaren Rahmen und Unterbau erhalte, das
steinerne Jerusalem. Der Tag sei noch nicht gekommen. Ein zur
Unzeit begonnenes, bewaffnetes Unternehmen aber schiebe den Tag nur
hinaus, dem wir alle entgegeneiferten.
Er schrieb. Er versuchte sich
vollzusaugen mit Begeisterung für die Vernunft so lange, bis ihm
ihr Wasser wie Wein schmeckte, so lange, bis ihm die Sätze, die er
verkündete, nicht mehr nur Sache seines Verstandes schienen,
sondern Sache seines Herzens. Zweimal mußte der Diener die Kerzen
erneuern und das Öl der Lampen, ehe sich Josef mit seinem Konzept
zufriedengab.
Den Abend darauf fanden sich in der Behausung
des Josef vier Gäste ein. Da war der Möbelhändler Cajus Barzaarone,
Präsident der Agrippenser-Gemeinde, Repräsentant der römischen
Judenheit, ein maßvoller, vernünftiger Mann, dessen Name auch in
Judäa guten Klang hatte. Da war weiter Johann von Gischala, einmal
ein Führer im jüdischen Krieg, ein schlauer und kühner Mann. Jetzt
saß er als Terrainhändler in Rom, seine Geschäfte erstreckten sich
übers ganze Reich; in Judäa aber war heute noch in den Köpfen der
»Eiferer des Tages« die Erinnerung an seine Tätigkeit während des
Krieges lebendig. Da war zum dritten Justus von Tiberias. Da war
schließlich Claudius Regin, Finanzminister des Kaisers, geboren von
einer jüdischen Mutter und gleichwohl nie ein Hehl daraus machend,
daß er die Sache der Juden begünstige, ein Mann, der Josefs Bücher
verlegt und ihm in allen seinen Nöten geholfen hatte.
Es mußten unter diesem
mißtrauischen Kaiser Domitian Zusammenkünfte ein harmloses Aussehen
tragen, um nicht wie Verschwörung zu wirken; denn es gab in beinahe
jedem Hause Spitzel des Polizeiministers Norban. Die Herren führten
also zunächst, während sie zu Abend aßen, beiläufige Reden über die
Dinge des Tages. Natürlich sprach man vom Krieg. »Im Grunde«,
meinte Johann von Gischala, und sein braunes, wohlwollendes,
pfiffiges Gesicht lächelte vergnügt, ein wenig hinterhältig, »im
Grunde ist der Kaiser nicht kriegerisch für einen Flavier.«
Claudius Regin wandte sich ihm zu, salopp lag er da, die schweren
Augen schauten schläfrig und mokant unter der vorgebauten Stirn. Er
wußte, daß er dem Kaiser unentbehrlich war, und durfte sich deshalb
ab und zu eine übellaunig spaßhafte Offenheit leisten. Auch heute
nahm er keine Rücksicht auf die servierenden Diener. »Nein,
kriegerisch ist DDD nicht«, erwiderte er dem Johann; DDD aber
nannte man den Kaiser nach den Anfangsbuchstaben seines Titels und
Namens: Dominus ac Deus Domitianus, der Herr und Gott Domitian.
»Allein er findet leider, daß ihm der Triumphmantel des Jupiter
nicht schlecht steht, und dieses Kostüm ist ein wenig kostspielig.
Unter zwölf Millionen kann ich einen Triumph nicht machen, von den
Kosten des Krieges ganz abge sehen.« Endlich konnte Josef, die
Tafel aufhebend, die Dienerschaft wegschicken, und man redete zur
Sache. Als erster äußerte sich Cajus Barzaarone. Er glaube kaum,
setzte der joviale Herr mit den listigen Augen auseinander, daß
sie, die römischen Juden, durch den bevorstehenden Krieg
unmittelbar bedroht seien. Natürlich müßten sie sich in dieser
schwierigen Zeit still halten und jedes Aufsehen vermeiden.
Bittgottesdienste für den Kaiser und für den Sieg seiner Adler habe
er für seine Agrippenser-Gemeinde bereits angeordnet, und
selbstverständlich würden die andern Synagogen
nachfolgen.
Das war eine vage,
unbefriedigende Rede. So hätte Barzaarone im Verein der
Möbelhändler sprechen können, dem er vorstand, oder bestenfalls vor
den Ratsmitgliedern seiner Gemeinde; aber wenn er hier sprach, zu
ihnen, dann hatte es doch keinen Sinn, die Augen vor der Gefahr zu
schließen.
Johann von Gischala schüttelte
denn auch den braunen, breiten Kopf. Leider, meinte er mit
gutmütigem Spott, sei nicht die ganze Judenheit so brav und
vernünftig wie die wohldisziplinierte Agrippenser-Gemeinde. Da gebe
es zum Beispiel, wie dem verehrten Cajus Barzaarone bestimmt nicht
unbekannt sei, die »Eiferer des Tages«.
Diese »Eiferer des Tages«,
stellte auf seine trockene Art Justus fest, würden sich
ärgerlicherweise auch auf manches Wort des Großdoktors Gamaliel
berufen können. Es war aber Großdoktor Gamaliel, der Präsident der
Universität und des Kollegiums von Jabne, der anerkannte Führer der
gesamten Judenheit. Bei aller Mäßigung, fuhr Justus fort, habe der
Großdoktor, wenn er sich nicht von den »Eiferern des Tages« allen
Wind aus den Segeln habe nehmen lassen wollen, die Hoffnung auf die
baldige Wiedererrichtung des Staates und des Tempels immer neu
schüren und sich manchmal auch starker Worte bedienen müssen.
Dessen würden sich jetzt die Fanatiker erinnern. »Der Großdoktor
wird es nicht leicht haben«, schloß er.
»Machen wir uns nichts vor, meine
Herren«, faßte auf seine rücksichtslose Art Johann von Gischala
zusammen. »Es ist so gut wie sicher, daß die ›Eiferer des Tages‹
losschlagen werden.«
Im Grunde hatten sie das alle
gewußt; dennoch gab es ihnen einen kleinen Ruck, wie Johann es so
nüchtern feststellte. Josef beschaute sich diesen Johann, den nicht
großen, doch breiten und kräftigen Körper, das braune, gutmütige
Gesicht mit dem kurzen Knebelbart, der eingedrückten Nase, den
grauen, verschmitzten Augen. Ja, Johann war der richtige
galiläische Bauer, er kannte sein Judäa von innen heraus, er war
unter den Anstiftern und Führern des jüdischen Krieges der
populärste gewesen, und sosehr Josef sich gegen seine ganze Art
auflehnte, er konnte dem Mann nicht abstreiten, daß seine
Vaterlandsliebe aus den Tiefen seines Wesens kam. »Wir hier in
Rom«, begründete Johann von Gischala die Entschiedenheit, mit der
er gesprochen, »können uns schwer vorstellen, wie der Krieg im
Osten die in Judäa aufrühren muß. Wir hier erleben sozusagen an
unserm eigenen Körper die Macht des römischen Reichs, sie ist
immerfort um uns herum, das Gefühl dieser Macht ist uns ins Blut
übergegangen und verbietet uns jeden Gedanken an Widerstand. Aber
wenn ich«, überlegte er laut, und sein Gesicht nahm einen
nachdenklichen, gesammelten, schmerzhaft begehrlichen Ausdruck an,
»wenn ich nicht hier in Rom säße, sondern in Judäa und dort von
einer Schlappe der Römer hörte, dann könnte ich nicht für mich
einstehen. Ich weiß natürlich mathematisch sicher, daß eine solche
Schlappe am Ausgang des Krieges nichts ändern würde; ich habe es am
eigenen Leib zu spüren bekommen, wohin ein solcher Aufstand führt.
Jung bin ich auch nicht mehr. Und trotzdem, mich selber reißt es,
loszugehen, loszuschlagen. Ich sage euch: die ›Eiferer des Tages‹
werden nicht stillhalten.«
Johanns Worte rührten die andern
an. »Was können wir tun, sie zu ernüchtern?« unterbrach Justus das
Schweigen. Er sprach mit kalter, beinahe anstößiger Schärfe; doch
die Ernsthaftigkeit seiner Gesinnung, die Unbestechlichkeit seines
Urteils hatte ihm Achtung erworben, und daß er teilgenommen hatte
am jüdischen Krieg, daß er für Jerusalem am Kreuz gehangen war,
bewies, daß es nicht Feigheit war, wenn er ein neues kriegerisches
Unternehmen so verächtlich abtat.
»Man könnte vielleicht«, schlug
behutsam Cajus Barzaarone vor, »dem Kaiser die Aufhebung der
Kopfsteuer nahelegen. Man müßte ihm plausibel machen, daß es
angezeigt wäre, in einer so kritischen Zeit die Gefühle der
jüdischen Bevölkerung zu schonen. Vielleicht legt da unser Claudius
Regin für uns Fürsprache ein.« Unter allen judenfeindlichen
Maßnahmen nämlich erregte die Erhebung dieser Kopfsteuer am meisten
Unwillen. Nicht nur war die Tatsache, daß die Römer jene
Doppeldrachme, welche einstmals jeder Jude als Steuer für den
Tempel in Jerusalem zu zinsen hatte, jetzt zur Erhaltung des
Tempels des Capitolinischen Jupiter einzogen, eine bittere,
höhnische Mahnung an die Niederlage, sondern es wurde auch die
Eintragung in die Judenlisten, ihr öffentlicher Anschlag und die
Einziehung der Steuer auf brutale und diffamierende Art
vorgenommen.
»Es verlangt heute einigen Mut,
meine Herren«, sagte nach einem kleinen Schweigen Claudius Regin,
»zu zeigen, daß man mit Ihnen sympathisiert. Trotzdem würde ich
vielleicht diese Kühnheit aufbringen und dem Kaiser die Anregung
unseres Cajus Barzaarone unterbreiten. Aber glauben Sie nicht, daß
DDD, wenn er sich wirklich zum Verzicht auf die Doppeldrachme
entschließen sollte, dafür eine ungeheure Gegenleistung fordern
würde? Er würde im besten Fall als Gegenleistung eine Sondersteuer
ausschreiben, die für Ihre Gefühle weniger empfindlich wäre, für
Ihre Kasse aber um so mehr. Ich weiß nicht, mein Cajus Barzaarone,
ob Sie den weiteren Besitz Ihrer Möbelfabrik oder die Befreiung von
der Judensteuer vorziehen. Ich für mein Teil würde lieber ein
bißchen Kränkung einstecken und dafür mein Geld behalten. Ein
reicher Jude, auch gekränkt, hat immer noch etwas Macht und
Einfluß, ein armer Jude, auch ungekränkt, ist gar
nichts.«
Justus tat die platten Weisheiten
des Claudius Regin und die undurchführbaren Anregungen des Cajus
Barzaarone mit einer kleinen Handbewegung ab. »Was wir tun können«,
sagte er, »ist verdammt wenig. Wir können Worte machen, nichts
sonst. Das ist armselig, ich weiß es. Aber wenn die Worte sehr klug
berechnet sind, wirken sie vielleicht dennoch. Ich habe Doktor
Josef nahegelegt, ein Manifest abzufassen.« Alle schauten auf
Josef. Der schwieg und regte sich nicht; er spürte hinter den
Worten des Justus einen leisen, kratzenden Hohn. »Und haben Sie ein
Sendschreiben abgefaßt?« fragte schließlich Johann.
Josef nahm aus dem Ärmel seines
Gewandes das Manuskript und las es vor. »Es ist ein wirkungsvolles
Manifest«, sagte, als er zu Ende war, Justus, und außer Josef hörte
kaum einer den Hohn dieser Anmerkung. »Auf die ›Eiferer des Tages‹
wird es wenig Wirkung tun«, meinte Johann. »Die ›Eiferer des Tages‹
kann nichts zurückhalten«, gab Justus zu, »und die um den
Großdoktor brauchen keine Mahnung. Aber es gibt Leute zwischen
beiden Lagern, es gibt Schwankende, und die werden sich vielleicht
bestimmen lassen von uns, die wir hier in Rom leben und die Lage
besser beurteilen. Einige Wirkung wird das Schriftstück tun«,
beharrte er. Er hatte beinahe heftig gesprochen, als wollte er
nicht nur die andern, sondern auch sich selber überzeugen. Nun aber
erschlaffte er und, trüb, setzte er hinzu: »Und dann, etwas müssen
wir tun, schon unserthalb. Frißt es euch nicht das Herz ab,
dazuhocken und zuzuschauen, wie die andern ins Unglück rennen?« Er
dachte daran, wie er damals, vor und zu Beginn des Krieges,
vergeblich gewarnt hatte. Auch diesmal wird man vergeblich warnen,
er wußte es. Und in abermals zwanzig Jahren, wenn sich das gleiche
wiederholt, wird er auch wieder warnen müssen, noch so tief
überzeugt, daß er nur die Luft erschüttert. »Ich denke«, trieb er
die andern weiter an, »wir sollten unsere Namen unter das
Schriftstück setzen und uns überlegen, wen sonst noch wir zur
Unterschrift auffordern.«
Der bittere Eifer des sonst so
zurückhaltenden Mannes ging den andern ans Herz. Gleichwohl drückte
der Möbelhändler Cajus Barzaarone unbehaglich herum. »Mir scheint«,
meinte er, »es kommt weniger auf die Zahl der Unterschriften an als
darauf, daß die Unterzeichner bei den jüngeren Leuten in Judäa
Geltung haben. Was zum Beispiel soll es nützen, wenn die
Unterschrift eines alten Möbelhändlers unter diesem Manifest
steht?« – »Vielleicht nützt es nicht viel«, antwortete Justus, und
der Unwille klang nur leise durch seine Worte. »Aber schon damit
die andern Unterzeichner gedeckt seien, sollten auch Unterschriften
unverdächtiger Herren auf dem Dokument sein.« – »Das ist richtig«,
trieb Claudius Regin den ängstlichen Barzaarone noch mehr in die
Enge. »Die Leute unseres Polizeiministers Norban wittern Unrat
hinter allem, und wenn ihnen das Manifest in die Hände fällt, dann
werden sie erklären, die Unterzeichner hätten um verdächtige
Umtriebe in Judäa gewußt. Je unbedenklichere Unterschriften unter
dem Manifest stehen, um so geringer wird die Gefahr für jeden
einzelnen.« – »Sperren Sie sich nicht lange, mein Barzaarone«,
sagte Johann von Gischala und strich sich den Knebelbart, »Sie
müssen schon heran.«
Man beriet, auf welche Weise man
das Schriftstück nach Judäa bringen sollte. Nicht nur gab es jetzt
im Winter keine rechten Schiffsverbindungen, es gab auch sonst
Fährnisse. Man konnte das Dokument nur einem sichern Manne
anvertrauen. »Ich weiß wirklich nicht«, meinte wiederum Cajus
Barzaarone, »ob der Gewinn, den wir im besten Fall aus dem
Sendschreiben ziehen, im rechten Verhältnis steht zu dem Risiko,
dem wir uns und unsere Gemeinschaft aussetzen. Denn wer immer jetzt
im Winter unter so schwierigen Verhältnissen nach Judäa fährt, muß
stichhaltige Gründe angeben können, wenn er den Behörden nicht
auffallen will.« – »Aber Sie kommen nicht los, mein Cajus
Barzaarone«, ließ der verschmitzte Johann von Gischala nicht
locker. »Ich weiß einen Mann, der stichhaltige Gründe hat, jetzt
nach Judäa zu reisen, Gründe, die auch den Behörden einleuchten.
Zweifellos werden infolge des Krieges die Bodenpreise in Judäa
fallen. Da trifft es sich nicht schlecht, daß wir einen
Terrainhändler unter uns haben, nämlich mich. Meine Firma hat
großen Grundbesitz in Judäa. Sie wünscht, überzeugt von dem raschen
Sieg der Legionen, die Konjunktur auszunutzen und ihre Terrains
abzurunden. Ist das ein stichhaltiger Grund? Ich werde meinen
Prokuristen, den redlichen Gorion, nach Judäa schicken. Vertrauen
Sie mir das Schriftstück an. Es wird sicher befördert.«
Man unterzeichnete. Auch Cajus
Barzaarone setzte schließlich, zögernd, seinen Namen unter Josefs
Manifest.
Drei Tage später erfuhren die
Herren zu ihrer Überraschung, daß nicht Gorion, sondern Johann von
Gischala selber nach Judäa aufgebrochen war.
Josef stieg die Treppe hinauf zu den Zimmern,
in denen Mara mit den Kindern wohnte. Es war eine enge, unbequeme
Treppe, alles in seinem Haus war eng, unbequem, verwinkelt. Schon
damals, als ihn Domitian aus dem schönen Gebäude ausquartiert
hatte, das ihm der alte Kaiser zur Wohnung angewiesen, hatte man
sich gewundert, daß ein so angesehener Mann sich dieses armselige,
altmodische, kleine Haus in dem höchst unvornehmen Bezirk »Freibad«
aussuchte. Seitdem gar Mara mit der kleinen Jalta zu ihm gekommen
war und ihm die zwei Söhne zugeboren hatte, war ihm das Haus
wirklich nicht mehr angemessen; aber Josef, verbissen in eine
erkrampfte Bescheidenheit, hatte sich darauf beschränkt, es um ein
Stockwerk zu erhöhen. Da stand es, eng, schmal, baufällig, davor
die Buden von ein paar Kleinhändlern mit allerlei übelriechendem
Kram, keine würdige Wohnstätte für einen Mann seines Ranges und
seines Namens.
Mara hatte sich trotz ihrer
Schlichtheit von Anfang an in diesem Hause nicht wohlgefühlt. Sie
wollte freien Himmel über sich haben; in einer großen Stadt zu
leben zwischen steinernen Wänden, das allein ging ihr gegen die
Natur. Hier gar, in dem dumpfigen, verschachtelten Gemäuer, in der
niedrigen Stube unter der verschwärzten Decke, fühlte sie sich
zwiefach unbehaglich. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann wäre man
längst wieder nach Judäa übersiedelt auf eines von Josefs
Gütern.
Es war jetzt der fünfte Tag,
seitdem die Nachricht von dem Einbruch der Daker bekannt geworden
war. Josef war inzwischen oft mit Mara zusammen gewesen, er hatte
die meisten Mahlzeiten mit ihr geteilt und viel mit ihr gesprochen.
Von dem bevorstehenden Grenzkrieg indes war kaum je die Rede
gewesen. Wahrscheinlich ahnte Mara nicht, welche Rückwirkungen auf
Judäa die Vorgänge an der Donau haben könnten. Sicher aber spürte
sie, die mit seinem Wesen bis ins kleinste vertraut war, hinter der
Maske seines Gleichmuts seine innere Sorge.
Wie er jetzt zu ihr hinaufstieg,
wunderte er sich, daß er so lange bemüht gewesen war, diese Sorge
vor ihr zu verbergen. Sie ist der einzige Mensch, vor dem er sich
ganz ohne Scham so zeigen kann, wie er ist. Als die andere es von
ihm verlangte, hat sie sich von ihm fortschicken lassen, und sie
ist zu ihm zurückgekehrt, als er sie wieder rief. Sie ist da, wenn
er sie braucht, und wenn sie ihn stört, löscht sie sich aus. Vor
ihr kann er alles heraussagen, seinen Stolz, seine Zweifel, seine
Schwäche.
Er schlug den Vorhang zurück und
trat in ihre Stube. Der niedrige Raum war vollgestopft mit Sachen
aller Art, selbst von der Decke hingen, nach der Sitte der kleinen
Städte Judäas, Körbe herunter mit Lebensmitteln und mit Wäsche. Die
Kinder waren um Mara, das Mädchen Jalta und die beiden kleinen
Söhne, Matthias und Daniel.
Josef überließ Tochter und Söhne
gerne der Mara, er wußte mit Kindern nicht viel anzufangen. Doch
heute wie stets betrachtete er mit einer Art gerührter Verwunderung
den Matthias, den dritten seiner Söhne und doch eigentlich seinen
ältesten, denn Simeon war tot und Paulus für ihn mehr als tot. An
diesen seinen Sohn Matthias aber knüpfte Josef neue Hoffnungen und
Wünsche. Deutlich waren in dem Kleinen Züge des Vaters, deutlich
Züge der Mutter, aber die Mischung ergab ein völlig Neues,
Vielversprechendes, und Josef hoffte, in diesem Matthias werde er
sich vollenden können, der werde erreichen, was er selber nicht
hatte erreichen können: Jude zu sein und gleichzeitig Grieche, ein
Weltbürger.
Da also saß die Frau, arbeitete
mit Hilfe einer Leibeigenen an einem Gewandstück und erzählte den
Kindern eine Geschichte. Josef bat sie durch Zeichen, sich nicht
stören zu lassen. So schwatzte sie denn weiter, und Josef sah, daß
es ein frommes, etwas albernes Märchen war. Es handelte von dem
Fluß, dessen Sprache jene Menschen verstehen, welche die wahre
Gottesfurcht haben; der Fluß berät sie, was sie tun sollen und was
lassen. Es ist ein schöner Fluß, und er fließt in einem schönen
Land, in ihrem Heimatland Israel, und einmal wird sie mit den
Kindern hingehen, und wenn die Kinder ordentlich sind, dann wird
der Fluß auch mit ihnen reden und sie beraten.
Josef beschaute Mara, während sie
erzählte. Sie war mit ihren Zweiunddreißig voll geworden und schon
ein wenig verblüht. Von dem mondlich Strahlenden ihrer ersten
Jugend war nichts mehr da, keine Gefahr mehr war, daß heute ein
Römer sie frech für sein Bett fordern werde wie damals der alte
Vespasian. Allein für Josef war sie immer noch, was sie ihm früher
gewesen, ihm blieb ihr eirundes Gesicht zart und klar, ihm
schimmerte ihre niedrige Stirn wie damals.
Mara hatte aufgeleuchtet, als sie
ihn kommen sah. Sie hatte die ganzen letzten Tage über gemerkt, daß
ihn etwas drückte, und darauf gewartet, daß er mit ihr spreche.
Gewöhnlich sprach er griechisch mit ihr, aber wenn er sich ihr nahe
fühlte und es um Wichtiges ging, dann sprach er aramäisch, die
Sprache der Heimat. Gespannt jetzt, nachdem sie die Kinder
fortgeschickt, wartete sie darauf, in welcher Sprache er sie
anreden werde.
Und siehe, er spricht aramäisch.
Er ist nicht mehr der Mann von ehemals, sein Gesicht ist faltig,
der Bart nicht mehr sorgfältig gelockt und gekräuselt, er ist ein
Mann von fünfzig Jahren, man sieht ihm an, daß er viel erlebt hat.
Auch hat er ihr viel Leides zugefügt, und ganz verwunden hat sie es
nie. Trotz alledem aber geht für sie auch heute noch das Leuchten
von ihm aus, das früher um ihn war, und sie ist voll großen
Stolzes, daß er zu ihr spricht.
Er spricht ihr von der
Zusammenkunft mit den andern und von seiner Sorge vor dem Aufstand.
Er schüttet sich ganz vor ihr aus, ja eigentlich wird ihm erst,
während er mit ihr spricht, ganz klar, was alles die neue Gefahr
Judäas in ihm heraufwühlt. Er hat ein heftiges Leben hinter sich,
Gipfel und Abgründe, er hat geglaubt, jetzt habe er Frieden und
dürfe sich versenken in seine Bücher und es beginne ihm ein ruhiger
Abend. Statt dessen rollen neue Prüfungen und Bitternisse an. Der
Aufstand in Judäa, so sinnlos er ist, wird losbrechen, Josef wird
dagegen kämpfen, und er wird von neuem Schimpf und Schmach auf sich
nehmen müssen, weil er sein Gefühl niederdrückt um der Vernunft
willen.
Mara hat ihn dieses böse Lied
schon früher singen hören. Aber wenn sie ihm früher bedingungslos
recht gab, denn er war weise und sie unweise, so lehnte sich jetzt
ihr Herz gegen ihn auf. Warum, wenn er spürte wie die andern,
handelte er anders? Wäre es nicht besser für sie alle, er wäre
weniger weise? Er war ein sehr großer Mann, dieser Doktor und Herr
Josef, ihr Mann, und sie war stolz auf ihn, doch manchmal und so
auch jetzt dachte sie, wieviel schöner es wäre, wenn er weniger
groß wäre. »Deine Bedrückung liegt auf mir wie eine eigene«, sagte
sie, und dann, und ihr Rücken wurde rund und schlaff, fügte sie
noch hinzu, leise: »Land Israel, mein armes Land Israel.«
»Land Israel«, sagte sie,
aramäisch. Josef verstand sie, und Josef beneidete sie. Er hatte
sein Weltbürgertum, aber er war zerspalten. Sie indes war ganz
eins. Sie war verwachsen mit dem Boden Judäas, sie gehörte zu
Judäa, unter den Himmel Judäas und zu seinem Volk, und Josef wußte,
wenn sie ihn mehrmals in ihrer stillen Art aufgefordert hatte,
dorthin zurückzukehren, so hatte sie recht gehabt, und er hatte
unrecht, es ihr zu verweigern.
Er dachte an die vielen
kunstvollen Argumente, die er konstruiert hatte, um seine Weigerung
zu begründen. In Judäa, hatte er erklärt, werde ihm die Nähe der
Dinge den Blick trüben, er werde sich fortreißen lassen von der
Leidenschaft der andern, er werde dort an seinem Werk nicht mit der
Sachlichkeit arbeiten können, welche die Grundbedingung des
Gelingens sei. Allein sie beide wußten, daß das eine Ausflucht war.
Alle die Gründe, die ihn angeblich in Rom hielten, waren
Ausflüchte. Er hätte sein Buch in Judäa eher besser schreiben
können als hier, es wäre in einem guten Sinn jüdischer geworden.
Und vielleicht hatte sie auch damit recht, daß es für die Kinder
besser wäre, auf einem Landgut in Judäa unter freiem Himmel
heranzuwachsen als hier in den engen Straßen der Stadt Rom. Dies
letzte freilich war sehr zweifelhaft; denn wenn sein kleiner
Matthias das werden sollte, was Josef plante, dann mußte er in Rom
bleiben.
Auf alle Fälle trotzte er und
machte sich taub gegen die stillen Bitten Maras. Er hatte sich für
ein zurückgezogenes Leben entschieden, aber er wollte nicht darauf
verzichten, das Brausen der Stadt Rom rings um sich zu wissen. In
der Provinz zu leben hätte ihn beengt; in Rom, auch wenn er sich in
sein Zimmer einschloß, tröstete ihn der Gedanke, er brauche nur
wenige hundert Schritte zu tun, dann stehe er auf dem Capitol,
dort, wo das Herz der Welt schlägt.
In seinem Innersten aber
verspürte er Unbehagen, ja ein ganz leises Gefühl der Schuld, daß
er Mara hier in Rom hielt. »Armes Land Israel«, nahm er Maras
Seufzer auf, und: »Es wird ein Winter voller Sorgen werden«, schloß
er.
Beim Abendessen, vor seiner Frau Dorion und
vor seinem Stiefsohn Paulus, ließ Annius Bassus, Domitians
Kriegsminister, sich gehen. Vor diesen beiden konnte er reden, und
daß des Paulus Lehrer anwesend war, der Grieche Phineas, störte ihn
nicht. Phineas war Freigelassener, er zählte nicht. Ganz ungetrübt
freilich waren bei aller Vertrautheit seine Beziehungen auch zu
Frau und Stiefsohn nicht. Manchmal hatte er das Gefühl, Dorion
halte ihn trotz seiner ungewöhnlichen Karriere für unbedeutend und
sehne sich trotz ihres Hasses zurück nach ihrem Flavius Josephus,
diesem widerwärtigen jüdischen Intellektuellen. Sicher war, daß sie
sich aus dem Jungen, den sie ihm, dem Annius, geboren hatte, aus
dem kleinen Junius, nicht viel machte, während sie Paulus, den Sohn
ihres Josephus, bewunderte und verwöhnte. Übrigens konnte er selber
sich nicht wehren gegen die Anmut, die von Paulus
ausging.
Ja, er liebte Dorion, und er
liebte Paulus. Und wiewohl ihre Neigung für ihn geringer sein
mochte als die seine für sie, so waren doch sie die einzigen, vor
denen er seinen Sorgen freien Lauf lassen konnte, dem fressenden
Ärger, den sein Amt unter dem schwer durchschaubaren,
menschenfeindlichen Kaiser mit sich brachte. Dabei hing Annius dem
Domitian von Herzen an, er verehrte ihn, und DDD hatte, wiewohl
kein geborener Soldat, Verständnis für Heeresangelegenheiten.
