»Ich liebe Ben Ismael«, sagte nach einer Weile behutsam der Großdoktor. »Hier in diesem stillen Zimmer, im Gespräch mit Ihnen, wundere ich mich, wie ich es über mich gebracht habe, ihn bis in den Tod zu kränken. Hier hätte ich es nicht tun können. Gamaliel hätte dem Ben Ismael das nicht antun können, lieber wäre er selber außer Landes gegangen. Aber Gamaliel und der Großdoktor sind nicht dasselbe. Der Großdoktor bringt die Kraft auf, Gewalt zu tun und Menschen zu zertreten, wenn politische Vernunft es verlangt. Ich wäre ein Verbrecher, wenn ich, um den Mann Ben Ismael zu schonen, die Interessen der Gesamtheit geschädigt hätte.«
  »Ich könnte soviel Vernunft nicht aufbringen«, sagte voll Verzicht und Bitterkeit Josef.
  »Sie wollen nicht für uns nach Cäsarea gehen, mein Josef?« fragte Gamaliel und verhehlte nicht seine Enttäuschung.
  »Ich bewundere die Folgerichtigkeit Ihrer Politik«, erwiderte Josef. »Aber mich fröstelt, wenn ich daran denke, daß ich Ihnen beinahe ja gesagt hätte.«

In das Achtzehngebet, nach der schönen elften Bitte: »Setze unsere Richter wieder ein wie früher und unsere Fürsten wie ehemals«, wurde die neue Bitte eingefügt, die mit den Worten begann: »Den Ketzern sei keine Hoffnung«, und die endete: »Gelobt seist du, Jahve, der die Ketzer zuschanden macht und aufs Haupt schlägt die Überheblichen.«
  Die Aufnahme dieser Bitte in das tägliche Gebet hatte die beabsichtigten Folgen. Wohl kehrten viele von den Minäern um, verleugneten die neue Lehre und sagten amen, wenn Jahve angefleht wurde, diejenigen auszutilgen, die da an einen bereits erschienenen Messias glaubten. Viele aber, die meisten, verharrten in ihrem Glauben. Sie schieden aus der Gemeinschaft, sie nahmen es auf sich, von den andern gemieden zu werden. Manche wanderten außer Landes, unter ihnen der Wundertäter Jakob aus dem Dorfe Sekanja.
  Die Anhänger der neuen Lehre übernahmen jetzt mit Entschiedenheit jene Mission, die früher die Juden als ihre wichtigste betrachtet hatten: die Verbreitung Jahves unter den Heiden. Wohl schleppte noch eines oder das andere der minäischen Bücher jenen alten Satz mit: »Geht nicht auf der Straße der Heiden und zieht nicht in die Städte der Samariter, sondern geht nur hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel«; doch Grundpfeiler der Propaganda wurde jetzt die Lehre jenes Saulus oder Paulus, die Botschaft Jahves und seines Messias sei bestimmt, vor allem das Licht der Heiden zu werden. Während die Juden unter dem Druck des Beschneidungsverbots mehr und mehr auf die Propaganda verzichteten, ließen sich die Minäer durch Verfolgungen nicht abhalten, ihren Messias zu verkünden.
  Immer schärfer sonderten sich die Christen ab von denen, aus deren Mitte sie kamen. Sie verleugneten das Zeremonialgesetz, das sie bisher gebunden. Heftig in ihren Heilsbotschaf ten sagten sie dem altgläubigen Judentum Feindschaft an. Haßvoll und für immer spaltete sich die neue, weltbürgerliche Lehre ab von der alten, jetzt volksgebundenen, um in dieser Gestalt die Welt zu gewinnen.

Josef, nach der Unterredung mit dem Großdoktor, war auf sein Gut zurückgekehrt. Er saß dort herum, führte ruhige Gespräche mit dem Verwalter, erwog, ob er seinen Leibeigenen, den Gehorsamen, nicht freilassen solle.
  Noch zwölf Tage, dann fährt das Schiff »Glück«, das ihn zurück nach Italien bringen wird, noch vier Tage, dann muß er nach Cäsarea aufbrechen.
  Er ritt hinaus auf das Vorwerk »Brunnen der Jalta«. Er setzte sich auf die kleine Mauer, die er liebte; aber diesmal war Mara nicht da. Still saß er in der Sonne, die nicht mehr heiß war. Nun er sich entschieden hatte, fortzugehen, spürte er doppelt die Sehnsucht, im Lande zu bleiben.
  Wenn er in Rom wenigstens Söhne hätte, Söhne im Geist und im Fleische. Aber Simeon ist tot, und Paulus ist ihm verloren.
  Ein Mann hat viel zu sühnen an einer Frau, deren einziger Sohn durch seine Schuld umgekommen ist. Aber wenn er sie wieder zu sich nähme, wäre das für ihn nicht eher Lohn als Strafe? Mara ist nicht da, aber er sieht sie im Geiste vor sich, barfuß, mit dem großen Strohhut, sitzend, stehend, hin und her gehend, wohl auch kniend, grabend, in der fetten, schwarzen Erde.
  Viele der Doktoren preisen die Wiederverheiratung mit der Geschiedenen als verdienstliche Tat. Was für ein Gelächter gäbe es in Rom, wenn er, nach allem Vorhergegangenen, mit seiner ersten Frau wieder angerückt käme. Freilich täuscht man sich oft. Er hat nie gedacht, daß man ihn hier im Lande Israel so freundlich aufnehmen werde. Gamaliel ist in Wahrheit ein großer Mann. Es gibt keinen besseren, die Juden in dieser Zeit zu führen.
  Es wäre gut, einen Sohn von Mara zu haben, von der Frau mit den bloßen Füßen und dem Strohhut. Es ist gleich, ob die Juden einen solchen Sohn anerkennen oder nicht. Wenn man ihn nur von Anfang an selber erzieht, zusammen mit der Frau mit den bloßen Füßen.
  Als er anderen Tages wieder auf das Vorwerk kam, war Mara da. Sie arbeitete. Er stellte sich neben sie, sprach zu ihr. Sprach ihr von jener merkwürdigen Institution, dem Levirat. Setzte ihr auseinander, daß man diesen Begriff nicht zu eng fassen dürfe, daß er ihr gegenüber eine Verpflichtung spüre, daß ihm diese Verpflichtung willkommen sei. Sie arbeitete weiter, während er sprach, und sah nicht auf, so daß er nicht erkennen konnte, ob sie ihm zuhörte und wie sie seine Worte aufnahm; denn der große Hut beschattete ihr Gesicht, und er sah nicht, was darauf vorging.
  Er fuhr fort, zu sprechen, und er sagte mehr, als er vorhatte. Er fragte, ob sie mit ihm nach Rom kommen und dort in seinem Hause leben wollte. Er werde das Bürgerrecht für sie erwerben, und wenn sie auf jüdische Art nicht sollten heiraten können, dann wolle er sie auf alle Fälle auf römische zu seiner Frau machen. Ihr Sohn solle seinen Namen tragen, Flavius Josephus solle er heißen, und sie solle wählen, ob sein Vorname Lakisch sein solle nach ihrem Vater oder Matthias nach dem seinen, und er solle ein Römer sein und vor allem ein Jude. Und sie beide gemeinsam würden ihn hüten und erziehen.
  Er sprach nicht sehr deutlich, trotzdem er ein geübter Redner war; manchmal unterbrach sein erregter Atem seine Sätze.
  Mara hatte zu arbeiten aufgehört. Sie kauerte auf der Erde, in der prallen Sonne, die stark und doch nicht heiß war, den Kopf gesenkt, so daß der große Hut sie völlig verbarg. Sie saß aber eine lange Weile reglos und sagte kein Wort. Endlich fragte Josef: »Hast du mich gehört, Mara?«, und da sie nur eine kleine Bewegung mit dem Kopfe machte, ging er näher an sie heran, beugte sich nieder, faßte ihre Hand, die rauh war, und sagte: »Willst du mir nicht dein Gesicht zeigen, Mara?« Da hob sie den Kopf und lächelte unter dem Strohhut und sagte: »Woher weißt du, daß es ein Sohn sein wird?«
  In ihm aber war eine große Freude, und er rief sie an: »Mara«, und sie erwiderte: »Hier bin ich«, und er zog sie herauf zu sich und führte sie ein kleines Stück Weges, und nun saßen sie beide auf der besonnten Mauer.
  Sie aber sagte ernsthaft und entschieden: »Ich muß aber erst den Weinberg hier, den verwilderten, in Ordnung bringen, und auch warten muß ich, bis die hellfarbige Eselin, die babylonische, ihr Junges geworfen hat und es entwöhnt ist. Das ganze Gut hier muß ich erst in Ordnung bringen.« – »Wie lange wird das dauern?« fragte er. »Übers Jahr, denke ich, werde ich soweit sein«, erwiderte sie. »Das ist sehr lang«, sagte Josef. Doch schon überlegte er: »Dann will ich in der Zwischenzeit in Rom alles Nötige tun, damit du nur vor den Richter zu treten brauchst, um das Bürgerrecht zu erhalten.«
  Am nächsten Tag versuchte Josef, sie zu überreden, sogleich mit ihm nach Rom zu kommen. Sie aber weigerte sich. Sie hatte viel mütterliche Arbeit in den verwilderten Boden gesteckt, sie wollte ihn nicht verlassen, bevor sie sicher war, daß er gedeihe. So mußte Josef nachgeben.
  Allein er wollte nicht von Judäa fortgehen, bevor er seinen neuen Bund mit ihr besiegelt hatte. Er schlief mit ihr. Er wollte einen Sohn in Judäa zeugen.
  Am vierten Tag, wie er es sich vorgenommen, verließ er das Gut, um nach Cäsarea und dann nach Rom zu fahren. Mara aber legte ein Hühnerei zwischen ihre Brüste, um zu sehen, ob ein Hahn oder eine Henne daraus werde.

Die Festspiele in Flavisch Neapel hatten zwar die syrischen nicht ausgestochen, aber alles in allem durfte der Gouverneur zufrieden sein. Daß die Hauptattraktion, der Gaul Vindex, weggefallen war, hatte die Wirkung beeinträchtigt, aber der »Laureol« war ein Erfolg gewesen. Die Festgäste, auch die aus Syrien – und das war in diesem Fall die Hauptsache –, waren aus dem Lachen, Staunen, Applaudieren nicht herausgekommen.
  Demetrius Liban hatte nach diesem Beifall gedürstet wie der Hirsch nach Wasser. Aber er war klug genug, seinen Unwert zu erkennen. Das Auditorium war außergewöhnlich empfänglich, doch ebenso unkritisch. An Stellen, wo die Leute hätten jubeln müssen, waren sie totenstill geblieben, und wo sie hätten weinen sollen, hatten sie gelacht. Wenigstens herzhaft hatten sie gelacht; manchmal schienen selbst die mächtigen Steinstufen des Theaters erschüttert. Kam die Zeit zurück, da Demetrius »Statuen hatte zum Lachen bringen können«?
  Er hatte den Laureol mit schlechtem Gewissen gespielt; daß die Sache gut ausging, war eine unverdiente Gnade Jahves. Jetzt war es seine Pflicht, im Lande zu bleiben. Übrigens sprachen auch äußere Gründe dafür; der Gouverneur, um ihn zu halten, bot ihm Landbesitz und große Privilegien an, so daß er, wenn er sich entschloß, in Judäa zu bleiben, wie ein Fürst leben könnte.
  Er entschloß sich nicht. Gerade nach dem Sieg in Flavisch Neapel zehrte an ihm mit zwiefacher Heftigkeit der Grimm über jene Niederlage im Theater der Lucia. Es war eine unverdiente Niederlage gewesen. Jetzt hat es sich erwiesen, daß sein Laureol selbst vor einem naiven Publikum bestehen kann, das unfähig ist, seine Feinheiten zu schmecken. Nein, er wollte nicht in die Grube fahren, bevor er die Demütigung jener römischen Niederlage von sich abgewaschen hat. Mochte Jahve ihm zürnen, mochte die neue Seereise ihm neue Schrekken bringen: ihm oblag es, auch den Römern die Anerkennung seines Laureol abzuzwingen.
  Er suchte nach einem Schiff, das eine möglichst ruhige Fahrt versprach. Nach vielem Hin und Her belegte er Kajüte auf dem Schiff »Argo«. Die war ein alter Kasten, doch breit und geräumig. Und vor allem ging sie nicht wie jenes Fahrzeug, nach dem sie hieß, auf abenteuerliche Reisen aus, im Gegenteil, sie vermied ängstlich den offenen Ozean, ihr Kurs führte immer die Küste entlang. Die Fahrt wird viele Wochen dauern, doch so schlimme Leiden wie auf der ersten Reise stehen ihm diesmal nicht bevor.
  Er täuschte sich. In der dritten Woche trieb ein starker Sturm das Schiff von der Küste ab, der Steuermann konnte sein Ruder nicht mehr halten. Das Schiff trieb hilflos, überspült von immer neuen, kalten, weißgrauen Wellen. Die Matrosen bestreuten sich mit Asche, die Passagiere schrien zu ihren Göttern, die im Kielraum angeschmiedeten leibeigenen Ruderer heulten um ihr Leben. Bei alledem versicherte der Kapitän, man könne nicht sehr weit entfernt von der Küste sein. Demetrius Liban lag, grau im Gesicht, mit eisigen Gliedern, in seiner Kajüte. Er war furchtbar schwach, den ganzen gestrigen Tag hindurch hatte er sich übergeben, ihm graute vor Essen, er lag, die Augen geschlossen, und schrie nach Tod. Wie auch könnte er gerettet werden? Das Schiff ist verloren, sagen sie, die zwei Boote reichen nicht aus. Freiwillig werden sie ihn nicht in ein Boot nehmen, und er ist nicht kräftig und kann nicht darum kämpfen. Zuerst hat man ihn mit großer Achtung behandelt, jetzt ist er für die andern ein Stück Holz, sie lassen ihn verrecken. Wäre es nur schon aus. Er schrie zu Jahve, wollte Gebetmantel und Gebetriemen anlegen, aber er war zu erschöpft.
  Er hörte ein mächtiges Krachen und neues Geschrei vom Deck her. Gräßliche Angst packte ihn. Mit zerschlagenen Gliedern erkroch er das Oberdeck. Er fiel oftmals auf diesem Gang. Auf dem Oberdeck sahen sie ihn nicht und wollten ihn nicht sehen, jeder war mit sich beschäftigt. Seine Angst wuchs. Da er wahrnahm, daß die andern ihr Haar schoren, um es dem Neptun zu weihen, versuchte er, sein eigenes für den Gott auszureißen, dabei Jahve um Vergebung für den Götzendienst bittend.
  Riesige Wellen waren; sie kamen, schien es dem Demetrius, von allen Seiten. Hatte der Wind sich gedreht? Jemand sagte, man sei näher an der Küste, man habe das Blei geworfen und gesehen, daß das Wasser nicht tief sei, man sei in Gefahr, aufzulaufen, doch mit den Booten könne man Land erreichen. Sie machten die Boote bereit, aber sie warteten noch, sie auszusetzen. Zuerst hatte Liban in einem Winkel Halt und Stütze, dann aber riß es ihn weg, und er rollte wie ein Toter.
  Es ist aus, dachte er. Ich mache mir keine Hoffnung, ich will nichts berufen, ich will nichts hoffen. Aber wenn du mir diesmal noch hilfst, Jahve, nur noch dies einzige Mal, dann verzichte ich darauf, den Laureol in Rom zu spielen, dir zu Ehren verzichte ich darauf. Hilf mir lieber nicht, aber laß es gleich aus sein. Ertrinken ist gräßlich, man kann nicht mehr atmen, ich kann nicht schwimmen. Es ist gut, daß ich nicht schwimmen kann, auf diese Art wird es schneller aus. Vielleicht sollte ich mir die Adern öffnen. Mir graut vor dem Blut. Und wenn Jahve in seiner Gnade doch beschlossen haben sollte, mich zu retten, will ich ihm nicht voreilig zuwiderhandeln. Auf offener See sterben ist das Furchtbarste, man hat kein Grab. Seinem bittersten Feind flucht man: »Daß du auf offener See stürbest«, aber selbst einen Heiden so zu verfluchen, haben die Doktoren verboten. Man wird von den Fischen angefressen. Zuerst fressen sie die Augen, ist nicht in den »Persern« des Äschylus so eine Stelle? Nein, dort ist sie nicht, aber das ist jetzt gleichgültig, laß mich vorher sterben, Jahve, und wie kalt es ist. Vielleicht erschlägt mich einer von den Leibeigenen oder den Matrosen, wenn ich ihm Geld gebe. Ich will nicht denken, ich will nur beten, aber was soll ich beten? »Ja und ja, ich habe gesündigt, ja und ja, ich habe gefrevelt, ja und ja, ich habe gefehlt.« – »Höre, Israel, der Ewige dein Gott« – aber ich sollte nicht »Höre, Israel« sagen; denn wenn ich selber glaube, daß dies die Stunde meines Absterbens ist, dann berufe ich es herauf und beschwöre Jahve, mich zu verderben. Wenn ich gerettet werde, muß ich ein Stück Holz von dem Schiff mitnehmen, daß sie mir glauben, was das für ein Sturm war. Sie glauben es einem nie, wenn man eine Heldentat vollbracht hat. Ich müßte mir den Kopf kahl scheren, daß sie sehen, daß ich meine Haare dem Neptun geweiht habe, aber das wäre wieder eine Beleidigung für Jahve. Unter keinen Umständen darf ich jetzt daran denken, daß auch nur eine Möglichkeit des Untergangs ist. Wenn ich in Rom den Laureol spiele, werde ich in der dritten Szene »Kreuz« betonen und nicht »du«. Und die Maske muß einen halben Zentimeter niedriger werden. Ich muß atmen, dann wird die Übelkeit besser. Wenn ich stark atme und die Arme ausstrecke, dann rolle ich auch weniger. Oh, da kommt schon wieder eine Welle. Wir haben es uns zu einfach vorgestellt, Marull und ich, Seeräuber zu sein. Wenn man denkt, daß die in einem solchen Sturm auch noch kämpfen müssen. Wäre es nur schon aus.
  Als Liban so weit gedacht hatte, gab es einen scharfen Ruck und einen ungeheuren Krach. Das Schiff war aufgelaufen. Geschrei war. In aller Eile setzte man die Boote aus. Demetrius, trotzdem er wußte, daß es aussichtslos war, schrie, sie sollten ihn mitnehmen. Die Boote stießen ab, ohne ihn. Auf der »Argo« waren ein paar Dutzend Menschen zurückgeblieben, Leibeigene, Kranke, Hilflose. Die Wellen drückten jetzt das stark beschädigte Hinterteil des Schiffes vollends ein. Demetrius mit einigen andern kroch zu der Stelle, die sie für die sicherste hielten, und klammerte sich fest. Der Sturm schien ein wenig nachzulassen, aber immer wieder kam eine Welle, schlug über ihm zusammen, drohte ihn wegzureißen, er japste nach Atem.
  Noch bevor das Schiff vollends gesunken war, kamen Boote mit Menschen. Demetrius dachte, nun sei er gerettet; vielleicht auch dachte er es nicht, er hatte keine klaren Gedanken mehr. Waren, die da kamen, Laureol und seine Seeräuber? Sie hatten es eilig, sie hielten sich nicht viel mit Gerede auf, sie schleppten in hurtigem Hin und Her fort, was sie noch an Transportablem fanden. Um die Menschen kümmerten sie sich nicht; vielleicht schienen sie ihnen nicht wert, als Leibeigene aufgefüttert zu werden, vielleicht war es ihnen zu gefährlich, sie zu Leibeigenen zu machen. Die Menschen der Boote waren auf ihre Art gutmütig; dem einen oder andern der Schiffbrüchigen hauten sie auf den Kopf, damit er nicht zu lange zu leiden habe. Den Demetrius beachteten sie nicht. Die Strandbevölkerung hatte in den nächsten Tagen viel zu tun. Es wurde allerhand angetrieben. Da war zum Beispiel ein Kasten aus Ebenholz, mit Elfenbeinreliefs ausgelegt, die Schmückung irgendeines Halbgottes darstellend, und versehen mit den Initialen D. L. Dieser Kasten schien den Strandleuten sehr kostbar; seinen Zweck freilich erkannten sie nicht, sie stritten lange darüber. Dem Demetrius Liban hatte er als Schminkkasten gedient. Auch ein Etui mit den Initialen D. L. wurde angetrieben, das sehr wertvoll aussah und ihnen große Hoffnung erweckte; aber als sie es begierig öffneten, war nichts darin, nur ein verwelkter Kranz.

Josef war froh, Justus noch in Cäsarea anzutreffen.
  Sie saßen am Hafenkai, vor ihnen lag das Schiff »Glück«, das Josef übermorgen nach Italien zurückbringen sollte. Lärm und Menschen waren um sie. Aber Josef sah nur das hagere, scharfe, gelbgraue Gesicht des Justus.
  Der begrüßte es, daß Gamaliel endlich zu einer Aktion gegen die Minäer ausgeholt hatte. »Wahrheit«, konstatierte er, »kann den Menschen ohne eine Beimengung von Lüge nicht beigebracht werden. Die Lüge, die die Doktoren der Wahrheit beimengen, ist weniger gefährlich als die der Minäer. Der Verzicht auf das Weltbürgertum fälscht die jüdische Idee, aber der Verzicht auf den Messias, der da kommen soll, fälscht sie noch mehr. Denn das Erscheinen dieses Messias muß durch das strenge Leben jedes einzelnen erst erkämpft werden, so daß also der Glaube, der Messias sei bereits erschienen, einem Verzicht auf die Idee des Fortschritts gleichkommt. Wer annimmt, das Tausendjährige Reich sei bereits da, kann es sich füglich schenken, weiter darum zu kämpfen. Es ist gut, daß Gamaliel gegen eine Lehre vorgegangen ist, die ihre Anhänger ermutigt, sich von dem Kampf um den Fortschritt zu drücken.«
  Josef, ihn von der Seite her betrachtend, haftete noch an seinen ersten Worten. »Sie glauben im Ernst«, fragte er, »daß eine Wahrheit nur weitergegeben werden kann, indem man ihr Lüge beimischt? Sie glauben also, daß, was bleiben soll, ein Gemenge sein müsse aus Wahrheit und Lüge? Wollen Sie, daß ich das für mehr nehme als für einen Aphorismus?«
  Justus wandte ihm höhnisch das Gesicht zu: »Sie gelten als ein großer Schriftsteller, Flavius Josephus, und haben mit dreiundvierzig Jahren noch nicht die Elemente unseres Handwerks begriffen? Schauen Sie sich die Messiaslegende der Minäer an. Was die Minäer da erzählen, ist voll offenbaren Widerspruchs; jeder Einsichtige muß begreifen, daß es so nicht gewesen sein kann, und noch leben Leute aus Jerusalem und Galiläa, die das gesehen haben müßten, was die Minäer berichten, und die es nicht gesehen haben. Beweist das nicht, wieviel stärker eine Legende ist, die den Menschen bequem eingeht, als eine unbequeme historische Wahrheit? Die Wirklichkeit ist bloßer Rohstoff und zum Gebrauch für das Gefühl wenig geeignet. Sie taugt erst, wenn sie zur Legende verarbeitet ist. Wenn eine Wahrheit sich halten soll, muß sie mit Lüge legiert werden.«
  Der Lärm um sie hatte zugenommen. Bekannte winkten Josef den Gruß. Der, während er ihn erwiderte, sah unver wandt auf den andern, der dünn und steif dasaß, befremdlich durch den fehlenden Arm, unangenehm kichernd, wie das in letzter Zeit seine Gewohnheit war. Josef hörte gespannt zu, aber er konnte die Worte des Justus so schnell nicht fassen und fragte, ein wenig töricht: »Was sagten Sie da, mein Justus?« Und Justus, wie einem Kinde, das schwer begreift, wiederholte ihm, jedes Wort betonend und in Aramäisch, während er bisher griechisch gesprochen hatte: »Wenn eine Wahrheit sich halten soll, muß sie mit Lüge legiert werden.«
  Doch Josef, gleichzeitig mächtig gelockt und gewaltig erzürnt, hielt ihm vor: »Das sagen Sie mir, Justus, der am bittersten jeden Kompromiß verlachte?« Justus aber erwiderte ungeduldig: »Verstellen Sie sich? Wollen Sie mich absolut nicht verstehen? Rede ich einem Kompromiß das Wort? Die reine, absolute Wahrheit ist unerträglich, niemand hat sie, sie ist auch nicht erstrebenswert, sie ist unmenschlich, sie ist nicht wissenswert. Aber jeder hat seine eigene Wahrheit und weiß auch genau, was seine Wahrheit ist; denn sie ist scharf umrissen und einzig. Und wenn er von dieser seiner individuellen Wahrheit nur um ein Jota abweicht, dann spürt er es und weiß, daß er eine Sünde begangen hat. Sie nicht?« fragte er herausfordernd.
  »Was nützt es«, fragte bitter Josef, »eine Wahrheit zu verkünden, wenn es doch nur eine subjektive Wahrheit ist, nicht die Wahrheit?«
  Justus schüttelte über soviel Unverstand den Kopf. Dann, ein wenig ungeduldig, erklärte er: »Die Wahrheiten, die der Politiker heute in Taten umsetzt, sind die Wahrheiten, die der Schriftsteller gestern oder ehegestern verkündet hat. Ist Ihnen das nicht bekannt? Und die Wahrheiten, die der Schriftsteller heute verkündet, wird ein Politiker morgen oder übermorgen in Wirklichkeit umsetzen. Die Wahrheit des Schriftstellers ist unter allen Umständen reiner als die des Tatmenschen. Der Tatmensch nämlich, der Politiker, hat auch im besten Fall nicht die Chance, seine Konzeption, seine Wahrheit, rein zu verwirklichen. Sein Material sind die andern, sind die Massen, ihnen muß er immerfort Konzessionen machen, mit ihnen muß er arbeiten. Die Massen aber sind ihrer Natur nach dumm. Der Politiker arbeitet also mit dem undankbarsten, unanständigsten Stoff, den es gibt: er muß, der Arme, seine Wahrheit statt mit einer anständigen Lüge immerzu mit der Dummheit der Massen versetzen. So bleibt, was er auch macht, brüchig, zum Untergang verurteilt. Die Chance des Schriftstellers ist besser. Gewiß ist auch seine Wahrheit ein Gemenge aus den Fakten, der Umwelt, der Realität, und seinem eigenen, unbeständigen, gauklerischen Ich; aber diese seine subjektive Wahrheit darf er wenigstens rein ans Licht stellen, ja, er darf eine gewisse Hoffnung hegen, daß sie allmählich zur absoluten Wahrheit wird, einfach durch ihre Dauer; denn da die Tatmenschen immerzu mit dieser seiner theoretischen Wahrheit herumexperimentieren, besteht eine leise Möglichkeit, daß einmal, unter günstigen Umständen, die Wirklichkeit sich seiner Theorie fügt. Die Taten vergehen, die Legenden bleiben. Und die Legenden schaffen immer neue Taten.«
  Lastträger liefen hin und her, sie beluden das Schiff »Glück«. Josef schaute ihnen zu, doch nur sein Auge nahm sie wahr, er war beschäftigt mit dem, was Justus sagte. Der wandte ihm jetzt sein Gesicht voll zu und fuhr fort, halb bedauernd, halb bösartig: »Freilich ist es dem großen Schriftsteller auch nicht immer leicht, seinen Wahrheiten treu zu bleiben. Es sind zumeist unbehagliche Wahrheiten, und sie gefährden seinen Erfolg in die Breite. Erfolg in die Breite hat auch ein Schriftsteller gewöhnlich nur, wenn er seiner eigenen Erkenntnis Bestandteile aus der Dummheit der Masse beimischt.«
  Josef fühlte sich unbehaglich. Justus, sehr höflich jetzt und wieder griechisch, sagte: »Glauben Sie, bitte, nicht, mein Josephus, daß ich mich über Sie lustig mache. Warum sollten Sie nicht um des Erfolges willen schreiben? Daß Sie gewisse unanständige Lügen geschrieben haben, hat Ihnen eine Büste im Friedenstempel eingebracht. Fast alle werden finden, das lohnt.«
  Und nochmals änderte sich sein Gesicht, er nahm eine listige und zugleich resignierte Miene an und rückte dem Josef näher. »Ich will Ihnen ein Geheimnis mitteilen«, sagte er. Und mitten in dem Lärm des Hafens von Cäsarea, als wären sie ganz allein, brachte der dünne, kümmerliche, krüppelhafte Mann seinen Mund ganz nahe an Josefs Gesicht und sagte ihm sein Geheimnis ins Ohr: »Auch die Verbreitung der reinsten subjektiven Erkenntnis macht einem keine unbedingte Freude mehr, wenn man erst auf folgendes gekommen ist: daß alle Erkenntnis nur aus dem Streben entsteht, Beweisgründe für die eigene Art zu sammeln, daß alle Erkenntnis nur Mittel ist, das eigene Wesen herauszuarbeiten, gegen die Welt zu behaupten. Und wenn eine Erkenntnis nicht geeignet ist, das eigene Ich zu bestätigen, dann deutelt man so lange an ihr herum, bis sie es ist.« Und kichernd, nach der Melodie eines beliebten Gassenhauers, sang er ein Sprüchlein vor sich hin, das wahrscheinlich erst entstand, während er es sang: »Dir erkennbar ist nur, was geeignet ist, / Dir jeweils zu bestätigen, / Daß du dich nach Lust betätigen / Und sein darfst, was du bist.«
  Josef wagte nicht, dem andern in die Augen zu schauen. »Warum verkleinern Sie unsere Arbeit, Justus?« klagte er.
  »Unsinn«, lehnte unwirsch Justus ab. »Ich halte meine Arbeit nicht für gering.«
  Josef aber, so tief ihn die Worte des andern trafen, spürte das Bedürfnis, solche Worte immer wieder zu hören. Er schaute auf das Schiff »Glück«. »Wollen Sie mit mir nach Rom kommen, Justus?« bat er. »Ich brauche Sie.«
  »Ja«, sagte barsch Justus.






