Das despotische Regime des letzten flavischen Kaisers, des
herrschsüchtigen Domitian, stürzt den Geschichtsschreiber
Flavius Josephus in immer neue Konflikte. Josef, der Jude,
der sich einst berufen fühlte, den Aufstieg der Flavier zu
verkünden und Mittler zu sein zwischen Rom und Judäa,
kehrt, nachdem er seinen hoffnungsvollen Sohn Matthias
durch das grausame Intrigenspiel des Kaisers verloren hat,
ins Land seiner Väter zurück. Für immer scheint der welter
fahrene Mann, der den Gipfel seines Erfolgs überschritten
hat, die Bühne politischer Betätigung verlassen zu haben.
Als aber die ständig gärende jüdische Freiheitsbewegung
erneut aufflammt, um die verhaßte römische Herrschaft
abzuschütteln, da wird Josef – der Zweideutige, der Schil
lernde, der Verräter – mitgerissen wie am Anfang seiner
Laufbahn. Ehe er sich jedoch bewähren kann, verlischt
sein merkwürdiges, ungewöhnliches Leben am Rande einer


Lion Feuchtwanger

Der Tag wird kommen








Roman


















AUFBAU-VERLAG



Die „Josephus“-Trilogie umfaßt die Romane


DER JÜDISCHE KRIEG
DIE SÖHNE
DER TAG WIRD KOMMEN

„Der jüdische Krieg“ erschien erstmalig im Jahre 1932, „Die Söhne“ im Jahre 1935, „Der Tag wird kommen“ in englischer Übersetzung 1942,
in deutscher Sprache 1945











5. Auflage 1989
Alle Rechte Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
© Marta Feuchtwanger 1968
Einbandgestaltung Heinz Unzner
Karl-Marx-Werk, Graphischer Großbetrieb, Pößneck V 15/3o
Printed in the German Democratic Republic
Lizenznummer 301.120/113/89
Bestellnummer 611362 5
I-III 03150





Feuchtwanger, Ges. Werke
ISBN 3-351-00623-3
Bd. 2-4
ISBN 3-351-00681-0



ERSTES BUCH

Domitian







ERSTES KAPITEL



Nein, was Josef da hingeschrieben hat, wird er kaum stehenlassen können. Von neuem überliest er seine Sätze
       über Saul, den Hebräerkönig, wie dieser, wiewohl ihm kundgeworden ist, er werde den Tod finden und die Seinen in den Untergang führen, entschlossen in den Kampf zieht. »Das hat Saul getan«, hat er geschrieben, »und dadurch gezeigt, daß solche, die nach ewigem Ruhme streben, ähnlich handeln sollten.« Nein, sie sollten nicht ähnlich handeln. Gerade jetzt dürfte er so was nicht schreiben. Seine Landsleute sind in diesen Jahrzehnten nach dem Untergang ihres Staates und ihres Tempels ohnedies geneigt, ein neues, unsinniges kriegerisches Unternehmen zu versuchen. Jene Geheimverbindung, die den Anbruch des Tages beschleunigen will, die »Eiferer des Tages«, gewinnen immer neue Anhänger und neuen Einfluß. Josef darf ihre hoffnungslose Tapferkeit nicht durch sein Buch noch weiter spornen. Sosehr der finstere Mut dieses Königs Saul ihn anzieht, er muß der Vernunft folgen, nicht seinem Gefühl, er darf seinen Juden diesen König nicht als nachahmenswerten Helden hinstellen.
  Flavius Josephus, Ritter des Zweiten römischen Adels, der große Schriftsteller, dessen Ehrenbüste in der Bibliothek des Friedenstempels aufgestellt ist, oder besser der Doktor Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe aus Jerusalem, wirft den Schreibgriffel beiseit, geht auf und nieder, setzt sich schließlich in einen Winkel seines Arbeitszimmers. Da sitzt er, im Halbdunkel, die Öllampe hebt nur den Schreibtisch heraus mit den paar Büchern und Rollen, die darauf liegen, und dem goldenen Schreibzeug, das ihm einstmals der verstorbene Kaiser Titus geschenkt hat. Fröstelnd – denn kein Feuer kommt auf gegen die feuchte Kälte dieses frühen Dezember –, mit abwesenden Augen schaut Josef auf das mattgleißende Gold. Merkwürdig, daß er die enthusiastischen Sätze hingeschrieben hat über Sauls sinnlose Tapferkeit. Ist ihm also doch wieder einmal das Herz durchgegangen? Will es sich, dieses fünfzigjährige Herz, noch immer nicht bescheiden mit der ruhevollen Betrachtsamkeit, die allein in seinem großen Buch zu Worte kommen soll?
  Wenigstens unterläuft es ihm jetzt immer seltener, daß ihm Griffel oder Feder durchgeht. Er hat sich den Gleichmut erkämpft, den sein großes Werk bedingt, seine »Universalgeschichte des jüdischen Volkes«. Er hat dem Getriebe entsagt, er jammert dem wilden Leben nicht nach, das hinter ihm liegt. Er hat sich seinerzeit mit heißem Eifer hineingestürzt in den großen Krieg seines Volkes, hat daran teilgenommen auf Seite der Juden und auf Seite der Römer, als Politiker und als Soldat. Hat tiefer hineingesehen in die Begebenheiten dieses Krieges als die weitaus meisten Zeitgenossen. Hat die großen Geschehnisse miterlebt in der nächsten Umgebung des ersten flavischen Kaisers und des zweiten, als Tätiger und als Leidender, als Römer, Jude und Weltbürger. Hat schließlich die klassische Geschichte dieses jüdischen Krieges geschrieben. Ist gefeiert worden wie wenige andere und erniedrigt und beschimpft wie wenige andere. Jetzt ist er müde der Erfolge und der Niederlagen, das heftige Tun ist ihm schal geworden, er hat erkannt, daß seine Aufgabe und seine Kraft in der Betrachtung liegen. Nicht Geschichte zu machen, ist er eingesetzt von Gott und von den Menschen, sondern die Geschichte seines Volkes zu ordnen und aufzubewahren, ihren Sinn zu erforschen, ihre Träger beispielhaft hinzustellen zum Ansporn und zur Warnung. Dazu ist er da, und er ist es zufrieden.
  Ist er zufrieden? Die schöne und unweise Stelle über den König Saul zeugt nicht dafür. Er ist fast fünfzig, aber den ersehnten Gleichmut hat er noch nicht gefunden.
  Er hat alles getan, ihn sich zu erwerben. Durch keinerlei Bemühungen um äußern Erfolg hat er sich von seinem Werk ablenken lassen. Nichts von ihm ist während dieser ganzen vier Jahre an die Öffentlichkeit gelangt. Während Vespasian und Titus ihm freundlich gesinnt waren, hat er keinen Finger gerührt, um an den Kaiser von heut, an den mißtrauischen Domitian heranzukommen. Nein, es ist in dem stillen, abseits lebenden Josef dieser letzten Zeit nichts mehr von jenem früheren, heftigen, betriebsamen.
  Die Sätze über den dunkeln Mut des Königs Saul, die er da geschrieben hat, sind schön und hinreißend, und die »Eiferer des Tages« würden sie mit Begeisterung lesen. Aber ach, gerade das sollen sie ja nicht. Nicht in der Begeisterung sollen sie sich üben, sondern in der Vernunft, in der schlauen Geduld. Sie sollen sich fügen und kein zweites Mal sinnlos gegen Rom die Waffen erheben.
  Warum wohl sind ihm gerade heute die schönen und verruchten Sätze über den König Saul in die Feder gekommen? Er hat es gewußt, schon während er die Worte hinschrieb; er hat es nicht wissen wollen, doch jetzt kann er sein Wissen nicht länger vor sich selber verbergen. Es geschah, weil ihm gestern Paulus begegnet ist, sein Junge, der Sechzehnjährige, der Sohn seiner geschiedenen Frau. Josef hat diese Begegnung nicht wahrhaben wollen, hat sich’s nicht eingestehen wollen, daß der junge Mensch, der da an ihm vorbeiritt, sein Paulus sei. Er hat sich befohlen, dem Jungen nicht nachzuschauen, aber sein Herz hat einen Sprung getan, und er hat gewußt: es war Paulus.
  Ein kleines Stöhnen kommt aus dem Munde des im Halbdunkel sitzenden Mannes. Wie hat er seinerzeit geworben um diesen seinen Sohn Paulus, den Halbfremden, den Sohn der Griechin, wieviel schwere Schuld hat er auf sich geladen seinethalb. Der Junge hat trotzdem alles ausgetilgt, was er mit soviel scheuer Beharrlichkeit in ihn einzusenken versucht hat, und jetzt er hat für ihn, den Vater, den Juden, nur Verachtung. Josef denkt an die schauerliche Stunde, da er unter dem Joch des Siegers hat durchschreiten müssen, unter dem Bogen des Titus, er denkt daran, wie ihm da für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht seines Sohnes Paulus erschienen ist. Unter den vielen tausend höhnischen Gesichtern jener dunkeln Stunde wird es ihm unvergeßbar bleiben, eingefressen ins Herz, dieses blaßbräunliche, hagere, feindselige Gesicht. Nichts anderes als die Erinnerung an dieses Gesicht war es, Selbstverteidigung gegen dieses Gesicht, die ihm die Feder geführt hat, als er jene Sätze schrieb über den Judenkönig Saul.
  Denn ach, in die Schlacht zu gehen, auch wenn sie sichern Untergang bringt, wie leicht ist das, gemessen an dem, was er damals auf sich genommen hat. Herzzerdrückend ist es, schmachvoll, Bewunderung zeigen zu müssen für den frechen Sieger, weil man weiß, daß solche Selbsterniedrigung der einzige Dienst ist, den man dem eigenen Volke leisten kann.
  Später, in hundert Jahren oder in tausend, wird man das erkennen. Heute aber, an diesem neunten Kislev des Jahres
3847 nach Erschaffung der Welt, ist es ihm ein geringer Trost, daß ihn die sehr viel Späteren einmal bewundern werden. In seinen Ohren ist nichts von diesem Ruhm, in seinem Herzen ist nichts als die Erinnerung an jenes Geschrei aus hunderttausend Mündern: »Lump, Verräter, Hund«, und darüber, lautlos und doch lauter als alle anderen Stimmen, die seines Sohnes Paulus: »Mein Vater, der Lump, mein Vater, der Hund.«
  Weil er sich gegen diese Stimme hat verteidigen wollen, deshalb hat er die Sätze über den düstern Mut des Saul geschrieben. Süß und erhebend war es, sie zu schreiben. Süß und erhebend ist es, sich von seinem Mut fortreißen zu lassen, bedenkenlos. Aber höllisch schwer ist es, niederdrückend, taub zu bleiben vor der Lockung und nichts zu hören als die ruhige, keineswegs hinreißende Stimme der Vernunft.
  Da hockt er, ein noch nicht alter Mann, und das Zimmer, dämmerig mit Ausnahme des von der Öllampe beleuchteten Schreibtisches, ist voll von den ungetanen Taten, nach denen er sich sehnt. Denn die Gelassenheit, von der er soviel hermacht, diese seine Stille hier inmitten des lauten, glänzenden, von Taten berstenden Rom ist künstlich, ist erkrampft, ist Schwindel. Alles in ihm ist wund und weh vor hungrigem Ehrgeiz und Tatendrang. Rausch erzeugen, Tatenlust, das ist etwas. Die Geschichte des Königs Saul so erzählen, daß die Jugend seines Volkes ihm zujubelt und begeistert in den Tod geht wie damals, als er sie, jung und dumm, mit seinem Makkabäerbuch hinriß, das ist etwas. Die Geschichte Sauls und Davids und der Könige und der Makkabäerfürsten, deren Blut er selber in den Adern trägt, so schreiben, daß sein Sohn Paulus spürt: Mein Vater ist ein Mann und ein Held, das ist etwas. Aber die Billigung der eigenen Vernunft, die Bewunderung der Späteren, der Nachwelt, das ist Schall und Dunst.
  Er darf das nicht denken. Er muß die Gesichte fortjagen,
die ihm hier im Dunkeln auflauern. Er klatscht dem Diener, befiehlt: »Licht, Licht!« Alle Lampen und Kerzen müssen angezündet werden. Erleichtert spürt er, wie er wirklich, da sich der Raum erhellt, wieder er selber wird. Jetzt kann er der Vernunft folgen, seiner wahren Führerin.
  Er setzt sich von neuem an den Arbeitstisch, zwingt sich zur Sammlung. »Damit es nicht den Anschein habe«, schreibt er, »als beabsichtige ich, König Saul über Gebühr zu loben, fahre ich jetzt in meiner eigentlichen Erzählung fort.« Und er fuhr fort, erzählte, sachlich, gemessen.
  So mochte er eine Stunde gearbeitet haben, als ihm der Diener meldete, ein Fremder sei da, der sich nicht abweisen lasse, ein Doktor Justus aus Tiberias.

Josef hatte seinen großen literarischen Gegner in den letzten Jahren selten gesehen und kaum je allein. Es konnte schwerlich Gutes bedeuten, daß ihn Justus zu so ungewohnter Stunde aufsuchte.
  Das graugelbe Antlitz des Mannes, wie er jetzt ins Zimmer trat, Feuchtigkeit und Kälte mit sich bringend, schien dem Josef noch härter geworden, trockener, zerfurchter, als er es in der Erinnerung hatte. Alt, verbraucht, mühsam hochgehalten saß der Kopf des Justus auf dem erschreckend dürren Hals. Josef, so gespannt er auf das wartete, was ihm der andere sagen werde, richtete mechanisch das Aug auf den Stumpf jenes linken Armes, den man dem Justus damals hatte amputieren müssen, als ihn Josef vom Kreuz herunterholte. Er hat sich damit einen scharfen Mahner vom Kreuz geholt, der mit grausam sicherem Blick jede faule Stelle an ihm durchschaute, einen Mann, vor dem Josef immer Angst hatte und den er doch nicht entbehren konnte.
  »Und was wollen Sie, mein Justus?« fragte er ihn nach einigen Sätzen geradezu. »Ich möchte Ihnen einen dringlichen Rat geben«, erwiderte Justus. »Sehen Sie sich in den nächsten Wochen gut vor, was Sie reden und zu wem. Denken Sie auch darüber nach, ob Sie vielleicht in letzter Zeit Dinge gesagt haben, die Übelwollende zu Ihren Ungunsten ausdeuten könnten, und überlegen Sie, wie solche Kommentare zu entkräften wären. Es gibt in der Umgebung des Kaisers Leute, die Ihnen nicht wohlwollen, und Sie selber sollen ab und zu Leute bei sich sehen, deren Staatstreue fraglich ist.« – »Darf man nicht mit Leuten verkehren«, fragte Josef, »die römisches Bürgerrecht haben und die niemals von einer Behörde verdächtigt worden sind?« Justus verzog die dünnen Lippen. »Man durfte es«, antwortete er, »in Friedenszeiten. Aber jetzt sieht man sich besser einen jeden genau an, mit dem man Worte wechselt, nicht nur darauf, ob einmal etwas gegen ihn vorgelegen hat, sondern auch, ob einmal in Zukunft etwas gegen ihn vorliegen könnte.«
  »Sie denken, der Friede im Osten ...?« Josef vollendete den Satz nicht.
  »Ich denke, der Friede im Osten ist wieder einmal zu Ende«, erwiderte Justus. »Die Daker haben die Donau überschritten und sind in das Gebiet des Reichs eingefallen. Die Meldung kommt aus dem Palatin.«
  Josef war aufgestanden. Er hatte Mühe, den andern nicht merken zu lassen, wie sehr ihn die Nachricht aufrührte. Der neue Krieg, der da anrollte, dieser Krieg im Osten, konnte unabsehbare Folgen haben für ihn und für Judäa. Wenn die östlichen Legionen in einen Kampf verwickelt waren, wenn man mit einer Intervention der Parther rechnen durfte, werden dann die »Eiferer des Tages« nicht losschlagen? Werden sie nicht die aussichtslose Erhebung wagen?
  Und da, vor einer Stunde noch, hat er König Saul gerühmt, den Mann, der, den sichern Untergang vor Augen, dennoch in den Krieg geht. Er ist, mit seinen Fünfzig, ein noch größerer Narr und Verbrecher als damals mit Dreißig.
  »Mein Justus, was können wir tun?« sagte er seine tiefe Sorge geradeheraus, die Stimme heiser vor Erregung.
  »Mann, Josef, das wissen doch Sie besser als ich«, antwortete Justus, und er höhnte: »Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und Sie sind einer von ihnen. Sie müssen sich hören lassen. Sie müssen ein klares Manifest abfassen, das von allen Unüberlegtheiten abrät. Je simpler, um so besser. Das können Sie doch. Sie verstehen sich doch auf die Sprache des gemeinen Mannes, Sie verstehen sich doch auf die großen und billigen Worte.« Seine scharfe Stimme klang besonders unangenehm, die dünnen Lippen verzogen sich, und da war auch wieder jenes peinliche Kichern, das an Josefs Nerven riß.
  Trotzdem ging Josef auf den Hohn des andern nicht ein. »Wie wollen Sie mit Worten aufkommen gegen ein so starkes Gefühl?« fragte er. Und: »Ich möchte ja selber nach Judäa«, brach es aus ihm heraus, »teilnehmen an diesem Aufstand, als was immer, fallen in diesem Aufstand.«
  »Das glaub ich Ihnen«, höhnte Justus, »das könnte Ihnen so passen. Wenn ein Stärkerer einen schlägt, dann schlägt man einfach zurück und reizt ihn so lange, bis er einen totschlägt. Aber wenn die ›Eiferer des Tages‹ eine Entschuldigung haben, Sie haben keine. Sie sind nicht dumm genug.« Und da Josef vor sich hin starrte, hilflos, grimmig, sagte er noch: »Schreiben Sie das Manifest! Sie haben viel gutzumachen.«
  Als Justus gegangen war, setzte sich Josef hin, um seine Mahnung zu befolgen. Es gehöre, schrieb er, viel mehr Mut dazu, sich zu überwinden und den Aufstand zu unterlassen als ihn zu beginnen. Vorläufig, auch wenn der Krieg im Osten ausbräche, gehe es für uns Juden darum, den Staat des Gesetzes und der Bräuche weiter auszubauen und unsere ganze Kraft dieser Aufgabe allein zu widmen. Wir müßten es Gott und der leitenden Vernunft überlassen, die Voraussetzungen zu schaffen dafür, daß dieser Staat des Gesetzes und der Bräuche, das Jerusalem im Geiste, auch seinen sichtbaren Rahmen und Unterbau erhalte, das steinerne Jerusalem. Der Tag sei noch nicht gekommen. Ein zur Unzeit begonnenes, bewaffnetes Unternehmen aber schiebe den Tag nur hinaus, dem wir alle entgegeneiferten.
  Er schrieb. Er versuchte sich vollzusaugen mit Begeisterung für die Vernunft so lange, bis ihm ihr Wasser wie Wein schmeckte, so lange, bis ihm die Sätze, die er verkündete, nicht mehr nur Sache seines Verstandes schienen, sondern Sache seines Herzens. Zweimal mußte der Diener die Kerzen erneuern und das Öl der Lampen, ehe sich Josef mit seinem Konzept zufriedengab.
Den Abend darauf fanden sich in der Behausung des Josef vier Gäste ein. Da war der Möbelhändler Cajus Barzaarone, Präsident der Agrippenser-Gemeinde, Repräsentant der römischen Judenheit, ein maßvoller, vernünftiger Mann, dessen Name auch in Judäa guten Klang hatte. Da war weiter Johann von Gischala, einmal ein Führer im jüdischen Krieg, ein schlauer und kühner Mann. Jetzt saß er als Terrainhändler in Rom, seine Geschäfte erstreckten sich übers ganze Reich; in Judäa aber war heute noch in den Köpfen der »Eiferer des Tages« die Erinnerung an seine Tätigkeit während des Krieges lebendig. Da war zum dritten Justus von Tiberias. Da war schließlich Claudius Regin, Finanzminister des Kaisers, geboren von einer jüdischen Mutter und gleichwohl nie ein Hehl daraus machend, daß er die Sache der Juden begünstige, ein Mann, der Josefs Bücher verlegt und ihm in allen seinen Nöten geholfen hatte.
  Es mußten unter diesem mißtrauischen Kaiser Domitian Zusammenkünfte ein harmloses Aussehen tragen, um nicht wie Verschwörung zu wirken; denn es gab in beinahe jedem Hause Spitzel des Polizeiministers Norban. Die Herren führten also zunächst, während sie zu Abend aßen, beiläufige Reden über die Dinge des Tages. Natürlich sprach man vom Krieg. »Im Grunde«, meinte Johann von Gischala, und sein braunes, wohlwollendes, pfiffiges Gesicht lächelte vergnügt, ein wenig hinterhältig, »im Grunde ist der Kaiser nicht kriegerisch für einen Flavier.« Claudius Regin wandte sich ihm zu, salopp lag er da, die schweren Augen schauten schläfrig und mokant unter der vorgebauten Stirn. Er wußte, daß er dem Kaiser unentbehrlich war, und durfte sich deshalb ab und zu eine übellaunig spaßhafte Offenheit leisten. Auch heute nahm er keine Rücksicht auf die servierenden Diener. »Nein, kriegerisch ist DDD nicht«, erwiderte er dem Johann; DDD aber nannte man den Kaiser nach den Anfangsbuchstaben seines Titels und Namens: Dominus ac Deus Domitianus, der Herr und Gott Domitian. »Allein er findet leider, daß ihm der Triumphmantel des Jupiter nicht schlecht steht, und dieses Kostüm ist ein wenig kostspielig. Unter zwölf Millionen kann ich einen Triumph nicht machen, von den Kosten des Krieges ganz abge sehen.« Endlich konnte Josef, die Tafel aufhebend, die Dienerschaft wegschicken, und man redete zur Sache. Als erster äußerte sich Cajus Barzaarone. Er glaube kaum, setzte der joviale Herr mit den listigen Augen auseinander, daß sie, die römischen Juden, durch den bevorstehenden Krieg unmittelbar bedroht seien. Natürlich müßten sie sich in dieser schwierigen Zeit still halten und jedes Aufsehen vermeiden. Bittgottesdienste für den Kaiser und für den Sieg seiner Adler habe er für seine Agrippenser-Gemeinde bereits angeordnet, und selbstverständlich würden die andern Synagogen nachfolgen.
  Das war eine vage, unbefriedigende Rede. So hätte Barzaarone im Verein der Möbelhändler sprechen können, dem er vorstand, oder bestenfalls vor den Ratsmitgliedern seiner Gemeinde; aber wenn er hier sprach, zu ihnen, dann hatte es doch keinen Sinn, die Augen vor der Gefahr zu schließen.
  Johann von Gischala schüttelte denn auch den braunen, breiten Kopf. Leider, meinte er mit gutmütigem Spott, sei nicht die ganze Judenheit so brav und vernünftig wie die wohldisziplinierte Agrippenser-Gemeinde. Da gebe es zum Beispiel, wie dem verehrten Cajus Barzaarone bestimmt nicht unbekannt sei, die »Eiferer des Tages«.
  Diese »Eiferer des Tages«, stellte auf seine trockene Art Justus fest, würden sich ärgerlicherweise auch auf manches Wort des Großdoktors Gamaliel berufen können. Es war aber Großdoktor Gamaliel, der Präsident der Universität und des Kollegiums von Jabne, der anerkannte Führer der gesamten Judenheit. Bei aller Mäßigung, fuhr Justus fort, habe der Großdoktor, wenn er sich nicht von den »Eiferern des Tages« allen Wind aus den Segeln habe nehmen lassen wollen, die Hoffnung auf die baldige Wiedererrichtung des Staates und des Tempels immer neu schüren und sich manchmal auch starker Worte bedienen müssen. Dessen würden sich jetzt die Fanatiker erinnern. »Der Großdoktor wird es nicht leicht haben«, schloß er.
  »Machen wir uns nichts vor, meine Herren«, faßte auf seine rücksichtslose Art Johann von Gischala zusammen. »Es ist so gut wie sicher, daß die ›Eiferer des Tages‹ losschlagen werden.«
  Im Grunde hatten sie das alle gewußt; dennoch gab es ihnen einen kleinen Ruck, wie Johann es so nüchtern feststellte. Josef beschaute sich diesen Johann, den nicht großen, doch breiten und kräftigen Körper, das braune, gutmütige Gesicht mit dem kurzen Knebelbart, der eingedrückten Nase, den grauen, verschmitzten Augen. Ja, Johann war der richtige galiläische Bauer, er kannte sein Judäa von innen heraus, er war unter den Anstiftern und Führern des jüdischen Krieges der populärste gewesen, und sosehr Josef sich gegen seine ganze Art auflehnte, er konnte dem Mann nicht abstreiten, daß seine Vaterlandsliebe aus den Tiefen seines Wesens kam. »Wir hier in Rom«, begründete Johann von Gischala die Entschiedenheit, mit der er gesprochen, »können uns schwer vorstellen, wie der Krieg im Osten die in Judäa aufrühren muß. Wir hier erleben sozusagen an unserm eigenen Körper die Macht des römischen Reichs, sie ist immerfort um uns herum, das Gefühl dieser Macht ist uns ins Blut übergegangen und verbietet uns jeden Gedanken an Widerstand. Aber wenn ich«, überlegte er laut, und sein Gesicht nahm einen nachdenklichen, gesammelten, schmerzhaft begehrlichen Ausdruck an, »wenn ich nicht hier in Rom säße, sondern in Judäa und dort von einer Schlappe der Römer hörte, dann könnte ich nicht für mich einstehen. Ich weiß natürlich mathematisch sicher, daß eine solche Schlappe am Ausgang des Krieges nichts ändern würde; ich habe es am eigenen Leib zu spüren bekommen, wohin ein solcher Aufstand führt. Jung bin ich auch nicht mehr. Und trotzdem, mich selber reißt es, loszugehen, loszuschlagen. Ich sage euch: die ›Eiferer des Tages‹ werden nicht stillhalten.«
  Johanns Worte rührten die andern an. »Was können wir tun, sie zu ernüchtern?« unterbrach Justus das Schweigen. Er sprach mit kalter, beinahe anstößiger Schärfe; doch die Ernsthaftigkeit seiner Gesinnung, die Unbestechlichkeit seines Urteils hatte ihm Achtung erworben, und daß er teilgenommen hatte am jüdischen Krieg, daß er für Jerusalem am Kreuz gehangen war, bewies, daß es nicht Feigheit war, wenn er ein neues kriegerisches Unternehmen so verächtlich abtat.
  »Man könnte vielleicht«, schlug behutsam Cajus Barzaarone vor, »dem Kaiser die Aufhebung der Kopfsteuer nahelegen. Man müßte ihm plausibel machen, daß es angezeigt wäre, in einer so kritischen Zeit die Gefühle der jüdischen Bevölkerung zu schonen. Vielleicht legt da unser Claudius Regin für uns Fürsprache ein.« Unter allen judenfeindlichen Maßnahmen nämlich erregte die Erhebung dieser Kopfsteuer am meisten Unwillen. Nicht nur war die Tatsache, daß die Römer jene Doppeldrachme, welche einstmals jeder Jude als Steuer für den Tempel in Jerusalem zu zinsen hatte, jetzt zur Erhaltung des Tempels des Capitolinischen Jupiter einzogen, eine bittere, höhnische Mahnung an die Niederlage, sondern es wurde auch die Eintragung in die Judenlisten, ihr öffentlicher Anschlag und die Einziehung der Steuer auf brutale und diffamierende Art vorgenommen.
  »Es verlangt heute einigen Mut, meine Herren«, sagte nach einem kleinen Schweigen Claudius Regin, »zu zeigen, daß man mit Ihnen sympathisiert. Trotzdem würde ich vielleicht diese Kühnheit aufbringen und dem Kaiser die Anregung unseres Cajus Barzaarone unterbreiten. Aber glauben Sie nicht, daß DDD, wenn er sich wirklich zum Verzicht auf die Doppeldrachme entschließen sollte, dafür eine ungeheure Gegenleistung fordern würde? Er würde im besten Fall als Gegenleistung eine Sondersteuer ausschreiben, die für Ihre Gefühle weniger empfindlich wäre, für Ihre Kasse aber um so mehr. Ich weiß nicht, mein Cajus Barzaarone, ob Sie den weiteren Besitz Ihrer Möbelfabrik oder die Befreiung von der Judensteuer vorziehen. Ich für mein Teil würde lieber ein bißchen Kränkung einstecken und dafür mein Geld behalten. Ein reicher Jude, auch gekränkt, hat immer noch etwas Macht und Einfluß, ein armer Jude, auch ungekränkt, ist gar nichts.«
  Justus tat die platten Weisheiten des Claudius Regin und die undurchführbaren Anregungen des Cajus Barzaarone mit einer kleinen Handbewegung ab. »Was wir tun können«, sagte er, »ist verdammt wenig. Wir können Worte machen, nichts sonst. Das ist armselig, ich weiß es. Aber wenn die Worte sehr klug berechnet sind, wirken sie vielleicht dennoch. Ich habe Doktor Josef nahegelegt, ein Manifest abzufassen.« Alle schauten auf Josef. Der schwieg und regte sich nicht; er spürte hinter den Worten des Justus einen leisen, kratzenden Hohn. »Und haben Sie ein Sendschreiben abgefaßt?« fragte schließlich Johann.
  Josef nahm aus dem Ärmel seines Gewandes das Manuskript und las es vor. »Es ist ein wirkungsvolles Manifest«, sagte, als er zu Ende war, Justus, und außer Josef hörte kaum einer den Hohn dieser Anmerkung. »Auf die ›Eiferer des Tages‹ wird es wenig Wirkung tun«, meinte Johann. »Die ›Eiferer des Tages‹ kann nichts zurückhalten«, gab Justus zu, »und die um den Großdoktor brauchen keine Mahnung. Aber es gibt Leute zwischen beiden Lagern, es gibt Schwankende, und die werden sich vielleicht bestimmen lassen von uns, die wir hier in Rom leben und die Lage besser beurteilen. Einige Wirkung wird das Schriftstück tun«, beharrte er. Er hatte beinahe heftig gesprochen, als wollte er nicht nur die andern, sondern auch sich selber überzeugen. Nun aber erschlaffte er und, trüb, setzte er hinzu: »Und dann, etwas müssen wir tun, schon unserthalb. Frißt es euch nicht das Herz ab, dazuhocken und zuzuschauen, wie die andern ins Unglück rennen?« Er dachte daran, wie er damals, vor und zu Beginn des Krieges, vergeblich gewarnt hatte. Auch diesmal wird man vergeblich warnen, er wußte es. Und in abermals zwanzig Jahren, wenn sich das gleiche wiederholt, wird er auch wieder warnen müssen, noch so tief überzeugt, daß er nur die Luft erschüttert. »Ich denke«, trieb er die andern weiter an, »wir sollten unsere Namen unter das Schriftstück setzen und uns überlegen, wen sonst noch wir zur Unterschrift auffordern.«
  Der bittere Eifer des sonst so zurückhaltenden Mannes ging den andern ans Herz. Gleichwohl drückte der Möbelhändler Cajus Barzaarone unbehaglich herum. »Mir scheint«, meinte er, »es kommt weniger auf die Zahl der Unterschriften an als darauf, daß die Unterzeichner bei den jüngeren Leuten in Judäa Geltung haben. Was zum Beispiel soll es nützen, wenn die Unterschrift eines alten Möbelhändlers unter diesem Manifest steht?« – »Vielleicht nützt es nicht viel«, antwortete Justus, und der Unwille klang nur leise durch seine Worte. »Aber schon damit die andern Unterzeichner gedeckt seien, sollten auch Unterschriften unverdächtiger Herren auf dem Dokument sein.« – »Das ist richtig«, trieb Claudius Regin den ängstlichen Barzaarone noch mehr in die Enge. »Die Leute unseres Polizeiministers Norban wittern Unrat hinter allem, und wenn ihnen das Manifest in die Hände fällt, dann werden sie erklären, die Unterzeichner hätten um verdächtige Umtriebe in Judäa gewußt. Je unbedenklichere Unterschriften unter dem Manifest stehen, um so geringer wird die Gefahr für jeden einzelnen.« – »Sperren Sie sich nicht lange, mein Barzaarone«, sagte Johann von Gischala und strich sich den Knebelbart, »Sie müssen schon heran.«
  Man beriet, auf welche Weise man das Schriftstück nach Judäa bringen sollte. Nicht nur gab es jetzt im Winter keine rechten Schiffsverbindungen, es gab auch sonst Fährnisse. Man konnte das Dokument nur einem sichern Manne anvertrauen. »Ich weiß wirklich nicht«, meinte wiederum Cajus Barzaarone, »ob der Gewinn, den wir im besten Fall aus dem Sendschreiben ziehen, im rechten Verhältnis steht zu dem Risiko, dem wir uns und unsere Gemeinschaft aussetzen. Denn wer immer jetzt im Winter unter so schwierigen Verhältnissen nach Judäa fährt, muß stichhaltige Gründe angeben können, wenn er den Behörden nicht auffallen will.« – »Aber Sie kommen nicht los, mein Cajus Barzaarone«, ließ der verschmitzte Johann von Gischala nicht locker. »Ich weiß einen Mann, der stichhaltige Gründe hat, jetzt nach Judäa zu reisen, Gründe, die auch den Behörden einleuchten. Zweifellos werden infolge des Krieges die Bodenpreise in Judäa fallen. Da trifft es sich nicht schlecht, daß wir einen Terrainhändler unter uns haben, nämlich mich. Meine Firma hat großen Grundbesitz in Judäa. Sie wünscht, überzeugt von dem raschen Sieg der Legionen, die Konjunktur auszunutzen und ihre Terrains abzurunden. Ist das ein stichhaltiger Grund? Ich werde meinen Prokuristen, den redlichen Gorion, nach Judäa schicken. Vertrauen Sie mir das Schriftstück an. Es wird sicher befördert.«
  Man unterzeichnete. Auch Cajus Barzaarone setzte schließlich, zögernd, seinen Namen unter Josefs Manifest.
  Drei Tage später erfuhren die Herren zu ihrer Überraschung, daß nicht Gorion, sondern Johann von Gischala selber nach Judäa aufgebrochen war.
Josef stieg die Treppe hinauf zu den Zimmern, in denen Mara mit den Kindern wohnte. Es war eine enge, unbequeme Treppe, alles in seinem Haus war eng, unbequem, verwinkelt. Schon damals, als ihn Domitian aus dem schönen Gebäude ausquartiert hatte, das ihm der alte Kaiser zur Wohnung angewiesen, hatte man sich gewundert, daß ein so angesehener Mann sich dieses armselige, altmodische, kleine Haus in dem höchst unvornehmen Bezirk »Freibad« aussuchte. Seitdem gar Mara mit der kleinen Jalta zu ihm gekommen war und ihm die zwei Söhne zugeboren hatte, war ihm das Haus wirklich nicht mehr angemessen; aber Josef, verbissen in eine erkrampfte Bescheidenheit, hatte sich darauf beschränkt, es um ein Stockwerk zu erhöhen. Da stand es, eng, schmal, baufällig, davor die Buden von ein paar Kleinhändlern mit allerlei übelriechendem Kram, keine würdige Wohnstätte für einen Mann seines Ranges und seines Namens.
  Mara hatte sich trotz ihrer Schlichtheit von Anfang an in diesem Hause nicht wohlgefühlt. Sie wollte freien Himmel über sich haben; in einer großen Stadt zu leben zwischen steinernen Wänden, das allein ging ihr gegen die Natur. Hier gar, in dem dumpfigen, verschachtelten Gemäuer, in der niedrigen Stube unter der verschwärzten Decke, fühlte sie sich zwiefach unbehaglich. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann wäre man längst wieder nach Judäa übersiedelt auf eines von Josefs Gütern.
  Es war jetzt der fünfte Tag, seitdem die Nachricht von dem Einbruch der Daker bekannt geworden war. Josef war inzwischen oft mit Mara zusammen gewesen, er hatte die meisten Mahlzeiten mit ihr geteilt und viel mit ihr gesprochen. Von dem bevorstehenden Grenzkrieg indes war kaum je die Rede gewesen. Wahrscheinlich ahnte Mara nicht, welche Rückwirkungen auf Judäa die Vorgänge an der Donau haben könnten. Sicher aber spürte sie, die mit seinem Wesen bis ins kleinste vertraut war, hinter der Maske seines Gleichmuts seine innere Sorge.
  Wie er jetzt zu ihr hinaufstieg, wunderte er sich, daß er so lange bemüht gewesen war, diese Sorge vor ihr zu verbergen. Sie ist der einzige Mensch, vor dem er sich ganz ohne Scham so zeigen kann, wie er ist. Als die andere es von ihm verlangte, hat sie sich von ihm fortschicken lassen, und sie ist zu ihm zurückgekehrt, als er sie wieder rief. Sie ist da, wenn er sie braucht, und wenn sie ihn stört, löscht sie sich aus. Vor ihr kann er alles heraussagen, seinen Stolz, seine Zweifel, seine Schwäche.
  Er schlug den Vorhang zurück und trat in ihre Stube. Der niedrige Raum war vollgestopft mit Sachen aller Art, selbst von der Decke hingen, nach der Sitte der kleinen Städte Judäas, Körbe herunter mit Lebensmitteln und mit Wäsche. Die Kinder waren um Mara, das Mädchen Jalta und die beiden kleinen Söhne, Matthias und Daniel.
  Josef überließ Tochter und Söhne gerne der Mara, er wußte mit Kindern nicht viel anzufangen. Doch heute wie stets betrachtete er mit einer Art gerührter Verwunderung den Matthias, den dritten seiner Söhne und doch eigentlich seinen ältesten, denn Simeon war tot und Paulus für ihn mehr als tot. An diesen seinen Sohn Matthias aber knüpfte Josef neue Hoffnungen und Wünsche. Deutlich waren in dem Kleinen Züge des Vaters, deutlich Züge der Mutter, aber die Mischung ergab ein völlig Neues, Vielversprechendes, und Josef hoffte, in diesem Matthias werde er sich vollenden können, der werde erreichen, was er selber nicht hatte erreichen können: Jude zu sein und gleichzeitig Grieche, ein Weltbürger.
  Da also saß die Frau, arbeitete mit Hilfe einer Leibeigenen an einem Gewandstück und erzählte den Kindern eine Geschichte. Josef bat sie durch Zeichen, sich nicht stören zu lassen. So schwatzte sie denn weiter, und Josef sah, daß es ein frommes, etwas albernes Märchen war. Es handelte von dem Fluß, dessen Sprache jene Menschen verstehen, welche die wahre Gottesfurcht haben; der Fluß berät sie, was sie tun sollen und was lassen. Es ist ein schöner Fluß, und er fließt in einem schönen Land, in ihrem Heimatland Israel, und einmal wird sie mit den Kindern hingehen, und wenn die Kinder ordentlich sind, dann wird der Fluß auch mit ihnen reden und sie beraten.
  Josef beschaute Mara, während sie erzählte. Sie war mit ihren Zweiunddreißig voll geworden und schon ein wenig verblüht. Von dem mondlich Strahlenden ihrer ersten Jugend war nichts mehr da, keine Gefahr mehr war, daß heute ein Römer sie frech für sein Bett fordern werde wie damals der alte Vespasian. Allein für Josef war sie immer noch, was sie ihm früher gewesen, ihm blieb ihr eirundes Gesicht zart und klar, ihm schimmerte ihre niedrige Stirn wie damals.
  Mara hatte aufgeleuchtet, als sie ihn kommen sah. Sie hatte die ganzen letzten Tage über gemerkt, daß ihn etwas drückte, und darauf gewartet, daß er mit ihr spreche. Gewöhnlich sprach er griechisch mit ihr, aber wenn er sich ihr nahe fühlte und es um Wichtiges ging, dann sprach er aramäisch, die Sprache der Heimat. Gespannt jetzt, nachdem sie die Kinder fortgeschickt, wartete sie darauf, in welcher Sprache er sie anreden werde.
  Und siehe, er spricht aramäisch. Er ist nicht mehr der Mann von ehemals, sein Gesicht ist faltig, der Bart nicht mehr sorgfältig gelockt und gekräuselt, er ist ein Mann von fünfzig Jahren, man sieht ihm an, daß er viel erlebt hat. Auch hat er ihr viel Leides zugefügt, und ganz verwunden hat sie es nie. Trotz alledem aber geht für sie auch heute noch das Leuchten von ihm aus, das früher um ihn war, und sie ist voll großen Stolzes, daß er zu ihr spricht.
  Er spricht ihr von der Zusammenkunft mit den andern und von seiner Sorge vor dem Aufstand. Er schüttet sich ganz vor ihr aus, ja eigentlich wird ihm erst, während er mit ihr spricht, ganz klar, was alles die neue Gefahr Judäas in ihm heraufwühlt. Er hat ein heftiges Leben hinter sich, Gipfel und Abgründe, er hat geglaubt, jetzt habe er Frieden und dürfe sich versenken in seine Bücher und es beginne ihm ein ruhiger Abend. Statt dessen rollen neue Prüfungen und Bitternisse an. Der Aufstand in Judäa, so sinnlos er ist, wird losbrechen, Josef wird dagegen kämpfen, und er wird von neuem Schimpf und Schmach auf sich nehmen müssen, weil er sein Gefühl niederdrückt um der Vernunft willen.
  Mara hat ihn dieses böse Lied schon früher singen hören. Aber wenn sie ihm früher bedingungslos recht gab, denn er war weise und sie unweise, so lehnte sich jetzt ihr Herz gegen ihn auf. Warum, wenn er spürte wie die andern, handelte er anders? Wäre es nicht besser für sie alle, er wäre weniger weise? Er war ein sehr großer Mann, dieser Doktor und Herr Josef, ihr Mann, und sie war stolz auf ihn, doch manchmal und so auch jetzt dachte sie, wieviel schöner es wäre, wenn er weniger groß wäre. »Deine Bedrückung liegt auf mir wie eine eigene«, sagte sie, und dann, und ihr Rücken wurde rund und schlaff, fügte sie noch hinzu, leise: »Land Israel, mein armes Land Israel.«
  »Land Israel«, sagte sie, aramäisch. Josef verstand sie, und Josef beneidete sie. Er hatte sein Weltbürgertum, aber er war zerspalten. Sie indes war ganz eins. Sie war verwachsen mit dem Boden Judäas, sie gehörte zu Judäa, unter den Himmel Judäas und zu seinem Volk, und Josef wußte, wenn sie ihn mehrmals in ihrer stillen Art aufgefordert hatte, dorthin zurückzukehren, so hatte sie recht gehabt, und er hatte unrecht, es ihr zu verweigern.
  Er dachte an die vielen kunstvollen Argumente, die er konstruiert hatte, um seine Weigerung zu begründen. In Judäa, hatte er erklärt, werde ihm die Nähe der Dinge den Blick trüben, er werde sich fortreißen lassen von der Leidenschaft der andern, er werde dort an seinem Werk nicht mit der Sachlichkeit arbeiten können, welche die Grundbedingung des Gelingens sei. Allein sie beide wußten, daß das eine Ausflucht war. Alle die Gründe, die ihn angeblich in Rom hielten, waren Ausflüchte. Er hätte sein Buch in Judäa eher besser schreiben können als hier, es wäre in einem guten Sinn jüdischer geworden. Und vielleicht hatte sie auch damit recht, daß es für die Kinder besser wäre, auf einem Landgut in Judäa unter freiem Himmel heranzuwachsen als hier in den engen Straßen der Stadt Rom. Dies letzte freilich war sehr zweifelhaft; denn wenn sein kleiner Matthias das werden sollte, was Josef plante, dann mußte er in Rom bleiben.
  Auf alle Fälle trotzte er und machte sich taub gegen die stillen Bitten Maras. Er hatte sich für ein zurückgezogenes Leben entschieden, aber er wollte nicht darauf verzichten, das Brausen der Stadt Rom rings um sich zu wissen. In der Provinz zu leben hätte ihn beengt; in Rom, auch wenn er sich in sein Zimmer einschloß, tröstete ihn der Gedanke, er brauche nur wenige hundert Schritte zu tun, dann stehe er auf dem Capitol, dort, wo das Herz der Welt schlägt.
  In seinem Innersten aber verspürte er Unbehagen, ja ein ganz leises Gefühl der Schuld, daß er Mara hier in Rom hielt. »Armes Land Israel«, nahm er Maras Seufzer auf, und: »Es wird ein Winter voller Sorgen werden«, schloß er.

