»Ich liebe Ben Ismael«, sagte
nach einer Weile behutsam der Großdoktor. »Hier in diesem stillen
Zimmer, im Gespräch mit Ihnen, wundere ich mich, wie ich es über
mich gebracht habe, ihn bis in den Tod zu kränken. Hier hätte ich
es nicht tun können. Gamaliel hätte dem Ben Ismael das nicht antun
können, lieber wäre er selber außer Landes gegangen. Aber Gamaliel
und der Großdoktor sind nicht dasselbe. Der Großdoktor bringt die
Kraft auf, Gewalt zu tun und Menschen zu zertreten, wenn politische
Vernunft es verlangt. Ich wäre ein Verbrecher, wenn ich, um den
Mann Ben Ismael zu schonen, die Interessen der Gesamtheit
geschädigt hätte.«
»Ich könnte soviel Vernunft nicht
aufbringen«, sagte voll Verzicht und Bitterkeit Josef.
»Sie wollen nicht für uns nach
Cäsarea gehen, mein Josef?« fragte Gamaliel und verhehlte nicht
seine Enttäuschung.
»Ich bewundere die
Folgerichtigkeit Ihrer Politik«, erwiderte Josef. »Aber mich
fröstelt, wenn ich daran denke, daß ich Ihnen beinahe ja gesagt
hätte.«
In das Achtzehngebet, nach der schönen elften
Bitte: »Setze unsere Richter wieder ein wie früher und unsere
Fürsten wie ehemals«, wurde die neue Bitte eingefügt, die mit den
Worten begann: »Den Ketzern sei keine Hoffnung«, und die endete:
»Gelobt seist du, Jahve, der die Ketzer zuschanden macht und aufs
Haupt schlägt die Überheblichen.«
Die Aufnahme dieser Bitte in das
tägliche Gebet hatte die beabsichtigten Folgen. Wohl kehrten viele
von den Minäern um, verleugneten die neue Lehre und sagten amen,
wenn Jahve angefleht wurde, diejenigen auszutilgen, die da an einen
bereits erschienenen Messias glaubten. Viele aber, die meisten,
verharrten in ihrem Glauben. Sie schieden aus der Gemeinschaft, sie
nahmen es auf sich, von den andern gemieden zu werden. Manche
wanderten außer Landes, unter ihnen der Wundertäter Jakob aus dem
Dorfe Sekanja.
Die Anhänger der neuen Lehre
übernahmen jetzt mit Entschiedenheit jene Mission, die früher die
Juden als ihre wichtigste betrachtet hatten: die Verbreitung Jahves
unter den Heiden. Wohl schleppte noch eines oder das andere der
minäischen Bücher jenen alten Satz mit: »Geht nicht auf der Straße
der Heiden und zieht nicht in die Städte der Samariter, sondern
geht nur hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel«; doch
Grundpfeiler der Propaganda wurde jetzt die Lehre jenes Saulus oder
Paulus, die Botschaft Jahves und seines Messias sei bestimmt, vor
allem das Licht der Heiden zu werden. Während die Juden unter dem
Druck des Beschneidungsverbots mehr und mehr auf die Propaganda
verzichteten, ließen sich die Minäer durch Verfolgungen nicht
abhalten, ihren Messias zu verkünden.
Immer schärfer sonderten sich die
Christen ab von denen, aus deren Mitte sie kamen. Sie verleugneten
das Zeremonialgesetz, das sie bisher gebunden. Heftig in ihren
Heilsbotschaf ten sagten sie dem altgläubigen Judentum Feindschaft
an. Haßvoll und für immer spaltete sich die neue, weltbürgerliche
Lehre ab von der alten, jetzt volksgebundenen, um in dieser Gestalt
die Welt zu gewinnen.
Josef, nach der Unterredung mit dem
Großdoktor, war auf sein Gut zurückgekehrt. Er saß dort herum,
führte ruhige Gespräche mit dem Verwalter, erwog, ob er seinen
Leibeigenen, den Gehorsamen, nicht freilassen solle.
Noch zwölf Tage, dann fährt das
Schiff »Glück«, das ihn zurück nach Italien bringen wird, noch vier
Tage, dann muß er nach Cäsarea aufbrechen.
Er ritt hinaus auf das Vorwerk
»Brunnen der Jalta«. Er setzte sich auf die kleine Mauer, die er
liebte; aber diesmal war Mara nicht da. Still saß er in der Sonne,
die nicht mehr heiß war. Nun er sich entschieden hatte,
fortzugehen, spürte er doppelt die Sehnsucht, im Lande zu
bleiben.
Wenn er in Rom wenigstens Söhne
hätte, Söhne im Geist und im Fleische. Aber Simeon ist tot, und
Paulus ist ihm verloren.
Ein Mann hat viel zu sühnen an
einer Frau, deren einziger Sohn durch seine Schuld umgekommen ist.
Aber wenn er sie wieder zu sich nähme, wäre das für ihn nicht eher
Lohn als Strafe? Mara ist nicht da, aber er sieht sie im Geiste vor
sich, barfuß, mit dem großen Strohhut, sitzend, stehend, hin und
her gehend, wohl auch kniend, grabend, in der fetten, schwarzen
Erde.
Viele der Doktoren preisen die
Wiederverheiratung mit der Geschiedenen als verdienstliche Tat. Was
für ein Gelächter gäbe es in Rom, wenn er, nach allem
Vorhergegangenen, mit seiner ersten Frau wieder angerückt käme.
Freilich täuscht man sich oft. Er hat nie gedacht, daß man ihn hier
im Lande Israel so freundlich aufnehmen werde. Gamaliel ist in
Wahrheit ein großer Mann. Es gibt keinen besseren, die Juden in
dieser Zeit zu führen.
Es wäre gut, einen Sohn von Mara
zu haben, von der Frau mit den bloßen Füßen und dem Strohhut. Es
ist gleich, ob die Juden einen solchen Sohn anerkennen oder nicht.
Wenn man ihn nur von Anfang an selber erzieht, zusammen mit der
Frau mit den bloßen Füßen.
Als er anderen Tages wieder auf
das Vorwerk kam, war Mara da. Sie arbeitete. Er stellte sich neben
sie, sprach zu ihr. Sprach ihr von jener merkwürdigen Institution,
dem Levirat. Setzte ihr auseinander, daß man diesen Begriff nicht
zu eng fassen dürfe, daß er ihr gegenüber eine Verpflichtung spüre,
daß ihm diese Verpflichtung willkommen sei. Sie arbeitete weiter,
während er sprach, und sah nicht auf, so daß er nicht erkennen
konnte, ob sie ihm zuhörte und wie sie seine Worte aufnahm; denn
der große Hut beschattete ihr Gesicht, und er sah nicht, was darauf
vorging.
Er fuhr fort, zu sprechen, und er
sagte mehr, als er vorhatte. Er fragte, ob sie mit ihm nach Rom
kommen und dort in seinem Hause leben wollte. Er werde das
Bürgerrecht für sie erwerben, und wenn sie auf jüdische Art nicht
sollten heiraten können, dann wolle er sie auf alle Fälle auf
römische zu seiner Frau machen. Ihr Sohn solle seinen Namen tragen,
Flavius Josephus solle er heißen, und sie solle wählen, ob sein
Vorname Lakisch sein solle nach ihrem Vater oder Matthias nach dem
seinen, und er solle ein Römer sein und vor allem ein Jude. Und sie
beide gemeinsam würden ihn hüten und erziehen.
Er sprach nicht sehr deutlich,
trotzdem er ein geübter Redner war; manchmal unterbrach sein
erregter Atem seine Sätze.
Mara hatte zu arbeiten aufgehört.
Sie kauerte auf der Erde, in der prallen Sonne, die stark und doch
nicht heiß war, den Kopf gesenkt, so daß der große Hut sie völlig
verbarg. Sie saß aber eine lange Weile reglos und sagte kein Wort.
Endlich fragte Josef: »Hast du mich gehört, Mara?«, und da sie nur
eine kleine Bewegung mit dem Kopfe machte, ging er näher an sie
heran, beugte sich nieder, faßte ihre Hand, die rauh war, und
sagte: »Willst du mir nicht dein Gesicht zeigen, Mara?« Da hob sie
den Kopf und lächelte unter dem Strohhut und sagte: »Woher weißt
du, daß es ein Sohn sein wird?«
In ihm aber war eine große
Freude, und er rief sie an: »Mara«, und sie erwiderte: »Hier bin
ich«, und er zog sie herauf zu sich und führte sie ein kleines
Stück Weges, und nun saßen sie beide auf der besonnten
Mauer.
Sie aber sagte ernsthaft und
entschieden: »Ich muß aber erst den Weinberg hier, den
verwilderten, in Ordnung bringen, und auch warten muß ich, bis die
hellfarbige Eselin, die babylonische, ihr Junges geworfen hat und
es entwöhnt ist. Das ganze Gut hier muß ich erst in Ordnung
bringen.« – »Wie lange wird das dauern?« fragte er. »Übers Jahr,
denke ich, werde ich soweit sein«, erwiderte sie. »Das ist sehr
lang«, sagte Josef. Doch schon überlegte er: »Dann will ich in der
Zwischenzeit in Rom alles Nötige tun, damit du nur vor den Richter
zu treten brauchst, um das Bürgerrecht zu erhalten.«
Am nächsten Tag versuchte Josef,
sie zu überreden, sogleich mit ihm nach Rom zu kommen. Sie aber
weigerte sich. Sie hatte viel mütterliche Arbeit in den
verwilderten Boden gesteckt, sie wollte ihn nicht verlassen, bevor
sie sicher war, daß er gedeihe. So mußte Josef nachgeben.
Allein er wollte nicht von Judäa
fortgehen, bevor er seinen neuen Bund mit ihr besiegelt hatte. Er
schlief mit ihr. Er wollte einen Sohn in Judäa zeugen.
Am vierten Tag, wie er es sich
vorgenommen, verließ er das Gut, um nach Cäsarea und dann nach Rom
zu fahren. Mara aber legte ein Hühnerei zwischen ihre Brüste, um zu
sehen, ob ein Hahn oder eine Henne daraus werde.
Die Festspiele in Flavisch Neapel hatten zwar
die syrischen nicht ausgestochen, aber alles in allem durfte der
Gouverneur zufrieden sein. Daß die Hauptattraktion, der Gaul
Vindex, weggefallen war, hatte die Wirkung beeinträchtigt, aber der
»Laureol« war ein Erfolg gewesen. Die Festgäste, auch die aus
Syrien – und das war in diesem Fall die Hauptsache –, waren aus dem
Lachen, Staunen, Applaudieren nicht herausgekommen.
Demetrius Liban hatte nach diesem
Beifall gedürstet wie der Hirsch nach Wasser. Aber er war klug
genug, seinen Unwert zu erkennen. Das Auditorium war
außergewöhnlich empfänglich, doch ebenso unkritisch. An Stellen, wo
die Leute hätten jubeln müssen, waren sie totenstill geblieben, und
wo sie hätten weinen sollen, hatten sie gelacht. Wenigstens
herzhaft hatten sie gelacht; manchmal schienen selbst die mächtigen
Steinstufen des Theaters erschüttert. Kam die Zeit zurück, da
Demetrius »Statuen hatte zum Lachen bringen können«?
Er hatte den Laureol mit
schlechtem Gewissen gespielt; daß die Sache gut ausging, war eine
unverdiente Gnade Jahves. Jetzt war es seine Pflicht, im Lande zu
bleiben. Übrigens sprachen auch äußere Gründe dafür; der
Gouverneur, um ihn zu halten, bot ihm Landbesitz und große
Privilegien an, so daß er, wenn er sich entschloß, in Judäa zu
bleiben, wie ein Fürst leben könnte.
Er entschloß sich nicht. Gerade
nach dem Sieg in Flavisch Neapel zehrte an ihm mit zwiefacher
Heftigkeit der Grimm über jene Niederlage im Theater der Lucia. Es
war eine unverdiente Niederlage gewesen. Jetzt hat es sich
erwiesen, daß sein Laureol selbst vor einem naiven Publikum
bestehen kann, das unfähig ist, seine Feinheiten zu schmecken.
Nein, er wollte nicht in die Grube fahren, bevor er die Demütigung
jener römischen Niederlage von sich abgewaschen hat. Mochte Jahve
ihm zürnen, mochte die neue Seereise ihm neue Schrekken bringen:
ihm oblag es, auch den Römern die Anerkennung seines Laureol
abzuzwingen.
Er suchte nach einem Schiff, das
eine möglichst ruhige Fahrt versprach. Nach vielem Hin und Her
belegte er Kajüte auf dem Schiff »Argo«. Die war ein alter Kasten,
doch breit und geräumig. Und vor allem ging sie nicht wie jenes
Fahrzeug, nach dem sie hieß, auf abenteuerliche Reisen aus, im
Gegenteil, sie vermied ängstlich den offenen Ozean, ihr Kurs führte
immer die Küste entlang. Die Fahrt wird viele Wochen dauern, doch
so schlimme Leiden wie auf der ersten Reise stehen ihm diesmal
nicht bevor.
Er täuschte sich. In der dritten
Woche trieb ein starker Sturm das Schiff von der Küste ab, der
Steuermann konnte sein Ruder nicht mehr halten. Das Schiff trieb
hilflos, überspült von immer neuen, kalten, weißgrauen Wellen. Die
Matrosen bestreuten sich mit Asche, die Passagiere schrien zu ihren
Göttern, die im Kielraum angeschmiedeten leibeigenen Ruderer
heulten um ihr Leben. Bei alledem versicherte der Kapitän, man
könne nicht sehr weit entfernt von der Küste sein. Demetrius Liban
lag, grau im Gesicht, mit eisigen Gliedern, in seiner Kajüte. Er
war furchtbar schwach, den ganzen gestrigen Tag hindurch hatte er
sich übergeben, ihm graute vor Essen, er lag, die Augen
geschlossen, und schrie nach Tod. Wie auch könnte er gerettet
werden? Das Schiff ist verloren, sagen sie, die zwei Boote reichen
nicht aus. Freiwillig werden sie ihn nicht in ein Boot nehmen, und
er ist nicht kräftig und kann nicht darum kämpfen. Zuerst hat man
ihn mit großer Achtung behandelt, jetzt ist er für die andern ein
Stück Holz, sie lassen ihn verrecken. Wäre es nur schon aus. Er
schrie zu Jahve, wollte Gebetmantel und Gebetriemen anlegen, aber
er war zu erschöpft.
Er hörte ein mächtiges Krachen
und neues Geschrei vom Deck her. Gräßliche Angst packte ihn. Mit
zerschlagenen Gliedern erkroch er das Oberdeck. Er fiel oftmals auf
diesem Gang. Auf dem Oberdeck sahen sie ihn nicht und wollten ihn
nicht sehen, jeder war mit sich beschäftigt. Seine Angst wuchs. Da
er wahrnahm, daß die andern ihr Haar schoren, um es dem Neptun zu
weihen, versuchte er, sein eigenes für den Gott auszureißen, dabei
Jahve um Vergebung für den Götzendienst bittend.
Riesige Wellen waren; sie kamen,
schien es dem Demetrius, von allen Seiten. Hatte der Wind sich
gedreht? Jemand sagte, man sei näher an der Küste, man habe das
Blei geworfen und gesehen, daß das Wasser nicht tief sei, man sei
in Gefahr, aufzulaufen, doch mit den Booten könne man Land
erreichen. Sie machten die Boote bereit, aber sie warteten noch,
sie auszusetzen. Zuerst hatte Liban in einem Winkel Halt und
Stütze, dann aber riß es ihn weg, und er rollte wie ein
Toter.
Es ist aus, dachte er. Ich mache
mir keine Hoffnung, ich will nichts berufen, ich will nichts
hoffen. Aber wenn du mir diesmal noch hilfst, Jahve, nur noch dies
einzige Mal, dann verzichte ich darauf, den Laureol in Rom zu
spielen, dir zu Ehren verzichte ich darauf. Hilf mir lieber nicht,
aber laß es gleich aus sein. Ertrinken ist gräßlich, man kann nicht
mehr atmen, ich kann nicht schwimmen. Es ist gut, daß ich nicht
schwimmen kann, auf diese Art wird es schneller aus. Vielleicht
sollte ich mir die Adern öffnen. Mir graut vor dem Blut. Und wenn
Jahve in seiner Gnade doch beschlossen haben sollte, mich zu
retten, will ich ihm nicht voreilig zuwiderhandeln. Auf offener See
sterben ist das Furchtbarste, man hat kein Grab. Seinem bittersten
Feind flucht man: »Daß du auf offener See stürbest«, aber selbst
einen Heiden so zu verfluchen, haben die Doktoren verboten. Man
wird von den Fischen angefressen. Zuerst fressen sie die Augen, ist
nicht in den »Persern« des Äschylus so eine Stelle? Nein, dort ist
sie nicht, aber das ist jetzt gleichgültig, laß mich vorher
sterben, Jahve, und wie kalt es ist. Vielleicht erschlägt mich
einer von den Leibeigenen oder den Matrosen, wenn ich ihm Geld
gebe. Ich will nicht denken, ich will nur beten, aber was soll ich
beten? »Ja und ja, ich habe gesündigt, ja und ja, ich habe
gefrevelt, ja und ja, ich habe gefehlt.« – »Höre, Israel, der Ewige
dein Gott« – aber ich sollte nicht »Höre, Israel« sagen; denn wenn
ich selber glaube, daß dies die Stunde meines Absterbens ist, dann
berufe ich es herauf und beschwöre Jahve, mich zu verderben. Wenn
ich gerettet werde, muß ich ein Stück Holz von dem Schiff
mitnehmen, daß sie mir glauben, was das für ein Sturm war. Sie
glauben es einem nie, wenn man eine Heldentat vollbracht hat. Ich
müßte mir den Kopf kahl scheren, daß sie sehen, daß ich meine Haare
dem Neptun geweiht habe, aber das wäre wieder eine Beleidigung für
Jahve. Unter keinen Umständen darf ich jetzt daran denken, daß auch
nur eine Möglichkeit des Untergangs ist. Wenn ich in Rom den
Laureol spiele, werde ich in der dritten Szene »Kreuz« betonen und
nicht »du«. Und die Maske muß einen halben Zentimeter niedriger
werden. Ich muß atmen, dann wird die Übelkeit besser. Wenn ich
stark atme und die Arme ausstrecke, dann rolle ich auch weniger.
Oh, da kommt schon wieder eine Welle. Wir haben es uns zu einfach
vorgestellt, Marull und ich, Seeräuber zu sein. Wenn man denkt, daß
die in einem solchen Sturm auch noch kämpfen müssen. Wäre es nur
schon aus.
Als Liban so weit gedacht hatte,
gab es einen scharfen Ruck und einen ungeheuren Krach. Das Schiff
war aufgelaufen. Geschrei war. In aller Eile setzte man die Boote
aus. Demetrius, trotzdem er wußte, daß es aussichtslos war, schrie,
sie sollten ihn mitnehmen. Die Boote stießen ab, ohne ihn. Auf der
»Argo« waren ein paar Dutzend Menschen zurückgeblieben, Leibeigene,
Kranke, Hilflose. Die Wellen drückten jetzt das stark beschädigte
Hinterteil des Schiffes vollends ein. Demetrius mit einigen andern
kroch zu der Stelle, die sie für die sicherste hielten, und
klammerte sich fest. Der Sturm schien ein wenig nachzulassen, aber
immer wieder kam eine Welle, schlug über ihm zusammen, drohte ihn
wegzureißen, er japste nach Atem.
Noch bevor das Schiff vollends
gesunken war, kamen Boote mit Menschen. Demetrius dachte, nun sei
er gerettet; vielleicht auch dachte er es nicht, er hatte keine
klaren Gedanken mehr. Waren, die da kamen, Laureol und seine
Seeräuber? Sie hatten es eilig, sie hielten sich nicht viel mit
Gerede auf, sie schleppten in hurtigem Hin und Her fort, was sie
noch an Transportablem fanden. Um die Menschen kümmerten sie sich
nicht; vielleicht schienen sie ihnen nicht wert, als Leibeigene
aufgefüttert zu werden, vielleicht war es ihnen zu gefährlich, sie
zu Leibeigenen zu machen. Die Menschen der Boote waren auf ihre Art
gutmütig; dem einen oder andern der Schiffbrüchigen hauten sie auf
den Kopf, damit er nicht zu lange zu leiden habe. Den Demetrius
beachteten sie nicht. Die Strandbevölkerung hatte in den nächsten
Tagen viel zu tun. Es wurde allerhand angetrieben. Da war zum
Beispiel ein Kasten aus Ebenholz, mit Elfenbeinreliefs ausgelegt,
die Schmückung irgendeines Halbgottes darstellend, und versehen mit
den Initialen D. L. Dieser Kasten schien den Strandleuten sehr
kostbar; seinen Zweck freilich erkannten sie nicht, sie stritten
lange darüber. Dem Demetrius Liban hatte er als Schminkkasten
gedient. Auch ein Etui mit den Initialen D. L. wurde angetrieben,
das sehr wertvoll aussah und ihnen große Hoffnung erweckte; aber
als sie es begierig öffneten, war nichts darin, nur ein verwelkter
Kranz.
Josef war froh, Justus noch in Cäsarea
anzutreffen.
Sie saßen am Hafenkai, vor ihnen
lag das Schiff »Glück«, das Josef übermorgen nach Italien
zurückbringen sollte. Lärm und Menschen waren um sie. Aber Josef
sah nur das hagere, scharfe, gelbgraue Gesicht des
Justus.
Der begrüßte es, daß Gamaliel
endlich zu einer Aktion gegen die Minäer ausgeholt hatte.
»Wahrheit«, konstatierte er, »kann den Menschen ohne eine
Beimengung von Lüge nicht beigebracht werden. Die Lüge, die die
Doktoren der Wahrheit beimengen, ist weniger gefährlich als die der
Minäer. Der Verzicht auf das Weltbürgertum fälscht die jüdische
Idee, aber der Verzicht auf den Messias, der da kommen soll,
fälscht sie noch mehr. Denn das Erscheinen dieses Messias muß durch
das strenge Leben jedes einzelnen erst erkämpft werden, so daß also
der Glaube, der Messias sei bereits erschienen, einem Verzicht auf
die Idee des Fortschritts gleichkommt. Wer annimmt, das
Tausendjährige Reich sei bereits da, kann es sich füglich schenken,
weiter darum zu kämpfen. Es ist gut, daß Gamaliel gegen eine Lehre
vorgegangen ist, die ihre Anhänger ermutigt, sich von dem Kampf um
den Fortschritt zu drücken.«
Josef, ihn von der Seite her
betrachtend, haftete noch an seinen ersten Worten. »Sie glauben im
Ernst«, fragte er, »daß eine Wahrheit nur weitergegeben werden
kann, indem man ihr Lüge beimischt? Sie glauben also, daß, was
bleiben soll, ein Gemenge sein müsse aus Wahrheit und Lüge? Wollen
Sie, daß ich das für mehr nehme als für einen
Aphorismus?«
Justus wandte ihm höhnisch das
Gesicht zu: »Sie gelten als ein großer Schriftsteller, Flavius
Josephus, und haben mit dreiundvierzig Jahren noch nicht die
Elemente unseres Handwerks begriffen? Schauen Sie sich die
Messiaslegende der Minäer an. Was die Minäer da erzählen, ist voll
offenbaren Widerspruchs; jeder Einsichtige muß begreifen, daß es so
nicht gewesen sein kann, und noch leben Leute aus Jerusalem und
Galiläa, die das gesehen haben müßten, was die Minäer berichten,
und die es nicht gesehen haben. Beweist das nicht, wieviel stärker
eine Legende ist, die den Menschen bequem eingeht, als eine
unbequeme historische Wahrheit? Die Wirklichkeit ist bloßer
Rohstoff und zum Gebrauch für das Gefühl wenig geeignet. Sie taugt
erst, wenn sie zur Legende verarbeitet ist. Wenn eine Wahrheit sich
halten soll, muß sie mit Lüge legiert werden.«
Der Lärm um sie hatte zugenommen.
Bekannte winkten Josef den Gruß. Der, während er ihn erwiderte, sah
unver wandt auf den andern, der dünn und steif dasaß, befremdlich
durch den fehlenden Arm, unangenehm kichernd, wie das in letzter
Zeit seine Gewohnheit war. Josef hörte gespannt zu, aber er konnte
die Worte des Justus so schnell nicht fassen und fragte, ein wenig
töricht: »Was sagten Sie da, mein Justus?« Und Justus, wie einem
Kinde, das schwer begreift, wiederholte ihm, jedes Wort betonend
und in Aramäisch, während er bisher griechisch gesprochen hatte:
»Wenn eine Wahrheit sich halten soll, muß sie mit Lüge legiert
werden.«
Doch Josef, gleichzeitig mächtig
gelockt und gewaltig erzürnt, hielt ihm vor: »Das sagen Sie mir,
Justus, der am bittersten jeden Kompromiß verlachte?« Justus aber
erwiderte ungeduldig: »Verstellen Sie sich? Wollen Sie mich absolut
nicht verstehen? Rede ich einem Kompromiß das Wort? Die reine,
absolute Wahrheit ist unerträglich, niemand hat sie, sie ist auch
nicht erstrebenswert, sie ist unmenschlich, sie ist nicht
wissenswert. Aber jeder hat seine eigene Wahrheit und weiß auch
genau, was seine Wahrheit ist; denn sie ist scharf umrissen und
einzig. Und wenn er von dieser seiner individuellen Wahrheit nur um
ein Jota abweicht, dann spürt er es und weiß, daß er eine Sünde
begangen hat. Sie nicht?« fragte er herausfordernd.
»Was nützt es«, fragte bitter
Josef, »eine Wahrheit zu verkünden, wenn es doch nur eine
subjektive Wahrheit ist, nicht die
Wahrheit?«
Justus schüttelte über soviel
Unverstand den Kopf. Dann, ein wenig ungeduldig, erklärte er: »Die
Wahrheiten, die der Politiker heute in Taten umsetzt, sind die
Wahrheiten, die der Schriftsteller gestern oder ehegestern
verkündet hat. Ist Ihnen das nicht bekannt? Und die Wahrheiten, die
der Schriftsteller heute verkündet, wird ein Politiker morgen oder
übermorgen in Wirklichkeit umsetzen. Die Wahrheit des
Schriftstellers ist unter allen Umständen reiner als die des
Tatmenschen. Der Tatmensch nämlich, der Politiker, hat auch im
besten Fall nicht die Chance, seine Konzeption, seine Wahrheit,
rein zu verwirklichen. Sein Material sind die andern, sind die
Massen, ihnen muß er immerfort Konzessionen machen, mit ihnen muß
er arbeiten. Die Massen aber sind ihrer Natur nach dumm. Der
Politiker arbeitet also mit dem undankbarsten, unanständigsten
Stoff, den es gibt: er muß, der Arme, seine Wahrheit statt mit
einer anständigen Lüge immerzu mit der Dummheit der Massen
versetzen. So bleibt, was er auch macht, brüchig, zum Untergang
verurteilt. Die Chance des Schriftstellers ist besser. Gewiß ist
auch seine Wahrheit ein Gemenge aus den Fakten, der Umwelt, der
Realität, und seinem eigenen, unbeständigen, gauklerischen Ich;
aber diese seine subjektive Wahrheit darf er wenigstens rein ans
Licht stellen, ja, er darf eine gewisse Hoffnung hegen, daß sie
allmählich zur absoluten Wahrheit wird, einfach durch ihre Dauer;
denn da die Tatmenschen immerzu mit dieser seiner theoretischen
Wahrheit herumexperimentieren, besteht eine leise Möglichkeit, daß
einmal, unter günstigen Umständen, die Wirklichkeit sich seiner
Theorie fügt. Die Taten vergehen, die Legenden bleiben. Und die
Legenden schaffen immer neue Taten.«
Lastträger liefen hin und her,
sie beluden das Schiff »Glück«. Josef schaute ihnen zu, doch nur
sein Auge nahm sie wahr, er war beschäftigt mit dem, was Justus
sagte. Der wandte ihm jetzt sein Gesicht voll zu und fuhr fort,
halb bedauernd, halb bösartig: »Freilich ist es dem großen
Schriftsteller auch nicht immer leicht, seinen Wahrheiten treu zu
bleiben. Es sind zumeist unbehagliche Wahrheiten, und sie gefährden
seinen Erfolg in die Breite. Erfolg in die Breite hat auch ein
Schriftsteller gewöhnlich nur, wenn er seiner eigenen Erkenntnis
Bestandteile aus der Dummheit der Masse beimischt.«
Josef fühlte sich unbehaglich.
Justus, sehr höflich jetzt und wieder griechisch, sagte: »Glauben
Sie, bitte, nicht, mein Josephus, daß ich mich über Sie lustig
mache. Warum sollten Sie nicht um des Erfolges willen schreiben?
Daß Sie gewisse unanständige Lügen geschrieben haben, hat Ihnen
eine Büste im Friedenstempel eingebracht. Fast alle werden finden,
das lohnt.«
Und nochmals änderte sich sein
Gesicht, er nahm eine listige und zugleich resignierte Miene an und
rückte dem Josef näher. »Ich will Ihnen ein Geheimnis mitteilen«,
sagte er. Und mitten in dem Lärm des Hafens von Cäsarea, als wären
sie ganz allein, brachte der dünne, kümmerliche, krüppelhafte Mann
seinen Mund ganz nahe an Josefs Gesicht und sagte ihm sein
Geheimnis ins Ohr: »Auch die Verbreitung der reinsten subjektiven
Erkenntnis macht einem keine unbedingte Freude mehr, wenn man erst
auf folgendes gekommen ist: daß alle Erkenntnis nur aus dem Streben
entsteht, Beweisgründe für die eigene Art zu sammeln, daß alle
Erkenntnis nur Mittel ist, das eigene Wesen herauszuarbeiten, gegen
die Welt zu behaupten. Und wenn eine Erkenntnis nicht geeignet ist,
das eigene Ich zu bestätigen, dann deutelt man so lange an ihr
herum, bis sie es ist.« Und kichernd, nach der Melodie eines
beliebten Gassenhauers, sang er ein Sprüchlein vor sich hin, das
wahrscheinlich erst entstand, während er es sang: »Dir erkennbar
ist nur, was geeignet ist, / Dir jeweils zu bestätigen, / Daß du
dich nach Lust betätigen / Und sein darfst, was du bist.«
Josef wagte nicht, dem andern in
die Augen zu schauen. »Warum verkleinern Sie unsere Arbeit,
Justus?« klagte er.