Allein des Kaisers Mißtrauen kannte keine Grenzen und zwang seine
Räte häufig, taugliche Männer von den rechten Stellen abzuberufen
und sie zu ersetzen durch weniger taugliche, die sich nur dadurch
auszeichneten, daß sie dem Kaiser kein Mißtrauen
einflößten.
Auch jetzt wieder wurde der
dakische Feldzug von Anfang an erschwert durch die finstern
Hintergedanken Domitians. Das Gegebene wäre gewesen, das
Oberkommando dem Frontin anzuvertrauen, der die meisterhaften
Befestigungslinien an der untern Donau angelegt und durchgeführt
hatte. Aber da der Kaiser wünschte, Frontin solle sich nicht für
unersetzlich halten und nicht übermütig werden, war er auf die
unglückliche Idee gekommen, das Kommando dem Gegner des Frontin
anzuvertrauen, dem General Fuscus dem Draufgänger.
Dorion schien nicht sehr
interessiert an diesen Ausführungen, ihre hellen grünen Augen
schauten bald ein wenig abwesend auf Annius, bald einfach vor sich
hin. Auch Phineas, wiewohl ihm, dem fanatischen Griechen,
Schwierigkeiten der römischen Reichsverwaltung innere Genugtuung
bereiten mochten, schien wenig Anteil zu nehmen. Um so mehr
interessiert war Paulus. Er war jetzt sechzehn Jahre alt, es war
noch kein Jahr her, daß man ihn feierlich zum erstenmal die Toga
des Erwachsenen hatte anlegen lassen. Die Mutter hätte es gern
gesehen, wenn er in Begleitung seines Lehrers eine griechische
Universität bezogen hätte. Er selber aber mühte sich, die
griechischen Neigungen zu bekämpfen, welche die beiden ihm
eingepflanzt hatten; er wollte Römer sein, nichts als Römer.
Deshalb hatte er sich einem Freunde des Annius angeschlossen, dem
Obersten Julian, einem ausgezeichneten Soldaten, der seinen
Sommerurlaub in Rom verbracht hatte. Julian hatte sich des Knaben
angenommen und ihn in militärischen Fragen unterwiesen; im Herbst
aber hatte er nach Judäa zurückkehren müssen, zu seiner Legion, der
Zehnten. Paulus hätte ihn ums Leben gern begleitet, auch dem
Annius, der selber ein passionierter Soldat war, wäre es lieb
gewesen, aus seinem Stiefsohn einen rechten Offizier zu machen.
Doch Dorion hatte sich dagegen gesträubt. Auch Phineas hatte dem
Knaben auf seine stille, vornehme und darum um so wirksamere Art
vorgestellt, wie verrohend das Soldatenleben in der fernen Provinz
auf ihn wirken müsse, wenn er sich nicht vorher durchsättigt habe
mit griechischer Gesittung, und Paulus hatte sich zuletzt fügen
müssen. Jetzt indes, nach dem Ausbruch der dakischen Wirren, hatte
er neue Hoffnung. Das Offiziershandwerk während eines Krieges zu
erlernen, das war eine einmalige Gelegenheit, die zu benützen man
ihm nicht verwehren durfte.
Mit leidenschaftlichem Interesse
also hörte er zu, wie Annius über die Schwierigkeiten des Feldzuges
sprach, in den man hineinging. Man hätte an der Donau wirklich
einen Feldherrn von Format gebraucht, eben den Frontin, nicht den
sturen Draufgänger Fuscus. Die Daker waren keine Barbaren mehr, ihr
König Diurpan war ein Strateg, der sich sehen lassen konnte, unsere
Kräfte dort, knapp drei Legionen, genügten nicht, die Grenze von
fast tausend Kilometern zu sichern, und der harte Winter dieses
Jahres erschwerte die Verteidigung; denn er gab dem Angreifer die
Möglichkeit, über die vereiste Donau ständig neue Verstärkungen
nachzuschieben. Dazu war der Dakerkönig Diurpan ein geschickter
Politiker, er zettelte überall im Osten und hatte gute Aussichten,
eine Intervention selbst der Parther durchzusetzen. Unter allen
Umständen müsse man damit rechnen, daß gewisse östliche Provinzen,
welche die Herrschaft Roms nur mit Unwillen ertrugen, unbequem
würden, Syrien zum Beispiel und insbesondere das nie ganz
befriedete Judäa.
Dorions Gleichgültigkeit war auf
einmal vorbei, als Annius das auseinandersetzte. Sie hatte lange
nichts gehört von Josef, dem Manne, der mehr als alle andern
Menschen in ihr Schicksal eingegriffen hatte. Ein Aufstand in
Judäa, das war ein Ereignis, das auch diesen Mann Josef wieder aus
seiner jetzigen Dunkelheit wird auftauchen machen. Wirr
durcheinander gingen ihr Erinnerungen dessen, was sie mit ihm
erlebt hatte. Wie er die Geißelung auf sich genommen hatte, um sich
von seiner lächerlichen jüdischen Frau scheiden und sie heiraten zu
können, wie sie untergetaucht und versunken waren in ihrer Liebe
dort in dem kleinen Haus, das Titus ihnen überlassen, wie die
Feindschaft zwischen ihnen aufgesprungen war, wie sie mit ihm um
ihren Sohn gekämpft hatte, um diesen Paulus, wie sie ihn in seinem
Triumph gesehen hatte, da man seine Büste aufgestellt im
Friedenstempel und Rom ihm zugejauchzt, alles das, ihr wilder Haß
und ihre wilde Liebe waren jetzt in ihr, unzertrennbar.
Auch Phineas gab es auf, den
Gleichgültigen zu spielen, als Annius von Judäa zu sprechen anfing,
und sein großer, blasser Kopf rötete sich. Wenn wirklich Wirren in
Judäa ausbrächen, so daß es gezüchtigt würde, das barbarische Land,
wie herrlich wäre das! Phineas gönnte es den abergläubischen Juden,
daß sie wieder einmal die Faust Roms zu spüren bekämen. Er gönnte
es vor allem einem, diesem Josephus, seinem
früheren Herrn. Er verachtete ihn, diesen Josephus, alles an ihm,
seinen albernen Kampf um Paulus, seine Großmut und seine Demut,
seinen Aberglauben, seine billigen Erfolge, sein elendes
Griechisch, alles, alles. Herrlich wäre es, wenn diesem Josephus
einmal wieder gezeigt würde, wie armselig sein Judäa war, wenn er
wieder einmal zu spüren bekäme, was es heißt, Knechtschaft zu
erleiden.
In seine und der Dorion
aufgewühlte Gedanken und Gefühle kamen Worte des Paulus. »Das wird
einem gewissen Manne gewisse Schwierigkeiten bereiten«, sagte
Paulus. Es waren einfache Worte, doch die Stimme, die sie sprach,
war so erfüllt von Haß und Triumph, daß Dorion erschrak und daß
selbst Annius Bassus hochsah. Auch ihm war Flavius Josephus
zuwider; der offene, lärmende Soldat fand den Juden geduckt,
schleicherisch. Doch wenn er, der römische Offizier, der gegen die
Juden zu Felde gezogen war, zuweilen über den Josephus schimpfte
und sich lustig machte, ihm war das erlaubt. Auch dem Phineas war
es erlaubt, dem Freigelassenen des Josephus. Nicht aber war es
erlaubt den beiden andern an diesem Tisch, nicht der Frau, die
einmal mit diesem Juden vermählt gewesen war, nicht seinem Sohne.
Nicht nur aus soldatischem Anstand lehnte sich Annius dagegen auf,
er spürte auch, daß Dorions überhitzter Haß gegen Josephus aus
einer Unsicherheit des Gefühls stammte. Wohl führte sie zuweilen
ungerechte, ja unflätige Reden gegen ihn, doch dann wieder, wenn
von ihm die Rede war, schleierten sich ihre Augen bedenklich. Dem
Annius wäre es lieb gewesen, wenn sich seine Frau und sein
Stiefsohn von dem zwielichtigen Mann innerlich ganz losgesagt
hätten, so daß sie ihn weder haßten noch liebten.
Vorläufig indes setzte Paulus
seine Haßrede fort. Herrlich wäre es, wenn sich Judäa empörte und
Anlaß gäbe, es endlich zu züchtigen. Was für ein Leben wäre es,
wenn er hinüberfahren dürfte, teilnehmen an einer solchen
Strafexpedition unter Führung Julians, dieses guten Lehrers. Wie
müßte das seinen Vater, den Juden, treffen. »Ihr müßt mich hinüber
nach Judäa lassen!« brach es aus ihm heraus.
Dorion wandte den langen, dünnen
Kopf gegen ihn, und ihre meerfarbenen Augen über der stumpfen Nase
beschauten ihn nachdrücklich. »Nach Judäa? Du nach Judäa?« fragte
sie. Es klang ablehnend, doch Paulus spürte, daß sie seinen Haß
gegen den Juden, seinen Vater, teilte. »Ja«, beharrte er, und seine
hellen Augen schauten heftig in die prüfenden der Mutter, »ich muß
hinüber nach Judäa, nun es dort losgeht. Ich muß mich reinwaschen.«
Sie klangen dunkel, diese leidenschaftlich hervorgestoßenen Worte:
»Ich muß mich reinwaschen«; trotzdem verstand selbst der schlichte
Soldat Annius, was sie besagen wollten. Paulus schämte sich seines
Vaters, es verlangte ihn, gutzumachen, daß er dieses Vaters Sohn
war.
Jetzt aber war es genug, Annius
wollte dieses heillose Gerede nicht länger anhören, er griff ein.
»Ich höre solche Worte nicht gern aus deinem Mund«, tadelte
er.
Paulus merkte, daß er zu weit
gegangen war, aber er beharrte, wenn auch in maßvolleren Wendungen.
»Oberst Julian wird es einfach nicht verstehen«, sagte er, »wenn
ich jetzt nicht nach Judäa gehe. Ich möchte nicht verzichten auf
Oberst Julian.«
Schmal und zart saß Dorion da,
locker und doch streng, ihr ein wenig breiter, aus dem
hochfahrenden Gesicht frech vorspringender Mund lächelte ein
kleines, schwer deutbares Lächeln. Annius, sosehr dieses Lächeln
ihn aufbrachte, spürte, wie sehr er die Frau liebte, und für immer.
Sie aber, Dorion, schaute auf den Lehrer ihres Sohnes. »Wie denken
Sie darüber, mein Phineas?« fragte sie.
Der sonst so gelassene, elegante
Mann konnte seine Erregung schwer verbergen. Nervös beugte und
streckte er die langen Finger der großen, dünnen, krankhaft blassen
Hände, nicht einmal die Füße in den griechischen Schuhen konnte er
ruhig halten. Hin und her gerissen war er von zwiespältigen
Gefühlen. Es schmerzte ihn, daß er Paulus endgültig verlieren
sollte. Er liebte den schönen, begabten Jungen, er hatte sich so
heiß bemüht, ihm sein Griechentum einzupflanzen. Er hatte wohl
gesehen, daß ihm Paulus langsam entglitt, aber er wird es schwer
verwinden, wenn Paulus ganz und für immer ein Römer werden sollte,
und das war nicht zu verhindern, wenn er zur Legion nach Judäa
ging. Andernteils war es ein starker Trost, sich auszumalen, wie es
diesen Josephus treffen mußte, wenn sein eigener Sohn, sein Paulus,
teilnahm an dem Kampf gegen sein Volk, im Lager der Römer. Mit
seiner tiefen, wohlklingenden Stimme sagte Phineas: »Es wäre mir
ein Schmerz, wenn unser Paulus nach Judäa gehen sollte, doch ich
muß sagen, in diesem Fall verstünde ich ihn.«
»Auch ich verstehe ihn«, sagte
die Dame Dorion, und: »Ich fürchte, mein Sohn Paulus«, sagte sie,
»ich werde dir nicht mehr sehr lange nein sagen können.«
Die Reise nach Judäa in dieser
Jahreszeit war umständlich, ja gefährlich. Paulus betrieb die
Vorbereitungen mit Eifer und mit Umsicht. Er war jungenhaft
glücklich; nichts mehr war in ihm von dem unberechenbar Heftigen,
Leidenschaftlichen, das die um ihn so häufig erschreckt hatte.
Entwichen aus ihm waren jene jüdischen Meinungen und Eigenschaften,
die sein Vater in ihn hatte einsenken wollen. Entwichen aus ihm war
das Griechentum, mit dem ihn zu durchtränken seine Mutter und sein
Lehrer so heiß bemüht gewesen waren. Gesiegt hatte der Raum um ihn,
gesiegt hatte die Zeit um ihn: er, der Sohn des Juden und der
Griechin, war ganz zum Römer geworden.
Steifen, unbeholfenen Schrittes ging der
Kaiser die Käfige seines Tierparks in Alba entlang. Das Schloß war
als Sommerresidenz gedacht, aber Domitian fuhr häufig auch in der
schlechten Jahreszeit heraus. Er liebte dies sein Schloß in Alba
mehr als alle seine anderen Besitzungen, und wenn er das
weitläufige, prunkvolle Palais als Prinz mit ungenügenden Mitteln
begonnen hatte, so war er jetzt bestrebt, es um so großartiger zu
vollenden. Unabsehbar dehnte sich der kunstvolle Park, überall
wuchsen Nebengebäude aus dem Boden.
Unförmig, in Filzmantel, Kapuze
und Pelzschuhen, storchte der große Mann die Käfige entlang, hinter
ihm der Zwerg Silen, dick, wüst behaart, verwachsen. Es war ein
feuchter, kalter Tag, vom See stieg Dunst auf, die sonst so farbige
Landschaft lag blaß, selbst die Blätter der Olivenbäume waren ohne
Glanz. Ab und zu blieb der Kaiser vor einem Käfig stehen und
beschaute abwesenden Blickes die Tiere.
Er war froh, daß er sich
entschlossen hatte, den Palatin zu verlassen und hier
herauszufahren. Er gefiel sich in der winterlich dunstigen
Landschaft. Gestern waren ausführliche Depeschen von der
Donaugrenze eingetroffen, der Einfall der Daker ins Reich hatte
schlimmere Folgen gehabt, als er angenommen, man konnte nicht mehr
von Grenzzwischenfällen reden, was sich jetzt da unten
vorbereitete, war ein Krieg.
Er preßte die aufgeworfene
Oberlippe auf die Unterlippe. Er wird jetzt wohl selber zu Felde
ziehen müssen. Angenehm ist das nicht. Er liebt keine schnellen,
unbequemen Reisen, er liebt es nicht, lange zu Pferde zu sitzen,
und jetzt im Winter ist alles doppelt strapaziös. Nein, er ist kein
Soldat, er ist nicht wie sein Vater Vespasian und sein Bruder
Titus. Die waren nichts als Soldaten, ins Gigantische gereckte
Feldwebel. Noch hat er die schmetternde Stimme des Titus im Ohr,
und ein angewidertes Zucken geht über sein Gesicht. Nein, ihm liegt
nichts an glänzenden Siegen, die man dann doch nicht
weiterverfolgen kann. Er strebt Gewinne an, die bleiben,
Sicherungen. Er hat einiges gesichert, in Germanien, in Britannien.
Er ist die Erfüllung des flavischen Geschlechts. Wenn er sich vom
Senat den Titel »Herr und Gott Domitian« hat zuerkennen lassen,
dann mit Recht.
Er stand jetzt vor dem Käfig der
Wölfin. Es war ein ausgesucht schönes, kräftiges Tier, der Kaiser
liebte diese Wölfin, das Ruhelose an ihr, das unberechenbar Wilde,
das Schlaue und Kräftige, er liebte in dieser Wölfin das Sinnbild
der Stadt und des Reichs. Hochgereckt, die Arme eckig nach hinten
gepreßt, den Bauch herausgedrückt, stand er vor dem Käfig. »Der
Herr und Gott, der Imperator Flavius Domitianus Germanicus«, sprach
er seinen Namen und Titel vor sich hin, und hinter ihm der Zwerg in
der gleichen Haltung wie er selber sprach ihm die Worte nach vor
dem Käfig der Wölfin.
Sein Vater und sein Bruder mögen
glänzendere Siege errungen haben als er. Aber es kommt nicht auf
glänzende Siege an, sondern nur auf die Endresultate eines Krieges.
Es gibt Feldherren, die nur Schlachten gewinnen können, aber keinen
Krieg. Was er zusammen mit seinem bedächtigen Festungsbaumeister
Frontin in Germanien geleistet hat, die Errichtung des Walles gegen
die germanischen Barbaren, das glänzt nicht, aber es ist mehr wert
als zehn glänzende und folgenlose Siege. Die Ideen dieses Frontin
hätten die Feldwebel Vespasian und Titus niemals erfaßt oder gar
durchgeführt.
Schade, daß er den Frontin nicht
als Oberkommandanten an die Donau nehmen kann. Aber es wäre gegen
seine Prinzipien. Man darf keinen zu groß, man darf keinen
übermütig werden lassen. Die Götter lieben nicht den Übermut. Der
Gott Domitian liebt nicht den Übermut.
Es ist natürlich tief
bedauerlich, daß das Fünfzehnte Armeekorps aufgerieben ist, aber es
hat auch sein Gutes. Wenn er es genau betrachtet, dann ist es ein
Glück, daß die dakischen Dinge diese Wendung genommen und einen
richtigen Krieg angefacht haben. Denn dieser Krieg kommt zur
rechten Zeit, er wird Münder stopfen, die man sonst nicht so bald
zum Schweigen hätte bringen können. Dieser Krieg wird ihm, dem
Kaiser, den willkommenen Vorwand liefern, endlich gewisse
unpopuläre innerpolitische Maßnahmen zu treffen, die er ohne den
Krieg noch jahrelang hätte hinausschieben müssen. Jetzt, mit dem
Vorwand des Krieges, kann er seine widerspenstigen Senatoren
zwingen, ihm Konzessionen zu machen, die sie ihm im Frieden niemals
eingeräumt hätten.
Unvermittelt wendet er sich ab
von dem Käfig, vor dem er noch immer steht. Er will sich nicht
weiter verlocken lassen, zu träumen, seine Phantasie schweift zu
leicht aus. Er liebt Methode, beinahe Pedanterie in den
Regierungsgeschäften. Es verlangt ihn nach seinem Schreibtisch. Er
will sich Notizen machen, ordnen. »Die Sänfte!« befiehlt er, über
die Schulter, »die Sänfte!« gibt der Zwerg kreischend den Befehl
weiter, und der Kaiser läßt sich zurück ins Schloß tragen. Es ist
ein gutes Stück Weges. Erst geht es durch Oliventerrassen hinauf,
dann durch eine Platanenallee, dann an Treibhäusern vorbei, dann
durch Ziergärten und Wandelgänge, vorbei an Pavillons, Lauben,
Grotten, Wasserkünsten aller Art. Es ist ein schöner, großer Park,
der Kaiser liebt ihn, aber heute hat er kein Aug dafür.
»Schneller!« herrscht er die Sänftenträger an, er möchte jetzt an
seinen Schreibtisch.
Endlich in seinem Arbeitszimmer,
gibt er Weisung, ihn unter keinen Umständen zu stören, riegelt die
Tür ab, ist allein. Er lächelt böse, er denkt an die albernen
Gerüchte, die im Umlauf sind über das, was er anstelle, wenn er
sich tagelang allein einschließt. Er spieße Fliegen auf, sagen sie,
schneide Fröschen die Schenkel ab und dergleichen.
Er macht sich an die Arbeit.
Säuberlich, Punkt für Punkt, notiert er, was alles er unter
Bezugnahme auf diesen Krieg aus seinem Senat herausholen will.
Zunächst einmal wird er, endlich, seinen alten Lieblingsplan
verwirklichen und sich die Zensur auf Lebenszeit übertragen lassen:
die Zensur, die Oberaufsicht über Staatshaushalt, Sitte und Recht
und damit auch die Musterung des Senats, die Befugnis, Mitglieder
dieser Körperschaft aus ihr auszuschließen. Bisher hat er dieses
Amt nur jedes zweite Jahr bekleidet. Jetzt, zu Beginn eines
Krieges, dessen Dauer sich nicht absehen läßt, können ihm die
Senatoren eine solche Stabilisierung seiner Rechte schwerlich
verweigern. Er hat Respekt vor der Tradition, er denkt natürlich
nicht daran, die Verfassung zu ändern, die die Teilung der
Staatsgewalt zwischen Kaiser und Senat vorsieht. Er will diese
weise Teilung nicht etwa aufheben: nur eben will er selber die
Befugnis haben, die notwendige Kontrolle der mitregierenden
Körperschaft vorzunehmen.
Auch die Sittengesetze weiter zu
verschärfen, bietet der Krieg willkommene Gelegenheit. Die
lächerlichen, eingebildeten, aufsässigen Aristokraten seines Senats
werden sich natürlich wieder darüber lustig machen, daß er andern
jede kleinste Ausschweifung verwehrt, sich selber aber jede Laune,
jedes »Laster« erlaubt. Die Narren. Wie soll er, der Gott, dem es
nun einmal vom Schicksal aufgetragen ist, römische Zucht und Sitte
mit eiserner Hand zu schützen, wie soll er die Menschen und ihre
Laster kennen und strafen, wenn er nicht selber zuweilen
jupitergleich zu ihnen herabsteigt?
Sorglich formuliert er die zu
erlassenden Vorschriften und Gesetze, numeriert, detailliert, sucht
gewissenhaft nach Begründung jeder Einzelheit.
Dann macht er sich an den Teil
seiner Arbeit, der ihm der liebste ist, an die Zusammenstellung
einer Liste, einer nicht großen, doch folgenschweren
Liste.
Es sitzen im Senat etwa neunzig
Herren, die nicht verhehlen, daß sie ihm feind sind. Sie schauen
herunter auf ihn, diese Herren, die ihre Ahnenreihen zurückführen
bis zur Gründung der Stadt und noch darüber hinaus, bis zur
Zerstörung von Troja. Sie nennen ihn einen Parvenü. Weil sein
Urgroßvater Inhaber eines Inkassobüros und auch sein Großvater noch
nichts Berühmtes war, darum glauben sie, er, Domitian, wisse nicht,
was wahres Römertum sei. Er wird ihnen zeigen, wer der bessere
Römer ist, der Urenkel des kleinen Bankiers oder die Urenkel der
trojanischen Helden.
Die Namen von neunzig solchen Herren sind ihm bekannt.
Neunzig, das ist eine große Zahl, so viel Namen kann er nicht auf
seine Liste setzen, es werden leider nur einige wenige der
unangenehmen Herren während seiner Abwesenheit beseitigt werden
können. Nein, er wird vorsichtig sein, er liebt keine Übereilung.
Aber einige, sieben, sechs, oder sagen wir fünf, werden immerhin
auf der Liste stehen können, und der Gedanke, daß er bei seiner
Rückkehr wenigstens diese nicht mehr wird sehen müssen, wird ihm,
wenn er fern von Rom ist, das Herz wärmen.
Zuerst einmal, provisorisch,
schrieb er eine ganze Reihe von Namen hin. Dann machte er sich
daran zu streichen. Leicht fiel ihm das nicht, und bei manches
Verhaßten Namenstilgung seufzte er. Aber er ist ein gewissenhafter
Herrscher, er will sich bei seinen letzten Entscheidungen nicht von
Sympathie oder Antipathie leiten lassen, sondern lediglich von
staatspolitischen Erwägungen. Sorgfältig bedenkt er, ob dieser Mann
gefährlicher ist oder jener, ob die Beseitigung dieses Mannes mehr
Aufsehen erregen wird oder die Beseitigung jenes, ob die
Konfiskation dieses Vermögens dem Staatsschatz mehr einbringen
dürfte oder die Konfiskation jenes. Nur wenn die Waage durchaus
gleich steht, mag seine persönliche Antipathie
entscheiden.
Namen für Namen bedenkt er so.
Bedauernd streicht er den Helvid wieder von seiner Liste. Schade,
aber es geht nicht, vorläufig muß er ihn noch schonen, diesen
Helvid junior. Den Helvid senior hat seinerzeit bereits der alte
Vespasian beseitigt. Einmal indes, und hoffentlich ist es nicht
mehr lange hin, wird es so weit sein, daß er den Sohn dem Vater
wird nachschicken können. Schade auch, daß er den Aelius nicht auf
seiner Liste belassen kann, den Mann, dem er einst die Gattin
entführt hat, Lucia, jetzt seine Kaiserin. Dieser Aelius pflegte
ihn, den Domitian, immer nur »Wäuchlein« zu nennen, nie anders, das
weiß er bestimmt, weil er einen beginnenden Bauch hat und weil ihm
die Aussprache des B nicht immer glückt. Schön, mag ihn Aelius noch
eine Weile Wäuchlein nennen; einmal wird auch für ihn die Stunde
kommen, da ihm die Witze vergehen.
Es blieben schließlich fünf Namen
auf der Liste. Doch selbst diese fünf schienen dem Kaiser jetzt
noch zuviel. Er wird sich mit vier begnügen. Er wird sich noch mit
Norban beraten, seinem Polizeiminister, ehe er sich entschließt,
wen er nun endgültig in den Hades hinabschicken wird.
So, und nun hatte er sein Pensum
erledigt, und nun war er frei. Er stand auf, streckte sich, ging
zur Tür, sperrte auf. Er hatte die Essenszeit über gearbeitet, man
hatte ihn nicht zu stören gewagt. Jetzt wollte er essen. Er hatte
fast seinen ganzen Hof hierher nach Alba bestellt und seinen halben
Senat, so ziemlich alle, denen er freund und denen er feind war; er
wollte die Geschäfte des Reichs, bevor er seine Hauptstadt verließ,
hier in Alba ordnen. Soll er sich Unterhaltung schaffen? Soll er
den einen oder andern zur Tafel befehlen? Er dachte an die vielen,
die jetzt hier eintrafen in ununterbrochenem Fluß, er stellte sich
vor, wie sie sich verzehrten in sorgenvoller Spannung, was wohl der
Gott Domitian über sie beschließen werde. Er lächelte tief und
böse. Nein, sie sollen unter sich bleiben, er wird sie sich selber
überlassen. Sie sollen warten, den Tag über, die Nacht, und
vielleicht noch einen Tag, ja vielleicht noch eine Nacht, denn der
Gott Domitian wird seine Entschlüsse langsam bedenken und nichts
übereilen.
In dieser seiner Residenz Alba
wird jetzt vielleicht auch schon Lucia eingetroffen sein, Lucia
Domitia, seine Kaiserin. Des Domitian Lächeln schwand von seinem
Gesicht, da er an Lucia dachte. Er ist ihr gegenüber lange nichts
anderes gewesen als der Mann Domitian, dann aber hat er auch ihr
den Herrn und Gott Domitian zeigen müssen, er hat ihren Lieb ling
Paris beseitigen und sie durch den Senat wegen Ehebruchs nach der
Insel Pandataria verbannen lassen. Es trifft sich gut, daß er vor
drei Wochen seinem Senat und Volk Weisung gegeben hat, ihn zu
bestürmen, er möge die geliebte Kaiserin Lucia zurückrufen. Er hat
sich denn auch erweichen lassen, hat Lucia zurückgerufen. Sonst
hätte er zu Felde ziehen müssen, ohne sie zu sehen. Ob sie schon da
ist? Wenn die Reise glatt vonstatten ging, dann muß sie schon
eingetroffen sein. Er hat nicht zeigen wollen, daß ihm daran liegt,
zu wissen, ob sie eingetroffen sei; er hat Weisung gegeben, ihn
nicht zu stören, ihm niemandes Ankunft zu melden. Sein Herz sagt
ihm, sie sei da. Soll er nach ihr fragen? Soll er sie bitten, mit
ihm zu essen? Nein, er bleibt der Herrscher, er bleibt der Gott
Domitian, er bezwingt sich, er fragt nicht nach ihr.
Er ißt allein, hastig, achtlos,
er schlingt, er spült die Bissen mit Wein hinunter. Schnell ist die
einsame Mahlzeit beendet.
Und was soll er jetzt tun? Was
kann er unternehmen, um den Gedanken an Lucia zu
vertreiben?
Er suchte den Bildhauer Basil auf, den der
Senat beauftragt hatte, eine Kolossalstatue des Kaisers
anzufertigen. Seit langem hatte der Künstler ihn gebeten, seine
Arbeit zu besichtigen.
Schweigsam beschaute er das
Modell. Er war zu Pferde dargestellt mit den Insignien der Macht.