FÜNFTES BUCH

Der Weltbürger





      s war kalt, trüb und windig, als Josef mit Justus in Rom ankam. Trotzdem spürte er schon in der Sänfte, die ihn
      nach seinem Hause trug, ein tiefes Wohlgefühl, wieder in der Stadt zu sein. Er begriff nicht mehr, wie er vor kaum acht Monaten Judäa als seine Heimat hatte grüßen, wie er hatte fürchten können, in Rom werde er sich fremd fühlen. Gewiß, hier ist alles kahler, farbloser als in Judäa. Aber man kann nicht immer in einer Luft leben, die so anstrengend ist und zehrend wie die seiner Heimat, man kann nicht sein Dasein zu einem ewigen Buß- und Gerichtstag machen. Seine Reise nach Judäa war ein großes, heroisches Zwischenspiel gewesen. Hier in Rom ist sein Alltag, tätig, nüchtern, schmutzig. Hierher gehört er, der Welt gehört er, nicht der kleinen, leidenschaftlichen Provinz Judäa.
  Noch am gleichen Tag nötigte er Justus, mit ihm durch die Stadt zu gehen. Noch tiefer jetzt schmeckte er das Gefühl der Heimkehr. Jedem Haus, jedem Stein hätte er zunikken wollen. Die Menschen bis herunter zu den schreienden Straßenhändlern, selbst die Tempel und Statuen der Götter gehörten zu ihm, waren ein Teil von ihm. Er war Judäa dankbar, daß es ihn so tief spüren ließ, wie sehr er Rom und der Welt gehörte.
  Justus war schweigsam. Er ging durch die Stadt, ein kritischer Beschauer; er war lange nicht hier gewesen. In seinem Alexandrien war Leben und Verkehr bewegter. Doch die neue Dynastie, Vespasian und Titus, hatte es verstanden, auch am äußern Bilde Roms sichtbar zu machen, daß hier das Zentrum des Erdkreises war. Josef wies seinem einsilbigen Begleiter die neuen, weiß und goldenen Gebäude der Flavier, als wären sie sein eigenes Werk, prahlte mit dem Wachstum und der Größe der Stadt, seiner Stadt. Als sie an das Forum gelangten, kam gar die Sonne ein wenig heraus, man konnte unter der Rednertribüne an der Sonnenuhr, die man als das Herz der Welt ansah, die Zeit ablesen: Josef strahlte kindlich übers ganze Gesicht.
  Aber als sie zum Marsfeld kamen, war es wieder wolkig, ein Geriesel aus Schnee und Regen kam vom Himmel, es wurde richtig winterlich, und sie beeilten sich, unter die neuen, nach dem Brand wiederhergestellten Arkaden zu flüchten. Die Leute dort fröstelten in ihren Mänteln, hatten rote Nasen, räusperten sich, hüstelten. Josef hielt seine Bekannten an. Die standen ihm nur widerwillig Rede, bemühten sich, kurz zu sein, traten ungeduldig von einem Fuß auf den andern, strebten aus der Kälte fort. Doch Josef suchte das Gespräch hinauszuziehen, fragte sie dies und jenes, stellte ihnen Justus vor. Die lateinischen Laute, vor denen ihm in Judäa unbehaglich gewesen war, klangen ihm lieblich ins Ohr, seine Augen hatten Freude an den römischen Gesichtern, den römischen Kleidern. Diese Leute waren römische Bürger, und römischer Bürger war er.
  Justus blieb schweigsam, aber er machte sich nicht über Josef lustig. Sie gingen jetzt über das Forum des Vespasian. Ein weißes, mächtiges Gebäude stieg vor ihnen auf. »Der Friedenstempel?« fragte Justus, aber es war mehr eine Konstatierung als eine Frage. Die andern neuen Bauten hatte Josef vielwortig erklärt, an diesem wollte er einsilbig vorbei. Doch Justus blieb stehen. Leicht fröstelnd, behindert durch den fehlenden Arm, hüllte er sich dichter in seinen Filzmantel, betrachtete das Gebäude. »Wollen wir nicht hineingehen?« forderte er Josef auf. Der schaute ihm schräg ins Gesicht, argwöhnisch, ängstlich vor dem Augenblick, da Justus vor seinem Ehrenbild stehen werde. Allein das hagere Antlitz des Justus zeigte keinen Spott, nichts als Wißbegier. Josef zuckte die Achseln, sie stiegen die Stufen hinauf. Gingen vorbei an der Friedensgöttin, die sanft und ruhevoll im Schutz ihrer beiden Kaiser stand, vorbei an den prunkenden Gemälden und Statuen, an den Trophäen des jüdischen Krieges, dem siebenarmigen Leuchter, den Schaubrottischen. Justus ging langsam, betrachtete alles genau, atmete stark. Keiner von beiden sagte ein Wort.
  Sie durchschritten die Bibliothek. Vor ihnen öffnete sich weit und still ein Saal. »Der Ehrensaal?« fragte Justus. Josef nickte. Oft war er und in peinlichen Situationen vor das Antlitz von Männern getreten, die sein Schicksal in ihrer Hand hatten, doch nie hatte er ein so prickelndes Unbehagen gespürt wie jetzt, da er mit Justus vor seine Büste treten soll.
  Groß und ruhig lag die Halle, die wenigen Menschen, die sich an diesem Tag hergewagt hatten, verloren sich in ihr, fröstelnd in der Ecke hockte der Diener. Sie traten ein. Standen vor den Erztafeln, auf denen die Namen der einhundertachtundneunzig eingemeißelt waren, die als die großen Schriftsteller aller Zeiten galten. Lange verweilte Justus, las sorgsam Namen für Namen, seine Lippen bewegten sich, während er las. Josef beschaute ihn gespannt, er zitterte vor Kälte, dabei schwitzte er vor Erregung, das Herz stieß ihm gegen die Rippen. Justus stand und las, und Josef sah ihn an, und Justus lächelte nicht. Wieder überkam Josef das erbärmliche Gefühl des Schuljungen, der seine Aufgabe nicht gelernt hat.
  Endlich löste sich Justus von den Tafeln. Sie machten sich daran, die Bildsäulen zu beschauen, eine nach der andern, wie sie die eirunde Wand des Saales entlang standen. Jetzt waren sie am Kopf des Josef. In seinem korinthischen Erz schimmerte er, über die Schulter gedreht, hager, fremdartig, augenlos und doch voll wissender Neugier, hoch und hochfahrend. Der lebendige Josef sah jetzt keineswegs hochfahrend aus, seit langem hatte ihn keiner so klein gesehen. Was suchte sein Bild unter den Bildern dieser andern? Sein Ruhm war erschlichen; er war, nun dieser Justus das Bild beschaute, wie ein Dieb vor dem Bestohlenen.
  Aber Justus, nach einem endlosen Schweigen, sagte nur: »Dieser Basil ist ein großer Künstler.« Und als sie den Saal verließen, sagte er: »Einer fehlt, und es wäre vielleicht auch für Sie gut gewesen, wenn seine Büste vor der Ihren hier aufgestellt worden wäre.« – »Ja«, sagte demütig Josef, und er begriff selber nicht, wie er hatte zulassen können, daß ihm ein Bild in diesem Raum errichtet wurde, solange kein Bild des Philo darin stand.
  Er fragte sich, was wohl in Justus vorgegangen sein mochte, während er das Ehrenbild beschaute. Justus war nicht neidisch, dazu war er zu stolz, aber es wäre ein Wunder gewesen, wenn ihn nicht die Läufte der Welt mit Bitterkeit erfüllt hätten. Justus blieb, gegen seine Gewohnheit, dunkel und sagte, während sie den Tempel verließen, nur: »Man hat es nicht leicht, als Jude demütig zu bleiben. Man braucht nicht viel Prophetentum, bloß ein wenig literarisches Urteil, um zu wissen, daß von all denen, die in unserm Jahrhundert griechisch schreiben, nur drei ihre Zeit überleben werden: der Jude Philo, der Jude Justus von Tiberias, der Jude Flavius Josephus.« Er kicherte nicht, es war kein Spott in seiner Stimme.
  Am nächsten Tag gab er dem Josef ein kleines Buch, die ersten zweihundert Seiten seiner Darstellung des jüdischen Kriegs. Es war für Josef ein Anerkenntnis und eine Bestätigung, daß Justus sie ihm gab. Er saß die Nacht hindurch wach über dem Manuskript. Erst wollte er es atemlos durchjagen, aber das ging nicht, der scharfe, dichte Stil des Werkes zwang den Leser, jedes Wort zu überdenken. Langsam also las er die klaren, gemeißelten Sätze des andern, die belegt waren mit Ziffern und Daten, und während er las und bewunderte, spürte er schmerzlich die eigene hinter soviel falschem Glanz verdeckte Unzulänglichkeit.
  Dennoch drückte ihn das Werk des Justus nicht nieder. Ihm selber fehlte vieles, was jener besaß, doch vieles eignete ihm, was jenem mangelte. Jener hatte die schärfere Intelligenz, den weiteren Blick, allein ihm selber verdichtete sich, was er erlebte, zu Bildern und Gestalten von größerer Schaubarkeit. Und das Werk des Justus wurde ihm zum Stachel, der ihn nicht verletzte, sondern spornte.

So erfreut Josef seine Römer begrüßt hatte, mit solcher Unruhe sah er der ersten Begegnung mit den römischen Juden entgegen. Die Angelegenheit der Josef-Synagoge war noch immer nicht geklärt. Nach dem Sturm von Unwillen und Gelächter, den sein Verzicht auf den Knaben Paulus erregt hatte, war es zweifelhaft, ob Doktor Licin seine Absicht, der Synagoge den Namen Josefs zu geben, werde durchführen können. Voll unangenehmer Spannung also empfing Josef die Herren Cajus Barzaarone und Doktor Licin, als sie sich bei ihm meldeten.
  Aber bald stellte sich heraus, daß die Herren vor Josef mehr Schuldbewußtsein hatten als der vor ihnen. Der joviale Cajus Barzaarone ließ während der Begrüßungssätze seine listigen Augen spähend über Josefs Gesicht gleiten, seine Gedanken zu erraten, und Josef merkte bald, daß die ehrenvolle Aufnahme, die er in Jabne gefunden, in Rom Eindruck gemacht hatte. Beredt rühmte der alte Vorsteher der Agrippenser-Synagoge die Weisheit des Großdoktors Gamaliel. In diesem Manne war den Juden nach soviel Fährnissen ein großer Führer erstanden, vergleichbar dem Esra und dem Nehemia. Zuerst hatten die römischen Gemeinden gefürchtet, ein so junger Herr werde sich in dieser schwierigen Lage zu Unüberlegtheiten hinreißen lassen. Allein Gamaliel verband die Kraft eines jungen mit der Weisheit eines alten Mannes. Mit wie fester Hand hält er die auseinanderstrebenden Juden zusammen. Mit welch meisterlicher Taktik hat er diese Minäer, deren unsinnige Propaganda die Römer immer von neuem gegen die Juden aufbrachte, aus der Gemeinschaft hinausgedrängt. Wie schmiegsam weiß er bei aller Autorität seine Theorie den Forderungen der Wirklichkeit anzupassen. Und Cajus Barzaarone erzählt ein Beispiel aus seiner eigenen Erfahrung. Da der Großdoktor so streng auf die Befolgung der Riten hielt, hatten die orthodoxen Hitzköpfe in Rom einen neuen Vorstoß gegen ihn, Cajus Barzaarone, gewagt, hatten die alte Geschichte mit den Tierornamenten an seinen Möbeln aufgewärmt, hatten versucht, ihn auf dem Umweg über Jabne zu stürzen. Aber der junge, weise Gamaliel hatte ihren Umtrieben schnell ein Ende gemacht. Selbstverständlich ist es besser, die erste Möbelfabrik Roms bleibt in jüdischen Händen, auch mit Tierornamenten, als daß das Präsidium der einflußreichen Tischlergewerkschaft an einen Goi übergeht. Ein weiser Gesetzeslehrer, ein großer Politiker.
  Keine Rede war mehr davon, daß man einmal geschwankt hatte, ob man dem neuen Bethaus am linken Tiberufer noch den Namen des Josef geben könne. Vielmehr lud ihn Doktor Licin dringlich ein, die Fortschritte des schönen Baus bald zu besichtigen.
  Eine schwere Sorge fiel von Josef ab. Wie die Dinge jetzt liegen, werden die römischen Juden seiner neuen Ehe mit Mara sicher keine Schwierigkeiten bereiten.
  Er ging zu Alexas. Es war keine leichte Aufgabe, diesem Manne, dem er befreundet war, mitzuteilen, was er mit Mara verabredet hatte. Der Glasfabrikant empfing ihn mit großer Spannung, fragte ihn nach allen Kleinigkeiten des judäischen Lebens; aber er zögerte, die Rede auf Mara zu bringen, offenbar hatte er Angst davor, und Josef selber drückte herum.
  Sie saßen lange. Als sie über Judäa nichts mehr zu sprechen wußten, sprachen sie von Rom. Alexas erzählte Josef von den Gerüchten, die am rechten Tiberufer, unter den Juden, über Kaiser Titus umliefen. Josef hatte bereits davon gehört, daß der Gesundheitszustand des Kaisers zu wünschen übriglasse. Die Juden deuteten seinen zunehmenden Verfall auf ihre Art aus, raunten davon, daß die Hand Jahves den Zerstörer seines Tempels getroffen habe. Titus habe sich gebrüstet, Jahve sei Herr nur auf dem Wasser, darum auch habe er den Pharao Ägyptens nur bei dem Durchzug durch das Rote Meer vernichten können; zu Lande aber sei er, Titus, des Gottes ohne weiteres Herr geworden. Um ihn für seinen Übermut zu strafen, habe ihm Jahve jetzt eines seiner kleinsten Lebewesen gesandt, ein winziges Insekt, ihn zu vernichten. Das sei ihm durch die Nase ins Hirn gedrungen, lebe dort, wachse, ängstige den Kaiser bei Tag und Nacht, bis es ihn endlich töten werde.
  Was immer diesen Gerüchten zugrund liegen mochte, so viel wußte Josef: glücklich war der Zerstörer Jerusalems nicht. Allein auch dieser Alexas, ein kluger, vernünftiger, nach dem Schönen und Guten strebender Mann, war wohl nicht glücklich. Er hing an seinem Vater, er hing an seiner Frau und an seinen Kindern, nur um seines Vaters willen war er in der Stadt Jerusalem geblieben, deren Untergang er früher und klarer als die andern vorausgesehen; aber er selber war merkwürdigerweise gerettet worden, und umgekommen waren die, um deren Rettung willen er geblieben war. Jetzt hat er alle seine Hoffnungen auf Mara gesetzt. Josef brachte es nicht über sich, ihm von seiner bevorstehenden Heirat zu erzählen.
  Alexas forderte ihn auf, mit in die Fabrik hinüberzukommen. Der Glasfabrikant hatte sich mit der gewohnten Intensität auf seine Arbeit geworfen; er hatte die Verkaufsräume in die Arkaden des Marsfeldes verlegt, so daß das ganze Gebäude in der Subura für die Werkstätten frei wurde. In Schiffsladungen importierte er pulverisierten Quarzkiesel vom Flusse Belus, und mit Hilfe dieses Materials und seiner sidonischen Vorar beiter führte er einen aussichtsreichen Kampf gegen die einheimische Industrie. In der Stadt selbst fabrizierte er jetzt jene kunstvollen Luxusgläser, die man bisher aus Ägypten und Phönizien hatte kommen lassen müssen.
  Er führte Josef durch die Fabrik. Lange und hingegeben schaute Josef der Arbeit der großen Schmelzöfen zu. Er hockte nieder, sah in die bunte, von vielerlei Stoffen genährte Flamme. Alexas mahnte ihn zur Vorsicht, er selber sei die Flamme gewöhnt, aber die Augen des Ungewöhnten litten darunter. Doch Josef konnte den Blick nicht abwenden. Er sah die Flamme, er sah Sand und Soda und schaute zu, wie diese Stoffe inmitten der ungeheuren Hitze sich mischten und zu einer neuen Masse wurden.
  Und während er so hockte und in die Flamme starrte, konnte er endlich dem Alexas erzählen. Er erzählte ihm, wie er Mara angetroffen und was er mit ihr besprochen hatte.
  Alexas hörte trüb und resigniert zu. Es war ihm eine liebe Hoffnung gewesen, nach Judäa zurückzukehren, Mara zu ehelichen, sein Alter mit ihr im Lande Israel zu verbringen. Nur hatte er Mara ein, zwei Jahre Zeit lassen wollen, bis sie den Tod des Jungen verwunden habe, um ihr dann erst die Heirat von neuem anzubieten. Er hatte zuviel Takt, das war es. Mit Takt kam man nicht weiter. Wenn die Römer taktvoll gewesen wären, hätten sie nie die Welt erobert. Der andere war auch nicht taktvoll gewesen. Darum hat er sich Mara geholt.
  Alexas hockte da; trotzdem er die Schultern fallen ließ, sah er breit und stattlich aus. Er hatte wieder ein wenig Fett angesetzt. Es war seltsam, dachte Josef, wie der Glasfabrikant mit zunehmendem Alter seinem Vater ähnlicher sah, trotzdem der eigentlich bis zu seinem Ende zufrieden und zuversichtlich gewesen war, Alexas selber aber von Jugend auf umschattet von dem Wissen um das Elend der Welt und die Brüchigkeit der menschlichen Dinge.
  Übrigens spürte Alexas nicht einmal jetzt Zorn gegen Josef. Er stand vielmehr schwerfällig auf, verneigte sich mehrmals vor Josef, der immer noch in das vielfarbige Feuer starrte, sein Schatten, von der zuckenden Flamme grotesk verlängert und verkürzt, neigte sich mit ihm, und er sagte: »Ihnen, mein Doktor Josef, ›Heil‹ oder ›Gott segne dich‹ zu wünschen erübrigt sich. Sie sind in Wahrheit ein von Geburt an Gesegneter.«
  Auch Josef erhob sich, dehnte ein wenig die eingeschlafenen Glieder. Es fiel ihm nicht leicht, die Worte des andern mit der gebotenen Demut anzuhören und zu erwidern. Er war voll Stolz: Alexas hatte recht.

Marull, als Josef ihn aufsuchte, um mit ihm über die Erwerbung des Bürgerrechts für Mara Rates zu pflegen, war bissiger Laune. Seine Zahnschmerzen hatten sich mit Beginn des Winters verschlimmert. Zudem war das Schiff »Argo«, auf dem sein Freund Demetrius Liban die Rückreise von Judäa angetreten hatte, längst überfällig. Ein wenig tröstete es ihn, daß eine riesige Weizenspekulation, die er zusammen mit Claudius Regin unternommen hatte, ungewöhnlich guten Erfolg brachte; das erfreulichste war, daß bei diesem Geschäft viele der republikanischen Senatoren, seiner Feinde, übel hereingefallen waren. Aber leider konnte man sich nicht lange an diesem ergötzlichen Gedanken weiden, der Geist war willig, sich die Bilder der Hereingefallenen immer wieder vorzustellen, doch das Fleisch war schwach, die Zahnschmerzen zerknabberten schnell die spärlichen Minuten seines Behagens und trieben den Sinn in unlustige Betrachtungen, zum Beispiel über das Schiff »Argo« und seinen Freund Demetrius Liban.
  Ausführlich, vor Josef, verbreitete er sich über das Pech, das er mit seinen Freunden hatte. Erst hatte Johann von Gischala ihn verlassen, nur um in dieses alberne judäische Attentat hineinzurennen, von dessen Folgen er sich, wie man dem Marull mitteilte, kaum je ganz erholen wird. Und jetzt war, wie es schien, Demetrius in ein noch ferneres Land verschwunden als Johann; die »Argo« war verschollen, und es war wenig Hoffnung, daß Liban je wieder auftauchen werde. Noch auf der Heimreise, von Ephesus aus, hatte der Schauspieler ihm geschrieben, wie sehr er sich darauf freue, jetzt in Rom ein zweites Mal den Laureol zu spielen, und das Essen schmeckte einem nicht mehr, wenn man daran dachte, daß der Schreiber vielleicht schon ein Fraß der Fische gewesen war, als der Brief den Empfänger erreichte.
  Josef, mit einer kleinen Reue, sagte sich, daß er diese ganzen Wochen hindurch den Schauspieler kaum vermißt habe. Dabei war sein Leben mit dem des Liban eng verknüpft. Niemals ohne ihn hätte er die Kaiserin Poppäa kennengelernt, wer weiß, ob er ohne ihn hochgekommen wäre, wer weiß, wann und wie der jüdische Krieg ohne seine Begegnung mit dem Schauspieler ausgebrochen wäre, und Demetrius seinesteils wäre ohne ihn nicht nach Judäa gefahren und untergegangen.
  Marull sprach längst weiter. Sollte, überlegte er, Demetrius wirklich einmal zurückkehren, dann seien die Chancen für den »Laureol« ausnehmend gut. Abgesehen von der Sensation, die die Heimkehr des verloren Geglaubten erregen werde, könne jetzt, seitdem alle Welt wisse, daß Titus nie mehr ganz genesen werde, unmöglich ein von dem Prinzen Domitian protegiertes Stück durchfallen. Umständlich befragte er den Josef nach den Einzelheiten der Aufführung in Flavisch Neapel. Besonders interessierte ihn, ob Demetrius in der dritten Szene das Wort »Kreuz« oder das Wort »du« betont habe. Daß Josef es ihm nicht sagen konnte, enttäuschte ihn. Nun wird er es wohl niemals mehr erfahren.
  Endlich ließ er von den Erinnerungen an Demetrius ab, und Josef konnte von seinen eigenen Angelegenheiten reden. Marull schien amüsiert über das verzwickte Hin und Her seiner Wünsche und Begierden. So geht das: erst hat Josef mit Opfern die Scheidung von Mara durchgesetzt, jetzt wendet er Zeit, Geld, Nerven, Leben daran, sie wieder zu heiraten; denn die Adoption einer volljährigen Jüdin sei eine umständliche, aufreibende Sache. Ein Mittel freilich gebe es, das Verfahren abzukürzen, die voraussichtlichen Widerwärtigkeiten und den drohenden Skandal zu vermeiden. Da nun einmal der Kaiser einen Narren an ihm gefressen zu haben scheine, wie wäre es, wenn er, wie das letztemal, geradewegs zu ihm ginge?
  Josef meinte bedenklich, nach allem, was er höre, sei der Kaiser krank, schwer zugänglich, schrullenhaft. Marull musterte ihn durch den blickschärfenden Smaragd. »Sie haben recht gehört, mein Josephus«, bestätigte er. »Die Absonderlich keiten der Majestät haben während Ihrer Abwesenheit zugenommen. Der Kaiser versinkt immer öfter unversehens in sich selber und hört und sieht nichts mehr von den Menschen und Dingen ringsum. Die Prinzessin Lucia ist die einzige, deren Gegenwart er auf die Dauer ertragen kann.«
  Und dann stellte sich zur Verblüffung des Josef heraus, daß die Leute vom rechten Tiberufer nicht ganz unrecht hatten. »Sie wissen«, fuhr nämlich Marull fort, »ich bin durch meine Zahngeschichten genötigt, manchmal den Doktor Valens zu konsultieren. Der, während er mir im Munde herumkratzt, erzählt mir kuriose Geschichten. Der Kaiser hat lange Anfälle heftigen Weinens. Dann wieder verlangt er dringlich nach Lärm. Einmal hat er mitten in der Nacht das Arsenal aufgesucht, hat die ganze Belegschaft alarmieren, alle Werkstätten in vollen Betrieb setzen lassen. Mitten in der Nacht. Er wünschte, und zwar sofort, betäubenden Lärm um sich zu haben. Dem erstaunten Valens hat er, halb im Scherz, halb im Ernst, erklärt, wenn das Tierchen in seinem Hirn den Lärm höre, dann erschrecke es und gebe Ruhe.« Marull, nach einem kleinen Schweigen, schloß sachlich: »Auf alle Fälle, mein Josephus, tun Sie gut, sich um die Audienz möglichst bald zu bewerben.«