»Unsinn«, lehnte unwirsch Justus
ab. »Ich halte meine Arbeit nicht für gering.«
Josef aber, so tief ihn die Worte
des andern trafen, spürte das Bedürfnis, solche Worte immer wieder
zu hören. Er schaute auf das Schiff »Glück«. »Wollen Sie mit mir
nach Rom kommen, Justus?« bat er. »Ich brauche Sie.«
»Ja«, sagte barsch
Justus.
FÜNFTES
BUCH
Der Weltbürger
s war
kalt, trüb und windig, als Josef mit Justus in Rom ankam. Trotzdem
spürte er schon in der Sänfte, die ihn
nach
seinem Hause trug, ein tiefes Wohlgefühl, wieder in der Stadt zu
sein. Er begriff nicht mehr, wie er vor kaum acht Monaten Judäa als
seine Heimat hatte grüßen, wie er hatte fürchten können, in Rom
werde er sich fremd fühlen. Gewiß, hier ist alles kahler, farbloser
als in Judäa. Aber man kann nicht immer in einer Luft leben, die so
anstrengend ist und zehrend wie die seiner Heimat, man kann nicht
sein Dasein zu einem ewigen Buß- und Gerichtstag machen. Seine
Reise nach Judäa war ein großes, heroisches Zwischenspiel gewesen.
Hier in Rom ist sein Alltag, tätig, nüchtern, schmutzig. Hierher
gehört er, der Welt gehört er, nicht der kleinen,
leidenschaftlichen Provinz Judäa.
Noch am gleichen Tag nötigte er
Justus, mit ihm durch die Stadt zu gehen. Noch tiefer jetzt
schmeckte er das Gefühl der Heimkehr. Jedem Haus, jedem Stein hätte
er zunikken wollen. Die Menschen bis herunter zu den schreienden
Straßenhändlern, selbst die Tempel und Statuen der Götter gehörten
zu ihm, waren ein Teil von ihm. Er war Judäa dankbar, daß es ihn so
tief spüren ließ, wie sehr er Rom und der Welt gehörte.
Justus war schweigsam. Er ging
durch die Stadt, ein kritischer Beschauer; er war lange nicht hier
gewesen. In seinem Alexandrien war Leben und Verkehr bewegter. Doch
die neue Dynastie, Vespasian und Titus, hatte es verstanden, auch
am äußern Bilde Roms sichtbar zu machen, daß hier das Zentrum des
Erdkreises war. Josef wies seinem einsilbigen Begleiter die neuen,
weiß und goldenen Gebäude der Flavier, als wären sie sein eigenes
Werk, prahlte mit dem Wachstum und der Größe der Stadt, seiner
Stadt. Als sie an das Forum gelangten, kam gar die Sonne ein wenig
heraus, man konnte unter der Rednertribüne an der Sonnenuhr, die
man als das Herz der Welt ansah, die Zeit ablesen: Josef strahlte
kindlich übers ganze Gesicht.
Aber als sie zum Marsfeld kamen,
war es wieder wolkig, ein Geriesel aus Schnee und Regen kam vom
Himmel, es wurde richtig winterlich, und sie beeilten sich, unter
die neuen, nach dem Brand wiederhergestellten Arkaden zu flüchten.
Die Leute dort fröstelten in ihren Mänteln, hatten rote Nasen,
räusperten sich, hüstelten. Josef hielt seine Bekannten an. Die
standen ihm nur widerwillig Rede, bemühten sich, kurz zu sein,
traten ungeduldig von einem Fuß auf den andern, strebten aus der
Kälte fort. Doch Josef suchte das Gespräch hinauszuziehen, fragte
sie dies und jenes, stellte ihnen Justus vor. Die lateinischen
Laute, vor denen ihm in Judäa unbehaglich gewesen war, klangen ihm
lieblich ins Ohr, seine Augen hatten Freude an den römischen
Gesichtern, den römischen Kleidern. Diese Leute waren römische
Bürger, und römischer Bürger war er.
Justus blieb schweigsam, aber er
machte sich nicht über Josef lustig. Sie gingen jetzt über das
Forum des Vespasian. Ein weißes, mächtiges Gebäude stieg vor ihnen
auf. »Der Friedenstempel?« fragte Justus, aber es war mehr eine
Konstatierung als eine Frage. Die andern neuen Bauten hatte Josef
vielwortig erklärt, an diesem wollte er einsilbig vorbei. Doch
Justus blieb stehen. Leicht fröstelnd, behindert durch den
fehlenden Arm, hüllte er sich dichter in seinen Filzmantel,
betrachtete das Gebäude. »Wollen wir nicht hineingehen?« forderte
er Josef auf. Der schaute ihm schräg ins Gesicht, argwöhnisch,
ängstlich vor dem Augenblick, da Justus vor seinem Ehrenbild stehen
werde. Allein das hagere Antlitz des Justus zeigte keinen Spott,
nichts als Wißbegier. Josef zuckte die Achseln, sie stiegen die
Stufen hinauf. Gingen vorbei an der Friedensgöttin, die sanft und
ruhevoll im Schutz ihrer beiden Kaiser stand, vorbei an den
prunkenden Gemälden und Statuen, an den Trophäen des jüdischen
Krieges, dem siebenarmigen Leuchter, den Schaubrottischen. Justus
ging langsam, betrachtete alles genau, atmete stark. Keiner von
beiden sagte ein Wort.
Sie durchschritten die
Bibliothek. Vor ihnen öffnete sich weit und still ein Saal. »Der
Ehrensaal?« fragte Justus. Josef nickte. Oft war er und in
peinlichen Situationen vor das Antlitz von Männern getreten, die
sein Schicksal in ihrer Hand hatten, doch nie hatte er ein so
prickelndes Unbehagen gespürt wie jetzt, da er mit Justus vor seine
Büste treten soll.
Groß und ruhig lag die Halle, die
wenigen Menschen, die sich an diesem Tag hergewagt hatten, verloren
sich in ihr, fröstelnd in der Ecke hockte der Diener. Sie traten
ein. Standen vor den Erztafeln, auf denen die Namen der
einhundertachtundneunzig eingemeißelt waren, die als die großen
Schriftsteller aller Zeiten galten. Lange verweilte Justus, las
sorgsam Namen für Namen, seine Lippen bewegten sich, während er
las. Josef beschaute ihn gespannt, er zitterte vor Kälte, dabei
schwitzte er vor Erregung, das Herz stieß ihm gegen die Rippen.
Justus stand und las, und Josef sah ihn an, und Justus lächelte
nicht. Wieder überkam Josef das erbärmliche Gefühl des Schuljungen,
der seine Aufgabe nicht gelernt hat.
Endlich löste sich Justus von den
Tafeln. Sie machten sich daran, die Bildsäulen zu beschauen, eine
nach der andern, wie sie die eirunde Wand des Saales entlang
standen. Jetzt waren sie am Kopf des Josef. In seinem korinthischen
Erz schimmerte er, über die Schulter gedreht, hager, fremdartig,
augenlos und doch voll wissender Neugier, hoch und hochfahrend. Der
lebendige Josef sah jetzt keineswegs hochfahrend aus, seit langem
hatte ihn keiner so klein gesehen. Was suchte sein Bild unter den
Bildern dieser andern? Sein Ruhm war erschlichen; er war, nun
dieser Justus das Bild beschaute, wie ein Dieb vor dem
Bestohlenen.
Aber Justus, nach einem endlosen
Schweigen, sagte nur: »Dieser Basil ist ein großer Künstler.« Und
als sie den Saal verließen, sagte er: »Einer fehlt, und es wäre
vielleicht auch für Sie gut gewesen, wenn seine Büste vor der Ihren
hier aufgestellt worden wäre.« – »Ja«, sagte demütig Josef, und er
begriff selber nicht, wie er hatte zulassen können, daß ihm ein
Bild in diesem Raum errichtet wurde, solange kein Bild des Philo
darin stand.
Er fragte sich, was wohl in
Justus vorgegangen sein mochte, während er das Ehrenbild beschaute.
Justus war nicht neidisch, dazu war er zu stolz, aber es wäre ein
Wunder gewesen, wenn ihn nicht die Läufte der Welt mit Bitterkeit
erfüllt hätten. Justus blieb, gegen seine Gewohnheit, dunkel und
sagte, während sie den Tempel verließen, nur: »Man hat es nicht
leicht, als Jude demütig zu bleiben. Man braucht nicht viel
Prophetentum, bloß ein wenig literarisches Urteil, um zu wissen,
daß von all denen, die in unserm Jahrhundert griechisch schreiben,
nur drei ihre Zeit überleben werden: der Jude Philo, der Jude
Justus von Tiberias, der Jude Flavius Josephus.« Er kicherte nicht,
es war kein Spott in seiner Stimme.
Am nächsten Tag gab er dem Josef
ein kleines Buch, die ersten zweihundert Seiten seiner Darstellung
des jüdischen Kriegs. Es war für Josef ein Anerkenntnis und eine
Bestätigung, daß Justus sie ihm gab. Er saß die Nacht hindurch wach
über dem Manuskript. Erst wollte er es atemlos durchjagen, aber das
ging nicht, der scharfe, dichte Stil des Werkes zwang den Leser,
jedes Wort zu überdenken. Langsam also las er die klaren,
gemeißelten Sätze des andern, die belegt waren mit Ziffern und
Daten, und während er las und bewunderte, spürte er schmerzlich die
eigene hinter soviel falschem Glanz verdeckte
Unzulänglichkeit.
Dennoch drückte ihn das Werk des
Justus nicht nieder. Ihm selber fehlte vieles, was jener besaß,
doch vieles eignete ihm, was jenem mangelte. Jener hatte die
schärfere Intelligenz, den weiteren Blick, allein ihm selber
verdichtete sich, was er erlebte, zu Bildern und Gestalten von
größerer Schaubarkeit. Und das Werk des Justus wurde ihm zum
Stachel, der ihn nicht verletzte, sondern spornte.
So erfreut Josef seine Römer begrüßt hatte,
mit solcher Unruhe sah er der ersten Begegnung mit den römischen
Juden entgegen. Die Angelegenheit der Josef-Synagoge war noch immer
nicht geklärt. Nach dem Sturm von Unwillen und Gelächter, den sein
Verzicht auf den Knaben Paulus erregt hatte, war es zweifelhaft, ob
Doktor Licin seine Absicht, der Synagoge den Namen Josefs zu geben,
werde durchführen können. Voll unangenehmer Spannung also empfing
Josef die Herren Cajus Barzaarone und Doktor Licin, als sie sich
bei ihm meldeten.
Aber bald stellte sich heraus,
daß die Herren vor Josef mehr Schuldbewußtsein hatten als der vor
ihnen. Der joviale Cajus Barzaarone ließ während der
Begrüßungssätze seine listigen Augen spähend über Josefs Gesicht
gleiten, seine Gedanken zu erraten, und Josef merkte bald, daß die
ehrenvolle Aufnahme, die er in Jabne gefunden, in Rom Eindruck
gemacht hatte. Beredt rühmte der alte Vorsteher der
Agrippenser-Synagoge die Weisheit des Großdoktors Gamaliel. In
diesem Manne war den Juden nach soviel Fährnissen ein großer Führer
erstanden, vergleichbar dem Esra und dem Nehemia. Zuerst hatten die
römischen Gemeinden gefürchtet, ein so junger Herr werde sich in
dieser schwierigen Lage zu Unüberlegtheiten hinreißen lassen.
Allein Gamaliel verband die Kraft eines jungen mit der Weisheit
eines alten Mannes. Mit wie fester Hand hält er die
auseinanderstrebenden Juden zusammen. Mit welch meisterlicher
Taktik hat er diese Minäer, deren unsinnige Propaganda die Römer
immer von neuem gegen die Juden aufbrachte, aus der Gemeinschaft
hinausgedrängt. Wie schmiegsam weiß er bei aller Autorität seine
Theorie den Forderungen der Wirklichkeit anzupassen. Und Cajus
Barzaarone erzählt ein Beispiel aus seiner eigenen Erfahrung. Da
der Großdoktor so streng auf die Befolgung der Riten hielt, hatten
die orthodoxen Hitzköpfe in Rom einen neuen Vorstoß gegen ihn,
Cajus Barzaarone, gewagt, hatten die alte Geschichte mit den
Tierornamenten an seinen Möbeln aufgewärmt, hatten versucht, ihn
auf dem Umweg über Jabne zu stürzen. Aber der junge, weise Gamaliel
hatte ihren Umtrieben schnell ein Ende gemacht. Selbstverständlich
ist es besser, die erste Möbelfabrik Roms bleibt in jüdischen
Händen, auch mit Tierornamenten, als daß das Präsidium der
einflußreichen Tischlergewerkschaft an einen Goi übergeht. Ein
weiser Gesetzeslehrer, ein großer Politiker.
Keine Rede war mehr davon, daß
man einmal geschwankt hatte, ob man dem neuen Bethaus am linken
Tiberufer noch den Namen des Josef geben könne. Vielmehr lud ihn
Doktor Licin dringlich ein, die Fortschritte des schönen Baus bald
zu besichtigen.
Eine schwere Sorge fiel von Josef
ab. Wie die Dinge jetzt liegen, werden die römischen Juden seiner
neuen Ehe mit Mara sicher keine Schwierigkeiten bereiten.
Er ging zu Alexas. Es war keine
leichte Aufgabe, diesem Manne, dem er befreundet war, mitzuteilen,
was er mit Mara verabredet hatte. Der Glasfabrikant empfing ihn mit
großer Spannung, fragte ihn nach allen Kleinigkeiten des judäischen
Lebens; aber er zögerte, die Rede auf Mara zu bringen, offenbar
hatte er Angst davor, und Josef selber drückte herum.
Sie saßen lange. Als sie über
Judäa nichts mehr zu sprechen wußten, sprachen sie von Rom. Alexas
erzählte Josef von den Gerüchten, die am rechten Tiberufer, unter
den Juden, über Kaiser Titus umliefen. Josef hatte bereits davon
gehört, daß der Gesundheitszustand des Kaisers zu wünschen
übriglasse. Die Juden deuteten seinen zunehmenden Verfall auf ihre
Art aus, raunten davon, daß die Hand Jahves den Zerstörer seines
Tempels getroffen habe. Titus habe sich gebrüstet, Jahve sei Herr
nur auf dem Wasser, darum auch habe er den Pharao Ägyptens nur bei
dem Durchzug durch das Rote Meer vernichten können; zu Lande aber
sei er, Titus, des Gottes ohne weiteres Herr geworden. Um ihn für
seinen Übermut zu strafen, habe ihm Jahve jetzt eines seiner
kleinsten Lebewesen gesandt, ein winziges Insekt, ihn zu
vernichten. Das sei ihm durch die Nase ins Hirn gedrungen, lebe
dort, wachse, ängstige den Kaiser bei Tag und Nacht, bis es ihn
endlich töten werde.
Was immer diesen Gerüchten
zugrund liegen mochte, so viel wußte Josef: glücklich war der
Zerstörer Jerusalems nicht. Allein auch dieser Alexas, ein kluger,
vernünftiger, nach dem Schönen und Guten strebender Mann, war wohl
nicht glücklich. Er hing an seinem Vater, er hing an seiner Frau
und an seinen Kindern, nur um seines Vaters willen war er in der
Stadt Jerusalem geblieben, deren Untergang er früher und klarer als
die andern vorausgesehen; aber er selber war merkwürdigerweise
gerettet worden, und umgekommen waren die, um deren Rettung willen
er geblieben war. Jetzt hat er alle seine Hoffnungen auf Mara
gesetzt. Josef brachte es nicht über sich, ihm von seiner
bevorstehenden Heirat zu erzählen.
Alexas forderte ihn auf, mit in
die Fabrik hinüberzukommen. Der Glasfabrikant hatte sich mit der
gewohnten Intensität auf seine Arbeit geworfen; er hatte die
Verkaufsräume in die Arkaden des Marsfeldes verlegt, so daß das
ganze Gebäude in der Subura für die Werkstätten frei wurde. In
Schiffsladungen importierte er pulverisierten Quarzkiesel vom
Flusse Belus, und mit Hilfe dieses Materials und seiner sidonischen
Vorar beiter führte er einen aussichtsreichen Kampf gegen die
einheimische Industrie. In der Stadt selbst fabrizierte er jetzt
jene kunstvollen Luxusgläser, die man bisher aus Ägypten und
Phönizien hatte kommen lassen müssen.
Er führte Josef durch die Fabrik.
Lange und hingegeben schaute Josef der Arbeit der großen
Schmelzöfen zu. Er hockte nieder, sah in die bunte, von vielerlei
Stoffen genährte Flamme. Alexas mahnte ihn zur Vorsicht, er selber
sei die Flamme gewöhnt, aber die Augen des Ungewöhnten litten
darunter. Doch Josef konnte den Blick nicht abwenden. Er sah die
Flamme, er sah Sand und Soda und schaute zu, wie diese Stoffe
inmitten der ungeheuren Hitze sich mischten und zu einer neuen
Masse wurden.
Und während er so hockte und in
die Flamme starrte, konnte er endlich dem Alexas erzählen. Er
erzählte ihm, wie er Mara angetroffen und was er mit ihr besprochen
hatte.
Alexas hörte trüb und resigniert
zu. Es war ihm eine liebe Hoffnung gewesen, nach Judäa
zurückzukehren, Mara zu ehelichen, sein Alter mit ihr im Lande
Israel zu verbringen. Nur hatte er Mara ein, zwei Jahre Zeit lassen
wollen, bis sie den Tod des Jungen verwunden habe, um ihr dann erst
die Heirat von neuem anzubieten. Er hatte zuviel Takt, das war es.
Mit Takt kam man nicht weiter. Wenn die Römer taktvoll gewesen
wären, hätten sie nie die Welt erobert. Der andere war auch nicht
taktvoll gewesen. Darum hat er sich Mara geholt.
Alexas hockte da; trotzdem er die
Schultern fallen ließ, sah er breit und stattlich aus. Er hatte
wieder ein wenig Fett angesetzt. Es war seltsam, dachte Josef, wie
der Glasfabrikant mit zunehmendem Alter seinem Vater ähnlicher sah,
trotzdem der eigentlich bis zu seinem Ende zufrieden und
zuversichtlich gewesen war, Alexas selber aber von Jugend auf
umschattet von dem Wissen um das Elend der Welt und die Brüchigkeit
der menschlichen Dinge.
Übrigens spürte Alexas nicht
einmal jetzt Zorn gegen Josef. Er stand vielmehr schwerfällig auf,
verneigte sich mehrmals vor Josef, der immer noch in das
vielfarbige Feuer starrte, sein Schatten, von der zuckenden Flamme
grotesk verlängert und verkürzt, neigte sich mit ihm, und er sagte:
»Ihnen, mein Doktor Josef, ›Heil‹ oder ›Gott segne dich‹ zu
wünschen erübrigt sich. Sie sind in Wahrheit ein von Geburt an
Gesegneter.«
Auch Josef erhob sich, dehnte ein
wenig die eingeschlafenen Glieder. Es fiel ihm nicht leicht, die
Worte des andern mit der gebotenen Demut anzuhören und zu erwidern.
Er war voll Stolz: Alexas hatte recht.
Marull, als Josef ihn aufsuchte, um mit ihm
über die Erwerbung des Bürgerrechts für Mara Rates zu pflegen, war
bissiger Laune. Seine Zahnschmerzen hatten sich mit Beginn des
Winters verschlimmert. Zudem war das Schiff »Argo«, auf dem sein
Freund Demetrius Liban die Rückreise von Judäa angetreten hatte,
längst überfällig. Ein wenig tröstete es ihn, daß eine riesige
Weizenspekulation, die er zusammen mit Claudius Regin unternommen
hatte, ungewöhnlich guten Erfolg brachte; das erfreulichste war,
daß bei diesem Geschäft viele der republikanischen Senatoren,
seiner Feinde, übel hereingefallen waren. Aber leider konnte man
sich nicht lange an diesem ergötzlichen Gedanken weiden, der Geist
war willig, sich die Bilder der Hereingefallenen immer wieder
vorzustellen, doch das Fleisch war schwach, die Zahnschmerzen
zerknabberten schnell die spärlichen Minuten seines Behagens und
trieben den Sinn in unlustige Betrachtungen, zum Beispiel über das
Schiff »Argo« und seinen Freund Demetrius Liban.
Ausführlich, vor Josef,
verbreitete er sich über das Pech, das er mit seinen Freunden
hatte. Erst hatte Johann von Gischala ihn verlassen, nur um in
dieses alberne judäische Attentat hineinzurennen, von dessen Folgen
er sich, wie man dem Marull mitteilte, kaum je ganz erholen wird.
Und jetzt war, wie es schien, Demetrius in ein noch ferneres Land
verschwunden als Johann; die »Argo« war verschollen, und es war
wenig Hoffnung, daß Liban je wieder auftauchen werde. Noch auf der
Heimreise, von Ephesus aus, hatte der Schauspieler ihm geschrieben,
wie sehr er sich darauf freue, jetzt in Rom ein zweites Mal den
Laureol zu spielen, und das Essen schmeckte einem nicht mehr, wenn
man daran dachte, daß der Schreiber vielleicht schon ein Fraß der
Fische gewesen war, als der Brief den Empfänger
erreichte.
Josef, mit einer kleinen Reue,
sagte sich, daß er diese ganzen Wochen hindurch den Schauspieler
kaum vermißt habe. Dabei war sein Leben mit dem des Liban eng
verknüpft. Niemals ohne ihn hätte er die Kaiserin Poppäa
kennengelernt, wer weiß, ob er ohne ihn hochgekommen wäre, wer
weiß, wann und wie der jüdische Krieg ohne seine Begegnung mit dem
Schauspieler ausgebrochen wäre, und Demetrius seinesteils wäre ohne
ihn nicht nach Judäa gefahren und untergegangen.
Marull sprach längst weiter.
Sollte, überlegte er, Demetrius wirklich einmal zurückkehren, dann
seien die Chancen für den »Laureol« ausnehmend gut. Abgesehen von
der Sensation, die die Heimkehr des verloren Geglaubten erregen
werde, könne jetzt, seitdem alle Welt wisse, daß Titus nie mehr
ganz genesen werde, unmöglich ein von dem Prinzen Domitian
protegiertes Stück durchfallen. Umständlich befragte er den Josef
nach den Einzelheiten der Aufführung in Flavisch Neapel. Besonders
interessierte ihn, ob Demetrius in der dritten Szene das Wort
»Kreuz« oder das Wort »du« betont habe. Daß Josef es ihm nicht
sagen konnte, enttäuschte ihn. Nun wird er es wohl niemals mehr
erfahren.
Endlich ließ er von den
Erinnerungen an Demetrius ab, und Josef konnte von seinen eigenen
Angelegenheiten reden. Marull schien amüsiert über das verzwickte
Hin und Her seiner Wünsche und Begierden. So geht das: erst hat
Josef mit Opfern die Scheidung von Mara durchgesetzt, jetzt wendet
er Zeit, Geld, Nerven, Leben daran, sie wieder zu heiraten; denn
die Adoption einer volljährigen Jüdin sei eine umständliche,
aufreibende Sache. Ein Mittel freilich gebe es, das Verfahren
abzukürzen, die voraussichtlichen Widerwärtigkeiten und den
drohenden Skandal zu vermeiden. Da nun einmal der Kaiser einen
Narren an ihm gefressen zu haben scheine, wie wäre es, wenn er, wie
das letztemal, geradewegs zu ihm ginge?
Josef meinte bedenklich, nach
allem, was er höre, sei der Kaiser krank, schwer zugänglich,
schrullenhaft. Marull musterte ihn durch den blickschärfenden
Smaragd. »Sie haben recht gehört, mein Josephus«, bestätigte er.
»Die Absonderlich keiten der Majestät haben während Ihrer
Abwesenheit zugenommen. Der Kaiser versinkt immer öfter unversehens
in sich selber und hört und sieht nichts mehr von den Menschen und
Dingen ringsum. Die Prinzessin Lucia ist die einzige, deren
Gegenwart er auf die Dauer ertragen kann.«
Und dann stellte sich zur
Verblüffung des Josef heraus, daß die Leute vom rechten Tiberufer
nicht ganz unrecht hatten. »Sie wissen«, fuhr nämlich Marull fort,
»ich bin durch meine Zahngeschichten genötigt, manchmal den Doktor
Valens zu konsultieren. Der, während er mir im Munde herumkratzt,
erzählt mir kuriose Geschichten. Der Kaiser hat lange Anfälle
heftigen Weinens. Dann wieder verlangt er dringlich nach Lärm.
Einmal hat er mitten in der Nacht das Arsenal aufgesucht, hat die
ganze Belegschaft alarmieren, alle Werkstätten in vollen Betrieb
setzen lassen. Mitten in der Nacht. Er wünschte, und zwar sofort,
betäubenden Lärm um sich zu haben. Dem erstaunten Valens hat er,
halb im Scherz, halb im Ernst, erklärt, wenn das Tierchen in seinem
Hirn den Lärm höre, dann erschrecke es und gebe Ruhe.« Marull, nach
einem kleinen Schweigen, schloß sachlich: »Auf alle Fälle, mein
Josephus, tun Sie gut, sich um die Audienz möglichst bald zu
bewerben.«
»Beim Herkules, mein Junge«, rief Lucia, als
Josef bei ihr eintrat, »was haben Sie für einen schönen Bart
gekriegt.« Josef trug noch den Bart wie in Judäa, viereckig,
ziemlich kurz, kantig, doch nicht gekräuselt und geknüpft wie
früher. Sie ging um ihn herum, betrachtete ihn von allen Seiten.
»Wissen Sie«, wunderte sie sich, »daß Sie dieser Bart viel besser
kleidet? Sie sehen jüdisch aus, doch nicht zu sehr, auch nicht so
kunstvoll und geschniegelt wie unser Agrippa.« Ihr dunkles Lachen,
das Domitian so gern hörte, füllte den Raum. Sie setzte sich ihm
gegenüber, groß, stattlich, mit dem mächtigen Turm ihrer Locken,
Josef wirkte klein neben ihr. »Erzählen Sie von Judäa«, bat sie.
»Jetzt, nachdem wir Ihre Berenike los sind«, gestand sie fröhlich,
»habe ich wieder viel mehr Sympathie für Ihr Land.« Josef erzählte.
Er bemühte sich, anschaulich zu sein, amüsant. Lucia war auch
amüsiert, rückte näher, tätschelte seine Hand. »Gut erzählen können
Sie«, lobte sie ihn. »Und schöne Hände haben Sie auch.«
Josef fühlte sich in seiner
besten Kraft und war kein Verächter des Lebens; doch vor dieser
Lucia und ihrem Überschuß kam er sich arm vor. Sicher hatte sie
nach wie vor ihr Bübchen auf ihre Art gern, sicher auch brachte sie
für Titus wahre Neigung auf: dabei aber war Rom voll von
Erzählungen, wie schamlos sie ihr Gefühl für Paris zeige, den
jungen, eben in Mode kommenden Tänzer. In Gegenwart des Kaisers und
Domitians hatte sie ihn in die Loge beschieden, vor zwanzigtausend
Augen den Arm um seine Schulter gelegt: Sie stammte aus einem
Geschlecht, das den Tod niemals gefürchtet hatte, war selber ohne
Furcht, nahm von jedem Augenblicke, was er bot. Während die meisten
alten Familien mit dem Wachstum Roms verkamen, als hätten sie ihre
Kraft an Stadt und Reich abgegeben, war Lucias Geschlecht mit Rom
gewachsen, und in ihr gipfelte Rom und ihr Geschlecht. Sie war in
Wahrheit dieses Rom der Flavier, strotzend, niemals satt, mit Genuß
immer mehr Leben in sich fressend.
Als Josef ihr von seinem Projekt
sprach, Mara zur Vollbürgerin zu machen und zu heiraten, war sie
amüsiert wie Marull. Allein trotz ihres offensichtlichen
Wohlwollens trug sie Bedenken, Josef vor Titus zu lassen. »Ich
zweifle«, erklärte sie geradeheraus, »ob es klug ist, wenn ich Sie
vor den Kaiser bringe. Der Osten ist ihm nicht gut bekommen, er hat
sich ihm zu tief ins Blut gesetzt, und als er ihn zuletzt
herausriß, blieb eine Narbe, die nicht heilen will. Der Kaiser
Titus hat Judäa nicht vertragen.« Sie wandte ihm ihre großen,
kühnen, weit auseinanderstehenden Augen zu, ihre Stirn unter dem
mächtigen Lockenbau schien rein und kindlich. »Andere vertrügen
Judäa vielleicht besser«, sagte sie langsam, nachdenklich, ihn
unverwandt anschauend. Josef griff stürmisch nach ihrer Hand.
»Nicht«, sagte sie und schlug ihn so kräftig auf die Finger, daß es
schmerzte.
Schon nach drei Tagen wurde er
auf den Palatin beschieden.
Im Vorzimmer, bevor er zu Titus geführt
wurde, suchte ihn der Leibarzt Valens auf. »Sie werden gebeten,
mein Flavius Josephus«, sagte er sehr höflich, »nicht länger als
zwanzig Minuten bei der Majestät zu bleiben.« Josef, leicht
unbehaglich unter dem kalten, abwesenden und doch prüfenden Blick
des Arztes, fragte: »Wer bittet mich?« – »Einer, der das Recht dazu
hat«, sagte dunkel Valens.