Beim Abendessen, vor seiner Frau Dorion und vor seinem Stiefsohn Paulus, ließ Annius Bassus, Domitians Kriegsminister, sich gehen. Vor diesen beiden konnte er reden, und daß des Paulus Lehrer anwesend war, der Grieche Phineas, störte ihn nicht. Phineas war Freigelassener, er zählte nicht. Ganz ungetrübt freilich waren bei aller Vertrautheit seine Beziehungen auch zu Frau und Stiefsohn nicht. Manchmal hatte er das Gefühl, Dorion halte ihn trotz seiner ungewöhnlichen Karriere für unbedeutend und sehne sich trotz ihres Hasses zurück nach ihrem Flavius Josephus, diesem widerwärtigen jüdischen Intellektuellen. Sicher war, daß sie sich aus dem Jungen, den sie ihm, dem Annius, geboren hatte, aus dem kleinen Junius, nicht viel machte, während sie Paulus, den Sohn ihres Josephus, bewunderte und verwöhnte. Übrigens konnte er selber sich nicht wehren gegen die Anmut, die von Paulus ausging.
  Ja, er liebte Dorion, und er liebte Paulus. Und wiewohl ihre Neigung für ihn geringer sein mochte als die seine für sie, so waren doch sie die einzigen, vor denen er seinen Sorgen freien Lauf lassen konnte, dem fressenden Ärger, den sein Amt unter dem schwer durchschaubaren, menschenfeindlichen Kaiser mit sich brachte. Dabei hing Annius dem Domitian von Herzen an, er verehrte ihn, und DDD hatte, wiewohl kein geborener Soldat, Verständnis für Heeresangelegenheiten. Allein des Kaisers Mißtrauen kannte keine Grenzen und zwang seine Räte häufig, taugliche Männer von den rechten Stellen abzuberufen und sie zu ersetzen durch weniger taugliche, die sich nur dadurch auszeichneten, daß sie dem Kaiser kein Mißtrauen einflößten.
  Auch jetzt wieder wurde der dakische Feldzug von Anfang an erschwert durch die finstern Hintergedanken Domitians. Das Gegebene wäre gewesen, das Oberkommando dem Frontin anzuvertrauen, der die meisterhaften Befestigungslinien an der untern Donau angelegt und durchgeführt hatte. Aber da der Kaiser wünschte, Frontin solle sich nicht für unersetzlich halten und nicht übermütig werden, war er auf die unglückliche Idee gekommen, das Kommando dem Gegner des Frontin anzuvertrauen, dem General Fuscus dem Draufgänger.
  Dorion schien nicht sehr interessiert an diesen Ausführungen, ihre hellen grünen Augen schauten bald ein wenig abwesend auf Annius, bald einfach vor sich hin. Auch Phineas, wiewohl ihm, dem fanatischen Griechen, Schwierigkeiten der römischen Reichsverwaltung innere Genugtuung bereiten mochten, schien wenig Anteil zu nehmen. Um so mehr interessiert war Paulus. Er war jetzt sechzehn Jahre alt, es war noch kein Jahr her, daß man ihn feierlich zum erstenmal die Toga des Erwachsenen hatte anlegen lassen. Die Mutter hätte es gern gesehen, wenn er in Begleitung seines Lehrers eine griechische Universität bezogen hätte. Er selber aber mühte sich, die griechischen Neigungen zu bekämpfen, welche die beiden ihm eingepflanzt hatten; er wollte Römer sein, nichts als Römer. Deshalb hatte er sich einem Freunde des Annius angeschlossen, dem Obersten Julian, einem ausgezeichneten Soldaten, der seinen Sommerurlaub in Rom verbracht hatte. Julian hatte sich des Knaben angenommen und ihn in militärischen Fragen unterwiesen; im Herbst aber hatte er nach Judäa zurückkehren müssen, zu seiner Legion, der Zehnten. Paulus hätte ihn ums Leben gern begleitet, auch dem Annius, der selber ein passionierter Soldat war, wäre es lieb gewesen, aus seinem Stiefsohn einen rechten Offizier zu machen. Doch Dorion hatte sich dagegen gesträubt. Auch Phineas hatte dem Knaben auf seine stille, vornehme und darum um so wirksamere Art vorgestellt, wie verrohend das Soldatenleben in der fernen Provinz auf ihn wirken müsse, wenn er sich nicht vorher durchsättigt habe mit griechischer Gesittung, und Paulus hatte sich zuletzt fügen müssen. Jetzt indes, nach dem Ausbruch der dakischen Wirren, hatte er neue Hoffnung. Das Offiziershandwerk während eines Krieges zu erlernen, das war eine einmalige Gelegenheit, die zu benützen man ihm nicht verwehren durfte.
  Mit leidenschaftlichem Interesse also hörte er zu, wie Annius über die Schwierigkeiten des Feldzuges sprach, in den man hineinging. Man hätte an der Donau wirklich einen Feldherrn von Format gebraucht, eben den Frontin, nicht den sturen Draufgänger Fuscus. Die Daker waren keine Barbaren mehr, ihr König Diurpan war ein Strateg, der sich sehen lassen konnte, unsere Kräfte dort, knapp drei Legionen, genügten nicht, die Grenze von fast tausend Kilometern zu sichern, und der harte Winter dieses Jahres erschwerte die Verteidigung; denn er gab dem Angreifer die Möglichkeit, über die vereiste Donau ständig neue Verstärkungen nachzuschieben. Dazu war der Dakerkönig Diurpan ein geschickter Politiker, er zettelte überall im Osten und hatte gute Aussichten, eine Intervention selbst der Parther durchzusetzen. Unter allen Umständen müsse man damit rechnen, daß gewisse östliche Provinzen, welche die Herrschaft Roms nur mit Unwillen ertrugen, unbequem würden, Syrien zum Beispiel und insbesondere das nie ganz befriedete Judäa.
  Dorions Gleichgültigkeit war auf einmal vorbei, als Annius das auseinandersetzte. Sie hatte lange nichts gehört von Josef, dem Manne, der mehr als alle andern Menschen in ihr Schicksal eingegriffen hatte. Ein Aufstand in Judäa, das war ein Ereignis, das auch diesen Mann Josef wieder aus seiner jetzigen Dunkelheit wird auftauchen machen. Wirr durcheinander gingen ihr Erinnerungen dessen, was sie mit ihm erlebt hatte. Wie er die Geißelung auf sich genommen hatte, um sich von seiner lächerlichen jüdischen Frau scheiden und sie heiraten zu können, wie sie untergetaucht und versunken waren in ihrer Liebe dort in dem kleinen Haus, das Titus ihnen überlassen, wie die Feindschaft zwischen ihnen aufgesprungen war, wie sie mit ihm um ihren Sohn gekämpft hatte, um diesen Paulus, wie sie ihn in seinem Triumph gesehen hatte, da man seine Büste aufgestellt im Friedenstempel und Rom ihm zugejauchzt, alles das, ihr wilder Haß und ihre wilde Liebe waren jetzt in ihr, unzertrennbar.
  Auch Phineas gab es auf, den Gleichgültigen zu spielen, als Annius von Judäa zu sprechen anfing, und sein großer, blasser Kopf rötete sich. Wenn wirklich Wirren in Judäa ausbrächen, so daß es gezüchtigt würde, das barbarische Land, wie herrlich wäre das! Phineas gönnte es den abergläubischen Juden, daß sie wieder einmal die Faust Roms zu spüren bekämen. Er gönnte es vor allem einem, diesem Josephus, seinem früheren Herrn. Er verachtete ihn, diesen Josephus, alles an ihm, seinen albernen Kampf um Paulus, seine Großmut und seine Demut, seinen Aberglauben, seine billigen Erfolge, sein elendes Griechisch, alles, alles. Herrlich wäre es, wenn diesem Josephus einmal wieder gezeigt würde, wie armselig sein Judäa war, wenn er wieder einmal zu spüren bekäme, was es heißt, Knechtschaft zu erleiden.
  In seine und der Dorion aufgewühlte Gedanken und Gefühle kamen Worte des Paulus. »Das wird einem gewissen Manne gewisse Schwierigkeiten bereiten«, sagte Paulus. Es waren einfache Worte, doch die Stimme, die sie sprach, war so erfüllt von Haß und Triumph, daß Dorion erschrak und daß selbst Annius Bassus hochsah. Auch ihm war Flavius Josephus zuwider; der offene, lärmende Soldat fand den Juden geduckt, schleicherisch. Doch wenn er, der römische Offizier, der gegen die Juden zu Felde gezogen war, zuweilen über den Josephus schimpfte und sich lustig machte, ihm war das erlaubt. Auch dem Phineas war es erlaubt, dem Freigelassenen des Josephus. Nicht aber war es erlaubt den beiden andern an diesem Tisch, nicht der Frau, die einmal mit diesem Juden vermählt gewesen war, nicht seinem Sohne. Nicht nur aus soldatischem Anstand lehnte sich Annius dagegen auf, er spürte auch, daß Dorions überhitzter Haß gegen Josephus aus einer Unsicherheit des Gefühls stammte. Wohl führte sie zuweilen ungerechte, ja unflätige Reden gegen ihn, doch dann wieder, wenn von ihm die Rede war, schleierten sich ihre Augen bedenklich. Dem Annius wäre es lieb gewesen, wenn sich seine Frau und sein Stiefsohn von dem zwielichtigen Mann innerlich ganz losgesagt hätten, so daß sie ihn weder haßten noch liebten.
  Vorläufig indes setzte Paulus seine Haßrede fort. Herrlich wäre es, wenn sich Judäa empörte und Anlaß gäbe, es endlich zu züchtigen. Was für ein Leben wäre es, wenn er hinüberfahren dürfte, teilnehmen an einer solchen Strafexpedition unter Führung Julians, dieses guten Lehrers. Wie müßte das seinen Vater, den Juden, treffen. »Ihr müßt mich hinüber nach Judäa lassen!« brach es aus ihm heraus.
  Dorion wandte den langen, dünnen Kopf gegen ihn, und ihre meerfarbenen Augen über der stumpfen Nase beschauten ihn nachdrücklich. »Nach Judäa? Du nach Judäa?« fragte sie. Es klang ablehnend, doch Paulus spürte, daß sie seinen Haß gegen den Juden, seinen Vater, teilte. »Ja«, beharrte er, und seine hellen Augen schauten heftig in die prüfenden der Mutter, »ich muß hinüber nach Judäa, nun es dort losgeht. Ich muß mich reinwaschen.« Sie klangen dunkel, diese leidenschaftlich hervorgestoßenen Worte: »Ich muß mich reinwaschen«; trotzdem verstand selbst der schlichte Soldat Annius, was sie besagen wollten. Paulus schämte sich seines Vaters, es verlangte ihn, gutzumachen, daß er dieses Vaters Sohn war.
  Jetzt aber war es genug, Annius wollte dieses heillose Gerede nicht länger anhören, er griff ein. »Ich höre solche Worte nicht gern aus deinem Mund«, tadelte er.
  Paulus merkte, daß er zu weit gegangen war, aber er beharrte, wenn auch in maßvolleren Wendungen. »Oberst Julian wird es einfach nicht verstehen«, sagte er, »wenn ich jetzt nicht nach Judäa gehe. Ich möchte nicht verzichten auf Oberst Julian.«
  Schmal und zart saß Dorion da, locker und doch streng, ihr ein wenig breiter, aus dem hochfahrenden Gesicht frech vorspringender Mund lächelte ein kleines, schwer deutbares Lächeln. Annius, sosehr dieses Lächeln ihn aufbrachte, spürte, wie sehr er die Frau liebte, und für immer. Sie aber, Dorion, schaute auf den Lehrer ihres Sohnes. »Wie denken Sie darüber, mein Phineas?« fragte sie.
  Der sonst so gelassene, elegante Mann konnte seine Erregung schwer verbergen. Nervös beugte und streckte er die langen Finger der großen, dünnen, krankhaft blassen Hände, nicht einmal die Füße in den griechischen Schuhen konnte er ruhig halten. Hin und her gerissen war er von zwiespältigen Gefühlen. Es schmerzte ihn, daß er Paulus endgültig verlieren sollte. Er liebte den schönen, begabten Jungen, er hatte sich so heiß bemüht, ihm sein Griechentum einzupflanzen. Er hatte wohl gesehen, daß ihm Paulus langsam entglitt, aber er wird es schwer verwinden, wenn Paulus ganz und für immer ein Römer werden sollte, und das war nicht zu verhindern, wenn er zur Legion nach Judäa ging. Andernteils war es ein starker Trost, sich auszumalen, wie es diesen Josephus treffen mußte, wenn sein eigener Sohn, sein Paulus, teilnahm an dem Kampf gegen sein Volk, im Lager der Römer. Mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme sagte Phineas: »Es wäre mir ein Schmerz, wenn unser Paulus nach Judäa gehen sollte, doch ich muß sagen, in diesem Fall verstünde ich ihn.«
  »Auch ich verstehe ihn«, sagte die Dame Dorion, und: »Ich fürchte, mein Sohn Paulus«, sagte sie, »ich werde dir nicht mehr sehr lange nein sagen können.«
  Die Reise nach Judäa in dieser Jahreszeit war umständlich, ja gefährlich. Paulus betrieb die Vorbereitungen mit Eifer und mit Umsicht. Er war jungenhaft glücklich; nichts mehr war in ihm von dem unberechenbar Heftigen, Leidenschaftlichen, das die um ihn so häufig erschreckt hatte. Entwichen aus ihm waren jene jüdischen Meinungen und Eigenschaften, die sein Vater in ihn hatte einsenken wollen. Entwichen aus ihm war das Griechentum, mit dem ihn zu durchtränken seine Mutter und sein Lehrer so heiß bemüht gewesen waren. Gesiegt hatte der Raum um ihn, gesiegt hatte die Zeit um ihn: er, der Sohn des Juden und der Griechin, war ganz zum Römer geworden.