»Beim Herkules, mein Junge«, rief Lucia, als Josef bei ihr eintrat, »was haben Sie für einen schönen Bart gekriegt.« Josef trug noch den Bart wie in Judäa, viereckig, ziemlich kurz, kantig, doch nicht gekräuselt und geknüpft wie früher. Sie ging um ihn herum, betrachtete ihn von allen Seiten. »Wissen Sie«, wunderte sie sich, »daß Sie dieser Bart viel besser kleidet? Sie sehen jüdisch aus, doch nicht zu sehr, auch nicht so kunstvoll und geschniegelt wie unser Agrippa.« Ihr dunkles Lachen, das Domitian so gern hörte, füllte den Raum. Sie setzte sich ihm gegenüber, groß, stattlich, mit dem mächtigen Turm ihrer Locken, Josef wirkte klein neben ihr. »Erzählen Sie von Judäa«, bat sie. »Jetzt, nachdem wir Ihre Berenike los sind«, gestand sie fröhlich, »habe ich wieder viel mehr Sympathie für Ihr Land.« Josef erzählte. Er bemühte sich, anschaulich zu sein, amüsant. Lucia war auch amüsiert, rückte näher, tätschelte seine Hand. »Gut erzählen können Sie«, lobte sie ihn. »Und schöne Hände haben Sie auch.«

  Josef fühlte sich in seiner besten Kraft und war kein Verächter des Lebens; doch vor dieser Lucia und ihrem Überschuß kam er sich arm vor. Sicher hatte sie nach wie vor ihr Bübchen auf ihre Art gern, sicher auch brachte sie für Titus wahre Neigung auf: dabei aber war Rom voll von Erzählungen, wie schamlos sie ihr Gefühl für Paris zeige, den jungen, eben in Mode kommenden Tänzer. In Gegenwart des Kaisers und Domitians hatte sie ihn in die Loge beschieden, vor zwanzigtausend Augen den Arm um seine Schulter gelegt: Sie stammte aus einem Geschlecht, das den Tod niemals gefürchtet hatte, war selber ohne Furcht, nahm von jedem Augenblicke, was er bot. Während die meisten alten Familien mit dem Wachstum Roms verkamen, als hätten sie ihre Kraft an Stadt und Reich abgegeben, war Lucias Geschlecht mit Rom gewachsen, und in ihr gipfelte Rom und ihr Geschlecht. Sie war in Wahrheit dieses Rom der Flavier, strotzend, niemals satt, mit Genuß immer mehr Leben in sich fressend.
  Als Josef ihr von seinem Projekt sprach, Mara zur Vollbürgerin zu machen und zu heiraten, war sie amüsiert wie Marull. Allein trotz ihres offensichtlichen Wohlwollens trug sie Bedenken, Josef vor Titus zu lassen. »Ich zweifle«, erklärte sie geradeheraus, »ob es klug ist, wenn ich Sie vor den Kaiser bringe. Der Osten ist ihm nicht gut bekommen, er hat sich ihm zu tief ins Blut gesetzt, und als er ihn zuletzt herausriß, blieb eine Narbe, die nicht heilen will. Der Kaiser Titus hat Judäa nicht vertragen.« Sie wandte ihm ihre großen, kühnen, weit auseinanderstehenden Augen zu, ihre Stirn unter dem mächtigen Lockenbau schien rein und kindlich. »Andere vertrügen Judäa vielleicht besser«, sagte sie langsam, nachdenklich, ihn unverwandt anschauend. Josef griff stürmisch nach ihrer Hand. »Nicht«, sagte sie und schlug ihn so kräftig auf die Finger, daß es schmerzte.
  Schon nach drei Tagen wurde er auf den Palatin beschieden.
Im Vorzimmer, bevor er zu Titus geführt wurde, suchte ihn der Leibarzt Valens auf. »Sie werden gebeten, mein Flavius Josephus«, sagte er sehr höflich, »nicht länger als zwanzig Minuten bei der Majestät zu bleiben.« Josef, leicht unbehaglich unter dem kalten, abwesenden und doch prüfenden Blick des Arztes, fragte: »Wer bittet mich?« – »Einer, der das Recht dazu hat«, sagte dunkel Valens.
  Titus war merklich gealtert. Sein rundes Gesicht war aufgeschwemmt, die Augen in dem breiten Kopf schienen noch enger, noch mehr nach innen gestellt: mit den kurzen, in die faltige Stirn frisierten Locken sah der Kaiser aus wie ein ergreistes Kind. Er freute sich sichtlich, Josef wiederzusehen. »Endlich, mein Jude«, sagte er. Und »Erzähle mir von unserm Judäa«, bat auch er.
  Josef erzählte. Berichtete, das Land blühe und gedeihe. Der Gouverneur sei trotz einigen unangenehmen Eigenheiten der rechte Mann; seine Maßnahmen und die des sehr klugen Großdoktors wirkten so ineinander, daß die Römer mit den Juden halbwegs friedlich auskämen.
  Der Kaiser schien enttäuscht. Nicht das wollte er hören. Er wartete offenkundig auf ein Bestimmtes und scheute sich nur, danach zu fragen. Josef zergrübelte sich den Kopf, worüber wohl der Kaiser Auskunft haben wolle, aber er fand es nicht.
  Schon waren die zwanzig Minuten beinahe vergangen, von denen Valens ihm gesprochen hatte. Titus erschlaffte zusehends, hörte kaum mehr auf das, was Josef sagte, starrte dahin, wo einmal das Bild der Berenike gewesen war.
  »Warst du dort?« entschloß er sich plötzlich, gradheraus zu fragen. Josef folgte dem Aug des Kaisers. »Wo dort?« fragte er zögernd zurück, er dachte, der Kaiser meine vielleicht, bei Berenike. »In Jerusalem natürlich«, sagte, ein wenig ungeduldig, Titus, er hatte die Stimme gesenkt, er flüsterte beinahe.
  »Ja, ich war dort«, erwiderte schließlich Josef. »Nun?« fragte begierig Titus. »Es sind Baracken der Zehnten Legion dort, einige Wasserstellen und die Mauern der Türme Hippikus, Phasael und Mariamne.« – »Das ist mir nicht unbekannt«, höhnte der Kaiser. Josef aber gedachte der großen Ödnis, er konnte nicht länger klug sein, er sagte, die Stimme nicht geho ben, doch jedes Wort gehämmert: »Sonst ist nichts dort.« Titus schaute vor sich hin mit sonderbar suchenden, gequälten Augen. Er sprach jetzt so leise, daß Josef Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Wir hätten es nicht tun sollen«, sagte er. »Wir hätten das da stehenlassen sollen. Ich hatte es ihr versprochen, und ich habe immer davon geträumt, wie sie die Stufen hinaufsteigt. Dann aber ist sie statt dessen die Stufen des Palatins hinaufgestiegen, und das war nicht das Richtige.« Und als ob Josef einen Einwand vorgebracht hätte, fuhr er heftiger fort: »Ich sage dir, mein Jude, es war nicht das Richtige. Darum ist alles kaputtgegangen. Weißt du noch, wie wir das erstemal die Stadt sahen? Damals kam ein ungeheures Gedröhn aus euerm Tempel. Ich habe jetzt zuweilen Sehnsucht nach Gedröhn, aber jenes Gedröhn war nicht angenehm, es ging nicht mehr heraus aus meinem Schädel, es macht mir Kopfweh. Übrigens kann ich durchaus nicht mehr daraufkommen, wie das Ding hieß, mit dem ihr dieses Gedröhn gemacht habt.« – »Es war die Magrepha«, sagte Josef, »die hunderttonige Schaufelpfeife.« Die Worte des Kaisers rührten ihm das Innere auf; nicht was der Mann sagte, erschütterte ihn, sondern wie er es sagte, dieses leise, geheimnisvolle, abgestorbene Vor-sich-hin-Sprechen. »Ganz richtig«, sagte Titus, »die Magrepha. Euer Gott Jahve hat eine gewaltige Stimme. Hast du, wie du jetzt in Jerusalem warst, nichts mehr davon gehört?« erkundigte er sich interessiert. »Doch«, erwiderte zögernd Josef, »die Stimme Jahves habe ich gehört.«
  »Siehst du«, sagte, mit dem breiten, schweren Kopf nickend, der Kaiser, und er sprach geradezu erfreut, als habe er diese Worte des Josef von Anfang erwartet. »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« fügte er noch hinzu. »Weißt du übrigens«, fuhr er fort, »daß der Hauptmann Pedan gestorben ist? Ja«, berichtete er, da Josef betroffen hochsah, »er ist ganz plötzlich gestorben, während eines Banketts. Er ist nicht sehr alt geworden. Er war ein kräftiger Mann, und ich hätte ihm noch viele Jahre gegeben. Er war der Träger des Graskranzes, aber er war ein böser Mann. Wir hätten es nicht tun sollen«, kam er auf seine früheren Worte zurück. »Dabei habe ich es eigentlich gar nicht tun wollen«, grübelte er, »und wenn euer Gott Jahve ein gerechter Gott wäre, dürfte er mir nicht die Schuld geben. Aber ich glaube, er ist kein gerechter Gott, und ich werde es nicht mehr lange machen. Mein guter Valens versteht seine Sache, er vertröstet mich und gibt mir Hoffnung: aber was kann er ausrichten, wenn euer Gott Jahve so ungerecht ist?«
  Josef fröstelte, als er den Herrn der Welt so sprechen hörte. Er dachte an den Hauptmann Pedan, an seine breite, ungeschlachte, mit weißlichblonden Härchen bewachsene Hand, die nun nicht mehr zupacken und zuschlagen konnte. Ganz flüchtig dachte er auch daran, daß jetzt die Stadt Emmaus wohl keine Einwände mehr gegen die Eingemeindung seiner Güter haben werde, und er freute sich, daß er seinen Einfluß bei Flavius Silva nicht für seine privaten Zwecke gebraucht hatte, sondern für den gemeinen Nutzen der Juden.
  »Nein, ich habe es nicht gewollt«, versicherte jetzt, nochmals, der Kaiser. »Und warum überhaupt hat euer Jahve sein Haus nicht beschützt und hat es zugelassen, daß an jenem Tag gerade dieser Pedan zur Übernahme der Befehlsausgabe kommandiert wurde? Ich finde, euer Gott hat sich nicht fair gegen mich benommen. Selbst wenn Valens recht hat und ich wieder hochkomme, euer Jahve hat mir mein Leben kaputtgeschlagen. Sie hätte die Stufen seines Tempels hinaufgehen sollen, und er hat gemacht, daß es die Stufen des Palatins waren.
  Genug davon«, unterbrach er sich plötzlich und versuchte den Ton zu ändern. Josef, bei diesem veränderten Ton, schrak auf aus seiner Versunkenheit und schaute auf die Wasseruhr. Die zwanzig Minuten waren längst vorbei. Aber mochte der, der die Macht hatte, tun, was ihm beliebte: vorläufig, jetzt, war er bei Titus, und er hatte noch gar nicht von seinem eigenen Anliegen gesprochen.
  »Sie haben die Prinzessin Lucia schon gesehen?« schwatzte in frischerem, leichterem Ton der Kaiser weiter. »Ist sie nicht großartig? Ist sie nicht das ganze Rom? Sie ist ein starker Halt.« Wieder schaute er nach der Stelle, wo einmal das Bild gehangen war. »Eine Berenike allerdings ist sie nicht«, lächelte er. Und wiederum den Ton wechselnd, ernsthaft, sachlich, abschließend, konstatierte er: »Hören Sie, Flavius Josephus, mein Geschichtsschreiber, ich habe zwar das Vertrauen meiner Römer gewonnen und bin die ›Liebe und Freude des Menschengeschlechts‹: aber meine eigene Freude, die große Chance meines Lebens, habe ich verloren.«
  Dann, höflich, gütig, fragte er Josef nach seinem Begehren. Nickte, lächelte, lachte, klatschte einen Sekretär herbei, und in einer Minute war die Einbürgerung der Mara, Tochter des Lakisch, zur Zeit wohnhaft auf dem Vorwerk »Brunnen der Jalta« bei der Stadt Emmaus, geregelt, wie Marull und Josef es wünschten.
  Josef aber, als er den Palatin verließ, konnte kaum die rechte Freude über diesen günstigen Ausgang aufbringen. Noch lange verwirrten ihn die sonderbaren Reden des Kaisers.

Dorions Tage waren ausgefüllt. Sie besuchte mit ihrem Freunde Annius Bassus die Veranstaltungen, bei denen eine Frau von Welt sich zeigen mußte. Sie baute weiter an ihrer Villa in Albanum, die um ihrer Architektur, ihrer Inneneinrichtung willen weit gerühmt war. Sie liebte Komfort, sie hatte eine tiefe Freude an den schönen Dingen des Lebens, und wenn sie an das düstere, verwilderte Haus im sechsten Bezirk zurückdachte, hatte sie alle Ursache, sich glücklich zu schätzen. Auch war es kein schlechter Tausch, statt des schillernden, unsichern Josef den Obersten Annius Bassus zum Freund und Beschützer zu haben. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis Titus seinem Bruder Platz macht, und es besteht begründete Aussicht, daß dann Annius Chef der Garde wird, nach Domitian der einflußreichste Mann im Reich.
  Trotzdem war Dorion seit ihrer Trennung von Josef sprunghafter, reizbarer als früher und zeigte vor allem ihrem Freunde Annius ein spröderes Gesicht. Annius liebte die Frau und nahm ihre Launen gelassen hin. Allein als einem Mann der Ordnung war es ihm unlieb, daß sie noch immer nicht das römische Bürgerrecht besaß, und er drängte darauf, ihre Beziehungen zu legalisieren. Doch Dorion entschloß sich nicht, die paar Formalitäten auf sich zu nehmen, die zu einer vollgültigen Eheschließung nötig waren, und wich seinen Bitten unter nichtigen Vorwänden aus.
  Daß Josef ihr den Sohn zurückschickte, hatte sie aus ihrem Gleichgewicht geworfen, und monatelang war ihr kein Tag vergangen, ohne daß sie ihn wild gehaßt und brennend geliebt hätte. Sie hatte aufgeatmet, als er dann nach Judäa reiste. Er sollte nur zurückgehen in seine lächerliche, barbarische Provinz, dorthin gehörte er. Ihre Beziehungen zu Annius waren ausgeglichener geworden, vertrauter, und als er ihr zu Ende des Sommers sein kleines Stadtpalais zum Geschenk anbot, nahm sie an und übersiedelte für den Winter nach Rom.
  Einmal, bald nach Josefs Rückkehr, bei einer großen Rezitation des Dio von Prusa im Friedenstempel, sah sie ihren früheren Mann. Er kam ihr verändert vor, jüdischer und jünger zugleich; so war er vor ihr gestanden in Alexandrien, als sie ihn zum erstenmal sah, und das Verlangen, das sie damals zu ihm hingezogen, schlug von neuem in ihr hoch. Sie hatte bemerkt, daß, nach Beendigung der Vorlesung, Josef sich in ihre Nähe zu drängen suchte, aber, ängstlich vor der Begegnung, hatte sie seinen Blick beharrlich vermieden und ihm keine Möglichkeit gegeben, sie anzusprechen. Seither war sie wieder reizbarer gegen Annius, und mit dem frühesten Frühjahr drängte sie darauf, Rom zu verlassen und nach Albanum zurückzukehren.
  Annius, anläßlich ihres Wiedereinzugs in Albanum, brachte ihr ein Geschenk für ihren Salon: eine Figur aus korinthischer Bronze, bestimmt, als Leuchter zu dienen, die Statuette eines nackten, beschnittenen Juden. Die Arbeit war zierlich, frech, ein klein wenig obszön, ein Kunstwerk, wie es Damen gern in ihren Räumen aufstellten; es stammte aus der Werkstatt des Thermos, des großen Rivalen des Basil. Annius war erstaunt, als Dorion ihm für dieses Geschenk nicht nur nicht dankte, sondern ihm seine Geschmacklosigkeit heftig vorwarf. Er pflegte über solche Ausbrüche mit einem Witzwort wegzugleiten; diesmal ärgerte er sich. Er sagte ihr auf den Kopf zu, sie hänge noch immer an Josef. Sie erwiderte, Josef habe gewisse Eigenschaften, um die mancher Mann ihn beneiden sollte. In der Tat hatte sie begonnen, Annius mit den Augen des Josef zu sehen; seine Freundschaft mit dem künftigen Kaiser, seine militärische Begabung, seine sichere Aussicht, die Armeen des Reiches zu kommandieren, ließen sie kalt, seine laute, herzhafte Jovialität und seine soldatische Derbheit machten sie nervös. Es kam zu unangenehmen Charakteranalysen von beiden Seiten. Annius hielt sich mehrere Tage von Dorion fern.
  Der Knabe Paulus fragte nicht nach den Gründen, aus denen Annius auf einmal wegblieb. Es war nie ganz leicht gewesen, dem Jungen näherzukommen, aber Dorion kannte ihn, sie wußte, daß er, seitdem Josef ihn ihr zurückgegeben hatte, nicht mehr so kritiklos an ihr hing wie früher. Sie selber liebte ihn nach wie vor zärtlich, doch ihr Benehmen zu ihm schwankte mit ihrem schwankenden Gefühl gegen Josef. Bald überschüttete sie ihn ohne sichtbaren Anlaß mit Beweisen ihrer Mütterlichkeit, bald, wenn er nach ihr verlangte, sperrte sie sich vor ihm zu. Sie wußte um diese ihre Sprunghaftigkeit, es verdroß sie, wenn sie zu dem Jungen kalt war, aber sie konnte sich nicht zähmen. Sie wußte auch, wie sehr Paulus unter ihren unklaren Beziehungen zu Annius litt. Die Prozesse um ihn herum, das Aufsehen, das er erregt hatte, hatten ihn für alles Zweideutige empfindlich gemacht. Sie wußte, wie brennend er, durch die Adoption Vollrömer geworden, wünschte, auch eine Vollrömerin zur Mutter zu haben. Sie wußte, wie zufrieden er Annius als Vater begrüßt hätte, seine Mannhaftigkeit, das Militärische an ihm sagten ihm zu, und er freute sich daran, selber so bald als möglich ins Heer einzutreten.
  Dies alles bedachte Dorion in den Tagen, da Annius sich von ihr fernhielt; auch schien ihr, daß es dem Josef eine Genugtuung sein müßte, wenn es auch zwischen Annius und ihr zu einem endgültigen Bruch käme. Sie schrieb dem Annius einen kleinen, scherzhaften Brief, den er, wenn er wollte, für eine Entschuldigung nehmen konnte.
  Als er wieder nach Albanum kam, hatte sie den Leuchter aufgestellt.

In Paulus selber hatte der Verzicht des Josef einen großen Umsturz bewirkt. Bisher hatte er für alle Dinge der Welt einen unbedingten Maßstab gehabt: das Urteil seines Lehrers Phineas. Die Tat seines Vaters bewies, daß Phineas diesem Mann unrecht getan hatte. Der Junge verehrte seinen Lehrer noch weiter, aber er war ihm nicht mehr das große, letzte Orakel. Es war ihm auch jetzt nicht angenehm, daß seine Mutter und Phineas für das hochanständige Benehmen seines Vaters so wenig Anerkennung übrig hatten. Man hätte sich nichts vergeben, wenn man, zum Beispiel, manchmal mit ihm zusammengekommen wäre.

  Er war deshalb froh überrascht, als einmal, bei Tische, in Gegenwart des Phineas, Dorion ihn unvermittelt fragte, ob er keine Lust habe, seinen Vater wiederzusehen. Der sonst so beherrschte Phineas legte die Speise, die er gerade zum Mund führen wollte, auf den Teller zurück, sein großer, blasser Kopf erblaßte noch tiefer; Dorion hatte ihm nichts von ihrem Entschluß mitgeteilt. Paulus sah von seiner Mutter zu seinem Lehrer, beide warteten auf seine Antwort. »Ich werde den Vater gerne besuchen«, erwiderte er.
  Verlegen, nicht ohne frohe Spannung, betrat er das Haus im sechsten Bezirk wieder, in dem er sich so lange als Gefangener gefühlt hatte. Er hatte sich vorgenommen, sich vor Josef männlich zu geben, herzhaft, auf die Art des Annius. Aber der Vater, den er wiederfand, war nicht der Vater, den er kannte, es war ein fremder Herr mit einem unbekannten Bart.
  Josef war sichtlich erfreut, daß sein Paulus kam, aber es war eine gelassene Freude, keine stürmische. Langsam nur kam die Unterredung in Gang. Josef erkundigte sich nach den Fortschritten des Paulus im Lenken seines Ziegengespanns, nach dem Bocke Paniscus. Paulus interessierte sich zur Zeit mehr für einen andern Sport, für die komplizierten Arten des Ballspiels. Im Dreispiel mit dem Lederball etwa, das durfte er wohl behaupten, war er bereits sehr gut, bald wird er sich sogar an den Glasball heranwagen dürfen. Das konnte man nur nach langem Training; denn Glasbälle waren teuer, ein Fehlwurf kostete ein kleines Vermögen. Am Ballspiel hatte auch Josef von jeher Gefallen gefunden, er selber stellte darin seinen Mann, und eine Zeitlang unterhielten sich Vater und Sohn angeregt. Doch bald wieder geriet ihr Gespräch ins Stocken, und Paulus griff mechanisch nach dem Ärmel seines Kleides, worin er noch vor kurzer Zeit Kitt für seine Tonfiguren verwahrt hatte. Vor ein paar Wochen, an seinem Geburtstag, hatte er sich gelobt, diese kindische Gewohnheit abzulegen. Josef sah auf den schlanken, prinzlichen Jungen, seinen Sohn, er gefiel ihm, und er war ihm sehr zugetan. Aber war es ihm wirklich einmal bis ans Mark des Lebens gegangen, daß er zu diesem Knaben keinen Weg hatte finden können?
  Paulus zermarterte sich den Kopf, wie er seinem Vater zeigen könnte, daß er es hochanständig fand, wie der sich damals benommen. Aber Josef erwähnte das Vergangene mit keinem Wort: das war taktvoll, erleichterte aber nicht das Vorhaben des Paulus. Der Knabe hatte nicht gelernt, zärtlich zu sein, im Gegenteil, Phineas hatte ihm beigebracht, ein Mann müsse seine Gefühle verbergen. Schließlich sagte er stockend: »Willst du mir nicht das Buch geben mit den Geschichten vom starken Simson? Ich möchte sie gerne noch einmal lesen.« Josef schaute hoch, leicht überrascht. Aber er erwiderte nur: »Gewiß will ich es dir geben«, und sah nicht, welche Überwindung es den Jungen gekostet hatte, ihn um das Buch zu bitten.
  Alles in allem war das Zusammentreffen mit seinem Vater für Paulus eine Enttäuschung; dennoch war es ihm nicht unangenehm, daß Dorion auf eine Wiederholung dieses Besuches drängte. Es bildete sich der Brauch heraus, daß er jede Woche einmal zu Josef ging. Aber sie kamen einander nicht näher. Der Junge bot sich dem Vater auf seine zurückhaltende Art an, Josef zeigte sich ihm zugetan und sehr freund, aber eine wirkliche, letzte Vertrautheit wollte sich nicht einstellen.
  Eines Tages fragte Paulus seinen Vater, wie schon früher einmal, nach seinem toten Bruder Simeon. Dieser sein toter Bruder beschäftigte seine Gedanken. Den Josef rührte die Frage auf. Aber dem Manne, der die Menschen und die Schlachten des jüdischen Krieges so lebendig hatte darstellen können, gelang es nicht, die Gestalt seines jüdischen Sohnes lebendig zu machen. Er erzählte mancherlei, aber nicht erzählte er, wie Simeon seinen Freund Constans in die Arena hineingeschmuggelt hatte und sich dadurch ein Eichhörnchen erworben hatte, nicht erzählte er von Simeons Vorliebe für den Gaul Silvan und von seinen Anstrengungen, das Modell der »Großen Deborah« anzufertigen, nicht von seiner Vorliebe für den Fluch »Beim Herkel«. Vielmehr pinselte er eifrig bemüht ein blasses, idealisiertes Bild Simeon-Janikis zusammen, das Paulus nicht sehr gefiel. Und der Knabe fragte nicht länger nach seinem toten Bruder.

Manchmal, wenn Paulus zu Josef kam, begleitete ihn Dorion. Ihre Bekanntschaft mit Valer mußte ihr als Vorwand dienen. Sie suchte natürlich nicht Josef auf, sondern den alten, grollenden, ausgeschifften Senator. Valer wohnte im obern Stockwerk, sein Leibeigener ließ, wie es Sitte war, den Aufzugskorb an der Außenseite des Hauses nieder, um der vornehmen Besucherin das Ersteigen der Treppe zu ersparen. Allein Dorion erklärte, der Leibeigene des alten Valer sei so alt und klapperig, daß sie sich ihm nicht anzuvertrauen wage, und benutzte die Treppe.
  Aber niemals begegnete sie ihrem früheren Gatten Josef.
  Paulus, wenn seine Mutter den alten Valer besuchte, stieg oft hinauf, sie abzuholen. Der degradierte Senator hatte an jener Weizenspekulation gegen Marull und Claudius Regin teilgenommen, an der so viele Mitglieder der republikanischen Partei ihr Geld verloren hatten, und dabei die Reste seines Vermögens eingebüßt. Jetzt enthielt seine Wohnung nur mehr den notdürftigsten Hausrat, ihre Einrichtung bestand im wesentlichen aus den dichtgedrängten Wachsbüsten der Ahnen, ihren verstaubten Liktorenbündeln, vermotteten Prunkkleidern, zerfallenden Triumphatorenkränzen; sein ganzes Personal war jener alte, gebrechliche Leibeigene.
  Valer selber war noch steifer und dürrer als früher. Mit der Armut stieg seine Würde. Nach wie vor lehnte er es ab, das verweichlichende Unterkleid zu tragen, das man in den letzten drei Jahrhunderten eingeführt hatte, und hielt fest an der rauhen, simpeln Tracht der Vorväter. Es kümmerte ihn nicht, daß er diese konservative Gesinnung mit einer Erkältung zu bezahlen hatte, die ihn den größten Teil des Jahres hindurch behelligte. Auf seine vielen stolzen Namen allerdings hatte er verzichtet. Nachdem mit Duldung der Regierung immer mehr Pöbel sich die alten Geschlechternamen anmaßte, hielt er, der einzige noch lebende Enkel des Äneas, es nicht für angebracht, mehr als zwei Namen zu tragen; er strich von seinen einund zwanzig Namen neunzehn und nannte sich schlicht Valerius Tullius.
  Dorion war ihm ein willkommener Gast. Er anerkannte es, daß sie sich gegen seinen widerwärtigen Hausgenossen Flavius Josephus aufgelehnt hatte, diesen von der Hure Fortuna begünstigten Emporkömmling aus der barbarischen Provinz Judäa. Mit Vergnügen sah er den schlanken, stolzen, jungen Paulus, den sie den Juden entrissen und den Römern gewonnen hatte. Aber diese seine Freude an Dorion und dem Knaben machte ihn nicht umgänglicher; auch wenn sie da waren, hielt er sich würdig, bitter, wortkarg. Seine Tochter, die weißhäutige, schwarzhaarige Tullia, war nicht redseliger. Dorion mußte ihre Versuche, Josef zu Gesicht zu bekommen, teuer bezahlen.