Es war ein guter, heldischer, kaiserlicher Reiter, den der
Bildhauer Basil geschaffen hatte. Der Kaiser hatte nichts an dem
Werk auszusetzen, allein Gefallen daran fand er auch
nicht.
Der Reiter trug zwar seine, des
Domitian, Züge, aber er war gleichwohl irgendein Kaiser, nicht der
Kaiser Domitian.
»Interessant«, sagte er
schließlich, doch in einem Ton, der seine Enttäuschung nicht
verbarg. Der kleine, hurtige Bildhauer Basil, der die ganze Zeit
aufmerksam des Kaisers Züge durchspäht hatte, erwiderte: »Sie sind
also nicht zufrieden, Majestät? Ich bin es auch nicht. Das Pferd
und der Rumpf des Reiters fressen zuviel Raum weg, es bleibt
zuwenig für den Kopf, für das Gesicht, fürs Geistige.« Und da der
Kaiser schwieg, fuhr er fort: »Es ist schade, daß mich der Senat
beauftragte, Eure Majestät zu Pferde darzustellen. Wenn Eure
Majestät erlauben, dann mache ich den Herren einen Gegenvorschlag.
Ich spiele da mit einer Idee, die mir reizvoll scheint. Mir schwebt
vor eine Kolossalstatue des Gottes Mars, die Eurer Majestät Züge
trägt. Ich denke natürlich nicht an den üblichen Mars mit dem Helm
auf dem Kopf, der Helm würde mir zuviel von Ihrer Löwenstirn
wegnehmen. Was mir vorschwebt, ist ein ruhender Mars. Darf ich
Eurer Majestät einen Versuch zeigen?« Und da der Kaiser nickte,
ließ er das andere Modell herbeischaffen.
Er hatte dargestellt einen Mann
von gewaltigem Körperbau, doch sitzend, in bequemer Haltung
ausruhend. Die Waffen hatte der Gott abgelegt, das rechte Bein
hatte er lässig vorgestellt, das Knie des linken, hinaufgezogen,
hielt er lässig mit beiden Händen umfaßt. Der Wolf lag ihm zu
Füßen, der Specht saß frech auf dem abgelegten Schild. Das Modell
war offenbar in der ersten Phase, aber der Kopf war schon
ausgeführt, und dieser Kopf, ja, das war ein Haupt, wie es dem
Domitian gefiel. Die Stirn hatte wirklich das Löwenhafte, von dem
der Künstler gesprochen, sie erinnerte an die Stirn des großen
Alexander. Und die Haartracht gar, die kurzen Locken, gaben dem
Kopf eine Ähnlichkeit mit gewissen bekannten Köpfen des Herkules,
des angeblichen Ahnherrn der Flavier, eine Ähnlichkeit, die einige
der Herren Senatoren nicht schlecht ärgern wird. Leicht gekrümmt
sprang die Nase vor. Die geblähten Nüstern, der halboffene Mund
atmeten Kühnheit, herrische Leidenschaft.
»Stellen Sie sich vor, Majestät«,
erläuterte angeregt der Bildhauer, da sein Werk dem Kaiser
sichtlich gefiel, »wie die Statue wirken muß, wenn sie erst in
ganzer Größe vollendet ist. Wenn Sie mir die Ausführung meines
Projektes erlauben, Majestät, dann wird diese Statue mehr noch der
Gott Domitian sein als der Gott Mars. Denn hier zieht nicht der
übliche Helm die Hauptaufmerksamkeit des Beschauers auf sich, auch
nicht der gewaltige Leib, sondern jede Einzelheit ist darauf
berechnet, die Aufmerksamkeit des Beschauers auf das Gesicht
hinzulenken, und es ist der Ausdruck des Gesichts, der den Gott
übers menschliche Maß hinaushebt. Dieses Gesicht soll dem Erdkreis
zeigen, was der Titel Herr und Gott besagen will.«
Der Kaiser schwieg, doch aus
seinen vortretenden, kurzsichtigen Augen beschaute er mit sichtlich
steigendem Wohlgefallen sein Bild. Ja, das wird eine gute Sache.
Mars und Domitian, sie gehen gut ineinander, diese beiden. Selbst
die Haare, wie er sie leicht in die Wange hat hineinwachsen lassen,
selbst diese Andeutung eines Backenbarts paßt gut zur Vorstellung
des Gottes Mars. Und die drohend zusammengezogenen Brauen, die
Augen, voll von Stolz und Herausforderung, der gewaltige Nacken,
das sind Eigenschaften des Gottes Mars und dabei Merkmale, an denen
jeder ihn erkennen muß, den Domitian. Dazu das entschiedene Kinn,
das einzig Gute an des Vaters Kopf und, glücklicherweise, das
einzige auch, was er, Domitian, von ihm geerbt hat. Er hat recht,
dieser Bildhauer Basil: der Titel, den er sich hat zusprechen
lassen, der Titel Herr und Gott, an diesem Mars sieht jeder, was er
besagen will. So wie dieser ruhende Mars, so will er sein,
Domitian, und so ist er: gerade in der Ruhe düster, göttlich,
gefährlich. So hassen ihn seine Aristokraten, so liebt ihn sein
Volk, so lieben ihn seine Soldaten, und was Vespasian mit all
seiner Leutseligkeit, was Titus mit all seinem Geschmetter nicht
erreicht hat, Volkstümlichkeit, er, Domitian, hat es erreicht, eben
durch seine finstere Majestät.
»Interessant, sehr interessant«,
anerkannte er, diesmal aber mit dem rechten Ton, und: »Das haben
Sie nicht schlecht gemacht, mein Basil.«
Und nun liegt ein langer Abend vor dem
Kaiser, und was soll er beginnen, bevor er schlafen geht? Wenn er
sich die Gesichter der Menschen vorstellt, die er hierher nach Alba
geladen hat, dann, so viele es ihrer sind, findet er keinen, auf
dessen Gesellschaft er Lust hätte. Nach einer einzigen steht sein
Verlangen; aber die zu rufen, verbietet ihm sein Stolz. Er wird
also den Abend lieber allein verbringen, bessere Gesellschaft als
die eigene findet er nicht.
Er gibt Weisung, alle Lichter des
großen Festsaals anzuzünden. Auch die Mechaniker läßt er kommen,
die sinnreiche Maschinerie des Festsaals zu bedienen, dessen Wände
sich nach Belieben zurückdrehen lassen und dessen Decke man heben
kann, bis man unter freiem Himmel ist. Die sinnreiche Maschinerie
war seinerzeit als Überraschung für Lucia gedacht. Sie hat sie
nicht nach Gebühr gewürdigt. Sie hat viele seiner Geschenke nicht
nach Gebühr gewürdigt.
Begleitet nur von seinem Zwerg
Silen, betritt der Kaiser den weiten, lichtglänzenden Saal. Seine
Phantasie füllt ihn mit den Massen seiner Gäste. Lässig sitzt er
da, er hat unwillkürlich die Haltung jener Mars-Statue angenommen,
und er stellt sich vor, wie seine Gäste verteilt in den vielen
Gemächern seines Palastes hocken und liegen und warten, voll von
Angst und Spannung. Er läßt den Saal erweitern und verengen,
spielerisch, läßt die Decke heben und wieder senken. Dann geht er
eine Weile auf und nieder, läßt den größten Teil der Lichter wieder
löschen, so daß nur noch einzelne Teile der Halle in schwachem
Licht liegen. Und weiter geht er auf und ab in dem mächtigen Raum,
und riesig begleitet ihn sein Schatten, und winzig begleitet ihn
sein Zwerg.
Ob wohl Lucia in Alba
ist?
Unvermittelt – er fühlt sich noch
frisch und bereit zu neuer Arbeit – befiehlt er seinen
Polizeiminister Norban vor sich.
Norban war schon zu Bett
gegangen. Die meisten der Minister waren, wenn sie Domitian zu
einer unerwarteten Stunde vor sich befahl, in Verlegenheit, wie sie
erscheinen sollten. Auf der einen Seite wünschte der Kaiser nicht
zu warten, auf der andern fühlte er seine Majestät beleidigt, wenn
man sich anders als sehr sorgfältig angezogen vor ihm sehen ließ.
Norban indes wußte sich seinem Herrn so unentbehrlich und so fest
in seiner Gunst, daß er sich begnügte, das Staatskleid übers
Nachthemd zu werfen.
Sein nicht großer, doch
stattlicher Körper dunstete also noch die Wärme des Bettes aus, wie
er vor dem Kaiser erschien. Der mächtige, viereckige Kopf auf den
noch mächtigeren, eckigen Schultern war nicht zurechtgemacht, das
feste Kinn, unrasiert, wie er war, wirkte noch brutaler, und die
modischen Stirnlocken des sehr dicken, tiefschwarzen Haares
zackten, starr gefettet und trotzdem unordentlich, grotesk in das
vierschrötige Gesicht. Seinem Polizeiminister nahm der Kaiser diese
Nachlässigkeit nicht übel, vielleicht bemerkte er sie gar nicht. Er
wurde vielmehr sogleich vertraulich. Legte, der große Mann, den Arm
um die Schulter des viel kleineren, führte ihn auf und ab in dem
weiten, dämmerigen Saal, sprach mit ihm halblaut in
Andeutungen.
Sprach davon, daß man den Krieg
und seine Abwesenheit dazu benutzen könnte, den Senat ein wenig
auszukämmen. Nochmals, mit Norban jetzt, ging er die Namen seiner
Feinde durch. Er wußte gut Bescheid und hatte ein gutes Gedächtnis,
doch Norban hatte in seinem breiten Kopf noch viel mehr Fakten
vorrätig, Vermutungen und Gewißheiten, Pros und Kontras. Auf und ab
ging der Kaiser mit ihm, steifen Schrittes, beschwerlich, den Arm
immer um seine Schultern. Hörte zu, warf Fragen ein, äußerte
Zweifel. Er trug kein Bedenken, Norban in sein Inneres
hineinschauen zu lassen, er hatte tiefes Vertrauen zu ihm, ein
Vertrauen, das aus einem geheimen Schacht seiner Seele
kam.
Norban erwähnte natürlich auch
den Aelius, den ersten Mann der Kaiserin Lucia, jenen Senator, der
dem Domitian den Namen Wäuchlein gegeben hatte und den Domitian so
gern auf seiner Liste gelassen hätte. Es war dieser Aelius ein
lebenslustiger Herr. Er hatte Lucia geliebt, er liebte sie wohl
heute noch, er liebte auch die vielen andern angenehmen Dinge, mit
denen ihn das Schicksal begnadet hatte, seine Titel und Ehrungen,
sein Geld, sein gutes Aussehen und fröhliches Wesen, das ihm
überall Freunde schuf. Aber mehr als dieses alles liebte er seinen
Witz, und er stellte ihn gern ins Licht. Schon unter den früheren
Flaviern hatten ihm seine Witzworte Unannehmlichkeiten gebracht.
Unter Domitian, der ihm Lucia entführt hatte, war er doppelt
gefährdet und hätte seine Zunge mit doppelter Vorsicht hüten
müssen. Statt dessen erklärte er frivol, er kenne genau die
Krankheit, an der er einmal werde sterben müssen, diese Krankheit
werde ein guter Witz sein. Auch heute berichtete Norban dem Kaiser
von ein paar neuen respektlosen Witzen des Aelius. Bei der
Wiedergabe des letzten indes unterbrach er sich, bevor er zu Ende
war. »Sprich weiter!« forderte ihn der Kaiser auf; Norban zögerte.
»Sprich weiter!« befahl der Kaiser; Norban zögerte. Der Kaiser lief
rot an, beschimpfte seinen Minister, schrie, drohte. Schließlich
erzählte Norban. Es war ein ebenso geschliffener wie obszöner Witz
über jenen Körperteil der Lucia, durch den Aelius mit dem Kaiser
sozusagen verwandt war. Domitian wurde tödlich blaß. »Sie haben
einen guten Kopf, Polizeiminister Norban«, sagte er schließlich
mühsam. »Schade, daß Sie jetzt sich und mich um diesen Kopf geredet
haben.« – »Sie haben mir befohlen zu reden, Majestät«, sagte
Norban. »Gleichviel«, erwiderte der Kaiser und begann plötzlich
schrill zu schreien, »du hättest solche Worte nicht wiederholen
dürfen, du Hund!«
Norban indes war nicht sehr
erschüttert. Bald denn auch beruhigte sich der Kaiser wieder, und
man sprach sachlich weiter über die Kandidaten der Liste. Wie
Domitian selber schon befürchtet hatte, konnte man in seiner
Abwesenheit schwerlich mehr als vier der Staatsfeinde erledigen;
mehr wäre zu gewagt gewesen. Auch sonst war Norban mit der Liste
des Kaisers nicht ganz einverstanden, und er beharrte stur darauf,
daß man die Erledigung auch eines zweiten Senators, der auf der
Liste stand, noch hinausschiebe. Schließlich mußte der Kaiser zwei
Namen von seiner Fünfmännerliste streichen, dafür aber konzedierte
ihm Norban einen neuen Namen, so daß schließlich vier Namen
blieben. Diesen vier Namen dann konnte Domitian endlich den
Buchstaben M beifügen.
Es war aber dieses
verhängnisvolle M der Anfangsbuchstabe des Namens Messalin, und
dieser Messalin war der dunkelste Mann der Stadt Rom. Da er, ein
Verwandter des Dichters Catull, einem der ältesten Geschlechter
entstammte, hatte jedermann erwartet, er werde sich im Senat der
Opposition anschließen. Statt dessen hatte er sich dem Kaiser
verschworen. Er war reich, es geschah nicht um des ausgesetzten
Gewinnes willen, wenn er den oder jenen, auch Freunde und
Verwandte, eines Majestätsverbrechens bezichtigte: er tat es aus
Lust am Verderb. Er war blind, dieser Messalin, doch niemand konnte
besser als er verborgene Schwächen aufspüren, niemand besser aus
unverfänglichen Äußerungen verfängliche, aus harmlosen Handlungen
verbrecherische machen. An wessen Spuren sich der blinde Messalin
heftete, der war verloren, wen er anklagte, gerichtet. Sechshundert
Mitglieder zählte der Senat, ihre Haut war dick und hart geworden
in diesem Rom des Kaisers Domitian, sie wußten, daß, wer sich da
behaupten wollte, ohne ein robustes Gewissen nicht durchkam. Wenn
aber der Name Messalin fiel, dann verzogen selbst diese abgebrühten
Herren den Mund. Der blinde Mann legte Wert darauf, nicht an seine
Blindheit erinnert zu werden, er hatte gelernt, seinen Weg im Senat
ohne Führer zu finden, er ging durch die Bänke an seinen Platz
allein und als sähe er. Alle hatten sie dem bösen, gefährlichen
Mann etwas heimzuzahlen, den Untergang eines Verwandten, eines
Freundes, alle hatten sie Lust, ihn an ein Hindernis anrennen zu
lassen, daß er an seine Blindheit gemahnt werde. Doch keiner wagte
es, dieser Lust zu folgen, sie wichen ihm aus, sie räumten ihm die
Hindernisse aus dem Weg.
Hinter vier Namen also setzte
schließlich der Kaiser den Buchstaben M.
Damit war dieser Gegenstand
erledigt, und eigentlich, fand Norban, hätte ihn DDD jetzt ruhig
wieder in sein Bett zurücklassen können. Doch der Kaiser behielt
ihn weiter da, und Norban wußte auch, warum. DDD möchte zu gern
etwas über Lucia hören, möchte zu gerne von ihm erfahren, was Lucia
getrieben hat auf ihrer Verbannungsinsel Pandataria. Aber das hat
er sich verscherzt. Da hätte er ihn vorhin nicht so anschreien
dürfen. Jetzt wird sich Norban hüten, er wird sich keiner weiteren
Majestätsverletzung schuldig machen. Er wird seinem Kaiser auf
vornehme Art beibringen, sich zu beherrschen.
Domitian brannte denn auch
wirklich vor Begier, den Norban auszufragen. Aber so wenig
Geheimnisse er vor dem Mann hatte, er schämte sich, nun es um Lucia
ging, und die Frage wollte ihm nicht über die Lippen. Norban
seinesteils aber schwieg tückisch und beharrlich weiter.
Statt ihm von Lucia zu sprechen,
erzählte er dem Kaiser, da ihn dieser nun einmal nicht entließ,
allerlei Gesellschaftsklatsch und kleine politische Begebenheiten.
Auch von der verdächtigen Geschäftigkeit erzählte er ihm, die man
seit dem Ausbruch der östlichen Wirren im Hause des Schriftstellers
Flavius Josephus wahrnahm, ja er konnte eine Abschrift des von
Josef verfaßten Manifestes vorlegen. »Interessant«, sagte Domitian,
»sehr interessant. Unser Josef. Der große Historiker. Der Mann, der
unsern jüdischen Krieg für die Nachwelt beschrieben und aufbewahrt
hat, der Mann, in dessen Hände es gelegt ist, Ruhm und Schande zu
verteilen. Für die Taten meines vergotteten Vaters und meines
vergotteten Bruders hat er allerhand rühmende Worte gefunden, mich
hat er spärlich behandelt. Also zweideutige Manifeste verfaßt er
jetzt. Sieh an, sieh an!«
Und er gab dem Norban Auftrag,
den Mann weiter zu beobachten, aber vorläufig nicht einzugreifen.
Er wird sich, und wahrscheinlich noch vor seiner Abreise, diesen
Juden Josef selber vornehmen; seit langem hat er Lust darauf,
einmal wieder mit ihm zu sprechen.
Lucia, die Kaiserin, war wirklich am späteren
Nachmittag in Alba eingetroffen. Sie hatte erwartet, Domitian werde
sie begrüßen. Daß er es nicht tat, amüsierte sie eher, als daß es
sie verdrossen hätte.
Jetzt, während sie, ohne daß man
ihren Namen nannte, die Unterredung Domitians mit Norban
beherrschte, hielt sie Tafel in vertrautem Kreis. Von den Geladenen
hatten nicht alle zu kommen gewagt; wenn der Kaiser Lucia auch
zurückgerufen hatte, man wußte noch nicht, wie er es aufnehmen
werde, wenn man bei ihr speiste. Man war vor finstern
Überraschungen niemals sicher; es war vorgekommen, daß der Kaiser,
wenn er jemand endgültig verderben wollte, ihm gerade vor dem Ende
besondere Freundlichkeit zeigte.
Diejenigen, die an der Abendtafel
der Kaiserin teilnahmen, gaben sich fröhlich, und Lucia selber war
bester Laune. Nichts war ihr anzumerken von den Strapazen der
Verbannung. Groß, jung, strotzend saß sie da, die weit
auseinanderstehenden Augen unter der reinen, kindlichen Stirn
lachten, ihr ganzes, kühnes, helles Gesicht strahlte Freude. Ohne
Scheu erzählte sie von Pandataria, der Insel der Verbannung.
Domitian hatte ihr diese Insel vermutlich bestimmt, damit die
Schatten der fürstlichen Frauen sie schreckten, die früher dorthin
verbannt waren, die Schatten der Agrippina, der Octavia des Nero,
der augusteischen Julia. Aber da hatte er sich verrechnet. Wenn sie
an diese Julia des Augustus dachte, dann dachte sie nicht an ihr
Ende, sondern nur an ihre Freundschaft mit Silan und Ovid und an
die Vergnügungen, welche die letzte Ursache dieses Endes gewesen
waren.
Sie berichtete Einzelheiten über
ihr Leben auf der Insel. Siebzehn Verbannte hatte es dort gegeben,
Eingeborene hatte die Insel an die fünfhundert. Natürlich hatte man
sich einschränken müssen, auch störte es einen, immer nur die
gleichen Menschen um sich zu sehen. Bald kannte man einander bis in
die letzte Falte. Das Zusammenleben auf dem öden Felsen, immer nur
das grenzenlose Meer ringsum, machte manchen melancholisch,
schrullig, führte zu unangenehmen Reibungen; es gab Zeiten, da man
sich so anhaßte, daß man einander, eingesperrten Spinnen gleich, am
liebsten aufgefressen hätte. Aber es hatte auch sein Gutes, die
zahllosen Gesichter Roms los zu sein und seine ewige Geselligkeit
und angewiesen zu sein auf sich selber. Sie habe bei dieser
Unterhaltung mit sich selber gar keine schlechten Erfahrungen
gemacht. Dazu habe es gewisse Sensationen gegeben, von denen man
sich in Rom nichts träumen lasse, zum Beispiel die Erregung, wenn
so alle sechs Wochen das Schiff angekommen sei mit den Briefen und
Zeitungen aus Rom und den allerhand Dingen, die man sich dort
bestellt hatte. Im ganzen, faßte sie zusammen, sei es keine
schlechte Zeit gewesen, und wenn man sie so sah, heiter und
ungeheuer lebendig, dann glaubte man ihr das.
Die Frage blieb, wie nun Lucia
hier in Rom weiterleben, wie sich der Kaiser zu ihr stellen werde.
Ohne Scheu sprach man darüber; mit besonderer Offenheit äußerten
sich Claudius Regin, der Senator Junius Marull und Lucias früherer
Gatte, Aelius, den zu dieser Tafel zuzuziehen sie keinerlei
Bedenken getragen hatte. Schon am nächsten Tage, meinte Aelius,
werde Lucia mit Sicherheit erkennen können, was sie für die Zukunft
von Wäuchlein zu gewärtigen habe. Wenn er sie zunächst allein werde
sehen wollen, dann sei das kein gutes Zeichen, denn dann wolle er
sich mit ihr auseinandersetzen. Wahrscheinlich aber werde Wäuchlein
vor Auseinandersetzungen mit ihr genau solche Furcht haben wie
seinerzeit er selber, Aelius, und werde also diese Aussprache
hinausschieben wollen. Ja, er, Aelius, sei bereit, eine Wette
einzugehen, daß der Kaiser morgen eine Familientafel abhalten
werde, weil er nämlich Lucia zunächst nicht allein, sondern
zusammen mit andern werde sehen wollen.
Lucia ihresteils hatte offenbar
keine Furcht vor der bevorstehenden Auseinandersetzung mit dem
Kaiser. Ohne Scheu gab auch sie ihm seinen Spitznamen und, in
Gegenwart aller, sagte sie zu Claudius Regin: »Später muß ich Sie
fünf Minuten allein haben, mein Regin, damit Sie mir raten, was ich
füglich von Wäuchlein verlangen kann, ehe ich mich versöhnen lasse.
Wenn er wirklich dicker geworden ist, wie man mir sagt, dann muß er
mehr zahlen.«
Wie die meisten seiner Gäste
schlief Domitian selber nicht gut in dieser Nacht. Noch immer nicht
hatte er sich erkundigt, ob Lucia da sei, aber eine innere Stimme
sagte ihm mit Sicherheit, sie war da, er schlief jetzt wieder unter
einem Dach mit ihr.
Er bereute es, daß er den Norban
gekränkt hatte. Hätte er das nicht getan, dann wüßte er jetzt, was
Lucia getrieben hat auf ihrer Verbannungsinsel Pandataria. Es waren
nur wenige Männer gewesen, die ihr dort vor Gesicht gekommen waren,
und er konnte sich nicht vorstellen, daß einer unter ihnen Lucia
sollte angezogen haben. Allein sie war unberechenbar und erlaubte
sich alles. Vielleicht hatte sie dennoch mit einem dieser Männer
geschlafen, vielleicht auch mit einem der Fischer oder mit sonst
einem aus dem Pack, das die Insel bewohnte. Allein das konnte ihm
niemand sagen außer dem Norban, und dem hatte er selber
törichterweise den Mund verschlossen.
Allein auch wenn er genau wüßte,
was in Pandataria gewesen ist, wenn er es, Minute für Minute,
wüßte, was sie dort getrieben hat, es hülfe ihm nicht viel. Mit
einer Spannung, gemischt aus Unbehagen und Begier, erwartete er die
Unterredung, die er morgen mit Lucia haben wird. Er schliff sich
Sätze zurecht, mit denen er sie treffen wird, er, der großmütige
Domitian, der Gott, die Sünderin, die er in Gnaden wieder aufnimmt.
Aber er wußte zuvor, sie wird, und wenn er noch so treffende Sätze
für sie findet, nur lächeln, und schließlich wird sie lachen, ihr
volles, dunkles Lachen, und ihm etwas antwor ten wie: Komm, komm,
Wäuchlein, und hör jetzt schon auf, und was immer er sagen oder tun
wird, sie ist von solcher Beschaffenheit, daß er ihr keine Angst
wird einflößen können. Denn während die andern, seine frechen
Aristokraten, vielleicht gerade weil sie so alten Geschlechtern
entstammen, dünnblütig geworden sind, kraftlos, lebt in ihr, in
Lucia, in Wahrheit das Strotzende, die Kraft der alten Patrizier.
Er haßte Lucia um dieser ihrer stolzen Kraft willen, aber er
brauchte sie, er vermißte sie, wenn sie nicht da war. Er sagte
sich, sie sei die leibgewordene Göttin Rom, nur deshalb brauche und
liebe er sie. Aber was er brauchte und liebte, das war einfach
Lucia, die Frau, nichts sonst. Er wußte, er kann nicht ins Feld
gehen, ehe er nicht die kleine Narbe unter ihrer linken Brust
geküßt haben wird, und wenn sie ihn sie küssen läßt, dann wird das
ein Geschenk sein. Ach, ihr kann man nichts befehlen, sie lacht;
unter allen Lebenden, die er kennt, ist sie die einzige, die den
Tod nicht fürchtet. Sie liebt das Leben, sie nimmt vom Augenblick
alles, was er geben kann, aber gerade deshalb hat sie keine Angst
vor dem Tod.
Für den andern Morgen in aller Frühe hatte
der Kaiser die vertrautesten seiner Minister zu einem geheimen
Kabinettsrat geladen. Die fünf Herren, die sich im Saal des Hermes
versammelten, waren unausgeschlafen, sie hätten es alle vorgezogen,
länger liegenzubleiben, aber wenn es auch vorkam, daß einen der
Kaiser endlos warten ließ, wehe dem, der es gewagt hätte, selber
unpünktlich zu sein.
Annius Bassus, in seiner offenen,
lärmenden Art, packte vor Claudius Regin seine Sorgen aus um den
bevorstehenden Feldzug; offenbar wollte er, daß ihn Regin beim
Kaiser unterstütze. Einesteils, meinte er, halte es DDD für seiner,
des Gottes, nicht würdig zu sparen, so daß die Hofhaltung, vor
allem die Bauten, auch in seiner Abwesenheit viel Geld verschlinge,
andernteils lege er – eine Erbschaft, die er vom Vater überkommen –
Gewicht darauf, ungedeckte Ausgaben unter allen Umständen zu
vermeiden. Was dabei zu kurz komme, das sei die Kriegführung. Man
werde, fürchte er, den Generälen an der Donaufront nicht genügend
Truppen und Material zur Verfügung stellen, und was dann an Kräften
und Mitteln fehle, das werde, und das sei die Hauptgefahr, der
Oberkommandierende Fuscus durch Mut auszugleichen suchen.
»Nein, einfach ist der
Staatshaushalt nicht«, erwiderte seufzend Regin, »mir, mein Annius,
brauchen Sie das nicht zu sagen. Ich habe da gestern ein Gedicht
erhalten, das mir der Hofdichter Statius gewidmet hat.« Und
grinsend über das ganze, unordentlich rasierte, fleischige Gesicht,
ironisch blinzelnd mit den schweren, schläfrigen Augen, zog er aus
dem Ärmel seines Staatskleides das Manuskript; mit den dicken
Fingern hielt er das kostbare Gedicht, und mit seiner hellen,
fettigen Stimme las er: »Anvertraut dir allein ist die Verwaltung
der geheiligten Schätze des Kaisers, die Reichtümer, erzeugt von
allen Völkern, das Einkommen der gesamten Welt. Was immer Iberien
aus seinen Goldbergwerken herausbricht, was immer glänzt innerhalb
der Höhen Dalmatiens, was immer eingebracht wird von Libyens
Ernten, was immer düngt der Schlamm des erhitzten Nilflusses, was
immer an Perlen die Taucher der östlichen See ans Licht fördern und
erjagen an Elfenbein die Jäger am Indus: dir als einzigem Verwalter
ist es anvertraut. Wachsam bist du, scharfäugig, und mit sicherer
Schnelle errechnest du, was täglich erfordern unter jeglichem
Himmel die Armeen des Reichs, was die Ernährung der Stadt, was die
Tempel, die Wasserleitungen, was des ungeheuren Straßennetzes
Unterhalt. Unze für Unze kennst du Preis, Gewicht und Legierung
jeglichen Metalls, das sich, aufstrahlend im Feuer, wandelt in
Bilder der Götter, in Bilder der Kaiser, in römische Münze.« – »Der
Mann, von dem da die Rede ist, bin ich«, erläuterte grinsend
Claudius Regin, und es war wirklich ein wenig komisch, den
schlampigen, skeptischen, unprätentiösen Herrn mit den erhabenen
Versen zu vergleichen, die ihm galten.