Titus war merklich gealtert. Sein
rundes Gesicht war aufgeschwemmt, die Augen in dem breiten Kopf
schienen noch enger, noch mehr nach innen gestellt: mit den kurzen,
in die faltige Stirn frisierten Locken sah der Kaiser aus wie ein
ergreistes Kind. Er freute sich sichtlich, Josef wiederzusehen.
»Endlich, mein Jude«, sagte er. Und »Erzähle mir von unserm Judäa«,
bat auch er.
Josef erzählte. Berichtete, das
Land blühe und gedeihe. Der Gouverneur sei trotz einigen
unangenehmen Eigenheiten der rechte Mann; seine Maßnahmen und die
des sehr klugen Großdoktors wirkten so ineinander, daß die Römer
mit den Juden halbwegs friedlich auskämen.
Der Kaiser schien enttäuscht.
Nicht das wollte er hören. Er wartete offenkundig auf ein
Bestimmtes und scheute sich nur, danach zu fragen. Josef
zergrübelte sich den Kopf, worüber wohl der Kaiser Auskunft haben
wolle, aber er fand es nicht.
Schon waren die zwanzig Minuten
beinahe vergangen, von denen Valens ihm gesprochen hatte. Titus
erschlaffte zusehends, hörte kaum mehr auf das, was Josef sagte,
starrte dahin, wo einmal das Bild der Berenike gewesen
war.
»Warst du dort?« entschloß er
sich plötzlich, gradheraus zu fragen. Josef folgte dem Aug des
Kaisers. »Wo dort?« fragte er zögernd zurück, er dachte, der Kaiser
meine vielleicht, bei Berenike. »In Jerusalem natürlich«, sagte,
ein wenig ungeduldig, Titus, er hatte die Stimme gesenkt, er
flüsterte beinahe.
»Ja, ich war dort«, erwiderte
schließlich Josef. »Nun?« fragte begierig Titus. »Es sind Baracken
der Zehnten Legion dort, einige Wasserstellen und die Mauern der
Türme Hippikus, Phasael und Mariamne.« – »Das ist mir nicht
unbekannt«, höhnte der Kaiser. Josef aber gedachte der großen
Ödnis, er konnte nicht länger klug sein, er sagte, die Stimme nicht
geho ben, doch jedes Wort gehämmert: »Sonst ist nichts dort.« Titus
schaute vor sich hin mit sonderbar suchenden, gequälten Augen. Er
sprach jetzt so leise, daß Josef Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Wir
hätten es nicht tun sollen«, sagte er. »Wir hätten das da
stehenlassen sollen. Ich hatte es ihr versprochen, und ich habe
immer davon geträumt, wie sie die Stufen hinaufsteigt. Dann aber
ist sie statt dessen die Stufen des Palatins hinaufgestiegen, und
das war nicht das Richtige.« Und als ob Josef einen Einwand
vorgebracht hätte, fuhr er heftiger fort: »Ich sage dir, mein Jude,
es war nicht das Richtige. Darum ist alles kaputtgegangen. Weißt du
noch, wie wir das erstemal die Stadt sahen? Damals kam ein
ungeheures Gedröhn aus euerm Tempel. Ich habe jetzt zuweilen
Sehnsucht nach Gedröhn, aber jenes Gedröhn war nicht angenehm, es
ging nicht mehr heraus aus meinem Schädel, es macht mir Kopfweh.
Übrigens kann ich durchaus nicht mehr daraufkommen, wie das Ding
hieß, mit dem ihr dieses Gedröhn gemacht habt.« – »Es war die
Magrepha«, sagte Josef, »die hunderttonige Schaufelpfeife.« Die
Worte des Kaisers rührten ihm das Innere auf; nicht was der Mann
sagte, erschütterte ihn, sondern wie er es sagte, dieses leise,
geheimnisvolle, abgestorbene Vor-sich-hin-Sprechen. »Ganz richtig«,
sagte Titus, »die Magrepha. Euer Gott Jahve hat eine gewaltige
Stimme. Hast du, wie du jetzt in Jerusalem warst, nichts mehr davon
gehört?« erkundigte er sich interessiert. »Doch«, erwiderte zögernd
Josef, »die Stimme Jahves habe ich gehört.«
»Siehst du«, sagte, mit dem
breiten, schweren Kopf nickend, der Kaiser, und er sprach geradezu
erfreut, als habe er diese Worte des Josef von Anfang erwartet.
»Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« fügte er noch hinzu.
»Weißt du übrigens«, fuhr er fort, »daß der Hauptmann Pedan
gestorben ist? Ja«, berichtete er, da Josef betroffen hochsah, »er
ist ganz plötzlich gestorben, während eines Banketts. Er ist nicht
sehr alt geworden. Er war ein kräftiger Mann, und ich hätte ihm
noch viele Jahre gegeben. Er war der Träger des Graskranzes, aber
er war ein böser Mann. Wir hätten es nicht tun sollen«, kam er auf
seine früheren Worte zurück. »Dabei habe ich es eigentlich gar
nicht tun wollen«, grübelte er, »und wenn euer Gott Jahve ein
gerechter Gott wäre, dürfte er mir nicht die Schuld geben. Aber ich
glaube, er ist kein gerechter Gott, und ich werde es nicht mehr
lange machen. Mein guter Valens versteht seine Sache, er vertröstet
mich und gibt mir Hoffnung: aber was kann er ausrichten, wenn euer
Gott Jahve so ungerecht ist?«
Josef fröstelte, als er den Herrn
der Welt so sprechen hörte. Er dachte an den Hauptmann Pedan, an
seine breite, ungeschlachte, mit weißlichblonden Härchen bewachsene
Hand, die nun nicht mehr zupacken und zuschlagen konnte. Ganz
flüchtig dachte er auch daran, daß jetzt die Stadt Emmaus wohl
keine Einwände mehr gegen die Eingemeindung seiner Güter haben
werde, und er freute sich, daß er seinen Einfluß bei Flavius Silva
nicht für seine privaten Zwecke gebraucht hatte, sondern für den
gemeinen Nutzen der Juden.
»Nein, ich habe es nicht
gewollt«, versicherte jetzt, nochmals, der Kaiser. »Und warum
überhaupt hat euer Jahve sein Haus nicht beschützt und hat es
zugelassen, daß an jenem Tag gerade dieser Pedan zur Übernahme der
Befehlsausgabe kommandiert wurde? Ich finde, euer Gott hat sich
nicht fair gegen mich benommen. Selbst wenn Valens recht hat und
ich wieder hochkomme, euer Jahve hat mir mein Leben
kaputtgeschlagen. Sie hätte die Stufen seines Tempels hinaufgehen
sollen, und er hat gemacht, daß es die Stufen des Palatins
waren.
Genug davon«, unterbrach er sich
plötzlich und versuchte den Ton zu ändern. Josef, bei diesem
veränderten Ton, schrak auf aus seiner Versunkenheit und schaute
auf die Wasseruhr. Die zwanzig Minuten waren längst vorbei. Aber
mochte der, der die Macht hatte, tun, was ihm beliebte: vorläufig,
jetzt, war er bei Titus, und er hatte noch gar nicht von seinem
eigenen Anliegen gesprochen.
»Sie haben die Prinzessin Lucia
schon gesehen?« schwatzte in frischerem, leichterem Ton der Kaiser
weiter. »Ist sie nicht großartig? Ist sie nicht das ganze Rom? Sie
ist ein starker Halt.« Wieder schaute er nach der Stelle, wo einmal
das Bild gehangen war. »Eine Berenike allerdings ist sie nicht«,
lächelte er. Und wiederum den Ton wechselnd, ernsthaft, sachlich,
abschließend, konstatierte er: »Hören Sie, Flavius Josephus, mein
Geschichtsschreiber, ich habe zwar das Vertrauen meiner Römer
gewonnen und bin die ›Liebe und Freude des Menschengeschlechts‹:
aber meine eigene Freude, die große Chance meines Lebens, habe ich
verloren.«
Dann, höflich, gütig, fragte er
Josef nach seinem Begehren. Nickte, lächelte, lachte, klatschte
einen Sekretär herbei, und in einer Minute war die Einbürgerung der
Mara, Tochter des Lakisch, zur Zeit wohnhaft auf dem Vorwerk
»Brunnen der Jalta« bei der Stadt Emmaus, geregelt, wie Marull und
Josef es wünschten.
Josef aber, als er den Palatin
verließ, konnte kaum die rechte Freude über diesen günstigen
Ausgang aufbringen. Noch lange verwirrten ihn die sonderbaren Reden
des Kaisers.
Dorions Tage waren ausgefüllt. Sie besuchte
mit ihrem Freunde Annius Bassus die Veranstaltungen, bei denen eine
Frau von Welt sich zeigen mußte. Sie baute weiter an ihrer Villa in
Albanum, die um ihrer Architektur, ihrer Inneneinrichtung willen
weit gerühmt war. Sie liebte Komfort, sie hatte eine tiefe Freude
an den schönen Dingen des Lebens, und wenn sie an das düstere,
verwilderte Haus im sechsten Bezirk zurückdachte, hatte sie alle
Ursache, sich glücklich zu schätzen. Auch war es kein schlechter
Tausch, statt des schillernden, unsichern Josef den Obersten Annius
Bassus zum Freund und Beschützer zu haben. Es wird wohl nicht mehr
lange dauern, bis Titus seinem Bruder Platz macht, und es besteht
begründete Aussicht, daß dann Annius Chef der Garde wird, nach
Domitian der einflußreichste Mann im Reich.
Trotzdem war Dorion seit ihrer
Trennung von Josef sprunghafter, reizbarer als früher und zeigte
vor allem ihrem Freunde Annius ein spröderes Gesicht. Annius liebte
die Frau und nahm ihre Launen gelassen hin. Allein als einem Mann
der Ordnung war es ihm unlieb, daß sie noch immer nicht das
römische Bürgerrecht besaß, und er drängte darauf, ihre Beziehungen
zu legalisieren. Doch Dorion entschloß sich nicht, die paar
Formalitäten auf sich zu nehmen, die zu einer vollgültigen
Eheschließung nötig waren, und wich seinen Bitten unter nichtigen
Vorwänden aus.
Daß Josef ihr den Sohn
zurückschickte, hatte sie aus ihrem Gleichgewicht geworfen, und
monatelang war ihr kein Tag vergangen, ohne daß sie ihn wild gehaßt
und brennend geliebt hätte. Sie hatte aufgeatmet, als er dann nach
Judäa reiste. Er sollte nur zurückgehen in seine lächerliche,
barbarische Provinz, dorthin gehörte er. Ihre Beziehungen zu Annius
waren ausgeglichener geworden, vertrauter, und als er ihr zu Ende
des Sommers sein kleines Stadtpalais zum Geschenk anbot, nahm sie
an und übersiedelte für den Winter nach Rom.
Einmal, bald nach Josefs
Rückkehr, bei einer großen Rezitation des Dio von Prusa im
Friedenstempel, sah sie ihren früheren Mann. Er kam ihr verändert
vor, jüdischer und jünger zugleich; so war er vor ihr gestanden in
Alexandrien, als sie ihn zum erstenmal sah, und das Verlangen, das
sie damals zu ihm hingezogen, schlug von neuem in ihr hoch. Sie
hatte bemerkt, daß, nach Beendigung der Vorlesung, Josef sich in
ihre Nähe zu drängen suchte, aber, ängstlich vor der Begegnung,
hatte sie seinen Blick beharrlich vermieden und ihm keine
Möglichkeit gegeben, sie anzusprechen. Seither war sie wieder
reizbarer gegen Annius, und mit dem frühesten Frühjahr drängte sie
darauf, Rom zu verlassen und nach Albanum zurückzukehren.
Annius, anläßlich ihres
Wiedereinzugs in Albanum, brachte ihr ein Geschenk für ihren Salon:
eine Figur aus korinthischer Bronze, bestimmt, als Leuchter zu
dienen, die Statuette eines nackten, beschnittenen Juden. Die
Arbeit war zierlich, frech, ein klein wenig obszön, ein Kunstwerk,
wie es Damen gern in ihren Räumen aufstellten; es stammte aus der
Werkstatt des Thermos, des großen Rivalen des Basil. Annius war
erstaunt, als Dorion ihm für dieses Geschenk nicht nur nicht
dankte, sondern ihm seine Geschmacklosigkeit heftig vorwarf. Er
pflegte über solche Ausbrüche mit einem Witzwort wegzugleiten;
diesmal ärgerte er sich. Er sagte ihr auf den Kopf zu, sie hänge
noch immer an Josef. Sie erwiderte, Josef habe gewisse
Eigenschaften, um die mancher Mann ihn beneiden sollte. In der Tat
hatte sie begonnen, Annius mit den Augen des Josef zu sehen; seine
Freundschaft mit dem künftigen Kaiser, seine militärische Begabung,
seine sichere Aussicht, die Armeen des Reiches zu kommandieren,
ließen sie kalt, seine laute, herzhafte Jovialität und seine
soldatische Derbheit machten sie nervös. Es kam zu unangenehmen
Charakteranalysen von beiden Seiten. Annius hielt sich mehrere Tage
von Dorion fern.
Der Knabe Paulus fragte nicht
nach den Gründen, aus denen Annius auf einmal wegblieb. Es war nie
ganz leicht gewesen, dem Jungen näherzukommen, aber Dorion kannte
ihn, sie wußte, daß er, seitdem Josef ihn ihr zurückgegeben hatte,
nicht mehr so kritiklos an ihr hing wie früher. Sie selber liebte
ihn nach wie vor zärtlich, doch ihr Benehmen zu ihm schwankte mit
ihrem schwankenden Gefühl gegen Josef. Bald überschüttete sie ihn
ohne sichtbaren Anlaß mit Beweisen ihrer Mütterlichkeit, bald, wenn
er nach ihr verlangte, sperrte sie sich vor ihm zu. Sie wußte um
diese ihre Sprunghaftigkeit, es verdroß sie, wenn sie zu dem Jungen
kalt war, aber sie konnte sich nicht zähmen. Sie wußte auch, wie
sehr Paulus unter ihren unklaren Beziehungen zu Annius litt. Die
Prozesse um ihn herum, das Aufsehen, das er erregt hatte, hatten
ihn für alles Zweideutige empfindlich gemacht. Sie wußte, wie
brennend er, durch die Adoption Vollrömer geworden, wünschte, auch
eine Vollrömerin zur Mutter zu haben. Sie wußte, wie zufrieden er
Annius als Vater begrüßt hätte, seine Mannhaftigkeit, das
Militärische an ihm sagten ihm zu, und er freute sich daran, selber
so bald als möglich ins Heer einzutreten.
Dies alles bedachte Dorion in den
Tagen, da Annius sich von ihr fernhielt; auch schien ihr, daß es
dem Josef eine Genugtuung sein müßte, wenn es auch zwischen Annius
und ihr zu einem endgültigen Bruch käme. Sie schrieb dem Annius
einen kleinen, scherzhaften Brief, den er, wenn er wollte, für eine
Entschuldigung nehmen konnte.
Als er wieder nach Albanum kam,
hatte sie den Leuchter aufgestellt.
In Paulus selber hatte der Verzicht des Josef
einen großen Umsturz bewirkt. Bisher hatte er für alle Dinge der
Welt einen unbedingten Maßstab gehabt: das Urteil seines Lehrers
Phineas. Die Tat seines Vaters bewies, daß Phineas diesem Mann
unrecht getan hatte. Der Junge verehrte seinen Lehrer noch weiter,
aber er war ihm nicht mehr das große, letzte Orakel. Es war ihm
auch jetzt nicht angenehm, daß seine Mutter und Phineas für das
hochanständige Benehmen seines Vaters so wenig Anerkennung übrig
hatten. Man hätte sich nichts vergeben, wenn man, zum Beispiel,
manchmal mit ihm zusammengekommen wäre.
Er war deshalb froh überrascht,
als einmal, bei Tische, in Gegenwart des Phineas, Dorion ihn
unvermittelt fragte, ob er keine Lust habe, seinen Vater
wiederzusehen. Der sonst so beherrschte Phineas legte die Speise,
die er gerade zum Mund führen wollte, auf den Teller zurück, sein
großer, blasser Kopf erblaßte noch tiefer; Dorion hatte ihm nichts
von ihrem Entschluß mitgeteilt. Paulus sah von seiner Mutter zu
seinem Lehrer, beide warteten auf seine Antwort. »Ich werde den
Vater gerne besuchen«, erwiderte er.
Verlegen, nicht ohne frohe
Spannung, betrat er das Haus im sechsten Bezirk wieder, in dem er
sich so lange als Gefangener gefühlt hatte. Er hatte sich
vorgenommen, sich vor Josef männlich zu geben, herzhaft, auf die
Art des Annius. Aber der Vater, den er wiederfand, war nicht der
Vater, den er kannte, es war ein fremder Herr mit einem unbekannten
Bart.
Josef war sichtlich erfreut, daß
sein Paulus kam, aber es war eine gelassene Freude, keine
stürmische. Langsam nur kam die Unterredung in Gang. Josef
erkundigte sich nach den Fortschritten des Paulus im Lenken seines
Ziegengespanns, nach dem Bocke Paniscus. Paulus interessierte sich
zur Zeit mehr für einen andern Sport, für die komplizierten Arten
des Ballspiels. Im Dreispiel mit dem Lederball etwa, das durfte er
wohl behaupten, war er bereits sehr gut, bald wird er sich sogar an
den Glasball heranwagen dürfen. Das konnte man nur nach langem
Training; denn Glasbälle waren teuer, ein Fehlwurf kostete ein
kleines Vermögen. Am Ballspiel hatte auch Josef von jeher Gefallen
gefunden, er selber stellte darin seinen Mann, und eine Zeitlang
unterhielten sich Vater und Sohn angeregt. Doch bald wieder geriet
ihr Gespräch ins Stocken, und Paulus griff mechanisch nach dem
Ärmel seines Kleides, worin er noch vor kurzer Zeit Kitt für seine
Tonfiguren verwahrt hatte. Vor ein paar Wochen, an seinem
Geburtstag, hatte er sich gelobt, diese kindische Gewohnheit
abzulegen. Josef sah auf den schlanken, prinzlichen Jungen, seinen
Sohn, er gefiel ihm, und er war ihm sehr zugetan. Aber war es ihm
wirklich einmal bis ans Mark des Lebens gegangen, daß er zu diesem
Knaben keinen Weg hatte finden können?
Paulus zermarterte sich den Kopf,
wie er seinem Vater zeigen könnte, daß er es hochanständig fand,
wie der sich damals benommen. Aber Josef erwähnte das Vergangene
mit keinem Wort: das war taktvoll, erleichterte aber nicht das
Vorhaben des Paulus. Der Knabe hatte nicht gelernt, zärtlich zu
sein, im Gegenteil, Phineas hatte ihm beigebracht, ein Mann müsse
seine Gefühle verbergen. Schließlich sagte er stockend: »Willst du
mir nicht das Buch geben mit den Geschichten vom starken Simson?
Ich möchte sie gerne noch einmal lesen.« Josef schaute hoch, leicht
überrascht. Aber er erwiderte nur: »Gewiß will ich es dir geben«,
und sah nicht, welche Überwindung es den Jungen gekostet hatte, ihn
um das Buch zu bitten.
Alles in allem war das
Zusammentreffen mit seinem Vater für Paulus eine Enttäuschung;
dennoch war es ihm nicht unangenehm, daß Dorion auf eine
Wiederholung dieses Besuches drängte. Es bildete sich der Brauch
heraus, daß er jede Woche einmal zu Josef ging. Aber sie kamen
einander nicht näher. Der Junge bot sich dem Vater auf seine
zurückhaltende Art an, Josef zeigte sich ihm zugetan und sehr
freund, aber eine wirkliche, letzte Vertrautheit wollte sich nicht
einstellen.
Eines Tages fragte Paulus seinen
Vater, wie schon früher einmal, nach seinem toten Bruder Simeon.
Dieser sein toter Bruder beschäftigte seine Gedanken. Den Josef
rührte die Frage auf. Aber dem Manne, der die Menschen und die
Schlachten des jüdischen Krieges so lebendig hatte darstellen
können, gelang es nicht, die Gestalt seines jüdischen Sohnes
lebendig zu machen. Er erzählte mancherlei, aber nicht erzählte er,
wie Simeon seinen Freund Constans in die Arena hineingeschmuggelt
hatte und sich dadurch ein Eichhörnchen erworben hatte, nicht
erzählte er von Simeons Vorliebe für den Gaul Silvan und von seinen
Anstrengungen, das Modell der »Großen Deborah« anzufertigen, nicht
von seiner Vorliebe für den Fluch »Beim Herkel«. Vielmehr pinselte
er eifrig bemüht ein blasses, idealisiertes Bild Simeon-Janikis
zusammen, das Paulus nicht sehr gefiel. Und der Knabe fragte nicht
länger nach seinem toten Bruder.
Manchmal, wenn Paulus zu Josef kam,
begleitete ihn Dorion. Ihre Bekanntschaft mit Valer mußte ihr als
Vorwand dienen. Sie suchte natürlich nicht Josef auf, sondern den
alten, grollenden, ausgeschifften Senator. Valer wohnte im obern
Stockwerk, sein Leibeigener ließ, wie es Sitte war, den Aufzugskorb
an der Außenseite des Hauses nieder, um der vornehmen Besucherin
das Ersteigen der Treppe zu ersparen. Allein Dorion erklärte, der
Leibeigene des alten Valer sei so alt und klapperig, daß sie sich
ihm nicht anzuvertrauen wage, und benutzte die Treppe.
Aber niemals begegnete sie ihrem
früheren Gatten Josef.
Paulus, wenn seine Mutter den
alten Valer besuchte, stieg oft hinauf, sie abzuholen. Der
degradierte Senator hatte an jener Weizenspekulation gegen Marull
und Claudius Regin teilgenommen, an der so viele Mitglieder der
republikanischen Partei ihr Geld verloren hatten, und dabei die
Reste seines Vermögens eingebüßt. Jetzt enthielt seine Wohnung nur
mehr den notdürftigsten Hausrat, ihre Einrichtung bestand im
wesentlichen aus den dichtgedrängten Wachsbüsten der Ahnen, ihren
verstaubten Liktorenbündeln, vermotteten Prunkkleidern,
zerfallenden Triumphatorenkränzen; sein ganzes Personal war jener
alte, gebrechliche Leibeigene.
Valer selber war noch steifer und
dürrer als früher. Mit der Armut stieg seine Würde. Nach wie vor
lehnte er es ab, das verweichlichende Unterkleid zu tragen, das man
in den letzten drei Jahrhunderten eingeführt hatte, und hielt fest
an der rauhen, simpeln Tracht der Vorväter. Es kümmerte ihn nicht,
daß er diese konservative Gesinnung mit einer Erkältung zu bezahlen
hatte, die ihn den größten Teil des Jahres hindurch behelligte. Auf
seine vielen stolzen Namen allerdings hatte er verzichtet. Nachdem
mit Duldung der Regierung immer mehr Pöbel sich die alten
Geschlechternamen anmaßte, hielt er, der einzige noch lebende Enkel
des Äneas, es nicht für angebracht, mehr als zwei Namen zu tragen;
er strich von seinen einund zwanzig Namen neunzehn und nannte sich
schlicht Valerius Tullius.
Dorion war ihm ein willkommener
Gast. Er anerkannte es, daß sie sich gegen seinen widerwärtigen
Hausgenossen Flavius Josephus aufgelehnt hatte, diesen von der Hure
Fortuna begünstigten Emporkömmling aus der barbarischen Provinz
Judäa. Mit Vergnügen sah er den schlanken, stolzen, jungen Paulus,
den sie den Juden entrissen und den Römern gewonnen hatte. Aber
diese seine Freude an Dorion und dem Knaben machte ihn nicht
umgänglicher; auch wenn sie da waren, hielt er sich würdig, bitter,
wortkarg. Seine Tochter, die weißhäutige, schwarzhaarige Tullia,
war nicht redseliger. Dorion mußte ihre Versuche, Josef zu Gesicht
zu bekommen, teuer bezahlen.
Der Knabe Paulus schien sich in der strengen
Atmosphäre Valers wohl zu fühlen. Da die Bindung zwischen ihm und
der Mutter und zwischen ihm und Phineas nicht mehr so eng und
sicher war wie früher, da es so schwerhielt, dem Vater
näherzukommen, wußte er es zu schätzen, wenn man ihm Neigung
entgegenbrachte, und er merkte trotz der Einsilbigkeit des Alten
bald, daß der ihn mochte. Es schien ihm ehrenvoll, daß Valer in ihm
einen heranwachsenden Römer sah, und wenn der Alte ab und zu ihn
und seine Tochter Tullia seine Kinder nannte, war das für Paulus
ein Fest.
Das Kind Tullia war immerhin
zweiundzwanzig Jahre alt; doch hätte, wer nicht Bescheid wußte, sie
eher für die Enkelin als für die Tochter Valers gehalten. Ihr
langer, weißgesichtiger Kopf saß kindlich steif auf dem zierlichen
Hals über den schmalen, fallenden Schultern, und unter der hohen,
sehr schwarzen, kunstvollen Frisur wirkte die Haut des Gesichtes
ungemein zart. Josef, der seine Hausgenossen vom obern Stockwerk so
wenig liebte wie diese ihn und sich gern über sie lustig machte,
hatte gelegentlich zu Marull gesagt, Tullia sei jetzt schon mit
ihren zweiundzwanzig Jahren eine alte Jungfer, und als Marull
erwiderte, er finde die steife, spröde Anmut des Mädchens nicht
ohne Reiz, hatte Josef lebemännisch den Ovid zitiert: »Nur die ist
keusch, um die keiner wirbt.« Doch Marull war damit nicht
einverstanden. Er fand, und nicht als einziger, Tullia zwar scheu,
aber keineswegs säuerlich und sah in ihrem Hochmut nur eine Maske
ihrer Verlegenheit. Wie sollte sie auch, von ihrem kauzigen,
querköpfigen Vater zu einem abgesperrten Leben gezwungen, gesellige
Talente entwickeln?
Um diese Zeit wurde der Tempel
der Göttin Rom renoviert. Die flavische Dynastie pflegte den Kult
der Göttin mit Eifer, und Titus beauftragte keinen Geringeren als
den Bildhauer Basil, ein neues Erzbild der Göttin zu gießen.
Raunzend unterzog sich der beschäftigte Mann der Aufgabe, und
niemand bekam sein Werk zu sehen, bevor das Heiligtum neu geweiht
wurde. Dann, zur Verblüffung aller, zeigte die Göttin ein sehr
anderes Aussehen als bisher. Nicht die wuchtige Heroine, die man
gewohnt war, hob sich auf dem Sockel, sondern eine schmale, strenge
Mädchenfigur mit einem rührenden, ernsten und kindlichen Antlitz,
und ihre gewaltigen Attribute, Mauerkrone, Füllhorn, Lanze und
Schild, unterstrichen, durch den Gegensatz, die strenge Zartheit
der Gestalt und des Antlitzes. Die eigenwillige Modernität des
Bildwerks erregte in den Kunstkreisen Roms heftige Kontroversen.
Auch Phineas ließ es sich nicht nehmen, mit seinem Zögling die
Statue zu besichtigen.
Ihm, der von jeher ein Anhänger
des Basil gewesen, gefiel dessen neue Schöpfung außerordentlich,
und in lebhaften Worten setzte er dem Paulus die Schönheiten der
Statue auseinander. Paulus stand lange vor dem Erzbild, betrachtete
es aufmerksam, hingegeben, aber er äußerte kein Wort. Phineas fand,
das Gesicht der Göttin sei ungeheuer lebendig, sicherlich sei es
ein Porträt, es erinnere ihn auch an ein bestimmtes Gesicht. Lange
besann er sich vergeblich, an welches. »Aber natürlich«, erinnerte
er sich endlich, »das ist doch unsere Tullia.« Doch da wurde der
bisher stille Paulus lebendig. Heftig schüttelte er den dünnen,
braunhäutigen Kopf. »Nein, das ist nicht unsere Tullia«, erklärte
er, und »Das ist nicht unsere Tullia«, beharrte er, als Phineas ihn
auf die Ähnlichkeit der Einzelzüge hinwies.
Dorion war erstaunt, als, bei dem
nächsten Zusammensein mit Valer, ihr Paulus plötzlich in eine der
vielen Pausen des Gesprächs, sich an Tullia wendend, jungenhaft
hineinplatzte: »Nein, er hat Sie nicht getroffen.« Zuerst verstand
Dorion nicht, was er meinte; Tullia aber verstand sogleich, und in
ihr schmales, zartes Gesicht stieg eine leise Röte. »Was soll das
heißen, Paulus?« tadelte Dorion. »Wer hat unsere Tullia nicht
getroffen?« – »Der Bildhauer Basil natürlich«, erwiderte Paulus,
ein bißchen verlegen über sein früheres Ungestüm, und mit altkluger
Sachverständigkeit verteidigte er sich: »Jedermann sagt, die Göttin
Rom sei Tullia so ähnlich. Nicht wahr, mein Phineas, auch Sie haben
es gesagt. Aber nein, es stimmt nicht, sie hat gar keine
Ähnlichkeit.« Dem Senator hatte es in seinem Innern geschmeichelt,
daß man seine Tochter zum Modell der Göttin Rom erwählt hatte, aber
»Es ist auch besser so«, grollte er jetzt, während Tullia weiß,
streng, unnahbar hochmütig dasaß. Dorion, mit einem ganz kleinen
Lächeln, verwies ihren Jungen: »Du nimmst dir allerhand heraus,
Paulus.« Und zu Valer, entschuldigend, sagte sie: »Er glaubt, weil
er der Enkel des Malers Fabull ist, sei er der geborene
Kunstkritiker.«
Als man sich zum Gehen
anschickte, durchbrach Paulus seine Scheu noch mehr. Wider Willen
errötend, den Atem nicht ganz in seiner Gewalt, fragte er Tullia,
ob sie nicht einmal nach Albanum herauskommen wolle, damit er ihr
sein Ziegengespann vorführen könne. Dorion war angenehm verwundert,
daß ihr sonst so zurückhaltender Sohn in der verstaubten, musealen
Luft dieses Hauses so aus sich herauszugehen wagte, und als er
Tullia gar noch aufforderte, mit ihm in Albanum Ball zu spielen,
unterstützte sie ihn: »Er ist wirklich kein schlechter Spieler. Sie
werden keinen leichten Stand gegen ihn haben, meine Tullia.« Das
Mädchen erwiderte, sie habe nur als Kind Ball gespielt, solange sie
noch das Gut in Campanien hatten; seither habe sie viel verlernt.