Der Knabe Paulus schien sich in der strengen Atmosphäre Valers wohl zu fühlen. Da die Bindung zwischen ihm und der Mutter und zwischen ihm und Phineas nicht mehr so eng und sicher war wie früher, da es so schwerhielt, dem Vater näherzukommen, wußte er es zu schätzen, wenn man ihm Neigung entgegenbrachte, und er merkte trotz der Einsilbigkeit des Alten bald, daß der ihn mochte. Es schien ihm ehrenvoll, daß Valer in ihm einen heranwachsenden Römer sah, und wenn der Alte ab und zu ihn und seine Tochter Tullia seine Kinder nannte, war das für Paulus ein Fest.
  Das Kind Tullia war immerhin zweiundzwanzig Jahre alt; doch hätte, wer nicht Bescheid wußte, sie eher für die Enkelin als für die Tochter Valers gehalten. Ihr langer, weißgesichtiger Kopf saß kindlich steif auf dem zierlichen Hals über den schmalen, fallenden Schultern, und unter der hohen, sehr schwarzen, kunstvollen Frisur wirkte die Haut des Gesichtes ungemein zart. Josef, der seine Hausgenossen vom obern Stockwerk so wenig liebte wie diese ihn und sich gern über sie lustig machte, hatte gelegentlich zu Marull gesagt, Tullia sei jetzt schon mit ihren zweiundzwanzig Jahren eine alte Jungfer, und als Marull erwiderte, er finde die steife, spröde Anmut des Mädchens nicht ohne Reiz, hatte Josef lebemännisch den Ovid zitiert: »Nur die ist keusch, um die keiner wirbt.« Doch Marull war damit nicht einverstanden. Er fand, und nicht als einziger, Tullia zwar scheu, aber keineswegs säuerlich und sah in ihrem Hochmut nur eine Maske ihrer Verlegenheit. Wie sollte sie auch, von ihrem kauzigen, querköpfigen Vater zu einem abgesperrten Leben gezwungen, gesellige Talente entwickeln?
  Um diese Zeit wurde der Tempel der Göttin Rom renoviert. Die flavische Dynastie pflegte den Kult der Göttin mit Eifer, und Titus beauftragte keinen Geringeren als den Bildhauer Basil, ein neues Erzbild der Göttin zu gießen. Raunzend unterzog sich der beschäftigte Mann der Aufgabe, und niemand bekam sein Werk zu sehen, bevor das Heiligtum neu geweiht wurde. Dann, zur Verblüffung aller, zeigte die Göttin ein sehr anderes Aussehen als bisher. Nicht die wuchtige Heroine, die man gewohnt war, hob sich auf dem Sockel, sondern eine schmale, strenge Mädchenfigur mit einem rührenden, ernsten und kindlichen Antlitz, und ihre gewaltigen Attribute, Mauerkrone, Füllhorn, Lanze und Schild, unterstrichen, durch den Gegensatz, die strenge Zartheit der Gestalt und des Antlitzes. Die eigenwillige Modernität des Bildwerks erregte in den Kunstkreisen Roms heftige Kontroversen. Auch Phineas ließ es sich nicht nehmen, mit seinem Zögling die Statue zu besichtigen.
  Ihm, der von jeher ein Anhänger des Basil gewesen, gefiel dessen neue Schöpfung außerordentlich, und in lebhaften Worten setzte er dem Paulus die Schönheiten der Statue auseinander. Paulus stand lange vor dem Erzbild, betrachtete es aufmerksam, hingegeben, aber er äußerte kein Wort. Phineas fand, das Gesicht der Göttin sei ungeheuer lebendig, sicherlich sei es ein Porträt, es erinnere ihn auch an ein bestimmtes Gesicht. Lange besann er sich vergeblich, an welches. »Aber natürlich«, erinnerte er sich endlich, »das ist doch unsere Tullia.« Doch da wurde der bisher stille Paulus lebendig. Heftig schüttelte er den dünnen, braunhäutigen Kopf. »Nein, das ist nicht unsere Tullia«, erklärte er, und »Das ist nicht unsere Tullia«, beharrte er, als Phineas ihn auf die Ähnlichkeit der Einzelzüge hinwies.
  Dorion war erstaunt, als, bei dem nächsten Zusammensein mit Valer, ihr Paulus plötzlich in eine der vielen Pausen des Gesprächs, sich an Tullia wendend, jungenhaft hineinplatzte: »Nein, er hat Sie nicht getroffen.« Zuerst verstand Dorion nicht, was er meinte; Tullia aber verstand sogleich, und in ihr schmales, zartes Gesicht stieg eine leise Röte. »Was soll das heißen, Paulus?« tadelte Dorion. »Wer hat unsere Tullia nicht getroffen?« – »Der Bildhauer Basil natürlich«, erwiderte Paulus, ein bißchen verlegen über sein früheres Ungestüm, und mit altkluger Sachverständigkeit verteidigte er sich: »Jedermann sagt, die Göttin Rom sei Tullia so ähnlich. Nicht wahr, mein Phineas, auch Sie haben es gesagt. Aber nein, es stimmt nicht, sie hat gar keine Ähnlichkeit.« Dem Senator hatte es in seinem Innern geschmeichelt, daß man seine Tochter zum Modell der Göttin Rom erwählt hatte, aber »Es ist auch besser so«, grollte er jetzt, während Tullia weiß, streng, unnahbar hochmütig dasaß. Dorion, mit einem ganz kleinen Lächeln, verwies ihren Jungen: »Du nimmst dir allerhand heraus, Paulus.« Und zu Valer, entschuldigend, sagte sie: »Er glaubt, weil er der Enkel des Malers Fabull ist, sei er der geborene Kunstkritiker.«
  Als man sich zum Gehen anschickte, durchbrach Paulus seine Scheu noch mehr. Wider Willen errötend, den Atem nicht ganz in seiner Gewalt, fragte er Tullia, ob sie nicht einmal nach Albanum herauskommen wolle, damit er ihr sein Ziegengespann vorführen könne. Dorion war angenehm verwundert, daß ihr sonst so zurückhaltender Sohn in der verstaubten, musealen Luft dieses Hauses so aus sich herauszugehen wagte, und als er Tullia gar noch aufforderte, mit ihm in Albanum Ball zu spielen, unterstützte sie ihn: »Er ist wirklich kein schlechter Spieler. Sie werden keinen leichten Stand gegen ihn haben, meine Tullia.« Das Mädchen erwiderte, sie habe nur als Kind Ball gespielt, solange sie noch das Gut in Campanien hatten; seither habe sie viel verlernt. »Man braucht Sie nur anzusehen«, sagte stürmisch Paulus, »und man weiß, daß Sie der geborene Champion sind. Wenn Sie erst zweimal wieder gespielt haben, vertraue ich Ihnen ohne weiteres meine Glasbälle an.« – »Wir könnten sie dir nicht ersetzen, mein Paulus«, erwiderte das Mädchen, und das Lächeln, mit dem sie von ihrer Armut sprach, ließ sie noch stolzer erscheinen.
  Paulus ging jetzt oft in den Tempel der Göttin Rom, trotz
dem er nicht an seinem Wege lag, und die Priester und Tempeldiener freuten sich über den jungen, eifrigen Verehrer.
  Übrigens riß sich Tullia wirklich aus dem Haus im sechsten Bezirk los und fuhr nach Albanum. Sie taute während des Ballspiels sichtlich auf und erwies sich als eine nicht ungeschickte Partnerin. Gleichwohl zog es Paulus auch beim viertenmal noch vor, mit Lederbällen zu spielen und seine Glasbälle zu schonen.

Seinem Vater erzählte er nichts von seiner neuen Freundschaft. Es war ein Zufall, der sie Josef entdecken ließ. Eines Tages nämlich, als er den Knaben allein hatte warten lassen, fand er ihn eifrig damit beschäftigt, wieder, wie früher, aus Kitt ein Figürchen zu kneten. Noch immer war in Josef der heftige Widerwille gegen alles Bilderwesen, und es verdroß ihn, daß der Junge jetzt von neuem damit anfing. »Was ist das, was du da machst?« fragte er und nahm die halbfertige Figur in seine Hand. »Es sollte eine Göttin werden«, sagte, ein wenig befangen, Paulus. Den Josef kränkte es, daß sein Sohn in seinem Hause Götterbilder anfertigte. Aber er verbarg seinen Unmut und fragte ruhig: »Was für eine Göttin?« Paulus hatte nicht gelernt, zu lügen. Überrötet sagte er: »Es ist die Göttin Rom. Aber eigentlich ist es keine Göttin, es ist deine Hausgenossin Valeria Tullia.« Josef war erstaunt, er fragte weiter, und Paulus erzählte, ein wenig zögernd, aber ehrlich, von Tullia, der Göttin Rom und dem Ballspiel.
  Natürlich wußte Josef, daß die Freundschaft zwischen seinem kleinen Sohn und Tullia nichts weiter war als eine Jungensneigung, wie er selber sie im Alter des Paulus oft gespürt hatte. Dennoch war es ihm unbehaglich, daß sich sein Sohn gerade in diese saure altrömische Tullia vergafft hatte. Die Verehrung des Malers Fabuli für alles Römisch-Strenge, Traditionelle hatte sich offenbar auf den Knaben vererbt. Das verdroß Josef. Er wollte, daß sein Sohn was mehr sei als ein Römer. Zum erstenmal überkamen ihn Zweifel, ob er damals recht getan hatte, als er den Jungen an Dorion zurückgab.
  Er begann sich eifriger um Paulus zu bemühen. Unvermittelt, hastig, dringlich warb er um ihn. Aber es war zu spät. Worte, die vor einigen Wochen den Knaben beglückt hätten, erreichten jetzt nur eben sein Ohr. Auch konnte Josef den Groll über sein römisch-griechisches Gehabe nicht immer zähmen. Die Wand zwischen Vater und Sohn wollte nicht fallen.
  Eines Tages, als Paulus gerade zu Besuch war, kam Justus ins Zimmer; er hatte geglaubt, Josef sei allein. Er beschaute den Jungen, doch ohne Neugier. Das gefiel Paulus. Seit seinen Prozessen starrten die meisten, sowie sie erfuhren, wer er war, ihm frech und lange ins Gesicht. Justus aber saß dünn und streng da, beachtete ihn wenig, führte vielmehr eine gelassene Konversation mit seinem Vater, ihm oft widersprechend, ruhig und sachverständig, wie es schien. Der einarmige Mann mit den unnachgiebigen Ansichten machte Paulus einen immer stärkeren Eindruck, und er war verblüfft, als er aus dem Gespräch ersah, daß Justus Jude war. Als er gar erfuhr, daß er schon am Kreuze gehangen und lebendig wieder heruntergekommen war, ließ er alle stoische Zurückhaltung fahren. Knabenhaft dringlich fragte er ihn aus, lauschte offenen Mundes seinen Erzählungen.
  Ja, dieser Jude Justus mit seinem erlesenen Griechisch, dieser Abenteurer, der aus seinem Heldentum kein Wesens machte, sondern es trocken ironisierte, nahm schon während der ersten Begegnung das Herz des Jungen gefangen. Nur schwer konnte sich Paulus vom Anblick seines entfleischten Gesichtes, seines leeren Ärmels losreißen, und als er, später als sonst, ging, erkundigte er sich eifrig, ob er ihn das nächste Mal beim Vater wiedersehen werde.
  Josef wunderte sich, daß sein Sohn sich vor diesem Fremden mit einemmal so aufschloß. Es freute ihn, daß ein Jude dem Jungen so imponieren konnte, und es wurmte ihn, daß gerade Justus dieser Jude war. Als Paulus ihn eingehend befragte, wer und was denn dieser Justus sei, kämpfte er mit der Versuchung, ihm allerlei Unfreundliches über ihn zu sagen. Aber er überwand sich und erklärte seiner Überzeugung gemäß, dieser Mann sei unter den Lebenden der größte Schriftsteller. Ein klein bißchen kränkte es ihn, daß Paulus das ohne Widerspruch anhörte und nicht auf die Büste im Friedenstempel hinwies.
  Mit geteiltem Gefühl sah er, wie sein Sohn mit wachsendem Eifer um den Einarmigen warb. So wortkarg sich der Junge im Gespräch mit ihm gegeben hatte, so gerne jetzt schwatzte er mit Justus. Sichtlich wurde die römische Tullia in seiner Neigung und Phantasie durch den Juden Justus abgelöst. Josef fand das gut, dennoch kratzte es ihn. Am meisten wurmte ihn, daß Justus sich die stürmische Liebe des Paulus gerade eben gefallen ließ. Er sah genau, was war: daß nämlich der Knabe der Werbende war und Justus ihn mehr abwehrte als ermutigte; trotzdem und wider alle Vernunft wuchs in ihm der Glaube, Justus nehme, ein unlauterer Rival, ihm seinen Sohn weg. Hinterhältig begann er, Paulus auszuhorchen, ob nicht Justus ihn gegen den Vater hetze. Es stellte sich heraus, daß Justus niemals auch nur das leiseste abfällige Wort über ihn sprach. Aber das tröstete ihn nicht. Wird nicht der feinhörige Knabe, auch ohne daß der andere spricht, seine Meinung über ihn heraushören? Kann überhaupt, wer Justus verehrt, den Josef achten?
  Einmal, unvermittelt und bösartig, brach er ein Gespräch über Paulus vom Zaun. »Gefällt Ihnen mein Paulus?« fragte er. »Er gefällt mir nicht schlecht«, erwiderte harmlos Justus. »Sie finden ihn wohl sehr anders als mich?« bohrte Josef weiter. Justus zuckte die Achseln, erwiderte scherzend: »›Seid nicht wie eure Väter‹, heißt es in der Schrift.« – »Ein Wort, das den wenig stört, der keinen Sohn hat«, meinte Josef. »Ich glaube nicht«, überlegte Justus, »daß ich es meinem Sohn verübelte, wenn er mir nicht nachschlüge. Die Generation von heute«, fuhr er auf seine verallgemeinernde Art fort, »hat wenig Ursache, es ihren Vätern nachzutun. Die haben ihren ungeheuer blöden Krieg gemacht und sind, mit Recht, fürchterlich geschlagen worden. Können Sie da verlangen, daß Ihr Sohn sich an seinen jüdischen Vater hält und nicht an sein griechisches Teil? Es war schön und gut«, setzte er fast mit Wärme hinzu, »daß Sie ihn sich selbst überlassen und nicht mit Gewalt zurechtgebogen haben.«
  Josef schwieg eine kleine Weile. Dann, leise und grimmig, sagte er: »Ich wollte, ich wäre damals nicht so weich gewesen.«
  Justus sah ihn erstaunt an. »Bitte, überlegen Sie«, erwiderte er, ungewohnt sanft, »was sollte heute ein jüdischer Sohn von seinem Vater anderes lernen, als das Gegenteil zu tun von dem, was der getan hat, und das Gegenteil zu glauben von seinem Glauben? Die Väter sind gegen Rom aufgestanden. Die Söhne glauben nicht mehr an die Aktion. Sie sind mißtrauisch gegen das Tun, sie fallen den Minäern zu und ihrer Lehre vom Nichttun und vom Verzicht.«
  »Mir ist eine Nacht im Gedächtnis«, spottete Josef, »und ein Gespräch an einem Brunnen, da fand ein gewisser Justus sehr höhnische Worte über Nichttun und Verzicht.«
  »Habe ich etwas gesagt«, ereiferte sich Justus, »daß diejenigen recht haben, die an Nichttun und Verzicht glauben? Ich dachte nicht daran, und ich denke nicht daran. Ich verteidige nicht die Söhne. Sie sind aus dem gleichen schlechten Holz, die Jungen wie die Alten. Die Väter hatten kein Vertrauen in die eigene Kraft, sie fühlten sich, die einzelnen, schwach: darum machten sie sich eine Krücke, erfanden sich ihre Lehre von der Nation, bildeten sich ein, die Kraft und Größe der Nation stärke den einzelnen. Die Söhne haben sich für ihre Schwäche eine andere Krücke gezimmert, sie machen sich vor, ein Messias könne ihnen helfen, der für sie am Kreuz gestorben ist. Glaube an die Nation, Glaube an den Messias: Torheit beides, Ausfluß der eigenen Schwäche.«
  »Das sind kluge Abstraktionen«, höhnte Josef, »und sie wären mir ein Trost, wenn ich keinen Sohn hätte. So aber habe ich einen Sohn, und er ist ein Grieche, kein Jude, und Ihre Allgemeinheiten helfen mir nichts.« Und er schloß grimmig: »Sie sind ein großer Schriftsteller, Justus von Tiberias, ein viel größerer als ich. Meinem Griechisch können Sie nachhelfen, vielleicht sogar meiner Philosophie: aber mit meinem Wesen und meinem Leben, mit meiner Wirklichkeit, muß ich leider allein fertig werden.«

Daß Josef dem Justus so bittere Worte sagte, geschah nicht nur um seines Sohnes Paulus willen. Vielmehr sprach aus ihm der Verdruß darüber, daß ihm sein neues Buch nicht gelingen wollte. Die Gegenwart des Justus hatte bald aufgehört, ihm Sporn und Stachel zu sein, jetzt war sie ihm ein Vorwurf wie früher. Von wo immer er seine »Universalgeschichte« anpackte, die Arbeit geriet nicht, seine Sätze blieben wie er selber unbeschwingt, und mehr und mehr lähmte ihn Unlust.

  Justus hingegen sprach davon, daß seine neue Reise in die Welt, nach Judäa und nach Rom, ihn von vielen Ressentiments geheilt, ihn in seinem individualistischen Stolz und seinem Glauben an die Sendung des Schriftstellers bestärkt habe. Sie habe ihm von neuem gezeigt, wie sehr die Menschen jenem Auf und Ab von Ziffern und Daten unterworfen seien, jenen politischen und ökonomischen Zusammenhängen, die man Schicksal nenne, wie aber gleichwohl ein anderes Bild des Lebens nur entstehe, wenn ein einzelner diese trockenen Ziffern und Daten in sein Herz aufnehme, sie mit seinen Säften befruchtend. An diesem seinem wahren Bild des Lebens also arbeitete er jetzt und dies sichtlich mit Lust und gutem Gelingen.
  Josef nahm es wahr, und Neid zernagte ihn. Gespannt bat er den Freundfeind, ihm zu zeigen, was er seit seiner Ankunft in Rom zustande gebracht habe. Justus zögerte eine ganz kleine Weile, dann gab er ihm sein Manuskript. Er hatte aber während dieser Woche jene fünfzig Seiten über die Belagerung Jerusalems geschrieben, die später die Kenner als die beste Prosa des Jahrhunderts rühmten.
  Josef las. Wie war hier klar und leuchtend gemacht, was innerhalb der Mauern Jerusalems vorgegangen war und was außerhalb, die vorgeschobenen Gründe der Juden und der Römer und ihre wahren, dieses ganze Knäuel von wirtschaftlichen, sozialen, religiösen, militärischen Interessen, von Glauben und Aberglauben, von Politik und Gottessehnsucht, von Ehrgeiz, Liebe und Haß der einzelnen. Wovon Josef auf dreihundert Seiten eine dunkle Ahnung gegeben hatte, das war hier auf fünfzig klar und scharf ins Licht gestellt. Josef las, und es hob sein Herz, daß einer das hatte schreiben können. Josef las, und es zerfraß sein Herz, daß der andere es war, der das geschrieben hatte.
  Er gab dem Justus das Manuskript zurück. Er sagte: »Das ist das Beste, was Sie gemacht haben, Justus. Das ist das Beste, was einer in unserer Zeit gemacht hat. Jetzt ist alles und für immer über den Krieg gesagt.« Seine Stimme war heiser, aber er brachte es über sich, diese Wahrheit auszusprechen.
  Als er allein war, wog er. Er hat sich umgetan im Leben und in der Wirklichkeit. Er war nicht nur Schriftsteller, er war Staatsmann und Soldat gewesen. Die Herren der Welt ehrten, die schönsten Frauen der Stadt liebten ihn. Er hat sein großes Buch geschrieben, seine Bildsäule stand im Friedenstempel. Aber was er in einem mühevollen Leben und in einem dicken Buch zu sagen sich vergeblich bemüht hat, das hat dieser Justus auf seinen fünfzig Seiten gesagt. Und der Knabe Paulus, um den er so lange mit Einsatz seines Lebens gerungen hat, diesem Justus ist er von selber zugefallen.
  Er spürte eine tiefe Leere in sich. Nachdem er die Seiten des andern gelesen hatte, schien es ihm sinnlos, selber weiterzuarbeiten.
  Er schrieb Mara. Bat sie, beschwor sie, bald zu kommen. Ihre Gegenwart, glaubte er, werde ihm und seinem Werk neuen Wind geben. Aber er wußte, daß Mara bei ihrem Vorsatz bleiben und das Gut »Brunnen der Jalta« nicht verlassen werde, bevor sie ihre Arbeit dort zu Ende geführt hat.

Winter und Frühjahr waren vorbei, und Dorion hatte keine Gelegenheit gefunden, Josef zu sehen.
  Der Tag kam, an dem sie von seinem Plan erfuhr, Mara zurückzurufen, sie zur Vollrömerin zu machen, sie wieder zu heiraten.
  Es war Marull, der ihr davon erzählte. Es gelang ihr, sich zu beherrschen, lächelnd von Gleichgültigem zu sprechen, solange Marull blieb. Dann freilich, als sie allein war, packte sie die Nachricht mit ganzer Gewalt, sie atmete heftig, ihr Kopf schmerzte unerträglich, mit verfallenem Gesicht lag sie bäuchlings auf ihrem Sofa.
  Daß Mara durch Josef zur Vollrömerin werden sollte, während sie selber es noch immer nicht war, schien ihr eine unerhörte Schmach. Sie vergaß, daß seinerzeit sie selber sich dagegen gesträubt hatte, ihre Ehe mit Josef legalisieren zu lassen, und daß sie jetzt, um Römerin zu werden, nur ein Wort zu Annius Bassus sagen mußte. Sie wollte nicht durch Annius, durch Josef wollte sie Römerin werden, sie, nicht die andere. Was stand denn noch zwischen ihnen, seitdem er ihr den Jungen zurückgeschickt hatte? Schön, sie hatte darauf gewartet, daß dann er den ersten Schritt tun werde, und er hatte geglaubt, mit seinem Opfer genug getan zu haben. Ihr Standpunkt war gut, aber auch sein Argument ließ sich hören. Das Ganze war ein Mißverständnis. Das wäre ja zum Lachen, wenn sie, Dorion, diese Provinzjüdin nicht sollte aus dem Felde schlagen können.
  Aber als zwei Stunden später Annius kam, hatte sie ihren Vorsatz, sich Josef zurückzuholen, vergessen, und in ihr war nichts als Wut. Diesmal begann sie, vor dem erstaunten Annius den Josef herunterzureißen. Sie sprach nicht lärmend wie Annius, sie sprach leise und leicht, aber sie machte sich bitterer über Josef lustig, als Annius je es hätte tun können. Sie kannte Josefs Wesen und Leben bis ins letzte, und aus dieser intimen Kenntnis holte sie alle jene kleinen Züge und Episoden, die ihr geeignet schienen, ihn lächerlich und widerwärtig zu machen, und breitete sie vor Annius hin. Der lachte, lachte immer mehr, lachte schallend. Allmählich aber stieß der maßlose Haß ihn ab, der sich, bei aller Eleganz der Rede, vor ihm auftat. »Laß, bitte, Paulus nichts von diesen Dingen hören«, war alles, was er am Ende auf Dorions Ausbruch zu erwidern hatte.
  Mit diesem Ausbruch war übrigens Dorions Wut vorbei, und nichts mehr blieb als ihr Vorsatz, sich Josef zurückzuholen. Bevor Paulus das nächste Mal den Vater aufsuchte, gab sie ihm, die Stimme ein wenig gepreßt, Auftrag, ihn einzuladen, sich doch das Haus in Albanum anzusehen, das nun endlich fertig sei.
  Zwei Tage später fuhr Josef nach Albanum. Er hatte kein Aug für die schöne, gewellte, frühsommerlich leuchtende Landschaft, kein Aug für die sanften Hügel, den lieblichen See, das weitstrahlende Meer, kein Aug für die schönen Villen die Hänge hinauf, die Seeufer entlang. Er kam ohne Plan, er wollte nichts von Dorion, aber er war seiner nicht sicher, wußte nicht, wie ihr Anblick, ihre Rede jetzt auf ihn wirken werde, war erregt und voll Unbehagen.
  Diesmal erwartete sie ihn am Haupttor der Besitzung. Die Freude, ihn wiederzusehen, machte ihr Gesicht strahlen. Sie reichte ihm beide Hände, geleitete ihn ins Haus, war wie in ihrer besten Zeit, kindlich und spitz. Mit liebenswürdiger Aufmerksamkeit spähte sie nach jeder Änderung, die in ihm vorgegangen sein mochte, sagte ihm tausend nette, kleine Bosheiten, warb um ihn mit allem, was sie hatte. Jagte sogar den Kater Chronos aus dem Zimmer, als er Josef zu stören schien.
  Sie gefiel Josef sehr, er kostete ganz aus, was an ihr reizvoll war. Doch das war alles. Er hatte sich dieser letzten Prüfung nicht ohne Angst unterzogen; bald und mit Freuden erkannte er: er hatte sie bestanden. Er war geheilt, und für immer, von jener Passion, die ihn so oft erniedrigt und ihn Dinge gegen seinen Willen und gegen seine Bestimmung hatte tun lassen. Er konnte mit dieser Frau Freundschaft halten, wenn sie wollte, aber niemals mehr wird er sein Leben oder sein Werk um ihretwillen gefährden. Er fühlte sich sicher und genoß mit Gelassenheit seinen Sieg.
  Selbst den Phineas konnte er mit Gelassenheit sehen. Phineas hatte damit gerechnet, daß Josef ihm allerlei Bösartiges über ihre gemeinsame Vergangenheit sagen werde. Aber Josef sagte nichts dergleichen, er gestattete sich keine Äußerung billigen Triumphs, ja, er machte gutmütige, kleine Späße über das, was einmal ein Kampf auf Leben und Tod gewesen war. Diese Gelassenheit des Josef reizte den Phineas und machte ihn nervös, seine Überlegenheit schwand, sein großer Kopf wurde noch blasser und spannte sich angestrengt. Dorion aber fühlte sich durch die Wohltemperiertheit, die Josef in Rede und Verhalten bezeigte, tiefer gedemütigt, als jeder Hohn sie hätte demütigen können.
  Als Paulus und Phineas sich entfernt hatten, machte sie einen letzten Versuch. Sie erzählte Josef, wie sehr Annius in sie dränge, ihn zu heiraten; allein er, Josef, habe nicht unrecht gehabt, Annius sei laut und falle ihr manchmal auf die Nerven, es fehle ihm für viele Dinge, die ihr am Herzen lägen, das innere Ohr. Sie gab ihren Soldaten preis und wartete darauf, daß Josef ihr jetzt vorschlagen werde, den Annius zu verabschieden und wieder mit ihm zu leben.
  Doch Josef schlug ihr nichts dergleichen vor. Vielmehr zeigte er sich um Dorions äußere Zukunft kühl besorgt und meinte, Annius, als nächster Freund des Prinzen, werde sehr wahrscheinlich einmal das Oberkommando der Armee erhalten, und Dorion möge es sich zweimal überlegen, ehe sie um kleiner Bedenken willen eine solche Chance ausschlage.
  Dorion war, als Josef ging, blaß vor Wut, ihr Herz drohte zu versagen. Sie stellte die Statuette des Beschnittenen wieder auf, die sie weggeräumt hatte, bevor Josef kam, und als Annius sie das nächste Mal bat, den Termin ihrer Hochzeit festzulegen, hatte sie keinen Einwand mehr.