Steifen, unbeholfenen Schrittes ging der Kaiser die Käfige seines Tierparks in Alba entlang. Das Schloß war als Sommerresidenz gedacht, aber Domitian fuhr häufig auch in der schlechten Jahreszeit heraus. Er liebte dies sein Schloß in Alba mehr als alle seine anderen Besitzungen, und wenn er das weitläufige, prunkvolle Palais als Prinz mit ungenügenden Mitteln begonnen hatte, so war er jetzt bestrebt, es um so großartiger zu vollenden. Unabsehbar dehnte sich der kunstvolle Park, überall wuchsen Nebengebäude aus dem Boden.
  Unförmig, in Filzmantel, Kapuze und Pelzschuhen, storchte der große Mann die Käfige entlang, hinter ihm der Zwerg Silen, dick, wüst behaart, verwachsen. Es war ein feuchter, kalter Tag, vom See stieg Dunst auf, die sonst so farbige Landschaft lag blaß, selbst die Blätter der Olivenbäume waren ohne Glanz. Ab und zu blieb der Kaiser vor einem Käfig stehen und beschaute abwesenden Blickes die Tiere.
  Er war froh, daß er sich entschlossen hatte, den Palatin zu verlassen und hier herauszufahren. Er gefiel sich in der winterlich dunstigen Landschaft. Gestern waren ausführliche Depeschen von der Donaugrenze eingetroffen, der Einfall der Daker ins Reich hatte schlimmere Folgen gehabt, als er angenommen, man konnte nicht mehr von Grenzzwischenfällen reden, was sich jetzt da unten vorbereitete, war ein Krieg.
  Er preßte die aufgeworfene Oberlippe auf die Unterlippe. Er wird jetzt wohl selber zu Felde ziehen müssen. Angenehm ist das nicht. Er liebt keine schnellen, unbequemen Reisen, er liebt es nicht, lange zu Pferde zu sitzen, und jetzt im Winter ist alles doppelt strapaziös. Nein, er ist kein Soldat, er ist nicht wie sein Vater Vespasian und sein Bruder Titus. Die waren nichts als Soldaten, ins Gigantische gereckte Feldwebel. Noch hat er die schmetternde Stimme des Titus im Ohr, und ein angewidertes Zucken geht über sein Gesicht. Nein, ihm liegt nichts an glänzenden Siegen, die man dann doch nicht weiterverfolgen kann. Er strebt Gewinne an, die bleiben, Sicherungen. Er hat einiges gesichert, in Germanien, in Britannien. Er ist die Erfüllung des flavischen Geschlechts. Wenn er sich vom Senat den Titel »Herr und Gott Domitian« hat zuerkennen lassen, dann mit Recht.
  Er stand jetzt vor dem Käfig der Wölfin. Es war ein ausgesucht schönes, kräftiges Tier, der Kaiser liebte diese Wölfin, das Ruhelose an ihr, das unberechenbar Wilde, das Schlaue und Kräftige, er liebte in dieser Wölfin das Sinnbild der Stadt und des Reichs. Hochgereckt, die Arme eckig nach hinten gepreßt, den Bauch herausgedrückt, stand er vor dem Käfig. »Der Herr und Gott, der Imperator Flavius Domitianus Germanicus«, sprach er seinen Namen und Titel vor sich hin, und hinter ihm der Zwerg in der gleichen Haltung wie er selber sprach ihm die Worte nach vor dem Käfig der Wölfin.
  Sein Vater und sein Bruder mögen glänzendere Siege errungen haben als er. Aber es kommt nicht auf glänzende Siege an, sondern nur auf die Endresultate eines Krieges. Es gibt Feldherren, die nur Schlachten gewinnen können, aber keinen Krieg. Was er zusammen mit seinem bedächtigen Festungsbaumeister Frontin in Germanien geleistet hat, die Errichtung des Walles gegen die germanischen Barbaren, das glänzt nicht, aber es ist mehr wert als zehn glänzende und folgenlose Siege. Die Ideen dieses Frontin hätten die Feldwebel Vespasian und Titus niemals erfaßt oder gar durchgeführt.
  Schade, daß er den Frontin nicht als Oberkommandanten an die Donau nehmen kann. Aber es wäre gegen seine Prinzipien. Man darf keinen zu groß, man darf keinen übermütig werden lassen. Die Götter lieben nicht den Übermut. Der Gott Domitian liebt nicht den Übermut.
  Es ist natürlich tief bedauerlich, daß das Fünfzehnte Armeekorps aufgerieben ist, aber es hat auch sein Gutes. Wenn er es genau betrachtet, dann ist es ein Glück, daß die dakischen Dinge diese Wendung genommen und einen richtigen Krieg angefacht haben. Denn dieser Krieg kommt zur rechten Zeit, er wird Münder stopfen, die man sonst nicht so bald zum Schweigen hätte bringen können. Dieser Krieg wird ihm, dem Kaiser, den willkommenen Vorwand liefern, endlich gewisse unpopuläre innerpolitische Maßnahmen zu treffen, die er ohne den Krieg noch jahrelang hätte hinausschieben müssen. Jetzt, mit dem Vorwand des Krieges, kann er seine widerspenstigen Senatoren zwingen, ihm Konzessionen zu machen, die sie ihm im Frieden niemals eingeräumt hätten.
  Unvermittelt wendet er sich ab von dem Käfig, vor dem er noch immer steht. Er will sich nicht weiter verlocken lassen, zu träumen, seine Phantasie schweift zu leicht aus. Er liebt Methode, beinahe Pedanterie in den Regierungsgeschäften. Es verlangt ihn nach seinem Schreibtisch. Er will sich Notizen machen, ordnen. »Die Sänfte!« befiehlt er, über die Schulter, »die Sänfte!« gibt der Zwerg kreischend den Befehl weiter, und der Kaiser läßt sich zurück ins Schloß tragen. Es ist ein gutes Stück Weges. Erst geht es durch Oliventerrassen hinauf, dann durch eine Platanenallee, dann an Treibhäusern vorbei, dann durch Ziergärten und Wandelgänge, vorbei an Pavillons, Lauben, Grotten, Wasserkünsten aller Art. Es ist ein schöner, großer Park, der Kaiser liebt ihn, aber heute hat er kein Aug dafür. »Schneller!« herrscht er die Sänftenträger an, er möchte jetzt an seinen Schreibtisch.
  Endlich in seinem Arbeitszimmer, gibt er Weisung, ihn unter keinen Umständen zu stören, riegelt die Tür ab, ist allein. Er lächelt böse, er denkt an die albernen Gerüchte, die im Umlauf sind über das, was er anstelle, wenn er sich tagelang allein einschließt. Er spieße Fliegen auf, sagen sie, schneide Fröschen die Schenkel ab und dergleichen.
  Er macht sich an die Arbeit. Säuberlich, Punkt für Punkt, notiert er, was alles er unter Bezugnahme auf diesen Krieg aus seinem Senat herausholen will. Zunächst einmal wird er, endlich, seinen alten Lieblingsplan verwirklichen und sich die Zensur auf Lebenszeit übertragen lassen: die Zensur, die Oberaufsicht über Staatshaushalt, Sitte und Recht und damit auch die Musterung des Senats, die Befugnis, Mitglieder dieser Körperschaft aus ihr auszuschließen. Bisher hat er dieses Amt nur jedes zweite Jahr bekleidet. Jetzt, zu Beginn eines Krieges, dessen Dauer sich nicht absehen läßt, können ihm die Senatoren eine solche Stabilisierung seiner Rechte schwerlich verweigern. Er hat Respekt vor der Tradition, er denkt natürlich nicht daran, die Verfassung zu ändern, die die Teilung der Staatsgewalt zwischen Kaiser und Senat vorsieht. Er will diese weise Teilung nicht etwa aufheben: nur eben will er selber die Befugnis haben, die notwendige Kontrolle der mitregierenden Körperschaft vorzunehmen.
  Auch die Sittengesetze weiter zu verschärfen, bietet der Krieg willkommene Gelegenheit. Die lächerlichen, eingebildeten, aufsässigen Aristokraten seines Senats werden sich natürlich wieder darüber lustig machen, daß er andern jede kleinste Ausschweifung verwehrt, sich selber aber jede Laune, jedes »Laster« erlaubt. Die Narren. Wie soll er, der Gott, dem es nun einmal vom Schicksal aufgetragen ist, römische Zucht und Sitte mit eiserner Hand zu schützen, wie soll er die Menschen und ihre Laster kennen und strafen, wenn er nicht selber zuweilen jupitergleich zu ihnen herabsteigt?
  Sorglich formuliert er die zu erlassenden Vorschriften und Gesetze, numeriert, detailliert, sucht gewissenhaft nach Begründung jeder Einzelheit.
  Dann macht er sich an den Teil seiner Arbeit, der ihm der liebste ist, an die Zusammenstellung einer Liste, einer nicht großen, doch folgenschweren Liste.
  Es sitzen im Senat etwa neunzig Herren, die nicht verhehlen, daß sie ihm feind sind. Sie schauen herunter auf ihn, diese Herren, die ihre Ahnenreihen zurückführen bis zur Gründung der Stadt und noch darüber hinaus, bis zur Zerstörung von Troja. Sie nennen ihn einen Parvenü. Weil sein Urgroßvater Inhaber eines Inkassobüros und auch sein Großvater noch nichts Berühmtes war, darum glauben sie, er, Domitian, wisse nicht, was wahres Römertum sei. Er wird ihnen zeigen, wer der bessere Römer ist, der Urenkel des kleinen Bankiers oder die Urenkel der trojanischen Helden.
  Die Namen von neunzig solchen Herren sind ihm bekannt. Neunzig, das ist eine große Zahl, so viel Namen kann er nicht auf seine Liste setzen, es werden leider nur einige wenige der unangenehmen Herren während seiner Abwesenheit beseitigt werden können. Nein, er wird vorsichtig sein, er liebt keine Übereilung. Aber einige, sieben, sechs, oder sagen wir fünf, werden immerhin auf der Liste stehen können, und der Gedanke, daß er bei seiner Rückkehr wenigstens diese nicht mehr wird sehen müssen, wird ihm, wenn er fern von Rom ist, das Herz wärmen.
  Zuerst einmal, provisorisch, schrieb er eine ganze Reihe von Namen hin. Dann machte er sich daran zu streichen. Leicht fiel ihm das nicht, und bei manches Verhaßten Namenstilgung seufzte er. Aber er ist ein gewissenhafter Herrscher, er will sich bei seinen letzten Entscheidungen nicht von Sympathie oder Antipathie leiten lassen, sondern lediglich von staatspolitischen Erwägungen. Sorgfältig bedenkt er, ob dieser Mann gefährlicher ist oder jener, ob die Beseitigung dieses Mannes mehr Aufsehen erregen wird oder die Beseitigung jenes, ob die Konfiskation dieses Vermögens dem Staatsschatz mehr einbringen dürfte oder die Konfiskation jenes. Nur wenn die Waage durchaus gleich steht, mag seine persönliche Antipathie entscheiden.
  Namen für Namen bedenkt er so. Bedauernd streicht er den Helvid wieder von seiner Liste. Schade, aber es geht nicht, vorläufig muß er ihn noch schonen, diesen Helvid junior. Den Helvid senior hat seinerzeit bereits der alte Vespasian beseitigt. Einmal indes, und hoffentlich ist es nicht mehr lange hin, wird es so weit sein, daß er den Sohn dem Vater wird nachschicken können. Schade auch, daß er den Aelius nicht auf seiner Liste belassen kann, den Mann, dem er einst die Gattin entführt hat, Lucia, jetzt seine Kaiserin. Dieser Aelius pflegte ihn, den Domitian, immer nur »Wäuchlein« zu nennen, nie anders, das weiß er bestimmt, weil er einen beginnenden Bauch hat und weil ihm die Aussprache des B nicht immer glückt. Schön, mag ihn Aelius noch eine Weile Wäuchlein nennen; einmal wird auch für ihn die Stunde kommen, da ihm die Witze vergehen.
  Es blieben schließlich fünf Namen auf der Liste. Doch selbst diese fünf schienen dem Kaiser jetzt noch zuviel. Er wird sich mit vier begnügen. Er wird sich noch mit Norban beraten, seinem Polizeiminister, ehe er sich entschließt, wen er nun endgültig in den Hades hinabschicken wird.
  So, und nun hatte er sein Pensum erledigt, und nun war er frei. Er stand auf, streckte sich, ging zur Tür, sperrte auf. Er hatte die Essenszeit über gearbeitet, man hatte ihn nicht zu stören gewagt. Jetzt wollte er essen. Er hatte fast seinen ganzen Hof hierher nach Alba bestellt und seinen halben Senat, so ziemlich alle, denen er freund und denen er feind war; er wollte die Geschäfte des Reichs, bevor er seine Hauptstadt verließ, hier in Alba ordnen. Soll er sich Unterhaltung schaffen? Soll er den einen oder andern zur Tafel befehlen? Er dachte an die vielen, die jetzt hier eintrafen in ununterbrochenem Fluß, er stellte sich vor, wie sie sich verzehrten in sorgenvoller Spannung, was wohl der Gott Domitian über sie beschließen werde. Er lächelte tief und böse. Nein, sie sollen unter sich bleiben, er wird sie sich selber überlassen. Sie sollen warten, den Tag über, die Nacht, und vielleicht noch einen Tag, ja vielleicht noch eine Nacht, denn der Gott Domitian wird seine Entschlüsse langsam bedenken und nichts übereilen.
  In dieser seiner Residenz Alba wird jetzt vielleicht auch schon Lucia eingetroffen sein, Lucia Domitia, seine Kaiserin. Des Domitian Lächeln schwand von seinem Gesicht, da er an Lucia dachte. Er ist ihr gegenüber lange nichts anderes gewesen als der Mann Domitian, dann aber hat er auch ihr den Herrn und Gott Domitian zeigen müssen, er hat ihren Lieb ling Paris beseitigen und sie durch den Senat wegen Ehebruchs nach der Insel Pandataria verbannen lassen. Es trifft sich gut, daß er vor drei Wochen seinem Senat und Volk Weisung gegeben hat, ihn zu bestürmen, er möge die geliebte Kaiserin Lucia zurückrufen. Er hat sich denn auch erweichen lassen, hat Lucia zurückgerufen. Sonst hätte er zu Felde ziehen müssen, ohne sie zu sehen. Ob sie schon da ist? Wenn die Reise glatt vonstatten ging, dann muß sie schon eingetroffen sein. Er hat nicht zeigen wollen, daß ihm daran liegt, zu wissen, ob sie eingetroffen sei; er hat Weisung gegeben, ihn nicht zu stören, ihm niemandes Ankunft zu melden. Sein Herz sagt ihm, sie sei da. Soll er nach ihr fragen? Soll er sie bitten, mit ihm zu essen? Nein, er bleibt der Herrscher, er bleibt der Gott Domitian, er bezwingt sich, er fragt nicht nach ihr.
  Er ißt allein, hastig, achtlos, er schlingt, er spült die Bissen mit Wein hinunter. Schnell ist die einsame Mahlzeit beendet.
  Und was soll er jetzt tun? Was kann er unternehmen, um den Gedanken an Lucia zu vertreiben?

Er suchte den Bildhauer Basil auf, den der Senat beauftragt hatte, eine Kolossalstatue des Kaisers anzufertigen. Seit langem hatte der Künstler ihn gebeten, seine Arbeit zu besichtigen.
  Schweigsam beschaute er das Modell. Er war zu Pferde dargestellt mit den Insignien der Macht. Es war ein guter, heldischer, kaiserlicher Reiter, den der Bildhauer Basil geschaffen hatte. Der Kaiser hatte nichts an dem Werk auszusetzen, allein Gefallen daran fand er auch nicht.
  Der Reiter trug zwar seine, des Domitian, Züge, aber er war gleichwohl irgendein Kaiser, nicht der Kaiser Domitian.
  »Interessant«, sagte er schließlich, doch in einem Ton, der seine Enttäuschung nicht verbarg. Der kleine, hurtige Bildhauer Basil, der die ganze Zeit aufmerksam des Kaisers Züge durchspäht hatte, erwiderte: »Sie sind also nicht zufrieden, Majestät? Ich bin es auch nicht. Das Pferd und der Rumpf des Reiters fressen zuviel Raum weg, es bleibt zuwenig für den Kopf, für das Gesicht, fürs Geistige.« Und da der Kaiser schwieg, fuhr er fort: »Es ist schade, daß mich der Senat beauftragte, Eure Majestät zu Pferde darzustellen. Wenn Eure Majestät erlauben, dann mache ich den Herren einen Gegenvorschlag. Ich spiele da mit einer Idee, die mir reizvoll scheint. Mir schwebt vor eine Kolossalstatue des Gottes Mars, die Eurer Majestät Züge trägt. Ich denke natürlich nicht an den üblichen Mars mit dem Helm auf dem Kopf, der Helm würde mir zuviel von Ihrer Löwenstirn wegnehmen. Was mir vorschwebt, ist ein ruhender Mars. Darf ich Eurer Majestät einen Versuch zeigen?« Und da der Kaiser nickte, ließ er das andere Modell herbeischaffen.
  Er hatte dargestellt einen Mann von gewaltigem Körperbau, doch sitzend, in bequemer Haltung ausruhend. Die Waffen hatte der Gott abgelegt, das rechte Bein hatte er lässig vorgestellt, das Knie des linken, hinaufgezogen, hielt er lässig mit beiden Händen umfaßt. Der Wolf lag ihm zu Füßen, der Specht saß frech auf dem abgelegten Schild. Das Modell war offenbar in der ersten Phase, aber der Kopf war schon ausgeführt, und dieser Kopf, ja, das war ein Haupt, wie es dem Domitian gefiel. Die Stirn hatte wirklich das Löwenhafte, von dem der Künstler gesprochen, sie erinnerte an die Stirn des großen Alexander. Und die Haartracht gar, die kurzen Locken, gaben dem Kopf eine Ähnlichkeit mit gewissen bekannten Köpfen des Herkules, des angeblichen Ahnherrn der Flavier, eine Ähnlichkeit, die einige der Herren Senatoren nicht schlecht ärgern wird. Leicht gekrümmt sprang die Nase vor. Die geblähten Nüstern, der halboffene Mund atmeten Kühnheit, herrische Leidenschaft.
  »Stellen Sie sich vor, Majestät«, erläuterte angeregt der Bildhauer, da sein Werk dem Kaiser sichtlich gefiel, »wie die Statue wirken muß, wenn sie erst in ganzer Größe vollendet ist. Wenn Sie mir die Ausführung meines Projektes erlauben, Majestät, dann wird diese Statue mehr noch der Gott Domitian sein als der Gott Mars. Denn hier zieht nicht der übliche Helm die Hauptaufmerksamkeit des Beschauers auf sich, auch nicht der gewaltige Leib, sondern jede Einzelheit ist darauf berechnet, die Aufmerksamkeit des Beschauers auf das Gesicht hinzulenken, und es ist der Ausdruck des Gesichts, der den Gott übers menschliche Maß hinaushebt. Dieses Gesicht soll dem Erdkreis zeigen, was der Titel Herr und Gott besagen will.«
  Der Kaiser schwieg, doch aus seinen vortretenden, kurzsichtigen Augen beschaute er mit sichtlich steigendem Wohlgefallen sein Bild. Ja, das wird eine gute Sache. Mars und Domitian, sie gehen gut ineinander, diese beiden. Selbst die Haare, wie er sie leicht in die Wange hat hineinwachsen lassen, selbst diese Andeutung eines Backenbarts paßt gut zur Vorstellung des Gottes Mars. Und die drohend zusammengezogenen Brauen, die Augen, voll von Stolz und Herausforderung, der gewaltige Nacken, das sind Eigenschaften des Gottes Mars und dabei Merkmale, an denen jeder ihn erkennen muß, den Domitian. Dazu das entschiedene Kinn, das einzig Gute an des Vaters Kopf und, glücklicherweise, das einzige auch, was er, Domitian, von ihm geerbt hat. Er hat recht, dieser Bildhauer Basil: der Titel, den er sich hat zusprechen lassen, der Titel Herr und Gott, an diesem Mars sieht jeder, was er besagen will. So wie dieser ruhende Mars, so will er sein, Domitian, und so ist er: gerade in der Ruhe düster, göttlich, gefährlich. So hassen ihn seine Aristokraten, so liebt ihn sein Volk, so lieben ihn seine Soldaten, und was Vespasian mit all seiner Leutseligkeit, was Titus mit all seinem Geschmetter nicht erreicht hat, Volkstümlichkeit, er, Domitian, hat es erreicht, eben durch seine finstere Majestät.
  »Interessant, sehr interessant«, anerkannte er, diesmal aber mit dem rechten Ton, und: »Das haben Sie nicht schlecht gemacht, mein Basil.«

Und nun liegt ein langer Abend vor dem Kaiser, und was soll er beginnen, bevor er schlafen geht? Wenn er sich die Gesichter der Menschen vorstellt, die er hierher nach Alba geladen hat, dann, so viele es ihrer sind, findet er keinen, auf dessen Gesellschaft er Lust hätte. Nach einer einzigen steht sein Verlangen; aber die zu rufen, verbietet ihm sein Stolz. Er wird also den Abend lieber allein verbringen, bessere Gesellschaft als die eigene findet er nicht.
  Er gibt Weisung, alle Lichter des großen Festsaals anzuzünden. Auch die Mechaniker läßt er kommen, die sinnreiche Maschinerie des Festsaals zu bedienen, dessen Wände sich nach Belieben zurückdrehen lassen und dessen Decke man heben kann, bis man unter freiem Himmel ist. Die sinnreiche Maschinerie war seinerzeit als Überraschung für Lucia gedacht. Sie hat sie nicht nach Gebühr gewürdigt. Sie hat viele seiner Geschenke nicht nach Gebühr gewürdigt.
  Begleitet nur von seinem Zwerg Silen, betritt der Kaiser den weiten, lichtglänzenden Saal. Seine Phantasie füllt ihn mit den Massen seiner Gäste. Lässig sitzt er da, er hat unwillkürlich die Haltung jener Mars-Statue angenommen, und er stellt sich vor, wie seine Gäste verteilt in den vielen Gemächern seines Palastes hocken und liegen und warten, voll von Angst und Spannung. Er läßt den Saal erweitern und verengen, spielerisch, läßt die Decke heben und wieder senken. Dann geht er eine Weile auf und nieder, läßt den größten Teil der Lichter wieder löschen, so daß nur noch einzelne Teile der Halle in schwachem Licht liegen. Und weiter geht er auf und ab in dem mächtigen Raum, und riesig begleitet ihn sein Schatten, und winzig begleitet ihn sein Zwerg.
  Ob wohl Lucia in Alba ist?
  Unvermittelt – er fühlt sich noch frisch und bereit zu neuer Arbeit – befiehlt er seinen Polizeiminister Norban vor sich.
  Norban war schon zu Bett gegangen. Die meisten der Minister waren, wenn sie Domitian zu einer unerwarteten Stunde vor sich befahl, in Verlegenheit, wie sie erscheinen sollten. Auf der einen Seite wünschte der Kaiser nicht zu warten, auf der andern fühlte er seine Majestät beleidigt, wenn man sich anders als sehr sorgfältig angezogen vor ihm sehen ließ. Norban indes wußte sich seinem Herrn so unentbehrlich und so fest in seiner Gunst, daß er sich begnügte, das Staatskleid übers Nachthemd zu werfen.
  Sein nicht großer, doch stattlicher Körper dunstete also noch die Wärme des Bettes aus, wie er vor dem Kaiser erschien. Der mächtige, viereckige Kopf auf den noch mächtigeren, eckigen Schultern war nicht zurechtgemacht, das feste Kinn, unrasiert, wie er war, wirkte noch brutaler, und die modischen Stirnlocken des sehr dicken, tiefschwarzen Haares zackten, starr gefettet und trotzdem unordentlich, grotesk in das vierschrötige Gesicht. Seinem Polizeiminister nahm der Kaiser diese Nachlässigkeit nicht übel, vielleicht bemerkte er sie gar nicht. Er wurde vielmehr sogleich vertraulich. Legte, der große Mann, den Arm um die Schulter des viel kleineren, führte ihn auf und ab in dem weiten, dämmerigen Saal, sprach mit ihm halblaut in Andeutungen.
  Sprach davon, daß man den Krieg und seine Abwesenheit dazu benutzen könnte, den Senat ein wenig auszukämmen. Nochmals, mit Norban jetzt, ging er die Namen seiner Feinde durch. Er wußte gut Bescheid und hatte ein gutes Gedächtnis, doch Norban hatte in seinem breiten Kopf noch viel mehr Fakten vorrätig, Vermutungen und Gewißheiten, Pros und Kontras. Auf und ab ging der Kaiser mit ihm, steifen Schrittes, beschwerlich, den Arm immer um seine Schultern. Hörte zu, warf Fragen ein, äußerte Zweifel. Er trug kein Bedenken, Norban in sein Inneres hineinschauen zu lassen, er hatte tiefes Vertrauen zu ihm, ein Vertrauen, das aus einem geheimen Schacht seiner Seele kam.
  Norban erwähnte natürlich auch den Aelius, den ersten Mann der Kaiserin Lucia, jenen Senator, der dem Domitian den Namen Wäuchlein gegeben hatte und den Domitian so gern auf seiner Liste gelassen hätte. Es war dieser Aelius ein lebenslustiger Herr. Er hatte Lucia geliebt, er liebte sie wohl heute noch, er liebte auch die vielen andern angenehmen Dinge, mit denen ihn das Schicksal begnadet hatte, seine Titel und Ehrungen, sein Geld, sein gutes Aussehen und fröhliches Wesen, das ihm überall Freunde schuf. Aber mehr als dieses alles liebte er seinen Witz, und er stellte ihn gern ins Licht. Schon unter den früheren Flaviern hatten ihm seine Witzworte Unannehmlichkeiten gebracht. Unter Domitian, der ihm Lucia entführt hatte, war er doppelt gefährdet und hätte seine Zunge mit doppelter Vorsicht hüten müssen. Statt dessen erklärte er frivol, er kenne genau die Krankheit, an der er einmal werde sterben müssen, diese Krankheit werde ein guter Witz sein. Auch heute berichtete Norban dem Kaiser von ein paar neuen respektlosen Witzen des Aelius. Bei der Wiedergabe des letzten indes unterbrach er sich, bevor er zu Ende war. »Sprich weiter!« forderte ihn der Kaiser auf; Norban zögerte. »Sprich weiter!« befahl der Kaiser; Norban zögerte. Der Kaiser lief rot an, beschimpfte seinen Minister, schrie, drohte. Schließlich erzählte Norban. Es war ein ebenso geschliffener wie obszöner Witz über jenen Körperteil der Lucia, durch den Aelius mit dem Kaiser sozusagen verwandt war. Domitian wurde tödlich blaß. »Sie haben einen guten Kopf, Polizeiminister Norban«, sagte er schließlich mühsam. »Schade, daß Sie jetzt sich und mich um diesen Kopf geredet haben.« – »Sie haben mir befohlen zu reden, Majestät«, sagte Norban. »Gleichviel«, erwiderte der Kaiser und begann plötzlich schrill zu schreien, »du hättest solche Worte nicht wiederholen dürfen, du Hund!«
  Norban indes war nicht sehr erschüttert. Bald denn auch beruhigte sich der Kaiser wieder, und man sprach sachlich weiter über die Kandidaten der Liste. Wie Domitian selber schon befürchtet hatte, konnte man in seiner Abwesenheit schwerlich mehr als vier der Staatsfeinde erledigen; mehr wäre zu gewagt gewesen. Auch sonst war Norban mit der Liste des Kaisers nicht ganz einverstanden, und er beharrte stur darauf, daß man die Erledigung auch eines zweiten Senators, der auf der Liste stand, noch hinausschiebe. Schließlich mußte der Kaiser zwei Namen von seiner Fünfmännerliste streichen, dafür aber konzedierte ihm Norban einen neuen Namen, so daß schließlich vier Namen blieben. Diesen vier Namen dann konnte Domitian endlich den Buchstaben M beifügen.
  Es war aber dieses verhängnisvolle M der Anfangsbuchstabe des Namens Messalin, und dieser Messalin war der dunkelste Mann der Stadt Rom. Da er, ein Verwandter des Dichters Catull, einem der ältesten Geschlechter entstammte, hatte jedermann erwartet, er werde sich im Senat der Opposition anschließen. Statt dessen hatte er sich dem Kaiser verschworen. Er war reich, es geschah nicht um des ausgesetzten Gewinnes willen, wenn er den oder jenen, auch Freunde und Verwandte, eines Majestätsverbrechens bezichtigte: er tat es aus Lust am Verderb. Er war blind, dieser Messalin, doch niemand konnte besser als er verborgene Schwächen aufspüren, niemand besser aus unverfänglichen Äußerungen verfängliche, aus harmlosen Handlungen verbrecherische machen. An wessen Spuren sich der blinde Messalin heftete, der war verloren, wen er anklagte, gerichtet. Sechshundert Mitglieder zählte der Senat, ihre Haut war dick und hart geworden in diesem Rom des Kaisers Domitian, sie wußten, daß, wer sich da behaupten wollte, ohne ein robustes Gewissen nicht durchkam. Wenn aber der Name Messalin fiel, dann verzogen selbst diese abgebrühten Herren den Mund. Der blinde Mann legte Wert darauf, nicht an seine Blindheit erinnert zu werden, er hatte gelernt, seinen Weg im Senat ohne Führer zu finden, er ging durch die Bänke an seinen Platz allein und als sähe er. Alle hatten sie dem bösen, gefährlichen Mann etwas heimzuzahlen, den Untergang eines Verwandten, eines Freundes, alle hatten sie Lust, ihn an ein Hindernis anrennen zu lassen, daß er an seine Blindheit gemahnt werde. Doch keiner wagte es, dieser Lust zu folgen, sie wichen ihm aus, sie räumten ihm die Hindernisse aus dem Weg.
  Hinter vier Namen also setzte schließlich der Kaiser den Buchstaben M.
  Damit war dieser Gegenstand erledigt, und eigentlich, fand Norban, hätte ihn DDD jetzt ruhig wieder in sein Bett zurücklassen können. Doch der Kaiser behielt ihn weiter da, und Norban wußte auch, warum. DDD möchte zu gern etwas über Lucia hören, möchte zu gerne von ihm erfahren, was Lucia getrieben hat auf ihrer Verbannungsinsel Pandataria. Aber das hat er sich verscherzt. Da hätte er ihn vorhin nicht so anschreien dürfen. Jetzt wird sich Norban hüten, er wird sich keiner weiteren Majestätsverletzung schuldig machen. Er wird seinem Kaiser auf vornehme Art beibringen, sich zu beherrschen.
  Domitian brannte denn auch wirklich vor Begier, den Norban auszufragen. Aber so wenig Geheimnisse er vor dem Mann hatte, er schämte sich, nun es um Lucia ging, und die Frage wollte ihm nicht über die Lippen. Norban seinesteils aber schwieg tückisch und beharrlich weiter.
  Statt ihm von Lucia zu sprechen, erzählte er dem Kaiser, da ihn dieser nun einmal nicht entließ, allerlei Gesellschaftsklatsch und kleine politische Begebenheiten. Auch von der verdächtigen Geschäftigkeit erzählte er ihm, die man seit dem Ausbruch der östlichen Wirren im Hause des Schriftstellers Flavius Josephus wahrnahm, ja er konnte eine Abschrift des von Josef verfaßten Manifestes vorlegen. »Interessant«, sagte Domitian, »sehr interessant. Unser Josef. Der große Historiker. Der Mann, der unsern jüdischen Krieg für die Nachwelt beschrieben und aufbewahrt hat, der Mann, in dessen Hände es gelegt ist, Ruhm und Schande zu verteilen. Für die Taten meines vergotteten Vaters und meines vergotteten Bruders hat er allerhand rühmende Worte gefunden, mich hat er spärlich behandelt. Also zweideutige Manifeste verfaßt er jetzt. Sieh an, sieh an!«
  Und er gab dem Norban Auftrag, den Mann weiter zu beobachten, aber vorläufig nicht einzugreifen. Er wird sich, und wahrscheinlich noch vor seiner Abreise, diesen Juden Josef selber vornehmen; seit langem hat er Lust darauf, einmal wieder mit ihm zu sprechen.