»Man braucht Sie nur anzusehen«, sagte stürmisch Paulus, »und man
weiß, daß Sie der geborene Champion sind. Wenn Sie erst zweimal
wieder gespielt haben, vertraue ich Ihnen ohne weiteres meine
Glasbälle an.« – »Wir könnten sie dir nicht ersetzen, mein Paulus«,
erwiderte das Mädchen, und das Lächeln, mit dem sie von ihrer Armut
sprach, ließ sie noch stolzer erscheinen.
Paulus ging jetzt oft in den
Tempel der Göttin Rom, trotz
dem er nicht an seinem Wege lag, und die
Priester und Tempeldiener freuten sich über den jungen, eifrigen
Verehrer.
Übrigens riß sich Tullia wirklich
aus dem Haus im sechsten Bezirk los und fuhr nach Albanum. Sie
taute während des Ballspiels sichtlich auf und erwies sich als eine
nicht ungeschickte Partnerin. Gleichwohl zog es Paulus auch beim
viertenmal noch vor, mit Lederbällen zu spielen und seine Glasbälle
zu schonen.
Seinem Vater erzählte er nichts von seiner
neuen Freundschaft. Es war ein Zufall, der sie Josef entdecken
ließ. Eines Tages nämlich, als er den Knaben allein hatte warten
lassen, fand er ihn eifrig damit beschäftigt, wieder, wie früher,
aus Kitt ein Figürchen zu kneten. Noch immer war in Josef der
heftige Widerwille gegen alles Bilderwesen, und es verdroß ihn, daß
der Junge jetzt von neuem damit anfing. »Was ist das, was du da
machst?« fragte er und nahm die halbfertige Figur in seine Hand.
»Es sollte eine Göttin werden«, sagte, ein wenig befangen, Paulus.
Den Josef kränkte es, daß sein Sohn in seinem Hause Götterbilder
anfertigte. Aber er verbarg seinen Unmut und fragte ruhig: »Was für
eine Göttin?« Paulus hatte nicht gelernt, zu lügen. Überrötet sagte
er: »Es ist die Göttin Rom. Aber eigentlich ist es keine Göttin, es
ist deine Hausgenossin Valeria Tullia.« Josef war erstaunt, er
fragte weiter, und Paulus erzählte, ein wenig zögernd, aber
ehrlich, von Tullia, der Göttin Rom und dem Ballspiel.
Natürlich wußte Josef, daß die
Freundschaft zwischen seinem kleinen Sohn und Tullia nichts weiter
war als eine Jungensneigung, wie er selber sie im Alter des Paulus
oft gespürt hatte. Dennoch war es ihm unbehaglich, daß sich sein
Sohn gerade in diese saure altrömische Tullia vergafft hatte. Die
Verehrung des Malers Fabuli für alles Römisch-Strenge,
Traditionelle hatte sich offenbar auf den Knaben vererbt. Das
verdroß Josef. Er wollte, daß sein Sohn was mehr sei als ein Römer.
Zum erstenmal überkamen ihn Zweifel, ob er damals recht getan
hatte, als er den Jungen an Dorion zurückgab.
Er begann sich eifriger um Paulus
zu bemühen. Unvermittelt, hastig, dringlich warb er um ihn. Aber es
war zu spät. Worte, die vor einigen Wochen den Knaben beglückt
hätten, erreichten jetzt nur eben sein Ohr. Auch konnte Josef den
Groll über sein römisch-griechisches Gehabe nicht immer zähmen. Die
Wand zwischen Vater und Sohn wollte nicht fallen.
Eines Tages, als Paulus gerade zu
Besuch war, kam Justus ins Zimmer; er hatte geglaubt, Josef sei
allein. Er beschaute den Jungen, doch ohne Neugier. Das gefiel
Paulus. Seit seinen Prozessen starrten die meisten, sowie sie
erfuhren, wer er war, ihm frech und lange ins Gesicht. Justus aber
saß dünn und streng da, beachtete ihn wenig, führte vielmehr eine
gelassene Konversation mit seinem Vater, ihm oft widersprechend,
ruhig und sachverständig, wie es schien. Der einarmige Mann mit den
unnachgiebigen Ansichten machte Paulus einen immer stärkeren
Eindruck, und er war verblüfft, als er aus dem Gespräch ersah, daß
Justus Jude war. Als er gar erfuhr, daß er schon am Kreuze gehangen
und lebendig wieder heruntergekommen war, ließ er alle stoische
Zurückhaltung fahren. Knabenhaft dringlich fragte er ihn aus,
lauschte offenen Mundes seinen Erzählungen.
Ja, dieser Jude Justus mit seinem
erlesenen Griechisch, dieser Abenteurer, der aus seinem Heldentum
kein Wesens machte, sondern es trocken ironisierte, nahm schon
während der ersten Begegnung das Herz des Jungen gefangen. Nur
schwer konnte sich Paulus vom Anblick seines entfleischten
Gesichtes, seines leeren Ärmels losreißen, und als er, später als
sonst, ging, erkundigte er sich eifrig, ob er ihn das nächste Mal
beim Vater wiedersehen werde.
Josef wunderte sich, daß sein
Sohn sich vor diesem Fremden mit einemmal so aufschloß. Es freute
ihn, daß ein Jude dem Jungen so imponieren konnte, und es wurmte
ihn, daß gerade Justus dieser Jude war. Als Paulus ihn eingehend
befragte, wer und was denn dieser Justus sei, kämpfte er mit der
Versuchung, ihm allerlei Unfreundliches über ihn zu sagen. Aber er
überwand sich und erklärte seiner Überzeugung gemäß, dieser Mann
sei unter den Lebenden der größte Schriftsteller. Ein klein bißchen
kränkte es ihn, daß Paulus das ohne Widerspruch anhörte und nicht
auf die Büste im Friedenstempel hinwies.
Mit geteiltem Gefühl sah er, wie
sein Sohn mit wachsendem Eifer um den Einarmigen warb. So wortkarg
sich der Junge im Gespräch mit ihm gegeben hatte, so gerne jetzt
schwatzte er mit Justus. Sichtlich wurde die römische Tullia in
seiner Neigung und Phantasie durch den Juden Justus abgelöst. Josef
fand das gut, dennoch kratzte es ihn. Am meisten wurmte ihn, daß
Justus sich die stürmische Liebe des Paulus gerade eben gefallen
ließ. Er sah genau, was war: daß nämlich der Knabe der Werbende war
und Justus ihn mehr abwehrte als ermutigte; trotzdem und wider alle
Vernunft wuchs in ihm der Glaube, Justus nehme, ein unlauterer
Rival, ihm seinen Sohn weg. Hinterhältig begann er, Paulus
auszuhorchen, ob nicht Justus ihn gegen den Vater hetze. Es stellte
sich heraus, daß Justus niemals auch nur das leiseste abfällige
Wort über ihn sprach. Aber das tröstete ihn nicht. Wird nicht der
feinhörige Knabe, auch ohne daß der andere spricht, seine Meinung
über ihn heraushören? Kann überhaupt, wer Justus verehrt, den Josef
achten?
Einmal, unvermittelt und
bösartig, brach er ein Gespräch über Paulus vom Zaun. »Gefällt
Ihnen mein Paulus?« fragte er. »Er gefällt mir nicht schlecht«,
erwiderte harmlos Justus. »Sie finden ihn wohl sehr anders als
mich?« bohrte Josef weiter. Justus zuckte die Achseln, erwiderte
scherzend: »›Seid nicht wie eure Väter‹, heißt es in der Schrift.«
– »Ein Wort, das den wenig stört, der keinen Sohn hat«, meinte
Josef. »Ich glaube nicht«, überlegte Justus, »daß ich es meinem
Sohn verübelte, wenn er mir nicht nachschlüge. Die Generation von
heute«, fuhr er auf seine verallgemeinernde Art fort, »hat wenig
Ursache, es ihren Vätern nachzutun. Die haben ihren ungeheuer
blöden Krieg gemacht und sind, mit Recht, fürchterlich geschlagen
worden. Können Sie da verlangen, daß Ihr Sohn sich an seinen
jüdischen Vater hält und nicht an sein griechisches Teil? Es war
schön und gut«, setzte er fast mit Wärme hinzu, »daß Sie ihn sich
selbst überlassen und nicht mit Gewalt zurechtgebogen
haben.«
Josef schwieg eine kleine Weile.
Dann, leise und grimmig, sagte er: »Ich wollte, ich wäre damals
nicht so weich gewesen.«
Justus sah ihn erstaunt an.
»Bitte, überlegen Sie«, erwiderte er, ungewohnt sanft, »was sollte
heute ein jüdischer Sohn von seinem Vater anderes lernen, als das
Gegenteil zu tun von dem, was der getan hat, und das Gegenteil zu
glauben von seinem Glauben? Die Väter sind gegen Rom aufgestanden.
Die Söhne glauben nicht mehr an die Aktion. Sie sind mißtrauisch
gegen das Tun, sie fallen den Minäern zu und ihrer Lehre vom
Nichttun und vom Verzicht.«
»Mir ist eine Nacht im
Gedächtnis«, spottete Josef, »und ein Gespräch an einem Brunnen, da
fand ein gewisser Justus sehr höhnische Worte über Nichttun und
Verzicht.«
»Habe ich etwas gesagt«,
ereiferte sich Justus, »daß diejenigen recht haben, die an Nichttun
und Verzicht glauben? Ich dachte nicht daran, und ich denke nicht
daran. Ich verteidige nicht die Söhne. Sie sind aus dem gleichen
schlechten Holz, die Jungen wie die Alten. Die Väter hatten kein
Vertrauen in die eigene Kraft, sie fühlten sich, die einzelnen,
schwach: darum machten sie sich eine Krücke, erfanden sich ihre
Lehre von der Nation, bildeten sich ein, die Kraft und Größe der
Nation stärke den einzelnen. Die Söhne haben sich für ihre Schwäche
eine andere Krücke gezimmert, sie machen sich vor, ein Messias
könne ihnen helfen, der für sie am Kreuz gestorben ist. Glaube an
die Nation, Glaube an den Messias: Torheit beides, Ausfluß der
eigenen Schwäche.«
»Das sind kluge Abstraktionen«,
höhnte Josef, »und sie wären mir ein Trost, wenn ich keinen Sohn
hätte. So aber habe ich einen Sohn, und er ist ein Grieche, kein
Jude, und Ihre Allgemeinheiten helfen mir nichts.« Und er schloß
grimmig: »Sie sind ein großer Schriftsteller, Justus von Tiberias,
ein viel größerer als ich. Meinem Griechisch können Sie nachhelfen,
vielleicht sogar meiner Philosophie: aber mit meinem Wesen und
meinem Leben, mit meiner Wirklichkeit, muß ich leider allein fertig
werden.«
Daß Josef dem Justus so bittere Worte sagte,
geschah nicht nur um seines Sohnes Paulus willen. Vielmehr sprach
aus ihm der Verdruß darüber, daß ihm sein neues Buch nicht gelingen
wollte. Die Gegenwart des Justus hatte bald aufgehört, ihm Sporn
und Stachel zu sein, jetzt war sie ihm ein Vorwurf wie früher. Von
wo immer er seine »Universalgeschichte« anpackte, die Arbeit geriet
nicht, seine Sätze blieben wie er selber unbeschwingt, und mehr und
mehr lähmte ihn Unlust.
Justus hingegen sprach davon, daß
seine neue Reise in die Welt, nach Judäa und nach Rom, ihn von
vielen Ressentiments geheilt, ihn in seinem individualistischen
Stolz und seinem Glauben an die Sendung des Schriftstellers
bestärkt habe. Sie habe ihm von neuem gezeigt, wie sehr die
Menschen jenem Auf und Ab von Ziffern und Daten unterworfen seien,
jenen politischen und ökonomischen Zusammenhängen, die man
Schicksal nenne, wie aber gleichwohl ein anderes Bild des Lebens
nur entstehe, wenn ein einzelner diese trockenen Ziffern und Daten
in sein Herz aufnehme, sie mit seinen Säften befruchtend. An diesem
seinem wahren Bild des Lebens also arbeitete er jetzt und dies
sichtlich mit Lust und gutem Gelingen.
Josef nahm es wahr, und Neid
zernagte ihn. Gespannt bat er den Freundfeind, ihm zu zeigen, was
er seit seiner Ankunft in Rom zustande gebracht habe. Justus
zögerte eine ganz kleine Weile, dann gab er ihm sein Manuskript. Er
hatte aber während dieser Woche jene fünfzig Seiten über die
Belagerung Jerusalems geschrieben, die später die Kenner als die
beste Prosa des Jahrhunderts rühmten.
Josef las. Wie war hier klar und
leuchtend gemacht, was innerhalb der Mauern Jerusalems vorgegangen
war und was außerhalb, die vorgeschobenen Gründe der Juden und der
Römer und ihre wahren, dieses ganze Knäuel von wirtschaftlichen,
sozialen, religiösen, militärischen Interessen, von Glauben und
Aberglauben, von Politik und Gottessehnsucht, von Ehrgeiz, Liebe
und Haß der einzelnen. Wovon Josef auf dreihundert Seiten eine
dunkle Ahnung gegeben hatte, das war hier auf fünfzig klar und
scharf ins Licht gestellt. Josef las, und es hob sein Herz, daß
einer das hatte schreiben können. Josef las, und es zerfraß sein
Herz, daß der andere es war, der das geschrieben hatte.
Er gab dem Justus das Manuskript
zurück. Er sagte: »Das ist das Beste, was Sie gemacht haben,
Justus. Das ist das Beste, was einer in unserer Zeit gemacht hat.
Jetzt ist alles und für immer über den Krieg gesagt.« Seine Stimme
war heiser, aber er brachte es über sich, diese Wahrheit
auszusprechen.
Als er allein war, wog er. Er hat
sich umgetan im Leben und in der Wirklichkeit. Er war nicht nur
Schriftsteller, er war Staatsmann und Soldat gewesen. Die Herren
der Welt ehrten, die schönsten Frauen der Stadt liebten ihn. Er hat
sein großes Buch geschrieben, seine Bildsäule stand im
Friedenstempel. Aber was er in einem mühevollen Leben und in einem
dicken Buch zu sagen sich vergeblich bemüht hat, das hat dieser
Justus auf seinen fünfzig Seiten gesagt. Und der Knabe Paulus, um
den er so lange mit Einsatz seines Lebens gerungen hat, diesem
Justus ist er von selber zugefallen.
Er spürte eine tiefe Leere in
sich. Nachdem er die Seiten des andern gelesen hatte, schien es ihm
sinnlos, selber weiterzuarbeiten.
Er schrieb Mara. Bat sie,
beschwor sie, bald zu kommen. Ihre Gegenwart, glaubte er, werde ihm
und seinem Werk neuen Wind geben. Aber er wußte, daß Mara bei ihrem
Vorsatz bleiben und das Gut »Brunnen der Jalta« nicht verlassen
werde, bevor sie ihre Arbeit dort zu Ende geführt hat.
Winter und Frühjahr waren vorbei, und Dorion
hatte keine Gelegenheit gefunden, Josef zu sehen.
Der Tag kam, an dem sie von
seinem Plan erfuhr, Mara zurückzurufen, sie zur Vollrömerin zu
machen, sie wieder zu heiraten.
Es war Marull, der ihr davon
erzählte. Es gelang ihr, sich zu beherrschen, lächelnd von
Gleichgültigem zu sprechen, solange Marull blieb. Dann freilich,
als sie allein war, packte sie die Nachricht mit ganzer Gewalt, sie
atmete heftig, ihr Kopf schmerzte unerträglich, mit verfallenem
Gesicht lag sie bäuchlings auf ihrem Sofa.
Daß Mara durch Josef zur
Vollrömerin werden sollte, während sie selber es noch immer nicht
war, schien ihr eine unerhörte Schmach. Sie vergaß, daß seinerzeit
sie selber sich dagegen gesträubt hatte, ihre Ehe mit Josef
legalisieren zu lassen, und daß sie jetzt, um Römerin zu werden,
nur ein Wort zu Annius Bassus sagen mußte. Sie wollte nicht durch
Annius, durch Josef wollte sie Römerin werden, sie, nicht die
andere. Was stand denn noch zwischen ihnen, seitdem er ihr den
Jungen zurückgeschickt hatte? Schön, sie hatte darauf gewartet, daß
dann er den ersten Schritt tun werde, und er hatte geglaubt, mit
seinem Opfer genug getan zu haben. Ihr Standpunkt war gut, aber
auch sein Argument ließ sich hören. Das Ganze war ein
Mißverständnis. Das wäre ja zum Lachen, wenn sie, Dorion, diese
Provinzjüdin nicht sollte aus dem Felde schlagen können.
Aber als zwei Stunden später
Annius kam, hatte sie ihren Vorsatz, sich Josef zurückzuholen,
vergessen, und in ihr war nichts als Wut. Diesmal begann sie, vor
dem erstaunten Annius den Josef herunterzureißen. Sie sprach nicht
lärmend wie Annius, sie sprach leise und leicht, aber sie machte
sich bitterer über Josef lustig, als Annius je es hätte tun können.
Sie kannte Josefs Wesen und Leben bis ins letzte, und aus dieser
intimen Kenntnis holte sie alle jene kleinen Züge und Episoden, die
ihr geeignet schienen, ihn lächerlich und widerwärtig zu machen,
und breitete sie vor Annius hin. Der lachte, lachte immer mehr,
lachte schallend. Allmählich aber stieß der maßlose Haß ihn ab, der
sich, bei aller Eleganz der Rede, vor ihm auftat. »Laß, bitte,
Paulus nichts von diesen Dingen hören«, war alles, was er am Ende
auf Dorions Ausbruch zu erwidern hatte.
Mit diesem Ausbruch war übrigens
Dorions Wut vorbei, und nichts mehr blieb als ihr Vorsatz, sich
Josef zurückzuholen. Bevor Paulus das nächste Mal den Vater
aufsuchte, gab sie ihm, die Stimme ein wenig gepreßt, Auftrag, ihn
einzuladen, sich doch das Haus in Albanum anzusehen, das nun
endlich fertig sei.
Zwei Tage später fuhr Josef nach
Albanum. Er hatte kein Aug für die schöne, gewellte, frühsommerlich
leuchtende Landschaft, kein Aug für die sanften Hügel, den
lieblichen See, das weitstrahlende Meer, kein Aug für die schönen
Villen die Hänge hinauf, die Seeufer entlang. Er kam ohne Plan, er
wollte nichts von Dorion, aber er war seiner nicht sicher, wußte
nicht, wie ihr Anblick, ihre Rede jetzt auf ihn wirken werde, war
erregt und voll Unbehagen.
Diesmal erwartete sie ihn am
Haupttor der Besitzung. Die Freude, ihn wiederzusehen, machte ihr
Gesicht strahlen. Sie reichte ihm beide Hände, geleitete ihn ins
Haus, war wie in ihrer besten Zeit, kindlich und spitz. Mit
liebenswürdiger Aufmerksamkeit spähte sie nach jeder Änderung, die
in ihm vorgegangen sein mochte, sagte ihm tausend nette, kleine
Bosheiten, warb um ihn mit allem, was sie hatte. Jagte sogar den
Kater Chronos aus dem Zimmer, als er Josef zu stören
schien.
Sie gefiel Josef sehr, er kostete
ganz aus, was an ihr reizvoll war. Doch das war alles. Er hatte
sich dieser letzten Prüfung nicht ohne Angst unterzogen; bald und
mit Freuden erkannte er: er hatte sie bestanden. Er war geheilt,
und für immer, von jener Passion, die ihn so oft erniedrigt und ihn
Dinge gegen seinen Willen und gegen seine Bestimmung hatte tun
lassen. Er konnte mit dieser Frau Freundschaft halten, wenn sie
wollte, aber niemals mehr wird er sein Leben oder sein Werk um
ihretwillen gefährden. Er fühlte sich sicher und genoß mit
Gelassenheit seinen Sieg.
Selbst den Phineas konnte er mit
Gelassenheit sehen. Phineas hatte damit gerechnet, daß Josef ihm
allerlei Bösartiges über ihre gemeinsame Vergangenheit sagen werde.
Aber Josef sagte nichts dergleichen, er gestattete sich keine
Äußerung billigen Triumphs, ja, er machte gutmütige, kleine Späße
über das, was einmal ein Kampf auf Leben und Tod gewesen war. Diese
Gelassenheit des Josef reizte den Phineas und machte ihn nervös,
seine Überlegenheit schwand, sein großer Kopf wurde noch blasser
und spannte sich angestrengt. Dorion aber fühlte sich durch die
Wohltemperiertheit, die Josef in Rede und Verhalten bezeigte,
tiefer gedemütigt, als jeder Hohn sie hätte demütigen
können.
Als Paulus und Phineas sich
entfernt hatten, machte sie einen letzten Versuch. Sie erzählte
Josef, wie sehr Annius in sie dränge, ihn zu heiraten; allein er,
Josef, habe nicht unrecht gehabt, Annius sei laut und falle ihr
manchmal auf die Nerven, es fehle ihm für viele Dinge, die ihr am
Herzen lägen, das innere Ohr. Sie gab ihren Soldaten preis und
wartete darauf, daß Josef ihr jetzt vorschlagen werde, den Annius
zu verabschieden und wieder mit ihm zu leben.
Doch Josef schlug ihr nichts
dergleichen vor. Vielmehr zeigte er sich um Dorions äußere Zukunft
kühl besorgt und meinte, Annius, als nächster Freund des Prinzen,
werde sehr wahrscheinlich einmal das Oberkommando der Armee
erhalten, und Dorion möge es sich zweimal überlegen, ehe sie um
kleiner Bedenken willen eine solche Chance ausschlage.
Dorion war, als Josef ging, blaß
vor Wut, ihr Herz drohte zu versagen. Sie stellte die Statuette des
Beschnittenen wieder auf, die sie weggeräumt hatte, bevor Josef
kam, und als Annius sie das nächste Mal bat, den Termin ihrer
Hochzeit festzulegen, hatte sie keinen Einwand mehr.
Die äußeren Dinge Josefs standen in diesem
Frühsommer nicht schlecht. Seine Gesundheit war gut, Claudius Regin
war freigebig, so daß er die Schulden abzahlen konnte, die die
Lösung von Dorion ihm aufgebürdet hatte, seine literarische Geltung
war seit der Aufstellung seiner Büste unbestritten, die Feindschaft
der Juden gegen ihn hatte merklich nachgelassen, seitdem man wußte,
wie der Großdoktor ihn geehrt. Trotzdem war das Glücksgefühl längst
verflogen, das ihn bei seiner Rückkehr nach Rom überkommen. Er litt
an seiner Unfähigkeit zur Arbeit, und die Zeit, die ihm sein ganzes
Leben hindurch zu kurz gewesen war, wurde ihm jetzt zu
lang.
Viele Stunden saß er in den
Werkstätten des Alexas. Der Glasfabrikant selber und seine
Vorarbeiter zeigten ihm die Feinheiten ihrer Kunst, führten ihm
vor, wie man in die erhärtete Glasmasse Figuren schneidet, wie man
mit listiger und komplizierter Methode die Masse färbt, wie man den
spröden, zerbrechlichen Stoff zu ganz feinen Fäden spinnt, mittels
deren man Goldplättchen einfügt. Aber es waren nicht diese
Raffinements, die Josef anzogen, vielmehr konnte er stundenlang
hocken und vor sich hin in den Schmelzofen starren, in dem aus Sand
und Soda der neue Stoff entstand, das Glas; eine winzige
Veränderung der Dosierung machte diese neue Masse edel oder unedel,
und mit letzter Sicherheit konnte selbst der Sachverständigste das
Resultat nicht vorherbestimmen. Auch der Herstellung der einfachen
Glasgeräte schaute Josef oft und lange zu. Es fesselte ihn, wie die
Arbeiter ihre simpeln Formen, kleine und größere Gefäße, schmälere
und mehr bauchige, mittels ihrer langen Pfeifen aus der heißen
Masse herausbliesen, gegen eine eiserne Platte, dergestalt, daß die
geblasene Masse die gewünschte Figur annahm. Immer von neuem
wunderte er sich, wie dann ein Tropfen Wassers genügte, das
Geblasene von der Pfeife zu sondern. Er schaute zu, wie zwei
Arbeiter, jeder mit seiner Pfeife, Formen ineinanderbliesen, den
Hals des Gefäßes der eine, den Bauch der andere, und es machte ihn
nachdenklich, wie in jedem einzelnen Fall Kunst und Glück sich
mischen mußten, ehe auch nur das Einfachste gelang. Denn auch dem
Geübten konnte es geschehen, daß in der heißen Masse infolge
irgendeines unvorsehbaren Zufalls ein Loch entstand, eine Höhlung,
die das Geblasene wertlos machte oder es gar noch vor der
Vollendung und mit Gefahr des Arbeiters zerspringen ließ.
Alexas hatte längst gemerkt, daß
Josef nicht mehr der Mann war, der keinen Glückwunsch brauchte. Oft
betrachtete er ihn, hockte sich wohl auch für eine Weile neben ihn,
dick, trüb und schweigsam, und es war ihm sehr leid, daß nun auch
dieser einzige Glückliche, den er kannte, nicht glücklich zu sein
schien.
Josef aber saß und sah dem Werden
der Glasfiguren zu: wie die erträumte Form bald glückte, bald
mißlang, ein neckisches, tückisches Spiel, abhängig von der Kunst
des einzelnen, doch nicht von ihr allein, ein Bild des Lebens. Denn
wessen Leben war nicht gemischt aus seinem eigenen Wesen und aus
einem Andern, Unerforschlichen, mochte man dieses Andere
ökonomische Verhältnisse nennen oder Schicksal oder auch Jahve. Und
wer selber wäre nicht gemischt wie der Stoff, aus dem diese Formen
herausgeblasen wurden, aus vielen zufälligen Bestandteilen, die
untrennbar ineinandergefügt waren und trotzdem so, daß einmal an
seinem bestimmten Tag ein jeder von diesen Bestandteilen zu seiner
Wirkung kam. War er selber, Josef, nicht gemacht aus Hohem und sehr
Niedrigem, aus gemeiner Gier nach Geltung und Genuß und aus reiner
Liebe zum Guten und Schönen, aus Schleim und Kot und Gottes Hauch
und Lehre, aus der Geschichte seiner Väter und seinen eigenen
Süchten, aus einem Stück Moses und einem Stück Korah, aus einem
Stück Kohelet und selbst aus einem Stück Pedan? Und während die
Flammen vielfältig und vielfarbig auf und nieder gingen, groteske
Schatten werfend, dachte Josef an die zahllosen Bilder, aus denen
sein Leben sich zusammensetzte, an die Ödnis Jerusalems, an seine
Büste im Friedenstempel, an seinen Freund Justus, an seinen Sohn
Paulus, an das Werk, an dem zu arbeiten ihm aufgetragen war und das
er wahrscheinlich nie wird vollenden können.
Er atmete auf, als Justus Rom
verließ und nach Alexandrien zurückkehrte, um dort sein Werk zu
vollenden.
Das Schiff, das Justus forttrug,
hatte Josef Maras Antwort gebracht. Sie teilte ihm mit, daß sie ihm
ein Kind geboren habe, ein Mädchen, und ihr Name sei Jalta. Sie
werde mit dem Kind nach Rom kommen, doch sicher nicht vor dem
späten Herbst, mit einem der letzten Schiffe.
Um diese Zeit schrieb Josef den »Psalm vom
Glasbläser«.
Der häßlichen, ungestalten Masse
gleich
In der Pfeife des Glasbläsers
Sind wir, und keiner von uns weiß,
Was aus ihm wird.
Des Glasbläsers Hauch macht aus uns
Kleines bald, Niedliches, Puppiges,
Nett anzuschauen oder auch häßlich,
Dann wieder Großes, Bauchiges, gut zum
Gebrauch, Oder auch Plumpes, Ungefüges.
So formt uns unser Schicksal, Die Welt der
Daten und Ziffern um uns.
Doch nicht immer gerät Nach Willen die
Form
Dem Bläser. Oft in der Masse
Bläht es sich, daß sie
Zerspritzt, ihm versengend das Antlitz.
So hat auch ihre Grenze
Die Welt der Daten und Ziffern. Über ihr
ist
Ein Unerforschliches, die große Vernunft, Und
ihr Name ist: Jahve.
Ein hoher Anblick ist es, wenn
plötzlich
Aus Sand und häßlichem Stoffe,
Ersehnt und doch niemals
Mit Bestimmtheit gewußt,
Das große, vielfarbige Glänzen aufzuckt,
Dem Meister zur Freude
Und jedem Beschauer.
Aber was denn zuvor war Das große
Glänzen?
Ein Körnchen Sandes, nichts sonst, ein
winziges Teilchen stumpfer, unscheinbarer Masse.
Darum überhebe sich nicht
Das Glänzende, sondern bleibe
bewußt
Seines Ursprungs: daß nämlich vordem
Ein Körnchen Sandes es war,
Nichts sonst, und daß keiner
Vermuten konnte das Glänzen, das später
Herausbrach aus ihm, und keiner die Gnade,
Die jetzt aus ihm leuchtet.