Die äußeren Dinge Josefs standen in diesem Frühsommer nicht schlecht. Seine Gesundheit war gut, Claudius Regin war freigebig, so daß er die Schulden abzahlen konnte, die die Lösung von Dorion ihm aufgebürdet hatte, seine literarische Geltung war seit der Aufstellung seiner Büste unbestritten, die Feindschaft der Juden gegen ihn hatte merklich nachgelassen, seitdem man wußte, wie der Großdoktor ihn geehrt. Trotzdem war das Glücksgefühl längst verflogen, das ihn bei seiner Rückkehr nach Rom überkommen. Er litt an seiner Unfähigkeit zur Arbeit, und die Zeit, die ihm sein ganzes Leben hindurch zu kurz gewesen war, wurde ihm jetzt zu lang.
  Viele Stunden saß er in den Werkstätten des Alexas. Der Glasfabrikant selber und seine Vorarbeiter zeigten ihm die Feinheiten ihrer Kunst, führten ihm vor, wie man in die erhärtete Glasmasse Figuren schneidet, wie man mit listiger und komplizierter Methode die Masse färbt, wie man den spröden, zerbrechlichen Stoff zu ganz feinen Fäden spinnt, mittels deren man Goldplättchen einfügt. Aber es waren nicht diese Raffinements, die Josef anzogen, vielmehr konnte er stundenlang hocken und vor sich hin in den Schmelzofen starren, in dem aus Sand und Soda der neue Stoff entstand, das Glas; eine winzige Veränderung der Dosierung machte diese neue Masse edel oder unedel, und mit letzter Sicherheit konnte selbst der Sachverständigste das Resultat nicht vorherbestimmen. Auch der Herstellung der einfachen Glasgeräte schaute Josef oft und lange zu. Es fesselte ihn, wie die Arbeiter ihre simpeln Formen, kleine und größere Gefäße, schmälere und mehr bauchige, mittels ihrer langen Pfeifen aus der heißen Masse herausbliesen, gegen eine eiserne Platte, dergestalt, daß die geblasene Masse die gewünschte Figur annahm. Immer von neuem wunderte er sich, wie dann ein Tropfen Wassers genügte, das Geblasene von der Pfeife zu sondern. Er schaute zu, wie zwei Arbeiter, jeder mit seiner Pfeife, Formen ineinanderbliesen, den Hals des Gefäßes der eine, den Bauch der andere, und es machte ihn nachdenklich, wie in jedem einzelnen Fall Kunst und Glück sich mischen mußten, ehe auch nur das Einfachste gelang. Denn auch dem Geübten konnte es geschehen, daß in der heißen Masse infolge irgendeines unvorsehbaren Zufalls ein Loch entstand, eine Höhlung, die das Geblasene wertlos machte oder es gar noch vor der Vollendung und mit Gefahr des Arbeiters zerspringen ließ.
  Alexas hatte längst gemerkt, daß Josef nicht mehr der Mann war, der keinen Glückwunsch brauchte. Oft betrachtete er ihn, hockte sich wohl auch für eine Weile neben ihn, dick, trüb und schweigsam, und es war ihm sehr leid, daß nun auch dieser einzige Glückliche, den er kannte, nicht glücklich zu sein schien.
  Josef aber saß und sah dem Werden der Glasfiguren zu: wie die erträumte Form bald glückte, bald mißlang, ein neckisches, tückisches Spiel, abhängig von der Kunst des einzelnen, doch nicht von ihr allein, ein Bild des Lebens. Denn wessen Leben war nicht gemischt aus seinem eigenen Wesen und aus einem Andern, Unerforschlichen, mochte man dieses Andere ökonomische Verhältnisse nennen oder Schicksal oder auch Jahve. Und wer selber wäre nicht gemischt wie der Stoff, aus dem diese Formen herausgeblasen wurden, aus vielen zufälligen Bestandteilen, die untrennbar ineinandergefügt waren und trotzdem so, daß einmal an seinem bestimmten Tag ein jeder von diesen Bestandteilen zu seiner Wirkung kam. War er selber, Josef, nicht gemacht aus Hohem und sehr Niedrigem, aus gemeiner Gier nach Geltung und Genuß und aus reiner Liebe zum Guten und Schönen, aus Schleim und Kot und Gottes Hauch und Lehre, aus der Geschichte seiner Väter und seinen eigenen Süchten, aus einem Stück Moses und einem Stück Korah, aus einem Stück Kohelet und selbst aus einem Stück Pedan? Und während die Flammen vielfältig und vielfarbig auf und nieder gingen, groteske Schatten werfend, dachte Josef an die zahllosen Bilder, aus denen sein Leben sich zusammensetzte, an die Ödnis Jerusalems, an seine Büste im Friedenstempel, an seinen Freund Justus, an seinen Sohn Paulus, an das Werk, an dem zu arbeiten ihm aufgetragen war und das er wahrscheinlich nie wird vollenden können.
  Er atmete auf, als Justus Rom verließ und nach Alexandrien zurückkehrte, um dort sein Werk zu vollenden.
  Das Schiff, das Justus forttrug, hatte Josef Maras Antwort gebracht. Sie teilte ihm mit, daß sie ihm ein Kind geboren habe, ein Mädchen, und ihr Name sei Jalta. Sie werde mit dem Kind nach Rom kommen, doch sicher nicht vor dem späten Herbst, mit einem der letzten Schiffe.


Um diese Zeit schrieb Josef den »Psalm vom Glasbläser«.


Der häßlichen, ungestalten Masse gleich
In der Pfeife des Glasbläsers
Sind wir, und keiner von uns weiß,
Was aus ihm wird.
Des Glasbläsers Hauch macht aus uns
Kleines bald, Niedliches, Puppiges,
Nett anzuschauen oder auch häßlich,
Dann wieder Großes, Bauchiges, gut zum Gebrauch, Oder auch Plumpes, Ungefüges.

So formt uns unser Schicksal, Die Welt der Daten und Ziffern um uns.

Doch nicht immer gerät Nach Willen die Form
Dem Bläser. Oft in der Masse
Bläht es sich, daß sie
Zerspritzt, ihm versengend das Antlitz.
So hat auch ihre Grenze
Die Welt der Daten und Ziffern. Über ihr ist
Ein Unerforschliches, die große Vernunft, Und ihr Name ist: Jahve.

Ein hoher Anblick ist es, wenn plötzlich
Aus Sand und häßlichem Stoffe,
Ersehnt und doch niemals
Mit Bestimmtheit gewußt,
Das große, vielfarbige Glänzen aufzuckt,
Dem Meister zur Freude
Und jedem Beschauer.

Aber was denn zuvor war Das große Glänzen?
Ein Körnchen Sandes, nichts sonst, ein winziges Teilchen stumpfer, unscheinbarer Masse.

Darum überhebe sich nicht
Das Glänzende, sondern bleibe bewußt
Seines Ursprungs: daß nämlich vordem
Ein Körnchen Sandes es war,
Nichts sonst, und daß keiner
Vermuten konnte das Glänzen, das später
Herausbrach aus ihm, und keiner die Gnade,
Die jetzt aus ihm leuchtet.

Und darum, zum Zweiten, bleibe der Sandkörnchen keines
Ganz ohne Hoffnung. Denn ihm gerade vielleicht
Ist es bestimmt, daß das Große
Aus ihm einst herausglänzt.

Und darum, zum Dritten, nicht stolz sei
Der Meister. Er haucht und haucht wieder
In den Stoff durch die Pfeife.
Doch nicht bei ihm steht es,
Ob die Form ihm gerät.
Diesem, er weiß nicht warum, verderben
Höhlen und Blasen sein Glas, und vergebens Ist seine Mühe. Dem aber
Leuchtet, er weiß nicht warum, die Gnade, es wölbt sich
Schön ihm, wie er es wünschte, die Kugel,
Sein Glas ist
Edel und schimmernd des Lichtes.

Gegen Ende August, Josef war auf einige Tage nach Campanien gegangen, um der drückenden Hitze der Stadt zu entfliehen, teilte man ihm mit, der Bau der Josef-Synagoge sei nun so weit gefördert, daß die aus Jerusalem geretteten Thorarollen dort niedergelegt werden könnten.
  Josef fuhr zurück nach Rom. Zusammen mit Doktor Licin besichtigte er das Bethaus. Der hohe, weiße Würfel des Baus paßte sich den Häusern ringsum an und wirkte dennoch fremdartig; während nämlich die Häuser ringsum sich dicht aneinanderpreßten, denn das Terrain war hier sehr teuer, stand der Rohbau der Synagoge hochmütig allein inmitten freien Raumes, schräg aus der Straßenzeile herausfallend; denn er war so gerichtet, daß die Beter das Antlitz nach Osten kehrten, nach Jerusalem.
  Architekt Zeno führte die Herren. Das unterirdische Gewölbe, an dessen Ostwand der große Schrein stand, der für die siebzig Rollen bestimmt war, lag kühl, durch viele Luken fiel Licht ein, der Raum sah ruhevoll aus und doch voll Geheimnis.
  Drei Tage später, in feierlichem Zug, brachten Josef und die Vornehmsten der römischen Juden die Thorarollen an den Ort ihrer neuen Verwahrung. Die Rollen waren umkleidet mit köstlich bestickten Geweben, geschmückt mit goldenen Kronen, aber darunter waren sie zerfetzt, blutbeschmiert, zertrampelt von den Stiefeln der Soldaten, die damals die Bethäuser des brennenden Jerusalem geplündert hatten. Josef rief sich zurück, wie er sie aus der Synagoge der alexandrinischen Pilger gerettet hatte. Er sah vor sich, wie er durch die Stadt gezogen war, sein goldenes Schreibzeug im Gürtel, in jedem Arm eine Schriftrolle, gefolgt von den gegeißelten, tau melnden Juden, denen er statt des Kreuzbalkens, an dem sie hatten sterben sollen, die Schriftrollen zum Tragen gegeben hatte. Er sah und hörte im Geist die Soldaten, die seine sonderbare Prozession verlachten. Jetzt lachte niemand über den Zug der würdigen Herren, die die Rollen in das von ihm erbaute Haus trugen; vielmehr schritten kaiserliche Beamte der Prozession voran und beschlossen sie, Soldaten der Leibgarde in ihren Paradeuniformen gaben das Schutz- und Ehrengeleit, und die Passanten, an denen der Zug vorbeikam, grüßten, neigten sich, verehrten die fremde Gottheit. Trotzdem hatte Josef ein unbehagliches Gefühl der Schutzlosigkeit und war froh, als die Rollen in dem kühlen, zwielichtigen Raum geborgen waren, in dem sie fortan verwahrt werden sollten.
  Josef selber, als die andern gegangen waren, verweilte noch in dem Gewölbe, allein mit den Rollen. Er saß vor ihrem großen, schlichten Schrein, vor dem weißen, mit blassen Goldbuchstaben bestickten Vorhang, der vag an die Vorhänge des Tempels von Jerusalem erinnerte. Er wußte, daß eines der geschändeten Pergamente zwei Ausschnitte hatte in der Form von Menschenfüßen: ein Soldat hatte sich Einlagesohlen für seine Stiefel aus der Rolle herausgeschnitten, so daß in ihr die Stelle verstümmelt war: »Drücke den Fremden nicht in deinem Lande und liege ihm nicht hart an; denn ein Fremder bist du gewesen im Lande Ägypten.«
  Josef spürte sich mit einemmal diesen Rollen körperhaft verwandt. Hier in dem Schrein versammelt waren seine Väter und Vorväter, und sie alle hatten nur gelebt, um in ihn einzumünden. Es war der Sinn und die Erfüllung ihrer Geschichten, wie sie verwahrt lagen in diesem Schrein.
  Die Könige der Ägypter glaubten, sie könnten den Tod besiegen, wenn sie ihre einbalsamierten Leiber in mächtige, spitze, dreieckige Berge einschlössen. Nein, sie hatten das Geheimnis nicht, diese Toten: wir haben es. Mit ein paar Buchstaben, durch die Magie des Wortes, besiegen wir den Tod. In diesen kleinen Rollen haben wir Judäas Leben eingefangen, so daß es nie auslöschen wird. Das Reich Israel konnte untergehen, das Reich Juda, das zweite Reich Judäa, der Tempel: der Geist der Rollen ist unzerstörbar.
  Er hielt Zwiesprach mit den Rollen des Schreins. Der Ausschnitt in der einen, blutbesudelten Rolle wurde ein großer, klaffender Mund, der zu ihm sprach. Alle taten sie ihre Münder auf, die Rollen, und sprachen zu ihm. Das halbhelle Gewölbe um ihn füllte sich mit Gestalten, wuchs, weitete sich, schon sah man keine Wände mehr. Israel war um ihn, zahllos wie der Sand des Meeres, endlos im Raum, endlos in der Zeit.
  Was Claudius Regin ihm einmal gesagt hatte von den Geschichten und Situationen der Bibel, die er selber und in sich erlebt habe, wurde ihm plötzlich aus einem Wort zu einer Wirklichkeit. Er schwatzte mit den Unsichtbaren im Raum, mit seinen längst toten Vätern und Onkeln und Vettern. Ließ sich von ihnen belehren. Stritt mit ihnen. Drohte scherzhaft denen, die sich in ihrem Eifer für ihr Volk übernommen hatten, dem Pinchas, dem Esra und dem Nehemia. Unterhielt sich kopfwiegend weise mit dem klugen Mardochai über Sinn und Unsinn des Nationalismus. Er hatte von jeher gewußt, daß die Größe und Geschichte einer Nation die Kraft nur desjenigen mehren kann, der schon von Natur stark ist, daß sie aber dem Schwachen nicht weiterhilft. Wenn der sich auf die Nation stützen will, erweist sie sich als ein trügerisches Rohr, und der falsche Hochmut auf ihre Kraft nimmt ihm nur die Einsicht in die eigene Schwäche. Hoffe keiner, der selber schwach ist, er könne sich helfen, wenn er sich an andere klammert. Einem jeden wird die Rechnung präsentiert, jeder hat für sich selber zu zahlen, Kraft stärkt nur den Kräftigen, den Schwachen stößt sie vollends hinunter. Der weise Mardochai nickte beifällig mit dem etwas wackeligen Kopf, er meinte, er habe es immer gesagt, so viele Judenfeinde hätte man nicht erschlagen müssen nach dem Sturze Hamans, es seien übrigens, unter uns, auch nicht so viele gewesen, wie der Verfasser des Esther-Buches angab. Und im Hintergrund, verdämmernd, stand die riesige Gestalt des Jesajas und nickte.
  Josef hörte zu, fragte, gab Rede und Widerrede, groß angeregt. Nein, keiner konnte besser die Geschichte der Judenheit schreiben als er, der ihr Für und Wider in sich selber austrug. Vaterländisch mit seinem Herzen stand er bei seinen Juden, weltbürgerlich in seinem Hirn stand er über ihnen, und nie mand besser als er erkannte die Grenzen, wo ihre Vaterlandsliebe anfing, Unsinn zu werden.
  Er erhob sich, trat vor den Schrein, führte die Finger zum Mund, rührte den weißen, mit blassen Goldbuchstaben bestickten Vorhang, sich tief neigend. Und während er so stand, lastete auf ihm die Schwere seiner Aufgabe, aber gleichzeitig spürte er eine ungeheure Lust zum Werk und Zutrauen zu sich selber.
  Beschwingt, voll von Gesichten, verließ er den Raum mit den Thorarollen, um den Weg zu beschreiten, den er bis in seine letzte Krümmung vor sich sah.

Claudius Regins fette Finger wirtschafteten in Papieren herum, holten Tabellen hervor, seine quäkende Stimme erläuterte sie. Der Gegenstand, über den er dem Prinzen Domitian vortrug, war schwierig. Es ging wieder einmal um jene Geländeschnitzel, die bei den Bodenzuteilungen an die Militärkolonien übriggeblieben und von den verteilenden Beamten oder von Privaten ohne weitere Rechtstitel eingesteckt worden waren. Der Brauch war Jahrzehnte hindurch geübt und von der Regierung geduldet worden. Vespasian aber hatte sich darangemacht, diesen unrechtmäßigen Besitz einzuziehen, und auf diese Art Terrains im Wert von zweihundertsechzig Millionen hereinbekommen. Als Stichtag, bis zu dem zurück man die Untersuchungen ausdehnte, hatte er den
9. Juni 821 seit Gründung der Stadt bestimmt, den Todestag des Kaisers Nero. Doch schon sein Kabinett hatte den Plan erörtert, den Stichtag noch weiter zurückzuverlegen, etwa bis zum 13. Oktober 807, dem Todestag des Kaisers Claudius. Die Werte, die man so konfiszieren könnte, waren beträchtlich. Frage war nur, ob sich die neue Dynastie durch solche Enteignungen nicht zu viele politische Feinde schaffte. Regin nun wollte zum Stichtag ein noch viel früheres Datum bestimmen, den 24. Januar 794, den Todestag des Kaisers Gaius. An Hand von vielen mit Schlauheit und Umsicht zusammengestellten Tabellen bemühte er sich, dem Domitian nachzuweisen, daß der politische Schaden geringfügig sei, vergleiche man ihn mit dem wirtschaftlichen Gewinn.
Domitian hörte zu, die aufgeworfene Oberlippe scharf auf
die Unterlippe gepreßt, wodurch sein Gesicht den Ausdruck gespannten Lauschens annahm. Er mochte den Claudius Regin nicht leiden, aber zweifellos gab es in wirtschaftlichen Fragen keinen bessern Sachverständigen. Domitian, nach etwa zehn Minuten, entschloß sich, auch in dieser Angelegenheit seinem Rat zu folgen.
  Einmal entschlossen, hörte er dem Vortrag nun mehr mit halbem Ohr zu, ließ seine Gedanken abgleiten. Ekelhaft eigentlich, daß er mit Leuten wie diesem Regin soviel Zeit vertun muß. Aber man braucht sie fürs Regieren, sein Vater hat schon gewußt, warum er sich gerade mit diesem Halbjuden zusammentat, und er, Domitian, hat jetzt alle Ursache, sich einen genauen Plan zurechtzulegen für die Zeit, wenn er erst Kaiser sein wird. Die Berichte über das Befinden seines Bruders, die er auf dem Umweg über Marull erhält, beweisen, daß es höchste Zeit ist, sich vorzubereiten.
  Er lächelt, wenn er daran denkt, daß er noch vor kaum einem halben Jahr ein sorgsames Projekt ausgearbeitet hat, aus der Hauptstadt, in der ihn der Argwohn des Titus festhält, nach Gallien zu fliehen oder nach Deutschland, um sich von den dortigen Armeekorps als Kaiser ausrufen zu lassen. Jetzt darf er solche phantastischen Projekte endgültig verabschieden, seine Aussicht auf den Thron ist gesichert. Erstaunlich übrigens, daß er, seitdem er diese Sicherheit hat, an Details, die ihn früher langweilten, ernsthaft Anteil nimmt. Mit der zunehmenden Gewißheit der Herrschaft wächst in ihm die vom Vater ererbte Lust am Organisieren, und wenn er sich von Annius Bassus übers Militärische, von Marull übers Politische, ja selbst wenn er sich von dem widerwärtigen Regin übers Wirtschaftliche vortragen läßt, diskutiert er leidenschaftlich jede Einzelheit ihrer komplizierten Darlegungen.
  Er braucht, um folgerichtig denken zu können, Ruhe und Sammlung. Oft schließt er sich stundenlang ein; er weiß, seine Gegner behaupten, er verbringe diese Zeit damit, Fliegen aufzuspießen. Er läßt sie schwatzen. Mögen sie über seine Herrschsucht, über seine skrupellose Unsittlichkeit die tollsten Gerüchte verbreiten. Es ist ihm bekannt, daß man in den Kreisen des republikanischen Adels einen Brief von ihm her umzeigt, in dem er, damals fünfzehnjährig und von seinem Vater knappgehalten, dem Senator Palfurius Sura anbietet, die Nacht mit ihm zu verbringen, und dafür fünfhundert Sesterzien von ihm verlangt, eine beschämend niedrige Summe. Palfurius Sura ist ein Idiot, daß er sich dieses Schreiben hat stehlen lassen, aber noch idiotischer sind die Leute, die sich daran ergötzen, es zu lesen. Es ist gleichgültig, ob der Brief echt ist oder gefälscht: er wird mit jedem Tag gefälschter, er wird mit jedem schwächeren Atemzug des Titus gefälschter, und der Tag ist nicht fern, da er vollends falsch sein wird.
  Hundertdreiundvierzig Millionen, erklärt Claudius Regin, kann man scheffeln, wenn man, wie er will, den Stichtag auf den 24. Januar 794 zurückverlegt. Titus würde wahrscheinlich auf diese Summe zugunsten seiner Popularität verzichten. Er selber denkt nicht daran. Hundertdreiundvierzig Millionen sind viel Geld. Solange er genötigt war, Geld von seinem Vater und seinem Bruder zu verlangen, hat er über eine solche Ziffer die Achseln gezuckt. Nun er selber damit rechnen soll, verändert sich ihm ihr Aussehen. Er wird, wenn er erst an der Macht ist, viel Geld brauchen. Er wird in großem Stil bauen. Für Lucia. Lucia ist der einzige Mensch, an dessen Meinung ihm liegt. Kaufen zwar läßt sie sich nicht. Nicht einmal ihr Lachen kann man kaufen. Sie lacht, wenn sie will.
  »Der Kreis der betroffenen Personen«, sagt soeben Regin, »ist gar nicht so groß, wie man denken sollte. Es sind da ...« Domitian zwingt sich, nicht an den Tänzer Paris zu denken und nicht an die fünf oder sechs anderen Männer, von denen Rom vermutet, daß Lucia mit ihnen schlafe. Aber ganz vertreiben kann er die Vorstellung nicht. Dieser Paris wird überschätzt, geht es ihm durch den Sinn. Das kommt, weil so wenig Menschen wissen, was gut und was schlecht ist. Auch dieser Jude Josephus wird überschätzt. Sein Buch ist nicht übel, wahrscheinlich ist es sogar gut, aber es ist Narrheit, was alles sie davon hermachen. Ich mag ihn nicht. Er ist noch unsympathischer als Regin. Diese östlichen Menschen sind falsch. Man kann sie nicht fassen, sie haben etwas Öliges, und dieser Josephus ist noch gefährlicher als die Jüdin, an der Titus kaputtgegangen ist.
  Er setzte sich gerade, sehr aufrecht, die Arme eckig nach hinten. Ja, dachte er, Titus ist kaputt. Es ist ein Segen für ihn, wenn er bald ein Gott wird. Man darf diesen Prozeß nicht verzögern. Marull muß einmal wieder mit Valens sprechen.