Lucia, die Kaiserin, war wirklich am späteren Nachmittag in Alba eingetroffen. Sie hatte erwartet, Domitian werde sie begrüßen. Daß er es nicht tat, amüsierte sie eher, als daß es sie verdrossen hätte.
  Jetzt, während sie, ohne daß man ihren Namen nannte, die Unterredung Domitians mit Norban beherrschte, hielt sie Tafel in vertrautem Kreis. Von den Geladenen hatten nicht alle zu kommen gewagt; wenn der Kaiser Lucia auch zurückgerufen hatte, man wußte noch nicht, wie er es aufnehmen werde, wenn man bei ihr speiste. Man war vor finstern Überraschungen niemals sicher; es war vorgekommen, daß der Kaiser, wenn er jemand endgültig verderben wollte, ihm gerade vor dem Ende besondere Freundlichkeit zeigte.
  Diejenigen, die an der Abendtafel der Kaiserin teilnahmen, gaben sich fröhlich, und Lucia selber war bester Laune. Nichts war ihr anzumerken von den Strapazen der Verbannung. Groß, jung, strotzend saß sie da, die weit auseinanderstehenden Augen unter der reinen, kindlichen Stirn lachten, ihr ganzes, kühnes, helles Gesicht strahlte Freude. Ohne Scheu erzählte sie von Pandataria, der Insel der Verbannung. Domitian hatte ihr diese Insel vermutlich bestimmt, damit die Schatten der fürstlichen Frauen sie schreckten, die früher dorthin verbannt waren, die Schatten der Agrippina, der Octavia des Nero, der augusteischen Julia. Aber da hatte er sich verrechnet. Wenn sie an diese Julia des Augustus dachte, dann dachte sie nicht an ihr Ende, sondern nur an ihre Freundschaft mit Silan und Ovid und an die Vergnügungen, welche die letzte Ursache dieses Endes gewesen waren.
  Sie berichtete Einzelheiten über ihr Leben auf der Insel. Siebzehn Verbannte hatte es dort gegeben, Eingeborene hatte die Insel an die fünfhundert. Natürlich hatte man sich einschränken müssen, auch störte es einen, immer nur die gleichen Menschen um sich zu sehen. Bald kannte man einander bis in die letzte Falte. Das Zusammenleben auf dem öden Felsen, immer nur das grenzenlose Meer ringsum, machte manchen melancholisch, schrullig, führte zu unangenehmen Reibungen; es gab Zeiten, da man sich so anhaßte, daß man einander, eingesperrten Spinnen gleich, am liebsten aufgefressen hätte. Aber es hatte auch sein Gutes, die zahllosen Gesichter Roms los zu sein und seine ewige Geselligkeit und angewiesen zu sein auf sich selber. Sie habe bei dieser Unterhaltung mit sich selber gar keine schlechten Erfahrungen gemacht. Dazu habe es gewisse Sensationen gegeben, von denen man sich in Rom nichts träumen lasse, zum Beispiel die Erregung, wenn so alle sechs Wochen das Schiff angekommen sei mit den Briefen und Zeitungen aus Rom und den allerhand Dingen, die man sich dort bestellt hatte. Im ganzen, faßte sie zusammen, sei es keine schlechte Zeit gewesen, und wenn man sie so sah, heiter und ungeheuer lebendig, dann glaubte man ihr das.
  Die Frage blieb, wie nun Lucia hier in Rom weiterleben, wie sich der Kaiser zu ihr stellen werde. Ohne Scheu sprach man darüber; mit besonderer Offenheit äußerten sich Claudius Regin, der Senator Junius Marull und Lucias früherer Gatte, Aelius, den zu dieser Tafel zuzuziehen sie keinerlei Bedenken getragen hatte. Schon am nächsten Tage, meinte Aelius, werde Lucia mit Sicherheit erkennen können, was sie für die Zukunft von Wäuchlein zu gewärtigen habe. Wenn er sie zunächst allein werde sehen wollen, dann sei das kein gutes Zeichen, denn dann wolle er sich mit ihr auseinandersetzen. Wahrscheinlich aber werde Wäuchlein vor Auseinandersetzungen mit ihr genau solche Furcht haben wie seinerzeit er selber, Aelius, und werde also diese Aussprache hinausschieben wollen. Ja, er, Aelius, sei bereit, eine Wette einzugehen, daß der Kaiser morgen eine Familientafel abhalten werde, weil er nämlich Lucia zunächst nicht allein, sondern zusammen mit andern werde sehen wollen.
  Lucia ihresteils hatte offenbar keine Furcht vor der bevorstehenden Auseinandersetzung mit dem Kaiser. Ohne Scheu gab auch sie ihm seinen Spitznamen und, in Gegenwart aller, sagte sie zu Claudius Regin: »Später muß ich Sie fünf Minuten allein haben, mein Regin, damit Sie mir raten, was ich füglich von Wäuchlein verlangen kann, ehe ich mich versöhnen lasse. Wenn er wirklich dicker geworden ist, wie man mir sagt, dann muß er mehr zahlen.«
  Wie die meisten seiner Gäste schlief Domitian selber nicht gut in dieser Nacht. Noch immer nicht hatte er sich erkundigt, ob Lucia da sei, aber eine innere Stimme sagte ihm mit Sicherheit, sie war da, er schlief jetzt wieder unter einem Dach mit ihr.
  Er bereute es, daß er den Norban gekränkt hatte. Hätte er das nicht getan, dann wüßte er jetzt, was Lucia getrieben hat auf ihrer Verbannungsinsel Pandataria. Es waren nur wenige Männer gewesen, die ihr dort vor Gesicht gekommen waren, und er konnte sich nicht vorstellen, daß einer unter ihnen Lucia sollte angezogen haben. Allein sie war unberechenbar und erlaubte sich alles. Vielleicht hatte sie dennoch mit einem dieser Männer geschlafen, vielleicht auch mit einem der Fischer oder mit sonst einem aus dem Pack, das die Insel bewohnte. Allein das konnte ihm niemand sagen außer dem Norban, und dem hatte er selber törichterweise den Mund verschlossen.
  Allein auch wenn er genau wüßte, was in Pandataria gewesen ist, wenn er es, Minute für Minute, wüßte, was sie dort getrieben hat, es hülfe ihm nicht viel. Mit einer Spannung, gemischt aus Unbehagen und Begier, erwartete er die Unterredung, die er morgen mit Lucia haben wird. Er schliff sich Sätze zurecht, mit denen er sie treffen wird, er, der großmütige Domitian, der Gott, die Sünderin, die er in Gnaden wieder aufnimmt. Aber er wußte zuvor, sie wird, und wenn er noch so treffende Sätze für sie findet, nur lächeln, und schließlich wird sie lachen, ihr volles, dunkles Lachen, und ihm etwas antwor ten wie: Komm, komm, Wäuchlein, und hör jetzt schon auf, und was immer er sagen oder tun wird, sie ist von solcher Beschaffenheit, daß er ihr keine Angst wird einflößen können. Denn während die andern, seine frechen Aristokraten, vielleicht gerade weil sie so alten Geschlechtern entstammen, dünnblütig geworden sind, kraftlos, lebt in ihr, in Lucia, in Wahrheit das Strotzende, die Kraft der alten Patrizier. Er haßte Lucia um dieser ihrer stolzen Kraft willen, aber er brauchte sie, er vermißte sie, wenn sie nicht da war. Er sagte sich, sie sei die leibgewordene Göttin Rom, nur deshalb brauche und liebe er sie. Aber was er brauchte und liebte, das war einfach Lucia, die Frau, nichts sonst. Er wußte, er kann nicht ins Feld gehen, ehe er nicht die kleine Narbe unter ihrer linken Brust geküßt haben wird, und wenn sie ihn sie küssen läßt, dann wird das ein Geschenk sein. Ach, ihr kann man nichts befehlen, sie lacht; unter allen Lebenden, die er kennt, ist sie die einzige, die den Tod nicht fürchtet. Sie liebt das Leben, sie nimmt vom Augenblick alles, was er geben kann, aber gerade deshalb hat sie keine Angst vor dem Tod.

Für den andern Morgen in aller Frühe hatte der Kaiser die vertrautesten seiner Minister zu einem geheimen Kabinettsrat geladen. Die fünf Herren, die sich im Saal des Hermes versammelten, waren unausgeschlafen, sie hätten es alle vorgezogen, länger liegenzubleiben, aber wenn es auch vorkam, daß einen der Kaiser endlos warten ließ, wehe dem, der es gewagt hätte, selber unpünktlich zu sein.
  Annius Bassus, in seiner offenen, lärmenden Art, packte vor Claudius Regin seine Sorgen aus um den bevorstehenden Feldzug; offenbar wollte er, daß ihn Regin beim Kaiser unterstütze. Einesteils, meinte er, halte es DDD für seiner, des Gottes, nicht würdig zu sparen, so daß die Hofhaltung, vor allem die Bauten, auch in seiner Abwesenheit viel Geld verschlinge, andernteils lege er – eine Erbschaft, die er vom Vater überkommen – Gewicht darauf, ungedeckte Ausgaben unter allen Umständen zu vermeiden. Was dabei zu kurz komme, das sei die Kriegführung. Man werde, fürchte er, den Generälen an der Donaufront nicht genügend Truppen und Material zur Verfügung stellen, und was dann an Kräften und Mitteln fehle, das werde, und das sei die Hauptgefahr, der Oberkommandierende Fuscus durch Mut auszugleichen suchen.
  »Nein, einfach ist der Staatshaushalt nicht«, erwiderte seufzend Regin, »mir, mein Annius, brauchen Sie das nicht zu sagen. Ich habe da gestern ein Gedicht erhalten, das mir der Hofdichter Statius gewidmet hat.« Und grinsend über das ganze, unordentlich rasierte, fleischige Gesicht, ironisch blinzelnd mit den schweren, schläfrigen Augen, zog er aus dem Ärmel seines Staatskleides das Manuskript; mit den dicken Fingern hielt er das kostbare Gedicht, und mit seiner hellen, fettigen Stimme las er: »Anvertraut dir allein ist die Verwaltung der geheiligten Schätze des Kaisers, die Reichtümer, erzeugt von allen Völkern, das Einkommen der gesamten Welt. Was immer Iberien aus seinen Goldbergwerken herausbricht, was immer glänzt innerhalb der Höhen Dalmatiens, was immer eingebracht wird von Libyens Ernten, was immer düngt der Schlamm des erhitzten Nilflusses, was immer an Perlen die Taucher der östlichen See ans Licht fördern und erjagen an Elfenbein die Jäger am Indus: dir als einzigem Verwalter ist es anvertraut. Wachsam bist du, scharfäugig, und mit sicherer Schnelle errechnest du, was täglich erfordern unter jeglichem Himmel die Armeen des Reichs, was die Ernährung der Stadt, was die Tempel, die Wasserleitungen, was des ungeheuren Straßennetzes Unterhalt. Unze für Unze kennst du Preis, Gewicht und Legierung jeglichen Metalls, das sich, aufstrahlend im Feuer, wandelt in Bilder der Götter, in Bilder der Kaiser, in römische Münze.« – »Der Mann, von dem da die Rede ist, bin ich«, erläuterte grinsend Claudius Regin, und es war wirklich ein wenig komisch, den schlampigen, skeptischen, unprätentiösen Herrn mit den erhabenen Versen zu vergleichen, die ihm galten.
  Der Hofmarschall Crispin ging mit nervösen Schritten in dem kleinen Raum auf und ab. Der junge, elegante Ägypter war trotz der frühen Stunde mit höchster Sorgfalt gekleidet, er mußte viel Zeit auf seine Toilette verwendet haben, er roch, wie stets, nach Wohlgerüchen wie der Leichenzug eines vornehmen Herrn. Die ruhigen, wachsamen Augen des Polizeimini sters Norban folgten ihm mit sichtbarer Mißbilligung. Norban mochte ihn nicht leiden, den jungen Gecken, er spürte, daß er sich über seine Vierschrötigkeit lustig machte. Doch Crispin war einer der wenigen, denen Norban nicht ankonnte. Wohl wußte der Polizeiminister um viele bedenkliche Einzelheiten der Geldbeschaffung des verschwenderischen Crispin. Allein der Kaiser hatte für den jungen Ägypter eine unerklärliche Vorliebe. Er sah in ihm, der erfahren war in allen feinen Lastern seines Alexandrien, den Spiegel der Eleganz und des guten Tons. Domitian, der Hüter strengrömischer Tradition, verachtete zwar diese Künste, doch Domitian, der Mann, war daran interessiert.
  Crispin, immer auf und ab gehend, meinte: »Es wird sich wieder einmal um neue, verschärfte Sittengesetze handeln. DDD kann sich nicht genug daran tun, unser Rom in ein gigantisches Sparta zu verwandeln.« Niemand antwortete. Wozu die Dinge das tausendstemal wiederkäuen? »Vielleicht auch«, meinte morgendlich gähnend Marull, »hat er uns wieder einmal nur wegen eines Steinbutts oder wegen eines Hummers herbeordert.« Er spielte an auf jenen bösartigen Witz, den sich vor nicht langer Zeit der Kaiser geleistet, als er seine Minister mitten in der Nacht nach Alba gesprengt hatte, um sie zu befragen, auf welche Art ein über alle Maßen großer Steinbutt bereitet werden sollte, den man ihm zum Geschenk gemacht hatte.
  Die Augen des allwissenden Norban, in dessen Dossiers die Handlungen und Äußerungen jedes einzelnen genau verzeichnet waren, folgten nach wie vor dem auf und nieder hastenden Crispin; es waren braune Augen, auch ihr Weiß war bräunlich, und sie erinnerten in ihrer ruhigen, sprungbereiten Aufmerksamkeit an die Augen eines wachsamen Hundes. »Haben Sie wieder etwas über mich herausgebracht?« fragte schließlich, nervös unter diesem ständigen Blick, der Ägypter. »Ja«, erwiderte schlicht Norban. »Ihr Freund Mettius ist gestorben.« Crispin hielt mitten im Schritt inne und wandte dem Norban das lange, feine, dünne, lasterhafte Gesicht zu; Erwartung, Freude und Besorgtheit mischten sich auf ihm. Der alte Mettius war ein sehr reicher Mann, Crispin hatte ihn auf verschlun gene Art, mit Freundschaftsbezeigungen und mit Drohungen, verfolgt, und der Greis hatte ihn zuletzt auch in seinem Testament mit großen Summen bedacht. »Ihre Freundschaft ist ihm nicht gut bekommen, mein Crispin«, berichtete, während jetzt auch die andern zuhörten, der Polizeiminister. »Mettius hat sich die Adern geöffnet. Unmittelbar vorher übrigens hat er sein gesamtes Vermögen« – Norban legte einen kleinen Ton auf das Wort: gesamtes – »unserm geliebten Herrn und Gott Domitian verschrieben.« Es gelang dem Crispin, sein Gesicht ruhig zu halten. »Sie sind immer der Überbringer erfreulicher Botschaften, mein Norban«, sagte er höflich.
  Wenn die fette Erbschaft nicht ihm selber zufiel, dann gönnte sie Crispin dem Kaiser noch als erstem. Alle fünf Männer in dem kleinen Saal, so übel ihnen Domitian zuweilen mitgespielt hatte, waren ihm ehrlich freund. DDD, trotz seiner finsteren Schrullen, faszinierte die Massen sowohl wie diejenigen, die er näher an sich heranließ.
  Claudius Regin hatte mit einem kleinen Feixen zugehört. Jetzt ließ er sich wieder erschlaffen, schlampig, schläfrig hockte er in einem Sessel. »Die haben es leicht«, sagte er halblaut zu Junius Marull, mit dem Kopf auf die drei andern weisend, »sie sind jung. Sie aber, mein Marull, und ich, wir haben etwas erreicht, was unter den Freunden des Kaisers eigentlich nur uns zuteil ward: wir sind beide über Fünfzig alt geworden.«
  Norban hatte unterdessen den Crispin in einer Ecke festgehalten. Auf seine ruhige, etwas bedrohliche Art, die klobige Stimme dämpfend, daß die andern seine Worte nicht hörten, sagte er zu ihm: »Ich habe eine weitere gute Nachricht für Sie. Die Vestalinnen werden den Palatinischen Spielen beiwohnen. Sie werden Ihre Cornelia zu sehen bekommen, mein Crispin.« Das bräunliche Gesicht des Crispin wurde fast töricht vor Bestürzung. Er hatte ein paarmal freche, begehrliche Äußerungen über die Vestalin Cornelia getan, doch nur zu intimen Freunden, denn der Kaiser nahm es genau mit seinem Erzpriestertum und liebte keine unehrerbietigen Äußerungen über seine Vestalinnen. Crispin erinnerte sich jetzt genau, was er gesagt hatte. Und wäre diese Cornelia von oben bis unten in ihr weißes Kleid eingenäht, er werde mit ihr schlafen, hatte er sich vermessen. Auf welchem höllischen Weg aber war das schon wieder zu diesem verfluchten Norban gedrungen?
  Endlich wurden die Herren ins innere Arbeitskabinett gebeten.
  Der Kaiser saß auf seinem erhöhten Sitz, am Arbeitstisch, prunkvoll steif, angetan mit dem ihm vorbehaltenen Kleid der Majestät, und wiewohl der Tisch seine Füße deckte, trug er den unbequemen hochgesohlten Schuh. Es beliebte ihm, ganz der Gott zu sein; nur mit einem hieratisch stolzen Nicken erwiderte er die dem Gott zukommende demütig zeremoniöse Begrüßung seiner Räte.
  Um so mehr dann stach von dieser Haltung die Sachlichkeit ab, mit der er die Sitzung führte. Obwohl durchdrungen von dem Gefühl seiner Göttlichkeit, prüfte er mit gutem Menschenverstand die Gründe und Gegengründe, welche seine Herren vorbrachten.
  Man behandelte zunächst jene Gesetzesvorlage, welche die Oberaufsicht über Sitte und Senat für immer auf den Kaiser übertragen, die Rechte der mitregierenden Körperschaft aufs Formale einschränken, die absolute Monarchie zur Realität machen sollte. Bis in jede stilistische Kleinigkeit arbeitete man die Argumente aus, mit denen man diese Vorlage begründen wollte. Sodann überlegte man, wie man die Grundlinien des Kriegs- und des Friedensetats in Einklang bringen könnte. Da galt es einerseits dem Festungsbaumeister Frontin große Summen zur Verfügung zu stellen für die Fortführung des Walles gegen die germanischen Barbaren, andernteils den an die Front gehenden Truppenteilen hohe Prämien und Sonderlöhnungen zu konzedieren. Aber man konnte auch nicht ohne weiteres die großangelegten Bauunternehmungen in der Stadt und in den Provinzen stillegen, wenn man nicht das Prestige des Kaisers gefährden wollte. Wo also konnte man sparen? Und wo und auf welchem Gebiet konnte man noch Steuererhöhungen durchführen, ohne die Untertanen zu heftig zu bedrücken? Weiter setzte man fest, welche Maßnahmen man gegen die unsichern Provinzen ergreifen, welche Privilegien man ihnen geben oder nehmen sollte. Umständlich ferner beriet man, wieweit man die Vorschriften mildern könnte, die den Weinbau zugunsten des Getreidebaus einschränken sollten; man wollte diese notwendige Reform nicht allzu unpopulär werden lassen. Besonders lange schließlich verweilte man bei den geplanten Sittengesetzen: Verordnungen, die der zunehmenden Emanzipation der Frauen steuern, Bestimmungen, die den Kleiderluxus einschränken, Vorschriften, die eine schärfere Kontrolle der Schauspiele ermöglichen sollten. Wieder einmal mußten die Räte erkennen, daß es nicht etwa Heuchelei war, wenn Domitian von seiner erzpriesterlichen Sendung sprach, altrömische Zucht und Tradition mit den strengsten Mitteln wiederherzustellen. So unbedenklich er den eigenen maßlosen Begierden frönte, so tief war er durchdrungen von seiner Sendung, sein Volk zur Sitte und zum religiösen Herkommen der Altvordern zurückzuführen. Römische Zucht und römische Macht sind das gleiche, das eine kann ohne das andere nicht bestehen, die strenge Sitte ist die Basis des Imperiums. Steif und kaiserlich saß er da und führte das aus, eine redende Statue. Ausstrahlte von ihm die tiefe Überzeugtheit von seiner Mission, und den andern, obwohl sie das Schauspiel des sich offenbarenden Gottes Domitian nicht das erstemal erlebten, wurde es beinahe unheimlich vor seiner Besessenheit.
  Mit Ausnahme dieser einen aber erwog man alle Fragen sachverständig unter der sachverständigen Leitung des Kaisers und ohne Ressentiment des einen gegen den andern. Domitian hatte es verstanden, sich und seine Räte zu einem Organismus zu verschmelzen, der mit einem einzigen Gehirn dachte. Es wurde eine lange Sitzung, alle sehnten sich nach Entspannung, doch eine Unterbrechung gönnte der Kaiser weder sich noch seinen Räten.
  Und selbst als er die erschöpften Herren entließ, behielt er den Norban noch zurück. Er hätte freilich klug daran getan, sich ein wenig auszuruhen. Vor ihm lag zunächst eine anstrengende Familientafel – der Menschenkenner Aelius hatte recht gehabt, der Kaiser wollte Lucia zuerst im Kreise der Familie sehen – und dann die erhoffte und gefürchtete Auseinandersetzung mit Lucia. Allein es war gerade um dieser Auseinandersetzung willen, daß Domitian noch mit seinem Polizeiminister reden wollte. Der war nun einmal der einzige, der ihm Mate rial geben konnte, Material gegen Lucia, das ihm vielleicht bei der großen Aussprache dienlich wäre. Doch Norban blieb auch heute einsilbig, und der Kaiser brachte auch heute seine Frage nicht über die Lippen. Er wartete darauf, daß Norban von allein sprechen sollte; es war niederträchtig von ihm, daß er seinen Kaiser nicht informierte, auch ungefragt. Allein Norban hatte seinen harten Kopf, er sprach nicht.
  Seufzend gab es der Kaiser auf, von ihm etwas über Lucia zu hören. Da er ihn aber nun einmal dahatte, fragte er ihn wenigstens über Julia aus. Sein Verhältnis zu dieser seiner Nichte Julia war zwiespältig und wechselnd. Titus, sein Bruder, hatte ihm seinerzeit seine Tochter Julia als Frau angetragen, doch Domitian, damals danach trachtend, seines Bruders Mitregent zu werden, hatte sich nicht auf solche Art abspeisen lassen wollen. Dann aber hatte er sich, teils aus Haß gegen den Bruder, teils weil ihm Julias lässig anmutige, füllige Fleischlichkeit anzog, das Mädchen durch Gewalt und Überredung gefügig gemacht. Auch nachdem Titus Julia mit dem Vetter Sabin verheiratet hatte, ja gerade deshalb, hatte er diese seine skandalösen Beziehungen zu ihr fortgesetzt. Nun war Titus tot, Domitian hatte keine Ursache mehr, ihn zu ärgern, doch er hatte sich mittlerweile an die blonde, träge, weißhäutige Julia gewöhnt. Sie liebte ihn sichtlich, und in diese Liebe rettete er sich, wenn der Ärger über den unangreifbaren Stolz der Lucia zu tief an ihm fraß. Und je nach der Art, wie ihn Lucia behandelte, änderte sich seine Neigung für Julia.
  Nun war Julia schwanger. Er hatte ihr vor einiger Zeit verboten, mit ihrem Manne Sabin, seinem Vetter, zu schlafen, sie schwor, das Kind sei von ihm, nicht von Sabin, und der Mann Domitian möchte das auch gerne glauben, aber der Kaiser Domitian ist mißtrauisch. Oder vielleicht auch glaubt es der Kaiser Domitian, denn ihn, den Gott, kann man nicht hintergehen, aber der Mensch Domitian ist mißtrauisch. Über diese seine Zweifel mit seinem Norban zu reden, trug er keine Scheu. Lucia hatte ihm ein Kind geboren, aber es war im Alter von zwei Jahren gestorben, und der Leibarzt Valens gab dem Kaiser keine Hoffnung, von Lucia Nachkommenschaft zu erwarten. Es wäre großartig, wenn Julia ihm ein Kind gebäre. Aber wer konnte ihm sagen, ob die Frucht, die sie trug, wirklich sein Kind war? Niemals wird er dessen ganz sicher sein können; denn wenn das Kind flavische Merkmale welcher Art immer tragen wird, diese Merkmale können von ihr selber stammen, von ihm und von Sabin. Wer behebt seine Zweifel?
  Norban war seinem Herrn nicht nur tief ergeben, sondern ehrlich freund. Es wäre ihm eine ungeheure Freude gewesen, wenn Domitian einen Sohn gehabt hätte, dem er den Thron hätte vererben können. »Ich habe verlässige Leute im Hause des Prinzen Sabin«, erklärte er, »Leute mit gutem Blick. Nicht um der Prinzessin Julia, sondern um des Prinzen Sabin willen. Meine Leute erklären mit Bestimmtheit, die beiden lebten wie Vetter und Base, nicht wie Mann und Frau.« Der Kaiser richtete die etwas vorquellenden Augen trüb und starr auf den Norban. »Du willst den Herrn und Gott Domitian trösten«, antwortete er, »weil du dem Manne Domitian freund bist.« Norban hob die breiten Schultern eindrucksvoll und senkte sie wieder. »Ich berichte nur«, sagte er, »was verlässige Leute mir berichten.«
  »Auf alle Fälle ist es ärgerlich«, meinte Domitian, »daß Sabin in der Welt ist, dieser hochmütige Dummkopf. Von Natur ist er nur dumm. Daß er so hochmütig geworden ist, daran ist Titus schuld gewesen. Ich sage dir, Norban, mein Bruder Titus war im Grunde sentimental, bei all seinem Geschmetter. Er hat den Sabin verhätschelt, aus Familienrührseligkeit. Es war einfach idiotisch, daß er ihm die Julia zur Frau gegeben hat.« – »Es ziemt mir nicht«, antwortete Norban, »an dem Gotte Titus Kritik zu üben.« – »Ich sage dir«, erwiderte ungeduldig der Kaiser, »er war häufig ein Idiot, der Gott Titus. Der Hochmut dieses Sabin ist wirklich höchst ärgerlich. Dieser Hochmut grenzt schon beinahe an Hochverrat.« – »Er hält sich peinlich fern von jeder politischen Tätigkeit«, warf, beinahe bedauernd, der Polizeiminister ein. »Das ist es eben«, sagte Domitian. »Dafür spielt er den Mäzen lauter versnobter Intellektueller, lauter Oppositioneller natürlich.« – »Ist das Hochverrat?« überlegte Norban. »Ich glaube, es genügt nicht.« – »Er hat seine Leute die weiße Livree tragen lassen, die dem Haushalt des Kaisers vorbehalten ist«, führte Domitian weiter aus. »Das genügt nicht«, beharrte Norban. »Er hat die weiße Livree wieder abgeschafft, sowie Sie es ihm befohlen haben. Nein, was vorliegt, genügt nicht«, schloß er. »Aber vertrauen Sie Ihrem Norban, mein Gott und Herr«, redete er ihm zu. »Der Prinz Sabin ist von solcher Art, daß bestimmt einmal etwas gegen ihn vorliegen wird. Und sobald es soweit ist, vielleicht schon bei Ihrer Rückkehr aus dem Feldzug, mein Gott und Herr, werde ich Ihnen sogleich berichten.«