Und darum, zum Zweiten, bleibe der
Sandkörnchen keines
Ganz ohne Hoffnung. Denn ihm gerade vielleicht
Ist es bestimmt, daß das Große
Aus ihm einst herausglänzt.
Und darum, zum Dritten, nicht stolz
sei
Der Meister. Er haucht und haucht wieder
In den Stoff durch die Pfeife.
Doch nicht bei ihm steht es,
Ob die Form ihm gerät.
Diesem, er weiß nicht warum,
verderben
Höhlen und Blasen sein Glas, und vergebens
Ist seine Mühe. Dem aber
Leuchtet, er weiß nicht warum, die Gnade, es
wölbt sich
Schön ihm, wie er es wünschte, die Kugel,
Sein Glas ist
Edel und schimmernd des Lichtes.
Gegen Ende August, Josef war auf einige Tage
nach Campanien gegangen, um der drückenden Hitze der Stadt zu
entfliehen, teilte man ihm mit, der Bau der Josef-Synagoge sei nun
so weit gefördert, daß die aus Jerusalem geretteten Thorarollen
dort niedergelegt werden könnten.
Josef fuhr zurück nach Rom.
Zusammen mit Doktor Licin besichtigte er das Bethaus. Der hohe,
weiße Würfel des Baus paßte sich den Häusern ringsum an und wirkte
dennoch fremdartig; während nämlich die Häuser ringsum sich dicht
aneinanderpreßten, denn das Terrain war hier sehr teuer, stand der
Rohbau der Synagoge hochmütig allein inmitten freien Raumes, schräg
aus der Straßenzeile herausfallend; denn er war so gerichtet, daß
die Beter das Antlitz nach Osten kehrten, nach Jerusalem.
Architekt Zeno führte die Herren.
Das unterirdische Gewölbe, an dessen Ostwand der große Schrein
stand, der für die siebzig Rollen bestimmt war, lag kühl, durch
viele Luken fiel Licht ein, der Raum sah ruhevoll aus und doch voll
Geheimnis.
Drei Tage später, in feierlichem
Zug, brachten Josef und die Vornehmsten der römischen Juden die
Thorarollen an den Ort ihrer neuen Verwahrung. Die Rollen waren
umkleidet mit köstlich bestickten Geweben, geschmückt mit goldenen
Kronen, aber darunter waren sie zerfetzt, blutbeschmiert,
zertrampelt von den Stiefeln der Soldaten, die damals die Bethäuser
des brennenden Jerusalem geplündert hatten. Josef rief sich zurück,
wie er sie aus der Synagoge der alexandrinischen Pilger gerettet
hatte. Er sah vor sich, wie er durch die Stadt gezogen war, sein
goldenes Schreibzeug im Gürtel, in jedem Arm eine Schriftrolle,
gefolgt von den gegeißelten, tau melnden Juden, denen er statt des
Kreuzbalkens, an dem sie hatten sterben sollen, die Schriftrollen
zum Tragen gegeben hatte. Er sah und hörte im Geist die Soldaten,
die seine sonderbare Prozession verlachten. Jetzt lachte niemand
über den Zug der würdigen Herren, die die Rollen in das von ihm
erbaute Haus trugen; vielmehr schritten kaiserliche Beamte der
Prozession voran und beschlossen sie, Soldaten der Leibgarde in
ihren Paradeuniformen gaben das Schutz- und Ehrengeleit, und die
Passanten, an denen der Zug vorbeikam, grüßten, neigten sich,
verehrten die fremde Gottheit. Trotzdem hatte Josef ein
unbehagliches Gefühl der Schutzlosigkeit und war froh, als die
Rollen in dem kühlen, zwielichtigen Raum geborgen waren, in dem sie
fortan verwahrt werden sollten.
Josef selber, als die andern
gegangen waren, verweilte noch in dem Gewölbe, allein mit den
Rollen. Er saß vor ihrem großen, schlichten Schrein, vor dem
weißen, mit blassen Goldbuchstaben bestickten Vorhang, der vag an
die Vorhänge des Tempels von Jerusalem erinnerte. Er wußte, daß
eines der geschändeten Pergamente zwei Ausschnitte hatte in der
Form von Menschenfüßen: ein Soldat hatte sich Einlagesohlen für
seine Stiefel aus der Rolle herausgeschnitten, so daß in ihr die
Stelle verstümmelt war: »Drücke den Fremden nicht in deinem Lande
und liege ihm nicht hart an; denn ein Fremder bist du gewesen im
Lande Ägypten.«
Josef spürte sich mit einemmal
diesen Rollen körperhaft verwandt. Hier in dem Schrein versammelt
waren seine Väter und Vorväter, und sie alle hatten nur gelebt, um
in ihn einzumünden. Es war der Sinn und die Erfüllung ihrer
Geschichten, wie sie verwahrt lagen in diesem Schrein.
Die Könige der Ägypter glaubten,
sie könnten den Tod besiegen, wenn sie ihre einbalsamierten Leiber
in mächtige, spitze, dreieckige Berge einschlössen. Nein, sie
hatten das Geheimnis nicht, diese Toten: wir haben es. Mit ein paar
Buchstaben, durch die Magie des Wortes, besiegen wir den Tod. In
diesen kleinen Rollen haben wir Judäas Leben eingefangen, so daß es
nie auslöschen wird. Das Reich Israel konnte untergehen, das Reich
Juda, das zweite Reich Judäa, der Tempel: der Geist der Rollen ist
unzerstörbar.
Er hielt Zwiesprach mit den
Rollen des Schreins. Der Ausschnitt in der einen, blutbesudelten
Rolle wurde ein großer, klaffender Mund, der zu ihm sprach. Alle
taten sie ihre Münder auf, die Rollen, und sprachen zu ihm. Das
halbhelle Gewölbe um ihn füllte sich mit Gestalten, wuchs, weitete
sich, schon sah man keine Wände mehr. Israel war um ihn, zahllos
wie der Sand des Meeres, endlos im Raum, endlos in der
Zeit.
Was Claudius Regin ihm einmal
gesagt hatte von den Geschichten und Situationen der Bibel, die er
selber und in sich erlebt habe, wurde ihm plötzlich aus einem Wort
zu einer Wirklichkeit. Er schwatzte mit den Unsichtbaren im Raum,
mit seinen längst toten Vätern und Onkeln und Vettern. Ließ sich
von ihnen belehren. Stritt mit ihnen. Drohte scherzhaft denen, die
sich in ihrem Eifer für ihr Volk übernommen hatten, dem Pinchas,
dem Esra und dem Nehemia. Unterhielt sich kopfwiegend weise mit dem
klugen Mardochai über Sinn und Unsinn des Nationalismus. Er hatte
von jeher gewußt, daß die Größe und Geschichte einer Nation die
Kraft nur desjenigen mehren kann, der schon von Natur stark ist,
daß sie aber dem Schwachen nicht weiterhilft. Wenn der sich auf die
Nation stützen will, erweist sie sich als ein trügerisches Rohr,
und der falsche Hochmut auf ihre Kraft nimmt ihm nur die Einsicht
in die eigene Schwäche. Hoffe keiner, der selber schwach ist, er
könne sich helfen, wenn er sich an andere klammert. Einem jeden
wird die Rechnung präsentiert, jeder hat für sich selber zu zahlen,
Kraft stärkt nur den Kräftigen, den Schwachen stößt sie vollends
hinunter. Der weise Mardochai nickte beifällig mit dem etwas
wackeligen Kopf, er meinte, er habe es immer gesagt, so viele
Judenfeinde hätte man nicht erschlagen müssen nach dem Sturze
Hamans, es seien übrigens, unter uns, auch nicht so viele gewesen,
wie der Verfasser des Esther-Buches angab. Und im Hintergrund,
verdämmernd, stand die riesige Gestalt des Jesajas und
nickte.
Josef hörte zu, fragte, gab Rede
und Widerrede, groß angeregt. Nein, keiner konnte besser die
Geschichte der Judenheit schreiben als er, der ihr Für und Wider in
sich selber austrug. Vaterländisch mit seinem Herzen stand er bei
seinen Juden, weltbürgerlich in seinem Hirn stand er über ihnen,
und nie mand besser als er erkannte die Grenzen, wo ihre
Vaterlandsliebe anfing, Unsinn zu werden.
Er erhob sich, trat vor den
Schrein, führte die Finger zum Mund, rührte den weißen, mit blassen
Goldbuchstaben bestickten Vorhang, sich tief neigend. Und während
er so stand, lastete auf ihm die Schwere seiner Aufgabe, aber
gleichzeitig spürte er eine ungeheure Lust zum Werk und Zutrauen zu
sich selber.
Beschwingt, voll von Gesichten,
verließ er den Raum mit den Thorarollen, um den Weg zu beschreiten,
den er bis in seine letzte Krümmung vor sich sah.
Claudius Regins fette Finger wirtschafteten
in Papieren herum, holten Tabellen hervor, seine quäkende Stimme
erläuterte sie. Der Gegenstand, über den er dem Prinzen Domitian
vortrug, war schwierig. Es ging wieder einmal um jene
Geländeschnitzel, die bei den Bodenzuteilungen an die
Militärkolonien übriggeblieben und von den verteilenden Beamten
oder von Privaten ohne weitere Rechtstitel eingesteckt worden
waren. Der Brauch war Jahrzehnte hindurch geübt und von der
Regierung geduldet worden. Vespasian aber hatte sich darangemacht,
diesen unrechtmäßigen Besitz einzuziehen, und auf diese Art
Terrains im Wert von zweihundertsechzig Millionen hereinbekommen.
Als Stichtag, bis zu dem zurück man die Untersuchungen ausdehnte,
hatte er den
9. Juni 821 seit Gründung der Stadt bestimmt,
den Todestag des Kaisers Nero. Doch schon sein Kabinett hatte den
Plan erörtert, den Stichtag noch weiter zurückzuverlegen, etwa bis
zum 13. Oktober 807, dem Todestag des Kaisers Claudius. Die Werte,
die man so konfiszieren könnte, waren beträchtlich. Frage war nur,
ob sich die neue Dynastie durch solche Enteignungen nicht zu viele
politische Feinde schaffte. Regin nun wollte zum Stichtag ein noch
viel früheres Datum bestimmen, den 24. Januar 794, den Todestag des
Kaisers Gaius. An Hand von vielen mit Schlauheit und Umsicht
zusammengestellten Tabellen bemühte er sich, dem Domitian
nachzuweisen, daß der politische Schaden geringfügig sei,
vergleiche man ihn mit dem wirtschaftlichen Gewinn.
Domitian hörte zu, die aufgeworfene Oberlippe
scharf auf
die Unterlippe gepreßt, wodurch sein Gesicht
den Ausdruck gespannten Lauschens annahm. Er mochte den Claudius
Regin nicht leiden, aber zweifellos gab es in wirtschaftlichen
Fragen keinen bessern Sachverständigen. Domitian, nach etwa zehn
Minuten, entschloß sich, auch in dieser Angelegenheit seinem Rat zu
folgen.
Einmal entschlossen, hörte er dem
Vortrag nun mehr mit halbem Ohr zu, ließ seine Gedanken abgleiten.
Ekelhaft eigentlich, daß er mit Leuten wie diesem Regin soviel Zeit
vertun muß. Aber man braucht sie fürs Regieren, sein Vater hat
schon gewußt, warum er sich gerade mit diesem Halbjuden
zusammentat, und er, Domitian, hat jetzt alle Ursache, sich einen
genauen Plan zurechtzulegen für die Zeit, wenn er erst Kaiser sein
wird. Die Berichte über das Befinden seines Bruders, die er auf dem
Umweg über Marull erhält, beweisen, daß es höchste Zeit ist, sich
vorzubereiten.
Er lächelt, wenn er daran denkt,
daß er noch vor kaum einem halben Jahr ein sorgsames Projekt
ausgearbeitet hat, aus der Hauptstadt, in der ihn der Argwohn des
Titus festhält, nach Gallien zu fliehen oder nach Deutschland, um
sich von den dortigen Armeekorps als Kaiser ausrufen zu lassen.
Jetzt darf er solche phantastischen Projekte endgültig
verabschieden, seine Aussicht auf den Thron ist gesichert.
Erstaunlich übrigens, daß er, seitdem er diese Sicherheit hat, an
Details, die ihn früher langweilten, ernsthaft Anteil nimmt. Mit
der zunehmenden Gewißheit der Herrschaft wächst in ihm die vom
Vater ererbte Lust am Organisieren, und wenn er sich von Annius
Bassus übers Militärische, von Marull übers Politische, ja selbst
wenn er sich von dem widerwärtigen Regin übers Wirtschaftliche
vortragen läßt, diskutiert er leidenschaftlich jede Einzelheit
ihrer komplizierten Darlegungen.
Er braucht, um folgerichtig
denken zu können, Ruhe und Sammlung. Oft schließt er sich
stundenlang ein; er weiß, seine Gegner behaupten, er verbringe
diese Zeit damit, Fliegen aufzuspießen. Er läßt sie schwatzen.
Mögen sie über seine Herrschsucht, über seine skrupellose
Unsittlichkeit die tollsten Gerüchte verbreiten. Es ist ihm
bekannt, daß man in den Kreisen des republikanischen Adels einen
Brief von ihm her umzeigt, in dem er, damals fünfzehnjährig und von
seinem Vater knappgehalten, dem Senator Palfurius Sura anbietet,
die Nacht mit ihm zu verbringen, und dafür fünfhundert Sesterzien
von ihm verlangt, eine beschämend niedrige Summe. Palfurius Sura
ist ein Idiot, daß er sich dieses Schreiben hat stehlen lassen,
aber noch idiotischer sind die Leute, die sich daran ergötzen, es
zu lesen. Es ist gleichgültig, ob der Brief echt ist oder
gefälscht: er wird mit jedem Tag gefälschter, er wird mit jedem
schwächeren Atemzug des Titus gefälschter, und der Tag ist nicht
fern, da er vollends falsch sein wird.
Hundertdreiundvierzig Millionen,
erklärt Claudius Regin, kann man scheffeln, wenn man, wie er will,
den Stichtag auf den 24. Januar 794 zurückverlegt. Titus würde
wahrscheinlich auf diese Summe zugunsten seiner Popularität
verzichten. Er selber denkt nicht daran. Hundertdreiundvierzig
Millionen sind viel Geld. Solange er genötigt war, Geld von seinem
Vater und seinem Bruder zu verlangen, hat er über eine solche
Ziffer die Achseln gezuckt. Nun er selber damit rechnen soll,
verändert sich ihm ihr Aussehen. Er wird, wenn er erst an der Macht
ist, viel Geld brauchen. Er wird in großem Stil bauen. Für Lucia.
Lucia ist der einzige Mensch, an dessen Meinung ihm liegt. Kaufen
zwar läßt sie sich nicht. Nicht einmal ihr Lachen kann man kaufen.
Sie lacht, wenn sie will.
»Der Kreis der betroffenen
Personen«, sagt soeben Regin, »ist gar nicht so groß, wie man
denken sollte. Es sind da ...« Domitian zwingt sich, nicht an den
Tänzer Paris zu denken und nicht an die fünf oder sechs anderen
Männer, von denen Rom vermutet, daß Lucia mit ihnen schlafe. Aber
ganz vertreiben kann er die Vorstellung nicht. Dieser Paris wird
überschätzt, geht es ihm durch den Sinn. Das kommt, weil so wenig
Menschen wissen, was gut und was schlecht ist. Auch dieser Jude
Josephus wird überschätzt. Sein Buch ist nicht übel, wahrscheinlich
ist es sogar gut, aber es ist Narrheit, was alles sie davon
hermachen. Ich mag ihn nicht. Er ist noch unsympathischer als
Regin. Diese östlichen Menschen sind falsch. Man kann sie nicht
fassen, sie haben etwas Öliges, und dieser Josephus ist noch
gefährlicher als die Jüdin, an der Titus kaputtgegangen
ist.
Er setzte sich gerade, sehr
aufrecht, die Arme eckig nach hinten. Ja, dachte er, Titus ist
kaputt. Es ist ein Segen für ihn, wenn er bald ein Gott wird. Man
darf diesen Prozeß nicht verzögern. Marull muß einmal wieder mit
Valens sprechen.
»Man müßte«, sagte gerade Regin, »anläßlich
der neuen Vermessung für die Provinzen Ägypten und Syrien neue
Agrarsteuern anlegen; es ist höchste Zeit.«
Es war höchste Zeit für mich,
dachte Domitian, endlich mit Titus abzurechnen. Sonst hätte er sich
unter die Götter verdrückt, ohne daß unsere Rechnung beglichen
wäre. Länger als fünf Jahre hätte er es wohl auch ohne mich nicht
gemacht; aber daß er durch mich fünf Jahre früher fort muß, ist ein
guter Coup. Nur: er weiß nicht, daß ich es bin, durch den er fort
muß, und merken lassen darf ich es ihn auch nicht. Sonst packt er
noch zu. Nein, die Sache mit Julia war schon die einzige Lösung.
Die Heirat mit ihr erst abzulehnen und sie ohne Heirat zu
beschlafen, das war eine gute Idee, und es muß ihn treffen. Vor
allem, weil sie es nicht gewollt hat, und wenn ich nicht so zäh und
kräftig wäre, hätte ich’s nicht durchgesetzt. Dabei ist sie hübsch,
weiß, fleischig und tut einem wohl. Ich gäbe ein paar Millionen
darum, wenn ich wüßte, wie er darüber denkt, mein Herr Bruder.
Bestimmt hätte er sie nicht diesem faden Sabin zur Frau gegeben,
wenn er nichts gemerkt hätte. Und daß er so eisern schweigt,
beweist nur, wie sehr ihm die Geschichte an die Nieren
geht.
Daß des Titus Sache mit Lucia ihm
selber nach Ansicht der Römer ganz anders an die Nieren gehen
mußte, wollte er nicht wissen, und er wußte es nicht.
Ich werde viele Reden zu hören
bekommen, dachte er weiter, was er für ein guter Herrscher war und
was ich für ein guter Herrscher bin. Sogar dieser Josephus hat mich
in seinem Buch vorsichtshalber ein paarmal gerühmt. Das ist
natürlich pure Falschheit und Speichelleckerei. Er ist ein
Arschkriecher, dieser Josephus, und es ist unwürdig, daß man sich
überhaupt damit beschäftigt, was ein Jud über einen schreibt. Aber
angenehmer ist es doch, daß er nicht schlecht über mich geschrieben
hat. Wenn Titus erst ein Gott ist, dann bleibt von ihm nichts als
dieser großmäulige, etwas schäbige Triumphbogen und das, was dieser
Jud über ihn geschrieben hat. Ich könnte ihm eigentlich einen etwas
anständigeren Triumphbogen hinstellen, wenn er erst ein Gott ist.
Und so einen Kerl wie den Juden sollte man nicht reizen, daß er
Schlechtes über einen schreibt. Aber ich mag ihn nicht. Ich
begreife nicht, was Lucia an ihm findet.
Sie liebt Bücher. Die Memoiren
ihres Vaters sind gut, ein wenig trocken, aber sehr klar. Ich
glaube, im ganzen ist die Prosa unserer Epoche besser als ihre
Verse. Mit meinen eigenen Versen ist auch nicht viel Staat zu
machen. Mein Versroman über die Geschichte des Capitols ist eine
Jugendeselei. Aber meine Prosa ist nicht übel. Jedenfalls habe ich,
als ich den Essay »Zum Lob der Glatzköpfe« schrieb, ungeheuern Spaß
daran gehabt. Und sicher ist es besser, ich selber lache über die
Dünnheit meiner Haare als die andern.
Aber froh bin ich, daß ich es
nicht mehr nötig habe, Verse zu machen. Wer selber verhindert ist,
Taten zu tun, mag sich in Verse flüchten. Literatur ist ein guter
Zeitvertreib für den, der sie schreibt, immer, und manchmal auch
für den, der sie liest. Wenn ich erst soweit bin, werde ich die
Literatur groß unterstützen. Das kostet nicht viel. Eine
literarische Konkurrenz, auch wenn ich sie erstklassig aufmache,
kostet noch nicht den hundertsten Teil eines anständigen
Wagenrennens. Sie bringt natürlich auch weniger Popularität. Aber
mehr Ehre. Wenn ich von den hundertfünfzig Millionen, die ich aus
den enteigneten Terrainschnitzeln herausquetsche, nur drei Prozent
für literarische Konkurrenzen und Preise stifte, dann sitze ich so
dick in Ehre, daß das Gemecker über die Enteignungen nicht an mich
herankann.
Unter dem Kaiser Domitian, meine
Lieben, werden die literarischen Veranstaltungen anders ausschauen
als jetzt. Ich muß es dahin bringen, daß man bei einer
literarischen Konkurrenz nicht weniger fiebert als bei einem
Wagenrennen. Nur: wen soll man heute zum Preisrichter machen? Pack.
Gesindel. Sie wissen nicht, was gut ist und was schlecht. Man kann
sie mit einem Hauch dahin bringen, daß sie schwarz heißen, was
ihnen gerade noch golden war. Es lohnt nicht, ihr Kaiser zu sein.
Bei den Ziffern dieses widerwärtigen Regin weiß man wenigstens,
woran man ist. Man sollte meinen, Literatur, Verse, das sei
jenseits ihres Schmutzes. Aber wenn sie den Olivenkranz anlangen,
wird er genauso dreckig, wie wenn sie Geld anlangen.
Späße zu machen, hat der Alte
verstanden. Aber die besten Späße, die höheren, subtileren, hat er
sich entgehen lassen. Es ist eine Scheißgeneration. Man muß die
Menschen klein machen und sie demütigen, immer noch kleiner; dann
vielleicht hat man manchmal das Gefühl, man selber sei
groß.
Regin war schon eine ganze Weile
verstummt. Domitian fuhr auf, riß sich zusammen. »Ich danke Ihnen
sehr, mein Regin«, sagte er, »für Ihren Vortrag. Ich werde Ihrem
Rat folgen, wenn es erst soweit ist.«
Regin entfernte sich gut gelaunt.
Domitian war ein Lump, seine Seele war zerfressen und verkommen.
Aber von seinem Vater geerbt hatte er das Talent fürs Organisieren
und eine gute Rechenhaftigkeit. Claudius Regin fühlte sich neu
belebt, nun er Gelegenheit witterte, sein sportliches Interesse an
der Ordnung der Reichsfinanzen wieder sinnvoll zu
betätigen.
Im Spätsommer, als die Hitze nachließ, lebte
Titus plötzlich auf. Am zweiten September wurde bekanntgegeben, daß
der Kaiser, der sich ziemlich lange nicht mehr gezeigt hatte, am
vierten der Eröffnung der Großen Spiele im Amphitheater beiwohnen
werde.
Rom freute sich. Die Gerüchte von
der Krankheit des Titus hatten die Stadt beunruhigt. Domitian war
unbeliebt, die Furcht vor dem übeln Nachfolger steigerte die Liebe
zu dem regierenden Kaiser. Zudem war die Stadt erregt durch
Kundgebungen des falschen Nero, der noch immer nicht erledigt war.
Jede Woche tauchten neue Proklamationen auf, in denen der
Prätendent – Enkel des Augustus, Abkömmling des Julius Cäsar und
der Göttin Venus nannte er sich – verkündigte, er sei den
Nachstellungen eines verräterischen Senats entgangen und werde in
allernächster Zeit aus dem Osten hervorbrechen, den Blitz in der
Hand, um die flavischen Emporkömmlinge zu vernichten. Seit einem
Jahr fast hielt dieser Nero die asiati schen Provinzen in Atem,
offensichtlich unterstützt von den mächtigen Grenznachbarn der
Römer, den Parthern. Schon sprach man von einem neuen parthischen
Krieg, und es war gut, daß sich der Walfisch endlich einmal wieder
seinem Volke zeigte.
Zehntausende also wohnten dem
feierlichen Opfer bei, mit dem der Kaiser die Spiele einleitete.
Der weiße Stier wurde herbeigeführt, der Großpriester hob das
Messer, schon machte Titus sich bereit, mit der Schale das Blut
aufzufangen, um es vor dem Altar auszugießen. In diesem Augenblick,
unmittelbar vor dem tödlichen Stich, riß sich der Stier los und
brach, den Strick noch um Bein und Hals, unter die schreiende
Menge. Panik entstand, viele wollten später aus dem heitern Himmel
Donner gehört haben. Titus tat, als schrecke ihn das böse Zeichen
nicht. Sein schlaffer, breiter Knabenkopf, der in den letzten Tagen
ein bißchen Farbe angenommen hatte, erblaßte freilich wieder, und
die engen Augen, schläfrig und entzündet, verschwanden fast völlig
unter den Lidern. Aber er stand ruhig da und wartete, bis der Stier
wieder eingefangen und das Opfer vollendet war. Dann, wie er es
angekündigt, fuhr er pomphaft ins Amphitheater.
Dort freilich saß er verfallen
auf seinem mächtigen Sessel, und es kostete ihn Mühe, dem Zuruf der
Massen gebührend zu danken. Der Anblick des gewaltigen Baus, der
festlichen Zuschauer, der Menschen und Tiere, die in der Arena zu
seinen Ehren und seinem Ergötzen starben, machte ihn nicht froh. In
ihm war ein vages Gefühl, daß er das letztemal hier sitze und seine
so teuer erkaufte Beliebtheit genieße. Daß das Opfer mißglückt war,
ängstigte ihn. Es machte ihn trüb, daß es nicht gelang, das
Andenken des Nero im Volke totzutreten, trotzdem er selber und
seine Vorgänger in den vierzehn Jahren seit dem Sturz des Kaisers
sich bemüht hatten, alle seine Bauten zu vernichten und seine
sichtbaren Spuren zu tilgen. Nur mit Anstrengung hielt Titus die
vier Stunden durch, die er der Sitte zufolge im Amphitheater
bleiben mußte. Er wollte Rom los sein, er wollte unmittelbar nach
der Eröffnung der Spiele auf seine Besitzung bei Cosa fahren, er
freute sich auf die ländliche Ruhe dieses primitiven Gutes, das er
belassen hatte, wie sein Vater und sein Großvater es übernommen. Er
atmete auf, als endlich die vier Stunden vorbei waren und er den
Wagen besteigen durfte.
Doch kaum hatte er das Weichbild
Roms hinter sich, als ihn eine pressende Übelkeit anfiel. Er hatte
sich danach gesehnt, die würdige Haltung aufzugeben, die er sich
diese vier Stunden über hatte abzwingen müssen. Aber er durfte auch
jetzt seine Erschlaffung nicht genießen. Krämpfe würgten, ein
wildes Fieber schüttelte ihn. Der Arzt Valens schickte Kuriere nach
Rom, die Kaisertochter Julia, Domitian, Lucia
herbeizurufen.
In dem altmodischen Gutshaus
dann, in der Nische, auf dem breiten Bett, das sich nur ein paar
Handhoch über dem Boden erhob und in dem sein Vater gestorben war,
lag der Kaiser Titus. Eine Woche lang lag er da und noch zwei Tage,
und er wußte nicht, daß er dalag.
Manchmal unterhielt er sich mit
Nero. Es war nicht ganz klar, mit welchem Nero, mit dem Jüngling,
der schüchtern und ungelenk, mit dem Manne, der schön und
bezaubernd, oder mit dem früh Gealterten, der fett und launisch wie
ein verblühtes Weib war. Titus wollte gern herausbringen, mit was
für einem Nero eigentlich und wieso überhaupt und worüber er mit
ihm sprach. Aber das war schwer; denn Nero hatte einen goldenen
Kopf auf wie die Kolossalstatue, und das Geglitzer des Kopfes
machte alles undeutlich. War es denn überhaupt der richtige Nero?
Er hatte doch selber Auftrag gegeben, den Kopf des Kolosses mit dem
seines Vaters zu vertauschen, und jetzt hatte Nero trotzdem seinen
eigenen Kopf. Das war eine ungeheure Frechheit und ängstigte den
Titus. Wie soll man denn einen so gewaltigen Kopf abhauen, wenn er
aus Gold und der Mann, dem er gehört, überdies schon tot ist? Er
wandte sich an Britannicus, seinen Jugendgespielen, mit dem er
erzogen worden war. Der hatte sich glücklicherweise in den langen
Jahren seines Totseins nicht verändert. Aber auch er wußte keinen
Rat, und trotzdem sie jetzt zu zweit waren, wollte es ihnen nicht
glücken, Nero den goldenen Kopf abzuhauen. Der tat vielmehr immer
wieder den Mund auf und sagte: »Ich, Claudius Nero, Enkel des
Augustus, werde hervorbrechen aus dem Osten, den Blitz in der
Hand.«
Plötzlich wußte Titus, warum der
Kopf nicht herunterging: es lag an dem Glasaug. Wenn aber der Mann
das Glasaug hatte, war er doch gar nicht Nero. Titus suchte und
suchte, er konnte nicht daraufkommen, wer er war, der mit dem
Glasaug. Es handelte sich um die Befehlsausgabe, so weit sah er
klar, und die Befehlsausgabe war gefährlich. Wohl hatte Titus am
Wortlaut schlau und lange gebastelt, man konnte ihm auch nichts
nachweisen, aber zweideutig blieb die Befehlsausgabe trotzdem, und
der mit dem Glasaug merkte es auch, er schnupperte mit der frechen,
weitnüstrigen Nase und blinzelte den Kaiser an. »Belästigt der
Gegner die Lösch- und Aufräumekommandos«, las er, und nun war es
doch wieder Nero. Das Glasaug stand ausgezeichnet zu dem goldenen
Kopf, der ganze Mann wirkte lasterhaft, aber eminent
aristokratisch. Unsinn. Er hatte gar keinen goldenen Kopf, er hatte
ein nacktes, rotes Gesicht und sah vulgär aus. Natürlich war das
nicht Nero; denn diejenigen, die vulgär aussahen, das waren ja sie
selber, die Flavier, während Nero auch in der letzten,
schmutzigsten Ausschweifung der Aristokrat blieb, der Nachfahr des
großen Julius und der Venus.