»Man müßte«, sagte gerade Regin, »anläßlich der neuen Vermessung für die Provinzen Ägypten und Syrien neue Agrarsteuern anlegen; es ist höchste Zeit.«
  Es war höchste Zeit für mich, dachte Domitian, endlich mit Titus abzurechnen. Sonst hätte er sich unter die Götter verdrückt, ohne daß unsere Rechnung beglichen wäre. Länger als fünf Jahre hätte er es wohl auch ohne mich nicht gemacht; aber daß er durch mich fünf Jahre früher fort muß, ist ein guter Coup. Nur: er weiß nicht, daß ich es bin, durch den er fort muß, und merken lassen darf ich es ihn auch nicht. Sonst packt er noch zu. Nein, die Sache mit Julia war schon die einzige Lösung. Die Heirat mit ihr erst abzulehnen und sie ohne Heirat zu beschlafen, das war eine gute Idee, und es muß ihn treffen. Vor allem, weil sie es nicht gewollt hat, und wenn ich nicht so zäh und kräftig wäre, hätte ich’s nicht durchgesetzt. Dabei ist sie hübsch, weiß, fleischig und tut einem wohl. Ich gäbe ein paar Millionen darum, wenn ich wüßte, wie er darüber denkt, mein Herr Bruder. Bestimmt hätte er sie nicht diesem faden Sabin zur Frau gegeben, wenn er nichts gemerkt hätte. Und daß er so eisern schweigt, beweist nur, wie sehr ihm die Geschichte an die Nieren geht.
  Daß des Titus Sache mit Lucia ihm selber nach Ansicht der Römer ganz anders an die Nieren gehen mußte, wollte er nicht wissen, und er wußte es nicht.
  Ich werde viele Reden zu hören bekommen, dachte er weiter, was er für ein guter Herrscher war und was ich für ein guter Herrscher bin. Sogar dieser Josephus hat mich in seinem Buch vorsichtshalber ein paarmal gerühmt. Das ist natürlich pure Falschheit und Speichelleckerei. Er ist ein Arschkriecher, dieser Josephus, und es ist unwürdig, daß man sich überhaupt damit beschäftigt, was ein Jud über einen schreibt. Aber angenehmer ist es doch, daß er nicht schlecht über mich geschrieben hat. Wenn Titus erst ein Gott ist, dann bleibt von ihm nichts als dieser großmäulige, etwas schäbige Triumphbogen und das, was dieser Jud über ihn geschrieben hat. Ich könnte ihm eigentlich einen etwas anständigeren Triumphbogen hinstellen, wenn er erst ein Gott ist. Und so einen Kerl wie den Juden sollte man nicht reizen, daß er Schlechtes über einen schreibt. Aber ich mag ihn nicht. Ich begreife nicht, was Lucia an ihm findet.
  Sie liebt Bücher. Die Memoiren ihres Vaters sind gut, ein wenig trocken, aber sehr klar. Ich glaube, im ganzen ist die Prosa unserer Epoche besser als ihre Verse. Mit meinen eigenen Versen ist auch nicht viel Staat zu machen. Mein Versroman über die Geschichte des Capitols ist eine Jugendeselei. Aber meine Prosa ist nicht übel. Jedenfalls habe ich, als ich den Essay »Zum Lob der Glatzköpfe« schrieb, ungeheuern Spaß daran gehabt. Und sicher ist es besser, ich selber lache über die Dünnheit meiner Haare als die andern.
  Aber froh bin ich, daß ich es nicht mehr nötig habe, Verse zu machen. Wer selber verhindert ist, Taten zu tun, mag sich in Verse flüchten. Literatur ist ein guter Zeitvertreib für den, der sie schreibt, immer, und manchmal auch für den, der sie liest. Wenn ich erst soweit bin, werde ich die Literatur groß unterstützen. Das kostet nicht viel. Eine literarische Konkurrenz, auch wenn ich sie erstklassig aufmache, kostet noch nicht den hundertsten Teil eines anständigen Wagenrennens. Sie bringt natürlich auch weniger Popularität. Aber mehr Ehre. Wenn ich von den hundertfünfzig Millionen, die ich aus den enteigneten Terrainschnitzeln herausquetsche, nur drei Prozent für literarische Konkurrenzen und Preise stifte, dann sitze ich so dick in Ehre, daß das Gemecker über die Enteignungen nicht an mich herankann.
  Unter dem Kaiser Domitian, meine Lieben, werden die literarischen Veranstaltungen anders ausschauen als jetzt. Ich muß es dahin bringen, daß man bei einer literarischen Konkurrenz nicht weniger fiebert als bei einem Wagenrennen. Nur: wen soll man heute zum Preisrichter machen? Pack. Gesindel. Sie wissen nicht, was gut ist und was schlecht. Man kann sie mit einem Hauch dahin bringen, daß sie schwarz heißen, was ihnen gerade noch golden war. Es lohnt nicht, ihr Kaiser zu sein. Bei den Ziffern dieses widerwärtigen Regin weiß man wenigstens, woran man ist. Man sollte meinen, Literatur, Verse, das sei jenseits ihres Schmutzes. Aber wenn sie den Olivenkranz anlangen, wird er genauso dreckig, wie wenn sie Geld anlangen.
  Späße zu machen, hat der Alte verstanden. Aber die besten Späße, die höheren, subtileren, hat er sich entgehen lassen. Es ist eine Scheißgeneration. Man muß die Menschen klein machen und sie demütigen, immer noch kleiner; dann vielleicht hat man manchmal das Gefühl, man selber sei groß.
  Regin war schon eine ganze Weile verstummt. Domitian fuhr auf, riß sich zusammen. »Ich danke Ihnen sehr, mein Regin«, sagte er, »für Ihren Vortrag. Ich werde Ihrem Rat folgen, wenn es erst soweit ist.«
  Regin entfernte sich gut gelaunt. Domitian war ein Lump, seine Seele war zerfressen und verkommen. Aber von seinem Vater geerbt hatte er das Talent fürs Organisieren und eine gute Rechenhaftigkeit. Claudius Regin fühlte sich neu belebt, nun er Gelegenheit witterte, sein sportliches Interesse an der Ordnung der Reichsfinanzen wieder sinnvoll zu betätigen.

Im Spätsommer, als die Hitze nachließ, lebte Titus plötzlich auf. Am zweiten September wurde bekanntgegeben, daß der Kaiser, der sich ziemlich lange nicht mehr gezeigt hatte, am vierten der Eröffnung der Großen Spiele im Amphitheater beiwohnen werde.
  Rom freute sich. Die Gerüchte von der Krankheit des Titus hatten die Stadt beunruhigt. Domitian war unbeliebt, die Furcht vor dem übeln Nachfolger steigerte die Liebe zu dem regierenden Kaiser. Zudem war die Stadt erregt durch Kundgebungen des falschen Nero, der noch immer nicht erledigt war. Jede Woche tauchten neue Proklamationen auf, in denen der Prätendent – Enkel des Augustus, Abkömmling des Julius Cäsar und der Göttin Venus nannte er sich – verkündigte, er sei den Nachstellungen eines verräterischen Senats entgangen und werde in allernächster Zeit aus dem Osten hervorbrechen, den Blitz in der Hand, um die flavischen Emporkömmlinge zu vernichten. Seit einem Jahr fast hielt dieser Nero die asiati schen Provinzen in Atem, offensichtlich unterstützt von den mächtigen Grenznachbarn der Römer, den Parthern. Schon sprach man von einem neuen parthischen Krieg, und es war gut, daß sich der Walfisch endlich einmal wieder seinem Volke zeigte.
  Zehntausende also wohnten dem feierlichen Opfer bei, mit dem der Kaiser die Spiele einleitete. Der weiße Stier wurde herbeigeführt, der Großpriester hob das Messer, schon machte Titus sich bereit, mit der Schale das Blut aufzufangen, um es vor dem Altar auszugießen. In diesem Augenblick, unmittelbar vor dem tödlichen Stich, riß sich der Stier los und brach, den Strick noch um Bein und Hals, unter die schreiende Menge. Panik entstand, viele wollten später aus dem heitern Himmel Donner gehört haben. Titus tat, als schrecke ihn das böse Zeichen nicht. Sein schlaffer, breiter Knabenkopf, der in den letzten Tagen ein bißchen Farbe angenommen hatte, erblaßte freilich wieder, und die engen Augen, schläfrig und entzündet, verschwanden fast völlig unter den Lidern. Aber er stand ruhig da und wartete, bis der Stier wieder eingefangen und das Opfer vollendet war. Dann, wie er es angekündigt, fuhr er pomphaft ins Amphitheater.
  Dort freilich saß er verfallen auf seinem mächtigen Sessel, und es kostete ihn Mühe, dem Zuruf der Massen gebührend zu danken. Der Anblick des gewaltigen Baus, der festlichen Zuschauer, der Menschen und Tiere, die in der Arena zu seinen Ehren und seinem Ergötzen starben, machte ihn nicht froh. In ihm war ein vages Gefühl, daß er das letztemal hier sitze und seine so teuer erkaufte Beliebtheit genieße. Daß das Opfer mißglückt war, ängstigte ihn. Es machte ihn trüb, daß es nicht gelang, das Andenken des Nero im Volke totzutreten, trotzdem er selber und seine Vorgänger in den vierzehn Jahren seit dem Sturz des Kaisers sich bemüht hatten, alle seine Bauten zu vernichten und seine sichtbaren Spuren zu tilgen. Nur mit Anstrengung hielt Titus die vier Stunden durch, die er der Sitte zufolge im Amphitheater bleiben mußte. Er wollte Rom los sein, er wollte unmittelbar nach der Eröffnung der Spiele auf seine Besitzung bei Cosa fahren, er freute sich auf die ländliche Ruhe dieses primitiven Gutes, das er belassen hatte, wie sein Vater und sein Großvater es übernommen. Er atmete auf, als endlich die vier Stunden vorbei waren und er den Wagen besteigen durfte.
  Doch kaum hatte er das Weichbild Roms hinter sich, als ihn eine pressende Übelkeit anfiel. Er hatte sich danach gesehnt, die würdige Haltung aufzugeben, die er sich diese vier Stunden über hatte abzwingen müssen. Aber er durfte auch jetzt seine Erschlaffung nicht genießen. Krämpfe würgten, ein wildes Fieber schüttelte ihn. Der Arzt Valens schickte Kuriere nach Rom, die Kaisertochter Julia, Domitian, Lucia herbeizurufen.
  In dem altmodischen Gutshaus dann, in der Nische, auf dem breiten Bett, das sich nur ein paar Handhoch über dem Boden erhob und in dem sein Vater gestorben war, lag der Kaiser Titus. Eine Woche lang lag er da und noch zwei Tage, und er wußte nicht, daß er dalag.
  Manchmal unterhielt er sich mit Nero. Es war nicht ganz klar, mit welchem Nero, mit dem Jüngling, der schüchtern und ungelenk, mit dem Manne, der schön und bezaubernd, oder mit dem früh Gealterten, der fett und launisch wie ein verblühtes Weib war. Titus wollte gern herausbringen, mit was für einem Nero eigentlich und wieso überhaupt und worüber er mit ihm sprach. Aber das war schwer; denn Nero hatte einen goldenen Kopf auf wie die Kolossalstatue, und das Geglitzer des Kopfes machte alles undeutlich. War es denn überhaupt der richtige Nero? Er hatte doch selber Auftrag gegeben, den Kopf des Kolosses mit dem seines Vaters zu vertauschen, und jetzt hatte Nero trotzdem seinen eigenen Kopf. Das war eine ungeheure Frechheit und ängstigte den Titus. Wie soll man denn einen so gewaltigen Kopf abhauen, wenn er aus Gold und der Mann, dem er gehört, überdies schon tot ist? Er wandte sich an Britannicus, seinen Jugendgespielen, mit dem er erzogen worden war. Der hatte sich glücklicherweise in den langen Jahren seines Totseins nicht verändert. Aber auch er wußte keinen Rat, und trotzdem sie jetzt zu zweit waren, wollte es ihnen nicht glücken, Nero den goldenen Kopf abzuhauen. Der tat vielmehr immer wieder den Mund auf und sagte: »Ich, Claudius Nero, Enkel des Augustus, werde hervorbrechen aus dem Osten, den Blitz in der Hand.«
  Plötzlich wußte Titus, warum der Kopf nicht herunterging: es lag an dem Glasaug. Wenn aber der Mann das Glasaug hatte, war er doch gar nicht Nero. Titus suchte und suchte, er konnte nicht daraufkommen, wer er war, der mit dem Glasaug. Es handelte sich um die Befehlsausgabe, so weit sah er klar, und die Befehlsausgabe war gefährlich. Wohl hatte Titus am Wortlaut schlau und lange gebastelt, man konnte ihm auch nichts nachweisen, aber zweideutig blieb die Befehlsausgabe trotzdem, und der mit dem Glasaug merkte es auch, er schnupperte mit der frechen, weitnüstrigen Nase und blinzelte den Kaiser an. »Belästigt der Gegner die Lösch- und Aufräumekommandos«, las er, und nun war es doch wieder Nero. Das Glasaug stand ausgezeichnet zu dem goldenen Kopf, der ganze Mann wirkte lasterhaft, aber eminent aristokratisch. Unsinn. Er hatte gar keinen goldenen Kopf, er hatte ein nacktes, rotes Gesicht und sah vulgär aus. Natürlich war das nicht Nero; denn diejenigen, die vulgär aussahen, das waren ja sie selber, die Flavier, während Nero auch in der letzten, schmutzigsten Ausschweifung der Aristokrat blieb, der Nachfahr des großen Julius und der Venus.
  Wenn der Bursch die Befehlsausgabe falsch versteht, dann geht alles schief, dann wird geschossen, und der mühsame, kostspielige Neubau des Capitols fällt wieder ein. Er hat schon zu Ende gelesen, gleich wird er kehrtmachen. Titus muß den gefährlichen Befehl widerrufen, sofort, im nächsten Augenblick wird es zu spät sein. Er möchte auch, aber er kann nicht; das drückt ihm beinahe den Magen ab. Dabei steigt die Frau bereits die Tempelstufen hinauf. Es ist die Heilige Straße, und es ist die Äbtissin der Vestalinnen, und er, Titus, geleitet sie, denn als Kaiser hat er das Erzpriesteramt angenommen. Er bleibt ein wenig zurück, er muß sehen, wie sie geht, denn sie geht nicht, sie schreitet, sie »wandelt her«, es gibt, um ihren Gang zu kennzeichnen, kein anderes als das homerische Wort. Er darf nicht länger hinter ihr zurückbleiben, er muß neben ihr gehen, das Zeremoniell verlangt es, und den Befehl muß er auch in Ordnung bringen. Sonst schießen sie. Wahrscheinlich werden sie schießen, wenn sie gerade auf den Stufen des Capitols ist, und dann zerschießen sie das Bein, und soll er es zerschießen lassen oder nicht? Seine Begierde, das Bein der Vestalin zu sehen, brennt ihn immer mehr, er muß es sehen, von der Sohle bis hinauf zu den Schenkeln, er muß es streicheln, drücken, kneten, pressen. Sie sollen schon schießen, er freut sich darauf, zuzuschauen, wie sie das Bein zerschießen. Worauf warten sie denn? Ja, natürlich, auf den Kerl, den Namenlosen mit dem goldenen Kopf und dem Glasaug. Der steht noch immer mit seinem Befehl. Aber jetzt dreht er sich um, und dann wird es gleich zu spät sein, dann schießt er, der Hauptmann Pedan.
  Titus lacht, leuchtet auf. Pedan heißt er. Selbstverständlich. Daß ihm das nicht gleich eingefallen ist. Dreiundvierzig Jahre, und schon läßt sein Gedächtnis nach. Er stenographiert den Namen in die Luft: Pedan, Hauptmann Pedan von der Fünften. Er stenographiert ihn mehrmals, damit er ihn ja im Kopf behalte. Pedan von der Fünften, Inhaber des Graskranzes.
  Die Frau mittlerweile schreitet noch immer. Jetzt hat sie ihr langes Priesterkleid gerafft wie eine Tänzerin, und er kann das Bein bis hinauf zu den Schenkeln sehen, nackt. Der Anblick ist erfreulich und äußerst unzüchtig. Wer hätte gedacht, daß die Äbtissin der Vestalinnen ein so junges, schönes Tänzerinnenbein hat?
  Da ist man schon im Heiligsten des Tempels. Aber wo ist denn die Jupiterstatue geblieben? Ist der Capitolinische Jupiter auf einmal gestaltlos geworden? Haben diejenigen recht, die behaupten, es stehe nichts im Allerheiligsten? Das wäre ein Unglück. Man könnte dann ja gar nicht opfern. Es wird auch nichts mit dem Opfer. Der weiße Stier reißt sich los. Ein böses Zeichen. Aber er darf sich nicht anmerken lassen, daß ihm das etwas ausmacht. Es ist ihm furchtbar übel, aber er muß hier bleiben, aufrecht, und Disziplin wahren und warten.
  Da steht ja doch etwas im Allerheiligsten. Das Bein steht darin, natürlich, das Bein der Frau, das herwandelnde, herrliche, dieses niederträchtige Bein, das ihm das Hirn verrückt gemacht hat. Es ist ein ungeheures Verbrechen, daß dieses Bein in der Zelle des Capitolinischen Jupiter steht. Es muß fort, er muß es zertreten, in Stücke schmettern, dem Erdboden gleichmachen. Es muß heraus, das da, das Bein. Hep, Hep, es muß herunter. Plötzlich steht sein Vater hinter ihm; vertraulich, mit seiner knarrenden Stimme, gibt er ihm einen Rat. Es ist ganz einfach. Man muß nur das Bein durchhauen, dann fällt der Kopf des Nero von selber herunter. Da hat der Alte recht, wie so oft. Jedermann muß einsehen, daß es leichter ist, die Sehne eines fleischernen Beines zu durchschneiden als einen metallenen Kopf. Er nickt seinem Vater zu, hebt das Schwert.
  Er fährt hoch. Etwas Scharfes, Schmerzvolles und gleichzeitig Wohltätiges schneidet in ihn ein. Man reibt ihm den Körper mit Schnee ab, der brennende Frost bringt das Fieber zum Fallen, dämmt seine Phantasien.
  Er erkennt, wo er ist: im Gutshaus bei Cosa. Er lächelt. Hierher hat er gewollt. Es ist alles genauso gegangen, wie er es gewollt hat. Er hat durchgehalten, er hat die Spiele eröffnet, seine Römer haben sich gefreut. »O du Liebe und Freude des Menschengeschlechts«, haben sie ihm zugerufen und, noch hat er ihren zärtlichen Tonfall im Ohr: »O du unser sehr gutes, sehr großes Walfischlein.« Und jetzt ist er auf dem Gut und hat es überstanden. Zwei Wochen Ferien wird er sich gönnen, drei Wochen, während deren er nichts tut und nichts denkt. Und dann, wenn er ausgeruht nach Rom zurückkommt, wird er die Steuerprojekte überprüfen, die Claudius Regin ihm vorgelegt hat, und den Krieg gegen die Parther vorbereiten.
  Da ist ja auch Bübchen. Bübchen hat sich gefügt, es ist Titus gelungen, ihn klein und geschmeidig zu machen. Geld freilich hat es gekostet. Wenn man hier das Gut bei Cosa mit Bübchens Bauten bei Albanum vergleicht: ein billiger Bruder ist Bübchen nicht. Und ganz zahm ist er auch noch nicht. Diese Sache mit Julia, sicher hat er ihm nur einen Tort antun wollen. Es ist ein kümmerlicher Tort, es ist merkwürdig, daß Bübchen nichts Besseres eingefallen ist, dieser Streich jedenfalls ist ihm gründlich danebengeglückt. Titus ist nicht weiter gekränkt. Wenn Bübchen seine Julia gefällt, dann gönnt er ihm und ihr das Vergnügen. Die weiße, fleischige Julia ist freilich etwas wählerisch, und es ist fraglich, ob ihr Domitian gefällt. Wie immer, es bleibt ein kahler, einfallsloser Spaß, durch den Bübchen es ihm zeigen will. Was ist das schon für eine »Rache«? Lucia, er hat dem andern Lucia ausgespannt, und wenn Julia auch sein eigen Fleisch und Bein ist, niemand kann sie im Ernst mit Lucia vergleichen. Im übrigen, Julia scheint nicht gewollt zu haben, Lucia aber hat gewollt. Und Titus lacht, er lacht hoch und fein, hi, hi, lacht er über die ärmliche, ohnmächtige Rache des andern.
  Daran, daß er vielleicht deshalb hier liegt, weil Domitian es so gewollt hat, denkt er nicht.
  Vielmehr richtet er – den Kopf kann er nicht bewegen, wohl aber die Augen – den Blick auf Lucia. Da ist sie ja, Lucia, denkt er. Wenn er ihr früher begegnet wäre, wäre sein Leben anders verlaufen. Aber auch so ist es gut. Die Anerkennung seiner Römer hat er, die Dynastie sitzt fest, kein Nero kann ihn mehr schrecken. Da liegt er und schwitzt. Es ist ein gesundes Schwitzen, diese Krankheit ist die Krise, und mit ihr schwitzt er den Osten völlig aus seinem Blut heraus. In Zukunft wird keine Jüdin ihn mehr in Versuchung bringen.
  Aber warum sind sie eigentlich alle da, Bübchen, Julia und Lucia? Aha, wegen seiner Krankheit. Er war offenbar sehr krank. Aber jetzt hat er es hinter sich. Keine kleine Enttäuschung für Bübchen. Und Titus lächelt ihm zu, amüsiert, spöttisch, bittet ihn durch seine Miene geradezu um Entschuldigung, daß er kein Gott geworden ist.
  Einen vermißt er. Einem muß er sagen, daß er jetzt genesen ist und den Osten aus seinem Blut herausgeschwitzt hat. Gerade dieser muß es erfahren, das ist wichtig, und so bald wie möglich, noch bevor er zurück nach Rom fährt, will er es ihm sagen. Er schickt einen Kurier nach Rom, in das Haus im sechsten Bezirk, um Flavius Josephus herbeizuholen.
  Doch bald darauf, lange noch bevor Josef ankam, überfiel den Kaiser ein neuer Fieberanfall, schlimmer als der erste. Domitian befragte den Doktor Valens. Der schaute ihn mit seinem kalten, prüfenden Blick an und sagte: »Ich werde die Majestät in ein Schneebad bringen lassen. Wenn es gut geht, kommt der Kranke noch einmal zur Besinnung. Aber es besteht wenig Hoffnung, daß er den Tag überleben wird.« – »Sie glauben«, fragte sachlich Domitian, »daß Kaiser Titus Flavius am 14. September ein Gott sein wird?« – »Ich glaube es«, erwiderte der Arzt, und unter dem weiter fragenden Blick


des Prinzen fuhr er fort: »Ich bin dessen sicher«, und fügte die Anrede bei: »Majestät.«



Wenn das Fieber gefährlich hochstieg, pflegten die Ärzte den Patienten in ein Schneebad zu stecken. Die Dauer eines solchen Bades richtig zu dosieren war schwierig und galt für den Prüfstein eines guten Arztes. Oft hatten Schneebäder den Patienten vor dem sichern Tod gerettet; doch manchmal auch starb ein Patient im Schneebad.
  In der felsigen Grube des Hauses bei Cosa hielt sich der Schnee hart und gut. Man grub, unter Aufsicht des Arztes Valens, den schweren, glühheißen Körper des Kaisers tief ein. Die Damen Lucia und Julia – Domitian hatte das Gut verlassen – standen fröstelnd in dem Keller, die schmale Luke und der Schnee gaben mattes Licht, sie schauten widerwillig gespannt zu, wie man den Kaiser eingrub.
  Titus kam zu sich. Er war ängstlich erregt, daß Josef noch nicht da war. Er wußte jetzt, daß er sterben werde. Er schauerte vor Schwäche und Frost. Seine Haut war bläulich; er preßte die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Man flößte ihm einen von Valens bereiteten Trunk ein, um seine schwindende Kraft aufzupeitschen. Er sprach nicht, auch die beiden Frauen schwiegen, es war finster und kalt. Erst ging Julia, dann ging auch Lucia. Als Josef kam, fand er niemand bei dem Kaiser, nur den Valens.
  Titus schickte den Arzt weg. Josef stand allein vor dem Sterbenden, der mit starren Gliedern im Schnee lag. Nochmals neigte er sich tief und wiederholte den Gruß: »Hier bin ich.« In ihm aber dachte es: Keine Weisheit ist außer der des Kohelet: »Der Mensch ist nicht mehr wert als das Vieh. Wie dieses stirbt, so stirbt jener, und alles ist eitel.«
  Titus schien unendlich schwach, geschüttelt von Frost und Schmerz, aber, vielleicht war es die Wirkung des Trankes, er war völlig klar. Das ererbte und anerzogene Römertum in ihm war stark genug, die Furcht der Kreatur in der Stunde des Absterbens zu besiegen. Zwar verlangte er nicht, im Stehen zu sterben, wie der Alte, aber auch er wollte, daß in seinen letzten Augenblicken keine Niedrigkeit sei, und ferner wollte er, daß gerade dieser Mann aus dem Osten mit ansehe und bezeuge: der römische Kaiser Titus starb nicht unwürdig. Nur mit Anstrengung tat er die bläulichen Lippen auf, doch seine Stimme war vernehmlich, ja, es war in ihr ein letzter Rest jenes schmetternden Kommandotones, den Josef so oft vor den Mauern Jerusalems gehört, und er sprach: »Ich habe dich herrufen lassen, Flavius Josephus, daß du etwas aufschreibst. Ich habe dir eine Ehrensäule hingestellt: halte du für die Späteren fest, was ich dir sage. Ich habe mich bemüht, die ›Liebe und Freude des Menschengeschlechts‹ zu sein, ich war das sehr gute, sehr große Walfischlein, und ich habe zu dem Tag, an dem ich nichts Gutes tat, gesagt: diesen Tag habe ich verloren. Aber das ist es nicht, was du aufschreiben sollst. Ich habe viele Menschen umgebracht, und das war gut, ich bereue es nicht. Allein ein Einziges ist, das war nicht gut. Schreib das auf, mein Jude, du großer Geschichtsschreiber: der Kaiser Titus hat keine Tat seines Lebens bereut, nur eine einzige. Hörst du mich? Schreib es auf, mein Jude, mein Chronist.« Da Titus verstummte, fragte Josef: »Welche Tat, mein Kaiser?«
  Doch Titus, statt aller Antwort, mit verlöschenden, sonderbar nach innen gestellten Augen, fragte: »Warum ist Jerusalem zerstört worden?«
  Da packte den Josef ein lähmendes Entsetzen von seinen Eingeweiden her, und er stand steif und wußte nichts zu erwidern. Der Kaiser aber fuhr fort und bat: »Willst du mir nicht eine Antwort geben, mein Jude? So lange habe ich auf eine Antwort gewartet, und niemand kann sie mir geben, nur du, und wenn du sie mir jetzt nicht gibst, wird es zu spät sein.«
  Josef aber, mit all seiner Energie, riß sich zusammen und erwiderte, und das war die Wahrheit: »Ich weiß es nicht.«
  Doch Titus, aus dem Schnee heraus, fuhr jämmerlich fort: »Ich sehe, du willst es mir nicht sagen. Ihr habt ein gutes Gedächtnis, ihr Juden. Ihr seid wie euer Gott, eifervoll, ihr tragt einem ewig nach, was man einmal getan hat, und vergeßt nichts bis ans Ende.« Und wie ein Kind klagte und maulte er weiter: »Ich war dir nie feind, mein Jude, und habe dich nicht entgelten lassen, was die Frau an mir getan hat. Ich bin dein Freund geblieben, auch als sie wegging. Aber du willst mir nicht antworten.«
  Den Josef aber erschütterte der Wahn des Mannes. Da suchte er noch im Sterben ihn und sich selber zu belügen und machte sich vor, die Frau, die er weggeschickt hatte, habe ihn aus eigenem Willen verlassen, und er tat dies, um eine Antwort zu bekommen auf die Frage, warum diese Stadt Jerusalem zerstört worden sei, die er doch selber zerstört hatte. Das Grauen vor der Brüchigkeit der menschlichen Vernunft packte Josef derart, daß er darüber den Frost und die Dunkelheit des elenden Raumes vergaß und die schauerliche Verlassenheit dieses Sterbenden. Die Juden, die vom andern Tiberufer, hatten also doch recht: Jahve hatte dem Kaiser eine Fliege ins Hirn geschickt, die summte darin herum, kein Lärm des Arsenals hatte sie zur Ruhe bringen können. Titus war nur ein Werkzeug gewesen, nicht mehr als die rote, behaarte Hand des Hauptmanns Pedan. Jetzt berief er sich darauf, daß er ein Werkzeug war: doch damals, als er handelte, hat er es nicht wahrhaben wollen. Er hat sich übernommen, damals. Er hat gewußt, daß es darum ging, Ost und West zu vereinigen, aber er ist auf halbem Wege umgekehrt, hat den Osten, statt ihn zu gewinnen, kaputtgeschlagen und wurde wieder der Römer, der er von Anfang an gewesen, nur der Römer, nichts als das, ein armer Eroberer, ein kläglicher Mann des Tuns, ein Narr, der um die Nichtigkeit des Tuns wußte und doch nicht davon ablassen konnte. Jetzt hat er seinen Lohn dahin. Da liegt er, und das Gesicht ist das seines Vaters, das Gesicht eines alten Bauern: nur daß der Alte damit einverstanden und darauf stolz war, dieser aber sich dessen schämt. Der Herr der Welt, der Kaiser, der Römer, der mißratene Weltbürger, das Häuflein Dreck, der Mensch, der dahingeht wie das Vieh.
  Und als der Mann im Schnee nochmals die bläulichen Lippen rührte – Josef konnte nichts mehr hören, aber er wußte, daß er seine Frage wiederholte und auf seiner Antwort bestand –, da überkam ihn das ganze Elend dieser Frage, und das Gefühl überwältigte ihn, wie nichtig er selber sei und alle Kreatur. Er konnte den Anblick des Sterbenden kaum mehr ertragen, er mußte sich bezähmen, um nicht hinauszustürzen, diesem Frager zu entfliehen, und er atmete auf, als der Arzt Valens eintrat.
  »Ich trage keinen Anstand«, sagte Valens, »Sie diesmal schon nach einer Viertelstunde zu stören.« Er wandte sich dem Mann im Schnee zu. »Der Kaiser Titus Flavius ist tot«, konstatierte er sachlich.