Des Abends aß der Kaiser zunächst allein, hastig und viel, denn er wollte satt sein, um bei der Familientafel nicht durch Essen von der Beobachtung der andern abgelenkt zu werden. Diese andern versammelten sich mittlerweile in dem kleinen intim festlichen Saal der Minerva. Es waren Lucia, die beiden Vettern des Kaisers, Sabin und Clemens, mit ihren Frauen Julia und Domitilla, sowie die beiden kleinen Zwillingssöhne des Clemens.
  Die Garden klirrten die Spieße zur Erde, Domitian betrat den Raum. Sah Lucia. Ihr kühnes, helles Gesicht lachte ihn an, fröhlich, ein wenig spöttisch; ach nein, der Aufenthalt auf der öden Insel hatte sie nicht gebändigt, nicht verändert. Er war froh, nicht mit ihr allein zu sein.
  Mit seinem steifen, mühsamen Schritt ging er auf sie zu und küßte sie, wie er dem Zeremoniell zufolge alle Anwesenden zu küssen hatte. Es blieb ein kurzer, formeller Kuß, seine Lippen rührten kaum ihre Wangen. Doch unter seinem Staatskleid spürte sie das starke Pochen seines Herzens. Er hätte eine Provinz darum gegeben, zu wissen, ob sie dort auf ihrer Insel mit einem andern geschlafen hatte. Warum hatte er seinen Norban nicht befragt? Fürchtet er die Antwort?
  Ein wildes, kaum zähmbares Verlangen kam ihn an, die Narbe unter ihrer linken Brust zu sehen, mit sanftem Finger darüber zu streichen. Er ist wahrlich ein großer Herrscher, er ist ein Römer, daß er sich bezwingen und sich ruhigen Gesichtes an die andern wenden kann, während er dieses ungeheure Verlangen spürt.
  Er umarmt also zunächst seinen Vetter Sabin und küßt ihn, wie es der Brauch vorschreibt. Ein widerwärtiges Mannsbild, dieser Sabin, so dümmlich wie eingebildet. Aber Domitian kann sich auf seinen Polizeiminister verlassen. Der Tag wird kommen, da er die Haut dieses Sabin nicht mehr an der seinen wird spüren müssen.
  Er wandte sich an Julia. Man sah ihr von ihrer Schwangerschaft noch nichts an, aber hier waren alle im Bilde. Sicher hat selbst Lucia schon davon gehört, und auch sie wird sich jetzt fragen: Von wem ist das Kind, von Wäuchlein oder von dem blöden Sabin? Des Kaisers ganzes Gesicht, wie er jetzt, die Arme eckig nach hinten, den Bauch leicht eingezogen, auf sie zuging, war überrötet; doch das wollte nichts besagen, er errötete leicht und immerzu. Julias blaugraue Augen schauten ihm groß und forschend entgegen. Sie hatte in diesen letzten Monaten weniger unter seinen Launen zu leiden gehabt, aber mit ihrem guten, nüchternen Verstand sah sie voraus, daß sich das ändern werde, sowie er erst wieder mit Lucia zusammen sei. Da stand sie denn, eine rechte Flavierin, raumfüllend, höchst existent. Aber wirkte sie nicht etwas vulgär, wenn man sie an Lucia maß? Domitian küßte sie, und ihre weiße, dünne Haut, ihm vor wenigen Tagen noch sehr lieb, war ohne Reiz für ihn.
  Nun begrüßte er mit Umarmung und Kuß seinen jüngeren Vetter, Clemens, den sanften und faulen Clemens, wie er ihn zu höhnen pflegte. Denn Clemens hatte sich nie etwas aus Politik gemacht, er bezeigte keinerlei Ehrgeiz, die freundliche Lässigkeit, die ihn ganz durchdrang, war dem Kaiser, dem Wahrer römischen Wesens, ein Ärgernis. Die meiste Zeit verbrachte Clemens auf dem Land, mit seiner Frau Domitilla und seinen Zwillingssöhnen. Dort beschäftigte er sich mit der pietistischen Doktrin einer jüdischen Sekte, mit der albernen Lehre der sogenannten Minäer oder Christen, die sich allerhand von einem jenseitigen Leben versprachen, da ihnen das diesseitige nicht der Mühe wert schien. Domitian fand diese Doktrin abstoßend, weichlich, weibisch, dumm, eines Römers ganz und gar unwürdig. Nein, beim Herkules, er mochte auch den Vetter Clemens nicht. Aber etwas hatte dieser ihm voraus, um eines beneidete ihn Domitian. Das waren die Zwillinge, die vierjährigen Prinzen Constans und Petron, die kleinen Löwen, wie Domitian die weichen, geschmeidigen und kräftigen Knäblein gerne nannte. Die Dynastie mußte fortleben, das war sein brennender Wunsch, weder Sabin noch Clemens eigneten sich für den Thron, was aus Julia entspringen werde, wußte man noch nicht, vorläufig also waren die Zwillinge alles, woran sich Domitian halten konnte, und in seinem Innersten spielte er mit dem Gedanken, sie zu adoptieren. Nur um ihretwillen nahm er den Vetter Clemens hin. Der erwiderte übrigens des Kaisers Abneigung und ließ sich Umarmung und Kuß sichtlich nur mit Widerstreben gefallen.
  Mehr reizte und belustigte den Kaiser des Vetters Frau, Domitilla, die er als letzte mit dem Kuß begrüßte. Eine Tochter seiner früh verstorbenen Schwester, hatte auch sie gewisse flavische Eigenschaften, blonde Haare und starkes Kinn. Doch war sie dünn, in jeder Hinsicht dünn, und karg auch von Worten. Freilich waren ihre hellfarbigen Augen beredt, ja fanatisch. Von Domitian sprach sie verächtlich nur als von »Jenem«, selbst »Wäuchlein« war ihr noch zu gut für ihn, und der Kaiser brauchte nicht seinen Norban, um zu wissen, daß Domitilla in ihm das Prinzip des Bösen sah. Bestimmt war sie es, die in ihrem schwachen Mann seine passive Feindseligkeit nährte, die zähe, stille Sanftheit seines Widerstands. Bestimmt war sie es, die ihn in die Gemeinschaft mit jener anrüchigen jüdischen Sekte hineintrieb. Der Kaiser, wie er Domitilla jetzt küßte, schloß sie fester in seine Arme als die andern. Es lag ihm nichts an ihr, doch um sie zu ärgern, beließ er es gerade bei ihr nicht bei dem zeremoniellen Kuß, sondern umfaßte die Widerstrebende lang und herzhaft.
  Bei Tafel war er gesprächig und angenehmer Laune. Zwar versagte er sich’s nicht, seine Vettern Sabin und Clemens und Domitilla auf die gewohnte Art zu hänseln. Aber er nahm es nicht übel, daß ihn Lucia anzüglich um seiner Mäßigkeit willen lobte und anerkennend feststellte, sein Bauch habe nur wenig zugenommen. Auch sprach er mit ernster Besorgtheit auf Julia ein, sie möge ihres Zustandes wegen auf sich achten, von dieser Speise essen und von jener nicht. Vor allem aber scherzte er mit den Zwillingen. Sanft strich er ihnen über das helle, weiche Haar – »meine kleinen Löwen«, sagte er. Die Prinzen ließen sich das gern gefallen, offensichtlich erwiderten sie die Neigung ihres Onkels. »Das Volk, die Soldaten und die Kinder lieben mich«, stellte der Kaiser zufrieden fest. »Alle, die unverdorbene Instinkte haben, lieben mich.« – »Habe ich verdorbene Instinkte?« fragte Lucia zurück. Und Julia, freundlich und gelassen, erkundigte sich: »Heißt das, daß Sie unsern Gott Domitian nicht lieben, meine Lucia, oder heißt es, daß Sie ihn trotz Ihrer verdorbenen Instinkte lieben?«
  Als die Tafel aufgehoben und die andern gegangen waren, fühlte sich Domitian besser gerüstet für das Gespräch mit Lucia. Trotzdem fand er, wie sie allein waren, keinen rechten Anfang. Lucia sah es, und ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. So begann denn sie das Gespräch und nahm damit seine Führung in die Hand. »Ich habe«, sagte sie, »Ihnen eigentlich zu danken für meine Verbannung. Als ich erfuhr, daß Sie mir nicht einmal Sizilien, sondern das öde Pandataria zum Exil bestimmt hatten, war ich, ich gestehe es, verärgert und fürchtete, es werde recht langweilig werden. Statt dessen ist mir die Insel zu einem Erlebnis geworden, das ich nicht missen möchte. Angewiesen auf das Dutzend Mitverbannter und auf die eingeborene proletarische Bevölkerung, habe ich entdeckt, daß der Aufenthalt auf einer solchen öden Insel dem Innenleben ihrer Bewohner viel förderlicher ist als etwa der Aufenthalt in Alba oder auf dem Palatin.« Ich werde trotz allem den Norban fragen, sagte sich verbissen Domitian, ob und mit wem sie es dort getrieben hat. »Als Sie geruhten«, fuhr Lucia fort, »mich zurückzurufen, habe ich das beinahe bedauert. Dabei will ich gar nicht leugnen, daß jetzt, nach dem öden Pandataria, unser Alba mir Freude macht.«
  »Ich hätte die Gesetze über den Ehebruch strenger anwenden sollen«, meinte, stark überrötet, Domitian. »Ich hätte mich Ihrer entledigen sollen, Lucia.« – »Sie sind launisch, mein Herr und Gott«, gab ihm Lucia zurück, und das Lächeln wich nicht von ihrem Antlitz. »Erst rufen Sie mich zurück, und dann sagen Sie mir solche Grobheiten. Und finden Sie es nicht etwas primitiv, einem immer gleich mit so blutigen Lösungen zu kommen?« Sie trat nahe an ihn heran, sie war größer als er, sie strich ihm leicht über das spärlicher werdende Haar. »Das ist schlechter Geschmack, Wäuchlein«, sagte sie, »das zeugt nicht von guter Rasse. Übrigens habe ich keine Angst vor dem Tod. Ich denke, Sie wissen das. Wenn ich jetzt sterben müßte, wäre es kein zu hoher Preis für das, was ich vom Leben gehabt habe.« Sie hatte allerhand aus ihrem Leben herauszuholen gewußt, das mußte Domitian zugeben. Und Angst vor dem Tod hatte sie wirklich nicht, er hatte es erprobt. Und auch, daß sie noch aus ihrer Verbannung Gewinn zu ziehen vermocht hatte, glaubte er ihr. Nein, man konnte sie nicht zähmen, man konnte ihrer nicht Herr werden. Immer von neuem empörte ihn die Kühnheit, mit der sie zu ihren Taten stand, doch immer von neuem auch unterwarf ihn diese Kühnheit.
  Er versuchte, sich stark zu machen gegen sie. Sie war ersetzbar, das hatte ihre Abwesenheit gezeigt. War ihm nicht Julia mittlerweile mehr geworden als eine Bettgenossin? Und erwartete er nicht ein Kind von Julia? Und hatte nicht auch er allerhand aus seinem Leben gemacht in ihrer Abwesenheit? »Auch ich habe einiges geschafft, während du fort warst, Lucia«, sagte er grimmig. »Rom ist römischer geworden, Rom ist mächtiger geworden, stärker, und es ist jetzt mehr Zucht in Rom.« Lucia lachte einfach. »Lache nicht, Lucia!« sagte er, und es war Bitte und Befehl. »Es ist so.« Und wieder weicher, fast flehend: »Ich hab es auch deinethalb getan, ich hab es für dich getan, Lucia.«
  Lucia saß still da und schaute ihn an. Sie durchschaute, was an ihm klein und lächerlich war, aber sie sah auch seine Kraft und seine Eignung zum Herrschen. Soviel hatte sie erkannt: es mußte einer, wenn sich in ihm so ungeheure Fülle an Macht vereinigte wie in diesem ihrem Domitian, ein sehr großer Mann sein, um nicht das Maß zu verlieren. Gemeine Vernunft konnte sie von ihm nicht verlangen. Sie verlangte sie nicht. Zuzeiten sogar liebte sie ihn um seines Wahnes willen, es rede und handle aus ihm der Gott. Es schien ihr ein wenig verächtlich, daß er es nicht über sich brachte, sie zu töten; gleichwohl hatte sie sich während ihrer Verbannung häufig nach ihm gesehnt. Sie sah ihn an, nachdenklich, mit trüberen Augen: sie freute sich darauf, mit ihm zu schlafen. Aber sie war sich klar: sie mußte, was von ihm zu fordern sie sich vorgenommen hatte, jetzt von ihm erreichen, vorher. Später, hernach, wird es zu spät sein, und sie wird dann jahrelang mit ihm herumzukämpfen haben. Sie hatte sich genau zurechtgelegt, was sie von ihm verlangen wollte, und der gescheite Claudius Regin hatte ihr recht gegeben.
  »Sie sollten mir endlich das Ziegeleimonopol übertragen«, sagte sie also statt einer Antwort. Domitian war ernüchtert. »Ich spreche Ihnen von Rom und Liebe, und Sie antworten mir: Geld«, beklagte er sich. »Ich habe«, erwiderte sie, »während der Verbannung gelernt, wie wichtig Geld ist. Selbst auf meiner öden Insel hätte ich mir und den andern mit Geld vieles erleichtern können. Es war unfreundlich von Ihnen, meine Bezüge zu sperren. Bekomme ich das Ziegeleimonopol, Wäuchlein?« sagte sie.
  Er dachte an die Narbe unter ihrer Brust, er war erfüllt von Wut und Begier. »Schweig!« herrschte er sie an. »Ich denke gar nicht daran«, beharrte sie, »ich rede jetzt von dem Ziegeleimonopol. Und du kommst nicht weiter, ehe du mir ein klares Ja gesagt hast. Bilde dir nur ja nicht ein, du habest mich mürbe gemacht mit deinem Pandataria. Sicher hast du geglaubt, ich werde die ganze Zeit an das scheußliche Schicksal der Octavia denken oder der Julia des Augustus« – er überrötete sich, gerade das hatte er gewollt –, »aber da hast du dich geirrt. Und wenn du mich nochmals hinschickst, dann werde ich auch nicht anders werden, und genau wie für mich jene Julia eine lustvolle Erinnerung war, so soll eine spätere Verbannte dieser Insel auch an mich eher mit Neid denken als mit Schrecken.« Das waren Andeutungen, die dem Domitian nun vollends zeigten, wie machtlos er vor dieser Frau war. Er suchte nach einer Erwiderung. Allein ehe er eine fand, kam sie zurück auf ihre Forderung, und ungestüm drang sie auf ihn ein: »Glaubst du, du allein brauchst Glanz? Wenn du schon größer bauen willst als die vor dir, dann will ich auch was davon haben. Bekomme ich das Ziegeleimonopol?«
  Er mußte ihr das Monopol überlassen, und während dieser Nacht bereute er es nicht einmal.
Die Bestimmungen, welche der Kabinettsrat des Kaisers gutgeheißen hatte, bedurften, um Gesetz zu werden, der Zustimmung des Senats. Die Bestimmungen wurden also zusammengefaßt in vier Vorlagen, und schon wenige Tage nach dem Kabinettsrat wurde der Senat einberufen, um darüber zu beraten.
  Da standen und saßen sie denn herum, die Berufenen Väter, unausgeschlafen, in der weißen, großartigen, riesigen Halle des Friedenstempels, in der die Sitzung stattfand. Es war früh am Morgen, die Tagung sollte pünktlich mit Sonnenaufgang beginnen, denn nur zwischen Sonnenaufgang und -niedergang durfte der Senat beraten, und man mußte, um die vier Gesetze zu debattieren und zu beschließen, die Zeit nutzen.
  Es war ein sehr kalter Tag, die Kohlenbecken vermochten die weiten Hallen nicht zu erwärmen. Die Herren warteten herum in ihren Purpurmänteln und purpurgesäumten Kleidern, flackerig belichtet von den vielen Leuchtern und von den Kohlenbecken, schwatzend, hüstelnd, frierend, sie vertraten sich die Füße, die in den hochgesohlten, unbequemen, prunkenden Schuhen staken, und sie suchten die Hände an den mit heißem Wasser gefüllten Behältern zu wärmen, die sie in den Ärmeln ihrer Galakleider trugen.
  Den meisten unter ihnen war es eine höllische Erniedrigung, daß sie nun auch noch diese kleinen Widrigkeiten auf sich nehmen mußten, nur um in feierlicher Tagung Gesetze zu beschließen, die sie für immer entmachten und der Willkür dieses Domitian preisgeben sollten, des maßlos frechen Urenkels des kleinen Bürobeamten. Doch auch die Tapfersten hatten nicht gewagt fernzubleiben.
  Hier und dort führte man mißmutige, gedämpfte Gespräche. »Das Ganze ist Schande und Scheiße«, brach plötzlich der Senator Helvid aus, und er wollte, der hagere, große, verwitterte Herr, den Saal verlassen. Mit Mühe hielt ihn Publius Cornel zurück. »Ich verstehe es, mein Helvid«, sagte er und ließ den Ärmel des andern nicht fahren, »daß Sie mit diesem Senat nichts zu tun haben wollen. Wir alle möchten uns am liebsten den Purpurstreif abreißen, unter diesem Kaiser. Aber was ist erreicht, wenn Sie jetzt mit großer Gebärde von hier weggehen? Der Kaiser würde es Ihnen als frechen Trotz aus legen, und Sie würden es zu zahlen haben, früher oder später. Das ängstliche, geduckte Leben, das wir führen müssen, ist kein Leben, wie viele unter uns zögen einen blendenden, großartigen Untergang vor. Aber ein ostentativer Märtyrertod ist sinnlos. Bleiben Sie vernünftig, mein Helvid. Es ist wichtig, daß diejenigen, welche die Freiheit lieben, diese Zeit überleben. Es ist wichtig, daß sie am Leben bleiben, auch wenn es ein erbärmliches Leben ist.« Cornel war viel jünger als Helvid, er war einer der jüngsten unter den Senatoren, doch trotz seiner Jugend zeigte sein Gesicht finstere, starke Falten. Statt daß er mir zuredet, dachte er, als er den Helvid sanft auf seinen Platz zurückgedrängt hatte, muß ich ihn besänftigen. Freilich habe ich es leichter als er. Ich bin da, aufzuschreiben, was unter dem Tyrannen geschieht. Sagte ich mir das nicht immerzu vor, dann wüßte ich auch nicht, wie ich dieses Leben ertragen sollte.
  Endlich, wenige Minuten vor Sonnenaufgang, traf Domitian ein. Die Türen des Gebäudes wurden weit aufgetan, damit die Öffentlichkeit der Sitzung hergestellt sei, und alles Volk sah den Kaiser prunken auf seinem erhöhten Sitz. Purpurn und golden thronte er, gewillt, so auszuharren bis zum Ende der Tagung. Er wünschte, daß die vier Gesetze, die heute zur Debatte standen, seine Gesetze, mit allem Pomp beraten und beschlossen würden.
  Das wichtigste unter diesen Gesetzen, jenes, das dem Kaiser auf Lebenszeit die Zensur zusprach, das Amt, Mitglieder des Senats aus dieser Körperschaft auszuschließen, stand als drittes auf der Tagesordnung. Begründet wurde die Vorlage von dem Senator Junius Marull, dessen Namen das Gesetz tragen sollte. Der alte, elegante Herr hatte heute einen guten Tag und fühlte sich jung. Er, der sich mit solcher Leidenschaft so viele entlegene Sensationen bereitet hatte, kostete es aus, den puritanischen Kollegen den feindseligen Hohn heimzuzahlen, mit dem sie oft über ihn, den »frivolen, raffinierten Lüstling«, hergefallen waren. Feierlich sitzend und zerfressen von Grimm, mußten sich’s die republikanisch konservativen Senatoren mitanhören, wie ihr Kollege Marull, der große Anwalt, mit scheinbarer Sachlichkeit dartat, daß die Stabilität der Staatsführung es dem Senat einfach zur Pflicht mache, dem Kaiser die Zensur auf Lebenszeit zu übertragen, und daß das Reich in seinem Bestand bedroht sei, wenn man dem Herrn und Gott Domitian diese Oberaufsicht nicht zubillige.
  Der Senator Priscus hörte zu, die Hände in den Ärmeln seines Staatskleides verschränkt. Aus kleinen, tiefliegenden Augen blinzelte er auf den beredten Marull, den runden, völlig kahlen Kopf hielt er steif. Oh, er sprach gut, dieser Marull, er sprach sehr gut für eine höchst niederträchtige Sache. Wie gerne hätte er, Priscus, selber ein Mann des Wortes, diesem Marull geantwortet, es gab viel zu antworten, sehr Treffendes, und er hätte es herrlich formulieren können. Allein er mußte schweigen, der Senator Priscus, unter diesem Kaiser Domitian war er verurteilt, zu schweigen. Ein einziger, armseliger Trost blieb ihm: er wird nach der Sitzung nach Hause gehen und das, was er zu sagen hat, niederschreiben. Dann, später einmal, bei guter Gelegenheit, wird er es behutsam und flüsternd in einem Kreis zuverlässiger Freunde vorlesen, und wenn es ganz gut geht, dann wird er dem frechen Marull sein Manuskript in die Hände spielen. Traurige Vergeltung.
  Der Senator Helvid, Sohn jenes Helvid, den des Kaisers Vater hatte töten lassen, knirschte mit den Zähnen und zerbiß sich die Lippen, wie er die niederträchtigen, eleganten Sätze des Marull mitanhören mußte. Schließlich konnte er sich nicht mehr bezähmen. Er vergaß die Warnungen des Cornel, er erhob sich, der große, hagere, verwitterte Herr, und mit gewaltiger Stimme rief er dem Marull zu: »Frechheit, freche Lüge!« Marull unterbrach sich, die hellen, blaugrauen Augen richtete er auf den Zwischenrufer, ja, er führte den blickschärfenden Smaragd ans Auge. Der Kaiser selber drehte langsam, sich rötend, dem Helvid den Kopf zu. Den Helvid aber hatte Cornel auf seinen Sitz zurückgezogen, und da saß er und sagte nichts mehr.
  Als Marull zu Ende war, schritt man zur Beratung. Der amtierende Konsul rief jeden der Senatoren bei seinem Namen auf, in der Reihenfolge ihrer Anciennität, und fragte: »Was ist Ihre Meinung?« Gerne hätte da mancher geantwortet: Dieses Gesetz ist der Verderb des Reiches und der Welt. Allein keiner antwortete so. Vielmehr erklärte gehorsam ein jeder: »Ich stimme dem Junius Marull bei«, und höchstens der Ton der Stimme verriet Scham, Bitterkeit, Empörung.
  Helvid, in der Pause nach der Abstimmung über dieses dritte Gesetz, sagte zu Cornel: »Wenn unsere Altvordern zeitweise das Höchstmaß an Freiheit erleben durften, so haben wir jetzt das Höchstmaß an Knechtschaft erlebt.«
  Bei der Beratung der vierten Vorlage, der letzten, des neuen, verschärften Sittengesetzes, nahm der Kaiser selber das Wort. Wenn es um Zucht und Tradition ging, dann verlangte es ihn danach zu reden. Er fand denn auch würdige, kräftige, sehr römische Sätze, um wieder einmal seine Überzeugung zu bekennen von der innigen Verbindung von Zucht und Macht. Die Sitte, führte er aus, sei die Grundlage des Staates, das Verhalten eines Menschen bestimme seine Gesinnung, und wenn man sein Verhalten bessere, wenn man ihn zwinge, sich sittlich, anständig zu verhalten, dann bessere man auch seine Seele und seine Art. Zucht und Sitte seien die Voraussetzung jeder staatlichen Ordnung, die Disziplin der Bürger sei die Grundlage des Imperiums. Selbst die oppositionellen Senatoren mußten zugeben, daß der Nachfahr des kleinen Bürobeamten mit Würde sprach und sehr kaiserlich.
  Die Wände der länglich runden Halle entlang reihten sich ernsthaft die Standbilder der großen Dichter und Denker, unter ihnen die Büste des Schriftstellers Flavius Josephus, des Juden, die Kaiser Titus hier hatte aufstellen lassen. Leicht über die Schulter gedreht, hoch und hochfahrend, hager, fremdartig schimmernd, augenlos, voll wissender Neugier, wohnte der Kopf des Josephus der Sitzung bei.
  Endlich war auch das letzte Gesetz beraten und beschlossen, und der amtierende Konsul konnte die Versammlung entlassen mit der Formel: »Ich halte Sie nicht länger auf, Berufene Väter.«
  Zehn Tage später, wie es Vorschrift war, wurden vier Erztafeln, in welche der Wortlaut der vier neuen Gesetze eingegraben war, im Staatsarchiv hinterlegt, und damit hatten die vier Gesetze Geltung erlangt. Von diesem Tage an hatte der Imperator Cäsar Domitianus Augustus Germanicus auf Lebenszeit


die Befugnis, Mitglieder des Senats aus dieser Körperschaft auszuschließen.