Wenn der Bursch die
Befehlsausgabe falsch versteht, dann geht alles schief, dann wird
geschossen, und der mühsame, kostspielige Neubau des Capitols fällt
wieder ein. Er hat schon zu Ende gelesen, gleich wird er
kehrtmachen. Titus muß den gefährlichen Befehl widerrufen, sofort,
im nächsten Augenblick wird es zu spät sein. Er möchte auch, aber
er kann nicht; das drückt ihm beinahe den Magen ab. Dabei steigt
die Frau bereits die Tempelstufen hinauf. Es ist die Heilige
Straße, und es ist die Äbtissin der Vestalinnen, und er, Titus,
geleitet sie, denn als Kaiser hat er das Erzpriesteramt angenommen.
Er bleibt ein wenig zurück, er muß sehen, wie sie geht, denn sie
geht nicht, sie schreitet, sie »wandelt her«, es gibt, um ihren
Gang zu kennzeichnen, kein anderes als das homerische Wort. Er darf
nicht länger hinter ihr zurückbleiben, er muß neben ihr gehen, das
Zeremoniell verlangt es, und den Befehl muß er auch in Ordnung
bringen. Sonst schießen sie. Wahrscheinlich werden sie schießen,
wenn sie gerade auf den Stufen des Capitols ist, und dann
zerschießen sie das Bein, und soll er es zerschießen lassen oder
nicht? Seine Begierde, das Bein der Vestalin zu sehen, brennt ihn
immer mehr, er muß es sehen, von der Sohle bis hinauf zu den
Schenkeln, er muß es streicheln, drücken, kneten, pressen. Sie
sollen schon schießen, er freut sich darauf, zuzuschauen, wie sie
das Bein zerschießen. Worauf warten sie denn? Ja, natürlich, auf
den Kerl, den Namenlosen mit dem goldenen Kopf und dem Glasaug. Der
steht noch immer mit seinem Befehl. Aber jetzt dreht er sich um,
und dann wird es gleich zu spät sein, dann schießt er, der
Hauptmann Pedan.
Titus lacht, leuchtet auf. Pedan
heißt er. Selbstverständlich. Daß ihm das nicht gleich eingefallen
ist. Dreiundvierzig Jahre, und schon läßt sein Gedächtnis nach. Er
stenographiert den Namen in die Luft: Pedan, Hauptmann Pedan von
der Fünften. Er stenographiert ihn mehrmals, damit er ihn ja im
Kopf behalte. Pedan von der Fünften, Inhaber des
Graskranzes.
Die Frau mittlerweile schreitet
noch immer. Jetzt hat sie ihr langes Priesterkleid gerafft wie eine
Tänzerin, und er kann das Bein bis hinauf zu den Schenkeln sehen,
nackt. Der Anblick ist erfreulich und äußerst unzüchtig. Wer hätte
gedacht, daß die Äbtissin der Vestalinnen ein so junges, schönes
Tänzerinnenbein hat?
Da ist man schon im Heiligsten
des Tempels. Aber wo ist denn die Jupiterstatue geblieben? Ist der
Capitolinische Jupiter auf einmal gestaltlos geworden? Haben
diejenigen recht, die behaupten, es stehe nichts im
Allerheiligsten? Das wäre ein Unglück. Man könnte dann ja gar nicht
opfern. Es wird auch nichts mit dem Opfer. Der weiße Stier reißt
sich los. Ein böses Zeichen. Aber er darf sich nicht anmerken
lassen, daß ihm das etwas ausmacht. Es ist ihm furchtbar übel, aber
er muß hier bleiben, aufrecht, und Disziplin wahren und
warten.
Da steht ja doch etwas im
Allerheiligsten. Das Bein steht darin, natürlich, das Bein der
Frau, das herwandelnde, herrliche, dieses niederträchtige Bein, das
ihm das Hirn verrückt gemacht hat. Es ist ein ungeheures
Verbrechen, daß dieses Bein in der Zelle des Capitolinischen
Jupiter steht. Es muß fort, er muß es zertreten, in Stücke
schmettern, dem Erdboden gleichmachen. Es muß heraus, das da, das
Bein. Hep, Hep, es muß herunter. Plötzlich steht sein Vater hinter
ihm; vertraulich, mit seiner knarrenden Stimme, gibt er ihm einen
Rat. Es ist ganz einfach. Man muß nur das Bein durchhauen, dann
fällt der Kopf des Nero von selber herunter. Da hat der Alte recht,
wie so oft. Jedermann muß einsehen, daß es leichter ist, die Sehne
eines fleischernen Beines zu durchschneiden als einen metallenen
Kopf. Er nickt seinem Vater zu, hebt das Schwert.
Er fährt hoch. Etwas Scharfes,
Schmerzvolles und gleichzeitig Wohltätiges schneidet in ihn ein.
Man reibt ihm den Körper mit Schnee ab, der brennende Frost bringt
das Fieber zum Fallen, dämmt seine Phantasien.
Er erkennt, wo er ist: im
Gutshaus bei Cosa. Er lächelt. Hierher hat er gewollt. Es ist alles
genauso gegangen, wie er es gewollt hat. Er hat durchgehalten, er
hat die Spiele eröffnet, seine Römer haben sich gefreut. »O du
Liebe und Freude des Menschengeschlechts«, haben sie ihm zugerufen
und, noch hat er ihren zärtlichen Tonfall im Ohr: »O du unser sehr
gutes, sehr großes Walfischlein.« Und jetzt ist er auf dem Gut und
hat es überstanden. Zwei Wochen Ferien wird er sich gönnen, drei
Wochen, während deren er nichts tut und nichts denkt. Und dann,
wenn er ausgeruht nach Rom zurückkommt, wird er die Steuerprojekte
überprüfen, die Claudius Regin ihm vorgelegt hat, und den Krieg
gegen die Parther vorbereiten.
Da ist ja auch Bübchen. Bübchen
hat sich gefügt, es ist Titus gelungen, ihn klein und geschmeidig
zu machen. Geld freilich hat es gekostet. Wenn man hier das Gut bei
Cosa mit Bübchens Bauten bei Albanum vergleicht: ein billiger
Bruder ist Bübchen nicht. Und ganz zahm ist er auch noch nicht.
Diese Sache mit Julia, sicher hat er ihm nur einen Tort antun
wollen. Es ist ein kümmerlicher Tort, es ist merkwürdig, daß
Bübchen nichts Besseres eingefallen ist, dieser Streich jedenfalls
ist ihm gründlich danebengeglückt. Titus ist nicht weiter gekränkt.
Wenn Bübchen seine Julia gefällt, dann gönnt er ihm und ihr das
Vergnügen. Die weiße, fleischige Julia ist freilich etwas
wählerisch, und es ist fraglich, ob ihr Domitian gefällt. Wie
immer, es bleibt ein kahler, einfallsloser Spaß, durch den Bübchen
es ihm zeigen will. Was ist das schon für eine »Rache«? Lucia, er
hat dem andern Lucia ausgespannt, und wenn Julia auch sein eigen
Fleisch und Bein ist, niemand kann sie im Ernst mit Lucia
vergleichen. Im übrigen, Julia scheint nicht gewollt zu haben,
Lucia aber hat gewollt. Und Titus lacht, er lacht hoch und fein,
hi, hi, lacht er über die ärmliche, ohnmächtige Rache des
andern.
Daran, daß er vielleicht deshalb
hier liegt, weil Domitian es so gewollt hat, denkt er
nicht.
Vielmehr richtet er – den Kopf
kann er nicht bewegen, wohl aber die Augen – den Blick auf Lucia.
Da ist sie ja, Lucia, denkt er. Wenn er ihr früher begegnet wäre,
wäre sein Leben anders verlaufen. Aber auch so ist es gut. Die
Anerkennung seiner Römer hat er, die Dynastie sitzt fest, kein Nero
kann ihn mehr schrecken. Da liegt er und schwitzt. Es ist ein
gesundes Schwitzen, diese Krankheit ist die Krise, und mit ihr
schwitzt er den Osten völlig aus seinem Blut heraus. In Zukunft
wird keine Jüdin ihn mehr in Versuchung bringen.
Aber warum sind sie eigentlich
alle da, Bübchen, Julia und Lucia? Aha, wegen seiner Krankheit. Er
war offenbar sehr krank. Aber jetzt hat er es hinter sich. Keine
kleine Enttäuschung für Bübchen. Und Titus lächelt ihm zu,
amüsiert, spöttisch, bittet ihn durch seine Miene geradezu um
Entschuldigung, daß er kein Gott geworden ist.
Einen vermißt er. Einem muß er
sagen, daß er jetzt genesen ist und den Osten aus seinem Blut
herausgeschwitzt hat. Gerade dieser muß es erfahren, das ist
wichtig, und so bald wie möglich, noch bevor er zurück nach Rom
fährt, will er es ihm sagen. Er schickt einen Kurier nach Rom, in
das Haus im sechsten Bezirk, um Flavius Josephus
herbeizuholen.
Doch bald darauf, lange noch
bevor Josef ankam, überfiel den Kaiser ein neuer Fieberanfall,
schlimmer als der erste. Domitian befragte den Doktor Valens. Der
schaute ihn mit seinem kalten, prüfenden Blick an und sagte: »Ich
werde die Majestät in ein Schneebad bringen lassen. Wenn es gut
geht, kommt der Kranke noch einmal zur Besinnung. Aber es besteht
wenig Hoffnung, daß er den Tag überleben wird.« – »Sie glauben«,
fragte sachlich Domitian, »daß Kaiser Titus Flavius am 14.
September ein Gott sein wird?« – »Ich glaube es«, erwiderte der
Arzt, und unter dem weiter fragenden Blick
des Prinzen fuhr er fort: »Ich bin dessen
sicher«, und fügte die Anrede bei: »Majestät.«
Wenn das Fieber gefährlich hochstieg,
pflegten die Ärzte den Patienten in ein Schneebad zu stecken. Die
Dauer eines solchen Bades richtig zu dosieren war schwierig und
galt für den Prüfstein eines guten Arztes. Oft hatten Schneebäder
den Patienten vor dem sichern Tod gerettet; doch manchmal auch
starb ein Patient im Schneebad.
In der felsigen Grube des Hauses
bei Cosa hielt sich der Schnee hart und gut. Man grub, unter
Aufsicht des Arztes Valens, den schweren, glühheißen Körper des
Kaisers tief ein. Die Damen Lucia und Julia – Domitian hatte das
Gut verlassen – standen fröstelnd in dem Keller, die schmale Luke
und der Schnee gaben mattes Licht, sie schauten widerwillig
gespannt zu, wie man den Kaiser eingrub.
Titus kam zu sich. Er war
ängstlich erregt, daß Josef noch nicht da war. Er wußte jetzt, daß
er sterben werde. Er schauerte vor Schwäche und Frost. Seine Haut
war bläulich; er preßte die Zähne zusammen, damit sie nicht
klapperten. Man flößte ihm einen von Valens bereiteten Trunk ein,
um seine schwindende Kraft aufzupeitschen. Er sprach nicht, auch
die beiden Frauen schwiegen, es war finster und kalt. Erst ging
Julia, dann ging auch Lucia. Als Josef kam, fand er niemand bei dem
Kaiser, nur den Valens.
Titus schickte den Arzt weg.
Josef stand allein vor dem Sterbenden, der mit starren Gliedern im
Schnee lag. Nochmals neigte er sich tief und wiederholte den Gruß:
»Hier bin ich.« In ihm aber dachte es: Keine Weisheit ist außer der
des Kohelet: »Der Mensch ist nicht mehr wert als das Vieh. Wie
dieses stirbt, so stirbt jener, und alles ist eitel.«
Titus schien unendlich schwach,
geschüttelt von Frost und Schmerz, aber, vielleicht war es die
Wirkung des Trankes, er war völlig klar. Das ererbte und anerzogene
Römertum in ihm war stark genug, die Furcht der Kreatur in der
Stunde des Absterbens zu besiegen. Zwar verlangte er nicht, im
Stehen zu sterben, wie der Alte, aber auch er wollte, daß in seinen
letzten Augenblicken keine Niedrigkeit sei, und ferner wollte er,
daß gerade dieser Mann aus dem Osten mit ansehe und bezeuge: der
römische Kaiser Titus starb nicht unwürdig. Nur mit Anstrengung tat
er die bläulichen Lippen auf, doch seine Stimme war vernehmlich,
ja, es war in ihr ein letzter Rest jenes schmetternden
Kommandotones, den Josef so oft vor den Mauern Jerusalems gehört,
und er sprach: »Ich habe dich herrufen lassen, Flavius Josephus,
daß du etwas aufschreibst. Ich habe dir eine Ehrensäule
hingestellt: halte du für die Späteren fest, was ich dir sage. Ich
habe mich bemüht, die ›Liebe und Freude des Menschengeschlechts‹ zu
sein, ich war das sehr gute, sehr große Walfischlein, und ich habe
zu dem Tag, an dem ich nichts Gutes tat, gesagt: diesen Tag habe
ich verloren. Aber das ist es nicht, was du aufschreiben sollst.
Ich habe viele Menschen umgebracht, und das war gut, ich bereue es
nicht. Allein ein Einziges ist, das war nicht gut. Schreib das auf,
mein Jude, du großer Geschichtsschreiber: der Kaiser Titus hat
keine Tat seines Lebens bereut, nur eine einzige. Hörst du mich?
Schreib es auf, mein Jude, mein Chronist.« Da Titus verstummte,
fragte Josef: »Welche Tat, mein Kaiser?«
Doch Titus, statt aller Antwort,
mit verlöschenden, sonderbar nach innen gestellten Augen, fragte:
»Warum ist Jerusalem zerstört worden?«
Da packte den Josef ein lähmendes
Entsetzen von seinen Eingeweiden her, und er stand steif und wußte
nichts zu erwidern. Der Kaiser aber fuhr fort und bat: »Willst du
mir nicht eine Antwort geben, mein Jude? So lange habe ich auf eine
Antwort gewartet, und niemand kann sie mir geben, nur du, und wenn
du sie mir jetzt nicht gibst, wird es zu spät sein.«
Josef aber, mit all seiner
Energie, riß sich zusammen und erwiderte, und das war die Wahrheit:
»Ich weiß es nicht.«
Doch Titus, aus dem Schnee
heraus, fuhr jämmerlich fort: »Ich sehe, du willst es mir nicht
sagen. Ihr habt ein gutes Gedächtnis, ihr Juden. Ihr seid wie euer
Gott, eifervoll, ihr tragt einem ewig nach, was man einmal getan
hat, und vergeßt nichts bis ans Ende.« Und wie ein Kind klagte und
maulte er weiter: »Ich war dir nie feind, mein Jude, und habe dich
nicht entgelten lassen, was die Frau an mir getan hat. Ich bin dein
Freund geblieben, auch als sie wegging. Aber du willst mir nicht
antworten.«
Den Josef aber erschütterte der
Wahn des Mannes. Da suchte er noch im Sterben ihn und sich selber
zu belügen und machte sich vor, die Frau, die er weggeschickt
hatte, habe ihn aus eigenem Willen verlassen, und er tat dies, um
eine Antwort zu bekommen auf die Frage, warum diese Stadt Jerusalem
zerstört worden sei, die er doch selber zerstört hatte. Das Grauen
vor der Brüchigkeit der menschlichen Vernunft packte Josef derart,
daß er darüber den Frost und die Dunkelheit des elenden Raumes
vergaß und die schauerliche Verlassenheit dieses Sterbenden. Die
Juden, die vom andern Tiberufer, hatten also doch recht: Jahve
hatte dem Kaiser eine Fliege ins Hirn geschickt, die summte darin
herum, kein Lärm des Arsenals hatte sie zur Ruhe bringen können.
Titus war nur ein Werkzeug gewesen, nicht mehr als die rote,
behaarte Hand des Hauptmanns Pedan. Jetzt berief er sich darauf,
daß er ein Werkzeug war: doch damals, als er handelte, hat er es
nicht wahrhaben wollen. Er hat sich übernommen, damals. Er hat
gewußt, daß es darum ging, Ost und West zu vereinigen, aber er ist
auf halbem Wege umgekehrt, hat den Osten, statt ihn zu gewinnen,
kaputtgeschlagen und wurde wieder der Römer, der er von Anfang an
gewesen, nur der Römer, nichts als das, ein armer Eroberer, ein
kläglicher Mann des Tuns, ein Narr, der um die Nichtigkeit des Tuns
wußte und doch nicht davon ablassen konnte. Jetzt hat er seinen
Lohn dahin. Da liegt er, und das Gesicht ist das seines Vaters, das
Gesicht eines alten Bauern: nur daß der Alte damit einverstanden
und darauf stolz war, dieser aber sich dessen schämt. Der Herr der
Welt, der Kaiser, der Römer, der mißratene Weltbürger, das Häuflein
Dreck, der Mensch, der dahingeht wie das Vieh.
Und als der Mann im Schnee
nochmals die bläulichen Lippen rührte – Josef konnte nichts mehr
hören, aber er wußte, daß er seine Frage wiederholte und auf seiner
Antwort bestand –, da überkam ihn das ganze Elend dieser Frage, und
das Gefühl überwältigte ihn, wie nichtig er selber sei und alle
Kreatur. Er konnte den Anblick des Sterbenden kaum mehr ertragen,
er mußte sich bezähmen, um nicht hinauszustürzen, diesem Frager zu
entfliehen, und er atmete auf, als der Arzt Valens
eintrat.
»Ich trage keinen Anstand«, sagte
Valens, »Sie diesmal schon nach einer Viertelstunde zu stören.« Er
wandte sich dem Mann im Schnee zu. »Der Kaiser Titus Flavius ist
tot«, konstatierte er sachlich.
Domitian unterdes ritt eilends nach Rom
zurück, ohne Begleitung. Nacht fiel ein, es war spärlicher Mond und
sehr dunkel. Domitian schonte sein Pferd nicht. Nun es soweit war,
wollte er nicht glauben, daß die Herrschaft, nach der er sich so
lange und so verzehrend gesehnt, ihm wirklich zufallen werde, und
er malte sich aus, was alles noch zwischen ihn und die Erfüllung
treten könnte. Wie, wenn dieser Valens ihn verriet und dem Titus
von den Gesprächen mit Marull erzählte? Titus war ein Schwächling
und besessen von seinem närrischen Wunsch, der Dynastie die
Erbfolge unter allen Umständen zu erhalten. Aber wenn er auch Julia
und alles Vorhergehende vergaß, so närrisch konnte er nicht sein,
daß er nicht nach einem solchen Verrat zupackte und ihm und dem
Marull den Henker schickte.
Unsinn. Man brauchte keinen Arzt,
um zu erkennen, daß Titus im Sterben lag, mit oder ohne Schneebad.
Selbst wenn Valens sich täuschte, wenn Titus noch einen Tag, ja
wenn er noch eine ganze Woche leben sollte: gegen ihn, Domitian,
hat er ausgespielt. Er wird sich jetzt, sowie er nach Rom kommt,
einfach der Garde versichern, alles ist vorbereitet. Mit Hilfe der
Garde kann er sich, was immer kommen mag, so lange halten, bis
Titus hinüber ist.
Er ist hinüber, er ist bereits
ein Gott, er lebt nicht mehr. Domitian spürt es tief in seinem
Innern. Er ist tot, der andere, der Bruder. Nie mehr wird er das
unangenehme Schmettern seiner Kommandostimme hören müssen, nie mehr
sein überlegen humoristisches Zureden. Es ist aus. Das ist gut,
auch für Lucia. Sicher wird sie sich darüber freuen. Domitian,
während er durch die Nacht dahinjagt, rötet sich. Sie muß sich darüber freuen.
Es ist merkwürdig, daß eine Frau
wie Lucia den Titus nicht verachtet, den Narren und Schwächling.
Was er zum Schluß wohl noch mit dem Juden zu reden hatte? Er
braucht Popularität, auch nach dem Tode, er braucht den
Geschichtsschreiber, er stirbt für den Geschichtsschreiber, wie er
für ihn lebte. Er braucht künstliche Stützen, das ist es, er genügt
sich selber nicht. Immerhin wäre es nicht uninteressant, zu wissen,
was er mit dem Juden besprochen hat. War es wegen Julia? Schade,
daß nicht er selber, Domitian, heute davon anfing. Jetzt ist es
aus, und er wird nie mehr erfahren, ob der andere es auch ganz
gespürt hat, daß das Konto bereinigt war. Ob der Jude ihm verraten
wird, was Titus ihm anvertraut?
Er selber wird keinen Juden und
Geschichtsschreiber brauchen, wenn er stirbt. Er ist seiner sicher.
Das einzige, was ihm noch fehlte, war der garantierte, legitime
Besitz der Macht. Nun er sie hat, braucht er keinen Chronisten. Ob
er den Josef umbringen lassen soll? Der Mann weiß vieles, was
besser nicht gewußt wird. Aber es wird Lucia nicht angenehm sein,
wenn der Mann nicht mehr da ist. Wer die Macht hat, dem genügt das
Gefühl, daß er seinen Lüsten nachgeben könnte: er braucht ihnen
nicht nachzugeben. Lassen wir den Mann leben.
Domitian ritt in Rom ein. Ritt,
es war jetzt tiefe Nacht, in die Kaserne der Leibgarde auf dem
Palatin. Befahl den Kommandanten zu sich. Teilte dem Erschreckten
mit, daß der Kaiser gestorben ist. Ließ Alarm schlagen. Aus dem
ersten Schlaf auftaumelnd, versammelten sich die Mannschaften in
den Höfen. Man gab ihnen bekannt, Titus sei gestorben; die erste
Amtshandlung des neuen Kaisers bestehe darin, daß er ihnen eine
Gratifikation von achthundert Sesterzien pro Mann anweise. Die
gleiche Kundgebung wurde in den andern Kasernen der Stadt verlesen.
Offiziere und Soldaten wurden auf den Kaiser Flavius Domitian
vereidigt. Klirrend, befriedigt grüßten sie den neuen Herrn und
blieben gern die Nacht über unter Waffen.
Durch alle Straßen der Stadt
jagten Kuriere. Bewegung war, Fackeln, Patrouillen, die Häuser
erleuchteten sich. Viele Senatoren, ohne daß die Konsuln sie
entboten hätten, begaben sich hastig und erregt in die Julische
Halle. Sie fanden das Gebäude besetzt; alle strategischen Punkte
der Stadt waren besetzt. Es wurde jedem einzelnen Senator
mitgeteilt, Kaiser Domitian erwarte ihn in der Bibliothek des
Palatin. Unbehaglich sahen die Herren, daß sich jedem von ihnen ein
Detachement Soldaten anschloß, keineswegs in verletzender Form,
eher wie ein Ehrengeleite. Unbehaglich sahen sie die Truppen vor
allen wichtigen Gebäuden der Nacht, unbehaglich den wie eine
Festung bewachten Palatin.
Durch verstörte Dienerschaft,
über schlecht erleuchtete Korridore, auf denen Offiziere
beschäftigt hin und her eilten, wurden die Herren in die Bibliothek
geführt. In betretenen Gruppen standen die Berufenen Väter
zusammen, aus dem Schlaf aufgestört, viele nur notdürftig
angezogen. Man bezweifelte die Authentizität der Todesnachricht,
aber keiner traute dem andern, man wagte nur flüsternde Worte über
das, was alle bewegte; laut machte man wortkarge Konversation über
Nebensächliches, daß man eigentlich bereits heizen müsse und
dergleichen. Endlich, von den wachhabenden Offizieren mit der
Ehrenbezeigung und dem Gruß, der dem Kaiser vorbehalten war,
empfangen, erschien Domitian. Die Arme eckig nach hinten,
sorgfältig angezogen, doch ohne andere Insignien als die der
senatorischen Würde, auch ohne Abzeichen der Trauer, ging er
zwischen den einzelnen Gruppen herum, ausgesucht höflich, ja mit
gespielter Schüchternheit und Demut. Man war sich im unklaren, was
er eigentlich wollte. Es war keine Frage, daß man ihm den
Huldigungseid leisten werde, es hätte dazu des Truppenaufgebots
nicht bedurft. Aber was die Herren ängstigte, war der Zweifel, ob
er die Privilegien der einzelnen bestätigen werde; vor allem die
Freunde des Titus fürchteten eine Minderung ihrer Stellung und
ihres Einkommens. Wie überhaupt wird es der neue Herr mit dem
Andenken seines Bruders halten? Wollte er, daß man sich freue,
einen neuen, so begnadeten Kaiser bekommen oder einen so begnadeten
Kaiser verloren zu haben? Man wußte natürlich, wie sehr Bübchen
seinen Bruder gehaßt und verachtet hatte. Aber wird er nicht, um
das Ansehen der Dynastie zu erhöhen, wünschen, daß man ihn, nun er
tot war, wie den Vater unter die Götter erhebe? Dieser Zweifel
beschäftigte die Herren so, daß sie nicht einmal in Gedanken mehr
wagten, Domitian Bübchen zu nennen oder sich einzugestehen, daß er
einen beginnenden Bauch habe und daß seine eckig starre Haltung
diesen Bauch betone.
Domitian, sicher im Schutz seiner
Garde, spürte bald, wieviel er sich mit diesem Senat erlauben
dürfe. Er begann, sich an der Unsicherheit der Herren zu weiden. Er
dachte an jene Nacht des zwanzigsten Dezember, da, während
Vespasian und Titus in Judäa standen, in Rom die Anhänger des
Vitell und des Vespasian um die Macht gekämpft hatten. Damals waren
er, sein Onkel Sabin und die dem Vespasian anhangenden Senatoren
auf dem Capitol belagert gewesen, dann war das Capitol im Sturm
genommen, Sabin und die meisten andern ermordet worden, und er
selber hatte sich, als Isispriester verkleidet, nur mit genauer Not
retten können. An die Angst jener Nacht also dachte er, und es
machte ihm Spaß, jetzt die Angst der Freunde des Titus auszukosten,
sie durch finstere Späße zu steigern.
»Scheint es Ihnen nicht
angebracht, mein Älian«, fragte er etwa, »die Majestät meines toten
Bruders wie die meines Vaters unter die Götter zu erheben?« Aber
als Senator Älian rasch und stürmisch ja sagte, schaute er ihn
sorgenvoll an und gab ihm, fast unterwürfig, zu bedenken: »Muß man
nicht, mein Älian, die Verdienste eines Fürsten sehr sorgfältig
prüfen, ehe man ihm eine solche Ehrung zubilligt?« Und »Was meinen
Sie, mein Rutil?« wandte er sich an einen andern. Und als der
verwirrte Senator Rutil zögerte, wunderte er sich, höflich, doch
mit sichtlicher Mißbilligung: »Merkwürdig, daß nicht einmal ein
Mann, der dem Verstorbenen so eng befreundet war wie Sie, mein
Rutil, von allein daran denkt, ihm eine solche Ehrung zu erweisen.«
Der unglückliche Rutil begann schnell etwas zu stammeln, doch
Domitian hatte sich schon einem Dritten zugekehrt.
Alle atmeten auf, als der neue
Herr sie verließ. Sie mußten bis zum Aufgang der Sonne warten, ehe
die Sitzung beginnen konnte. Und was sollte man dann beschließen?
Bübchen machte sich das Vergnügen, sie im unklaren zu halten. Es
war noch lange vor dem Morgen, sie fühlten sich frostig und
übermüdet, und es waren zu wenig Sitzgelegenheiten da. Manche
hockten auf dem Boden nieder oder streckten sich aus, um ein wenig
zu dösen.
Endlich erschien Annius Bassus
und unterrichtete sie, der Kaiser erwarte, der Senat werde seinen
Bruder in der gleichen Weise ehren wie seinen Vater. Jetzt wußte
man wenigstens Bescheid, und man durfte die Augen zumachen, bis die
Sitzung beginnen wird. Aber an diese Nacht wird man noch lange
denken.
Domitian indes hatte sich allein mit seinem
Zwerg Silen in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Der Zwerg, in
steife, schwere, rote Seide gekleidet, hockte in seinem Winkel.
Mögen sie jetzt glauben, ich spieße Fliegen auf, dachte Domitian,
grimmig vergnügt, schnalzte mit der Zunge, ging auf und ab. Der
Zwerg tat ihm nach, schnalzte, ging auf und ab.
Domitian hatte Weisung gegeben,
die Nacht hindurch außer Lucia und Flavius Josephus niemanden
vorzulassen. Er wollte die Nachricht vom Tod des Titus und die
Bestätigung seiner Herrschaft aus keines andern Munde haben als aus
dem eines dieser beiden. Am Hause des Josef hatte er einen Kurier
postiert, der ihn sogleich nach seiner Rückkehr zum Palatin führen
sollte, und er wettete mit sich selber, wer als erster ihm die
Nachricht bringen werde, Lucia oder Josef. Bringt sie Lucia, ist es
ein gutes, bringt sie Josef, ein schlechtes Zeichen.
Eine Stunde vor Tag kam Lucia.