Der Hofmarschall Crispin ging mit
nervösen Schritten in dem kleinen Raum auf und ab. Der junge,
elegante Ägypter war trotz der frühen Stunde mit höchster Sorgfalt
gekleidet, er mußte viel Zeit auf seine Toilette verwendet haben,
er roch, wie stets, nach Wohlgerüchen wie der Leichenzug eines
vornehmen Herrn. Die ruhigen, wachsamen Augen des Polizeimini sters
Norban folgten ihm mit sichtbarer Mißbilligung. Norban mochte ihn
nicht leiden, den jungen Gecken, er spürte, daß er sich über seine
Vierschrötigkeit lustig machte. Doch Crispin war einer der wenigen,
denen Norban nicht ankonnte. Wohl wußte der Polizeiminister um
viele bedenkliche Einzelheiten der Geldbeschaffung des
verschwenderischen Crispin. Allein der Kaiser hatte für den jungen
Ägypter eine unerklärliche Vorliebe. Er sah in ihm, der erfahren
war in allen feinen Lastern seines Alexandrien, den Spiegel der
Eleganz und des guten Tons. Domitian, der Hüter strengrömischer
Tradition, verachtete zwar diese Künste, doch Domitian, der Mann,
war daran interessiert.
Crispin, immer auf und ab gehend,
meinte: »Es wird sich wieder einmal um neue, verschärfte
Sittengesetze handeln. DDD kann sich nicht genug daran tun, unser
Rom in ein gigantisches Sparta zu verwandeln.« Niemand antwortete.
Wozu die Dinge das tausendstemal wiederkäuen? »Vielleicht auch«,
meinte morgendlich gähnend Marull, »hat er uns wieder einmal nur
wegen eines Steinbutts oder wegen eines Hummers herbeordert.« Er
spielte an auf jenen bösartigen Witz, den sich vor nicht langer
Zeit der Kaiser geleistet, als er seine Minister mitten in der
Nacht nach Alba gesprengt hatte, um sie zu befragen, auf welche Art
ein über alle Maßen großer Steinbutt bereitet werden sollte, den
man ihm zum Geschenk gemacht hatte.
Die Augen des allwissenden
Norban, in dessen Dossiers die Handlungen und Äußerungen jedes
einzelnen genau verzeichnet waren, folgten nach wie vor dem auf und
nieder hastenden Crispin; es waren braune Augen, auch ihr Weiß war
bräunlich, und sie erinnerten in ihrer ruhigen, sprungbereiten
Aufmerksamkeit an die Augen eines wachsamen Hundes. »Haben Sie
wieder etwas über mich herausgebracht?« fragte schließlich, nervös
unter diesem ständigen Blick, der Ägypter. »Ja«, erwiderte schlicht
Norban. »Ihr Freund Mettius ist gestorben.« Crispin hielt mitten im
Schritt inne und wandte dem Norban das lange, feine, dünne,
lasterhafte Gesicht zu; Erwartung, Freude und Besorgtheit mischten
sich auf ihm. Der alte Mettius war ein sehr reicher Mann, Crispin
hatte ihn auf verschlun gene Art, mit Freundschaftsbezeigungen und
mit Drohungen, verfolgt, und der Greis hatte ihn zuletzt auch in
seinem Testament mit großen Summen bedacht. »Ihre Freundschaft ist
ihm nicht gut bekommen, mein Crispin«, berichtete, während jetzt
auch die andern zuhörten, der Polizeiminister. »Mettius hat sich
die Adern geöffnet. Unmittelbar vorher übrigens hat er sein
gesamtes Vermögen« – Norban legte einen kleinen Ton auf das Wort:
gesamtes – »unserm geliebten Herrn und Gott Domitian verschrieben.«
Es gelang dem Crispin, sein Gesicht ruhig zu halten. »Sie sind
immer der Überbringer erfreulicher Botschaften, mein Norban«, sagte
er höflich.
Wenn die fette Erbschaft nicht
ihm selber zufiel, dann gönnte sie Crispin dem Kaiser noch als
erstem. Alle fünf Männer in dem kleinen Saal, so übel ihnen
Domitian zuweilen mitgespielt hatte, waren ihm ehrlich freund. DDD,
trotz seiner finsteren Schrullen, faszinierte die Massen sowohl wie
diejenigen, die er näher an sich heranließ.
Claudius Regin hatte mit einem
kleinen Feixen zugehört. Jetzt ließ er sich wieder erschlaffen,
schlampig, schläfrig hockte er in einem Sessel. »Die haben es
leicht«, sagte er halblaut zu Junius Marull, mit dem Kopf auf die
drei andern weisend, »sie sind jung. Sie aber, mein Marull, und
ich, wir haben etwas erreicht, was unter den Freunden des Kaisers
eigentlich nur uns zuteil ward: wir sind beide über Fünfzig alt
geworden.«
Norban hatte unterdessen den
Crispin in einer Ecke festgehalten. Auf seine ruhige, etwas
bedrohliche Art, die klobige Stimme dämpfend, daß die andern seine
Worte nicht hörten, sagte er zu ihm: »Ich habe eine weitere gute
Nachricht für Sie. Die Vestalinnen werden den Palatinischen Spielen
beiwohnen. Sie werden Ihre Cornelia zu sehen bekommen, mein
Crispin.« Das bräunliche Gesicht des Crispin wurde fast töricht vor
Bestürzung. Er hatte ein paarmal freche, begehrliche Äußerungen
über die Vestalin Cornelia getan, doch nur zu intimen Freunden,
denn der Kaiser nahm es genau mit seinem Erzpriestertum und liebte
keine unehrerbietigen Äußerungen über seine Vestalinnen. Crispin
erinnerte sich jetzt genau, was er gesagt hatte. Und wäre diese
Cornelia von oben bis unten in ihr weißes Kleid eingenäht, er werde
mit ihr schlafen, hatte er sich vermessen. Auf welchem höllischen
Weg aber war das schon wieder zu diesem verfluchten Norban
gedrungen?
Endlich wurden die Herren ins
innere Arbeitskabinett gebeten.
Der Kaiser saß auf seinem
erhöhten Sitz, am Arbeitstisch, prunkvoll steif, angetan mit dem
ihm vorbehaltenen Kleid der Majestät, und wiewohl der Tisch seine
Füße deckte, trug er den unbequemen hochgesohlten Schuh. Es
beliebte ihm, ganz der Gott zu sein; nur mit einem hieratisch
stolzen Nicken erwiderte er die dem Gott zukommende demütig
zeremoniöse Begrüßung seiner Räte.
Um so mehr dann stach von dieser
Haltung die Sachlichkeit ab, mit der er die Sitzung führte. Obwohl
durchdrungen von dem Gefühl seiner Göttlichkeit, prüfte er mit
gutem Menschenverstand die Gründe und Gegengründe, welche seine
Herren vorbrachten.
Man behandelte zunächst jene
Gesetzesvorlage, welche die Oberaufsicht über Sitte und Senat für
immer auf den Kaiser übertragen, die Rechte der mitregierenden
Körperschaft aufs Formale einschränken, die absolute Monarchie zur
Realität machen sollte. Bis in jede stilistische Kleinigkeit
arbeitete man die Argumente aus, mit denen man diese Vorlage
begründen wollte. Sodann überlegte man, wie man die Grundlinien des
Kriegs- und des Friedensetats in Einklang bringen könnte. Da galt
es einerseits dem Festungsbaumeister Frontin große Summen zur
Verfügung zu stellen für die Fortführung des Walles gegen die
germanischen Barbaren, andernteils den an die Front gehenden
Truppenteilen hohe Prämien und Sonderlöhnungen zu konzedieren. Aber
man konnte auch nicht ohne weiteres die großangelegten
Bauunternehmungen in der Stadt und in den Provinzen stillegen, wenn
man nicht das Prestige des Kaisers gefährden wollte. Wo also konnte
man sparen? Und wo und auf welchem Gebiet konnte man noch
Steuererhöhungen durchführen, ohne die Untertanen zu heftig zu
bedrücken? Weiter setzte man fest, welche Maßnahmen man gegen die
unsichern Provinzen ergreifen, welche Privilegien man ihnen geben
oder nehmen sollte. Umständlich ferner beriet man, wieweit man die
Vorschriften mildern könnte, die den Weinbau zugunsten des
Getreidebaus einschränken sollten; man wollte diese notwendige
Reform nicht allzu unpopulär werden lassen. Besonders lange
schließlich verweilte man bei den geplanten Sittengesetzen:
Verordnungen, die der zunehmenden Emanzipation der Frauen steuern,
Bestimmungen, die den Kleiderluxus einschränken, Vorschriften, die
eine schärfere Kontrolle der Schauspiele ermöglichen sollten.
Wieder einmal mußten die Räte erkennen, daß es nicht etwa Heuchelei
war, wenn Domitian von seiner erzpriesterlichen Sendung sprach,
altrömische Zucht und Tradition mit den strengsten Mitteln
wiederherzustellen. So unbedenklich er den eigenen maßlosen
Begierden frönte, so tief war er durchdrungen von seiner Sendung,
sein Volk zur Sitte und zum religiösen Herkommen der Altvordern
zurückzuführen. Römische Zucht und römische Macht sind das gleiche,
das eine kann ohne das andere nicht bestehen, die strenge Sitte ist
die Basis des Imperiums. Steif und kaiserlich saß er da und führte
das aus, eine redende Statue. Ausstrahlte von ihm die tiefe
Überzeugtheit von seiner Mission, und den andern, obwohl sie das
Schauspiel des sich offenbarenden Gottes Domitian nicht das
erstemal erlebten, wurde es beinahe unheimlich vor seiner
Besessenheit.
Mit Ausnahme dieser einen aber
erwog man alle Fragen sachverständig unter der sachverständigen
Leitung des Kaisers und ohne Ressentiment des einen gegen den
andern. Domitian hatte es verstanden, sich und seine Räte zu einem
Organismus zu verschmelzen, der mit einem einzigen Gehirn dachte.
Es wurde eine lange Sitzung, alle sehnten sich nach Entspannung,
doch eine Unterbrechung gönnte der Kaiser weder sich noch seinen
Räten.
Und selbst als er die erschöpften
Herren entließ, behielt er den Norban noch zurück. Er hätte
freilich klug daran getan, sich ein wenig auszuruhen. Vor ihm lag
zunächst eine anstrengende Familientafel – der Menschenkenner
Aelius hatte recht gehabt, der Kaiser wollte Lucia zuerst im Kreise
der Familie sehen – und dann die erhoffte und gefürchtete
Auseinandersetzung mit Lucia. Allein es war gerade um dieser
Auseinandersetzung willen, daß Domitian noch mit seinem
Polizeiminister reden wollte. Der war nun einmal der einzige, der
ihm Mate rial geben konnte, Material gegen Lucia, das ihm
vielleicht bei der großen Aussprache dienlich wäre. Doch Norban
blieb auch heute einsilbig, und der Kaiser brachte auch heute seine
Frage nicht über die Lippen. Er wartete darauf, daß Norban von
allein sprechen sollte; es war niederträchtig von ihm, daß er
seinen Kaiser nicht informierte, auch ungefragt. Allein Norban
hatte seinen harten Kopf, er sprach nicht.
Seufzend gab es der Kaiser auf,
von ihm etwas über Lucia zu hören. Da er ihn aber nun einmal
dahatte, fragte er ihn wenigstens über Julia aus. Sein Verhältnis
zu dieser seiner Nichte Julia war zwiespältig und wechselnd. Titus,
sein Bruder, hatte ihm seinerzeit seine Tochter Julia als Frau
angetragen, doch Domitian, damals danach trachtend, seines Bruders
Mitregent zu werden, hatte sich nicht auf solche Art abspeisen
lassen wollen. Dann aber hatte er sich, teils aus Haß gegen den
Bruder, teils weil ihm Julias lässig anmutige, füllige
Fleischlichkeit anzog, das Mädchen durch Gewalt und Überredung
gefügig gemacht. Auch nachdem Titus Julia mit dem Vetter Sabin
verheiratet hatte, ja gerade deshalb, hatte er diese seine
skandalösen Beziehungen zu ihr fortgesetzt. Nun war Titus tot,
Domitian hatte keine Ursache mehr, ihn zu ärgern, doch er hatte
sich mittlerweile an die blonde, träge, weißhäutige Julia gewöhnt.
Sie liebte ihn sichtlich, und in diese Liebe rettete er sich, wenn
der Ärger über den unangreifbaren Stolz der Lucia zu tief an ihm
fraß. Und je nach der Art, wie ihn Lucia behandelte, änderte sich
seine Neigung für Julia.
Nun war Julia schwanger. Er hatte
ihr vor einiger Zeit verboten, mit ihrem Manne Sabin, seinem
Vetter, zu schlafen, sie schwor, das Kind sei von ihm, nicht von
Sabin, und der Mann Domitian möchte das auch gerne glauben, aber
der Kaiser Domitian ist mißtrauisch. Oder vielleicht auch glaubt es
der Kaiser Domitian, denn ihn, den Gott, kann man nicht
hintergehen, aber der Mensch Domitian ist mißtrauisch. Über diese
seine Zweifel mit seinem Norban zu reden, trug er keine Scheu.
Lucia hatte ihm ein Kind geboren, aber es war im Alter von zwei
Jahren gestorben, und der Leibarzt Valens gab dem Kaiser keine
Hoffnung, von Lucia Nachkommenschaft zu erwarten. Es wäre
großartig, wenn Julia ihm ein Kind gebäre. Aber wer konnte ihm
sagen, ob die Frucht, die sie trug, wirklich sein Kind war? Niemals
wird er dessen ganz sicher sein können; denn wenn das Kind
flavische Merkmale welcher Art immer tragen wird, diese Merkmale
können von ihr selber stammen, von ihm und von Sabin. Wer behebt
seine Zweifel?
Norban war seinem Herrn nicht nur
tief ergeben, sondern ehrlich freund. Es wäre ihm eine ungeheure
Freude gewesen, wenn Domitian einen Sohn gehabt hätte, dem er den
Thron hätte vererben können. »Ich habe verlässige Leute im Hause
des Prinzen Sabin«, erklärte er, »Leute mit gutem Blick. Nicht um
der Prinzessin Julia, sondern um des Prinzen Sabin willen. Meine
Leute erklären mit Bestimmtheit, die beiden lebten wie Vetter und
Base, nicht wie Mann und Frau.« Der Kaiser richtete die etwas
vorquellenden Augen trüb und starr auf den Norban. »Du willst den
Herrn und Gott Domitian trösten«, antwortete er, »weil du dem Manne
Domitian freund bist.« Norban hob die breiten Schultern
eindrucksvoll und senkte sie wieder. »Ich berichte nur«, sagte er,
»was verlässige Leute mir berichten.«
»Auf alle Fälle ist es
ärgerlich«, meinte Domitian, »daß Sabin in der Welt ist, dieser
hochmütige Dummkopf. Von Natur ist er nur dumm. Daß er so hochmütig
geworden ist, daran ist Titus schuld gewesen. Ich sage dir, Norban,
mein Bruder Titus war im Grunde sentimental, bei all seinem
Geschmetter. Er hat den Sabin verhätschelt, aus
Familienrührseligkeit. Es war einfach idiotisch, daß er ihm die
Julia zur Frau gegeben hat.« – »Es ziemt mir nicht«, antwortete
Norban, »an dem Gotte Titus Kritik zu üben.« – »Ich sage dir«,
erwiderte ungeduldig der Kaiser, »er war häufig ein Idiot, der Gott
Titus. Der Hochmut dieses Sabin ist wirklich höchst ärgerlich.
Dieser Hochmut grenzt schon beinahe an Hochverrat.« – »Er hält sich
peinlich fern von jeder politischen Tätigkeit«, warf, beinahe
bedauernd, der Polizeiminister ein. »Das ist es eben«, sagte
Domitian. »Dafür spielt er den Mäzen lauter versnobter
Intellektueller, lauter Oppositioneller natürlich.« – »Ist das
Hochverrat?« überlegte Norban. »Ich glaube, es genügt nicht.« – »Er
hat seine Leute die weiße Livree tragen lassen, die dem Haushalt
des Kaisers vorbehalten ist«, führte Domitian weiter aus. »Das
genügt nicht«, beharrte Norban. »Er hat die weiße Livree wieder
abgeschafft, sowie Sie es ihm befohlen haben. Nein, was vorliegt,
genügt nicht«, schloß er. »Aber vertrauen Sie Ihrem Norban, mein
Gott und Herr«, redete er ihm zu. »Der Prinz Sabin ist von solcher
Art, daß bestimmt einmal etwas gegen ihn vorliegen wird. Und sobald
es soweit ist, vielleicht schon bei Ihrer Rückkehr aus dem Feldzug,
mein Gott und Herr, werde ich Ihnen sogleich berichten.«
Des Abends aß der Kaiser zunächst allein,
hastig und viel, denn er wollte satt sein, um bei der Familientafel
nicht durch Essen von der Beobachtung der andern abgelenkt zu
werden. Diese andern versammelten sich mittlerweile in dem kleinen
intim festlichen Saal der Minerva. Es waren Lucia, die beiden
Vettern des Kaisers, Sabin und Clemens, mit ihren Frauen Julia und
Domitilla, sowie die beiden kleinen Zwillingssöhne des
Clemens.
Die Garden klirrten die Spieße
zur Erde, Domitian betrat den Raum. Sah Lucia. Ihr kühnes, helles
Gesicht lachte ihn an, fröhlich, ein wenig spöttisch; ach nein, der
Aufenthalt auf der öden Insel hatte sie nicht gebändigt, nicht
verändert. Er war froh, nicht mit ihr allein zu sein.
Mit seinem steifen, mühsamen
Schritt ging er auf sie zu und küßte sie, wie er dem Zeremoniell
zufolge alle Anwesenden zu küssen hatte. Es blieb ein kurzer,
formeller Kuß, seine Lippen rührten kaum ihre Wangen. Doch unter
seinem Staatskleid spürte sie das starke Pochen seines Herzens. Er
hätte eine Provinz darum gegeben, zu wissen, ob sie dort auf ihrer
Insel mit einem andern geschlafen hatte. Warum hatte er seinen
Norban nicht befragt? Fürchtet er die Antwort?
Ein wildes, kaum zähmbares
Verlangen kam ihn an, die Narbe unter ihrer linken Brust zu sehen,
mit sanftem Finger darüber zu streichen. Er ist wahrlich ein großer
Herrscher, er ist ein Römer, daß er sich bezwingen und sich ruhigen
Gesichtes an die andern wenden kann, während er dieses ungeheure
Verlangen spürt.
Er umarmt also zunächst seinen
Vetter Sabin und küßt ihn, wie es der Brauch vorschreibt. Ein
widerwärtiges Mannsbild, dieser Sabin, so dümmlich wie eingebildet.
Aber Domitian kann sich auf seinen Polizeiminister verlassen. Der
Tag wird kommen, da er die Haut dieses Sabin nicht mehr an der
seinen wird spüren müssen.
Er wandte sich an Julia. Man sah
ihr von ihrer Schwangerschaft noch nichts an, aber hier waren alle
im Bilde. Sicher hat selbst Lucia schon davon gehört, und auch sie
wird sich jetzt fragen: Von wem ist das Kind, von Wäuchlein oder
von dem blöden Sabin? Des Kaisers ganzes Gesicht, wie er jetzt, die
Arme eckig nach hinten, den Bauch leicht eingezogen, auf sie
zuging, war überrötet; doch das wollte nichts besagen, er errötete
leicht und immerzu. Julias blaugraue Augen schauten ihm groß und
forschend entgegen. Sie hatte in diesen letzten Monaten weniger
unter seinen Launen zu leiden gehabt, aber mit ihrem guten,
nüchternen Verstand sah sie voraus, daß sich das ändern werde,
sowie er erst wieder mit Lucia zusammen sei. Da stand sie denn,
eine rechte Flavierin, raumfüllend, höchst existent. Aber wirkte
sie nicht etwas vulgär, wenn man sie an Lucia maß? Domitian küßte
sie, und ihre weiße, dünne Haut, ihm vor wenigen Tagen noch sehr
lieb, war ohne Reiz für ihn.
Nun begrüßte er mit Umarmung und
Kuß seinen jüngeren Vetter, Clemens, den sanften und faulen
Clemens, wie er ihn zu höhnen pflegte. Denn Clemens hatte sich nie
etwas aus Politik gemacht, er bezeigte keinerlei Ehrgeiz, die
freundliche Lässigkeit, die ihn ganz durchdrang, war dem Kaiser,
dem Wahrer römischen Wesens, ein Ärgernis. Die meiste Zeit
verbrachte Clemens auf dem Land, mit seiner Frau Domitilla und
seinen Zwillingssöhnen. Dort beschäftigte er sich mit der
pietistischen Doktrin einer jüdischen Sekte, mit der albernen Lehre
der sogenannten Minäer oder Christen, die sich allerhand von einem
jenseitigen Leben versprachen, da ihnen das diesseitige nicht der
Mühe wert schien. Domitian fand diese Doktrin abstoßend, weichlich,
weibisch, dumm, eines Römers ganz und gar unwürdig. Nein, beim
Herkules, er mochte auch den Vetter Clemens nicht. Aber etwas hatte
dieser ihm voraus, um eines beneidete ihn
Domitian. Das waren die Zwillinge, die vierjährigen Prinzen
Constans und Petron, die kleinen Löwen, wie Domitian die weichen,
geschmeidigen und kräftigen Knäblein gerne nannte. Die Dynastie
mußte fortleben, das war sein brennender Wunsch, weder Sabin noch
Clemens eigneten sich für den Thron, was aus Julia entspringen
werde, wußte man noch nicht, vorläufig also waren die Zwillinge
alles, woran sich Domitian halten konnte, und in seinem Innersten
spielte er mit dem Gedanken, sie zu adoptieren. Nur um ihretwillen
nahm er den Vetter Clemens hin. Der erwiderte übrigens des Kaisers
Abneigung und ließ sich Umarmung und Kuß sichtlich nur mit
Widerstreben gefallen.
Mehr reizte und belustigte den
Kaiser des Vetters Frau, Domitilla, die er als letzte mit dem Kuß
begrüßte. Eine Tochter seiner früh verstorbenen Schwester, hatte
auch sie gewisse flavische Eigenschaften, blonde Haare und starkes
Kinn. Doch war sie dünn, in jeder Hinsicht dünn, und karg auch von
Worten. Freilich waren ihre hellfarbigen Augen beredt, ja
fanatisch. Von Domitian sprach sie verächtlich nur als von »Jenem«,
selbst »Wäuchlein« war ihr noch zu gut für ihn, und der Kaiser
brauchte nicht seinen Norban, um zu wissen, daß Domitilla in ihm
das Prinzip des Bösen sah. Bestimmt war sie es, die in ihrem
schwachen Mann seine passive Feindseligkeit nährte, die zähe,
stille Sanftheit seines Widerstands. Bestimmt war sie es, die ihn
in die Gemeinschaft mit jener anrüchigen jüdischen Sekte
hineintrieb. Der Kaiser, wie er Domitilla jetzt küßte, schloß sie
fester in seine Arme als die andern. Es lag ihm nichts an ihr, doch
um sie zu ärgern, beließ er es gerade bei ihr nicht bei dem
zeremoniellen Kuß, sondern umfaßte die Widerstrebende lang und
herzhaft.
Bei Tafel war er gesprächig und
angenehmer Laune. Zwar versagte er sich’s nicht, seine Vettern
Sabin und Clemens und Domitilla auf die gewohnte Art zu hänseln.
Aber er nahm es nicht übel, daß ihn Lucia anzüglich um seiner
Mäßigkeit willen lobte und anerkennend feststellte, sein Bauch habe
nur wenig zugenommen. Auch sprach er mit ernster Besorgtheit auf
Julia ein, sie möge ihres Zustandes wegen auf sich achten, von
dieser Speise essen und von jener nicht. Vor allem aber scherzte er
mit den Zwillingen. Sanft strich er ihnen über das helle, weiche
Haar – »meine kleinen Löwen«, sagte er. Die Prinzen ließen sich das
gern gefallen, offensichtlich erwiderten sie die Neigung ihres
Onkels. »Das Volk, die Soldaten und die Kinder lieben mich«,
stellte der Kaiser zufrieden fest. »Alle, die unverdorbene
Instinkte haben, lieben mich.« – »Habe ich verdorbene Instinkte?«
fragte Lucia zurück. Und Julia, freundlich und gelassen, erkundigte
sich: »Heißt das, daß Sie unsern Gott Domitian nicht lieben, meine
Lucia, oder heißt es, daß Sie ihn trotz Ihrer verdorbenen Instinkte
lieben?«
Als die Tafel aufgehoben und die
andern gegangen waren, fühlte sich Domitian besser gerüstet für das
Gespräch mit Lucia. Trotzdem fand er, wie sie allein waren, keinen
rechten Anfang. Lucia sah es, und ein Lächeln breitete sich über
ihr Gesicht. So begann denn sie das Gespräch und nahm damit seine
Führung in die Hand. »Ich habe«, sagte sie, »Ihnen eigentlich zu
danken für meine Verbannung. Als ich erfuhr, daß Sie mir nicht
einmal Sizilien, sondern das öde Pandataria zum Exil bestimmt
hatten, war ich, ich gestehe es, verärgert und fürchtete, es werde
recht langweilig werden. Statt dessen ist mir die Insel zu einem
Erlebnis geworden, das ich nicht missen möchte. Angewiesen auf das
Dutzend Mitverbannter und auf die eingeborene proletarische
Bevölkerung, habe ich entdeckt, daß der Aufenthalt auf einer
solchen öden Insel dem Innenleben ihrer Bewohner viel förderlicher
ist als etwa der Aufenthalt in Alba oder auf dem Palatin.« Ich
werde trotz allem den Norban fragen, sagte sich verbissen Domitian,
ob und mit wem sie es dort getrieben hat. »Als Sie geruhten«, fuhr
Lucia fort, »mich zurückzurufen, habe ich das beinahe bedauert.
Dabei will ich gar nicht leugnen, daß jetzt, nach dem öden
Pandataria, unser Alba mir Freude macht.«
»Ich hätte die Gesetze über den
Ehebruch strenger anwenden sollen«, meinte, stark überrötet,
Domitian. »Ich hätte mich Ihrer entledigen sollen, Lucia.« – »Sie
sind launisch, mein Herr und Gott«, gab ihm Lucia zurück, und das
Lächeln wich nicht von ihrem Antlitz. »Erst rufen Sie mich zurück,
und dann sagen Sie mir solche Grobheiten. Und finden Sie es nicht
etwas primitiv, einem immer gleich mit so blutigen Lösungen zu
kommen?« Sie trat nahe an ihn heran, sie war größer als er, sie
strich ihm leicht über das spärlicher werdende Haar. »Das ist
schlechter Geschmack, Wäuchlein«, sagte sie, »das zeugt nicht von
guter Rasse. Übrigens habe ich keine Angst vor dem Tod. Ich denke,
Sie wissen das. Wenn ich jetzt sterben müßte, wäre es kein zu hoher
Preis für das, was ich vom Leben gehabt habe.« Sie hatte allerhand
aus ihrem Leben herauszuholen gewußt, das mußte Domitian zugeben.
Und Angst vor dem Tod hatte sie wirklich nicht, er hatte es
erprobt. Und auch, daß sie noch aus ihrer Verbannung Gewinn zu
ziehen vermocht hatte, glaubte er ihr. Nein, man konnte sie nicht
zähmen, man konnte ihrer nicht Herr werden. Immer von neuem empörte
ihn die Kühnheit, mit der sie zu ihren Taten stand, doch immer von
neuem auch unterwarf ihn diese Kühnheit.