Domitian unterdes ritt eilends nach Rom zurück, ohne Begleitung. Nacht fiel ein, es war spärlicher Mond und sehr dunkel. Domitian schonte sein Pferd nicht. Nun es soweit war, wollte er nicht glauben, daß die Herrschaft, nach der er sich so lange und so verzehrend gesehnt, ihm wirklich zufallen werde, und er malte sich aus, was alles noch zwischen ihn und die Erfüllung treten könnte. Wie, wenn dieser Valens ihn verriet und dem Titus von den Gesprächen mit Marull erzählte? Titus war ein Schwächling und besessen von seinem närrischen Wunsch, der Dynastie die Erbfolge unter allen Umständen zu erhalten. Aber wenn er auch Julia und alles Vorhergehende vergaß, so närrisch konnte er nicht sein, daß er nicht nach einem solchen Verrat zupackte und ihm und dem Marull den Henker schickte.
  Unsinn. Man brauchte keinen Arzt, um zu erkennen, daß Titus im Sterben lag, mit oder ohne Schneebad. Selbst wenn Valens sich täuschte, wenn Titus noch einen Tag, ja wenn er noch eine ganze Woche leben sollte: gegen ihn, Domitian, hat er ausgespielt. Er wird sich jetzt, sowie er nach Rom kommt, einfach der Garde versichern, alles ist vorbereitet. Mit Hilfe der Garde kann er sich, was immer kommen mag, so lange halten, bis Titus hinüber ist.
  Er ist hinüber, er ist bereits ein Gott, er lebt nicht mehr. Domitian spürt es tief in seinem Innern. Er ist tot, der andere, der Bruder. Nie mehr wird er das unangenehme Schmettern seiner Kommandostimme hören müssen, nie mehr sein überlegen humoristisches Zureden. Es ist aus. Das ist gut, auch für Lucia. Sicher wird sie sich darüber freuen. Domitian, während er durch die Nacht dahinjagt, rötet sich. Sie muß sich darüber freuen.
  Es ist merkwürdig, daß eine Frau wie Lucia den Titus nicht verachtet, den Narren und Schwächling. Was er zum Schluß wohl noch mit dem Juden zu reden hatte? Er braucht Popularität, auch nach dem Tode, er braucht den Geschichtsschreiber, er stirbt für den Geschichtsschreiber, wie er für ihn lebte. Er braucht künstliche Stützen, das ist es, er genügt sich selber nicht. Immerhin wäre es nicht uninteressant, zu wissen, was er mit dem Juden besprochen hat. War es wegen Julia? Schade, daß nicht er selber, Domitian, heute davon anfing. Jetzt ist es aus, und er wird nie mehr erfahren, ob der andere es auch ganz gespürt hat, daß das Konto bereinigt war. Ob der Jude ihm verraten wird, was Titus ihm anvertraut?
  Er selber wird keinen Juden und Geschichtsschreiber brauchen, wenn er stirbt. Er ist seiner sicher. Das einzige, was ihm noch fehlte, war der garantierte, legitime Besitz der Macht. Nun er sie hat, braucht er keinen Chronisten. Ob er den Josef umbringen lassen soll? Der Mann weiß vieles, was besser nicht gewußt wird. Aber es wird Lucia nicht angenehm sein, wenn der Mann nicht mehr da ist. Wer die Macht hat, dem genügt das Gefühl, daß er seinen Lüsten nachgeben könnte: er braucht ihnen nicht nachzugeben. Lassen wir den Mann leben.
  Domitian ritt in Rom ein. Ritt, es war jetzt tiefe Nacht, in die Kaserne der Leibgarde auf dem Palatin. Befahl den Kommandanten zu sich. Teilte dem Erschreckten mit, daß der Kaiser gestorben ist. Ließ Alarm schlagen. Aus dem ersten Schlaf auftaumelnd, versammelten sich die Mannschaften in den Höfen. Man gab ihnen bekannt, Titus sei gestorben; die erste Amtshandlung des neuen Kaisers bestehe darin, daß er ihnen eine Gratifikation von achthundert Sesterzien pro Mann anweise. Die gleiche Kundgebung wurde in den andern Kasernen der Stadt verlesen. Offiziere und Soldaten wurden auf den Kaiser Flavius Domitian vereidigt. Klirrend, befriedigt grüßten sie den neuen Herrn und blieben gern die Nacht über unter Waffen.
  Durch alle Straßen der Stadt jagten Kuriere. Bewegung war, Fackeln, Patrouillen, die Häuser erleuchteten sich. Viele Senatoren, ohne daß die Konsuln sie entboten hätten, begaben sich hastig und erregt in die Julische Halle. Sie fanden das Gebäude besetzt; alle strategischen Punkte der Stadt waren besetzt. Es wurde jedem einzelnen Senator mitgeteilt, Kaiser Domitian erwarte ihn in der Bibliothek des Palatin. Unbehaglich sahen die Herren, daß sich jedem von ihnen ein Detachement Soldaten anschloß, keineswegs in verletzender Form, eher wie ein Ehrengeleite. Unbehaglich sahen sie die Truppen vor allen wichtigen Gebäuden der Nacht, unbehaglich den wie eine Festung bewachten Palatin.
  Durch verstörte Dienerschaft, über schlecht erleuchtete Korridore, auf denen Offiziere beschäftigt hin und her eilten, wurden die Herren in die Bibliothek geführt. In betretenen Gruppen standen die Berufenen Väter zusammen, aus dem Schlaf aufgestört, viele nur notdürftig angezogen. Man bezweifelte die Authentizität der Todesnachricht, aber keiner traute dem andern, man wagte nur flüsternde Worte über das, was alle bewegte; laut machte man wortkarge Konversation über Nebensächliches, daß man eigentlich bereits heizen müsse und dergleichen. Endlich, von den wachhabenden Offizieren mit der Ehrenbezeigung und dem Gruß, der dem Kaiser vorbehalten war, empfangen, erschien Domitian. Die Arme eckig nach hinten, sorgfältig angezogen, doch ohne andere Insignien als die der senatorischen Würde, auch ohne Abzeichen der Trauer, ging er zwischen den einzelnen Gruppen herum, ausgesucht höflich, ja mit gespielter Schüchternheit und Demut. Man war sich im unklaren, was er eigentlich wollte. Es war keine Frage, daß man ihm den Huldigungseid leisten werde, es hätte dazu des Truppenaufgebots nicht bedurft. Aber was die Herren ängstigte, war der Zweifel, ob er die Privilegien der einzelnen bestätigen werde; vor allem die Freunde des Titus fürchteten eine Minderung ihrer Stellung und ihres Einkommens. Wie überhaupt wird es der neue Herr mit dem Andenken seines Bruders halten? Wollte er, daß man sich freue, einen neuen, so begnadeten Kaiser bekommen oder einen so begnadeten Kaiser verloren zu haben? Man wußte natürlich, wie sehr Bübchen seinen Bruder gehaßt und verachtet hatte. Aber wird er nicht, um das Ansehen der Dynastie zu erhöhen, wünschen, daß man ihn, nun er tot war, wie den Vater unter die Götter erhebe? Dieser Zweifel beschäftigte die Herren so, daß sie nicht einmal in Gedanken mehr wagten, Domitian Bübchen zu nennen oder sich einzugestehen, daß er einen beginnenden Bauch habe und daß seine eckig starre Haltung diesen Bauch betone.
  Domitian, sicher im Schutz seiner Garde, spürte bald, wieviel er sich mit diesem Senat erlauben dürfe. Er begann, sich an der Unsicherheit der Herren zu weiden. Er dachte an jene Nacht des zwanzigsten Dezember, da, während Vespasian und Titus in Judäa standen, in Rom die Anhänger des Vitell und des Vespasian um die Macht gekämpft hatten. Damals waren er, sein Onkel Sabin und die dem Vespasian anhangenden Senatoren auf dem Capitol belagert gewesen, dann war das Capitol im Sturm genommen, Sabin und die meisten andern ermordet worden, und er selber hatte sich, als Isispriester verkleidet, nur mit genauer Not retten können. An die Angst jener Nacht also dachte er, und es machte ihm Spaß, jetzt die Angst der Freunde des Titus auszukosten, sie durch finstere Späße zu steigern.
  »Scheint es Ihnen nicht angebracht, mein Älian«, fragte er etwa, »die Majestät meines toten Bruders wie die meines Vaters unter die Götter zu erheben?« Aber als Senator Älian rasch und stürmisch ja sagte, schaute er ihn sorgenvoll an und gab ihm, fast unterwürfig, zu bedenken: »Muß man nicht, mein Älian, die Verdienste eines Fürsten sehr sorgfältig prüfen, ehe man ihm eine solche Ehrung zubilligt?« Und »Was meinen Sie, mein Rutil?« wandte er sich an einen andern. Und als der verwirrte Senator Rutil zögerte, wunderte er sich, höflich, doch mit sichtlicher Mißbilligung: »Merkwürdig, daß nicht einmal ein Mann, der dem Verstorbenen so eng befreundet war wie Sie, mein Rutil, von allein daran denkt, ihm eine solche Ehrung zu erweisen.« Der unglückliche Rutil begann schnell etwas zu stammeln, doch Domitian hatte sich schon einem Dritten zugekehrt.
  Alle atmeten auf, als der neue Herr sie verließ. Sie mußten bis zum Aufgang der Sonne warten, ehe die Sitzung beginnen konnte. Und was sollte man dann beschließen? Bübchen machte sich das Vergnügen, sie im unklaren zu halten. Es war noch lange vor dem Morgen, sie fühlten sich frostig und übermüdet, und es waren zu wenig Sitzgelegenheiten da. Manche hockten auf dem Boden nieder oder streckten sich aus, um ein wenig zu dösen.
  Endlich erschien Annius Bassus und unterrichtete sie, der Kaiser erwarte, der Senat werde seinen Bruder in der gleichen Weise ehren wie seinen Vater. Jetzt wußte man wenigstens Bescheid, und man durfte die Augen zumachen, bis die Sitzung beginnen wird. Aber an diese Nacht wird man noch lange denken.

Domitian indes hatte sich allein mit seinem Zwerg Silen in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Der Zwerg, in steife, schwere, rote Seide gekleidet, hockte in seinem Winkel. Mögen sie jetzt glauben, ich spieße Fliegen auf, dachte Domitian, grimmig vergnügt, schnalzte mit der Zunge, ging auf und ab. Der Zwerg tat ihm nach, schnalzte, ging auf und ab.
  Domitian hatte Weisung gegeben, die Nacht hindurch außer Lucia und Flavius Josephus niemanden vorzulassen. Er wollte die Nachricht vom Tod des Titus und die Bestätigung seiner Herrschaft aus keines andern Munde haben als aus dem eines dieser beiden. Am Hause des Josef hatte er einen Kurier postiert, der ihn sogleich nach seiner Rückkehr zum Palatin führen sollte, und er wettete mit sich selber, wer als erster ihm die Nachricht bringen werde, Lucia oder Josef. Bringt sie Lucia, ist es ein gutes, bringt sie Josef, ein schlechtes Zeichen.
  Eine Stunde vor Tag kam Lucia. »Er ist tot«, sagte sie. »Er hat kein leichtes Ende gehabt.« – »Ich bin Kaiser«, sagte Domitian, »ich bin Kaiser, Lucia.« Er lachte, die Stimme kippte ihm über, vor ihr ließ er sich gehen. »Wir sind Kaiser«, krähte der Zwerg ihm nach. Domitian schwamm in seinem Triumph: »Das war es, was ich mir zum Ziel genommen von jener Zeit an, da ich das Capitol gegen Vitell hielt. Es war ein steiler Weg, ich bin ihn ohne Krümmung gegangen, pfeilgerad aufwärts. Ich bin ihn deinetwegen gegangen, Lucia. Ich habe dich zur Kaiserin gemacht, wie ich es dir versprochen habe.« Lucia hatte sich gesetzt; die letzten Stunden des Titus, die nächtliche Reise nach Rom hatten sie mitgenommen, sie war sehr müde. Sie betrachtete den auf und ab rennenden Mann, gähnte. »Du solltest mehr Sport treiben, Bübchen«, sagte sie. »Beim Herkules, du kriegst einen Bauch.«
  »Du weißt nicht, wie das ist, Kaiser sein, Lucia«, sagte Domitian. »Du hättest sehen sollen, wie sie vor mir gekrochen sind.« – »Das ist nichts Neues, daß es in Rom nicht mehr viele Männer gibt«, sagte Lucia; es klang unangenehm sachverständig. »Im Senat gibt es nicht viele«, stimmte Domitian zu, halb mit Genugtuung, halb mit Ärger. »Ich werde jetzt schlafen gehen«, sagte Lucia, »ich bin sehr müde.« – »Bleib noch ein wenig«, bat Domitian. »Vor Sonnenaufgang können sie Titus nicht zum Gott und mich nicht zum Kaiser machen. Ich will noch ein paar von ihnen herkommen und tanzen lassen.« – »Das interessiert mich nicht«, sagte Lucia. »Aber es ist amüsant«, meinte Domitian, und »Bleib, meine Lucia«, bat er, beharrte er.
  Er ließ einige der Herren aus der Bibliothek herüberbitten. Steifbeinig, die Arme eckig nach hinten, den Bauch heraus, hielt er Cercle, ging leutselig von einem der sorgenvollen, um ihre Privilegien Bangenden zum andern. Machte literarische Konversation. »Haben Sie meinen Essay über die Glatzköpfe gelesen, mein Älian?« fragte er. Der Senator schaute den dünnbehaarten Kopf des neuen Herrschers an; er erinnerte sich dunkel des Essays, es war ein »Lob der Glatzköpfe«, im Stil modischen Humors, man wußte nicht recht, was war ernst gemeint, was spaßhaft. »Ja, Majestät«, erwiderte er zögernd; schon war er gewiß, daß Domitian ihn wieder werde hereinfallen lassen. »Was halten Sie davon?« fragte denn auch mit tückischer Höflichkeit der Kaiser. »Ich finde den Essay großartig«, entschloß sich Älian stürmisch zu erwidern, »ernst und spaßhaft zugleich. Ich habe über ihn Tränen gelacht und Tränen geweint.« – »Ich finde ihn erbärmlich«, konstatierte trocken Domitian. »Ich schäme mich im Zeitalter eines Silius Italicus, eines Statius, solches Zeugs geschrieben zu haben. Was halten Sie von Silius Italicus, mein Varus?« wandte er sich an den nächsten. »Er ist der größte Dichter der Nation«, sagte mit Schwung Senator Varus. »Aber langweilig«, meinte Domitian und schaute den Senator nachdenklich an, bedauernd, treuherzig, »sehr langweilig, stinklangweilig. Mein ›Lob der Glatzköpfe‹ ist wenigstens amüsant. Was ziehen Sie vor, mein Rutil?« pickte er sich von neuem diesen Günstling des Titus heraus. Rutil suchte mit hilflosen Vogelaugen seinem starren Blick auszuweichen. »Los, los, mein Rutil«, drängte der Kaiser. »Los, los, mein Rutil«, drängte der Zwerg. »Ich ziehe den Silius Italicus vor«, entschied sich schließlich mit verzerrt schalkhaftem Lächeln Rutil. »So sind unsere Senatoren«, sagte Domitian und schnalzte mit der Zunge. »Selbst etwas so Langweiliges wie den Silius Italicus ziehen sie meinen Späßen vor.« Er wandte sich um, er glaubte zu Lucia gesprochen zu haben. Aber nur der Zwerg stand hinter ihm, Lucia war gegangen.
  »Es wird Tag«, sagte der Kaiser zu den bedrückten Senatoren, »und Sie müssen sich daranmachen, dem Senat und Volk von Rom einen neuen Führer zu finden. Ein schwerer Tag für Sie. Ein schwerer Tag auch für mich, der ich mich wohl werde entscheiden müssen, wessen Privilegien ich bestätigen soll, wessen nicht. Mögen die Götter Ihr und mein Urteil erleuchten, Berufene Väter«, entließ er die Herren.

Unmittelbar vor dem Morgen traf Josef ein. Domitian hatte von Lucia erfahren, daß dieser Mann der letzte gewesen war, mit dem sein Bruder gesprochen hatte. Wahrscheinlich war der Jude der einzige, der wußte, ob und wie tief sein guter Spaß mit Julia, dieser Ausgleich seiner alten Rechnung, den Toten getroffen hatte.
  »Sie wohnen doch noch im sechsten Bezirk«, begann der Kaiser das Gespräch, »in der Straße zum Granatapfel?« – »Ich schätze mich glücklich«, erwiderte Josef, »daß die Gnade des Kaisers Titus mir das Haus belassen hat, das der Gott Vespasian mir angewiesen.« – »Es ist Ihnen bekannt, daß ich in diesem Hause geboren bin?« fragte Domitian. »Gewiß, Majestät«, erwiderte Josef. »Arbeiten Sie gern in diesem Haus?« erkundigte sich Domitian weiter. »Und wird Ihre Arbeit dort gut?« – »Das Haus ist mir sehr lieb«, erwiderte Josef, »und ich arbeite gern dort. Ob die Arbeit gut wird, darüber zu urteilen steht nicht bei mir.« – »Es tut mir leid«, erwiderte Domitian und kam mit seinem steifen, merkwürdig leisen Schritt sehr nah an Josef heran, »daß ich Sie werde ausquartieren müssen. Ich will das Haus, in dem mein Vater, der Gott Vespasian, so lange gewohnt hat und von dem soviel Glück für das Reich ausging, den Göttern weihen und es zu einer nationalen Gedächtnisstätte machen.«
  Josef erwiderte nichts. Er wußte, welchen Einfluß Marull auf Domitian hatte, aber auch, welchen Einfluß Annius Bassus, er wußte, wie launisch Domitian und daß er selber gefährdet war. Aber er war ohne Angst, er fühlte sich seltsam sicher. Eitelkeit, Triumph, Niederlagen, Schmerz, Genuß, Wut, Trauer, Dorion, Paulus, Justus, das alles lag hinter ihm, und vor ihm lag nichts als sein Werk. Alles, was bisher in seinem Leben gewesen war, hatte sich als gut für das Werk erwiesen und bekam Sinn, sowie er es auf das Werk bezog. Jahve wird, des war er gewiß, seine Hand über ihn halten, daß ihm nichts zustoße, was das Werk gefährden könnte.
  Mit ruhiger Neugier also wartete er darauf, was Domitian von ihm wolle. »Sie hatten das Glück«, sagte der jetzt, »dem Tod und der Verklärung meines Bruders, des Kaisers Titus, beizuwohnen. Was wollte mein Bruder zuletzt noch von Ihnen?« Die Frage sollte ruhig klingen, aber Domitian konnte sich nicht bezähmen, sein Gesicht rötete sich, die Stimme kippte ihm über. »Kaiser Titus«, berichtete Josef, »wünschte, mir einen Auftrag zu erteilen.« Domitian schaute ihm fast mit Angst auf den Mund. »Er forderte mich auf«, erzählte Josef, »für die Späteren aufzuschreiben, daß er eine einzige Tat seines Lebens bereue.« – »Welche?« fragte Domitian. Aha, dachte er, die Sache mit Julia hat ihn also doch getroffen. Er hat ihm gesagt, er bereue es, mich nicht aus der Welt geschafft zu haben. Und den Mund geöffnet, wartete er auf Josefs Antwort. Aber »Er kam nicht mehr dazu, es mir zu sagen«, war alles, was Josef noch zu berichten hatte.
  Domitian atmete hoch. Doch schon den Augenblick darauf war er enttäuscht. Niemals also wird er erfahren, welche Wirkung die Sache mit Julia getan hat. Natürlich, dachte er, hat Titus es ihm gesagt, und der Schlauberger will es mir nicht verraten. Laut äußerte er: »Es gibt unter uns nicht viele, die von ihren Taten nur eine einzige zu bereuen hätten. Mein Bruder war ein tugendhafter Mann. Mein Bruder«, fuhr er fort, ein kleines finsteres Lächeln auf dem Gesicht, »war außerdem ein glücklicher Mann.« Und mit zweideutiger, gefährlicher Ver traulichkeit erläuterte er: »Er ist auf dem Gipfel seines Ruhmes gestorben. Wenn er später gestorben wäre, wer weiß, ob er seinen Ruhm hätte halten können, und ihm lag viel an seinem Ruhm. Die ihn zu früh haben sterben lassen«, schloß er, und sein freches, finsteres Lächeln vertiefte sich, »haben zu seinem Besten gehandelt.«
  Als er mit diesen Worten den Josef entließ, war die Sonne aufgegangen, und der Senat von Rom schickte sich an, Titus unter die Götter und Domitian zum Kaiser zu erheben.

Drei Tage später, am ersten Tischri und somit am Neujahrstag des Jahres 3842 jüdischer Rechnung, stand Josef in der Synagoge, die seinen Namen trug. Das Widderhorn, das scharf, gell, häßlich zur Buße rief, erschütterte ihn bis in die Eingeweide, riß ihm das Innere auf. Es war ein wohltätiges Aufreißen, seine Seele wurde gepflügt zur Aufnahme der Saat. Als er des Nachmittags an das Ufer des Flusses Tiber trat, um, wie es Vorschrift war, seine Sünden von sich in den Fluß zu schütten, auf daß das fließende Wasser sie zum Meer trage und sie dort ersäufe, fühlte er sich in Wahrheit gereinigt.
  Am ersten Tischri wirft Jahve die Lose, doch erst am zehnten, am großen Sühnetag, am Sabbat der Sabbate, siegelt er sie; diese Frist gab er den Männern seines Volkes, damit sie durch Buße das Gericht abwenden könnten. Mehr als die andern hatten in jener Zeit die Juden die Fähigkeit der Buße; sie waren durch mehr Schuld und mehr Elend gegangen, sie wußten, daß Schuld und Elend kein Ende sein muß, sondern ein Durchgang sein kann vor neuem Beginn. Josef insbesondere, der ewig Wandelbare, konnte seine Vergangenheit abschütteln wie glatte Haut das Wasser, und wie ein Neugeborener von seinen Vätern und Vorvätern wohl ihr Wesen überkommt, aber nicht ihr Schicksal, so konnte er jetzt, zu Anfang seines neuen, großen Werkes, sein Dasein beginnen, ohne daß seine Vergangenheit ihm zur Last gewesen wäre. Unverloren blieb ihm, was an ihr nützlich war, und was an ihr schlecht war, strich er aus.
  Am zehnten Tischri dann stand er wie die andern in seiner Synagoge, im einfachen, weißen Kleid, in jenem Linnen, in dem er nach seinem Absterben in den Sarg gelegt werden sollte; denn als ein zum Tod Bereiter hat man an diesem Tage vor Jahves Antlitz zu treten.
  Das Kollegium von Jabne hatte angeordnet, daß das große Opfer, das früher, in den Zeiten des Tempels, am Sühnetag dargebracht worden war, jetzt durch eine Schilderung des Opferdienstes ersetzt werden sollte. Der Levit Jubal Ben Jubal, einer der wenigen Sänger und Musiker des Tempels, die sich aus der Zerstörung gerettet hatten, war zum Vorbeter der JosefSynagoge bestellt worden. Er also, im Wechselgesang mit der Gemeinde, trug die Schilderung des Tempeldienstes vor. Er kannte gut die altererbten Melodien, und an der rechten Stelle, wenn er vom Sündenbekenntnis sagte und sang oder vom Zählen der Güsse des Opferblutes, das der Erzpriester gesprengt hatte, dann wob er den wilden, eintönigen Singsang hinein, den die Leviten bis heute bewahrt hatten aus jener Urzeit, da die Juden noch in der Wüste gewandert waren.
  Heil dem Auge, sang er, das die vierundzwanzigtausend jungen Priester gesehen, die Geräte des Tempels, die Pracht des Dienstes; wenn unser Ohr jetzt davon vernimmt, wird uns die Seele trüb. Heil dem Auge, das den Erzpriester gesehen, wenn er aus dem Allerheiligsten trat, versöhnt, in Frieden, unversehrt, verkündend, daß der rote Faden der Schuld weißgewaschen sei durch Jahves Gnade. Heil dem Auge, das ihn so gesehen; wenn unser Ohr jetzt davon vernimmt, wird uns die Seele trüb.
  Denn wir, sang er weiter, wir, ach, durch das Übermaß unserer Sünden, haben keine Entsühnung mehr. Preisgegeben den Frevlern ist das Land, die Fremden sind der Kopf geworden, wir die Fußsohle. Ohne Propheten tasten wir umher, gleich Blinden, ohne Weissagung. Und keine neue Reinigung winkt uns mehr. Keinen Erzpriester haben wir mehr, die Opfer für uns darzubringen, keinen Sündenbock, unsere Schuld in die Wüste zu tragen.
  Und er sprach und sang von den Einzelheiten dieses großen Sühneopfers. Wie der Erzpriester sieben Tage zuvor sich abgeschlossen hielt von jeder Berührung mit der Welt, sein Herz nur auf sein heiliges Amt gerichtet. Wie er in der Nacht vor dem großen Sühnetag ohne Schlaf und Speise blieb, beschäftigt damit, die Schrift zu lesen und zu hören. Wie er dann am Morgen, in weißen Gewändern, prangend im Tempelschmuck, zur Ostseite des Vorhofs schritt, wo, gehütet von Priestern, die beiden Ziegenböcke angepflockt standen, einander völlig gleich in Größe und Gestalt, für deren Bereitstellung jedermann in Israel den Bruchteil eines Hellers gespendet hatte. Wie er weiter aus der Urne die goldenen Lose zog und bestimmte, welcher von den beiden Böcken Jahves sein solle und welcher der Wüste. Wie er jetzt, die Hände auf dem Haupt des Bockes, vor allem Volk die Sünden bekannte, die er, sein Haus, sein Stamm, ganz Israel begangen, sie dem Bock aufs Haupt legend, und wie er ihm diese Sünden, in Form eines roten Fadens, ans Horn band und ihn fortschickte, daß er sie in die Wüste trage. Wie er schließlich ins Allerheiligste eintrat und Jahve anrief bei seinem wirklichen, erhabenen, furchtbaren Namen, der sonst nie und von keinem genannt werden durfte, und wie alles Volk, wenn der Name aus seinem Munde drang, sich hinwarf aufs Angesicht.
  So sagte und sang der Levit Jubal Ben Jubal. Josef hatte alles miterlebt, wovon er sang, den ganzen Dienst, er war während dieses Dienstes auf den Stufen des Tempels gestanden, in der ersten Reihe, und wenn Augen selig waren, die das mit angesehen, dann die seinen, und wenn einem die Seele trüb werden mußte, der jetzt davon vernahm, dann ihm. Er hatte ferner, aus größerer Nähe als irgendeiner unter den Lebenden, mit angesehen, wie dieser Tempel und sein Allerheiligstes zerstört wurde und seine Priester erschlagen. Er hatte schließlich, als einziger unter den Juden, die Stätte in ihrer Ödnis gesehen, dem Erdboden gleich. Er hatte das Verlorene gesehen, den Verlust miterlebt und dieser Wirklichkeit standgehalten. Als er aber jetzt die Schilderung des Verlorenen hörte, hielt er nicht stand. Sein Herz versagte, stockte, die Augen, die den Brand und Sturz des Tempels hatten sehen können, trübten sich, die Ohren, die das Krachen und Bersten des Tempels hatten hören können, konnten nicht die Schilderung des Tempeldienstes hören, und der Weltbürger Flavius Josephus, während der Levit weitersang von der verlorenen Größe seiner Nation, brach nieder und lag ohnmächtig in dem einfachen, weißen Kleid, in dem er einstmals begraben werden sollte.