»Er ist tot«, sagte sie. »Er hat kein leichtes Ende gehabt.« – »Ich
bin Kaiser«, sagte Domitian, »ich bin Kaiser, Lucia.« Er lachte,
die Stimme kippte ihm über, vor ihr ließ er sich gehen. »Wir sind
Kaiser«, krähte der Zwerg ihm nach. Domitian schwamm in seinem
Triumph: »Das war es, was ich mir zum Ziel genommen von jener Zeit
an, da ich das Capitol gegen Vitell hielt. Es war ein steiler Weg,
ich bin ihn ohne Krümmung gegangen, pfeilgerad aufwärts. Ich bin
ihn deinetwegen gegangen, Lucia. Ich habe dich zur Kaiserin
gemacht, wie ich es dir versprochen habe.« Lucia hatte sich
gesetzt; die letzten Stunden des Titus, die nächtliche Reise nach
Rom hatten sie mitgenommen, sie war sehr müde. Sie betrachtete den
auf und ab rennenden Mann, gähnte. »Du solltest mehr Sport treiben,
Bübchen«, sagte sie. »Beim Herkules, du kriegst einen
Bauch.«
»Du weißt nicht, wie das ist,
Kaiser sein, Lucia«, sagte Domitian. »Du hättest sehen sollen, wie
sie vor mir gekrochen sind.« – »Das ist nichts Neues, daß es in Rom
nicht mehr viele Männer gibt«, sagte Lucia; es klang unangenehm
sachverständig. »Im Senat gibt es nicht viele«, stimmte Domitian
zu, halb mit Genugtuung, halb mit Ärger. »Ich werde jetzt schlafen
gehen«, sagte Lucia, »ich bin sehr müde.« – »Bleib noch ein wenig«,
bat Domitian. »Vor Sonnenaufgang können sie Titus nicht zum Gott
und mich nicht zum Kaiser machen. Ich will noch ein paar von ihnen
herkommen und tanzen lassen.« – »Das interessiert mich nicht«,
sagte Lucia. »Aber es ist amüsant«, meinte Domitian, und »Bleib,
meine Lucia«, bat er, beharrte er.
Er ließ einige der Herren aus der
Bibliothek herüberbitten. Steifbeinig, die Arme eckig nach hinten,
den Bauch heraus, hielt er Cercle, ging leutselig von einem der
sorgenvollen, um ihre Privilegien Bangenden zum andern. Machte
literarische Konversation. »Haben Sie meinen Essay über die
Glatzköpfe gelesen, mein Älian?« fragte er. Der Senator schaute den
dünnbehaarten Kopf des neuen Herrschers an; er erinnerte sich
dunkel des Essays, es war ein »Lob der Glatzköpfe«, im Stil
modischen Humors, man wußte nicht recht, was war ernst gemeint, was
spaßhaft. »Ja, Majestät«, erwiderte er zögernd; schon war er gewiß,
daß Domitian ihn wieder werde hereinfallen lassen. »Was halten Sie
davon?« fragte denn auch mit tückischer Höflichkeit der Kaiser.
»Ich finde den Essay großartig«, entschloß sich Älian stürmisch zu
erwidern, »ernst und spaßhaft zugleich. Ich habe über ihn Tränen
gelacht und Tränen geweint.« – »Ich finde ihn erbärmlich«,
konstatierte trocken Domitian. »Ich schäme mich im Zeitalter eines
Silius Italicus, eines Statius, solches Zeugs geschrieben zu haben.
Was halten Sie von Silius Italicus, mein Varus?« wandte er sich an
den nächsten. »Er ist der größte Dichter der Nation«, sagte mit
Schwung Senator Varus. »Aber langweilig«, meinte Domitian und
schaute den Senator nachdenklich an, bedauernd, treuherzig, »sehr
langweilig, stinklangweilig. Mein ›Lob der Glatzköpfe‹ ist
wenigstens amüsant. Was ziehen Sie vor, mein Rutil?« pickte er sich
von neuem diesen Günstling des Titus heraus. Rutil suchte mit
hilflosen Vogelaugen seinem starren Blick auszuweichen. »Los, los,
mein Rutil«, drängte der Kaiser. »Los, los, mein Rutil«, drängte
der Zwerg. »Ich ziehe den Silius Italicus vor«, entschied sich
schließlich mit verzerrt schalkhaftem Lächeln Rutil. »So sind
unsere Senatoren«, sagte Domitian und schnalzte mit der Zunge.
»Selbst etwas so Langweiliges wie den Silius Italicus ziehen sie
meinen Späßen vor.« Er wandte sich um, er glaubte zu Lucia
gesprochen zu haben. Aber nur der Zwerg stand hinter ihm, Lucia war
gegangen.
»Es wird Tag«, sagte der Kaiser
zu den bedrückten Senatoren, »und Sie müssen sich daranmachen, dem
Senat und Volk von Rom einen neuen Führer zu finden. Ein schwerer
Tag für Sie. Ein schwerer Tag auch für mich, der ich mich wohl
werde entscheiden müssen, wessen Privilegien ich bestätigen soll,
wessen nicht. Mögen die Götter Ihr und mein Urteil erleuchten,
Berufene Väter«, entließ er die Herren.
Unmittelbar vor dem Morgen traf Josef ein.
Domitian hatte von Lucia erfahren, daß dieser Mann der letzte
gewesen war, mit dem sein Bruder gesprochen hatte. Wahrscheinlich
war der Jude der einzige, der wußte, ob und wie tief sein guter
Spaß mit Julia, dieser Ausgleich seiner alten Rechnung, den Toten
getroffen hatte.
»Sie wohnen doch noch im sechsten
Bezirk«, begann der Kaiser das Gespräch, »in der Straße zum
Granatapfel?« – »Ich schätze mich glücklich«, erwiderte Josef, »daß
die Gnade des Kaisers Titus mir das Haus belassen hat, das der Gott
Vespasian mir angewiesen.« – »Es ist Ihnen bekannt, daß ich in
diesem Hause geboren bin?« fragte Domitian. »Gewiß, Majestät«,
erwiderte Josef. »Arbeiten Sie gern in diesem Haus?« erkundigte
sich Domitian weiter. »Und wird Ihre Arbeit dort gut?« – »Das Haus
ist mir sehr lieb«, erwiderte Josef, »und ich arbeite gern dort. Ob
die Arbeit gut wird, darüber zu urteilen steht nicht bei mir.« –
»Es tut mir leid«, erwiderte Domitian und kam mit seinem steifen,
merkwürdig leisen Schritt sehr nah an Josef heran, »daß ich Sie
werde ausquartieren müssen. Ich will das Haus, in dem mein Vater,
der Gott Vespasian, so lange gewohnt hat und von dem soviel Glück
für das Reich ausging, den Göttern weihen und es zu einer
nationalen Gedächtnisstätte machen.«
Josef erwiderte nichts. Er wußte,
welchen Einfluß Marull auf Domitian hatte, aber auch, welchen
Einfluß Annius Bassus, er wußte, wie launisch Domitian und daß er
selber gefährdet war. Aber er war ohne Angst, er fühlte sich
seltsam sicher. Eitelkeit, Triumph, Niederlagen, Schmerz, Genuß,
Wut, Trauer, Dorion, Paulus, Justus, das alles lag hinter ihm, und
vor ihm lag nichts als sein Werk. Alles, was bisher in seinem Leben
gewesen war, hatte sich als gut für das Werk erwiesen und bekam
Sinn, sowie er es auf das Werk bezog. Jahve wird, des war er gewiß,
seine Hand über ihn halten, daß ihm nichts zustoße, was das Werk
gefährden könnte.
Mit ruhiger Neugier also wartete
er darauf, was Domitian von ihm wolle. »Sie hatten das Glück«,
sagte der jetzt, »dem Tod und der Verklärung meines Bruders, des
Kaisers Titus, beizuwohnen. Was wollte mein Bruder zuletzt noch von
Ihnen?« Die Frage sollte ruhig klingen, aber Domitian konnte sich
nicht bezähmen, sein Gesicht rötete sich, die Stimme kippte ihm
über. »Kaiser Titus«, berichtete Josef, »wünschte, mir einen
Auftrag zu erteilen.« Domitian schaute ihm fast mit Angst auf den
Mund. »Er forderte mich auf«, erzählte Josef, »für die Späteren
aufzuschreiben, daß er eine einzige Tat seines Lebens bereue.« –
»Welche?« fragte Domitian. Aha, dachte er, die Sache mit Julia hat
ihn also doch getroffen. Er hat ihm gesagt, er bereue es, mich
nicht aus der Welt geschafft zu haben. Und den Mund geöffnet,
wartete er auf Josefs Antwort. Aber »Er kam nicht mehr dazu, es mir
zu sagen«, war alles, was Josef noch zu berichten hatte.
Domitian atmete hoch. Doch schon
den Augenblick darauf war er enttäuscht. Niemals also wird er
erfahren, welche Wirkung die Sache mit Julia getan hat. Natürlich,
dachte er, hat Titus es ihm gesagt, und der Schlauberger will es
mir nicht verraten. Laut äußerte er: »Es gibt unter uns nicht
viele, die von ihren Taten nur eine einzige zu bereuen hätten. Mein
Bruder war ein tugendhafter Mann. Mein Bruder«, fuhr er fort, ein
kleines finsteres Lächeln auf dem Gesicht, »war außerdem ein
glücklicher Mann.« Und mit zweideutiger, gefährlicher Ver
traulichkeit erläuterte er: »Er ist auf dem Gipfel seines Ruhmes
gestorben. Wenn er später gestorben wäre, wer weiß, ob er seinen
Ruhm hätte halten können, und ihm lag viel an seinem Ruhm. Die ihn
zu früh haben sterben lassen«, schloß er, und sein freches,
finsteres Lächeln vertiefte sich, »haben zu seinem Besten
gehandelt.«
Als er mit diesen Worten den
Josef entließ, war die Sonne aufgegangen, und der Senat von Rom
schickte sich an, Titus unter die Götter und Domitian zum Kaiser zu
erheben.
Drei Tage später, am ersten Tischri und somit
am Neujahrstag des Jahres 3842 jüdischer Rechnung, stand Josef in
der Synagoge, die seinen Namen trug. Das Widderhorn, das scharf,
gell, häßlich zur Buße rief, erschütterte ihn bis in die
Eingeweide, riß ihm das Innere auf. Es war ein wohltätiges
Aufreißen, seine Seele wurde gepflügt zur Aufnahme der Saat. Als er
des Nachmittags an das Ufer des Flusses Tiber trat, um, wie es
Vorschrift war, seine Sünden von sich in den Fluß zu schütten, auf
daß das fließende Wasser sie zum Meer trage und sie dort ersäufe,
fühlte er sich in Wahrheit gereinigt.
Am ersten Tischri wirft Jahve die
Lose, doch erst am zehnten, am großen Sühnetag, am Sabbat der
Sabbate, siegelt er sie; diese Frist gab er den Männern seines
Volkes, damit sie durch Buße das Gericht abwenden könnten. Mehr als
die andern hatten in jener Zeit die Juden die Fähigkeit der Buße;
sie waren durch mehr Schuld und mehr Elend gegangen, sie wußten,
daß Schuld und Elend kein Ende sein muß, sondern ein Durchgang sein
kann vor neuem Beginn. Josef insbesondere, der ewig Wandelbare,
konnte seine Vergangenheit abschütteln wie glatte Haut das Wasser,
und wie ein Neugeborener von seinen Vätern und Vorvätern wohl ihr
Wesen überkommt, aber nicht ihr Schicksal, so konnte er jetzt, zu
Anfang seines neuen, großen Werkes, sein Dasein beginnen, ohne daß
seine Vergangenheit ihm zur Last gewesen wäre. Unverloren blieb
ihm, was an ihr nützlich war, und was an ihr schlecht war, strich
er aus.
Am zehnten Tischri dann stand er
wie die andern in seiner Synagoge, im einfachen, weißen Kleid, in
jenem Linnen, in dem er nach seinem Absterben in den Sarg gelegt
werden sollte; denn als ein zum Tod Bereiter hat man an diesem Tage
vor Jahves Antlitz zu treten.
Das Kollegium von Jabne hatte
angeordnet, daß das große Opfer, das früher, in den Zeiten des
Tempels, am Sühnetag dargebracht worden war, jetzt durch eine
Schilderung des Opferdienstes ersetzt werden sollte. Der Levit
Jubal Ben Jubal, einer der wenigen Sänger und Musiker des Tempels,
die sich aus der Zerstörung gerettet hatten, war zum Vorbeter der
JosefSynagoge bestellt worden. Er also, im Wechselgesang mit der
Gemeinde, trug die Schilderung des Tempeldienstes vor. Er kannte
gut die altererbten Melodien, und an der rechten Stelle, wenn er
vom Sündenbekenntnis sagte und sang oder vom Zählen der Güsse des
Opferblutes, das der Erzpriester gesprengt hatte, dann wob er den
wilden, eintönigen Singsang hinein, den die Leviten bis heute
bewahrt hatten aus jener Urzeit, da die Juden noch in der Wüste
gewandert waren.
Heil dem Auge, sang er, das die
vierundzwanzigtausend jungen Priester gesehen, die Geräte des
Tempels, die Pracht des Dienstes; wenn unser Ohr jetzt davon
vernimmt, wird uns die Seele trüb. Heil dem Auge, das den
Erzpriester gesehen, wenn er aus dem Allerheiligsten trat,
versöhnt, in Frieden, unversehrt, verkündend, daß der rote Faden
der Schuld weißgewaschen sei durch Jahves Gnade. Heil dem Auge, das
ihn so gesehen; wenn unser Ohr jetzt davon vernimmt, wird uns die
Seele trüb.
Denn wir, sang er weiter, wir,
ach, durch das Übermaß unserer Sünden, haben keine Entsühnung mehr.
Preisgegeben den Frevlern ist das Land, die Fremden sind der Kopf
geworden, wir die Fußsohle. Ohne Propheten tasten wir umher, gleich
Blinden, ohne Weissagung. Und keine neue Reinigung winkt uns mehr.
Keinen Erzpriester haben wir mehr, die Opfer für uns darzubringen,
keinen Sündenbock, unsere Schuld in die Wüste zu tragen.
Und er sprach und sang von den
Einzelheiten dieses großen Sühneopfers. Wie der Erzpriester sieben
Tage zuvor sich abgeschlossen hielt von jeder Berührung mit der
Welt, sein Herz nur auf sein heiliges Amt gerichtet. Wie er in der
Nacht vor dem großen Sühnetag ohne Schlaf und Speise blieb,
beschäftigt damit, die Schrift zu lesen und zu hören. Wie er dann
am Morgen, in weißen Gewändern, prangend im Tempelschmuck, zur
Ostseite des Vorhofs schritt, wo, gehütet von Priestern, die beiden
Ziegenböcke angepflockt standen, einander völlig gleich in Größe
und Gestalt, für deren Bereitstellung jedermann in Israel den
Bruchteil eines Hellers gespendet hatte. Wie er weiter aus der Urne
die goldenen Lose zog und bestimmte, welcher von den beiden Böcken
Jahves sein solle und welcher der Wüste. Wie er jetzt, die Hände
auf dem Haupt des Bockes, vor allem Volk die Sünden bekannte, die
er, sein Haus, sein Stamm, ganz Israel begangen, sie dem Bock aufs
Haupt legend, und wie er ihm diese Sünden, in Form eines roten
Fadens, ans Horn band und ihn fortschickte, daß er sie in die Wüste
trage. Wie er schließlich ins Allerheiligste eintrat und Jahve
anrief bei seinem wirklichen, erhabenen, furchtbaren Namen, der
sonst nie und von keinem genannt werden durfte, und wie alles Volk,
wenn der Name aus seinem Munde drang, sich hinwarf aufs
Angesicht.
So sagte und sang der Levit Jubal
Ben Jubal. Josef hatte alles miterlebt, wovon er sang, den ganzen
Dienst, er war während dieses Dienstes auf den Stufen des Tempels
gestanden, in der ersten Reihe, und wenn Augen selig waren, die das
mit angesehen, dann die seinen, und wenn einem die Seele trüb
werden mußte, der jetzt davon vernahm, dann ihm. Er hatte ferner,
aus größerer Nähe als irgendeiner unter den Lebenden, mit
angesehen, wie dieser Tempel und sein Allerheiligstes zerstört
wurde und seine Priester erschlagen. Er hatte schließlich, als
einziger unter den Juden, die Stätte in ihrer Ödnis gesehen, dem
Erdboden gleich. Er hatte das Verlorene gesehen, den Verlust
miterlebt und dieser Wirklichkeit standgehalten. Als er aber jetzt
die Schilderung des Verlorenen hörte, hielt er nicht stand. Sein
Herz versagte, stockte, die Augen, die den Brand und Sturz des
Tempels hatten sehen können, trübten sich, die Ohren, die das
Krachen und Bersten des Tempels hatten hören können, konnten nicht
die Schilderung des Tempeldienstes hören, und der Weltbürger
Flavius Josephus, während der Levit weitersang von der verlorenen
Größe seiner Nation, brach nieder und lag ohnmächtig in dem
einfachen, weißen Kleid, in dem er einstmals begraben werden
sollte.
Seitdem der Kaiser ihn aus seinem früheren
Haus ausquartiert hatte, wohnte Josef in dem Bezirk »Freibad«,
einer wenig vornehmen Stadtgegend im Süden, in einem kleinen Haus,
das zwischen hohen Mietkasernen eingepreßt lag. Er lebte da
inmitten tätigen, lärmenden Volkes, sehr zurückgezogen. Justus
hatte, als Josef sein früheres Haus verlassen mußte, eine eigene
kleine Wohnung genommen. Paulus, wohl auf Weisung der Mutter, kam
nicht mehr. Josef war die meiste Zeit allein, er arbeitete, wartete
auf Mara. Er arbeitete nicht schlecht in seiner neuen Wohnstätte;
im Grunde war es für einen Mann wie ihn gleichgültig, wo sein
Schreibtisch stand.
Und dann kam Mara mit dem
Kind.
Tüchtig, ohne viele Worte
übernahm sie die Führung des Hauses, und nach vierzehn Tagen war
es, als wäre sie immer dagewesen.
Wochen vergingen, Monate
vergingen. Die Menschen kümmerten sich wenig um Josef, er sich
wenig um die Menschen, er arbeitete und war einverstanden mit
seinem Schicksal.
Eines Tages überkam ihn Lust,
sein früheres Haus wiederzusehen, das Domitian, weil es so lange
die Wohnung seines Vaters, des Gottes Vespasian, gewesen und weil
er selber darin geboren war, in einen Tempel des Flavischen
Geschlechts hatte umbauen lassen. Josef machte sich auf und ging in
den sechsten Bezirk.
Mit Neugier und einem kleinen,
leicht spöttischen Unbehagen betrachtete er das Haus, in dem er
soviel erlebt hatte. Die Fassade war kaum verändert, ihr schlichter
Charakter sollte offenbar gewahrt werden. Er betrat das Innere. Ein
leiser, süß und fader Geruch von Räucherwerk schlug ihm entgegen.
Es war Nachmittag, bald wird man den Tempel schließen, nur sehr
wenig Menschen waren da. Zwischenwände, Decken und Böden hatte man
entfernt und so dem Raum mehr Höhe und Weite gegeben. Jenes
Halbdunkel aber, das so lange Dorions großer Kummer gewesen war,
hatte man, wohl weil es sich gut für einen Tempel schickte,
belassen, und Josef brauchte eine kleine Zeit, ehe er, aus der
Helle der Straße in das Dämmer tretend, sich zurechtfand. Dann sah
er.
In drei großen Nischen standen
die Bilder der Götter, denen das Haus geweiht war. In der
Mittelnische die Göttin Rom, dargestellt diesmal in der
traditionellen Art, mächtig, heroisch. Rechts von ihr ragte
wuchtig, in Rüstung, der Gott Vespasian; seltsam kontrastierte das
Haupt der Meduse auf seinem Brustpanzer mit seiner untersetzten
Figur und seinem schlauen Bauernschädel. Die linke Nische aber, der
Platz, wo früher der Schreibtisch des Josef gestanden, war in eine
Kapelle des Titus verwandelt worden. Die Statue des neuen Gottes
füllte, ein kühnes und merkwürdiges Bildwerk, die ganze Nische.
Titus ritt auf einem Adler. Den Schnabel schräg nach links oben
gerichtet, hob der Vogel die umbuschten Fänge, breitete die
Schwingen; gewaltiges Gefieder hüllte ihn ein. Der Gott Titus aber
hockte auf ihm, die Beine halb verdeckt von dem Gefieder, und sein
gedrungener Leib schien eins mit dem Leib des Vogels.
Betreten starrte Josef. Der Kopf
da vor ihm war der Kopf des Titus, den er gut kannte: das runde
Gesicht, das kurze, kräftig vorgestoßene, scharf dreieckig
einzackende Kinn, die in die Stirn frisierten Locken. Das waren die
engen, nach innen gerichteten Augen, die so oft die seinen gesucht
hatten. Und dennoch war dieser Kopf, der, kaum erhöht über den des
Vogels, auf Josef schaute, ein anderer. Wohlbegründet war der Haß
der Schrift gegen alles Bildwerk, und der Künstler Basil hatte
recht gehabt, als er, bevor er den Josef modellierte, seine Schüler
warnte: »Schaut euch den Kopf gut an, so wie er jetzt vor euch ist.
Wenn ich ihn erst einmal modelliert habe, dann werdet ihr ihn nur
mehr sehen, wie ich ihn sah.«
Verfluchtes Bild. Abstoßend und
gleichzeitig lockend hob es sich vor ihm. So unheimlich gelockt
mochten seine Vorväter gestanden haben vor dem Bild der ehernen
Schlange oder des goldenen Stiers, den ihre Propheten höhnisch ein
Kalb nannten. Er versuchte, sich das Gesicht des lebendigen Titus
zurückzurufen, mit dem er so oft zusammen gewesen. Aber schon
gelang es ihm nicht mehr. Schon verdrängte der höhnisch
triumphierende Kopf des Gottes Titus, der auf dem Adler zum Olymp
reitet, den des wirklichen: des Titus der Leichenschlucht, des
Palatin, des Schneebads.
Josef wollte sich nicht
unterkriegen lassen. Er riß sich zusammen. Versuchte Zwiesprach mit
dem Manne zu halten, wie er es so oft getan. »Ist es nicht
merkwürdig, mein Kaiser Titus«, fragte er den ehernen Kopf, »daß an
der Stelle, wo ich mein Buch über Ihre Taten schrieb, jetzt Sie
selber stehen? Sind Sie nun der Lösung des Problems näher, warum
Jerusalem zerstört worden ist?«
Allein damit war seine Zwiesprach
schon zu Ende; ihm bangte vor seiner eigenen Kühnheit. Zaghaft, als
ob die andern seine Gedanken hätten hören können, schaute er sich
um. Aber die andern waren gegangen, er war allein mit dem Gotte
Titus. Dünn, unscheinbar stand er vor dem massigen Bildwerk,
starrte auf den Kopf, und der Kopf schaute zurück, höhnisch, ehern,
stumm. Nein, für den war der Untergang Jerusalems bestimmt kein
Problem mehr. Jerusalem hat sich aufgelehnt, und Rom hat es
vernichtet; das ist ja Roms Sendung, die Welt zu regieren, die
Unterwürfigen zu schützen, aufs Haupt zu schlagen die Frechen. So,
sicherlich, lautete die Antwort des Gottes auf dem Vogel. Denn der
war ein anderer als der Mann, der an Josef scheue, flüsternde
Fragen gestellt und der sich von Josef hatte einreden lassen, Rom
sei nicht die Welt, es gelte erst, Rom, Griechenland, Judäa zu
vereinen. Nein, dieser Titus hatte ihn widerlegt: Rom war die Welt. Die eherne Stummheit des Toten schrie
diese Wahrheit lauter hinaus, als die schmetterndste Kommandostimme
des Lebenden es hätte tun können. Rom hatte die Welt eingeschluckt
und verdaut, Roms Macht und Leibhaftigkeit verhöhnte die leeren,
lächerlichen Ansprüche des Geistes. Er, Josef, der die Welt suchte,
war ein Narr und ein Betrogener: er fand nur Rom.
Er wollte fort. Aber er konnte
sich nicht losreißen von dem ehernen Anblick des Mannes auf dem
Vogel. Der war in Wahrheit ein Gott; nie vermochte ein Sterblicher
soviel Stolz und Kraft aufzubringen. Vergeblich empörte sich Josefs
ganzes Wesen gegen den Ungeheuern Übermut des Bildes. Justus hatte
recht: das kunstvolle Gemisch aus Wahrheit und Lüge war stärker als
die Wirklichkeit. Schon verblaßte vor diesem verfluchten,
verlogenen, grotesken, zauberhaften Bild der klägliche Mensch, den
er so gut gekannt, und verwandelte sich selbst für ihn in den
fernen römischen Kaiser.
Zerschlagen kehrte er in sein
Haus zurück, froh, als an Stelle des schweigenden,
weihraucherfüllten Tempels der Lärm, die Menschen und Gerüche
seines Stadtteils wieder um ihn waren.
In dem Bezirk »Freibad« erregte es großes
Aufsehen, als eines Tages zwei kaiserliche Kuriere erschienen, den
glückkündenden Lorbeer auf ihren Botenstäben. Sie begaben sich
feierlich vor das Haus Josefs, traten ein, und während vor dem Haus
eine riesige Menge wartete, überbrachten sie ihm in altertümlicher
Form die Einladung des Kaisers, gegenwärtig zu sein, am vierten Tag
von heut an, in der fünften Stunde nach Sonnenaufgang, wenn der
Kaiser der Stadt den Triumphbogen übergeben wird, den er zu Ehren
des Gottes Titus errichtet hat.
Josef erschrak. Aber er neigte
sich sogleich und erwiderte, wie es der Brauch verlangte: »Ich
höre, danke und gehorche.«
Er sprach mit niemandem über
dieses Ereignis, und niemand sprach darüber mit ihm. Aber er war
sicher, daß alle darum wußten. Die Art, wie man ihm die Einladung
überbracht hatte, bewies, daß dem Palatin daran lag, die ganze
Stadt darum wissen zu lassen. Offenbar erhoffte man sich Spaß von
seiner Teilnahme an der Zeremonie.
Mit Ingrimm nämlich hatten die
Juden das neue Monument wachsen sehen, durch das Domitian das alte,
schäbige Ehrenmal in der Großen Rennbahn zu ersetzen gedachte. Der
Triumphbogen wurde auf der Höhe des Heiligen Wegs errichtet, dem
Capitol gegenüber, im Mittelpunkt der Stadt, und war dazu bestimmt,
das Gedächtnis der jüdischen Niederlage durch Titus für alle Zeiten
festzuhalten. Schon während der Monate, da man an dem Bogen baute,
hatten die Juden die Heilige Straße, die Hauptverkehrsader über das
Forum, vermieden und lieber weite Umwege gemacht, nur um nicht
dieses Monument ihrer Schande passieren zu müssen. In drei Tagen
also soll er, Josef, im Gefolge der Herren Roms den Bogen
durchschreiten und sich neigen vor dem Gott und Sieger Titus.
Domitian hat sich lange nicht um ihn gekümmert: bei diesem Anlaß
hat er geruht, sich seiner zu erinnern, und nun freut er sich, und
mit ihm die Stadt, auf das Schauspiel, wie Josef seinen Nacken
unter das Joch beugen wird.
Wenn es sich um eine seiner
bösartig spaßhaften Launen handelte, pflegte der Kaiser alles gut
vorzubereiten. Bald nach den Kurieren, am gleichen Tag, erschien
bei Josef der Leibarzt Doktor Valens. Man sprach von dem und jenem,
und gelegentlich streute Valens die Bemerkung ein, wie sehr er sich
freue, Josef bei so guter Gesundheit anzutreffen; auch der Majestät
werde es angenehm sein, sich bei der Feier anläßlich der Enthüllung
des Triumphbogens persönlich von Josefs Wohlbefinden zu überzeugen.
Es war nicht schwer, die Warnung herauszuhören.
Josef hätte auch ohne den Besuch
des Arztes kaum den Ausweg benützt, aus Gesundheitsrücksichten
fernzubleiben. Ja, er hätte, selbst wenn er todkrank
daniedergelegen wäre, seine letzte Kraft aufgeboten, um sich an dem
Zug zu beteiligen. Noch bevor die Kuriere zu Ende gesprochen
hatten, war ihm klar gewesen, daß er unter allen Umständen der
Aufforderung folgen und den Bogen im Zug der andern geneigten
Hauptes durchschreiten müsse. Weigerte er sich, trotzte er, so
hätte das nur jenen falschen Patriotismus gefördert, der noch immer
nicht begriff, daß die politische Sendung Judäas zu Ende war, und
niemand hätte von einer solchen Weigerung Gewinn gehabt als die
Nachfahren der »Rächer Israels«, jene Unsinnigen, die sich seit dem
Regierungsantritt Domitians von neuem rührten. Davon abgesehen,
zerstörte Josef, wenn er trotzte oder auch nur auswich, seine
eigene Position. Noch hat er, der große Schriftsteller, Geltung bei
Hof und in der Welt. Aber Domitian liebt ihn nicht, viele lauern
darauf, den unbequemen, talentierten Konkurrenten loszuwerden, und
Josef wäre ein Narr, wenn er ihnen selber Vorschub leistete. Sein
Tun ist klar vorgeschrieben. Er wird am vierten Tag von heut an,
wie der Kaiser es wünscht, am Festzug teilnehmen.
Er arbeitete wenig an diesem Tag,
und er schlief nicht gut in dieser Nacht.
War ihm am ersten Tag die
Aufgabe, die sein Entschluß ihm aufbürdete, schwer erschienen, so
fand er sie am zweiten unerträglich. Er beschloß zu fasten, wie er
es gewohnt war, wenn ihm harte Dinge bevorstanden. Er las im Livius
die Schilderung der Gefangenen, die unters Joch geschickt wurden:
zwei Lanzen in die Erde gesteckt, eine dritte darüber, so niedrig,
daß der Gefangene, der sie durchschreitet, sich tief beugen muß.
Unters Joch geschickt zu werden schien den Römern das
Schimpflichste, was einem Menschen angetan werden konnte, und die
seltenen Male, da Römer unters Joch geschickt worden waren,
brannten noch in den Herzen der Heutigen als Merktage tiefster
Schmach. Aber er ist kein Römer, und vor der Vernunft, vor Gott
wird die »Ehre« eines Menschen mit anderm Maß gemessen als auf dem
römischen Forum.