Er versuchte, sich stark zu
machen gegen sie. Sie war ersetzbar, das hatte ihre Abwesenheit
gezeigt. War ihm nicht Julia mittlerweile mehr geworden als eine
Bettgenossin? Und erwartete er nicht ein Kind von Julia? Und hatte
nicht auch er allerhand aus seinem Leben gemacht in ihrer
Abwesenheit? »Auch ich habe einiges geschafft, während du fort
warst, Lucia«, sagte er grimmig. »Rom ist römischer geworden, Rom
ist mächtiger geworden, stärker, und es ist jetzt mehr Zucht in
Rom.« Lucia lachte einfach. »Lache nicht, Lucia!« sagte er, und es
war Bitte und Befehl. »Es ist so.« Und
wieder weicher, fast flehend: »Ich hab es auch deinethalb getan,
ich hab es für dich getan, Lucia.«
Lucia saß still da und schaute
ihn an. Sie durchschaute, was an ihm klein und lächerlich war, aber
sie sah auch seine Kraft und seine Eignung zum Herrschen. Soviel
hatte sie erkannt: es mußte einer, wenn sich in ihm so ungeheure
Fülle an Macht vereinigte wie in diesem ihrem Domitian, ein sehr
großer Mann sein, um nicht das Maß zu verlieren. Gemeine Vernunft
konnte sie von ihm nicht verlangen. Sie verlangte sie nicht.
Zuzeiten sogar liebte sie ihn um seines Wahnes willen, es rede und
handle aus ihm der Gott. Es schien ihr ein wenig verächtlich, daß
er es nicht über sich brachte, sie zu töten; gleichwohl hatte sie
sich während ihrer Verbannung häufig nach ihm gesehnt. Sie sah ihn
an, nachdenklich, mit trüberen Augen: sie freute sich darauf, mit
ihm zu schlafen. Aber sie war sich klar: sie mußte, was von ihm zu
fordern sie sich vorgenommen hatte, jetzt von ihm erreichen,
vorher. Später, hernach, wird es zu spät sein, und sie wird dann
jahrelang mit ihm herumzukämpfen haben. Sie hatte sich genau
zurechtgelegt, was sie von ihm verlangen wollte, und der gescheite
Claudius Regin hatte ihr recht gegeben.
»Sie sollten mir endlich das
Ziegeleimonopol übertragen«, sagte sie also statt einer Antwort.
Domitian war ernüchtert. »Ich spreche Ihnen von Rom und Liebe, und
Sie antworten mir: Geld«, beklagte er sich. »Ich habe«, erwiderte
sie, »während der Verbannung gelernt, wie wichtig Geld ist. Selbst
auf meiner öden Insel hätte ich mir und den andern mit Geld vieles
erleichtern können. Es war unfreundlich von Ihnen, meine Bezüge zu
sperren. Bekomme ich das Ziegeleimonopol, Wäuchlein?« sagte
sie.
Er dachte an die Narbe unter
ihrer Brust, er war erfüllt von Wut und Begier. »Schweig!«
herrschte er sie an. »Ich denke gar nicht daran«, beharrte sie,
»ich rede jetzt von dem Ziegeleimonopol. Und du kommst nicht
weiter, ehe du mir ein klares Ja gesagt hast. Bilde dir nur ja
nicht ein, du habest mich mürbe gemacht mit deinem Pandataria.
Sicher hast du geglaubt, ich werde die ganze Zeit an das
scheußliche Schicksal der Octavia denken oder der Julia des
Augustus« – er überrötete sich, gerade das hatte er gewollt –,
»aber da hast du dich geirrt. Und wenn du mich nochmals
hinschickst, dann werde ich auch nicht anders werden, und genau wie
für mich jene Julia eine lustvolle Erinnerung war, so soll eine
spätere Verbannte dieser Insel auch an mich eher mit Neid denken
als mit Schrecken.« Das waren Andeutungen, die dem Domitian nun
vollends zeigten, wie machtlos er vor dieser Frau war. Er suchte
nach einer Erwiderung. Allein ehe er eine fand, kam sie zurück auf
ihre Forderung, und ungestüm drang sie auf ihn ein: »Glaubst du, du
allein brauchst Glanz? Wenn du schon größer bauen willst als die
vor dir, dann will ich auch was davon haben. Bekomme ich das
Ziegeleimonopol?«
Er mußte ihr das Monopol
überlassen, und während dieser Nacht bereute er es nicht
einmal.
Die Bestimmungen, welche der Kabinettsrat des
Kaisers gutgeheißen hatte, bedurften, um Gesetz zu werden, der
Zustimmung des Senats. Die Bestimmungen wurden also zusammengefaßt
in vier Vorlagen, und schon wenige Tage nach dem Kabinettsrat wurde
der Senat einberufen, um darüber zu beraten.
Da standen und saßen sie denn
herum, die Berufenen Väter, unausgeschlafen, in der weißen,
großartigen, riesigen Halle des Friedenstempels, in der die Sitzung
stattfand. Es war früh am Morgen, die Tagung sollte pünktlich mit
Sonnenaufgang beginnen, denn nur zwischen Sonnenaufgang und
-niedergang durfte der Senat beraten, und man mußte, um die vier
Gesetze zu debattieren und zu beschließen, die Zeit
nutzen.
Es war ein sehr kalter Tag, die
Kohlenbecken vermochten die weiten Hallen nicht zu erwärmen. Die
Herren warteten herum in ihren Purpurmänteln und purpurgesäumten
Kleidern, flackerig belichtet von den vielen Leuchtern und von den
Kohlenbecken, schwatzend, hüstelnd, frierend, sie vertraten sich
die Füße, die in den hochgesohlten, unbequemen, prunkenden Schuhen
staken, und sie suchten die Hände an den mit heißem Wasser
gefüllten Behältern zu wärmen, die sie in den Ärmeln ihrer
Galakleider trugen.
Den meisten unter ihnen war es
eine höllische Erniedrigung, daß sie nun auch noch diese kleinen
Widrigkeiten auf sich nehmen mußten, nur um in feierlicher Tagung
Gesetze zu beschließen, die sie für immer entmachten und der
Willkür dieses Domitian preisgeben sollten, des maßlos frechen
Urenkels des kleinen Bürobeamten. Doch auch die Tapfersten hatten
nicht gewagt fernzubleiben.
Hier und dort führte man
mißmutige, gedämpfte Gespräche. »Das Ganze ist Schande und
Scheiße«, brach plötzlich der Senator Helvid aus, und er wollte,
der hagere, große, verwitterte Herr, den Saal verlassen. Mit Mühe
hielt ihn Publius Cornel zurück. »Ich verstehe es, mein Helvid«,
sagte er und ließ den Ärmel des andern nicht fahren, »daß Sie mit
diesem Senat nichts zu tun haben wollen. Wir alle möchten uns am
liebsten den Purpurstreif abreißen, unter diesem Kaiser. Aber was
ist erreicht, wenn Sie jetzt mit großer Gebärde von hier weggehen?
Der Kaiser würde es Ihnen als frechen Trotz aus legen, und Sie
würden es zu zahlen haben, früher oder später. Das ängstliche,
geduckte Leben, das wir führen müssen, ist kein Leben, wie viele
unter uns zögen einen blendenden, großartigen Untergang vor. Aber
ein ostentativer Märtyrertod ist sinnlos. Bleiben Sie vernünftig,
mein Helvid. Es ist wichtig, daß diejenigen, welche die Freiheit
lieben, diese Zeit überleben. Es ist wichtig, daß sie am Leben
bleiben, auch wenn es ein erbärmliches Leben ist.« Cornel war viel
jünger als Helvid, er war einer der jüngsten unter den Senatoren,
doch trotz seiner Jugend zeigte sein Gesicht finstere, starke
Falten. Statt daß er mir zuredet, dachte er, als er den Helvid
sanft auf seinen Platz zurückgedrängt hatte, muß ich ihn
besänftigen. Freilich habe ich es leichter als er. Ich bin da,
aufzuschreiben, was unter dem Tyrannen geschieht. Sagte ich mir das
nicht immerzu vor, dann wüßte ich auch nicht, wie ich dieses Leben
ertragen sollte.
Endlich, wenige Minuten vor
Sonnenaufgang, traf Domitian ein. Die Türen des Gebäudes wurden
weit aufgetan, damit die Öffentlichkeit der Sitzung hergestellt
sei, und alles Volk sah den Kaiser prunken auf seinem erhöhten
Sitz. Purpurn und golden thronte er, gewillt, so auszuharren bis
zum Ende der Tagung. Er wünschte, daß die vier Gesetze, die heute
zur Debatte standen, seine Gesetze, mit allem Pomp beraten und
beschlossen würden.
Das wichtigste unter diesen
Gesetzen, jenes, das dem Kaiser auf Lebenszeit die Zensur zusprach,
das Amt, Mitglieder des Senats aus dieser Körperschaft
auszuschließen, stand als drittes auf der Tagesordnung. Begründet
wurde die Vorlage von dem Senator Junius Marull, dessen Namen das
Gesetz tragen sollte. Der alte, elegante Herr hatte heute einen
guten Tag und fühlte sich jung. Er, der sich mit solcher
Leidenschaft so viele entlegene Sensationen bereitet hatte, kostete
es aus, den puritanischen Kollegen den feindseligen Hohn
heimzuzahlen, mit dem sie oft über ihn, den »frivolen, raffinierten
Lüstling«, hergefallen waren. Feierlich sitzend und zerfressen von
Grimm, mußten sich’s die republikanisch konservativen Senatoren
mitanhören, wie ihr Kollege Marull, der große Anwalt, mit
scheinbarer Sachlichkeit dartat, daß die Stabilität der
Staatsführung es dem Senat einfach zur Pflicht mache, dem Kaiser
die Zensur auf Lebenszeit zu übertragen, und daß das Reich in
seinem Bestand bedroht sei, wenn man dem Herrn und Gott Domitian
diese Oberaufsicht nicht zubillige.
Der Senator Priscus hörte zu, die
Hände in den Ärmeln seines Staatskleides verschränkt. Aus kleinen,
tiefliegenden Augen blinzelte er auf den beredten Marull, den
runden, völlig kahlen Kopf hielt er steif. Oh, er sprach gut,
dieser Marull, er sprach sehr gut für eine höchst niederträchtige
Sache. Wie gerne hätte er, Priscus, selber ein Mann des Wortes,
diesem Marull geantwortet, es gab viel zu antworten, sehr
Treffendes, und er hätte es herrlich formulieren können. Allein er
mußte schweigen, der Senator Priscus, unter diesem Kaiser Domitian
war er verurteilt, zu schweigen. Ein einziger, armseliger Trost
blieb ihm: er wird nach der Sitzung nach Hause gehen und das, was
er zu sagen hat, niederschreiben. Dann, später einmal, bei guter
Gelegenheit, wird er es behutsam und flüsternd in einem Kreis
zuverlässiger Freunde vorlesen, und wenn es ganz gut geht, dann
wird er dem frechen Marull sein Manuskript in die Hände spielen.
Traurige Vergeltung.
Der Senator Helvid, Sohn jenes
Helvid, den des Kaisers Vater hatte töten lassen, knirschte mit den
Zähnen und zerbiß sich die Lippen, wie er die niederträchtigen,
eleganten Sätze des Marull mitanhören mußte. Schließlich konnte er
sich nicht mehr bezähmen. Er vergaß die Warnungen des Cornel, er
erhob sich, der große, hagere, verwitterte Herr, und mit gewaltiger
Stimme rief er dem Marull zu: »Frechheit, freche Lüge!« Marull
unterbrach sich, die hellen, blaugrauen Augen richtete er auf den
Zwischenrufer, ja, er führte den blickschärfenden Smaragd ans Auge.
Der Kaiser selber drehte langsam, sich rötend, dem Helvid den Kopf
zu. Den Helvid aber hatte Cornel auf seinen Sitz zurückgezogen, und
da saß er und sagte nichts mehr.
Als Marull zu Ende war, schritt
man zur Beratung. Der amtierende Konsul rief jeden der Senatoren
bei seinem Namen auf, in der Reihenfolge ihrer Anciennität, und
fragte: »Was ist Ihre Meinung?« Gerne hätte da mancher geantwortet:
Dieses Gesetz ist der Verderb des Reiches und der Welt. Allein
keiner antwortete so. Vielmehr erklärte gehorsam ein jeder: »Ich
stimme dem Junius Marull bei«, und höchstens der Ton der Stimme
verriet Scham, Bitterkeit, Empörung.
Helvid, in der Pause nach der
Abstimmung über dieses dritte Gesetz, sagte zu Cornel: »Wenn unsere
Altvordern zeitweise das Höchstmaß an Freiheit erleben durften, so
haben wir jetzt das Höchstmaß an Knechtschaft erlebt.«
Bei der Beratung der vierten
Vorlage, der letzten, des neuen, verschärften Sittengesetzes, nahm
der Kaiser selber das Wort. Wenn es um Zucht und Tradition ging,
dann verlangte es ihn danach zu reden. Er fand denn auch würdige,
kräftige, sehr römische Sätze, um wieder einmal seine Überzeugung
zu bekennen von der innigen Verbindung von Zucht und Macht. Die
Sitte, führte er aus, sei die Grundlage des Staates, das Verhalten
eines Menschen bestimme seine Gesinnung, und wenn man sein
Verhalten bessere, wenn man ihn zwinge, sich sittlich, anständig zu
verhalten, dann bessere man auch seine Seele und seine Art. Zucht
und Sitte seien die Voraussetzung jeder staatlichen Ordnung, die
Disziplin der Bürger sei die Grundlage des Imperiums. Selbst die
oppositionellen Senatoren mußten zugeben, daß der Nachfahr des
kleinen Bürobeamten mit Würde sprach und sehr kaiserlich.
Die Wände der länglich runden
Halle entlang reihten sich ernsthaft die Standbilder der großen
Dichter und Denker, unter ihnen die Büste des Schriftstellers
Flavius Josephus, des Juden, die Kaiser Titus hier hatte aufstellen
lassen. Leicht über die Schulter gedreht, hoch und hochfahrend,
hager, fremdartig schimmernd, augenlos, voll wissender Neugier,
wohnte der Kopf des Josephus der Sitzung bei.
Endlich war auch das letzte
Gesetz beraten und beschlossen, und der amtierende Konsul konnte
die Versammlung entlassen mit der Formel: »Ich halte Sie nicht
länger auf, Berufene Väter.«
Zehn Tage später, wie es
Vorschrift war, wurden vier Erztafeln, in welche der Wortlaut der
vier neuen Gesetze eingegraben war, im Staatsarchiv hinterlegt, und
damit hatten die vier Gesetze Geltung erlangt. Von diesem Tage an
hatte der Imperator Cäsar Domitianus Augustus Germanicus auf
Lebenszeit
die Befugnis, Mitglieder des Senats aus dieser
Körperschaft auszuschließen.
In dem unansehnlichen Hause des Josef
erschien zum großen Staunen der Nachbarn ein kaiserlicher Kurier.
Er überbrachte dem Josef die Einladung, sich andern Tages auf dem
Palatin einzufinden.
Josef selber war mehr verwundert
als ängstlich. In den letzten Jahren hatte der Kaiser höchstens
gelegentlich ein flüchtiges Wort für ihn gehabt, niemals mehr. Es
war merkwürdig, daß er ihn jetzt, unmittelbar vor seiner Abreise,
mitten im Drange der Geschäfte, noch zu sich beschied. Hing diese
Einladung, oder besser wohl, diese Vorladung, zusammen mit den
Dingen in Judäa? Allein Josef bemühte sich, auf dem Weg zum Palatin
jede Angst zu unterdrücken. Gott ließ es nicht zu, daß ihm etwas
geschah, bevor er sein großes Werk, die Universalgeschichte,
vollendet hatte.
Domitian trug, als Josef zu ihm
geführt wurde, den purpurnen Mantel über der Rüstung; gleich nach
der Unterredung mit dem Juden wollte er eine Deputation seiner
Senatoren und Generäle empfangen. So stand er, an eine Säule
gelehnt; der Stab, das Zeichen der Gewalt, lag neben ihm auf einem
kleinen Tisch. Der Raum war nicht groß; um so mächtiger wirkte die
Gestalt des Kaisers. Josef kannte Domitian genau noch aus der Zeit
her, da er ein Niemand war, ein Taugenichts, und da ihn sein Bruder
Titus nur als das »Früchtchen« bezeichnet hatte. Gegen seinen
Willen aber verschmolz jetzt dem Josef der Mann vor ihm in eines
mit den vielen Porträtstatuen, die rings aufgestellt waren; er war
nicht mehr das Früchtchen, er war Rom.
Der Kaiser war sehr freundlich.
»Kommen Sie näher, mein Josephus!« forderte er ihn auf. »Noch
näher! Kommen Sie dicht heran!« Er betrachtete ihn aus seinen
großen, kurzsichtigen Augen. »Man hat lange nichts mehr von Ihnen
gehört, mein Josephus«, sagte er. »Sie sind ein sehr stiller Mann
geworden. Waren Sie die ganze Zeit in Rom? Leben Sie ausschließlich
Ihrer Literatur? Und woran arbeiten Sie? Schreiben Sie weiter an
der Geschichte dieser Zeit?« Und, immer ehe Josef antworten konnte,
jetzt aber mit einem kleinen, bösartigen Lächeln: »Werden Sie
beschreiben, welche Wirkungen meine Maßnahmen auf Ihr Judäa
haben?«
Der Kaiser, nun er zu Ende
gesprochen, hielt den Mund noch ein wenig geöffnet, wie auf den
meisten seiner Statuen. Ruhig und nachdenklich schaute ihm Josef
ins Gesicht. Er wußte, wie verächtlich der Vater und der Bruder
dieses Mannes über ihn gedacht hatten, und Domitian wußte, daß er
es wußte. Er hatte, dieser Domitian, das starke, vorspringende Kinn
des Vaters. Er war als Jüngling eine stolzere Erscheinung gewesen
als Vater und Bruder, aber jetzt hatte er, sah man genauer hin, mit
seinen Statuen nur mehr wenig gemein. Wenn man die Attribute der
Macht abzog, wenn man sich ihn als entkleidet seiner Macht
vorstellte, einfach als nackten Mann, was blieb dann? Wenn nicht
Rom, das riesige, gewaltige, hinter ihm stand, was war er dann als
ein Mensch in mittleren Jahren mit wulstigem Mund, dünnen Beinen,
vorzeitigem Bauch und vorzeitiger Glatze? Er war Wäuchlein. Und
dennoch war er auch der Imperator Domitianus Germanicus, und
Rüstung und Purpur und Stab gewannen Leben erst durch
ihn.
»Ich schreibe an einer
ausführlichen Darstellung der Geschichte meines Volkes«, erwiderte
mit gleichmütiger Höflichkeit Josef. Wann immer er den Kaiser traf,
richtete der an ihn die gleiche Frage und gab er die gleiche
Antwort.
»Des jüdischen Volkes?« fragte
sanft und ein wenig tückisch Domitian und traf damit den Josef
tiefer, als er dachte. Und wieder, ehe Josef antworten konnte, fuhr
er fort: »Es könnte sein, daß die letzten Ereignisse Einwirkung
haben auch auf Ihr Judäa. Glauben Sie nicht?« – »Der Imperator
Domitian hat tieferen Einblick in die Ereignisse als ich«,
erwiderte Josef. »In die Ereignisse vielleicht, doch schwerlich in
die Menschen«, antwortete der Kaiser, mit dem Stabe spielend. »Ihr
seid ein schwieriges Volk, und es gibt kaum einen Römer, der sich
rühmen dürfte, euch wirklich zu kennen. Mein Gouverneur Pompejus
Longin ist ein guter Mann, kein schlechter Psycholog, und berichtet
mir regelmäßig, gewissenhaft und gründlich. Trotzdem – gib es zu,
mein Jude – verstehst du mehr als er und weißt besser Bescheid über
das, was in Judäa vorgeht.«
Eine kleine Angst flog den Josef
an, trotz seiner starken
Willensanspannung. »Ja, Judäa ist schwer zu
durchschauen«, begnügte er sich vorsichtig zu erwidern.
Jetzt lächelte Domitian tief,
lang und böse, so daß der andere dieses Lächeln wahrnehmen sollte.
»Warum sind Sie so zurückhaltend zu Ihrem Kaiser, mein Josephus?«
fragte er. »Sie wissen doch offenbar um einige Vorgänge in meiner
Provinz Judäa, von denen mein Gouverneur nichts weiß. Sonst hätten
Sie schwerlich einen gewissen Brief geschrieben. Muß ich Ihnen
sagen, was für einen Brief? Soll ich Ihnen Stellen daraus
zitieren?«
»Da Sie den Brief kennen,
Majestät«, antwortete Josef, »wissen Sie, daß er nichts enthält als
den Rat zur Vorsicht. Leuten, die vielleicht unvorsichtig sein
könnten, Vorsicht anzuraten, das, scheint mir, liegt im Interesse
des Reichs und des Kaisers.«
»Das mag sein«, sagte
träumerisch, immer mit dem Feldherrnstab spielend, der Kaiser, »das
mag aber vielleicht auch nicht sein. Du jedenfalls«, und seine
vollen Lippen verzogen sich hämisch, »scheinst es für nötig zu
halten, daß jetzt wieder einmal einer aufsteht und denen in Judäa
einen flavischen Feldherrn als Messias anpreist. Scheint euch Juden
das flavische Haus noch immer nicht fest genug zu sitzen?« Des
Kaisers großes, dunkelrotes Gesicht war jetzt unverstellt
feindselig.
Josef selber hatte sich gerötet.
Domitian hielt also jene Begebenheit von damals, da Josef den
Vespasian in entscheidender Stunde als Messias begrüßt hatte, für
einen abgemachten, ausgemachten Schwindel. Hielt ihn für käuflich,
für einen Verräter. Aber er darf jetzt nicht darüber nachdenken, im
Augenblick geht es um Dringlicheres. »Wir glaubten im Interesse des
Kaisers und des Reichs zu handeln«, erklärte er nochmals,
ausweichend, hartnäckig. »Ein wenig doch auch im Interesse eurer
Juden, mein Jude, und in euerm eigenen?« fragte Domitian. »Oder
nicht? Sonst hättet ihr euch doch wohl geradewegs an meine Beamten
und Generäle gewandt, sie gewarnt, sie informiert. Ihr wißt doch in
ähnlichen Fällen die Herren recht schnell zu finden. Aber ich kann
mir schon denken, was dahinter steckt. Ihr habt glätten wollen,
sänftigen, die Schuldigen vor der Strafe retten.« Er schlug mit dem
Stab kleine Schläge auf das Tischchen. »Ihr seid große Zettler und
Intriganten, das weiß man.« Die Stimme kippte ihm über. Sein
Gesicht war jetzt hochrot. Er bezwang sich und spann weiter, was er
vorhin begonnen hatte. »Die Schnelligkeit«, sagte er sanft und
bösartig, »mit der du dich damals in das Spiel meines Vaters
eingefügt hast, beweist Meisterschaft.«
Es traf den Josef, daß Domitian
nochmals auf jene Stunde zurückkam, da er den Vespasian als Messias
begrüßt hatte. Er hatte jenes Begebnis eingekapselt, er dachte
nicht gerne daran. Wieweit hatte er damals geglaubt? Wieweit hatte
er sich befohlen zu glauben? Deutlich sah er sich, wie er damals
vor Vespasian gestanden war, ein Gefangener, gefesselt,
wahrscheinlich fürs Kreuz bestimmt. Heraufbeschwor er die Wirrungen
von damals, wie es in ihm gearbeitet hatte, wie die prophetischen
Worte der messianischen Begrüßung aus ihm herausgebrochen waren.
Jede Einzelheit sah er wieder, den Vespasian, ihn mit seinen
hellen, blauen, forschender Bauernaugen musternd, den Kronprinzen
Titus, mitstenographierend, Cänis, des Vespasian Freundin,
mißtrauisch, feindselig. Er hatte geglaubt damals. Aber hatte er
nicht doch vielleicht Komödie gespielt, um sein Leben zu
retten?
Wenn er noch so tief in sich
hineingrub, er hätte nicht sagen können, wo in dem, was er damals
verkündet, die Wahrheit aufgehört und wo der Traum begonnen hatte.
Und ist nicht der Traum die höhere Wahrheit? Da ist diese
Geschichte der Minäer von dem Messias, der am Kreuze starb. Er, der
Historiker Flavius Josephus, sieht die Fäden, er kann die Legende
aufdröseln, er kann aufzeigen, aus welchen Einzelzügen sich die
Gestalt dieses Messias der Minäer zusammensetzt. Aber was hat er
damit gewonnen? Was bleibt ihm in der Hand als ein bißchen totes
Wissen? Und ist nicht schließlich der Messias der Minäer, dieser
geträumte, gedichtete Messias, vielleicht die bessere Wahrheit als
seine nur tatsächliche, nur historische? So auch wird niemand je
mit Sicherheit sagen können, wieweit der Messias, der damals in
seinem Innern entstand, dieser Messias Vespasian, der ja später
Wirklichkeit wurde, wieweit ihm dieser sein Traum-Messias von
Anfang an Wirklichkeit war. Er selber wird es nicht sagen können,
und dieser Kaiser Domitian, der da vor ihm sitzt und ihn höhnisch
anschaut, schon gar nicht.
»Was hast du eigentlich gegen
mich, mein Jude?« fragte jetzt dieser Kaiser Domitian weiter, immer
mit hoher, sanfter Stimme. »Meinen Vater und meinen Bruder hast du
gut bedient: glaubst du, ich bin ein schlechterer Zahler? Hältst du
mich für knauserig? Du wärest der erste. Ich zahle nämlich wirklich
gut, Flavius Josephus, notieren Sie sich das für Ihr
Geschichtswerk, ich zahle hoch, im Guten und im Schlechten.« Josef
war ein wenig erblaßt, aber er schaute dem Kaiser ruhig ins
Gesicht. Der ging nah an Josef heran, er ging steif im goldenen
Purpur, es war, wie wenn eine prächtige, wandelnde Statue auf Josef
zukäme. Dann, freundschaftlich, vertraulich, schlang der golden und
purpurne Mann den Arm um Josefs Schulter, und, schmeichlerisch,
redete er ihm zu: »Wenn du mir ernstlich dienen wolltest, mein
Josephus, dann hättest du jetzt gute Gelegenheit. Geh nach Judäa!
Nimm du den Aufstand in die Hand, wie du ihn damals vor zwanzig
Jahren in die Hand genommen hast. Rom ist zum Herrschen bestimmt,
du weißt es nicht weniger gut als ich. Es hat keinen Sinn, sich
gegen die Vorsehung zu stemmen. Hilf dem Schicksal. Hilf uns, daß
wir zur rechten Zeit zuschlagen können, wie du uns damals geholfen
hast. Hilf dem rechten Augenblick, wie du damals im rechten
Augenblick deinen Messias erkannt hast.« Es war ein höllischer Hohn
in der Sanftheit dieser Worte.
Josef, aufs tiefste erniedrigt,
antwortete, beinahe mechanisch: »Wünschen Sie denn, daß Judäa
losschlägt?« – »Ich wünsche es«, erwiderte der Kaiser leise, sehr
sachlich, noch immer hatte er den Arm um die Schulter des Josef.
»Ich wünsche es auch im Interesse deiner Juden. Du weißt, sie sind
Narren, und einmal schlagen sie los, auch wenn die Vernünftigen
ihnen noch so dringlich abraten. Es ist besser für alle, wenn sie
bald losschlagen. Es ist besser, wenn wir jetzt fünfhundert Führer
erledigen statt später fünfhundert Führer und hunderttausend
Gefolgsleute dazu. Ich will, daß in Judäa Ruhe sei«, schloß er hart
und heftig.
»Kann die Ruhe nicht anders
erkauft werden als mit soviel
Blut?« fragte leise, peinvoll
Josef.
Da aber ließ Domitian von ihm ab.
»Ich sehe, du liebst mich nicht«, stellte er fest. »Ich sehe, du
willst mir keinen Dienst erweisen. Du willst deine alten
Geschichten aufschreiben zur größeren Ehre deines Volkes, aber für
meine größere Ehre willst du keinen Finger rühren.« Er saß wieder
da, mit dem Feldherrnstab führte er leichte Schläge durch die Luft.