In dem unansehnlichen Hause des Josef erschien zum großen Staunen der Nachbarn ein kaiserlicher Kurier. Er überbrachte dem Josef die Einladung, sich andern Tages auf dem Palatin einzufinden.
  Josef selber war mehr verwundert als ängstlich. In den letzten Jahren hatte der Kaiser höchstens gelegentlich ein flüchtiges Wort für ihn gehabt, niemals mehr. Es war merkwürdig, daß er ihn jetzt, unmittelbar vor seiner Abreise, mitten im Drange der Geschäfte, noch zu sich beschied. Hing diese Einladung, oder besser wohl, diese Vorladung, zusammen mit den Dingen in Judäa? Allein Josef bemühte sich, auf dem Weg zum Palatin jede Angst zu unterdrücken. Gott ließ es nicht zu, daß ihm etwas geschah, bevor er sein großes Werk, die Universalgeschichte, vollendet hatte.
  Domitian trug, als Josef zu ihm geführt wurde, den purpurnen Mantel über der Rüstung; gleich nach der Unterredung mit dem Juden wollte er eine Deputation seiner Senatoren und Generäle empfangen. So stand er, an eine Säule gelehnt; der Stab, das Zeichen der Gewalt, lag neben ihm auf einem kleinen Tisch. Der Raum war nicht groß; um so mächtiger wirkte die Gestalt des Kaisers. Josef kannte Domitian genau noch aus der Zeit her, da er ein Niemand war, ein Taugenichts, und da ihn sein Bruder Titus nur als das »Früchtchen« bezeichnet hatte. Gegen seinen Willen aber verschmolz jetzt dem Josef der Mann vor ihm in eines mit den vielen Porträtstatuen, die rings aufgestellt waren; er war nicht mehr das Früchtchen, er war Rom.
  Der Kaiser war sehr freundlich. »Kommen Sie näher, mein Josephus!« forderte er ihn auf. »Noch näher! Kommen Sie dicht heran!« Er betrachtete ihn aus seinen großen, kurzsichtigen Augen. »Man hat lange nichts mehr von Ihnen gehört, mein Josephus«, sagte er. »Sie sind ein sehr stiller Mann geworden. Waren Sie die ganze Zeit in Rom? Leben Sie ausschließlich Ihrer Literatur? Und woran arbeiten Sie? Schreiben Sie weiter an der Geschichte dieser Zeit?« Und, immer ehe Josef antworten konnte, jetzt aber mit einem kleinen, bösartigen Lächeln: »Werden Sie beschreiben, welche Wirkungen meine Maßnahmen auf Ihr Judäa haben?«
  Der Kaiser, nun er zu Ende gesprochen, hielt den Mund noch ein wenig geöffnet, wie auf den meisten seiner Statuen. Ruhig und nachdenklich schaute ihm Josef ins Gesicht. Er wußte, wie verächtlich der Vater und der Bruder dieses Mannes über ihn gedacht hatten, und Domitian wußte, daß er es wußte. Er hatte, dieser Domitian, das starke, vorspringende Kinn des Vaters. Er war als Jüngling eine stolzere Erscheinung gewesen als Vater und Bruder, aber jetzt hatte er, sah man genauer hin, mit seinen Statuen nur mehr wenig gemein. Wenn man die Attribute der Macht abzog, wenn man sich ihn als entkleidet seiner Macht vorstellte, einfach als nackten Mann, was blieb dann? Wenn nicht Rom, das riesige, gewaltige, hinter ihm stand, was war er dann als ein Mensch in mittleren Jahren mit wulstigem Mund, dünnen Beinen, vorzeitigem Bauch und vorzeitiger Glatze? Er war Wäuchlein. Und dennoch war er auch der Imperator Domitianus Germanicus, und Rüstung und Purpur und Stab gewannen Leben erst durch ihn.
  »Ich schreibe an einer ausführlichen Darstellung der Geschichte meines Volkes«, erwiderte mit gleichmütiger Höflichkeit Josef. Wann immer er den Kaiser traf, richtete der an ihn die gleiche Frage und gab er die gleiche Antwort.
  »Des jüdischen Volkes?« fragte sanft und ein wenig tückisch Domitian und traf damit den Josef tiefer, als er dachte. Und wieder, ehe Josef antworten konnte, fuhr er fort: »Es könnte sein, daß die letzten Ereignisse Einwirkung haben auch auf Ihr Judäa. Glauben Sie nicht?« – »Der Imperator Domitian hat tieferen Einblick in die Ereignisse als ich«, erwiderte Josef. »In die Ereignisse vielleicht, doch schwerlich in die Menschen«, antwortete der Kaiser, mit dem Stabe spielend. »Ihr seid ein schwieriges Volk, und es gibt kaum einen Römer, der sich rühmen dürfte, euch wirklich zu kennen. Mein Gouverneur Pompejus Longin ist ein guter Mann, kein schlechter Psycholog, und berichtet mir regelmäßig, gewissenhaft und gründlich. Trotzdem – gib es zu, mein Jude – verstehst du mehr als er und weißt besser Bescheid über das, was in Judäa vorgeht.«
  Eine kleine Angst flog den Josef an, trotz seiner starken
Willensanspannung. »Ja, Judäa ist schwer zu durchschauen«, begnügte er sich vorsichtig zu erwidern.
  Jetzt lächelte Domitian tief, lang und böse, so daß der andere dieses Lächeln wahrnehmen sollte. »Warum sind Sie so zurückhaltend zu Ihrem Kaiser, mein Josephus?« fragte er. »Sie wissen doch offenbar um einige Vorgänge in meiner Provinz Judäa, von denen mein Gouverneur nichts weiß. Sonst hätten Sie schwerlich einen gewissen Brief geschrieben. Muß ich Ihnen sagen, was für einen Brief? Soll ich Ihnen Stellen daraus zitieren?«
  »Da Sie den Brief kennen, Majestät«, antwortete Josef, »wissen Sie, daß er nichts enthält als den Rat zur Vorsicht. Leuten, die vielleicht unvorsichtig sein könnten, Vorsicht anzuraten, das, scheint mir, liegt im Interesse des Reichs und des Kaisers.«
  »Das mag sein«, sagte träumerisch, immer mit dem Feldherrnstab spielend, der Kaiser, »das mag aber vielleicht auch nicht sein. Du jedenfalls«, und seine vollen Lippen verzogen sich hämisch, »scheinst es für nötig zu halten, daß jetzt wieder einmal einer aufsteht und denen in Judäa einen flavischen Feldherrn als Messias anpreist. Scheint euch Juden das flavische Haus noch immer nicht fest genug zu sitzen?« Des Kaisers großes, dunkelrotes Gesicht war jetzt unverstellt feindselig.
  Josef selber hatte sich gerötet. Domitian hielt also jene Begebenheit von damals, da Josef den Vespasian in entscheidender Stunde als Messias begrüßt hatte, für einen abgemachten, ausgemachten Schwindel. Hielt ihn für käuflich, für einen Verräter. Aber er darf jetzt nicht darüber nachdenken, im Augenblick geht es um Dringlicheres. »Wir glaubten im Interesse des Kaisers und des Reichs zu handeln«, erklärte er nochmals, ausweichend, hartnäckig. »Ein wenig doch auch im Interesse eurer Juden, mein Jude, und in euerm eigenen?« fragte Domitian. »Oder nicht? Sonst hättet ihr euch doch wohl geradewegs an meine Beamten und Generäle gewandt, sie gewarnt, sie informiert. Ihr wißt doch in ähnlichen Fällen die Herren recht schnell zu finden. Aber ich kann mir schon denken, was dahinter steckt. Ihr habt glätten wollen, sänftigen, die Schuldigen vor der Strafe retten.« Er schlug mit dem Stab kleine Schläge auf das Tischchen. »Ihr seid große Zettler und Intriganten, das weiß man.« Die Stimme kippte ihm über. Sein Gesicht war jetzt hochrot. Er bezwang sich und spann weiter, was er vorhin begonnen hatte. »Die Schnelligkeit«, sagte er sanft und bösartig, »mit der du dich damals in das Spiel meines Vaters eingefügt hast, beweist Meisterschaft.«
  Es traf den Josef, daß Domitian nochmals auf jene Stunde zurückkam, da er den Vespasian als Messias begrüßt hatte. Er hatte jenes Begebnis eingekapselt, er dachte nicht gerne daran. Wieweit hatte er damals geglaubt? Wieweit hatte er sich befohlen zu glauben? Deutlich sah er sich, wie er damals vor Vespasian gestanden war, ein Gefangener, gefesselt, wahrscheinlich fürs Kreuz bestimmt. Heraufbeschwor er die Wirrungen von damals, wie es in ihm gearbeitet hatte, wie die prophetischen Worte der messianischen Begrüßung aus ihm herausgebrochen waren. Jede Einzelheit sah er wieder, den Vespasian, ihn mit seinen hellen, blauen, forschender Bauernaugen musternd, den Kronprinzen Titus, mitstenographierend, Cänis, des Vespasian Freundin, mißtrauisch, feindselig. Er hatte geglaubt damals. Aber hatte er nicht doch vielleicht Komödie gespielt, um sein Leben zu retten?
  Wenn er noch so tief in sich hineingrub, er hätte nicht sagen können, wo in dem, was er damals verkündet, die Wahrheit aufgehört und wo der Traum begonnen hatte. Und ist nicht der Traum die höhere Wahrheit? Da ist diese Geschichte der Minäer von dem Messias, der am Kreuze starb. Er, der Historiker Flavius Josephus, sieht die Fäden, er kann die Legende aufdröseln, er kann aufzeigen, aus welchen Einzelzügen sich die Gestalt dieses Messias der Minäer zusammensetzt. Aber was hat er damit gewonnen? Was bleibt ihm in der Hand als ein bißchen totes Wissen? Und ist nicht schließlich der Messias der Minäer, dieser geträumte, gedichtete Messias, vielleicht die bessere Wahrheit als seine nur tatsächliche, nur historische? So auch wird niemand je mit Sicherheit sagen können, wieweit der Messias, der damals in seinem Innern entstand, dieser Messias Vespasian, der ja später Wirklichkeit wurde, wieweit ihm dieser sein Traum-Messias von Anfang an Wirklichkeit war. Er selber wird es nicht sagen können, und dieser Kaiser Domitian, der da vor ihm sitzt und ihn höhnisch anschaut, schon gar nicht.
  »Was hast du eigentlich gegen mich, mein Jude?« fragte jetzt dieser Kaiser Domitian weiter, immer mit hoher, sanfter Stimme. »Meinen Vater und meinen Bruder hast du gut bedient: glaubst du, ich bin ein schlechterer Zahler? Hältst du mich für knauserig? Du wärest der erste. Ich zahle nämlich wirklich gut, Flavius Josephus, notieren Sie sich das für Ihr Geschichtswerk, ich zahle hoch, im Guten und im Schlechten.« Josef war ein wenig erblaßt, aber er schaute dem Kaiser ruhig ins Gesicht. Der ging nah an Josef heran, er ging steif im goldenen Purpur, es war, wie wenn eine prächtige, wandelnde Statue auf Josef zukäme. Dann, freundschaftlich, vertraulich, schlang der golden und purpurne Mann den Arm um Josefs Schulter, und, schmeichlerisch, redete er ihm zu: »Wenn du mir ernstlich dienen wolltest, mein Josephus, dann hättest du jetzt gute Gelegenheit. Geh nach Judäa! Nimm du den Aufstand in die Hand, wie du ihn damals vor zwanzig Jahren in die Hand genommen hast. Rom ist zum Herrschen bestimmt, du weißt es nicht weniger gut als ich. Es hat keinen Sinn, sich gegen die Vorsehung zu stemmen. Hilf dem Schicksal. Hilf uns, daß wir zur rechten Zeit zuschlagen können, wie du uns damals geholfen hast. Hilf dem rechten Augenblick, wie du damals im rechten Augenblick deinen Messias erkannt hast.« Es war ein höllischer Hohn in der Sanftheit dieser Worte.
  Josef, aufs tiefste erniedrigt, antwortete, beinahe mechanisch: »Wünschen Sie denn, daß Judäa losschlägt?« – »Ich wünsche es«, erwiderte der Kaiser leise, sehr sachlich, noch immer hatte er den Arm um die Schulter des Josef. »Ich wünsche es auch im Interesse deiner Juden. Du weißt, sie sind Narren, und einmal schlagen sie los, auch wenn die Vernünftigen ihnen noch so dringlich abraten. Es ist besser für alle, wenn sie bald losschlagen. Es ist besser, wenn wir jetzt fünfhundert Führer erledigen statt später fünfhundert Führer und hunderttausend Gefolgsleute dazu. Ich will, daß in Judäa Ruhe sei«, schloß er hart und heftig.
  »Kann die Ruhe nicht anders erkauft werden als mit soviel
Blut?« fragte leise, peinvoll Josef.
  Da aber ließ Domitian von ihm ab. »Ich sehe, du liebst mich nicht«, stellte er fest. »Ich sehe, du willst mir keinen Dienst erweisen. Du willst deine alten Geschichten aufschreiben zur größeren Ehre deines Volkes, aber für meine größere Ehre willst du keinen Finger rühren.« Er saß wieder da, mit dem Feldherrnstab führte er leichte Schläge durch die Luft. »Du bist eigentlich sehr frech, mein Jude, weißt du das? Du glaubst, weil du Ruhm und Schande zu verteilen hast, könntest du dir allerlei herausnehmen. Aber wer sagt dir, daß mir soviel an deiner Nachwelt liegt? Nimm dich in acht, mein Jude! Werde nicht übermütig, weil ich dir so oft Großmut gezeigt habe. Rom ist mächtig und kann sich viel Großmut leisten. Aber bleib dir bewußt, daß wir ein Aug auf dir halten.«
  Josef war kein furchtsamer Mann, dennoch zitterten ihm die Glieder, als man ihn jetzt in seiner Sänfte nach Hause trug, und der Gaumen war ihm trocken. Es war nicht nur Erwartung des Bösen, das vielleicht Domitian über ihn beschließen könnte. Es war auch, weil der Kaiser in ihm die Erinnerung aufgestört hatte an jene zweideutige Begrüßung des Vespasian. War, was er damals in schwerer Not um sein Leben verkündet hatte, echt gewesen oder ein abenteuerlich frecher Betrug? Er wußte es nicht, niemals wird er es wissen, und daß sich seine Prophezeiung bewährt hatte, das wollte gar nichts heißen. Es wollte andernteils auch nichts heißen, daß ihn dieser Domitian dreist und schlankweg einen Schwindler nannte. Allein seine Sicherheit war fort, und wenn die Angst, es könnten die Leute des Polizeiministers Norban kommen und ihn holen, bald von ihm wich, so kostete es ihn jetzt, nach dem Gespräch mit dem Kaiser, Wochen und Monate, die Erinnerung an jene erste Begegnung mit Vespasian wieder hinunterzudrücken. Sehr langsam nur beruhigte er sich und kehrte zurück zu seiner Arbeit.

Am Tage nach dem Gespräch mit Josef ließ der Kaiser den Janus-Tempel öffnen zum Zeichen, daß wieder Krieg sei im Reich. Auseinander knarrten die schweren Türflügel, und es erschien das Bild des zweigesichtigen Gottes, des Kriegsgottes, des Zweifelgottes, man kennt den Anfang, aber niemand kennt das Ende.

  Die Römer übrigens nahmen vorläufig den dakischen Krieg nicht sehr ernst. Ehrlich begeistert säumten sie die Straße, auf welcher der Kaiser die Stadt verließ, um zu Felde zu ziehen. Er wußte, seine Römer wünschten, daß er repräsentiere, dunkel war in ihm das Bild der Reiterstatue, deren Modell ihm der Bildhauer Basil gezeigt hatte, und er hielt sich gut zu Pferde.
  In seinem Innern freute er sich darauf, außer Sichtweite zu sein und die Sänfte zu besteigen.






ZWEITES KAPITEL



Während des Krieges war es schwer, genaue Nachrichten vom dakischen Kriegsschauplatz zu erhalten.
         Mit Beginn des Frühjahrs wurden die Meldungen häufiger, sie lauteten widerspruchsvoll. Zu Anfang April dann traf in Rom eine Depesche ein, in welcher der Kaiser seinem Senat über den bisherigen Verlauf des Feldzugs genauen Bericht erstattete. Er habe, war das Ergebnis dieses Berichtes, zusammen mit seinem Feldherrn Fuscus die dakischen Barbaren endgültig vom römischen Territorium verjagt. Ihr König Diurpan habe um Waffenstillstand gebeten. Bewilligt habe der Kaiser diesen Waffenstillstand nicht, er habe vielmehr, um den frechen Einbruch in römisches Gebiet zu rächen, den Fuscus beauftragt, ins Gebiet der Daker vorzustoßen. An der Spitze von vier Legionen habe demzufolge Fuscus die Donau überschritten und sei ins Land der Daker eingefallen. Der Kaiser selber befinde sich, nachdem der Feldzug so weit gefördert sei, auf dem Rückweg nach Rom.
  Noch weniger klar waren während des Winters die Meldungen aus Judäa. Die Behörden erklärten, es habe dort »Wirren« gegeben, aber der Gouverneur Pompejus Longin habe dem Unfug mit seiner so oft erprobten starken Hand ein schnelles Ende bereitet. Die jüdischen Herren, auch Claudius Regin, hatten den Eindruck, man bemühe sich in Cäsarea, der Hauptstadt der Provinz Judäa, die Dinge zu bagatellisieren.
  Um so gespannter waren die jüdischen Herren, als der Terrainhändler Johann von Gischala aus Judäa zurückkam. Da saßen sie zusammen wie damals an jenem sorgenvollen Abend im Hause des Josef, und Johann berichtete. Es war in Judäa so gegangen, wie sie befürchtet hatten. Keine Warnung hatte genützt, die »Eiferer des Tages« waren nicht zu halten gewesen. Sie hatten einen großen Teil der Bevölkerung mitgerissen, vor allem auch in Galiläa hatten zahllose die Armbinde angelegt mit dem Kampfruf »Der Tag wird kommen!«. Aber es hatte sich rasch gezeigt, daß der Tag noch keineswegs gekommen war, und nach ein paar Anfangssiegen war ein grauenvoller Rückschlag erfolgt, der Gouverneur hatte den längst gesuchten Vorwand gehabt durchzugreifen, und er hatte seine Legionäre auch auf die ruhig gebliebenen Teile der Bevölkerung losgelassen. »Ja, meine Herren, wir sind aufs Johannisbrot gekommen«, schloß er grimmig, die Worte gebrauchend, die man in Judäa für die Stufe äußersten Verfalls anzuwenden pflegte.
  Dann erzählte er Einzelheiten. Erzählte von Metzelei und Plünderung, von niedergebrannten Synagogen, von Tausenden von Gekreuzigten, von Zehntausenden von Leibeigenen. »Die Aufgabe, meine Herren«, faßte er zusammen, »die wir uns gestellt hatten, war so bitter wie aussichtslos. Sie machen sich keine Vorstellung, wie es einen zerfrißt, wenn man dem andern immerzu Argumente des Verstands unter die Nase halten soll, während man doch diesem andern mit dem Herzen beipflichtet und ihn am liebsten umarmen möchte. Es sind großartige Burschen, die ›Eiferer des Tages‹, oder vielmehr, sie waren großartige Burschen.«
  Die wohlhäbigen, wohlgenährten, sorgfältig angezogenen jüdischen Herren im Arbeitszimmer des Josef hörten den Bericht des erregten Mannes und seine bittere Klage. Sie schauten vor sich hin, ihre Augen schauten nach innen und sahen, daß sie das, was sie da hörten, alles schon einmal erlebt hatten. Das Grausigste an dem neuen Zusammenbruch war, daß man in Judäa aus der Zerstampfung des ersten Aufstandes so gar nichts gelernt hatte, daß sich die jüngere Generation mit der gleichen kühnen, liebenswerten, verbrecherischen Torheit in den Untergang gestürzt hatte wie die vor fünfzehn Jahren.
  Schließlich gab in seiner behutsamen Art der Möbelhändler Cajus Barzaarone der Furcht Ausdruck, die in ihnen allen war. »In Judäa«, sagte er, »ist es zu Ende. Ich frage mich, was mit uns hier geschehen wird.« Johann zog mit der klobigen Bauernhand an seinem kurzen Knebelbart. »Ich habe mich während der ganzen Reise gewundert«, sagte er, »daß man mich hat heil nach Hause kehren lassen. Man hat mich übrigens«, erklärte er grimmig, »geradezu gezwungen, Geld zu verdienen. Wenn ich kein Aufsehen erregen wollte, mußte ich mich ab und zu mit meinen Geschäften befassen, und die Terrains wurden einem nachgeworfen. Sie hätten dabeisein müssen bei einer der Auktionen, auf denen das enteignete oder sonstwie herrenlos gewordene Land versteigert wurde. Es war grotesk und schauerlich. Wenn ich daran zurückdenke, wenn ich zurückdenke an das, was sich in Judäa ereignet hat, dann scheint es mir einfach unbegreiflich, daß ich unangefochten in meinem Büro sitze und Geschäfte mache.«
  »Auch ich«, sagte Cajus Barzaarone, »erwache jeden Tag mit dem Gefühl: das geht so nicht weiter. Heute fallen sie über uns her. Aber es ist Tatsache: wir leben, wir wandeln und handeln wie früher.« – »Dabei weiß man auf dem Palatin«, brütete Josef, »daß ich der Verfasser jenes Manifestes bin, und der Kaiser hat mir auf dunkle und tückische Art gedroht. Warum verhört man mich nicht? Warum verhört man keinen von uns?«
  Alle schauten auf Claudius Regin, als ob sie von ihm Auskunft erwarteten. Der Minister zuckte die Achseln. »Der Kaiser«, sagte er, »hat befohlen, seine Rückkehr abzuwarten. Ob das Gutes bedeutet oder Schlechtes, weiß niemand, wahrscheinlich nicht einmal DDD selber.«
  Sie starrten vor sich hin. Es hieß warten, einen grauen Morgen und einen grauen Tag und eine graue Woche und einen grauen Monat.

Eine kleine Weile nach dieser Zusammenkunft suchte Johann den Josef auf. Josef wunderte sich über diesen Besuch. Es hatte eine Zeit gegeben, da die beiden Männer einander wüst bekämpft hatten; allmählich dann hatten sich ihre Beziehungen besänftigt, aber freundschaftlich waren sie nie geworden.
  »Ich möchte Ihnen einen Rat geben, Doktor Josef«, sagte Johann. »Ich bin interessiert an Terraingeschäften, wie Sie wissen, und ich habe meinen Aufenthalt in Judäa dazu benutzt, die Nase auch ein wenig in Ihre dortige Wirtschaft zu stecken. Der Ertrag Ihrer Besitzungen bei Gazara bleibt weit hinter dem Durchschnitt ähnlicher Güter zurück. Das liegt daran, daß diese Güter in einem rein jüdischen Bezirk liegen und die Juden Ihre Produkte boykottieren, weil sie Ihnen Ihr Verhalten während des großen Krieges nicht verzeihen. Ich sage es, wie es ist, und spreche nur aus, was jeder Interessierte weiß. Ihr armer Verwalter, der übrigens ein fähiger Ökonom ist, findet kein Ende, wenn er einmal angefangen hat, über diese vertrackte Situation zu raunzen und zu lamentieren. Er hat mir vorgerechnet, was alles er aus Ihren Gütern herauswirtschaften könnte, wenn sie in einer vernünftigen Gegend lägen.« – »Das tun sie aber nun einmal nicht«, sagte ablehnend Josef.
  »Könnte man dem nicht abhelfen?« erwiderte Johann, und auf seinem braunen, verwegenen Gesicht erschien ein breites, pfiffiges Lächeln, das dieses ganze Gesicht, selbst die gesattelte Nase, fältelte. »Es ist leider, wie ich Ihnen bereits sagte, in Judäa infolge des Aufstands viel Grund und Boden freigeworden. Da ist zum Beispiel das Gut Be’er Simlai. Es liegt in der Nähe von Cäsarea, nicht weit von der samaritanischen Grenze, also in einem Bezirk mit gemischter Bevölkerung. Der Viehbestand ist nicht ganz so gut wie auf Ihren Gütern bei Gazara, aber der Boden ist ausgezeichnet. Das Gut trägt Öl und Wein, Datteln, Weizen, Granaten, Nüsse, Mandeln und Feigen. Sie finden ein solches Objekt nicht leicht ein zweites Mal, selbst in diesen Zeiten nicht, und Ihr Verwalter würde das große Hallel singen, wenn er das Gut Be’er Simlai in die Hand bekäme. Ich habe mir Vorkaufsrecht darauf gesichert. Ich biete Ihnen das Gut Be’er Simlai an, mein Josef. Greifen Sie zu. Vor dem nächsten jüdischen Aufstand finden Sie eine solche Gelegenheit nicht wieder.«
  Das war richtig. Josef hatte, als ihm Vespasian und Titus Grundbesitz in Judäa anwiesen, unglücklich gewählt. Er hatte sich wirklich in ein Wespennest gesetzt, und was ihm Johann riet, die Besitzungen bei Gazara abzustoßen und in eine Gegend mit gemischter Bevölkerung zu übersiedeln, war das Gegebene. Warum aber bot Johann dieses Gut Be’er Simlai gerade ihm an? Die Grundstückspekulation in Rom hatte sich jetzt, nach Beendigung der Wirren, mit besonderem Eifer auf Judäa gestürzt, und für Güter in den Bezirken mit gemischter Bevölkerung gab es sicherlich Tausende von Bewerbern. Warum erwies ihm Johann, den er so oft angefeindet, einen solchen Freundschaftsdienst? »Warum bieten Sie gerade mir dieses kostbare Gut an?« fragte er schlankweg, und in seiner Frage war nach wie vor Ablehnung.
  Johann schaute ihm mit gespielter Treuherzigkeit in die Augen. »Die Regierung von Cäsarea«, erläuterte er, »macht es Juden, wenn sie sich nicht besonderer Protektion erfreuen, so gut wie unmöglich, Liegenschaften in nicht rein jüdischen Bezirken zu erwerben. Wenn jetzt die dort gelegenen Güter allesamt in die Hände von Heiden fallen, dann werden binnen einem Jahr die Juden aus gewissen Gegenden völlig verschwunden sein. Wer noch ein bißchen Judentum in sich hat, muß sich dagegen auflehnen. Sie, mein Josef, sind römischer Ritter, Sie haben Beziehungen zum Palatin, Ihnen wird die Regierung von Cäsarea schwerlich Hindernisse in den Weg legen. Ich aber schanze das Gut Be’er Simlai lieber Ihnen zu als zum Beispiel dem Hauptmann Sever.«
  »Ist das der ganze Grund?« fragte immer mit dem gleichen Mißtrauen Josef. Johann lachte gutmütig. »Nein«, gab er offen zu. »Ich will nicht länger Verstecken mit Ihnen spielen. Ich will ehrlichen Frieden mit Ihnen schließen, und ich will es Ihnen durch einen Freundschaftsdienst beweisen. Sie haben mir manchmal unrecht getan und ich manchmal Ihnen. Aber unsere Haare werden grauer, wir kommen einander näher, und die Zeiten sind so, daß Männer, die soviel Gemeinsames haben, gut daran tun, einander die Hand zu reichen.« Und da Josef schwieg, versuchte er sich ihm weiter zu erklären: »Wir sitzen im gleichen Boot, wir haben die gleichen Erkenntnisse. Meine ganze Sehnsucht ist, nach Judäa zurückzukehren und dort Ölbauer zu sein. Ich könnte es. Aber ich bezwinge mich und bleibe hier in Rom sitzen und verdiene schrecklich viel Geld und weiß nichts damit anzufangen und verzehre mich in der Sehnsucht nach Judäa. Und ich geh nur deshalb nicht hin, weil ich mich dort nicht beherrschen könnte, sondern weiter gegen die Römer wühlen würde, und weil das aussichtslos wäre und ein Verbrechen. Und Ihnen geht es genauso, mein Josef. Sie sehnen sich genauso nach Judäa und nach einem neuen Krieg. Wir wissen beide, daß es dafür zu spät ist oder zu früh. Wir haben beide die gleiche, unglückliche Liebe zu Judäa und zur Vernunft, wir leiden beide an unserer Vernunft. Vieles an Ihnen gefällt mir nicht, und vieles an mir wird Ihnen nicht gefallen, aber ich finde, wir sind uns sehr nahe.«
  Der Schriftsteller Josef beschaute nachdenklich das Gesicht des Bauern Johann. Sie hatten einander wütend befehdet. Johann hatte ihn für einen Verräter, er den Johann für einen Narren gehalten. Später dann, nachdem der Krieg längst zu Ende war, hatte der eine den andern als einen Idioten verachtet, weil der die Gründe des Kriegs im Preis des Öls und des Weines sah, der andere den einen für einen Idioten, weil der geglaubt hatte, einzig der Zwiespalt zwischen Jahve und Jupiter sei schuld am Kriege gewesen. Jetzt wußten der törichte Schriftsteller und der kluge Bauer, daß sie beide recht und beide unrecht gehabt hatten und daß schuld am Krieg zwischen den Juden und den Römern sowohl die Preise des Öls und des Weines gewesen waren wie der Zwiespalt zwischen Jahve und Jupiter. »Sie haben recht«, gab Josef zu.
  »Natürlich hab ich recht«, sagte hitzig Johann, und rechthaberisch fügte er noch hinzu: »Übrigens wäre es auch diesmal nicht zum Aufstand gekommen, wenn nicht die privilegierten syrischen und römischen Agrarier die Preise der eingesessenen jüdischen Bevölkerung so schmutzig unterboten hätten. Ohne das hätten die ›Eiferer des Tages‹ das Land nicht in den Aufstand treiben können. Wir wollen aber diesen alten Streit nicht aufwärmen«, unterbrach er sich. »Geben Sie mir lieber die Hand und bedanken Sie sich bei mir. Denn es ist wirklich ein Freundschaftsdienst, wenn ich Ihnen das Gut Be’er Simlai anbiete.«
  Josef lächelte über die etwas rauhe Art, wie ihm der andere seine Freundschaft anbot. »Sie werden sehen«, fuhr Johann fort, »wie viele Probleme sich von selber lösen, wenn Sie erst einmal Besitzer von Be’er Simlai sind. Natürlich ist es kein Vergnügen, nach Gazara zu gehen und sich dort von den Juden scheel anschauen zu lassen. Aber wenn Sie erst einmal in Be’er Simlai zu Hause sind, dann haben Sie vor sich selber den inneren Vorwand, ab und zu nach Judäa zu reisen. Nur lassen Sie sich ja nicht dazu verführen, in Judäa zu leben! Tun Sie’s nicht, um Gottes willen! Die Verlockung, sich dann in gefährliche Unternehmungen einzulassen, ist zu groß für unsereinen. Aber alle zwei Jahre einmal hinfahren, vor allem, wenn man einen innern Vorwand hat, und sich dort erholen von der Anstren gung, zwei Jahre vernünftig gewesen zu sein, ich sage Ihnen, mein Josef, das ist eine gute Sache.«
  Josef faßte die klobige Hand des andern. »Ich danke Ihnen, mein Johann«, sagte er, und es war in seiner Stimme jenes Strahlen, das einstmals dem jungen Josef die Herzen gewonnen hatte. »Sie geben mir zwei Tage Zeit zur Überlegung«, bat er. »Gut«, antwortete Johann. »Ich schicke Ihnen dann meinen redlichen Gorion, daß er die Einzelheiten mit Ihnen bespricht. Und schreiben Sie gleich Ihrem Verwalter Theodor. Gorion wird natürlich versuchen, auch für uns etwas herauszuschlagen; das ist recht und billig. Aber ich werde darauf achten, daß er Ihnen keinen ungebührlichen Preis abverlangt. Und wenn, dann bleibt das Geld schließlich unter uns Juden.«

Josef ging zu Mara. »Hör zu, Mara, mein Weib«, sagte er, »ich muß dir etwas mitteilen.« Und: »Ich werde meinen Besitz in Judäa verkaufen«, sagte er.
  Mara wurde tödlich blaß. »Erschrick nicht, Liebe«, bat er.
  »Ich werde andern Besitz dafür eintauschen, in der Nähe von Cäsarea.« – »Du gibst unsern Besitz unter den Juden auf«, fragte sie, »und kaufst dich unter den Heiden an?« – »Merk gut auf!« sagte Josef. »Ich habe mich immer gesträubt, nach Judäa zurückzukehren, und die Gründe, die ich dir sagte, waren wahr. Es gab aber noch einen tieferen Grund: ich wollte nicht leben zwischen Lud und Gazara. In Rom leben, in der Fremde leben, ist schlimm. Aber schlimmer ist es, in der Heimat als Fremder leben. Ich hätte es nicht ertragen, bei Gazara zu leben und von den Juden angesehen zu werden als ein Römer.«
  »Wir kehren also nach Judäa zurück?« fragte aufleuchtend Mara. »Nicht jetzt und nicht in einem Jahr«, antwortete Josef. »Aber wenn ich mit meinem Werk fertig bin, dann kehren wir zurück.«

Johann hatte dem Josef ein Buch mitgebracht, das in diesem Winter des Aufstands ein anonymer Autor in Judäa hatte erscheinen lassen. »Sie werden dieses Buch vielleicht ein bißchen primitiv finden, mein Josef«, meinte er, »aber mir gefällt es, vielleicht weil ich selber primitiv bin. Die Leute drüben waren alle ungeheuer begeistert von diesem Heldenroman. Seit Ihrem Makkabäerbuch, Doktor Josef, gab es keinen solchen Erfolg in Judäa.«

  Josef las das Buch. Die Fabel war unwahrscheinlich, manchmal geradezu kindisch, und mit Kunst hatte das kleine Werk wenig zu tun. Trotzdem rührte es ihn auf, auch ihn entzündete der Fanatismus dieses Buches Judith. Ach, wie beneidete er den anonymen Dichter. Der hat geschrieben nicht um der Ehre willen, auch kaum um des Werkes willen, er hat einfach seinen heißen Haß gegen die Unterdrücker ausströmen lassen. »Schlagt sie, die Feinde, wo ihr sie trefft«, hat er verkündet. »Macht es wie diese Judith. List, Mut, Tücke, Grausamkeit, jedes Mittel ist recht. Haut ihm den Kopf ab, diesem großmäuligen Heiden: es ist Gottesdienst. Haltet die Gesetze der Doktoren und schlagt auf die Feinde ein. Wer Gott dient, mit dem ist das Recht. Ihr werdet siegen.«
  Es muß ein sehr junger Mann gewesen sein, der dieses Buch Judith geschrieben hat, gläubig und naiv muß er gewesen sein, und beneidenswert einfach sein Leben und Sterben. Denn bestimmt ist er umgekommen. Bestimmt ist er nicht zu Hause geblieben, sondern hat mit eingehauen auf die Feinde und ist gestorben, den Glauben auf den Lippen und im Herzen. Wer die Dinge so simpel und zuversichtlich sehen könnte wie dieser. Nichts Höheres gibt es als das Volk Israel. Seine Männer sind tapfer, seine Frauen sind schön, Judith ist das schönste Weib dieser Erde, keinen Augenblick zweifelt sie und ihr Autor, daß der Marschall des Großkönigs den Krieg vergessen muß über ihrem Anblick. Überhaupt hat kein Zweifel je den Autor dieses Buches angefressen. Alles steht ihm felsenfest, er weiß genau, was recht ist, was unrecht. Was ist Frömmigkeit? Man hält die Gesetze der Doktoren. Was ist Heldentum? Man geht hin und schlägt dem Feinde den Kopf ab. Jeder Schritt in jeder Lage ist vorgeschrieben.
  Aber welch ein hinreißendes Buch trotzdem. Dieses Weib Judith, wie es zurückkehrt, triumphierend, mit dem abgeschlagenen Kopf und dem Mückennetz, keiner wird es je vergessen. Oh, die begnadete Zuversicht des Dichters. »Wehe den Völkern, die sich erheben wider mein Geschlecht. Der Allmächtige züchtigt sie am Tage des Gerichts, er jagt Feuer und Würmer in ihr Fleisch, daß sie in Schmerzen heulen durch alle Ewigkeit.«
  Wer dichten dürfte wie dieser! Ihm, Josef, ist es nicht so einfach gemacht. Da ist jene Heldenfrau aus der grauen Urzeit seines Volkes, Jael, die dem schlafenden Feinde den Nagel durch die Schläfe treibt. Diese Jael und der uralte, wilde und großartige Gesang ihrer Dichterin Deborah waren zweifellos die Vorbilder dieser Judith. Auch er, Josef, hat in seinem Geschichtswerk von dieser Jael erzählt. Wie hat er sich abgemüht, nüchtern und vernünftig zu bleiben, wie hat er sich bezähmt und die Begeisterung niedergedrückt. Einmal sich gehenlassen dürfen wie dieser junge Dichter! Wieder und wieder liest er das kleine Buch, es gießt ihm Feuer ins Blut. Der Aufstand ist zusammengebrochen, dieses Buch wird bleiben.
  Ein paar Tage später traf er den Justus. Auch der hatte das Buch Judith gelesen. Was für ein primitives Machwerk! Ein Volk, das sich an einem so unsinnigen Märchen begeistert, das verdient seine »Eiferer des Tages«, das verdient seine Römer, das verdient diesen Gouverneur Longin, diesen Domitian. Was für ein wackerer Autor! Wie züchtig ist seine Judith, nicht einmal schlafen muß sie mit dem bösen Holofernes. Der Autor bewahrt sie davor, sie kommt schon vorher ans Ziel. Wie gerecht und Zug um Zug belohnt der Jahve dieses Autors das Gute, straft er das Böse. Stellen Sie sich einmal vor, mein Josef, wie sich ein realer römischer Gouverneur oder auch nur ein realer römischer Feldwebel im Falle des Holofernes verhielte! Da kommt so eine Judith zu ihm, begleitet von der Zofe, die ihr die Speisen nachträgt, natürlich sorgsam bereitet nach den rituellen Vorschriften der Doktoren, damit sie ja nicht im Lager der Feinde etwas Verbotenes essen muß. Sie wird sofort vorgelassen, was denn sonst?, weil sie so schön ist. Es gibt ja für einen Feldmarschall kein Angebot an hübschen Frauen, er muß warten, bis die Jüdin kommt. Und wenn sie da ist, dann vergißt er nicht nur sofort den ganzen Krieg, sondern er betrinkt sich, genau wie es vorgesehen ist, und rührt die ebenso fromme wie schöne Jüdin nicht an. Er legt sich einfach hin und läßt sich von ihr den Kopf abhauen. Woraufhin die gesamten Legionen ohne weiteres davonlaufen. Ach ja, so stel len sich unsere »Eiferer des Tages« die Römer, so stellen sie sich die Welt vor.
  So, voll hochmütiger Bitterkeit, voll höhnischer Überlegenheit, sprach Justus über das Buch Judith. Josef konnte nicht leugnen, daß seine Kritik Schwächen des Buches traf. Aber gerade diese Schwächen waren die Stärke des Dichters, das Buch wurde dadurch nicht schlechter, und groß und erhaben blieb dem Josef das Bild der Judith, die den Ihren den Kopf des Holofernes bringt: »Siehe, da ist der Kopf des Holofernes, des Feldherrn der Assyrer, und siehe, da ist das Mückennetz, unter dem er lag in seiner Trunkenheit!«
  Es war dem Josef, als müßte er das Buch und den toten Dichter reinwaschen vom Hohne des Justus, und er ging hin und brachte es Mara, seiner Frau.
  Mara las. Ihre Augen glühten, ihr Leib straffte sich, sie wurde ganz jung. Vor sich hin sprach sie das Lied der Judith: »Nicht fiel der Feind, der gewaltige, durch Jünglinge, nicht die Söhne der Riesen schlugen ihn, sondern Judith verdarb ihn, ein einfaches Weib, durch ihres Angesichtes Schönheit.« Ach, wie leid war es Mara, daß man in Rom war und nicht in Judäa.
  Sie vereinfachte das Buch und erzählte den Kindern die Geschichte von Judith. Die Kinder spielten. Jalta war Judith, und Matthias war Holofernes, und Jalta holte einen Kohlkopf aus dem Korb und krähte triumphierend: »Siehe da, das Haupt des Holofernes, Feldherrn der Assyrer!«
  Josef sah es, und er wußte nicht, ob er nicht falsch daran getan hatte, selber das frevelhafte Feuer zu schüren, wenn auch auf unschuldige Art. Dann aber lächelte er, und Maras Begeisterung wärmte ihm das Herz.