Das sind schöne Erwägungen hier
an seinem Schreibtisch. Aber wenn er, übermorgen, vor dem
Triumphbogen, vor dem Joch der Schmach stehen wird, dann wird er
die Zähne verdammt fest aufeinander beißen müssen. Er hatte die
Erfahrung gemacht, daß ihm schwere Dinge leichter fielen, wenn er
ihre Bitterkeit vorher in seiner Phantasie ganz ausgeschmeckt
hatte, und er malte sich in starken Farben das Bild seiner
Demütigung: das Pfeifen und Lachen der Römer, den Haß und die wilde
Verachtung der Juden. Denn unter den Juden werden nur wenige sein,
die ihn verstehen, und selbst die werden, aus guter Politik, ihn
nicht schützen.
Er saß vor seinem Schreibtisch,
reglos. Er spürte nicht das Nagen des Hungers; viel schlimmer,
körperhaft geradezu, wühlte in ihm die Vorstellung, wie verhaßt und
wie verachtet er sein wird. Er kannte sie, die eisige Verachtung
seiner Juden, und Verachtung dringt selbst durch den Panzer einer
Schildkröte.
Er hat damals den Triumph des
Titus nach dem Krieg mit angesehen, als einziger Jude er. Er hat
die Führer des Aufstands, Simon Bar Giora und Johann von Gischala,
an sich vorbeigehen sehen, gefesselt, zum Tod bestimmt, mit einer
Krone aus Brennesseln und dürren Reisern den einen, den andern in
einer komischen, blechernen Rüstung. Er entsann sich genau der
pressenden, würgenden Furcht, die ihn damals angefallen, sie
möchten herschauen. Er hat viel Übles erlebt, Hunger und letzten
Durst, Geißelung, jede Art Schmach, und wie oft ist er vor dem Tod
gestanden. Aber das war das Schlimmste, was er durchgemacht hat;
das war nicht mehr menschlich. Soll er das jetzt ein zweites Mal
über sich ergehen lassen?
Damals hat er einen guten innern
Halt gehabt: er war der Geschichtsschreiber, er mußte sehen, er
mußte dabeisein, es war seine Pflicht, zu sehen. Sind seine Gründe
von heut weniger stark? Nein, im Gegenteil: seine Überzeugung steht
fester. Die Rücksicht auf das Wohl der Gesamtheit und auf sein
eigenes verlangt, daß er sich beugt. Die Vernunft verlangt es, und
der Vernunft zu dienen, ist er da. Er gäbe, beugte er sich nicht,
den Sinn seines ganzen Lebens preis, alles dessen, was er bisher
getan, geschrieben, durchgemacht hat.
Mit der flachen Hand streicht er
durch die Luft, streicht er alle Zweifel fort. Sein Entschluß steht
fest, es ist ein guter Entschluß, der einzig mögliche. Und nun wird
er nicht länger an diese widerwärtige Sache denken. Er holt sein
Manuskript hervor. Arbeitet.
Eine halbe Stunde lang, dreißig
volle Minuten, gelingt ihm das. Dann, sosehr er sich dagegen
sträubt, steigen lockende Bilder in ihm hoch, wie es wäre, wenn er
sich weigerte, dem Befehl des Kaisers trotzte, sich nicht beugte,
finster und groß abseits stünde. Süß und herrlich wäre das, denkt
er. Die Brust würde mir weit wie damals, als ich an der Spitze der
Aufständischen einherritt auf dem Pferde Pfeil, das Banner voran
mit der Inschrift Makkabi. Welch eine Seligkeit, das noch einmal zu
spüren. Was immer dann geschieht, dieses Glück wäre des Schlimmsten
wert gewesen. Und für immer dann wird die Geschichte der Juden von
Josef Ben Matthias sprechen, dem Märtyrer, und der
Geschichtsschreiber Flavius Josephus hätte keinen Nachteil
davon.
Domitian selber, auch wenn er
mich exekutieren läßt, wird nicht umhinkönnen, mich zu bewundern.
Und unter den Juden werden selbst diejenigen, die meine Tat
mißbilligen, Alexas, Cajus Barzaarone, der Großdoktor, meiner voll
Achtung geden ken. Für den Bruchteil eines Augenblicks freilich
taucht ein braungelbes, hageres, bitteres Gesicht vor ihm auf,
keineswegs voll Achtung, aber das heißt er schnell zurück in den
Schatten gleiten. Um so länger verweilt er bei Phineas. Wie wird
der, wenn er von meiner Tat hört, verwirrt sein, er wird ein paar
ablehnende Worte suchen, aber Achtung wird er meinem Stoizismus
nicht versagen können. Und Paulus gar: der tote Vater wird die
Hingabe ernten, die der Lebende niemals gewinnen konnte.
Ist es denn überhaupt gewiß, daß
es böse Folgen haben muß, wenn ich meinem Gefühl gehorche und Würde
bezeige? Muß es nicht den Römern Eindruck machen, wenn ich dem
Kaiser trotze? Sie verhöhnen die Juden, ihre Feigheit, ihr
Sichducken, ihre Würdelosigkeit. Wenn ich mich weigere, in so
großer, allen sichtbarer Form, zeige ich damit nicht den Römern:
schlagen kann man die Juden, töten kann man sie, aber beugen kann
man sie nicht? Zwei Dinge sind, die die Geschichtsschreiber aller
Zeiten und aller Völker auf die gleiche Art rühmen: Erfolg und
Würde. Die Lesebücher sind voll von erfolgreichen Handlungen und
von würdevollen: von vernünftigen wissen sie wenig zu berichten,
und Vernunft hat noch kein Geschichtsschreiber gepriesen.
Allein noch während er so denkt,
schämt er sich. Er will nicht eitel denken, nicht schief und auf
kurze Sicht. Er will kein Lesebuchheld sein.
Auch in der Nacht dieses zweiten
Tages findet er keinen Schlaf. Gegen Morgen liest er im Philo. »Was
gegen die Vernunft ist«, liest er, »ist häßlich. Die Vernunft«,
liest er, »der Logos, ist Gottes erstgeborener Sohn.« – »Sehr
richtig«, sagt er ganz laut. »Aber steht nicht geschrieben: Du
sollst Gott lieben mit dem guten und mit dem bösen Trieb?« Er
zwingt vor sich seine Freunde, Justus, den Großdoktor, Ben Ismael,
den Acher. Im Geist rechtet er mit ihnen, gibt Rede und
Gegenrede.
»Diese Zeit des Elends«, hebt mit
seiner klaren, verbindlichen Stimme der Großdoktor an, »verlockt
mehr als viele andere Epochen, dem bösen Trieb zu folgen, dem
dummen, patriotischen Instinkt. Ich verdenke es auch keinem, der
seinem Patriotismus die Zügel schießenläßt, dem römischen Kaiser
trotzt und Zeugnis ablegt für sein Judentum. Aber ist nicht ein
gewisser Josef Ben Matthias mehr als andere verpflichtet, diesem
Trieb zu widerstehen?« Der Großdoktor schweigt, aber kaum ist er
verstummt, nimmt sein Feind, der Acher, seine Rede auf und sagt,
stark atmend, schnaufend: »Ist nicht der besagte Doktor Josef in
einem langen, nicht immer leichten Leben zu dem Resultat gelangt,
daß Jahve nicht der Protektor des Staates Judäa ist, sondern eben
der Logos, die große Vernunft?« Und kaum hat der Acher geendet,
als, hart und scharf wie immer, Justus ergänzt: »Ein General, ein
Dreiheller-Staatsmann mag sich verlocken lassen, die schöne,
patriotische Geste zu machen: Sie, Josephus, sind Schriftsteller.«
Und ihrer aller Worte beschließt die tiefe, raumfüllende Stimme Ben
Ismaels: »Sie, mein Doktor Josef, wenn Sie groß und billig trotzen,
sind ein ›Leugner des Prinzips‹. Sie verraten die Idee, derenthalb
Sie soviel Unerträgliches auf sich genommen und von andern verlangt
haben.«
»Ich bin noch nicht alt genug«,
wehrt sich Josef, »nur der Vernunft zu folgen. Das Leben ist nicht
lebenswert, wenn man immer nur der Vernunft folgt.«
»Sie sind immerhin fünfundvierzig
Jahre alt«, meint höflich und ironisch der Acher. »Sie haben Gott
lange genug mit Ihrem bösen Trieb gedient.« Und wieder fällt ihm
Justus ins Wort: »Was Sie, Kollege Josephus, sich an Würde und
solchem Unfug geleistet haben, reicht für das Leben eines
Methusalem.« Und er kichert unangenehm.
»Ich bin heute der einzige«, gibt
Josef zu bedenken, »der den Römern zeigen kann, daß ein Jude Würde
hat.«
»Und was werden Sie gewonnen
haben«, fragt höflich der Großdoktor, »wenn Sie das den Römern
zeigen? Die ›Rächer Israels‹ werden Ihre Demonstration für eine
Aufforderung nehmen, sich von neuem zu erheben. Glauben Sie, daß
eine solche Erhebung heute sinnvoller wäre als vor fünfzehn Jahren,
erfolgreicher?« Und der ungeduldige Justus konstatiert schneidend:
»Mit Ihrer schönen Geste werden Sie sich wahrscheinlich eine halbe
Stunde tiefer Befriedigung verschaffen und sich als großer Mann
vorkommen. Aber Zehntausende werden für dieses halbstündige Glück
des Schriftstellers Josephus mit
dem Tod oder einem Leben voll Elend
zahlen.«
Auf solche Art debattierte Josef
mit seinen Freunden. Aber lange konnte er ihre Stimmen nicht
festhalten. Wieder dehnte sich ihm endlos der Tag. Wenn es nur erst
soweit wäre. Die Demütigung selber wird er ertragen, wie er so
vieles andere ertragen hat. Und wenn sie die Zeremonie noch so lang
hinzögern, wenn sie vom Palatin zur Höhe des Bogens einen noch so
weiten Umweg machen, länger als eine Stunde können sie ihn nicht
mitschleppen, und unter dem Bogen durchzugehen, das ist der
Bruchteil einer Minute: aber jetzt auf den nächsten Morgen zu
warten, das ist die Ewigkeit.
Und wie er am Abend gesagt hatte:
»O wäre es Morgen«, so sagte er jetzt zum Morgen: »O wäre es
Abend.«
Als dann der Abend dieses zähen,
bleiernen Tages heranschlich, konnte er seine Qual nicht länger
stumm herumtragen, er ging zu Mara. Sprach vor ihr.
Sie saß still da, das Kind auf
dem Schoß, und er ging auf und ab, und seine ganze, aufgestaute
Pein quoll aus ihm heraus. Er suchte die einfachsten Worte, simple,
aramäische, aber es wurden viele, und er kam nicht zum Ende. Er
sagte ihr, was man von ihm verlangte, und warum er es tun müsse,
und warum sich alles in ihm dagegen sträube. »Die, zu denen ich ja
sagen und vor denen ich mich beugen soll«, empörte er sich, »das
sind Leute, die den Tempel verbrannt haben und die
vierundzwanzigtausend Priester gemetzelt. Und der ganze Tempelberg
glühte im Feuer, und alle Höhen waren voll von Kreuzen, und unter
der Erde, in den heimlichen Gängen, schlugen sie sich tot um ein
Stück schimmeliges Brot. Der, vor dem ich mich beugen soll, ist der
Sohn des Mannes, der, alt und geil, dich entjungfert hat und der,
um uns beide zu verhöhnen, unsere erste, lächerliche Hochzeit
ausrichtete. Soll ich jetzt, nach dreizehn Jahren, nochmals voll
Verehrung ja zu alledem sagen? Gott will, daß ich es tue, die
Vernunft verlangt es. Aber alles Blut steigt mir in den Kopf, wenn
ich daran denke, daß ich unter dem Bogen durchgehen soll, und ich
muß schlucken, daß ich fast ersticke, und ich kann es nicht. Und
ich werde den Römern zum Hohn sein und den Juden zum Haß. Und
Vernunft ist schön und gut, und einmal auch bekommt man seinen Lohn
dafür, in fünfhundert Jahren. Und die Vernunft ist Gottes
erstgeborenes Kind, aber Gott selber zahlt dafür erst, wenn man tot
ist, und solange man lebt, hat man nichts dafür als Fußtritte und
Dreck.« Er ging auf und ab vor Mara, er war dürr und schlaff, sein
Kleid schleifte nach, seine Augen standen groß, trüb und fieberig
in seinem hohlen Gesicht, Bart und Haar kräuselten sich schmutzig,
verfärbt, und seine Stimme war so verfallen wie sein
Antlitz.
Mara saß still da, sie folgte ihm
mit den Augen, während er hin und her ging. Sie war jetzt
siebenundzwanzig Jahre alt, ein wenig dicklich, doch prall, voll
Kraft und keineswegs verblüht. Das scheue, mondlich Strahlende
ihrer ersten Jugend freilich war fort. Sie war durch vieles
hindurchgegangen, hatte Leben und Tod gesehen, Jubel und
Verzweiflung, Greise und Kinder, Judäa und die Welt. Auch diesen
Doktor und Herrn Josef Ben Matthias hatte sie gesehen, wie ein
großes Strahlen und Blühen von ihm ausging. Ein ganzes Volk hatte
dieses Strahlen in sich aufgenommen, war durch ihn über sich
hinausgehoben und glücklich geworden. Heute noch gilt er
Hunderttausenden als ein großer Jude und ein großer Mann, in Judäa
neigt man sich vor ihm, er ist Priester der Ersten Reihe, ein
Auserwählter Gottes, und gleichzeitig römischer Ritter,
Tischgenosse dreier Kaiser, und sein Bild steht im Ehrensaal. Aber
da läuft er vor ihr auf und ab, jämmerlich, und schreit seine Pein
hinaus wie ein gehetztes Tier. Gott hat ihm schwerere Prüfungen
auferlegt als den andern. Sie versteht nicht alles, was er sagt,
aber das versteht sie, daß er sehr elend ist. Sie hat ihn immer
geliebt, sie weiß jetzt, daß sie ihn liebte, auch wenn sie ihn zu
hassen schien, und ein süßes, schmerzvolles Mitleid füllt sie von
der Sohle bis zum Haar. Brennend wünscht sie ihren Doktor und Herrn
Josef strahlen zu sehen wie früher, erhöht über die andern, wie
Saul erhöht war über die andern in Israel. Sie spürt mit ihm, wie
groß und herrlich es wäre, dem römischen Kaiser zu trotzen, dem
Judenfeind, dem Verbrecher, dem Hund. Aber wenn ihr auch die
rechten Worte fehlen, sie weiß genau, worum es geht, daß es in
Gottes Augen wohlgefällig ist, wenn er sich die strahlende Tat
versagt und das Joch der Schmach auf sich nimmt.
Der Mann, ihr Mann, spricht
weiter, und seine Stimme, von der einmal soviel Zauber und
Überredung ausging, ist hohl und rostig. »Was soll ich tun, Mara?«
fragt er. »Wenn ich mich füge und das Vernünftige tue, dann scheine
ich ein Verräter an meinem Volk, und Hunderttausende hassen und
verachten mich. Wenn ich mich nicht füge, dann bin ich ein Verräter
am wahren Israel, an Gott und an mir selber. Gib mir einen Rat,
Mara.« Er schwieg, hockte nieder, schloß die Augen,
erschöpft.
Mara sagte: »Schwer muß es sein,
den Übermütigen die Hand zu lecken und den Staub ihrer Füße zu
küssen, und ich, Mara, könnte es nicht. Es wäre schön und meinem
Herzen eine Freude, wenn du nein sagtest und dem Kaiser der Römer
den Hohn in sein Gesicht zurückspieest; denn er ist der Sohn des
Mannes, der mir Schmach antat und auf mir lag in seinem Hurenbett.
Aber du bist weise, und ich, Mara, bin unweise, und wenn du sagst:
›Mein Wille will es, aber meine Vernunft verbietet es‹, dann muß es
für dich ebenso schwer sein, zu trotzen wie nicht zu trotzen, da
dein Wille stark ist, o Herr, und deine Vernunft sehr groß. Ich,
Mara, dein Weib, habe dich gehört und bin stolz, daß du zu mir
gesprochen hast. Aber ich kann dir nichts sagen, nur, daß mir deine
Bedrückung auf dem Herzen liegt, als wäre es meine eigene. Geh nach
rechts, mein lieber Herr, oder geh nach links: du bleibst mein Herr
und Geliebter.«
Josef hörte sie, und er schämte
sich. Er hatte vor ihr alles ausgesagt, was ihn drückte. Eines aber
hatte er verschwiegen: daß er, wenn er sich beugte, Furcht hatte
vor dem Gesicht eines einzigen Menschen, dem seines Sohnes Paulus,
und daß er, wenn er sich nicht beugte, Furcht hatte vor dem Gesicht
eines einzigen Menschen, dem seines Freundes Justus.
Am andern Morgen stand Josef sehr früh auf.
Er badete, salbte und parfümierte sich, der Friseur richtete ihm
Bart und Haar. Er zog sich sorgfältig an, das Galakleid des Zweiten
Adels mit dem Purpurstreif, den Goldenen Ring, den roten Überwurf.
So ging er zum Palatin, wo der Festzug sich ordnen
sollte.
Der Zeremonienmeister wies ihm
seinen Platz im Zug an. Langsam schritt die Prozession den Palatin
hinunter und erstieg die kleine Höhe zum Triumphbogen. Überall
waren Menschen, dicht gedrängt standen sie in den Vorhallen, auf
den Dächern der Gebäude, hingen, klammerten mit Lebensgefahr an
Säulen, an Vorsprüngen. Josef schaute bleich aus, doch gelassen und
würdig; der kurze, jüdische Bart wirkte fremdartig zur römischen
Galatracht. Das goldene Schreibzeug, das Titus ihm geschenkt hatte,
trug er im Gürtel.
Er hält den Kopf hoch, er sieht
gerade vor sich hin. Sieht ein Meer von Köpfen, neue Wellen bei
jedem Schritt. Er kann kein einzelnes Gesicht unterscheiden, aber
immer wieder glaubt er das Antlitz seines Sohnes Paulus
wahrzunehmen, den dünnen, bräunlichblassen Kopf auf dem langen
Hals, die leidenschaftlichen, heftigen Augen, seine eigenen Augen,
jetzt finster vor Zorn über die Schmach, die sein Vater ihm antut,
finster vor Verachtung. Alle werden ihn verachten, die
republikanischen Senatoren, Phineas, Dorion, und vielleicht sogar,
trotz aller Vernunft, Marull. Am meisten aber wird sein Sohn Paulus
ihn verachten.
Schon ist man nah am
Triumphbogen. Die Umschalung ist entfernt; stolz und weiß, aus
parischem Marmor, hebt er sich, nicht sehr hoch, doch edel von
Form, geschmückt mit Reliefs aus der Werkstatt des Bildhauers
Basil. Basil hat wie stets gestöhnt und geschimpft über die
unwürdige, unkünstlerische Eile, zu welcher der Monarch ihn
nötigte; aber er scheint trotzdem gute Arbeit geleistet zu haben.
Seit Wochen jedenfalls spricht Rom von seinen Reliefs, und Josef
weiß seit langem, was sie darstellen: den Triumphzug des Titus, die
Beute der besiegten Juden, die Tempelgeräte; vielleicht sogar hat
der ironische Basil seinen, des Josef Kopf auf den Reliefs
angebracht.
Langsam erschreitet der Zug die
kleine Höhe. Vor Josef schimmert der Bogen. Er ist hoch genug, daß
man erhobenen Hauptes durchgehen könnte, aber Josef wird er niedrig
wie das Joch der Schmach und Niederlage, zwei Lanzen in die Erde
gesteckt, eine dritte darüber, so niedrig, daß man sich tief zur
Erde beugen muß. Er muß sich beugen. Wieder einmal muß er die
Niederlage seiner Juden feiern, sich neigen vor dem Sieger,
verleugnen sein eigenes Volk. Und wenn seine Demütigung auch diesem
Volke hilft, wer sieht das? Aber daß er es verleugnet, sehen alle,
die Zehntausende ringsum auf den Dächern, und sein Sohn sieht
es.
Josef schreitet im Zug, Schritt
setzt er vor Schritt. Er schreitet auf harten Quadern,
wohlgeformten, geglätteten, auf denen es sich gut geht, und er hat
keinen langen Weg mehr vor sich; fünfzig Schritte mögen es noch
sein bis zum Bogen. Es werden fünfzig harte Schritte sein. Aber
gehen wird er sie, beugen wird er sich. Es ist sein Vorsatz, er hat
ihn hin und her gewälzt in diesen drei furchtbaren Tagen, es ist
ihm auferlegt, und er hat es auf sich genommen. Und jetzt führt er
es durch, jetzt zieht er hin, sich zu demütigen und sein Volk zu
verleugnen.
Es ist ein angenehmer Tag, nicht
heiß; aber Josef schwitzt, er ist sehr blaß, das Innere seines
Leibes ist ausgehöhlt. Er hat geglaubt, die Erwartung sei das
Schwerste. Das war ein Irrtum. Wieviel Schritte mögen es jetzt noch
sein? Fünfundvierzig. Nein, nur mehr vierzig. Den Fuß hoch: hat er
denn Blei unter den Sohlen?, und er hebt den Fuß. Er malmt mit den
Zähnen, er knirscht. Das darf er nicht, die um ihn könnten es
hören.
Plötzlich ist in seiner
Vorstellung der Mann Bileam, ein großer Zauberer und Prophet unter
den Heiden, der da auszog, das Volk Israel zu verfluchen, dem aber
Jahve die Worte im Mund verkehrte, so daß er segnen mußte. Ich bin
ein umgekehrter Bileam, denkt er. Ich ziehe aus, um meinem Volk
Gutes zu tun, und allen scheint, ich verleugnete es. Um sich das
Gehen zu erleichtern, klammert er sich an die Verse, die uralten,
die die Schrift dem Bileam in den Mund legt, und an ihren Rhythmus:
»Wie mag ich verwünschen / Schritt / wen Gott nicht verwünscht /
Schritt / und wie mag ich schelten / Schritt / wen Jahve nicht
schilt / Schritt / Sieh da ein Volk / Schritt / das abseits wohnt /
Schritt / und unter die andern / Schritt / zählt es sich nicht /
Schritt / Wer mißt den Staub Jakobs / Schritt / wer Israels
Heerschar / Schritt / Wie schön sind deine Zelte, Jakob / Schritt /
deine Wohnungen, Israel / Schritt / Wer dich segnet, ist gesegnet,
/ Schritt / Wer dir flucht, ist verflucht / Schritt / Ich sehe ihn
/ Schritt / doch nicht schon jetzt / Schritt / ich schaue ihn /
Schritt / doch nicht nahe / Schritt / Es strahlt auf ein Stern aus
Jakob.«
Und nun sind es höchstens noch zwanzig
Schritte.
Es ist plötzlich, sicherlich ist
das Weisung, leerer Raum um ihn, in dem gedrängten Zug geht er ganz
allein. Die Beine bis herauf zu den Hüften hängen an ihm leblos,
schwer; gleich wird er, so stark er es will, den Fuß nicht mehr
heben können. Aber er hebt ihn. Ja, sein Gesicht bleibt dabei ganz
ruhig; die Zähne freilich preßt er so heftig zusammen, daß die
Kaumuskeln sich aus den Wangen herauswulsten. Und er hebt den Fuß
nochmals, und nochmals, und leerer Raum ist vor ihm, und leerer
Raum ist hinter ihm.
Nein doch. Hinter ihm, in kleinem
Abstand, jede seiner Bewegungen nachäffend, geht des Kaisers Zwerg,
der dicke, behaarte, bösartige, närrische Silen.
Josef weiß, alle die Tausende
schauen jetzt nur auf ihn, warten mit höhnischer Spannung darauf,
wie er sich unters Joch ducken wird. Ein gelles, ungeheures Pfeifen
wird im nächsten Augenblick anheben und durch ganz Rom gehen, ein
Orkan von Hohn und Gelächter. »Wie hat er sich geduckt. Wie tief
und sklavisch hat er sich geduckt. Was für Schisser und feige Hunde
sind diese Juden. Was für ein feiger Hund ist dieser Jud Josephus.«
Und hunderttausend Juden in Rom und in zwei Wochen fünf Millionen
Juden überall in der Welt werden das Gesicht verzerren und fluchen:
»Wie hat dieser Lump Josef Ben Matthias wiederum sein Judentum
besudelt und die ganze Judenheit. Was für ein Lump und feiger Hund
ist dieser Josef Ben Matthias.« Und alle, Juden wie Römer, werden
grinsen, höhnen, fluchen: »Ho, Josef der Hund. Ho, Josef der
Lump.«
Vor ihm heben sich die
lateinischen Buchstaben des Bogens, eine schlichte Inschrift an
Stelle der prunkvollen früheren: »Senat und Volk von Rom dem Gotte
Titus, Sohn des Gottes Vespasian.« Er liest die lateinischen Worte,
aber gleichzeitig in ihm denkt es, aramäisch: Jetzt stehenbleiben
dürfen, umkehren. Wie glücklich waren jene, die damals die Waffen
gegen Rom hoben und den Cestius Gall totschlugen und seine Legion.
Verrückt waren sie und glücklich. Selig sind die Armen im Geiste,
selig die Unvernünftigen. Wie glücklich war ich selber, als ich in
Galiläa einherzog, vor den Aufständischen, auf meinem Pferde Pfeil.
O meine Kraft, o meine Freude, o meine Jugend, und ich bin noch
nicht alt.
Nur die letzten Schritte noch
trennen ihn von dem Bogen. Schon sieht er an den Innenwänden die
verhaßten Steinbilder, die beiden vielbesprochenen Reliefs, auf der
einen Seite die erbeuteten Geräte, hoch erhoben, auf der andern
Titus auf dem Triumphwagen. Schon gibt ihm die Wölbung des Bogens
den Blick frei auf das Capitol, das sich am andern Ende des
Heiligen Weges erhebt, dem Jupiter errichtet von dem Geld der
unterworfenen Juden: Rom triumphiert über Judäa.
In diesem Augenblick gewahrt er,
und zwar auf der Tribüne vor dem schmalen Gebäude der Neuen Münze,
das Gesicht seines Sohnes Paulus. Sogleich wieder war es
untergetaucht in der Flut der andern Gesichter. Aber Josef hatte es
deutlich gesehen, bräunlichweiß, dünn, fast durchsichtig
schimmernd, dabei verzerrt von Haß und Verachtung. Auch daß Paulus
gegen seine Gewohnheit den Mund weit aufriß, hatte er gesehen. Ja,
so ist es, sein Sohn Paulus schreit wie die andern. Nein, nicht wie
die andern. Die jauchzen: »O du sehr guter, sehr großer Kaiser und
Gott Titus.« Sein Sohn Paulus aber, Josef weiß es genau, schreit:
»Mein Vater der Lump, mein Vater der Hund«, und sein Gesicht ist
entstellt und scheußlich.
Josef steht vor dem Bogen. Für
einen Augenblick setzt das Geschrei ringsum aus; der Zug selber und
die Tausende von Zuschauern sind erstarrt in Erwartung. Ein
unzähmbarer Drang packt Josef, nicht weiterzugehen, umzukehren,
sein Schreibzeug dem Zwerg in die häßliche Fratze zu schlagen. Gott
hat verlangt, denkt es in ihm während dieses endlos langen
Augenblicks, daß Abraham seinen Sohn opfere. Seinen Sohn opfern,
das kann man. Aber so handeln, daß das Gesicht des eigenen Sohnes
sich verzerrt wie dieses da, das geht über die Kraft, das darf man
keinem Vater zumuten. Nein, denkt es in ihm, ich kann das nicht.
Ich brenne ja am ganzen Leib, und vor mir ist Feuer, und hinter mir
ist Wasser, und ich gehe nicht weiter, und jetzt kehre ich
um.
Unsinn. Woher will ich denn
wissen, was Paulus geschrien hat? Er hat geschrien, weil die andern
geschrien haben, und jedes Gesicht verzerrt sich beim Schreien. Ich
rede mir was ein, weil ich eine Ausflucht haben, weil ich umkehren
will. Großartig wäre das ja, umkehren. Labsal und Kühlung wäre es,
süß und ehrenvoll wäre es.
Verbrecherisch unvernünftig wäre
es, ruft er sich scharf zurück. Es ist nicht leicht, vernünftig zu
sein, und es bringt keinen Dank. Aber die Vernunft ist Gottes
erstgeborenes Kind, und ihr hange ich an.
Und der Weltbürger Josef Ben
Matthias, genannt Flavius Josephus, wissend, daß er die Achtung der
Römer und der Juden für immer zertritt und für immer die Liebe
seines Sohnes Paulus, nahm sein Herz in beide Hände, riß seinen
Willen zusammen und tat den letzten Schritt. Neigte, wie es
Vorschrift war, tief das verhüllte Haupt, führte die Hand zu dem
bärtigen, jüdischen Mund, warf dem Bild des vergotteten Titus den
Kuß zu und ging durch die Wölbung des Bogens, über sich und zu
beiden Seiten die triumphierende Göttin Rom, den Siegeswagen des
Kaisers, die schimpflich gefangenen Juden.
Und hinter ihm der Zwerg Silen
ahmte jede seiner Bewegungen nach.
Hier endet der zweite der
drei Romane über den Geschichtsschreiber
Flavius Josephus.
Der Roman »Josephus« sollte ursprünglich nur
zwei Teile umfassen. Der zweite, abschließende Band war im Jahr
1932, als ich den ersten veröffentlichte, bis zu seinem Ende
entworfen und zu einem großen Teil ausgeführt.
Als aber im März 1933 die
Nationalsozialisten mein Haus in Berlin plünderten, vernichteten
sie das ausgeführte Manuskript dieses Schlußbandes sowie das
vorhandene wissenschaftliche Material.
Den verlorenen Teil in der
ursprünglichen Form wiederherzustellen erwies sich als unmöglich.
Ich hatte zu dem Thema des »Josephus«: Nationalismus und
Weltbürgertum manches zugelernt, der Stoff sprengte den früheren
Rahmen, und ich war gezwungen, ihn in drei Bände
aufzuteilen.
L.F.