»Du bist eigentlich sehr frech, mein Jude, weißt du das? Du
glaubst, weil du Ruhm und Schande zu verteilen hast, könntest du
dir allerlei herausnehmen. Aber wer sagt dir, daß mir soviel an
deiner Nachwelt liegt? Nimm dich in acht, mein Jude! Werde nicht
übermütig, weil ich dir so oft Großmut gezeigt habe. Rom ist
mächtig und kann sich viel Großmut leisten. Aber bleib dir bewußt,
daß wir ein Aug auf dir halten.«
Josef war kein furchtsamer Mann,
dennoch zitterten ihm die Glieder, als man ihn jetzt in seiner
Sänfte nach Hause trug, und der Gaumen war ihm trocken. Es war
nicht nur Erwartung des Bösen, das vielleicht Domitian über ihn
beschließen könnte. Es war auch, weil der Kaiser in ihm die
Erinnerung aufgestört hatte an jene zweideutige Begrüßung des
Vespasian. War, was er damals in schwerer Not um sein Leben
verkündet hatte, echt gewesen oder ein abenteuerlich frecher
Betrug? Er wußte es nicht, niemals wird er es wissen, und daß sich
seine Prophezeiung bewährt hatte, das wollte gar nichts heißen. Es
wollte andernteils auch nichts heißen, daß ihn dieser Domitian
dreist und schlankweg einen Schwindler nannte. Allein seine
Sicherheit war fort, und wenn die Angst, es könnten die Leute des
Polizeiministers Norban kommen und ihn holen, bald von ihm wich, so
kostete es ihn jetzt, nach dem Gespräch mit dem Kaiser, Wochen und
Monate, die Erinnerung an jene erste Begegnung mit Vespasian wieder
hinunterzudrücken. Sehr langsam nur beruhigte er sich und kehrte
zurück zu seiner Arbeit.
Am Tage nach dem Gespräch mit Josef ließ der
Kaiser den Janus-Tempel öffnen zum Zeichen, daß wieder Krieg sei im
Reich. Auseinander knarrten die schweren Türflügel, und es erschien
das Bild des zweigesichtigen Gottes, des Kriegsgottes, des
Zweifelgottes, man kennt den Anfang, aber niemand kennt das
Ende.
Die Römer übrigens nahmen
vorläufig den dakischen Krieg nicht sehr ernst. Ehrlich begeistert
säumten sie die Straße, auf welcher der Kaiser die Stadt verließ,
um zu Felde zu ziehen. Er wußte, seine Römer wünschten, daß er
repräsentiere, dunkel war in ihm das Bild der Reiterstatue, deren
Modell ihm der Bildhauer Basil gezeigt hatte, und er hielt sich gut
zu Pferde.
In seinem Innern freute er sich
darauf, außer Sichtweite zu sein und die Sänfte zu
besteigen.
ZWEITES KAPITEL
Während des Krieges
war es schwer, genaue Nachrichten vom dakischen Kriegsschauplatz zu
erhalten.
Mit Beginn
des Frühjahrs wurden die Meldungen häufiger, sie lauteten
widerspruchsvoll. Zu Anfang April dann traf in Rom eine Depesche
ein, in welcher der Kaiser seinem Senat über den bisherigen Verlauf
des Feldzugs genauen Bericht erstattete. Er habe, war das Ergebnis
dieses Berichtes, zusammen mit seinem Feldherrn Fuscus die
dakischen Barbaren endgültig vom römischen Territorium verjagt. Ihr
König Diurpan habe um Waffenstillstand gebeten. Bewilligt habe der
Kaiser diesen Waffenstillstand nicht, er habe vielmehr, um den
frechen Einbruch in römisches Gebiet zu rächen, den Fuscus
beauftragt, ins Gebiet der Daker vorzustoßen. An der Spitze von
vier Legionen habe demzufolge Fuscus die Donau überschritten und
sei ins Land der Daker eingefallen. Der Kaiser selber befinde sich,
nachdem der Feldzug so weit gefördert sei, auf dem Rückweg nach
Rom.
Noch weniger klar waren während
des Winters die Meldungen aus Judäa. Die Behörden erklärten, es
habe dort »Wirren« gegeben, aber der Gouverneur Pompejus Longin
habe dem Unfug mit seiner so oft erprobten starken Hand ein
schnelles Ende bereitet. Die jüdischen Herren, auch Claudius Regin,
hatten den Eindruck, man bemühe sich in Cäsarea, der Hauptstadt der
Provinz Judäa, die Dinge zu bagatellisieren.
Um so gespannter waren die
jüdischen Herren, als der Terrainhändler Johann von Gischala aus
Judäa zurückkam. Da saßen sie zusammen wie damals an jenem
sorgenvollen Abend im Hause des Josef, und Johann berichtete. Es
war in Judäa so gegangen, wie sie befürchtet hatten. Keine Warnung
hatte genützt, die »Eiferer des Tages« waren nicht zu halten
gewesen. Sie hatten einen großen Teil der Bevölkerung mitgerissen,
vor allem auch in Galiläa hatten zahllose die Armbinde angelegt mit
dem Kampfruf »Der Tag wird kommen!«. Aber es hatte sich rasch
gezeigt, daß der Tag noch keineswegs gekommen war, und nach ein
paar Anfangssiegen war ein grauenvoller Rückschlag erfolgt, der
Gouverneur hatte den längst gesuchten Vorwand gehabt
durchzugreifen, und er hatte seine Legionäre auch auf die ruhig
gebliebenen Teile der Bevölkerung losgelassen. »Ja, meine Herren,
wir sind aufs Johannisbrot gekommen«, schloß er grimmig, die Worte
gebrauchend, die man in Judäa für die Stufe äußersten Verfalls
anzuwenden pflegte.
Dann erzählte er Einzelheiten.
Erzählte von Metzelei und Plünderung, von niedergebrannten
Synagogen, von Tausenden von Gekreuzigten, von Zehntausenden von
Leibeigenen. »Die Aufgabe, meine Herren«, faßte er zusammen, »die
wir uns gestellt hatten, war so bitter wie aussichtslos. Sie machen
sich keine Vorstellung, wie es einen zerfrißt, wenn man dem andern
immerzu Argumente des Verstands unter die Nase halten soll, während
man doch diesem andern mit dem Herzen beipflichtet und ihn am
liebsten umarmen möchte. Es sind großartige Burschen, die ›Eiferer
des Tages‹, oder vielmehr, sie waren großartige
Burschen.«
Die wohlhäbigen, wohlgenährten,
sorgfältig angezogenen jüdischen Herren im Arbeitszimmer des Josef
hörten den Bericht des erregten Mannes und seine bittere Klage. Sie
schauten vor sich hin, ihre Augen schauten nach innen und sahen,
daß sie das, was sie da hörten, alles schon einmal erlebt hatten.
Das Grausigste an dem neuen Zusammenbruch war, daß man in Judäa aus
der Zerstampfung des ersten Aufstandes so gar nichts gelernt hatte,
daß sich die jüngere Generation mit der gleichen kühnen,
liebenswerten, verbrecherischen Torheit in den Untergang gestürzt
hatte wie die vor fünfzehn Jahren.
Schließlich gab in seiner
behutsamen Art der Möbelhändler Cajus Barzaarone der Furcht
Ausdruck, die in ihnen allen war. »In Judäa«, sagte er, »ist es zu
Ende. Ich frage mich, was mit uns hier geschehen wird.« Johann zog
mit der klobigen Bauernhand an seinem kurzen Knebelbart. »Ich habe
mich während der ganzen Reise gewundert«, sagte er, »daß man mich
hat heil nach Hause kehren lassen. Man hat mich übrigens«, erklärte
er grimmig, »geradezu gezwungen, Geld zu verdienen. Wenn ich kein
Aufsehen erregen wollte, mußte ich mich ab und zu mit meinen
Geschäften befassen, und die Terrains wurden einem nachgeworfen.
Sie hätten dabeisein müssen bei einer der Auktionen, auf denen das
enteignete oder sonstwie herrenlos gewordene Land versteigert
wurde. Es war grotesk und schauerlich. Wenn ich daran zurückdenke,
wenn ich zurückdenke an das, was sich in Judäa ereignet hat, dann
scheint es mir einfach unbegreiflich, daß ich unangefochten in
meinem Büro sitze und Geschäfte mache.«
»Auch ich«, sagte Cajus
Barzaarone, »erwache jeden Tag mit dem Gefühl: das geht so nicht
weiter. Heute fallen sie über uns her. Aber es ist Tatsache: wir
leben, wir wandeln und handeln wie früher.« – »Dabei weiß man auf
dem Palatin«, brütete Josef, »daß ich der Verfasser jenes
Manifestes bin, und der Kaiser hat mir auf dunkle und tückische Art
gedroht. Warum verhört man mich nicht? Warum verhört man keinen von
uns?«
Alle schauten auf Claudius Regin,
als ob sie von ihm Auskunft erwarteten. Der Minister zuckte die
Achseln. »Der Kaiser«, sagte er, »hat befohlen, seine Rückkehr
abzuwarten. Ob das Gutes bedeutet oder Schlechtes, weiß niemand,
wahrscheinlich nicht einmal DDD selber.«
Sie starrten vor sich hin. Es
hieß warten, einen grauen Morgen und einen grauen Tag und eine
graue Woche und einen grauen Monat.
Eine kleine Weile nach dieser Zusammenkunft
suchte Johann den Josef auf. Josef wunderte sich über diesen
Besuch. Es hatte eine Zeit gegeben, da die beiden Männer einander
wüst bekämpft hatten; allmählich dann hatten sich ihre Beziehungen
besänftigt, aber freundschaftlich waren sie nie geworden.
»Ich möchte Ihnen einen Rat
geben, Doktor Josef«, sagte Johann. »Ich bin interessiert an
Terraingeschäften, wie Sie wissen, und ich habe meinen Aufenthalt
in Judäa dazu benutzt, die Nase auch ein wenig in Ihre dortige
Wirtschaft zu stecken. Der Ertrag Ihrer Besitzungen bei Gazara
bleibt weit hinter dem Durchschnitt ähnlicher Güter zurück. Das
liegt daran, daß diese Güter in einem rein jüdischen Bezirk liegen
und die Juden Ihre Produkte boykottieren, weil sie Ihnen Ihr
Verhalten während des großen Krieges nicht verzeihen. Ich sage es,
wie es ist, und spreche nur aus, was jeder Interessierte weiß. Ihr
armer Verwalter, der übrigens ein fähiger Ökonom ist, findet kein
Ende, wenn er einmal angefangen hat, über diese vertrackte
Situation zu raunzen und zu lamentieren. Er hat mir vorgerechnet,
was alles er aus Ihren Gütern herauswirtschaften könnte, wenn sie
in einer vernünftigen Gegend lägen.« – »Das tun sie aber nun einmal
nicht«, sagte ablehnend Josef.
»Könnte man dem nicht abhelfen?«
erwiderte Johann, und auf seinem braunen, verwegenen Gesicht
erschien ein breites, pfiffiges Lächeln, das dieses ganze Gesicht,
selbst die gesattelte Nase, fältelte. »Es ist leider, wie ich Ihnen
bereits sagte, in Judäa infolge des Aufstands viel Grund und Boden
freigeworden. Da ist zum Beispiel das Gut Be’er Simlai. Es liegt in
der Nähe von Cäsarea, nicht weit von der samaritanischen Grenze,
also in einem Bezirk mit gemischter Bevölkerung. Der Viehbestand
ist nicht ganz so gut wie auf Ihren Gütern bei Gazara, aber der
Boden ist ausgezeichnet. Das Gut trägt Öl und Wein, Datteln,
Weizen, Granaten, Nüsse, Mandeln und Feigen. Sie finden ein solches
Objekt nicht leicht ein zweites Mal, selbst in diesen Zeiten nicht,
und Ihr Verwalter würde das große Hallel singen, wenn er das Gut
Be’er Simlai in die Hand bekäme. Ich habe mir Vorkaufsrecht darauf
gesichert. Ich biete Ihnen das Gut Be’er Simlai an, mein Josef.
Greifen Sie zu. Vor dem nächsten jüdischen Aufstand finden Sie eine
solche Gelegenheit nicht wieder.«
Das war richtig. Josef hatte, als
ihm Vespasian und Titus Grundbesitz in Judäa anwiesen, unglücklich
gewählt. Er hatte sich wirklich in ein Wespennest gesetzt, und was
ihm Johann riet, die Besitzungen bei Gazara abzustoßen und in eine
Gegend mit gemischter Bevölkerung zu übersiedeln, war das Gegebene.
Warum aber bot Johann dieses Gut Be’er Simlai gerade ihm an? Die
Grundstückspekulation in Rom hatte sich jetzt, nach Beendigung der
Wirren, mit besonderem Eifer auf Judäa gestürzt, und für Güter in
den Bezirken mit gemischter Bevölkerung gab es sicherlich Tausende
von Bewerbern. Warum erwies ihm Johann, den er so oft angefeindet,
einen solchen Freundschaftsdienst? »Warum bieten Sie gerade mir
dieses kostbare Gut an?« fragte er schlankweg, und in seiner Frage
war nach wie vor Ablehnung.
Johann schaute ihm mit gespielter
Treuherzigkeit in die Augen. »Die Regierung von Cäsarea«,
erläuterte er, »macht es Juden, wenn sie sich nicht besonderer
Protektion erfreuen, so gut wie unmöglich, Liegenschaften in nicht
rein jüdischen Bezirken zu erwerben. Wenn jetzt die dort gelegenen
Güter allesamt in die Hände von Heiden fallen, dann werden binnen
einem Jahr die Juden aus gewissen Gegenden völlig verschwunden
sein. Wer noch ein bißchen Judentum in sich hat, muß sich dagegen
auflehnen. Sie, mein Josef, sind römischer Ritter, Sie haben
Beziehungen zum Palatin, Ihnen wird die Regierung von Cäsarea
schwerlich Hindernisse in den Weg legen. Ich aber schanze das Gut
Be’er Simlai lieber Ihnen zu als zum Beispiel dem Hauptmann
Sever.«
»Ist das der ganze Grund?« fragte
immer mit dem gleichen Mißtrauen Josef. Johann lachte gutmütig.
»Nein«, gab er offen zu. »Ich will nicht länger Verstecken mit
Ihnen spielen. Ich will ehrlichen Frieden mit Ihnen schließen, und
ich will es Ihnen durch einen Freundschaftsdienst beweisen. Sie
haben mir manchmal unrecht getan und ich manchmal Ihnen. Aber
unsere Haare werden grauer, wir kommen einander näher, und die
Zeiten sind so, daß Männer, die soviel Gemeinsames haben, gut daran
tun, einander die Hand zu reichen.« Und da Josef schwieg, versuchte
er sich ihm weiter zu erklären: »Wir sitzen im gleichen Boot, wir
haben die gleichen Erkenntnisse. Meine ganze Sehnsucht ist, nach
Judäa zurückzukehren und dort Ölbauer zu sein. Ich könnte es. Aber
ich bezwinge mich und bleibe hier in Rom sitzen und verdiene
schrecklich viel Geld und weiß nichts damit anzufangen und verzehre
mich in der Sehnsucht nach Judäa. Und ich geh nur deshalb nicht
hin, weil ich mich dort nicht beherrschen könnte, sondern weiter
gegen die Römer wühlen würde, und weil das aussichtslos wäre und
ein Verbrechen. Und Ihnen geht es genauso, mein Josef. Sie sehnen
sich genauso nach Judäa und nach einem neuen Krieg. Wir wissen
beide, daß es dafür zu spät ist oder zu früh. Wir haben beide die
gleiche, unglückliche Liebe zu Judäa und zur Vernunft, wir leiden
beide an unserer Vernunft. Vieles an Ihnen gefällt mir nicht, und
vieles an mir wird Ihnen nicht gefallen, aber ich finde, wir sind
uns sehr nahe.«
Der Schriftsteller Josef
beschaute nachdenklich das Gesicht des Bauern Johann. Sie hatten
einander wütend befehdet. Johann hatte ihn für einen Verräter, er
den Johann für einen Narren gehalten. Später dann, nachdem der
Krieg längst zu Ende war, hatte der eine den andern als einen
Idioten verachtet, weil der die Gründe des Kriegs im Preis des Öls
und des Weines sah, der andere den einen für einen Idioten, weil
der geglaubt hatte, einzig der Zwiespalt zwischen Jahve und Jupiter
sei schuld am Kriege gewesen. Jetzt wußten der törichte
Schriftsteller und der kluge Bauer, daß sie beide recht und beide
unrecht gehabt hatten und daß schuld am Krieg zwischen den Juden
und den Römern sowohl die Preise des Öls und des Weines gewesen
waren wie der Zwiespalt zwischen Jahve und Jupiter. »Sie haben
recht«, gab Josef zu.
»Natürlich hab ich recht«, sagte
hitzig Johann, und rechthaberisch fügte er noch hinzu: »Übrigens
wäre es auch diesmal nicht zum Aufstand gekommen, wenn nicht die
privilegierten syrischen und römischen Agrarier die Preise der
eingesessenen jüdischen Bevölkerung so schmutzig unterboten hätten.
Ohne das hätten die ›Eiferer des Tages‹ das Land nicht in den
Aufstand treiben können. Wir wollen aber diesen alten Streit nicht
aufwärmen«, unterbrach er sich. »Geben Sie mir lieber die Hand und
bedanken Sie sich bei mir. Denn es ist wirklich ein
Freundschaftsdienst, wenn ich Ihnen das Gut Be’er Simlai
anbiete.«
Josef lächelte über die etwas
rauhe Art, wie ihm der andere seine Freundschaft anbot. »Sie werden
sehen«, fuhr Johann fort, »wie viele Probleme sich von selber
lösen, wenn Sie erst einmal Besitzer von Be’er Simlai sind.
Natürlich ist es kein Vergnügen, nach Gazara zu gehen und sich dort
von den Juden scheel anschauen zu lassen. Aber wenn Sie erst einmal
in Be’er Simlai zu Hause sind, dann haben Sie vor sich selber den
inneren Vorwand, ab und zu nach Judäa zu reisen. Nur lassen Sie
sich ja nicht dazu verführen, in Judäa zu leben! Tun Sie’s nicht,
um Gottes willen! Die Verlockung, sich dann in gefährliche
Unternehmungen einzulassen, ist zu groß für unsereinen. Aber alle
zwei Jahre einmal hinfahren, vor allem, wenn man einen innern
Vorwand hat, und sich dort erholen von der Anstren gung, zwei Jahre
vernünftig gewesen zu sein, ich sage Ihnen, mein Josef, das ist
eine gute Sache.«
Josef faßte die klobige Hand des
andern. »Ich danke Ihnen, mein Johann«, sagte er, und es war in
seiner Stimme jenes Strahlen, das einstmals dem jungen Josef die
Herzen gewonnen hatte. »Sie geben mir zwei Tage Zeit zur
Überlegung«, bat er. »Gut«, antwortete Johann. »Ich schicke Ihnen
dann meinen redlichen Gorion, daß er die Einzelheiten mit Ihnen
bespricht. Und schreiben Sie gleich Ihrem Verwalter Theodor. Gorion
wird natürlich versuchen, auch für uns etwas herauszuschlagen; das
ist recht und billig. Aber ich werde darauf achten, daß er Ihnen
keinen ungebührlichen Preis abverlangt. Und wenn, dann bleibt das
Geld schließlich unter uns Juden.«
Josef ging zu Mara. »Hör zu, Mara, mein
Weib«, sagte er, »ich muß dir etwas mitteilen.« Und: »Ich werde
meinen Besitz in Judäa verkaufen«, sagte er.
Mara wurde tödlich blaß.
»Erschrick nicht, Liebe«, bat er.
»Ich werde andern Besitz dafür
eintauschen, in der Nähe von Cäsarea.« – »Du gibst unsern Besitz
unter den Juden auf«, fragte sie, »und kaufst dich unter den Heiden
an?« – »Merk gut auf!« sagte Josef. »Ich habe mich immer gesträubt,
nach Judäa zurückzukehren, und die Gründe, die ich dir sagte, waren
wahr. Es gab aber noch einen tieferen Grund: ich wollte nicht leben
zwischen Lud und Gazara. In Rom leben, in der Fremde leben, ist
schlimm. Aber schlimmer ist es, in der Heimat als Fremder leben.
Ich hätte es nicht ertragen, bei Gazara zu leben und von den Juden
angesehen zu werden als ein Römer.«
»Wir kehren also nach Judäa
zurück?« fragte aufleuchtend Mara. »Nicht jetzt und nicht in einem
Jahr«, antwortete Josef. »Aber wenn ich mit meinem Werk fertig bin,
dann kehren wir zurück.«
Johann hatte dem Josef ein Buch mitgebracht,
das in diesem Winter des Aufstands ein anonymer Autor in Judäa
hatte erscheinen lassen. »Sie werden dieses Buch vielleicht ein
bißchen primitiv finden, mein Josef«, meinte er, »aber mir gefällt
es, vielleicht weil ich selber primitiv bin. Die Leute drüben waren
alle ungeheuer begeistert von diesem Heldenroman. Seit Ihrem
Makkabäerbuch, Doktor Josef, gab es keinen solchen Erfolg in
Judäa.«
Josef las das Buch. Die Fabel war
unwahrscheinlich, manchmal geradezu kindisch, und mit Kunst hatte
das kleine Werk wenig zu tun. Trotzdem rührte es ihn auf, auch ihn
entzündete der Fanatismus dieses Buches Judith. Ach, wie beneidete
er den anonymen Dichter. Der hat geschrieben nicht um der Ehre
willen, auch kaum um des Werkes willen, er hat einfach seinen
heißen Haß gegen die Unterdrücker ausströmen lassen. »Schlagt sie,
die Feinde, wo ihr sie trefft«, hat er verkündet. »Macht es wie
diese Judith. List, Mut, Tücke, Grausamkeit, jedes Mittel ist
recht. Haut ihm den Kopf ab, diesem großmäuligen Heiden: es ist
Gottesdienst. Haltet die Gesetze der Doktoren und schlagt auf die
Feinde ein. Wer Gott dient, mit dem ist das Recht. Ihr werdet
siegen.«
Es muß ein sehr junger Mann
gewesen sein, der dieses Buch Judith geschrieben hat, gläubig und
naiv muß er gewesen sein, und beneidenswert einfach sein Leben und
Sterben. Denn bestimmt ist er umgekommen. Bestimmt ist er nicht zu
Hause geblieben, sondern hat mit eingehauen auf die Feinde und ist
gestorben, den Glauben auf den Lippen und im Herzen. Wer die Dinge
so simpel und zuversichtlich sehen könnte wie dieser. Nichts
Höheres gibt es als das Volk Israel. Seine Männer sind tapfer,
seine Frauen sind schön, Judith ist das schönste Weib dieser Erde,
keinen Augenblick zweifelt sie und ihr Autor, daß der Marschall des
Großkönigs den Krieg vergessen muß über ihrem Anblick. Überhaupt
hat kein Zweifel je den Autor dieses Buches angefressen. Alles
steht ihm felsenfest, er weiß genau, was recht ist, was unrecht.
Was ist Frömmigkeit? Man hält die Gesetze der Doktoren. Was ist
Heldentum? Man geht hin und schlägt dem Feinde den Kopf ab. Jeder
Schritt in jeder Lage ist vorgeschrieben.
Aber welch ein hinreißendes Buch
trotzdem. Dieses Weib Judith, wie es zurückkehrt, triumphierend,
mit dem abgeschlagenen Kopf und dem Mückennetz, keiner wird es je
vergessen. Oh, die begnadete Zuversicht des Dichters. »Wehe den
Völkern, die sich erheben wider mein Geschlecht. Der Allmächtige
züchtigt sie am Tage des Gerichts, er jagt Feuer und Würmer in ihr
Fleisch, daß sie in Schmerzen heulen durch alle
Ewigkeit.«
Wer dichten dürfte wie dieser!
Ihm, Josef, ist es nicht so einfach gemacht. Da ist jene Heldenfrau
aus der grauen Urzeit seines Volkes, Jael, die dem schlafenden
Feinde den Nagel durch die Schläfe treibt. Diese Jael und der
uralte, wilde und großartige Gesang ihrer Dichterin Deborah waren
zweifellos die Vorbilder dieser Judith. Auch er, Josef, hat in
seinem Geschichtswerk von dieser Jael erzählt. Wie hat er sich
abgemüht, nüchtern und vernünftig zu bleiben, wie hat er sich
bezähmt und die Begeisterung niedergedrückt. Einmal sich
gehenlassen dürfen wie dieser junge Dichter! Wieder und wieder
liest er das kleine Buch, es gießt ihm Feuer ins Blut. Der Aufstand
ist zusammengebrochen, dieses Buch wird bleiben.
Ein paar Tage später traf er den
Justus. Auch der hatte das Buch Judith gelesen. Was für ein
primitives Machwerk! Ein Volk, das sich an einem so unsinnigen
Märchen begeistert, das verdient seine »Eiferer des Tages«, das
verdient seine Römer, das verdient diesen Gouverneur Longin, diesen
Domitian. Was für ein wackerer Autor! Wie züchtig ist seine Judith,
nicht einmal schlafen muß sie mit dem bösen Holofernes. Der Autor
bewahrt sie davor, sie kommt schon vorher ans Ziel. Wie gerecht und
Zug um Zug belohnt der Jahve dieses Autors das Gute, straft er das
Böse. Stellen Sie sich einmal vor, mein Josef, wie sich ein realer
römischer Gouverneur oder auch nur ein realer römischer Feldwebel
im Falle des Holofernes verhielte! Da kommt so eine Judith zu ihm,
begleitet von der Zofe, die ihr die Speisen nachträgt, natürlich
sorgsam bereitet nach den rituellen Vorschriften der Doktoren,
damit sie ja nicht im Lager der Feinde etwas Verbotenes essen muß.
Sie wird sofort vorgelassen, was denn sonst?, weil sie so schön
ist. Es gibt ja für einen Feldmarschall kein Angebot an hübschen
Frauen, er muß warten, bis die Jüdin kommt. Und wenn sie da ist,
dann vergißt er nicht nur sofort den ganzen Krieg, sondern er
betrinkt sich, genau wie es vorgesehen ist, und rührt die ebenso
fromme wie schöne Jüdin nicht an. Er legt sich einfach hin und läßt
sich von ihr den Kopf abhauen. Woraufhin die gesamten Legionen ohne
weiteres davonlaufen. Ach ja, so stel len sich unsere »Eiferer des
Tages« die Römer, so stellen sie sich die Welt vor.
So, voll hochmütiger Bitterkeit,
voll höhnischer Überlegenheit, sprach Justus über das Buch Judith.
Josef konnte nicht leugnen, daß seine Kritik Schwächen des Buches
traf. Aber gerade diese Schwächen waren die Stärke des Dichters,
das Buch wurde dadurch nicht schlechter, und groß und erhaben blieb
dem Josef das Bild der Judith, die den Ihren den Kopf des
Holofernes bringt: »Siehe, da ist der Kopf des Holofernes, des
Feldherrn der Assyrer, und siehe, da ist das Mückennetz, unter dem
er lag in seiner Trunkenheit!«
Es war dem Josef, als müßte er
das Buch und den toten Dichter reinwaschen vom Hohne des Justus,
und er ging hin und brachte es Mara, seiner Frau.
Mara las. Ihre Augen glühten, ihr
Leib straffte sich, sie wurde ganz jung. Vor sich hin sprach sie
das Lied der Judith: »Nicht fiel der Feind, der gewaltige, durch
Jünglinge, nicht die Söhne der Riesen schlugen ihn, sondern Judith
verdarb ihn, ein einfaches Weib, durch ihres Angesichtes
Schönheit.« Ach, wie leid war es Mara, daß man in Rom war und nicht
in Judäa.
Sie vereinfachte das Buch und
erzählte den Kindern die Geschichte von Judith. Die Kinder
spielten. Jalta war Judith, und Matthias war Holofernes, und Jalta
holte einen Kohlkopf aus dem Korb und krähte triumphierend: »Siehe
da, das Haupt des Holofernes, Feldherrn der Assyrer!«
Josef sah es, und er wußte nicht,
ob er nicht falsch daran getan hatte, selber das frevelhafte Feuer
zu schüren, wenn auch auf unschuldige Art. Dann aber lächelte er,
und Maras Begeisterung wärmte ihm das Herz.
Die Juden der Stadt Rom aber lebten graue
Tage und graue Wochen. Denn der Kaiser reiste langsam, der Kaiser
gab auch weiter keine Weisungen, der Kaiser ließ sie
warten.
Neue Sondermaßnahmen gegen die
Juden der Stadt Rom wurden vorläufig nicht getroffen. Nur wurden
die bisher erlassenen Judengesetze mit größter Strenge gehandhabt.
Die Kopfsteuer zum Beispiel, welche die Juden als Sonderabgabe zu
entrichten hatten, wurde mit schikanöser Pedanterie eingezogen.
Persönlich mußte sich jeder Jude zum Quästor begeben und jene zwei
Drachmen erlegen, die er ehemals für den Tempel von Jerusalem
gezinst und die jetzt die Regierung höhnischerweise für die
Erhaltung des Tempels des Capitolinischen Jupiter bestimmt
hatte.