Die Juden der Stadt Rom aber lebten graue Tage und graue Wochen. Denn der Kaiser reiste langsam, der Kaiser gab auch weiter keine Weisungen, der Kaiser ließ sie warten.
  Neue Sondermaßnahmen gegen die Juden der Stadt Rom wurden vorläufig nicht getroffen. Nur wurden die bisher erlassenen Judengesetze mit größter Strenge gehandhabt. Die Kopfsteuer zum Beispiel, welche die Juden als Sonderabgabe zu entrichten hatten, wurde mit schikanöser Pedanterie eingezogen. Persönlich mußte sich jeder Jude zum Quästor begeben und jene zwei Drachmen erlegen, die er ehemals für den Tempel von Jerusalem gezinst und die jetzt die Regierung höhnischerweise für die Erhaltung des Tempels des Capitolinischen Jupiter bestimmt hatte.
  Im übrigen aber blieb der Handel und Wandel der Juden, die Ausübung ihrer Bräuche und ihres Gottesdienstes unbehelligt. Aus der Provinz hörte man, daß da und dort die Bevölkerung versucht hatte., die judenfeindliche Stimmung zu Pogromen auszunutzen. Aber die Behörden hatten sogleich eingegriffen.
  Dann endlich traf der Kaiser in Rom ein. Es war ein heller, nicht zu heißer Junitag, und mit den Soldaten der Garde, die ihren freigebigen Feldherrn liebten, begrüßten jetzt Senat und Volk den heimkehrenden Herrscher, der in diesem Feldzug von seinen Truppen zum vierzehntenmal als Imperator gefeiert worden war. Es wurde ein schöner, festlicher Frühsommer für Rom. Jubel, strahlendes Licht war überall, die große Stadt, die oft ein so böses, verbissenes, düsteres Aussehen zeigte, war jetzt hell, gutmütig, lustig.
  Doch über den Juden lag es wie eine Wolke. Seit Jahrzehnten jetzt könnten sie, wenngleich die Zerstörung des Tempels auf ihnen lastete, in einer gewissen Sicherheit leben, wären nicht diese unseligen »Eiferer des Tages«, die mit ihrem törichten Fanatismus die gesamte Judenheit immer von neuem ins Unglück stürzten. Die »Eiferer« selber haben furchtbar büßen müssen. Aber was wird aus ihnen, aus den schuldlosen Juden der Stadt Rom?
  Nichts geschah den Juden in Rom, alles blieb ruhig. »Der Kaiser spricht niemals ein Wort von euch, weder für euch noch gegen euch«, berichtete Claudius Regin seinen jüdischen Freunden. »Der Kaiser spricht niemals ein Wort gegen euch«, versicherte ihnen auch Junius Marull. Aber: »Ich rieche, ich spüre es«, erklärte Johann von Gischala, »es bereitet sich was vor. Es bereitet sich etwas vor in der Seele des Domitian. Gewiß, mein Regin, und gewiß, mein Marull, Domitian spricht nicht von den Juden; vielleicht weiß er es selber noch nicht einmal, daß sich in seiner Seele etwas vorbereitet. Ich aber,


Johann Ben Levi, Bauer aus Gischala, der es wittert, wenn in einem Jahr der Winter früher kommt als sonst, ich weiß es.«


Das gleiche Schiff aus Judäa hatte Dorion und hatte Phineas Briefe des Paulus gebracht. Wortreich, mit naiver Freude erzählte der junge Offizier, wie sich Gouverneur Longin nicht genug darin tun könne, das Land zu säubern. Angeregt berichtete er von den vielen kleinen Strafexpeditionen gegen die letzten zersprengten Haufen der »Eiferer des Tages«.
  Phineas und Dorion tauschten ihre Briefe aus. Beide billigten es von Herzen, daß man die Frechheit der Juden züchtigte, doch beide bekümmerte es, daß der feine, schlanke, elegante Paulus, ihr Paulus, mit so sichtlichem Vergnügen über die unvermeidlichen Greuel berichtete, daß er sich dem Soldatenleben so schnell anpaßte. »Er sieht auf die Juden nicht wie auf Menschen«, klagte Dorion, »sondern wie auf schädliche Tiere, die gerade gut genug sind zu Zielen jagdsportlicher Unternehmungen. ›Amüsant‹ findet er das Leben in Judäa, haben Sie es bemerkt, mein Phineas? Er gebraucht sogar das griechische Wort.«
  »So war mein Unterricht wenigstens zu etwas nütze«, sagte grimmig Phineas. »Nein, erfreulich sind die Briefe nicht.« Er ließ den großen, krankhaft blassen Kopf vornübersinken, als wäre er zu schwer für den mageren Körper; unglücklich saß er da, die dünnen, übermäßig langen Hände schlaff niederhängend.
  »Auf die Dauer hätten wir ihn doch nicht halten können«, sagte Dorion, bemüht, gleichmütig zu sprechen. »Er wäre uns immer entglitten. Bei alledem ist es noch besser, er wird endgültig ein Römer als ein Jude. Und es ist ein Trost, daß er, Josephus, noch mehr darunter zu leiden hat als wir.« Ihre schleppende Stimme klang hart, nun sie von ihrem gehaßten, geliebten Manne sprach. »Sein Judäa ist endgültig untergegangen, und sein Sohn hat mitgeholfen, es zu zertreten.« Sie belebte sich, sie triumphierte.
  Phineas sah hoch. »Ist Judäa untergegangen?« fragte er. »Glauben Sie, meine Dorion, es war dem Josephus eine Überraschung, daß die ›Eiferer des Tages‹ so schnell besiegt wurden? Glauben Sie, Judäa und die ›Eiferer des Tages‹ sind ihm ein und dasselbe?«
  »Dieser Brief des Paulus«, sagte Dorion, »kränkt mir das Herz, ich gestehe es. Lassen Sie mir diesen einen Trost, daß Josephus noch härter getroffen ist. Was in Judäa geschah, das muß ihn härter treffen als uns diese Briefe des Paulus.« Ihre meerfarbenen Augen sahen beinahe ängstlich zu Phineas auf. Aber: »Sie sind zu klug, Herrin Dorion«, erwiderte mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme Phineas, »sich mit einer Illusion zu trösten. Sie wissen ganz genau, daß das Judäa des Josephus nichts zu tun hat mit der realen Provinz Judäa. Wie jetzt unser Paulus und seine Kameraden in diesem realen Judäa hausen, das ritzt dem Josephus kaum die Haut. Glauben Sie mir’s, sein Judäa ist etwas Abstraktes, mit Feuer und Schwert nicht Erreichbares. Er ist ein Wahnsinniger, wie alle Juden Wahnsinnige sind. Erst gestern wieder habe ich den Hauptmann Baebius gesprochen, der seinerzeit die Schlacht bei Sebaste mitgemacht hatte. Er hat es mir bestätigt, wie viele andere vor ihm, er hat es mit eigenen Augen mitangesehen, wie die Juden während dieser Schlacht ihre Waffen weggeworfen haben. Es klingt unglaubhaft, und die Augenzeugen selber haben es lange nicht glauben wollen. Denn die Schlacht stand für die Juden nicht schlecht, im Gegenteil, sie waren im Vorteil, sie waren unmittelbar vor dem Sieg. Sie haben ihre Waffen weggeworfen einfach deshalb, weil ihre Doktoren ihnen verboten hatten, an ihrem Sabbat zu kämpfen, und weil dieser Sabbat begann. Einfach umbringen haben sie sich lassen. Sie sind verrückt, diese Menschen. Wie wollen Sie, daß das, was jetzt in Judäa geschieht, sie trifft? Und ihr Wortführer und Schriftsteller ist Flavius Josephus.«
  »Wovon Sie sprechen, Phineas«, sagte Dorion, »diese Schlacht von Sebaste, das war einmal. Josephus selber hat’s mir erzählt, er war blaß vor Zorn bei der bloßen Erinnerung. Und es ist kein zweites Mal geschehen, es ist Historie, es ist abgelebt.« – »Vielleicht«, gab Phineas zu, »kämpfen sie jetzt wirklich an ihrem Sabbat. Aber ihr Wahnsinn ist geblieben, er äußert sich nur auf andere Art. Schauen Sie sich die Juden hier in Rom an. Viele sind heraufgeklettert, sie sind reich, sie sind geadelt, es gibt zehntausend Ehrgeizige unter ihnen, solche, die nach gesellschaftlicher Anerkennung dürsten. Sie kommen nicht weiter, sie kommen nicht herauf, weil sie Juden sind und, bei aller Toleranz des Gesetzes, gesellschaftlich diffamiert. Warum, beim Zeus, gehen diese reichen Juden nicht hin und schwören ihr Judentum ab? Sie brauchten doch nur dem Standbild eines flavischen Kaisers zu opfern oder sonst einem Gott, und sie wären frei von diesem bösesten Hindernis. Wissen Sie, wie viele von den achtzigtausend Juden hier in Rom es so gemacht haben? Ich bin neugierig, ich habe mich nach der genauen Zahl erkundigt. Wissen Sie, meine Dorion, wie viele ihr Judentum abgeschworen haben? Siebzehn. Von achtzigtausend siebzehn.« Er stand auf; lang und dünn in seinem hellblauen Kleid stand er da, den großen, tiefblassen Kopf gereckt, und bedeutend hob er die lange, dünne Hand. »Glauben Sie, Herrin Dorion, daß man Leute solcher Art wanken macht, wenn man ein paar tausend von ihnen totschlägt? Glauben Sie, daß man das Herz und die Lebenskraft unseres Josephus trifft, wenn man Paulus und seine Legion auf die ›Eiferer des Tages‹ losläßt?«
  »Unseres Josephus, haben Sie gesagt«, griff Dorion das Wort auf, »und damit haben Sie recht. Er ist unser Josephus. Uns verbunden durch den Haß, mit dem wir ihn hassen. Das Leben wäre ärmer, wenn wir diesen unsern Haß nicht hätten.« Sie rief sich zurück. »Aber warum sagen Sie mir das alles?« fuhr sie fort. »Warum sprechen Sie es so klar und hoffnungslos aus, daß wir mit all unsern Mitteln nicht an ihn herankönnen?«
  Phineas reckte den dünnen Körper noch höher, er hob sich in seinen silbernen Schuhen und ließ sich wieder sinken, und in seiner Stimme war ein kaum unterdrückter, haßvoller Jubel. »Ich habe jetzt das rechte Mittel gefunden«, sagte er, »das einzige.« – »Ein Mittel, den Josephus und seine Juden unterzukriegen?« fragte Dorion; ihr schmaler, zarter Leib reckte sich dem Phineas entgegen, ihre hohe, dünne Stimme war schrill vor Erregung. »Und welches ist es, dieses Mittel?« fragte sie. Phineas kostete ihre Spannung aus. Dann, mit kunstvoller Trockenheit, verkündete er: »Man müßte ihren Gott ausrotten. Man müßte Jahve ausrotten.«
  Dorion dachte scharf nach. Dann, enttäuscht, sagte sie: »Das sind Worte.« Phineas, als hätte er diesen Einwand nicht gehört, erklärte weiter: »Und es gibt einen sichern Weg, das zu erreichen. Bitte, hören Sie zu, Herrin Dorion. Die Römer haben den Staat der Juden zerschlagen, ihr Heer, ihre Polizei, ihren Tempel, ihre Gerichtsbarkeit, ihre Souveränität: aber die Religion der Unterworfenen, ihr ›kulturelles Leben‹, haben sie in ihrer hochmütigen Toleranz nicht angetastet. Insbesondere haben sie den Juden eine kleine Universität belassen, Jabne heißt das Nest, und diese Universität auf Bitten der Juden mit ein paar harmlosen Privilegien ausgestattet. Das Kollegium von Jabne ist oberste Autorität in religiösen Fragen und darf so eine Art Schattenjustiz ausüben. Nun hören Sie zu, meine Dorion. Wenn unsere römischen Herren wirklich die Staatsmänner wären, die zu sein sie sich einbilden, dann hätten sie von Anfang an durchschaut, was es mit diesem Kollegium von Jabne auf sich hat, dann hätten sie diese kleine, harmlose Universität mit ihren Stiefeln zertreten. Denn gäbe es dieses Jabne nicht, dann gäbe es auch keinen Jahve mehr, dann gäbe es keine rebellischen Juden mehr, dann wäre es aus mit unserm Josephus, mit seinem Judentum, mit seinen Büchern und mit seinem unerträglichen Stolz.«
  Nachdenklich, spöttisch, doch mit einem Spott, der sich gerne eines Bessern belehren lassen wollte, entgegnete Dorion: »Sie tun, mein Phineas, als wären Sie in den Seelen der Juden so zu Hause wie in den Straßen Roms. Wollen Sie mir nicht ein bißchen deutlicher erklären, wieso gerade Ihr Jabne solche Bedeutung haben soll?« – »Das will ich gerne«, begann Phineas sie mit sieghafter Gelassenheit zu belehren. »Ich hätte nie gewagt, Ihnen mit solcher Sicherheit von meiner Methode zu sprechen, den Josephus und seine Juden unterzukriegen, wenn ich mich nicht vorher vergewissert hätte, was für eine Bewandtnis es mit diesem Jabne hat. Ich habe kompetente Leute darüber befragt, Beamte und Offiziere, die in der Administration und in der Besatzungstruppe von Judäa beschäftigt waren, vor allem auch den Gouverneur Salviden, und ich habe die Aussagen aller dieser Leute genau verglichen. Es ist so: diese lächerliche Universität besitzt keinerlei Machtbefugnis und strebt sie auch nicht an. Sie ist wirklich nichts als eine kleine, lächerliche Schule für Theologen. Aber es gibt keinen Juden in der ganzen Provinz, der nicht für diese Universität einen gewissen Beitrag zahlte, einen genau festgesetzten, nach seinem Vermögen, es gibt keinen, der sich ihren Entscheidungen nicht fügte. Wohlgemerkt, das tun sie freiwillig. Sie räumen dem Staat Autorität ein, gezwungen, aber sie räumen ihrem Jabne mehr Autorität ein, freiwillig. Sie bringen ihre Streitigkeiten, nicht nur die religiösen, auch die zivilen, nicht vor die Gerichte des Kaisers, sondern vor die Doktoren von Jabne, und sie fügen sich ihrem Urteilsspruch. Es ist vorgekommen, daß die Doktoren Angeklagte zum Tod verurteilt haben; viele solche Fälle sind mir glaubwürdig bezeugt. Natürlich hatten diese Urteile keine Rechtskraft, sie waren akademisch, es waren Gutachten theoretischer Natur, ohne jede Verbindlichkeit. Aber wissen Sie, was die zum Tod verurteilten Juden getan haben? Sie starben. Sie starben wirklich. Gouverneur Salviden hat’s mir erzählt, Naevius, der Großrichter, hat es mir bestätigt, auch Hauptmann Opiter. Wie diese Juden starben, ob sie sich umgebracht haben oder ob sie umgebracht wurden, das konnte ich nicht ermitteln. Aber soviel ist gewiß, sie hätten sich nur unter römischen Schutz zu stellen brauchen, und sie hätten fröhlich, ja höchst demonstrativ weiterleben können. Sie haben es aber vorgezogen zu sterben.«
  Dorion schwieg. Starr saß sie da, reglos, braun und dünn, wie eines jener frühen, harten, eckigen, ägyptischen Porträts. »Ich sage Ihnen, meine Dorion«, nahm Phineas seine Rede wieder auf, »diese Universität Jabne ist die Festung der Juden, eine sehr starke Festung, stärker, als es Jerusalem und der Tempel war, wahrscheinlich die stärkste Festung der Welt, und ihre unsichtbaren Mauern sind schwerer zu nehmen als das kunstvollste Tor unseres Festungsbaumeisters Frontin. Die römischen Herren wissen es nicht, Gouverneur Longin weiß es nicht, der Kaiser weiß es nicht. Aber ich, Phineas, ich weiß es, weil ich nämlich den Josephus und seine Juden hasse. Diese winzige, läppische Universität Jabne mit ihren einundsiebzig Doktoren ist das Zentrum der Provinz Judäa. Von hier aus werden die Juden regiert, nicht vom Gouvernementspalais in Cäsarea aus. Und wenn man unsern Paulus noch dreimal auf die Juden losläßt und wenn man hunderttausend von den ›Eiferern des Tages‹ erschlägt, das nützt gar nichts. Judäa lebt weiter, es lebt in der Universität Jabne.«
  Dorion hatte gespannt zugehört. Ihr Mund, der frech, ein wenig breit aus dem zarten, hochfahrenden Gesicht vorsprang, stand beinahe töricht halb offen und ließ die kleinen Zähne sehen, ihre Augen hingen an den Lippen des Phineas: »Sie sind also überzeugt«, faßte sie zusammen, langsam, jedes Wort bedenkend, »das Zentrum des jüdischen Widerstands, die Seele des Judentums sozusagen, ist die Universität Jabne.« Die Dame Dorion war gebrechlich von Aussehen; nun sie aber dies erwog, sah ihr langer, gelbbrauner Kopf mit der schrägen, hohen Stirn, den betonten Jochbogen, der stumpfen, ein wenig breiten Nase und dem leicht geöffneten Mund hart aus, streitbar, ja gefährlich. »Und treffen und unschädlich machen«, resümierte sie weiter, »kann man das Judentum und den Josephus erst, wenn die Universität Jabne zerstört ist.« Phineas aber mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme bestätigte, und er bemühte sich, seine frohe und haßvolle Erregung hinter einem trockenen, gleichmütigen Ton zu verbergen: »Zerstört, vertilgt, vernichtet, zertreten, zerstampft, dem Erdboden gleichgemacht.«
  »Ich danke Ihnen«, sagte Dorion.