Im übrigen aber blieb der Handel
und Wandel der Juden, die Ausübung ihrer Bräuche und ihres
Gottesdienstes unbehelligt. Aus der Provinz hörte man, daß da und
dort die Bevölkerung versucht hatte., die judenfeindliche Stimmung
zu Pogromen auszunutzen. Aber die Behörden hatten sogleich
eingegriffen.
Dann endlich traf der Kaiser in
Rom ein. Es war ein heller, nicht zu heißer Junitag, und mit den
Soldaten der Garde, die ihren freigebigen Feldherrn liebten,
begrüßten jetzt Senat und Volk den heimkehrenden Herrscher, der in
diesem Feldzug von seinen Truppen zum vierzehntenmal als Imperator
gefeiert worden war. Es wurde ein schöner, festlicher Frühsommer
für Rom. Jubel, strahlendes Licht war überall, die große Stadt, die
oft ein so böses, verbissenes, düsteres Aussehen zeigte, war jetzt
hell, gutmütig, lustig.
Doch über den Juden lag es wie
eine Wolke. Seit Jahrzehnten jetzt könnten sie, wenngleich die
Zerstörung des Tempels auf ihnen lastete, in einer gewissen
Sicherheit leben, wären nicht diese unseligen »Eiferer des Tages«,
die mit ihrem törichten Fanatismus die gesamte Judenheit immer von
neuem ins Unglück stürzten. Die »Eiferer« selber haben furchtbar
büßen müssen. Aber was wird aus ihnen, aus den schuldlosen Juden
der Stadt Rom?
Nichts geschah den Juden in Rom,
alles blieb ruhig. »Der Kaiser spricht niemals ein Wort von euch,
weder für euch noch gegen euch«, berichtete Claudius Regin seinen
jüdischen Freunden. »Der Kaiser spricht niemals ein Wort gegen
euch«, versicherte ihnen auch Junius Marull. Aber: »Ich rieche, ich
spüre es«, erklärte Johann von Gischala, »es bereitet sich was vor.
Es bereitet sich etwas vor in der Seele des Domitian. Gewiß, mein
Regin, und gewiß, mein Marull, Domitian spricht nicht von den
Juden; vielleicht weiß er es selber noch nicht einmal, daß sich in
seiner Seele etwas vorbereitet. Ich aber,
Johann Ben Levi, Bauer aus Gischala, der es
wittert, wenn in einem Jahr der Winter früher kommt als sonst, ich
weiß es.«
Das gleiche Schiff aus Judäa hatte Dorion und
hatte Phineas Briefe des Paulus gebracht. Wortreich, mit naiver
Freude erzählte der junge Offizier, wie sich Gouverneur Longin
nicht genug darin tun könne, das Land zu säubern. Angeregt
berichtete er von den vielen kleinen Strafexpeditionen gegen die
letzten zersprengten Haufen der »Eiferer des Tages«.
Phineas und Dorion tauschten ihre
Briefe aus. Beide billigten es von Herzen, daß man die Frechheit
der Juden züchtigte, doch beide bekümmerte es, daß der feine,
schlanke, elegante Paulus, ihr Paulus, mit so sichtlichem Vergnügen
über die unvermeidlichen Greuel berichtete, daß er sich dem
Soldatenleben so schnell anpaßte. »Er sieht auf die Juden nicht wie
auf Menschen«, klagte Dorion, »sondern wie auf schädliche Tiere,
die gerade gut genug sind zu Zielen jagdsportlicher Unternehmungen.
›Amüsant‹ findet er das Leben in Judäa, haben Sie es bemerkt, mein
Phineas? Er gebraucht sogar das griechische Wort.«
»So war mein Unterricht
wenigstens zu etwas nütze«, sagte grimmig Phineas. »Nein,
erfreulich sind die Briefe nicht.« Er ließ den großen, krankhaft
blassen Kopf vornübersinken, als wäre er zu schwer für den mageren
Körper; unglücklich saß er da, die dünnen, übermäßig langen Hände
schlaff niederhängend.
»Auf die Dauer hätten wir ihn
doch nicht halten können«, sagte Dorion, bemüht, gleichmütig zu
sprechen. »Er wäre uns immer entglitten. Bei alledem ist es noch
besser, er wird endgültig ein Römer als ein Jude. Und es ist ein
Trost, daß er, Josephus, noch mehr darunter zu leiden hat als wir.«
Ihre schleppende Stimme klang hart, nun sie von ihrem gehaßten,
geliebten Manne sprach. »Sein Judäa ist endgültig untergegangen,
und sein Sohn hat mitgeholfen, es zu zertreten.« Sie belebte sich,
sie triumphierte.
Phineas sah hoch. »Ist Judäa
untergegangen?« fragte er. »Glauben Sie, meine Dorion, es war dem
Josephus eine Überraschung, daß die ›Eiferer des Tages‹ so schnell
besiegt wurden? Glauben Sie, Judäa und die ›Eiferer des Tages‹ sind
ihm ein und dasselbe?«
»Dieser Brief des Paulus«, sagte
Dorion, »kränkt mir das Herz, ich gestehe es. Lassen Sie mir diesen
einen Trost, daß Josephus noch härter getroffen ist. Was in Judäa
geschah, das muß ihn härter treffen als uns diese Briefe des
Paulus.« Ihre meerfarbenen Augen sahen beinahe ängstlich zu Phineas
auf. Aber: »Sie sind zu klug, Herrin Dorion«, erwiderte mit seiner
tiefen, wohlklingenden Stimme Phineas, »sich mit einer Illusion zu
trösten. Sie wissen ganz genau, daß das Judäa des Josephus nichts
zu tun hat mit der realen Provinz Judäa. Wie jetzt unser Paulus und
seine Kameraden in diesem realen Judäa hausen, das ritzt dem
Josephus kaum die Haut. Glauben Sie mir’s, sein Judäa ist etwas
Abstraktes, mit Feuer und Schwert nicht Erreichbares. Er ist ein
Wahnsinniger, wie alle Juden Wahnsinnige sind. Erst gestern wieder
habe ich den Hauptmann Baebius gesprochen, der seinerzeit die
Schlacht bei Sebaste mitgemacht hatte. Er hat es mir bestätigt, wie
viele andere vor ihm, er hat es mit eigenen Augen mitangesehen, wie
die Juden während dieser Schlacht ihre Waffen weggeworfen haben. Es
klingt unglaubhaft, und die Augenzeugen selber haben es lange nicht
glauben wollen. Denn die Schlacht stand für die Juden nicht
schlecht, im Gegenteil, sie waren im Vorteil, sie waren unmittelbar
vor dem Sieg. Sie haben ihre Waffen weggeworfen einfach deshalb,
weil ihre Doktoren ihnen verboten hatten, an ihrem Sabbat zu
kämpfen, und weil dieser Sabbat begann. Einfach umbringen haben sie
sich lassen. Sie sind verrückt, diese Menschen. Wie wollen Sie, daß
das, was jetzt in Judäa geschieht, sie trifft? Und ihr Wortführer
und Schriftsteller ist Flavius Josephus.«
»Wovon Sie sprechen, Phineas«,
sagte Dorion, »diese Schlacht von Sebaste, das war einmal. Josephus
selber hat’s mir erzählt, er war blaß vor Zorn bei der bloßen
Erinnerung. Und es ist kein zweites Mal geschehen, es ist Historie,
es ist abgelebt.« – »Vielleicht«, gab Phineas zu, »kämpfen sie
jetzt wirklich an ihrem Sabbat. Aber ihr Wahnsinn ist geblieben, er
äußert sich nur auf andere Art. Schauen Sie sich die Juden hier in
Rom an. Viele sind heraufgeklettert, sie sind reich, sie sind
geadelt, es gibt zehntausend Ehrgeizige unter ihnen, solche, die
nach gesellschaftlicher Anerkennung dürsten. Sie kommen nicht
weiter, sie kommen nicht herauf, weil sie Juden sind und, bei aller
Toleranz des Gesetzes, gesellschaftlich diffamiert. Warum, beim
Zeus, gehen diese reichen Juden nicht hin und schwören ihr Judentum
ab? Sie brauchten doch nur dem Standbild eines flavischen Kaisers
zu opfern oder sonst einem Gott, und sie wären frei von diesem
bösesten Hindernis. Wissen Sie, wie viele von den achtzigtausend
Juden hier in Rom es so gemacht haben? Ich bin neugierig, ich habe
mich nach der genauen Zahl erkundigt. Wissen Sie, meine Dorion, wie
viele ihr Judentum abgeschworen haben? Siebzehn. Von achtzigtausend
siebzehn.« Er stand auf; lang und dünn in seinem hellblauen Kleid
stand er da, den großen, tiefblassen Kopf gereckt, und bedeutend
hob er die lange, dünne Hand. »Glauben Sie, Herrin Dorion, daß man
Leute solcher Art wanken macht, wenn man ein paar tausend von ihnen
totschlägt? Glauben Sie, daß man das Herz und die Lebenskraft
unseres Josephus trifft, wenn man Paulus und seine Legion auf die
›Eiferer des Tages‹ losläßt?«
»Unseres Josephus, haben Sie
gesagt«, griff Dorion das Wort auf, »und damit haben Sie recht. Er
ist unser Josephus. Uns verbunden durch den Haß, mit dem wir ihn
hassen. Das Leben wäre ärmer, wenn wir diesen unsern Haß nicht
hätten.« Sie rief sich zurück. »Aber warum sagen Sie mir das
alles?« fuhr sie fort. »Warum sprechen Sie es so klar und
hoffnungslos aus, daß wir mit all unsern Mitteln nicht an ihn
herankönnen?«
Phineas reckte den dünnen Körper
noch höher, er hob sich in seinen silbernen Schuhen und ließ sich
wieder sinken, und in seiner Stimme war ein kaum unterdrückter,
haßvoller Jubel. »Ich habe jetzt das rechte Mittel gefunden«, sagte
er, »das einzige.« – »Ein Mittel, den Josephus und seine Juden
unterzukriegen?« fragte Dorion; ihr schmaler, zarter Leib reckte
sich dem Phineas entgegen, ihre hohe, dünne Stimme war schrill vor
Erregung. »Und welches ist es, dieses Mittel?« fragte sie. Phineas
kostete ihre Spannung aus. Dann, mit kunstvoller Trockenheit,
verkündete er: »Man müßte ihren Gott ausrotten. Man müßte Jahve
ausrotten.«
Dorion dachte scharf nach. Dann,
enttäuscht, sagte sie: »Das sind Worte.« Phineas, als hätte er
diesen Einwand nicht gehört, erklärte weiter: »Und es gibt einen
sichern Weg, das zu erreichen. Bitte, hören Sie zu, Herrin Dorion.
Die Römer haben den Staat der Juden zerschlagen, ihr Heer, ihre
Polizei, ihren Tempel, ihre Gerichtsbarkeit, ihre Souveränität:
aber die Religion der Unterworfenen, ihr ›kulturelles Leben‹, haben
sie in ihrer hochmütigen Toleranz nicht angetastet. Insbesondere
haben sie den Juden eine kleine Universität belassen, Jabne heißt
das Nest, und diese Universität auf Bitten der Juden mit ein paar
harmlosen Privilegien ausgestattet. Das Kollegium von Jabne ist
oberste Autorität in religiösen Fragen und darf so eine Art
Schattenjustiz ausüben. Nun hören Sie zu, meine Dorion. Wenn unsere
römischen Herren wirklich die Staatsmänner wären, die zu sein sie
sich einbilden, dann hätten sie von Anfang an durchschaut, was es
mit diesem Kollegium von Jabne auf sich hat, dann hätten sie diese
kleine, harmlose Universität mit ihren Stiefeln zertreten. Denn
gäbe es dieses Jabne nicht, dann gäbe es auch keinen Jahve mehr,
dann gäbe es keine rebellischen Juden mehr, dann wäre es aus mit
unserm Josephus, mit seinem Judentum, mit seinen Büchern und mit
seinem unerträglichen Stolz.«
Nachdenklich, spöttisch, doch mit
einem Spott, der sich gerne eines Bessern belehren lassen wollte,
entgegnete Dorion: »Sie tun, mein Phineas, als wären Sie in den
Seelen der Juden so zu Hause wie in den Straßen Roms. Wollen Sie
mir nicht ein bißchen deutlicher erklären, wieso gerade Ihr Jabne
solche Bedeutung haben soll?« – »Das will ich gerne«, begann
Phineas sie mit sieghafter Gelassenheit zu belehren. »Ich hätte nie
gewagt, Ihnen mit solcher Sicherheit von meiner Methode zu
sprechen, den Josephus und seine Juden unterzukriegen, wenn ich
mich nicht vorher vergewissert hätte, was für eine Bewandtnis es
mit diesem Jabne hat. Ich habe kompetente Leute darüber befragt,
Beamte und Offiziere, die in der Administration und in der
Besatzungstruppe von Judäa beschäftigt waren, vor allem auch den
Gouverneur Salviden, und ich habe die Aussagen aller dieser Leute
genau verglichen. Es ist so: diese lächerliche Universität besitzt
keinerlei Machtbefugnis und strebt sie auch nicht an. Sie ist
wirklich nichts als eine kleine, lächerliche Schule für Theologen.
Aber es gibt keinen Juden in der ganzen Provinz, der nicht für
diese Universität einen gewissen Beitrag zahlte, einen genau
festgesetzten, nach seinem Vermögen, es gibt keinen, der sich ihren
Entscheidungen nicht fügte. Wohlgemerkt, das tun sie freiwillig.
Sie räumen dem Staat Autorität ein, gezwungen, aber sie räumen
ihrem Jabne mehr Autorität ein, freiwillig. Sie bringen ihre
Streitigkeiten, nicht nur die religiösen, auch die zivilen, nicht
vor die Gerichte des Kaisers, sondern vor die Doktoren von Jabne,
und sie fügen sich ihrem Urteilsspruch. Es ist vorgekommen, daß die
Doktoren Angeklagte zum Tod verurteilt haben; viele solche Fälle
sind mir glaubwürdig bezeugt. Natürlich hatten diese Urteile keine
Rechtskraft, sie waren akademisch, es waren Gutachten theoretischer
Natur, ohne jede Verbindlichkeit. Aber wissen Sie, was die zum Tod
verurteilten Juden getan haben? Sie starben. Sie starben wirklich.
Gouverneur Salviden hat’s mir erzählt, Naevius, der Großrichter,
hat es mir bestätigt, auch Hauptmann Opiter. Wie diese Juden
starben, ob sie sich umgebracht haben oder ob sie umgebracht
wurden, das konnte ich nicht ermitteln. Aber soviel ist gewiß, sie
hätten sich nur unter römischen Schutz zu stellen brauchen, und sie
hätten fröhlich, ja höchst demonstrativ weiterleben können. Sie
haben es aber vorgezogen zu sterben.«
Dorion schwieg. Starr saß sie da,
reglos, braun und dünn, wie eines jener frühen, harten, eckigen,
ägyptischen Porträts. »Ich sage Ihnen, meine Dorion«, nahm Phineas
seine Rede wieder auf, »diese Universität Jabne ist die Festung der
Juden, eine sehr starke Festung, stärker, als es Jerusalem und der
Tempel war, wahrscheinlich die stärkste Festung der Welt, und ihre
unsichtbaren Mauern sind schwerer zu nehmen als das kunstvollste
Tor unseres Festungsbaumeisters Frontin. Die römischen Herren
wissen es nicht, Gouverneur Longin weiß es nicht, der Kaiser weiß
es nicht. Aber ich, Phineas, ich weiß es, weil ich nämlich den
Josephus und seine Juden hasse. Diese winzige, läppische
Universität Jabne mit ihren einundsiebzig Doktoren ist das Zentrum
der Provinz Judäa. Von hier aus werden die Juden regiert, nicht vom
Gouvernementspalais in Cäsarea aus. Und wenn man unsern Paulus noch
dreimal auf die Juden losläßt und wenn man hunderttausend von den
›Eiferern des Tages‹ erschlägt, das nützt gar nichts. Judäa lebt
weiter, es lebt in der Universität Jabne.«
Dorion hatte gespannt zugehört.
Ihr Mund, der frech, ein wenig breit aus dem zarten, hochfahrenden
Gesicht vorsprang, stand beinahe töricht halb offen und ließ die
kleinen Zähne sehen, ihre Augen hingen an den Lippen des Phineas:
»Sie sind also überzeugt«, faßte sie zusammen, langsam, jedes Wort
bedenkend, »das Zentrum des jüdischen Widerstands, die Seele des
Judentums sozusagen, ist die Universität Jabne.« Die Dame Dorion
war gebrechlich von Aussehen; nun sie aber dies erwog, sah ihr
langer, gelbbrauner Kopf mit der schrägen, hohen Stirn, den
betonten Jochbogen, der stumpfen, ein wenig breiten Nase und dem
leicht geöffneten Mund hart aus, streitbar, ja gefährlich. »Und
treffen und unschädlich machen«, resümierte sie weiter, »kann man
das Judentum und den Josephus erst, wenn die Universität Jabne
zerstört ist.« Phineas aber mit seiner tiefen, wohlklingenden
Stimme bestätigte, und er bemühte sich, seine frohe und haßvolle
Erregung hinter einem trockenen, gleichmütigen Ton zu verbergen:
»Zerstört, vertilgt, vernichtet, zertreten, zerstampft, dem
Erdboden gleichgemacht.«
»Ich danke Ihnen«, sagte
Dorion.
Mit einemmal wurde die Universität Jabne, von
der bisher in Rom wenige auch nur den Namen gekannt hatten, ein
beliebter Gesprächsstoff, und heftig stritt man hin und her, ob
wirklich die Unbotmäßigkeit der Provinz Judäa ihr Zentrum in Jabne
habe.
Dunkel lief das Geraun von dem
unausdenkbaren Übel, das da heranzog, durch die ganze Judenheit.
Was da Rom zu planen schien, das war schlimmer als das, was die
Ängstlichsten unter ihnen sich ausgedacht hatten, es war unter
allen vorstellbaren Schrecknissen das schrecklichste. Bisher hatten
die Feinde die Leiber der Juden angegriffen, ihre Erde, ihr Hab und
Gut, ihren Staat. Sie hatten das Reich Israel zerstört, sie hatten
das Reich Juda zerstört und den Tempel Salomos, Vespasian hatte das
zweite Reich zerstört und Titus den Tempel der Makkabäer und des
Herodes. Was dieser dritte Flavier plante, das ging tiefer, das
ging gegen die Seele der Judenheit, gegen das Buch, gegen die
Lehre. Denn die Doktoren waren die Träger und Hüter der Lehre. Nur
das Kollegium von Jabne verhütete, daß sie sich verflüchtigte, daß
sie zurückverschwand in den Himmel, aus dem sie gekommen war. Die
Lehre, das war der innere Zusammenhalt, und mit dem Kollegium von
Jabne war diese Lehre, war das Herz und der Sinn der Judenheit
bedroht.
Immer aber bis jetzt hatten sich
große und kluge Männer gefunden, welche die Lehre gerettet hatten.
Und so richteten sich auch jetzt aller Augen auf den Mann, der dem
Kollegium und der Universität von Jabne vorstand, auf Gamaliel, auf
den Großdoktor.
Der Großdoktor war der Gesandte
Jahves auf Erden, das Haupt der Juden nicht nur der Provinz Judäa,
sondern der ganzen Welt. Seine Aufgabe war schwer und vielfältig.
Er hatte sein Volk und die Lehre vor den Römern zu vertreten, er
hatte die auseinanderstrebenden Meinungen seiner Doktoren in eines
zu zwingen, er hatte, ohne äußere Machtmittel, die Autorität des
jüdischen Gesetzes den Massen gegenüber zu wahren. Seine Stellung
erforderte Energie, Takt, rasche Entschlüsse.
Gamaliel, zum Herrschen geboren
und erzogen, hatte seine ererbte Würde, die des ungekrönten Königs
von Israel, in sehr jungen Jahren übernommen; er zählte jetzt knapp
vierzig. Er hatte sich bewährt im Kampf gegen die Gouverneure
Silva, Salviden, Longin. Er hatte die Lehre durchgesteuert zwischen
jenen, die sie aufgehen lassen wollten in der Weisheit der
Griechen, und jenen, die sie einmünden lassen wollten in einen
weltbürgerlichen Messianismus. Mit klugen, scharfen Schnitten hatte
er das Gesetz abgetrennt von der Ideologie der Hellenisten
einerseits, der Minäer anderseits. Er hatte das Ziel erreicht, das
dem alten Jochanan Ben Sakkai, dem Begründer des Kollegiums von
Jabne, vorgeschwebt: er hatte die Einheit der Juden gesichert durch
ein Zeremonialgesetz, an dem er nicht deuteln und rütteln ließ. Er
hatte die Autorität des ver lorengegangenen Staates durch die
Autorität von Brauch und Lehre ersetzt. Großdoktor Gamaliel wurde
von vielen gehaßt, von einigen geliebt, von allen
geachtet.
Er erkannte sogleich, daß die
Entscheidung über das Schicksal Jabnes und damit des Judentums
nicht von dem Gouverneur in Cäsarea gefällt werden würde, sondern
in Rom, vom Kaiser selber. Seit Jahren hatte sich Gamaliel mit dem
Plan getragen, nach Rom zu reisen und die Sache seines Volkes vor
dem Angesicht des Kaisers zu vertreten. Allein das Zeremonialgesetz
verbot, am Sabbat zu reisen, und er, der Hüter des
Zeremonialgesetzes, konnte somit nicht wohl eine Reise antreten,
die ihn gezwungen hätte, auch am Sabbat auf See zu sein. Er dachte
daran, seinem Kollegium die Frage vorzulegen, ob es nicht auch in
diesem Fall, da Gefahr für die Lehre und für die gesamte Judenheit
bestand, erlaubt sei, die Sabbatgesetze zu übertreten, wie in der
Schlacht. Allein die Doktoren hätten darüber nach der üblichen
Weise Jahre hindurch debattiert. Der Großdoktor, da es not tat,
scheute nicht das Gemurre, ging despotisch vor, bestimmte einige
seiner Herren, ihn zu begleiten, und zu siebent, das war eine
heilige Ziffer, schifften sie sich nach Rom ein.
Großartig kam er in Rom an.
Johann von Gischala hatte ein Palais für ihn ausfindig gemacht.
Hier hatten einstmals der jüdische Titularkönig Agrippa und die
Prinzessin Berenike die Huldigungen des römischen Adels
entgegengenommen. Hier jetzt hielt der Großdoktor hof.
Von diesem Haus in Rom aus wurde
jetzt die Judenheit des Erdkreises regiert. Gamaliel machte von
sich und seinen Geschäften kein Wesen. Er gab keine prunkvollen
Feste, er trat freundlich auf, ohne Anmaßung. Trotzdem wirkte er
überlegen, ja königlich, und nun er in Rom war, wurde plötzlich
offenbar, daß die Judenheit, obwohl politisch entmachtet, noch ein
Faktor in der Welt war. Minister, Senatoren, Künstler und
Schriftsteller drängten sich an Gamaliel heran.
Domitian selber aber ließ nichts
von sich hören. Der Großdoktor hatte sich, wie es der Brauch war,
auf dem Palatin gemeldet, und er hatte Hofmarschall Crispin
ersucht, dem Kaiser die Ergebenheit der Juden aussprechen zu dürfen
und ihre tiefe Zerknirschung über die Tollheit jener, die sich
gegen sein Regiment aufzulehnen gewagt hätten. »So, will er das?«
fragte der Kaiser und lächelte. Bescheid aber gab er nicht, er
sprach auch nicht weiter über den Großdoktor, und weder vor seinen
vertrauten Räten noch vor Lucia oder Julia oder sonst einem ließ er
ein Wort über Gamaliel oder über das Kollegium von Jabne
verlauten.
Um so mehr beschäftigte die
Anwesenheit des Großdoktors den Prinzen Flavius Clemens und dessen
Frau Domitilla.
Unter den Minäern der Stadt Rom
nämlich, die sich jetzt übrigens immer häufiger nicht mehr Minäer,
sondern Christen nannten, hatte Gamaliels Ankunft große Erregung
hervorgerufen. Wo immer dieser Mann erscheine, setzte Jakob aus
Sekanja, ihr Führer, seinem Gönner, dem Prinzen, auseinander, wo
immer dieser Gamaliel erscheine, bringe er den Christen und ihrer
Lehre Gefahr. Auf tückische Art, indem er sie habe zwingen wollen,
sich selber im Gebet zu verfluchen, habe er sie, die gerne Juden
geblieben wären, aus der Gemeinschaft der andern ausgetrieben und
das Judentum gespalten in eine neue Lehre und in eine
alte.
Prinz Clemens hörte aufmerksam
zu. Er war zwei Jahre älter als der Kaiser, doch er wirkte jünger;
es fehlte ihm das starke Kinn der Flavier, und das freundliche
Gesicht mit den blaßblauen Augen und dem aschblonden Haar zeigte
knabenhaft helle Farben. Domitian machte sich gern über ihn lustig
und bezeichnete ihn als träg von Geist. Clemens indes war nur
langsam von Auffassung. Auch heute wieder wollte er erklärt haben,
was denn nun eigentlich den Unterschied ausmache zwischen der alten
jüdischen Lehre und derjenigen der Christen, und wiewohl er das nun
zum dritten- oder viertenmal fragte, erläuterte es ihm Jakob aus
Sekanja mit Geduld. »Gamaliel wird behaupten«, sagte er, »wir seien
keine Juden, weil wir glaubten, der Messias sei bereits erschienen,
und solcher Glaube sei ›Leugnung des Prinzips‹. Aber dies ist nicht
sein Hauptgrund. Sein tiefster Grund ist, daß er die Lehre eng
haben will, kahl und arm, auf daß sie übersichtlich sei. Seine
Gläubigen sollen eine einzige große Herde sein, die er bequem
übersehen kann. Darum hat er die Lehre in einen Pferch einge
sperrt, in sein Zeremonialgesetz.« Es war dem schlichten,
glattrasierten Mann, den man gemeinhin für einen Bankier oder für
einen Rechtsberater hätte nehmen mögen, nicht anzusehen, daß ihn
fast ausschließlich derartige Fragen beschäftigten. »Nicht als ob
wir dieses Zeremonialgesetz ablehnten«, fuhr er fort. »Wogegen wir
eifern, das ist nur der Anspruch des Großdoktors, sein
Zeremonialgesetz enthalte die ganze Wahrheit. Denn es ist nur eine
halbe Wahrheit, und die halbe Wahrheit, die vorgibt, die ganze zu
sein, ist schlimmer als die schlimmste Lüge. Jedem echten Diener
Jahves ist es vornehmste Pflicht, den Geist Jahves unter allen
Völkern zu verkünden, nicht nur unter den Juden. Das aber
verschweigt Gamaliel; er verschweigt es nicht nur, er ficht diesen
Satz an. Als vor ein paar Jahren Ihr Vetter Titus durch das Gesetz
des Antist die Beschneidung von Nichtjuden verbot, standen wir vor
der Frage: sollen wir auf dieses äußere Zeichen des Judentums, auf
die Beschneidung, verzichten oder auf seine weltbürgerliche
Sendung, auf die Verbreitung der Lehre? Der Großdoktor hat sich für
die Beschneidung entschieden, für sein Zeremonialgesetz, für den
Nationalismus. Wir aber, wir Christen, verzichten lieber auf die
Beschneidung und wollen, daß die ganze Welt Jahves teilhaftig
werde. Der Großdoktor weiß, daß im Grunde wir die bessern Juden
sind; denn Gott hat ihm scharfen Verstand eingehaucht und
Erkenntnis. Da er sich für das Böse entschieden hat, haßt er uns
und hetzt euch Römer gegen uns auf. Unsere Proselytenmacherei,
erklärt er, sei allein schuld an den ewigen Zwistigkeiten zwischen
Rom und den Juden.«
»Aber«, wandte bedachtsam Prinz
Clemens ein, »ihr ereifert euch doch wirklich an allen
Straßenecken, um den Glauben zu verkünden.« – »Wir tun es«, gab
Jakob zu. »Da der Großdoktor aus geistiger Habsucht Jahve für sich
und seine Juden allein haben will, so obliegt es uns, diejenigen,
die nach der Wahrheit verlangen, nicht verschmachten zu lassen.