Mit einemmal wurde die Universität Jabne, von der bisher in Rom wenige auch nur den Namen gekannt hatten, ein beliebter Gesprächsstoff, und heftig stritt man hin und her, ob wirklich die Unbotmäßigkeit der Provinz Judäa ihr Zentrum in Jabne habe.
  Dunkel lief das Geraun von dem unausdenkbaren Übel, das da heranzog, durch die ganze Judenheit. Was da Rom zu planen schien, das war schlimmer als das, was die Ängstlichsten unter ihnen sich ausgedacht hatten, es war unter allen vorstellbaren Schrecknissen das schrecklichste. Bisher hatten die Feinde die Leiber der Juden angegriffen, ihre Erde, ihr Hab und Gut, ihren Staat. Sie hatten das Reich Israel zerstört, sie hatten das Reich Juda zerstört und den Tempel Salomos, Vespasian hatte das zweite Reich zerstört und Titus den Tempel der Makkabäer und des Herodes. Was dieser dritte Flavier plante, das ging tiefer, das ging gegen die Seele der Judenheit, gegen das Buch, gegen die Lehre. Denn die Doktoren waren die Träger und Hüter der Lehre. Nur das Kollegium von Jabne verhütete, daß sie sich verflüchtigte, daß sie zurückverschwand in den Himmel, aus dem sie gekommen war. Die Lehre, das war der innere Zusammenhalt, und mit dem Kollegium von Jabne war diese Lehre, war das Herz und der Sinn der Judenheit bedroht.
  Immer aber bis jetzt hatten sich große und kluge Männer gefunden, welche die Lehre gerettet hatten. Und so richteten sich auch jetzt aller Augen auf den Mann, der dem Kollegium und der Universität von Jabne vorstand, auf Gamaliel, auf den Großdoktor.
  Der Großdoktor war der Gesandte Jahves auf Erden, das Haupt der Juden nicht nur der Provinz Judäa, sondern der ganzen Welt. Seine Aufgabe war schwer und vielfältig. Er hatte sein Volk und die Lehre vor den Römern zu vertreten, er hatte die auseinanderstrebenden Meinungen seiner Doktoren in eines zu zwingen, er hatte, ohne äußere Machtmittel, die Autorität des jüdischen Gesetzes den Massen gegenüber zu wahren. Seine Stellung erforderte Energie, Takt, rasche Entschlüsse.
  Gamaliel, zum Herrschen geboren und erzogen, hatte seine ererbte Würde, die des ungekrönten Königs von Israel, in sehr jungen Jahren übernommen; er zählte jetzt knapp vierzig. Er hatte sich bewährt im Kampf gegen die Gouverneure Silva, Salviden, Longin. Er hatte die Lehre durchgesteuert zwischen jenen, die sie aufgehen lassen wollten in der Weisheit der Griechen, und jenen, die sie einmünden lassen wollten in einen weltbürgerlichen Messianismus. Mit klugen, scharfen Schnitten hatte er das Gesetz abgetrennt von der Ideologie der Hellenisten einerseits, der Minäer anderseits. Er hatte das Ziel erreicht, das dem alten Jochanan Ben Sakkai, dem Begründer des Kollegiums von Jabne, vorgeschwebt: er hatte die Einheit der Juden gesichert durch ein Zeremonialgesetz, an dem er nicht deuteln und rütteln ließ. Er hatte die Autorität des ver lorengegangenen Staates durch die Autorität von Brauch und Lehre ersetzt. Großdoktor Gamaliel wurde von vielen gehaßt, von einigen geliebt, von allen geachtet.
  Er erkannte sogleich, daß die Entscheidung über das Schicksal Jabnes und damit des Judentums nicht von dem Gouverneur in Cäsarea gefällt werden würde, sondern in Rom, vom Kaiser selber. Seit Jahren hatte sich Gamaliel mit dem Plan getragen, nach Rom zu reisen und die Sache seines Volkes vor dem Angesicht des Kaisers zu vertreten. Allein das Zeremonialgesetz verbot, am Sabbat zu reisen, und er, der Hüter des Zeremonialgesetzes, konnte somit nicht wohl eine Reise antreten, die ihn gezwungen hätte, auch am Sabbat auf See zu sein. Er dachte daran, seinem Kollegium die Frage vorzulegen, ob es nicht auch in diesem Fall, da Gefahr für die Lehre und für die gesamte Judenheit bestand, erlaubt sei, die Sabbatgesetze zu übertreten, wie in der Schlacht. Allein die Doktoren hätten darüber nach der üblichen Weise Jahre hindurch debattiert. Der Großdoktor, da es not tat, scheute nicht das Gemurre, ging despotisch vor, bestimmte einige seiner Herren, ihn zu begleiten, und zu siebent, das war eine heilige Ziffer, schifften sie sich nach Rom ein.
  Großartig kam er in Rom an. Johann von Gischala hatte ein Palais für ihn ausfindig gemacht. Hier hatten einstmals der jüdische Titularkönig Agrippa und die Prinzessin Berenike die Huldigungen des römischen Adels entgegengenommen. Hier jetzt hielt der Großdoktor hof.
  Von diesem Haus in Rom aus wurde jetzt die Judenheit des Erdkreises regiert. Gamaliel machte von sich und seinen Geschäften kein Wesen. Er gab keine prunkvollen Feste, er trat freundlich auf, ohne Anmaßung. Trotzdem wirkte er überlegen, ja königlich, und nun er in Rom war, wurde plötzlich offenbar, daß die Judenheit, obwohl politisch entmachtet, noch ein Faktor in der Welt war. Minister, Senatoren, Künstler und Schriftsteller drängten sich an Gamaliel heran.
  Domitian selber aber ließ nichts von sich hören. Der Großdoktor hatte sich, wie es der Brauch war, auf dem Palatin gemeldet, und er hatte Hofmarschall Crispin ersucht, dem Kaiser die Ergebenheit der Juden aussprechen zu dürfen und ihre tiefe Zerknirschung über die Tollheit jener, die sich gegen sein Regiment aufzulehnen gewagt hätten. »So, will er das?« fragte der Kaiser und lächelte. Bescheid aber gab er nicht, er sprach auch nicht weiter über den Großdoktor, und weder vor seinen vertrauten Räten noch vor Lucia oder Julia oder sonst einem ließ er ein Wort über Gamaliel oder über das Kollegium von Jabne verlauten.
  Um so mehr beschäftigte die Anwesenheit des Großdoktors den Prinzen Flavius Clemens und dessen Frau Domitilla.
  Unter den Minäern der Stadt Rom nämlich, die sich jetzt übrigens immer häufiger nicht mehr Minäer, sondern Christen nannten, hatte Gamaliels Ankunft große Erregung hervorgerufen. Wo immer dieser Mann erscheine, setzte Jakob aus Sekanja, ihr Führer, seinem Gönner, dem Prinzen, auseinander, wo immer dieser Gamaliel erscheine, bringe er den Christen und ihrer Lehre Gefahr. Auf tückische Art, indem er sie habe zwingen wollen, sich selber im Gebet zu verfluchen, habe er sie, die gerne Juden geblieben wären, aus der Gemeinschaft der andern ausgetrieben und das Judentum gespalten in eine neue Lehre und in eine alte.
  Prinz Clemens hörte aufmerksam zu. Er war zwei Jahre älter als der Kaiser, doch er wirkte jünger; es fehlte ihm das starke Kinn der Flavier, und das freundliche Gesicht mit den blaßblauen Augen und dem aschblonden Haar zeigte knabenhaft helle Farben. Domitian machte sich gern über ihn lustig und bezeichnete ihn als träg von Geist. Clemens indes war nur langsam von Auffassung. Auch heute wieder wollte er erklärt haben, was denn nun eigentlich den Unterschied ausmache zwischen der alten jüdischen Lehre und derjenigen der Christen, und wiewohl er das nun zum dritten- oder viertenmal fragte, erläuterte es ihm Jakob aus Sekanja mit Geduld. »Gamaliel wird behaupten«, sagte er, »wir seien keine Juden, weil wir glaubten, der Messias sei bereits erschienen, und solcher Glaube sei ›Leugnung des Prinzips‹. Aber dies ist nicht sein Hauptgrund. Sein tiefster Grund ist, daß er die Lehre eng haben will, kahl und arm, auf daß sie übersichtlich sei. Seine Gläubigen sollen eine einzige große Herde sein, die er bequem übersehen kann. Darum hat er die Lehre in einen Pferch einge sperrt, in sein Zeremonialgesetz.« Es war dem schlichten, glattrasierten Mann, den man gemeinhin für einen Bankier oder für einen Rechtsberater hätte nehmen mögen, nicht anzusehen, daß ihn fast ausschließlich derartige Fragen beschäftigten. »Nicht als ob wir dieses Zeremonialgesetz ablehnten«, fuhr er fort. »Wogegen wir eifern, das ist nur der Anspruch des Großdoktors, sein Zeremonialgesetz enthalte die ganze Wahrheit. Denn es ist nur eine halbe Wahrheit, und die halbe Wahrheit, die vorgibt, die ganze zu sein, ist schlimmer als die schlimmste Lüge. Jedem echten Diener Jahves ist es vornehmste Pflicht, den Geist Jahves unter allen Völkern zu verkünden, nicht nur unter den Juden. Das aber verschweigt Gamaliel; er verschweigt es nicht nur, er ficht diesen Satz an. Als vor ein paar Jahren Ihr Vetter Titus durch das Gesetz des Antist die Beschneidung von Nichtjuden verbot, standen wir vor der Frage: sollen wir auf dieses äußere Zeichen des Judentums, auf die Beschneidung, verzichten oder auf seine weltbürgerliche Sendung, auf die Verbreitung der Lehre? Der Großdoktor hat sich für die Beschneidung entschieden, für sein Zeremonialgesetz, für den Nationalismus. Wir aber, wir Christen, verzichten lieber auf die Beschneidung und wollen, daß die ganze Welt Jahves teilhaftig werde. Der Großdoktor weiß, daß im Grunde wir die bessern Juden sind; denn Gott hat ihm scharfen Verstand eingehaucht und Erkenntnis. Da er sich für das Böse entschieden hat, haßt er uns und hetzt euch Römer gegen uns auf. Unsere Proselytenmacherei, erklärt er, sei allein schuld an den ewigen Zwistigkeiten zwischen Rom und den Juden.«
  »Aber«, wandte bedachtsam Prinz Clemens ein, »ihr ereifert euch doch wirklich an allen Straßenecken, um den Glauben zu verkünden.« – »Wir tun es«, gab Jakob zu. »Da der Großdoktor aus geistiger Habsucht Jahve für sich und seine Juden allein haben will, so obliegt es uns, diejenigen, die nach der Wahrheit verlangen, nicht verschmachten zu lassen. Sollte ich etwa Ihnen, Prinz Clemens, sagen: Nein, Sie können Jahves nicht teilhaftig werden, für Sie ist der Messias nicht gestorben? Sollte ich Ihnen die Wahrheit verbergen, bloß weil ein Gesetz des Kaisers Ihnen die Beschneidung verbietet?«
  Jakob von Sekanja sprach gut, die Überzeugung gab seinen Worten, so ruhig sie vorgebracht wurden, Feuer, und die blaugrauen, etwas trockenen und dennoch fanatischen Augen der Prinzessin Domitilla hingen an seinem Mund. Aber sie war eine Flavierin und mißtrauisch. »Warum«, fragte sie, »wenn ihr den wahren Jahve habt, hängen die Juden dem Großdoktor an und nicht euch?« – »Es kommen auch«, erklärte Jakob, »unter den Juden immer mehr zur Einsicht. Sie merken, daß die Doktoren Jahve und den Staat auf unerlaubte Art unlöslich miteinander verquicken wollen. Daß Jahve aber den Staat zerschlagen hat, daß er auch diesen letzten Aufstand hat niederbrechen lassen, das ist ein Beweis, daß er diesen Staat nicht will, und es gibt auch unter den Juden immer mehr, die sich diesem Beweis nicht verschließen. Immer mehr unter den Juden stoßen zu uns. Sie wollen nicht mehr den Staat, sie wollen nur mehr Gott. Und sie lehnen ab jene verzwickte Heuchelei der Doktoren, die sich bestreben, den Staat im Zeremonialgesetz neu auferstehen zu lassen. Denn dieses Zeremonialgesetz ist nichts als eine kunstvolle Tarnung, und dahinter steckt der alte Priesterstaat.«
  Wohl ließ sich Dominik ergreifen von der Überzeugtheit, mit welcher Jakob sprach, aber sie beeilte sich, aus der Welt der Abstrakta ins Naheliegende, ins Rom von heute zurückzukehren. Sie tat also die schmalen Lippen auf und stellte sachlich fest: »Ihr seht also in diesem Großdoktor euern gefährlichsten Gegner?« – »Ja«, erwiderte Jakob. »Was zwischen uns ist, das ist die Feindschaft der Wahrheit und der Lüge. Wir haben den Jahve der Propheten, den Jahve, welcher der Gott der ganzen Welt ist. Er hat den Jahve der Richter und der Könige, der Schlachten und der Eroberungen, die Reste des Baal, der immer in Judäa war. Gamaliel ist ein gescheiter Mann und hat seinen Baal gut versteckt. Aber er dient seinem Baal, und er haßt uns, wie immer die Baalsdiener die wahren Diener Jahves verfolgt haben.«
  »Und Sie glauben«, blieb Domitilla pedantisch beim Konkreten, »dieser Großdoktor wird auch seinen Aufenthalt hier in Rom dazu benutzen, euch zu schädigen?« – »Gewiß wird er das«, antwortete Jakob. »Er wird seine Universität Jabne und sein Zeremonialgesetz retten wollen, indem er uns verdächtigt. Er wird bestrebt sein, die Abneigung des Kaisers auf uns abzulenken. Mit solchen Mitteln hat er von jeher gearbeitet. Er und seine Juden sind harmlose Lämmer: die Aufrührer, das sind wir. Wir sind die Proselytenmacher, wir wollen die Römer abziehen von Jupiter zu Jahve. In Cäsarea, beim Gouverneur, ist er mit solchen Argumenten häufig durchgedrungen: warum sollte er es nicht beim Kaiser selber versuchen?«
  »Ich kenne ihn«, sagte Domitilla, »ich kenne Jenen.« Auch jetzt nannte sie ihren Onkel, den Kaiser, »Jenen«. »Ich kenne Jenen«, sagte also die dünne, blonde, trocken fanatische junge Frau. »Bestimmt will er Jupiter schirmen, seinen Jupiter, den Jupiter, wie er ihn versteht. Bestimmt also sinnt er Jahve Böses. Er zögert immer lange, ehe er zuschlägt, und wahrscheinlich macht er keinen Unterschied zwischen euch und den Juden, wahrscheinlich ist es ihm gleichgültig, ob er den Großdoktor trifft und sein Jabne oder euch. Er hat die Hand gehoben, er wird sie fallen lassen. Es kommt darauf an, auf wen seine Aufmerksamkeit gelenkt wird.«
  Clemens hatte seiner Frau beflissen zugehört, ein gewissenhafter, doch langsamer Schüler. »Wenn ich dich recht verstehe«, überlegte er, »dann sollten wir also, wenn wir unsern Jakob und seine Lehre retten wollen, DDDs Aufmerksamkeit hinlenken auf die Universität Jabne. Er müßte den Großdoktor schlagen und sein Jabne.« Des Prinzen blaßblaue Augen hatten sich verdunkelt vor Eifer. Auch Domitillas Blick suchte den Mund Jakobs.
  Der wollte sich nicht den Vorwurf machen müssen, es sei Rachsucht in seinem Herzen. Wenn er gegen Gamaliel vorging, dann nicht aus Eifersucht, sondern nur deshalb, weil er keinen andern Weg sah, den eigenen Glauben zu retten. »Ich hasse den Großdoktor nicht«, sagte er still und bedachtsam. »Wir hassen niemand. Wenn wir Feindschaft leiden, dann nicht deshalb, weil wir Feindschaft üben. Wir bewirken Feindschaft einfach durch unsere Existenz.«
  »Sind Sie also oder sind Sie nicht der Meinung«, beharrte Domitilla, »das beste Mittel, euch zu retten, bleibt das Verbot von Jabne?« – »Leider scheint das das beste Mittel«, antwortete bedachtsam Jakob.
Der einzige Weg, den Domitilla einschlagen konnte, um von Jenem das Verbot zu erwirken, führte über Julia.
  Julias Beziehungen zu Domitian hatten Wandlungen durchgemacht. Zunächst war es so gekommen, wie Julia befürchtet hatte: DDDs Stimmung gegen sie war nach Lucias Rückkehr umgeschlagen. Lucia hatte ihn ganz ausgefüllt, und auf sie, Julia, sah er mit kritischen, gehässigen Augen. Als sie, bevor er zu Felde zog, zu ihm gekommen war, um ihm Lebewohl zu sagen, hatte er sie, so ruhig sie war, durch höhnische Bemerkungen bis aufs Blut gereizt. Mit einem Kopf wie dem ihren, hatte er gespottet, könne man keinen Sinn für Größe haben, sicher habe sie trotz seines Verbots mit diesem Lahmarsch von einem Sabin geschlafen, des Sabin Kind trage sie im Leib, sie solle sich ja nicht einbilden, daß er jemals ihren Balg adoptieren werde. Nun hatte aber Julia wirklich nicht mit Sabin geschlafen, es war keine Frage, daß die Frucht, die sie trug, von Domitian stammte, und sein bösartiges Mißtrauen kränkte sie um so mehr, als es ihr nicht leichtgefallen war, mitanzusehen, wie sich ihr Mann Sabin neben ihr in Ohnmacht und Demütigung verzehrte. Es war peinvoll für die sonst so ruhige Dame, während der ganzen Abwesenheit des Kaisers neben dem stummen und vorwurfsvollen Sabin herzuleben, Nacht und Tag litt sie bitter daran, daß sie DDD seinen läppischen Verdacht nicht hatte ausreden können, und als sie schließlich kurz vor der Rückkehr Domitians ein totes Kind zur Welt brachte, führte sie das zurück auf die Aufregungen, die ihr die kleinliche Zweifelsucht des menschenfeindlichen Kaisers bereitet hatte.
  Domitian hatte also, aus dem dakischen Krieg zurückkehrend, eine veränderte Julia vorgefunden. Sie hatte von ihrer fleischigen Fülle einiges verloren, ihr weißhäutiges, gelassen hochmütiges Gesicht schien weniger träge, schien geistiger. Andernteils hatte Lucia ihn anders empfangen, als er erwartet hatte. Keineswegs hatte sie den ruhmvoll zurückkehrenden Sieger in ihm gesehen, er hatte ihr nicht einreden können, daß der dakische Krieg, der sich noch immer hinzog, ein Erfolg geworden sei. Es verdroß ihn, daß sie ihn heiter und überlegen auslachte; es verdroß ihn, daß sie bei nahe alle seine kleinen Schwächen durchschaute; es verdroß ihn, daß sie so vieles an ihm nicht gelten ließ, worauf er stolz war; es verdroß ihn, daß die Privilegien, die sie ihm für ihre Ziegeleien abgelistet hatte, viel Geld brachten, während seine Kasse unter den Folgen des Krieges litt. Dies alles machte, daß Domitian Julia wieder mit neuem, freundlicherem Blick sah. Jetzt glaubte er ihr, daß das Kind, das sie geboren, sein Kind gewesen sei, er glaubte ihr, daß seine ungerechten Vorwürfe den Tod dieses Kindes bewirkt hätten, er begehrte sie von neuem, und daß ihm die bekümmerte, erbitterte Frau nicht mit der lässigen Freundlichkeit von früher entgegenkam, steigerte nur seine Begier.
  Domitilla also wußte, daß ihre Schwägerin und Kusine Julia von neuem des Kaisers Ohr hatte. Von Jakob hatte Domitilla gelernt, daß man, gerade um eine gute Sache durchzusetzen, sanft wie eine Taube und klug wie eine Schlange sein müsse. Sie beschloß, Julia den Fall der Universität von Jabne so darzustellen, daß Julia das Verbot zu ihrer eigenen Sache machen mußte.
  Behutsam wußte sie die Angelegenheit der Universität Jabne in Verbindung zu bringen mit der Eifersucht des Domitian auf Titus. Julias Vater, Titus, hatte Jerusalem erobert und zerstört, er war der Besieger Judäas. Diesen Ruhm aber gönnte Jener ihm nicht. Es lag Jenem daran, sich selber, Rom und der Welt zu erweisen, daß Titus mit seiner Aufgabe, der Besiegung Judäas, eben doch nicht fertig geworden war, so daß ihm, Domitian, noch viel zu tun übrigblieb: die wahre Niederwerfung der Provinz. Wenn Jener es zum Beispiel zuließ, daß dieser lächerliche Großdoktor der Juden hier in Rom dermaßen auftrat und sich spreizte, dann nur deshalb, weil er der Stadt einen neuen Beweis geben wollte, daß die Juden nach wie vor eine politische Macht seien, daß Titus nicht mit ihnen zu Rande gekommen sei, daß mit ihnen aufzuräumen eine Aufgabe sei, welche die Götter ihm, dem Domitian, vorbehalten hätten.
  Ansichten solcher Art also äußerte die kluge Domitilla vor Julia, und nachdem sie sie verlassen hatte, spann denn auch Julia, genau wie es Domitilla gewollt, diesen Faden selbständig weiter. Es war klar, aus purem bösem Willen, nur um das Andenken ihres Vaters Titus zu verkleinern, ließ es DDD geschehen, daß dieser jüdische Großpfaffe so dreist in Rom herumging. Was Domitilla da anregte, das Verbot der Universität Jabne, das war gar nicht so schlecht. Sie, Julia, hatte nach allem, was DDD ihr angetan, ein Anrecht auf einen sichtbaren Gnadenbeweis. Sie wird verlangen, daß er das Andenken ihres Vaters Titus nicht weiter durch kunstvolle Intrigen verunglimpfe. Sie wird verlangen, daß er Jabne verbiete.
  Domitilla hatte erreicht, was sie angestrebt: Julia war, ohne zu wissen, zur Parteigängerin der Minäer geworden.
  Als Domitian sie das nächste Mal zu sich bat, machte sie sich mit besonderer Sorgfalt zurecht. Turmartig, in sieben Lokkenreihen übereinander, mit Juwelen durchflochten, krönte ihr schönes, weizenblondes Haar das weiße Gesicht. Mit einer Spur Schminke machte sie die kräftigen, sinnlichen, flavischen Lippen noch röter. Zehnmal berechnete sie jede Falte des blauen Kleides. Lange mit ihren Beraterinnen wählte sie unter ihren zahllosen Parfüms.
  So geschmückt kam sie zu Domitian. Sie fand ihn gutgelaunt und empfänglich. Wie immer in der letzten Zeit vermied sie Vertraulichkeiten; hingegen erzählte sie ihm allerlei Gesellschaftsklatsch, und beiläufig brachte sie das Gespräch auch auf den Erzpriester der Juden. Sie finde sein Auftreten hier in Rom skandalös, er benehme sich wie ein unabhängiger Fürst. Er halte seine lächerliche Universität – vermutlich eine Art Dorfschule, auf der allerhand Aberglaube gelehrt werde – für den Mittelpunkt der Welt, und da in dem versnobten Rom eine Meinung um so schneller Anhänger finde, je aberwitziger sie sei, und da niemand dem jüdischen Pfaffen entgegentrete, so werde es noch dahin kommen, daß junge Römer nach Jabne gingen, um dort zu studieren.
  Julia brachte das alles mit dem rechten Unterton kleiner Ironie vor. Trotzdem vermutete der mißtrauische Domitian hinter ihr seine verhaßten Vettern. Mit schiefem Lächeln erwiderte er: »Sie wünschten also, Nichte Julia, daß ich diesem jüdischen Priester den Herrn zeige?« – »Ja«, antwortete so gleichgültig wie möglich Julia, »ich glaube, es wäre ratsam, und mir machte es Spaß.« – »Ich höre mit Vergnügen, Nichte Julia«, erwiderte mit besonderer Höflichkeit der Kaiser, »daß Sie so besorgt sind um das Prestige des flavischen Hauses. Sie und wohl auch die Ihren.« Und trocken schloß er: »Ich danke Ihnen.«
  Julia gab ihr Vorhaben noch nicht auf. Als er sich daranmachte, ihr das Kleid zu lösen und die mit soviel Kunst hergestellte Turmfrisur zu zerstören, brachte sie die Rede von neuem auf die Universität Jabne und verlangte Zusicherungen, Versprechungen. Er machte sich darüber lustig. Sie ihrerseits nannte ihn Wäuchlein, doch sie bestand, sie machte sich steif in seinen Armen, und halb ernst, halb im Spaß, weigerte sie sich, ihm zu Willen zu sein, ehe er ihr Versprechungen gegeben habe. Da aber wurde er gewalttätig, und sie, gewonnen gerade durch diese Brutalität, gab nach und zerschmolz unter seinen kräftigen Händen.
  Als sie sich von ihm trennte, hatte sie einige Stunden der Lust hinter sich. Nichts aber hatte sie erreicht für die Sache Domitillas und der Minäer. Mit keinem Wort hatte der Kaiser verraten, was er in der Angelegenheit der Universität Jabne zu tun gedenke.

Auch die Vertrauten des Kaisers fanden, es werde endlich Zeit, daß man diese Angelegenheit bereinige. Die Frage, ob und wann der Kaiser den Großdoktor der Juden empfangen solle, gehörte in den Amtsbereich des Hofmarschalls Crispin. Der war, der Ägypter, von Jugend an durchtränkt von einer tiefen Abneigung gegen alles Jüdische. Er hatte dem Kaiser das Gesuch des Großdoktors um eine Audienz vorgelegt, damit hatte er seine Pflicht getan. Ihm konnte es nur recht sein, wenn DDDs starres Schweigen die Stellung des Großdoktors in Rom allmählich lächerlich und unhaltbar machte.
  Schließlich versuchten die Freunde der Juden, die Sache Gamaliels im Kabinettsrat zur Sprache zu bringen. Bei der Beratung einer Kultfrage einer östlichen Provinz meinte Marull, bei diesem Anlaß scheine es ihm angezeigt, auch die Frage der Universität Jabne zu erklären. Claudius Regin nahm mit der gewohnten schläfrigen Tapferkeit Marulls Anregung auf. Gebe es denn überhaupt, wunderte er sich, eine Frage der Universität Jabne? Und wenn es wirklich eine solche Frage gegeben haben sollte, sei sie nicht dadurch beantwortet, daß die Krone den Erzpriester der Juden so lange in Rom belassen habe, ohne ihn vorzulassen? Die Tatsache, daß man trotz der Anwesenheit dieses jüdischen Erzpriesters nichts gegen die Universität unternommen habe, könne schwerlich anders gedeutet werden denn als Duldung, ja als neue Bestätigung dieser Universität. Eine andere Lösung sei auch gar nicht denkbar, wenn man nicht brechen wolle mit der althergebrachten römischen Kulturpolitik. Religionsfreiheit sei einer der Grundpfeiler, auf denen das Reich ruhe. Die Antastung einer religiösen Institution, als welche das Lehrhaus von Jabne anzusehen sei, würde zweifellos von allen unterworfenen Nationen als eine Bedrohung auch ihrer Kultstätten angesehen werden. Man schüfe mit einer Schließung der Universität Jabne einen gefährlichen Präzedenzfall und viel unnötige Unruhe.
  Claudius Regin hatte mit großem Geschick Phrasen aus der Ideologie des Kaisers gewählt und an Domitian als an den Hüter römischer Tradition appelliert. Verstohlen nun durchspähte er des Kaisers Gesicht. Der schwieg, schaute ihn einen Augenblick lang aus seinen vorgewölbten, kurzsichtigen Augen an, nachdenklich zerstreut, dann wandte er den Kopf langsam den andern Herren zu. Regin indes, der langjährige Beobachter, wußte, daß seine Worte Eindruck auf DDD gemacht hatten. So war es denn auch. Domitian sagte sich, die Argumente seines Regin ließen sich hören. Das aber kam ihm gar nicht zupaß. Denn er wollte sich in der Freiheit seiner Entschlüsse nicht stören lassen, er wollte die Hände freibehalten, die Sache sollte in der Schwebe bleiben. So saß er denn, äußerte nichts und wartete darauf, daß einer unter seinen Räten Gegenargumente bringen werde.
  Er könne nicht zugeben, führte denn auch Hofmarschall Crispin aus, in dem lispelnden, flüsternden, versnobten Griechisch, das an den Universitäten von Korinth und Alexandrien im Schwang stand und deshalb für vornehm galt, er könne durchaus nicht zugeben, daß sich die Krone durch ihr Schweigen festgelegt habe. Auch früher schon habe man zuweilen Gesandte, ja selbst Könige barbarischer Völker Monate hin durch auf eine Audienz warten lassen. Alle schauten ein klein wenig hoch und auf den Kaiser, als der Ägypter, seinem Haß die Zügel schießenlassend, von den Juden als von Barbaren sprach. Aber der Kaiser blieb reglos.
  Der Polizeiminister Norban sprang dem Crispin bei. »An sich schon«, sagte er, »ist die von niemand gewünschte Reise des jüdischen Erzpriesters nach Rom eine Zudringlichkeit und Anmaßung. Wenn der Erzpriester eine Bitte oder Beschwerde hat, dann möge er sich gefälligst an die zuständige Stelle wenden, an den kaiserlichen Gouverneur in Cäsarea. Meine Beamten berichten mir übereinstimmend, daß die Frechheit der Juden seit der Ankunft ihres Erzpriesters in Rom zugenommen hat. Das Verbot der Universität Jabne wäre ein geeignetes Mittel, diese Insolenz zu dämpfen.«
  Norban versuchte, das breite, vierschrötige Gesicht, in das die modischen Stirnlocken des dicken, tiefschwarzen Haares grotesk hereinfielen, unbeteiligt zu halten und die Stimme sachlich. Dennoch schienen dem Kaiser die grobfädigen Sätze seines Polizeiministers nicht geeignet, die Beweise des Regin zu entkräften. Er saß da, unmutig, schwieg, wartete. Wartete auf bessere Gegenargumente, die ihm seine Entschlußfreiheit zurückgeben sollten. Da kam ihm derjenige seiner Räte zu Hilfe, von dem er das am wenigsten erhofft hatte, Annius Bassus. Dem schlichten Soldaten hatte die Dame Dorion mit Geduld und Geschicklichkeit Argumente vorgekaut, die für die Wirkung auf Domitian zugestutzt waren, immer wieder, so lange, bis Annius sie für seine eigenen hielt. Gewiß, legte er umständlich dar, entspreche es altrömischer Staatsweisheit und Tradition, das kulturelle Leben der unterworfenen Länder zu schonen und den besiegten Völkern ihre Götter und ihre Religion zu belassen. Allein die Juden hätten sich selber dieses Privilegs beraubt. Sie hätten es in tückischer Absicht dem großmütigen Sieger unmöglich gemacht, ihre Religion von ihrer Politik zu scheiden, indem sie diese ihre Religion bis ins Innerste mit Politik durchtränkten. Wenn man sie anders behandle als die übrigen unterworfenen Nationen, so würden diese das begreifen und keine falschen Schlüsse daraus ziehen. Denn die Juden hätten es von jeher darauf angelegt, ein Aus nahmevolk zu sein, und sie schieden sich selber feindselig aus dem friedlichen Kreis der kulturell autonomen Nationen, aus denen sich das Reich zusammensetze. Auch sei ihr Gott Jahve kein Gott wie der anderer Völker, er sei kein richtiger Gott, es gebe kein Bild von ihm, nicht könne man wie die Statuen anderer Götter eine Statue von ihm in einem römischen Tempel aufstellen. Er sei gestaltlos, er sei nichts anderes als der aufsässige Geist jüdisch-nationaler Politik.
  Schwerlich könne man, wenn anders man die Juden wirklich unterwerfen wolle, diesen Gott Jahve schonen, schwerlich seine Universität Jabne. Denn Jahve, das sei einfach ein Synonym für Hochverrat.
  Man war sonst von dem einfachen Soldaten Annius Bassus so geistreiche Reden nicht gewohnt. Marull und Regin lächelten; sie ahnten die Zusammenhänge, sie ahnten, daß hinter diesen Ausführungen die Dame Dorion stand. Der Kaiser aber hörte die Sätze seines Kriegsministers mit Vergnügen. Von wem immer sie stammen mochten, sie schienen ihm eine ernsthafte Antwort auf die Bedenken des Regin und gaben ihm, dem Kaiser, seine Entschlußfreiheit zurück.
  Er hatte genug gehört von diesem Großdoktor und seiner Universität. Mit einer Handbewegung wischte er den ganzen Gegenstand fort und sprach von anderem.

Am nächsten Abend aber speiste er allein mit Jupiter, Juno und Minerva. Eine Gliederpuppe, angetan mit den Kleidern des Jupiter, versehen mit einer kunstvollen Wachsmaske, die das Gesicht des Gottes wiedergab, lag auf dem Speisesofa, und auf hohen, goldenen Stühlen saßen Gliederpuppen mit den Wachsmasken der beiden Göttinnen. Mit ihnen also speiste der Gott Domitian. Die Diener trugen die Gerichte ab und zu, in weißen Sandalen; sie waren von lautloser, ängstlicher Beflissenheit, um das Gespräch nicht zu stören, das Domitian mit seinen Gästen, den Göttern, führte.
  Der Kaiser wollte sich mit seinen Göttern beraten über seinen schwierigen Handel mit diesem fremden Gotte Jahve. Denn geteilt wie die Stimmen seiner Räte waren die Stimmen in seinem eigenen Innern. Es trieb ihn, das Lehrhaus von Jabne zu zerstören, und es trieb ihn, es mit starker Hand zu beschirmen. Er wurde nicht fertig mit diesem Problem.
  Mit Isis oder mit Mithras kann man fertig werden; man kann ihnen Statuen errichten, und es gibt viele Arten, sie zu versöhnen, wenn man ihre Verehrer gekränkt hat. Was aber soll man mit diesem Gotte Jahve anfangen, von dem es kein Bild gibt und kein Gesicht, der wesenlos ist wie flimmernde, fiebrige Luft, die man nicht greifen kann, die man erst an ihren bösen Folgen erkennt?
  Annius Bassus hat ihm erzählt, wie sehr seinerzeit das Haus dieses Jahve, der Tempel, dieses Weiß und Goldene, das da, wie es die Soldaten nannten, die Seelen der Belagerer getrübt und krank gemacht hat. Schier um den Verstand hat es sie gebracht. Titus hat sein Leben lang Angst gehabt vor der Rache dieses Gottes Jahve, weil er ihn durch die Zerstörung seines Hauses beleidigt hat. Und das Letzte, was er tat, war, daß er sich bei dem Juden Josephus entschuldigte um dieser Beleidigung willen.
  Er, Domitian, kennt keine Furcht, aber er ist der Erzpriester, der irdische Repräsentant des Capitolinischen Jupiter, er ehrt alle Götter, und er hütet sich, mit dem fremden Gott und mit dessen Erzpriester anzubinden. Vorsichtig umgehen wird er mit diesem Großdoktor. Denn die Juden sind schlau. Wie sich stürmende Belagerungstruppen hinter den Dächern ihrer Schildkröte decken, so verstecken sich die Juden hinter ihrem unsichtbaren Gott.
  Aber vielleicht ist auch alles Schwindel. Vielleicht existiert er gar nicht, der unsichtbare Gott.
  Seine eigenen Götter müssen ihm helfen, ihm raten. Darum hat er sich feierlich geschmückt und sie zu Gast gebeten, darum speist er mit ihnen, darum dampfen ihnen auf goldenen Tellern Schwein, Lamm und Rind.
  Er bemüht sich, seiner Gäste würdig zu sein, halbhoch jetzt richtet er sich, bestrebt, seinem Gesicht den Ausdruck zu geben, den seine Büsten tragen. Den Kopf mit der Löwenstirn stolz nach oben, die Brauen drohend zusammengezogen, die Augen flammend, herausfordernd, die Nüstern etwas gebläht, den Mund halb offen, so taucht er den Blick in den seiner göttlichen Gäste und heischt von ihnen Eingebung, Rat. Da Jupiter ihm schweigt und Juno keine Stimme für ihn hat, wendet er sich der Minerva zu, seiner Lieblingsgöttin. Da sitzt sie. Er hat sie befreit von der Verniedlichung, von der billigen Idealisierung durch ihre Bildner, er hat ihr die Eulenaugen zurückgegeben, die sie ursprünglich gehabt hatte; Kritias, der große Spezialist, hat sie ihr einsetzen müssen.
  Ja, ihm, Domitian, ist sie die eulenäugige Minerva. Er spürt das Tier in ihr, wie er das Tier in sich selber spürt, die gewaltige Urkraft. Mit seinen eigenen großen, vorgewölbten, kurzsichtigen Augen starrt er in die großen, runden Eulenaugen der Göttin. Ihr tief verbunden fühlt er sich. Und er spricht zu ihr; laut, ohne Scheu vor den verstörten Dienern, die sich bestreben, nicht hinzuhören, und die doch hinhören müssen, spricht er zu ihr. Er versucht, seine scharfe Stimme sanft zu machen, er gibt der Göttin Schmeichelnamen, griechische, lateinische, alle, die ihm beifallen. Stadtschirmerin nennt er sie, Schlüsselbewahrerin, Abwehrerin, kleine, liebe Vorkämpferin, meine Unbezwungene, Siegerin, Beutemacherin, Trompetenerfinderin, Helferin, Sinnreiche, Scharfblickende, Erfinderische. Und siehe, endlich fügt sie sich und spricht ihm. Dieser Jahve, sagt sie ihm, ist ein listiger Gott, ein östlicher Gott, ein rechter Schlaukopf. Hereinlegen will er dich, den Römer, mit seiner Universität Jabne. Zu einem Sakrileg will er dich verlocken, damit er Grund habe, dich zu züchtigen und zu verderben; denn er ist rachsüchtig, und nachdem dein Bruder schon bei den Untern ist, möchte er sich an dich halten und dich zausen. Bleib ruhig, laß dich nicht hinreißen, hab Geduld!
  Domitian lächelt, sein tiefes, dunkles Lächeln. Nein, der Gott Jahve soll den Gott Domitian nicht hereinlegen. Er denkt gar nicht daran, dieses alberne Lehrhaus in Jabne zu verbieten. Aber auf die Nase binden wird er das diesem Großdoktor nicht. Wenn der Gott Jahve von ihm, Domitian, Geduld verlangt, dann verlangt er, der Kaiser Domitian, Geduld von diesem Erzpriester. Ihn schmoren lassen in seiner Angst wird er. Zerfließen und zerschmelzen vor lauter Warten soll der Mann.
Josephus- Trilogie. Der jüdische Krieg / Die Söhne / Der Tag wird kommen.
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