Sollte ich etwa Ihnen, Prinz Clemens, sagen: Nein, Sie können
Jahves nicht teilhaftig werden, für Sie ist der Messias nicht
gestorben? Sollte ich Ihnen die Wahrheit verbergen, bloß weil ein
Gesetz des Kaisers Ihnen die Beschneidung verbietet?«
Jakob von Sekanja sprach gut, die
Überzeugung gab seinen Worten, so ruhig sie vorgebracht wurden,
Feuer, und die blaugrauen, etwas trockenen und dennoch fanatischen
Augen der Prinzessin Domitilla hingen an seinem Mund. Aber sie war
eine Flavierin und mißtrauisch. »Warum«, fragte sie, »wenn ihr den
wahren Jahve habt, hängen die Juden dem Großdoktor an und nicht
euch?« – »Es kommen auch«, erklärte Jakob, »unter den Juden immer
mehr zur Einsicht. Sie merken, daß die Doktoren Jahve und den Staat
auf unerlaubte Art unlöslich miteinander verquicken wollen. Daß
Jahve aber den Staat zerschlagen hat, daß er auch diesen letzten
Aufstand hat niederbrechen lassen, das ist ein Beweis, daß er
diesen Staat nicht will, und es gibt auch unter den Juden immer
mehr, die sich diesem Beweis nicht verschließen. Immer mehr unter
den Juden stoßen zu uns. Sie wollen nicht mehr den Staat, sie
wollen nur mehr Gott. Und sie lehnen ab jene verzwickte Heuchelei
der Doktoren, die sich bestreben, den Staat im Zeremonialgesetz neu
auferstehen zu lassen. Denn dieses Zeremonialgesetz ist nichts als
eine kunstvolle Tarnung, und dahinter steckt der alte
Priesterstaat.«
Wohl ließ sich Dominik ergreifen
von der Überzeugtheit, mit welcher Jakob sprach, aber sie beeilte
sich, aus der Welt der Abstrakta ins Naheliegende, ins Rom von
heute zurückzukehren. Sie tat also die schmalen Lippen auf und
stellte sachlich fest: »Ihr seht also in diesem Großdoktor euern
gefährlichsten Gegner?« – »Ja«, erwiderte Jakob. »Was zwischen uns
ist, das ist die Feindschaft der Wahrheit und der Lüge. Wir haben
den Jahve der Propheten, den Jahve, welcher der Gott der ganzen
Welt ist. Er hat den Jahve der Richter und der Könige, der
Schlachten und der Eroberungen, die Reste des Baal, der immer in
Judäa war. Gamaliel ist ein gescheiter Mann und hat seinen Baal gut
versteckt. Aber er dient seinem Baal, und er haßt uns, wie immer
die Baalsdiener die wahren Diener Jahves verfolgt haben.«
»Und Sie glauben«, blieb
Domitilla pedantisch beim Konkreten, »dieser Großdoktor wird auch
seinen Aufenthalt hier in Rom dazu benutzen, euch zu schädigen?« –
»Gewiß wird er das«, antwortete Jakob. »Er wird seine Universität
Jabne und sein Zeremonialgesetz retten wollen, indem er uns
verdächtigt. Er wird bestrebt sein, die Abneigung des Kaisers auf
uns abzulenken. Mit solchen Mitteln hat er von jeher gearbeitet. Er
und seine Juden sind harmlose Lämmer: die Aufrührer, das sind wir.
Wir sind die Proselytenmacher, wir wollen die Römer abziehen von
Jupiter zu Jahve. In Cäsarea, beim Gouverneur, ist er mit solchen
Argumenten häufig durchgedrungen: warum sollte er es nicht beim
Kaiser selber versuchen?«
»Ich kenne ihn«, sagte Domitilla,
»ich kenne Jenen.« Auch jetzt nannte sie ihren Onkel, den Kaiser,
»Jenen«. »Ich kenne Jenen«, sagte also die dünne, blonde, trocken
fanatische junge Frau. »Bestimmt will er Jupiter schirmen, seinen
Jupiter, den Jupiter, wie er ihn versteht. Bestimmt also sinnt er
Jahve Böses. Er zögert immer lange, ehe er zuschlägt, und
wahrscheinlich macht er keinen Unterschied zwischen euch und den
Juden, wahrscheinlich ist es ihm gleichgültig, ob er den Großdoktor
trifft und sein Jabne oder euch. Er hat die Hand gehoben, er wird
sie fallen lassen. Es kommt darauf an, auf wen seine Aufmerksamkeit
gelenkt wird.«
Clemens hatte seiner Frau
beflissen zugehört, ein gewissenhafter, doch langsamer Schüler.
»Wenn ich dich recht verstehe«, überlegte er, »dann sollten wir
also, wenn wir unsern Jakob und seine Lehre retten wollen, DDDs
Aufmerksamkeit hinlenken auf die Universität Jabne. Er müßte den
Großdoktor schlagen und sein Jabne.« Des Prinzen blaßblaue Augen
hatten sich verdunkelt vor Eifer. Auch Domitillas Blick suchte den
Mund Jakobs.
Der wollte sich nicht den Vorwurf
machen müssen, es sei Rachsucht in seinem Herzen. Wenn er gegen
Gamaliel vorging, dann nicht aus Eifersucht, sondern nur deshalb,
weil er keinen andern Weg sah, den eigenen Glauben zu retten. »Ich
hasse den Großdoktor nicht«, sagte er still und bedachtsam. »Wir
hassen niemand. Wenn wir Feindschaft leiden, dann nicht deshalb,
weil wir Feindschaft üben. Wir bewirken Feindschaft einfach durch
unsere Existenz.«
»Sind Sie also oder sind Sie
nicht der Meinung«, beharrte Domitilla, »das beste Mittel, euch zu
retten, bleibt das Verbot von Jabne?« – »Leider scheint das das
beste Mittel«, antwortete bedachtsam Jakob.
Der einzige Weg, den Domitilla einschlagen
konnte, um von Jenem das Verbot zu erwirken, führte über
Julia.
Julias Beziehungen zu Domitian
hatten Wandlungen durchgemacht. Zunächst war es so gekommen, wie
Julia befürchtet hatte: DDDs Stimmung gegen sie war nach Lucias
Rückkehr umgeschlagen. Lucia hatte ihn ganz ausgefüllt, und auf
sie, Julia, sah er mit kritischen, gehässigen Augen. Als sie, bevor
er zu Felde zog, zu ihm gekommen war, um ihm Lebewohl zu sagen,
hatte er sie, so ruhig sie war, durch höhnische Bemerkungen bis
aufs Blut gereizt. Mit einem Kopf wie dem ihren, hatte er
gespottet, könne man keinen Sinn für Größe haben, sicher habe sie
trotz seines Verbots mit diesem Lahmarsch von einem Sabin
geschlafen, des Sabin Kind trage sie im Leib, sie solle sich ja
nicht einbilden, daß er jemals ihren Balg adoptieren werde. Nun
hatte aber Julia wirklich nicht mit Sabin geschlafen, es war keine
Frage, daß die Frucht, die sie trug, von Domitian stammte, und sein
bösartiges Mißtrauen kränkte sie um so mehr, als es ihr nicht
leichtgefallen war, mitanzusehen, wie sich ihr Mann Sabin neben ihr
in Ohnmacht und Demütigung verzehrte. Es war peinvoll für die sonst
so ruhige Dame, während der ganzen Abwesenheit des Kaisers neben
dem stummen und vorwurfsvollen Sabin herzuleben, Nacht und Tag litt
sie bitter daran, daß sie DDD seinen läppischen Verdacht nicht
hatte ausreden können, und als sie schließlich kurz vor der
Rückkehr Domitians ein totes Kind zur Welt brachte, führte sie das
zurück auf die Aufregungen, die ihr die kleinliche Zweifelsucht des
menschenfeindlichen Kaisers bereitet hatte.
Domitian hatte also, aus dem
dakischen Krieg zurückkehrend, eine veränderte Julia vorgefunden.
Sie hatte von ihrer fleischigen Fülle einiges verloren, ihr
weißhäutiges, gelassen hochmütiges Gesicht schien weniger träge,
schien geistiger. Andernteils hatte Lucia ihn anders empfangen, als
er erwartet hatte. Keineswegs hatte sie den ruhmvoll
zurückkehrenden Sieger in ihm gesehen, er hatte ihr nicht einreden
können, daß der dakische Krieg, der sich noch immer hinzog, ein
Erfolg geworden sei. Es verdroß ihn, daß sie ihn heiter und
überlegen auslachte; es verdroß ihn, daß sie bei nahe alle seine
kleinen Schwächen durchschaute; es verdroß ihn, daß sie so vieles
an ihm nicht gelten ließ, worauf er stolz war; es verdroß ihn, daß
die Privilegien, die sie ihm für ihre Ziegeleien abgelistet hatte,
viel Geld brachten, während seine Kasse unter den Folgen des
Krieges litt. Dies alles machte, daß Domitian Julia wieder mit
neuem, freundlicherem Blick sah. Jetzt glaubte er ihr, daß das
Kind, das sie geboren, sein Kind gewesen sei, er glaubte ihr, daß
seine ungerechten Vorwürfe den Tod dieses Kindes bewirkt hätten, er
begehrte sie von neuem, und daß ihm die bekümmerte, erbitterte Frau
nicht mit der lässigen Freundlichkeit von früher entgegenkam,
steigerte nur seine Begier.
Domitilla also wußte, daß ihre
Schwägerin und Kusine Julia von neuem des Kaisers Ohr hatte. Von
Jakob hatte Domitilla gelernt, daß man, gerade um eine gute Sache
durchzusetzen, sanft wie eine Taube und klug wie eine Schlange sein
müsse. Sie beschloß, Julia den Fall der Universität von Jabne so
darzustellen, daß Julia das Verbot zu ihrer eigenen Sache machen
mußte.
Behutsam wußte sie die
Angelegenheit der Universität Jabne in Verbindung zu bringen mit
der Eifersucht des Domitian auf Titus. Julias Vater, Titus, hatte
Jerusalem erobert und zerstört, er war der Besieger Judäas. Diesen
Ruhm aber gönnte Jener ihm nicht. Es lag Jenem daran, sich selber,
Rom und der Welt zu erweisen, daß Titus mit seiner Aufgabe, der
Besiegung Judäas, eben doch nicht fertig geworden war, so daß ihm,
Domitian, noch viel zu tun übrigblieb: die wahre Niederwerfung der
Provinz. Wenn Jener es zum Beispiel zuließ, daß dieser lächerliche
Großdoktor der Juden hier in Rom dermaßen auftrat und sich
spreizte, dann nur deshalb, weil er der Stadt einen neuen Beweis
geben wollte, daß die Juden nach wie vor eine politische Macht
seien, daß Titus nicht mit ihnen zu Rande gekommen sei, daß mit
ihnen aufzuräumen eine Aufgabe sei, welche die Götter ihm, dem
Domitian, vorbehalten hätten.
Ansichten solcher Art also
äußerte die kluge Domitilla vor Julia, und nachdem sie sie
verlassen hatte, spann denn auch Julia, genau wie es Domitilla
gewollt, diesen Faden selbständig weiter. Es war klar, aus purem
bösem Willen, nur um das Andenken ihres Vaters Titus zu
verkleinern, ließ es DDD geschehen, daß dieser jüdische Großpfaffe
so dreist in Rom herumging. Was Domitilla da anregte, das Verbot
der Universität Jabne, das war gar nicht so schlecht. Sie, Julia,
hatte nach allem, was DDD ihr angetan, ein Anrecht auf einen
sichtbaren Gnadenbeweis. Sie wird verlangen, daß er das Andenken
ihres Vaters Titus nicht weiter durch kunstvolle Intrigen
verunglimpfe. Sie wird verlangen, daß er Jabne verbiete.
Domitilla hatte erreicht, was sie
angestrebt: Julia war, ohne zu wissen, zur Parteigängerin der
Minäer geworden.
Als Domitian sie das nächste Mal
zu sich bat, machte sie sich mit besonderer Sorgfalt zurecht.
Turmartig, in sieben Lokkenreihen übereinander, mit Juwelen
durchflochten, krönte ihr schönes, weizenblondes Haar das weiße
Gesicht. Mit einer Spur Schminke machte sie die kräftigen,
sinnlichen, flavischen Lippen noch röter. Zehnmal berechnete sie
jede Falte des blauen Kleides. Lange mit ihren Beraterinnen wählte
sie unter ihren zahllosen Parfüms.
So geschmückt kam sie zu
Domitian. Sie fand ihn gutgelaunt und empfänglich. Wie immer in der
letzten Zeit vermied sie Vertraulichkeiten; hingegen erzählte sie
ihm allerlei Gesellschaftsklatsch, und beiläufig brachte sie das
Gespräch auch auf den Erzpriester der Juden. Sie finde sein
Auftreten hier in Rom skandalös, er benehme sich wie ein
unabhängiger Fürst. Er halte seine lächerliche Universität –
vermutlich eine Art Dorfschule, auf der allerhand Aberglaube
gelehrt werde – für den Mittelpunkt der Welt, und da in dem
versnobten Rom eine Meinung um so schneller Anhänger finde, je
aberwitziger sie sei, und da niemand dem jüdischen Pfaffen
entgegentrete, so werde es noch dahin kommen, daß junge Römer nach
Jabne gingen, um dort zu studieren.
Julia brachte das alles mit dem
rechten Unterton kleiner Ironie vor. Trotzdem vermutete der
mißtrauische Domitian hinter ihr seine verhaßten Vettern. Mit
schiefem Lächeln erwiderte er: »Sie wünschten also, Nichte Julia,
daß ich diesem jüdischen Priester den Herrn zeige?« – »Ja«,
antwortete so gleichgültig wie möglich Julia, »ich glaube, es wäre
ratsam, und mir machte es Spaß.« – »Ich höre mit Vergnügen, Nichte
Julia«, erwiderte mit besonderer Höflichkeit der Kaiser, »daß Sie
so besorgt sind um das Prestige des flavischen Hauses. Sie und wohl
auch die Ihren.« Und trocken schloß er: »Ich danke
Ihnen.«
Julia gab ihr Vorhaben noch nicht
auf. Als er sich daranmachte, ihr das Kleid zu lösen und die mit
soviel Kunst hergestellte Turmfrisur zu zerstören, brachte sie die
Rede von neuem auf die Universität Jabne und verlangte
Zusicherungen, Versprechungen. Er machte sich darüber lustig. Sie
ihrerseits nannte ihn Wäuchlein, doch sie bestand, sie machte sich
steif in seinen Armen, und halb ernst, halb im Spaß, weigerte sie
sich, ihm zu Willen zu sein, ehe er ihr Versprechungen gegeben
habe. Da aber wurde er gewalttätig, und sie, gewonnen gerade durch
diese Brutalität, gab nach und zerschmolz unter seinen kräftigen
Händen.
Als sie sich von ihm trennte,
hatte sie einige Stunden der Lust hinter sich. Nichts aber hatte
sie erreicht für die Sache Domitillas und der Minäer. Mit keinem
Wort hatte der Kaiser verraten, was er in der Angelegenheit der
Universität Jabne zu tun gedenke.
Auch die Vertrauten des Kaisers fanden, es
werde endlich Zeit, daß man diese Angelegenheit bereinige. Die
Frage, ob und wann der Kaiser den Großdoktor der Juden empfangen
solle, gehörte in den Amtsbereich des Hofmarschalls Crispin. Der
war, der Ägypter, von Jugend an durchtränkt von einer tiefen
Abneigung gegen alles Jüdische. Er hatte dem Kaiser das Gesuch des
Großdoktors um eine Audienz vorgelegt, damit hatte er seine Pflicht
getan. Ihm konnte es nur recht sein, wenn DDDs starres Schweigen
die Stellung des Großdoktors in Rom allmählich lächerlich und
unhaltbar machte.
Schließlich versuchten die
Freunde der Juden, die Sache Gamaliels im Kabinettsrat zur Sprache
zu bringen. Bei der Beratung einer Kultfrage einer östlichen
Provinz meinte Marull, bei diesem Anlaß scheine es ihm angezeigt,
auch die Frage der Universität Jabne zu erklären. Claudius Regin
nahm mit der gewohnten schläfrigen Tapferkeit Marulls Anregung auf.
Gebe es denn überhaupt, wunderte er sich, eine Frage der
Universität Jabne? Und wenn es wirklich eine solche Frage gegeben
haben sollte, sei sie nicht dadurch beantwortet, daß die Krone den
Erzpriester der Juden so lange in Rom belassen habe, ohne ihn
vorzulassen? Die Tatsache, daß man trotz der Anwesenheit dieses
jüdischen Erzpriesters nichts gegen die Universität unternommen
habe, könne schwerlich anders gedeutet werden denn als Duldung, ja
als neue Bestätigung dieser Universität. Eine andere Lösung sei
auch gar nicht denkbar, wenn man nicht brechen wolle mit der
althergebrachten römischen Kulturpolitik. Religionsfreiheit sei
einer der Grundpfeiler, auf denen das Reich ruhe. Die Antastung
einer religiösen Institution, als welche das Lehrhaus von Jabne
anzusehen sei, würde zweifellos von allen unterworfenen Nationen
als eine Bedrohung auch ihrer Kultstätten angesehen werden. Man
schüfe mit einer Schließung der Universität Jabne einen
gefährlichen Präzedenzfall und viel unnötige Unruhe.
Claudius Regin hatte mit großem
Geschick Phrasen aus der Ideologie des Kaisers gewählt und an
Domitian als an den Hüter römischer Tradition appelliert.
Verstohlen nun durchspähte er des Kaisers Gesicht. Der schwieg,
schaute ihn einen Augenblick lang aus seinen vorgewölbten,
kurzsichtigen Augen an, nachdenklich zerstreut, dann wandte er den
Kopf langsam den andern Herren zu. Regin indes, der langjährige
Beobachter, wußte, daß seine Worte Eindruck auf DDD gemacht hatten.
So war es denn auch. Domitian sagte sich, die Argumente seines
Regin ließen sich hören. Das aber kam ihm gar nicht zupaß. Denn er
wollte sich in der Freiheit seiner Entschlüsse nicht stören lassen,
er wollte die Hände freibehalten, die Sache sollte in der Schwebe
bleiben. So saß er denn, äußerte nichts und wartete darauf, daß
einer unter seinen Räten Gegenargumente bringen werde.
Er könne nicht zugeben, führte
denn auch Hofmarschall Crispin aus, in dem lispelnden, flüsternden,
versnobten Griechisch, das an den Universitäten von Korinth und
Alexandrien im Schwang stand und deshalb für vornehm galt, er könne
durchaus nicht zugeben, daß sich die Krone durch ihr Schweigen
festgelegt habe. Auch früher schon habe man zuweilen Gesandte, ja
selbst Könige barbarischer Völker Monate hin durch auf eine Audienz
warten lassen. Alle schauten ein klein wenig hoch und auf den
Kaiser, als der Ägypter, seinem Haß die Zügel schießenlassend, von
den Juden als von Barbaren sprach. Aber der Kaiser blieb
reglos.
Der Polizeiminister Norban sprang
dem Crispin bei. »An sich schon«, sagte er, »ist die von niemand
gewünschte Reise des jüdischen Erzpriesters nach Rom eine
Zudringlichkeit und Anmaßung. Wenn der Erzpriester eine Bitte oder
Beschwerde hat, dann möge er sich gefälligst an die zuständige
Stelle wenden, an den kaiserlichen Gouverneur in Cäsarea. Meine
Beamten berichten mir übereinstimmend, daß die Frechheit der Juden
seit der Ankunft ihres Erzpriesters in Rom zugenommen hat. Das
Verbot der Universität Jabne wäre ein geeignetes Mittel, diese
Insolenz zu dämpfen.«
Norban versuchte, das breite,
vierschrötige Gesicht, in das die modischen Stirnlocken des dicken,
tiefschwarzen Haares grotesk hereinfielen, unbeteiligt zu halten
und die Stimme sachlich. Dennoch schienen dem Kaiser die
grobfädigen Sätze seines Polizeiministers nicht geeignet, die
Beweise des Regin zu entkräften. Er saß da, unmutig, schwieg,
wartete. Wartete auf bessere Gegenargumente, die ihm seine
Entschlußfreiheit zurückgeben sollten. Da kam ihm derjenige seiner
Räte zu Hilfe, von dem er das am wenigsten erhofft hatte, Annius
Bassus. Dem schlichten Soldaten hatte die Dame Dorion mit Geduld
und Geschicklichkeit Argumente vorgekaut, die für die Wirkung auf
Domitian zugestutzt waren, immer wieder, so lange, bis Annius sie
für seine eigenen hielt. Gewiß, legte er umständlich dar,
entspreche es altrömischer Staatsweisheit und Tradition, das
kulturelle Leben der unterworfenen Länder zu schonen und den
besiegten Völkern ihre Götter und ihre Religion zu belassen. Allein
die Juden hätten sich selber dieses Privilegs beraubt. Sie hätten
es in tückischer Absicht dem großmütigen Sieger unmöglich gemacht,
ihre Religion von ihrer Politik zu scheiden, indem sie diese ihre
Religion bis ins Innerste mit Politik durchtränkten. Wenn man sie
anders behandle als die übrigen unterworfenen Nationen, so würden
diese das begreifen und keine falschen Schlüsse daraus ziehen. Denn
die Juden hätten es von jeher darauf angelegt, ein Aus nahmevolk zu
sein, und sie schieden sich selber feindselig aus dem friedlichen
Kreis der kulturell autonomen Nationen, aus denen sich das Reich
zusammensetze. Auch sei ihr Gott Jahve kein Gott wie der anderer
Völker, er sei kein richtiger Gott, es gebe kein Bild von ihm,
nicht könne man wie die Statuen anderer Götter eine Statue von ihm
in einem römischen Tempel aufstellen. Er sei gestaltlos, er sei
nichts anderes als der aufsässige Geist jüdisch-nationaler
Politik.
Schwerlich könne man, wenn anders
man die Juden wirklich unterwerfen wolle, diesen Gott Jahve
schonen, schwerlich seine Universität Jabne. Denn Jahve, das sei
einfach ein Synonym für Hochverrat.
Man war sonst von dem einfachen
Soldaten Annius Bassus so geistreiche Reden nicht gewohnt. Marull
und Regin lächelten; sie ahnten die Zusammenhänge, sie ahnten, daß
hinter diesen Ausführungen die Dame Dorion stand. Der Kaiser aber
hörte die Sätze seines Kriegsministers mit Vergnügen. Von wem immer
sie stammen mochten, sie schienen ihm eine ernsthafte Antwort auf
die Bedenken des Regin und gaben ihm, dem Kaiser, seine
Entschlußfreiheit zurück.
Er hatte genug gehört von diesem
Großdoktor und seiner Universität. Mit einer Handbewegung wischte
er den ganzen Gegenstand fort und sprach von anderem.
Am nächsten Abend aber speiste er allein mit
Jupiter, Juno und Minerva. Eine Gliederpuppe, angetan mit den
Kleidern des Jupiter, versehen mit einer kunstvollen Wachsmaske,
die das Gesicht des Gottes wiedergab, lag auf dem Speisesofa, und
auf hohen, goldenen Stühlen saßen Gliederpuppen mit den Wachsmasken
der beiden Göttinnen. Mit ihnen also speiste der Gott Domitian. Die
Diener trugen die Gerichte ab und zu, in weißen Sandalen; sie waren
von lautloser, ängstlicher Beflissenheit, um das Gespräch nicht zu
stören, das Domitian mit seinen Gästen, den Göttern,
führte.
Der Kaiser wollte sich mit seinen
Göttern beraten über seinen schwierigen Handel mit diesem fremden
Gotte Jahve. Denn geteilt wie die Stimmen seiner Räte waren die
Stimmen in seinem eigenen Innern. Es trieb ihn, das Lehrhaus von
Jabne zu zerstören, und es trieb ihn, es mit starker Hand zu
beschirmen. Er wurde nicht fertig mit diesem Problem.
Mit Isis oder mit Mithras kann
man fertig werden; man kann ihnen Statuen errichten, und es gibt
viele Arten, sie zu versöhnen, wenn man ihre Verehrer gekränkt hat.
Was aber soll man mit diesem Gotte Jahve anfangen, von dem es kein
Bild gibt und kein Gesicht, der wesenlos ist wie flimmernde,
fiebrige Luft, die man nicht greifen kann, die man erst an ihren
bösen Folgen erkennt?
Annius Bassus hat ihm erzählt,
wie sehr seinerzeit das Haus dieses Jahve, der Tempel, dieses Weiß
und Goldene, das da, wie es die Soldaten nannten, die Seelen der
Belagerer getrübt und krank gemacht hat. Schier um den Verstand hat
es sie gebracht. Titus hat sein Leben lang Angst gehabt vor der
Rache dieses Gottes Jahve, weil er ihn durch die Zerstörung seines
Hauses beleidigt hat. Und das Letzte, was er tat, war, daß er sich
bei dem Juden Josephus entschuldigte um dieser Beleidigung
willen.
Er, Domitian, kennt keine Furcht,
aber er ist der Erzpriester, der irdische Repräsentant des
Capitolinischen Jupiter, er ehrt alle Götter, und er hütet sich,
mit dem fremden Gott und mit dessen Erzpriester anzubinden.
Vorsichtig umgehen wird er mit diesem Großdoktor. Denn die Juden
sind schlau. Wie sich stürmende Belagerungstruppen hinter den
Dächern ihrer Schildkröte decken, so verstecken sich die Juden
hinter ihrem unsichtbaren Gott.
Aber vielleicht ist auch alles
Schwindel. Vielleicht existiert er gar nicht, der unsichtbare
Gott.
Seine eigenen Götter müssen ihm
helfen, ihm raten. Darum hat er sich feierlich geschmückt und sie
zu Gast gebeten, darum speist er mit ihnen, darum dampfen ihnen auf
goldenen Tellern Schwein, Lamm und Rind.
Er bemüht sich, seiner Gäste
würdig zu sein, halbhoch jetzt richtet er sich, bestrebt, seinem
Gesicht den Ausdruck zu geben, den seine Büsten tragen. Den Kopf
mit der Löwenstirn stolz nach oben, die Brauen drohend
zusammengezogen, die Augen flammend, herausfordernd, die Nüstern
etwas gebläht, den Mund halb offen, so taucht er den Blick in den
seiner göttlichen Gäste und heischt von ihnen Eingebung, Rat. Da
Jupiter ihm schweigt und Juno keine Stimme für ihn hat, wendet er
sich der Minerva zu, seiner Lieblingsgöttin. Da sitzt sie. Er hat
sie befreit von der Verniedlichung, von der billigen Idealisierung
durch ihre Bildner, er hat ihr die Eulenaugen zurückgegeben, die
sie ursprünglich gehabt hatte; Kritias, der große Spezialist, hat
sie ihr einsetzen müssen.
Ja, ihm, Domitian, ist sie die
eulenäugige Minerva. Er spürt das Tier in ihr, wie er das Tier in
sich selber spürt, die gewaltige Urkraft. Mit seinen eigenen
großen, vorgewölbten, kurzsichtigen Augen starrt er in die großen,
runden Eulenaugen der Göttin. Ihr tief verbunden fühlt er sich. Und
er spricht zu ihr; laut, ohne Scheu vor den verstörten Dienern, die
sich bestreben, nicht hinzuhören, und die doch hinhören müssen,
spricht er zu ihr. Er versucht, seine scharfe Stimme sanft zu
machen, er gibt der Göttin Schmeichelnamen, griechische,
lateinische, alle, die ihm beifallen. Stadtschirmerin nennt er sie,
Schlüsselbewahrerin, Abwehrerin, kleine, liebe Vorkämpferin, meine
Unbezwungene, Siegerin, Beutemacherin, Trompetenerfinderin,
Helferin, Sinnreiche, Scharfblickende, Erfinderische. Und siehe,
endlich fügt sie sich und spricht ihm. Dieser Jahve, sagt sie ihm,
ist ein listiger Gott, ein östlicher Gott, ein rechter Schlaukopf.
Hereinlegen will er dich, den Römer, mit seiner Universität Jabne.
Zu einem Sakrileg will er dich verlocken, damit er Grund habe, dich
zu züchtigen und zu verderben; denn er ist rachsüchtig, und nachdem
dein Bruder schon bei den Untern ist, möchte er sich an dich halten
und dich zausen. Bleib ruhig, laß dich nicht hinreißen, hab
Geduld!
Domitian lächelt, sein tiefes,
dunkles Lächeln. Nein, der Gott Jahve soll den Gott Domitian nicht
hereinlegen. Er denkt gar nicht daran, dieses alberne Lehrhaus in
Jabne zu verbieten. Aber auf die Nase binden wird er das diesem
Großdoktor nicht. Wenn der Gott Jahve von ihm, Domitian, Geduld
verlangt, dann verlangt er, der Kaiser Domitian, Geduld von diesem
Erzpriester. Ihn schmoren lassen in seiner Angst wird er.
Zerfließen und zerschmelzen vor lauter Warten soll der
Mann.