Seitdem der Kaiser ihn aus seinem früheren Haus ausquartiert hatte, wohnte Josef in dem Bezirk »Freibad«, einer wenig vornehmen Stadtgegend im Süden, in einem kleinen Haus, das zwischen hohen Mietkasernen eingepreßt lag. Er lebte da inmitten tätigen, lärmenden Volkes, sehr zurückgezogen. Justus hatte, als Josef sein früheres Haus verlassen mußte, eine eigene kleine Wohnung genommen. Paulus, wohl auf Weisung der Mutter, kam nicht mehr. Josef war die meiste Zeit allein, er arbeitete, wartete auf Mara. Er arbeitete nicht schlecht in seiner neuen Wohnstätte; im Grunde war es für einen Mann wie ihn gleichgültig, wo sein Schreibtisch stand.
  Und dann kam Mara mit dem Kind.
  Tüchtig, ohne viele Worte übernahm sie die Führung des Hauses, und nach vierzehn Tagen war es, als wäre sie immer dagewesen.
  Wochen vergingen, Monate vergingen. Die Menschen kümmerten sich wenig um Josef, er sich wenig um die Menschen, er arbeitete und war einverstanden mit seinem Schicksal.
  Eines Tages überkam ihn Lust, sein früheres Haus wiederzusehen, das Domitian, weil es so lange die Wohnung seines Vaters, des Gottes Vespasian, gewesen und weil er selber darin geboren war, in einen Tempel des Flavischen Geschlechts hatte umbauen lassen. Josef machte sich auf und ging in den sechsten Bezirk.
  Mit Neugier und einem kleinen, leicht spöttischen Unbehagen betrachtete er das Haus, in dem er soviel erlebt hatte. Die Fassade war kaum verändert, ihr schlichter Charakter sollte offenbar gewahrt werden. Er betrat das Innere. Ein leiser, süß und fader Geruch von Räucherwerk schlug ihm entgegen. Es war Nachmittag, bald wird man den Tempel schließen, nur sehr wenig Menschen waren da. Zwischenwände, Decken und Böden hatte man entfernt und so dem Raum mehr Höhe und Weite gegeben. Jenes Halbdunkel aber, das so lange Dorions großer Kummer gewesen war, hatte man, wohl weil es sich gut für einen Tempel schickte, belassen, und Josef brauchte eine kleine Zeit, ehe er, aus der Helle der Straße in das Dämmer tretend, sich zurechtfand. Dann sah er.
  In drei großen Nischen standen die Bilder der Götter, denen das Haus geweiht war. In der Mittelnische die Göttin Rom, dargestellt diesmal in der traditionellen Art, mächtig, heroisch. Rechts von ihr ragte wuchtig, in Rüstung, der Gott Vespasian; seltsam kontrastierte das Haupt der Meduse auf seinem Brustpanzer mit seiner untersetzten Figur und seinem schlauen Bauernschädel. Die linke Nische aber, der Platz, wo früher der Schreibtisch des Josef gestanden, war in eine Kapelle des Titus verwandelt worden. Die Statue des neuen Gottes füllte, ein kühnes und merkwürdiges Bildwerk, die ganze Nische. Titus ritt auf einem Adler. Den Schnabel schräg nach links oben gerichtet, hob der Vogel die umbuschten Fänge, breitete die Schwingen; gewaltiges Gefieder hüllte ihn ein. Der Gott Titus aber hockte auf ihm, die Beine halb verdeckt von dem Gefieder, und sein gedrungener Leib schien eins mit dem Leib des Vogels.
  Betreten starrte Josef. Der Kopf da vor ihm war der Kopf des Titus, den er gut kannte: das runde Gesicht, das kurze, kräftig vorgestoßene, scharf dreieckig einzackende Kinn, die in die Stirn frisierten Locken. Das waren die engen, nach innen gerichteten Augen, die so oft die seinen gesucht hatten. Und dennoch war dieser Kopf, der, kaum erhöht über den des Vogels, auf Josef schaute, ein anderer. Wohlbegründet war der Haß der Schrift gegen alles Bildwerk, und der Künstler Basil hatte recht gehabt, als er, bevor er den Josef modellierte, seine Schüler warnte: »Schaut euch den Kopf gut an, so wie er jetzt vor euch ist. Wenn ich ihn erst einmal modelliert habe, dann werdet ihr ihn nur mehr sehen, wie ich ihn sah.«
  Verfluchtes Bild. Abstoßend und gleichzeitig lockend hob es sich vor ihm. So unheimlich gelockt mochten seine Vorväter gestanden haben vor dem Bild der ehernen Schlange oder des goldenen Stiers, den ihre Propheten höhnisch ein Kalb nannten. Er versuchte, sich das Gesicht des lebendigen Titus zurückzurufen, mit dem er so oft zusammen gewesen. Aber schon gelang es ihm nicht mehr. Schon verdrängte der höhnisch triumphierende Kopf des Gottes Titus, der auf dem Adler zum Olymp reitet, den des wirklichen: des Titus der Leichenschlucht, des Palatin, des Schneebads.
  Josef wollte sich nicht unterkriegen lassen. Er riß sich zusammen. Versuchte Zwiesprach mit dem Manne zu halten, wie er es so oft getan. »Ist es nicht merkwürdig, mein Kaiser Titus«, fragte er den ehernen Kopf, »daß an der Stelle, wo ich mein Buch über Ihre Taten schrieb, jetzt Sie selber stehen? Sind Sie nun der Lösung des Problems näher, warum Jerusalem zerstört worden ist?«
  Allein damit war seine Zwiesprach schon zu Ende; ihm bangte vor seiner eigenen Kühnheit. Zaghaft, als ob die andern seine Gedanken hätten hören können, schaute er sich um. Aber die andern waren gegangen, er war allein mit dem Gotte Titus. Dünn, unscheinbar stand er vor dem massigen Bildwerk, starrte auf den Kopf, und der Kopf schaute zurück, höhnisch, ehern, stumm. Nein, für den war der Untergang Jerusalems bestimmt kein Problem mehr. Jerusalem hat sich aufgelehnt, und Rom hat es vernichtet; das ist ja Roms Sendung, die Welt zu regieren, die Unterwürfigen zu schützen, aufs Haupt zu schlagen die Frechen. So, sicherlich, lautete die Antwort des Gottes auf dem Vogel. Denn der war ein anderer als der Mann, der an Josef scheue, flüsternde Fragen gestellt und der sich von Josef hatte einreden lassen, Rom sei nicht die Welt, es gelte erst, Rom, Griechenland, Judäa zu vereinen. Nein, dieser Titus hatte ihn widerlegt: Rom war die Welt. Die eherne Stummheit des Toten schrie diese Wahrheit lauter hinaus, als die schmetterndste Kommandostimme des Lebenden es hätte tun können. Rom hatte die Welt eingeschluckt und verdaut, Roms Macht und Leibhaftigkeit verhöhnte die leeren, lächerlichen Ansprüche des Geistes. Er, Josef, der die Welt suchte, war ein Narr und ein Betrogener: er fand nur Rom.
  Er wollte fort. Aber er konnte sich nicht losreißen von dem ehernen Anblick des Mannes auf dem Vogel. Der war in Wahrheit ein Gott; nie vermochte ein Sterblicher soviel Stolz und Kraft aufzubringen. Vergeblich empörte sich Josefs ganzes Wesen gegen den Ungeheuern Übermut des Bildes. Justus hatte recht: das kunstvolle Gemisch aus Wahrheit und Lüge war stärker als die Wirklichkeit. Schon verblaßte vor diesem verfluchten, verlogenen, grotesken, zauberhaften Bild der klägliche Mensch, den er so gut gekannt, und verwandelte sich selbst für ihn in den fernen römischen Kaiser.
  Zerschlagen kehrte er in sein Haus zurück, froh, als an Stelle des schweigenden, weihraucherfüllten Tempels der Lärm, die Menschen und Gerüche seines Stadtteils wieder um ihn waren.

In dem Bezirk »Freibad« erregte es großes Aufsehen, als eines Tages zwei kaiserliche Kuriere erschienen, den glückkündenden Lorbeer auf ihren Botenstäben. Sie begaben sich feierlich vor das Haus Josefs, traten ein, und während vor dem Haus eine riesige Menge wartete, überbrachten sie ihm in altertümlicher Form die Einladung des Kaisers, gegenwärtig zu sein, am vierten Tag von heut an, in der fünften Stunde nach Sonnenaufgang, wenn der Kaiser der Stadt den Triumphbogen übergeben wird, den er zu Ehren des Gottes Titus errichtet hat.
  Josef erschrak. Aber er neigte sich sogleich und erwiderte, wie es der Brauch verlangte: »Ich höre, danke und gehorche.«
  Er sprach mit niemandem über dieses Ereignis, und niemand sprach darüber mit ihm. Aber er war sicher, daß alle darum wußten. Die Art, wie man ihm die Einladung überbracht hatte, bewies, daß dem Palatin daran lag, die ganze Stadt darum wissen zu lassen. Offenbar erhoffte man sich Spaß von seiner Teilnahme an der Zeremonie.
  Mit Ingrimm nämlich hatten die Juden das neue Monument wachsen sehen, durch das Domitian das alte, schäbige Ehrenmal in der Großen Rennbahn zu ersetzen gedachte. Der Triumphbogen wurde auf der Höhe des Heiligen Wegs errichtet, dem Capitol gegenüber, im Mittelpunkt der Stadt, und war dazu bestimmt, das Gedächtnis der jüdischen Niederlage durch Titus für alle Zeiten festzuhalten. Schon während der Monate, da man an dem Bogen baute, hatten die Juden die Heilige Straße, die Hauptverkehrsader über das Forum, vermieden und lieber weite Umwege gemacht, nur um nicht dieses Monument ihrer Schande passieren zu müssen. In drei Tagen also soll er, Josef, im Gefolge der Herren Roms den Bogen durchschreiten und sich neigen vor dem Gott und Sieger Titus. Domitian hat sich lange nicht um ihn gekümmert: bei diesem Anlaß hat er geruht, sich seiner zu erinnern, und nun freut er sich, und mit ihm die Stadt, auf das Schauspiel, wie Josef seinen Nacken unter das Joch beugen wird.
  Wenn es sich um eine seiner bösartig spaßhaften Launen handelte, pflegte der Kaiser alles gut vorzubereiten. Bald nach den Kurieren, am gleichen Tag, erschien bei Josef der Leibarzt Doktor Valens. Man sprach von dem und jenem, und gelegentlich streute Valens die Bemerkung ein, wie sehr er sich freue, Josef bei so guter Gesundheit anzutreffen; auch der Majestät werde es angenehm sein, sich bei der Feier anläßlich der Enthüllung des Triumphbogens persönlich von Josefs Wohlbefinden zu überzeugen. Es war nicht schwer, die Warnung herauszuhören.
  Josef hätte auch ohne den Besuch des Arztes kaum den Ausweg benützt, aus Gesundheitsrücksichten fernzubleiben. Ja, er hätte, selbst wenn er todkrank daniedergelegen wäre, seine letzte Kraft aufgeboten, um sich an dem Zug zu beteiligen. Noch bevor die Kuriere zu Ende gesprochen hatten, war ihm klar gewesen, daß er unter allen Umständen der Aufforderung folgen und den Bogen im Zug der andern geneigten Hauptes durchschreiten müsse. Weigerte er sich, trotzte er, so hätte das nur jenen falschen Patriotismus gefördert, der noch immer nicht begriff, daß die politische Sendung Judäas zu Ende war, und niemand hätte von einer solchen Weigerung Gewinn gehabt als die Nachfahren der »Rächer Israels«, jene Unsinnigen, die sich seit dem Regierungsantritt Domitians von neuem rührten. Davon abgesehen, zerstörte Josef, wenn er trotzte oder auch nur auswich, seine eigene Position. Noch hat er, der große Schriftsteller, Geltung bei Hof und in der Welt. Aber Domitian liebt ihn nicht, viele lauern darauf, den unbequemen, talentierten Konkurrenten loszuwerden, und Josef wäre ein Narr, wenn er ihnen selber Vorschub leistete. Sein Tun ist klar vorgeschrieben. Er wird am vierten Tag von heut an, wie der Kaiser es wünscht, am Festzug teilnehmen.
  Er arbeitete wenig an diesem Tag, und er schlief nicht gut in dieser Nacht.
  War ihm am ersten Tag die Aufgabe, die sein Entschluß ihm aufbürdete, schwer erschienen, so fand er sie am zweiten unerträglich. Er beschloß zu fasten, wie er es gewohnt war, wenn ihm harte Dinge bevorstanden. Er las im Livius die Schilderung der Gefangenen, die unters Joch geschickt wurden: zwei Lanzen in die Erde gesteckt, eine dritte darüber, so niedrig, daß der Gefangene, der sie durchschreitet, sich tief beugen muß. Unters Joch geschickt zu werden schien den Römern das Schimpflichste, was einem Menschen angetan werden konnte, und die seltenen Male, da Römer unters Joch geschickt worden waren, brannten noch in den Herzen der Heutigen als Merktage tiefster Schmach. Aber er ist kein Römer, und vor der Vernunft, vor Gott wird die »Ehre« eines Menschen mit anderm Maß gemessen als auf dem römischen Forum.
  Das sind schöne Erwägungen hier an seinem Schreibtisch. Aber wenn er, übermorgen, vor dem Triumphbogen, vor dem Joch der Schmach stehen wird, dann wird er die Zähne verdammt fest aufeinander beißen müssen. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß ihm schwere Dinge leichter fielen, wenn er ihre Bitterkeit vorher in seiner Phantasie ganz ausgeschmeckt hatte, und er malte sich in starken Farben das Bild seiner Demütigung: das Pfeifen und Lachen der Römer, den Haß und die wilde Verachtung der Juden. Denn unter den Juden werden nur wenige sein, die ihn verstehen, und selbst die werden, aus guter Politik, ihn nicht schützen.
  Er saß vor seinem Schreibtisch, reglos. Er spürte nicht das Nagen des Hungers; viel schlimmer, körperhaft geradezu, wühlte in ihm die Vorstellung, wie verhaßt und wie verachtet er sein wird. Er kannte sie, die eisige Verachtung seiner Juden, und Verachtung dringt selbst durch den Panzer einer Schildkröte.
  Er hat damals den Triumph des Titus nach dem Krieg mit angesehen, als einziger Jude er. Er hat die Führer des Aufstands, Simon Bar Giora und Johann von Gischala, an sich vorbeigehen sehen, gefesselt, zum Tod bestimmt, mit einer Krone aus Brennesseln und dürren Reisern den einen, den andern in einer komischen, blechernen Rüstung. Er entsann sich genau der pressenden, würgenden Furcht, die ihn damals angefallen, sie möchten herschauen. Er hat viel Übles erlebt, Hunger und letzten Durst, Geißelung, jede Art Schmach, und wie oft ist er vor dem Tod gestanden. Aber das war das Schlimmste, was er durchgemacht hat; das war nicht mehr menschlich. Soll er das jetzt ein zweites Mal über sich ergehen lassen?
  Damals hat er einen guten innern Halt gehabt: er war der Geschichtsschreiber, er mußte sehen, er mußte dabeisein, es war seine Pflicht, zu sehen. Sind seine Gründe von heut weniger stark? Nein, im Gegenteil: seine Überzeugung steht fester. Die Rücksicht auf das Wohl der Gesamtheit und auf sein eigenes verlangt, daß er sich beugt. Die Vernunft verlangt es, und der Vernunft zu dienen, ist er da. Er gäbe, beugte er sich nicht, den Sinn seines ganzen Lebens preis, alles dessen, was er bisher getan, geschrieben, durchgemacht hat.
  Mit der flachen Hand streicht er durch die Luft, streicht er alle Zweifel fort. Sein Entschluß steht fest, es ist ein guter Entschluß, der einzig mögliche. Und nun wird er nicht länger an diese widerwärtige Sache denken. Er holt sein Manuskript hervor. Arbeitet.
  Eine halbe Stunde lang, dreißig volle Minuten, gelingt ihm das. Dann, sosehr er sich dagegen sträubt, steigen lockende Bilder in ihm hoch, wie es wäre, wenn er sich weigerte, dem Befehl des Kaisers trotzte, sich nicht beugte, finster und groß abseits stünde. Süß und herrlich wäre das, denkt er. Die Brust würde mir weit wie damals, als ich an der Spitze der Aufständischen einherritt auf dem Pferde Pfeil, das Banner voran mit der Inschrift Makkabi. Welch eine Seligkeit, das noch einmal zu spüren. Was immer dann geschieht, dieses Glück wäre des Schlimmsten wert gewesen. Und für immer dann wird die Geschichte der Juden von Josef Ben Matthias sprechen, dem Märtyrer, und der Geschichtsschreiber Flavius Josephus hätte keinen Nachteil davon.
  Domitian selber, auch wenn er mich exekutieren läßt, wird nicht umhinkönnen, mich zu bewundern. Und unter den Juden werden selbst diejenigen, die meine Tat mißbilligen, Alexas, Cajus Barzaarone, der Großdoktor, meiner voll Achtung geden ken. Für den Bruchteil eines Augenblicks freilich taucht ein braungelbes, hageres, bitteres Gesicht vor ihm auf, keineswegs voll Achtung, aber das heißt er schnell zurück in den Schatten gleiten. Um so länger verweilt er bei Phineas. Wie wird der, wenn er von meiner Tat hört, verwirrt sein, er wird ein paar ablehnende Worte suchen, aber Achtung wird er meinem Stoizismus nicht versagen können. Und Paulus gar: der tote Vater wird die Hingabe ernten, die der Lebende niemals gewinnen konnte.
  Ist es denn überhaupt gewiß, daß es böse Folgen haben muß, wenn ich meinem Gefühl gehorche und Würde bezeige? Muß es nicht den Römern Eindruck machen, wenn ich dem Kaiser trotze? Sie verhöhnen die Juden, ihre Feigheit, ihr Sichducken, ihre Würdelosigkeit. Wenn ich mich weigere, in so großer, allen sichtbarer Form, zeige ich damit nicht den Römern: schlagen kann man die Juden, töten kann man sie, aber beugen kann man sie nicht? Zwei Dinge sind, die die Geschichtsschreiber aller Zeiten und aller Völker auf die gleiche Art rühmen: Erfolg und Würde. Die Lesebücher sind voll von erfolgreichen Handlungen und von würdevollen: von vernünftigen wissen sie wenig zu berichten, und Vernunft hat noch kein Geschichtsschreiber gepriesen.
  Allein noch während er so denkt, schämt er sich. Er will nicht eitel denken, nicht schief und auf kurze Sicht. Er will kein Lesebuchheld sein.
  Auch in der Nacht dieses zweiten Tages findet er keinen Schlaf. Gegen Morgen liest er im Philo. »Was gegen die Vernunft ist«, liest er, »ist häßlich. Die Vernunft«, liest er, »der Logos, ist Gottes erstgeborener Sohn.« – »Sehr richtig«, sagt er ganz laut. »Aber steht nicht geschrieben: Du sollst Gott lieben mit dem guten und mit dem bösen Trieb?« Er zwingt vor sich seine Freunde, Justus, den Großdoktor, Ben Ismael, den Acher. Im Geist rechtet er mit ihnen, gibt Rede und Gegenrede.
  »Diese Zeit des Elends«, hebt mit seiner klaren, verbindlichen Stimme der Großdoktor an, »verlockt mehr als viele andere Epochen, dem bösen Trieb zu folgen, dem dummen, patriotischen Instinkt. Ich verdenke es auch keinem, der seinem Patriotismus die Zügel schießenläßt, dem römischen Kaiser trotzt und Zeugnis ablegt für sein Judentum. Aber ist nicht ein gewisser Josef Ben Matthias mehr als andere verpflichtet, diesem Trieb zu widerstehen?« Der Großdoktor schweigt, aber kaum ist er verstummt, nimmt sein Feind, der Acher, seine Rede auf und sagt, stark atmend, schnaufend: »Ist nicht der besagte Doktor Josef in einem langen, nicht immer leichten Leben zu dem Resultat gelangt, daß Jahve nicht der Protektor des Staates Judäa ist, sondern eben der Logos, die große Vernunft?« Und kaum hat der Acher geendet, als, hart und scharf wie immer, Justus ergänzt: »Ein General, ein Dreiheller-Staatsmann mag sich verlocken lassen, die schöne, patriotische Geste zu machen: Sie, Josephus, sind Schriftsteller.« Und ihrer aller Worte beschließt die tiefe, raumfüllende Stimme Ben Ismaels: »Sie, mein Doktor Josef, wenn Sie groß und billig trotzen, sind ein ›Leugner des Prinzips‹. Sie verraten die Idee, derenthalb Sie soviel Unerträgliches auf sich genommen und von andern verlangt haben.«
  »Ich bin noch nicht alt genug«, wehrt sich Josef, »nur der Vernunft zu folgen. Das Leben ist nicht lebenswert, wenn man immer nur der Vernunft folgt.«
  »Sie sind immerhin fünfundvierzig Jahre alt«, meint höflich und ironisch der Acher. »Sie haben Gott lange genug mit Ihrem bösen Trieb gedient.« Und wieder fällt ihm Justus ins Wort: »Was Sie, Kollege Josephus, sich an Würde und solchem Unfug geleistet haben, reicht für das Leben eines Methusalem.« Und er kichert unangenehm.
  »Ich bin heute der einzige«, gibt Josef zu bedenken, »der den Römern zeigen kann, daß ein Jude Würde hat.«
  »Und was werden Sie gewonnen haben«, fragt höflich der Großdoktor, »wenn Sie das den Römern zeigen? Die ›Rächer Israels‹ werden Ihre Demonstration für eine Aufforderung nehmen, sich von neuem zu erheben. Glauben Sie, daß eine solche Erhebung heute sinnvoller wäre als vor fünfzehn Jahren, erfolgreicher?« Und der ungeduldige Justus konstatiert schneidend: »Mit Ihrer schönen Geste werden Sie sich wahrscheinlich eine halbe Stunde tiefer Befriedigung verschaffen und sich als großer Mann vorkommen. Aber Zehntausende werden für dieses halbstündige Glück des Schriftstellers Josephus mit
dem Tod oder einem Leben voll Elend zahlen.«
  Auf solche Art debattierte Josef mit seinen Freunden. Aber lange konnte er ihre Stimmen nicht festhalten. Wieder dehnte sich ihm endlos der Tag. Wenn es nur erst soweit wäre. Die Demütigung selber wird er ertragen, wie er so vieles andere ertragen hat. Und wenn sie die Zeremonie noch so lang hinzögern, wenn sie vom Palatin zur Höhe des Bogens einen noch so weiten Umweg machen, länger als eine Stunde können sie ihn nicht mitschleppen, und unter dem Bogen durchzugehen, das ist der Bruchteil einer Minute: aber jetzt auf den nächsten Morgen zu warten, das ist die Ewigkeit.
  Und wie er am Abend gesagt hatte: »O wäre es Morgen«, so sagte er jetzt zum Morgen: »O wäre es Abend.«
  Als dann der Abend dieses zähen, bleiernen Tages heranschlich, konnte er seine Qual nicht länger stumm herumtragen, er ging zu Mara. Sprach vor ihr.
  Sie saß still da, das Kind auf dem Schoß, und er ging auf und ab, und seine ganze, aufgestaute Pein quoll aus ihm heraus. Er suchte die einfachsten Worte, simple, aramäische, aber es wurden viele, und er kam nicht zum Ende. Er sagte ihr, was man von ihm verlangte, und warum er es tun müsse, und warum sich alles in ihm dagegen sträube. »Die, zu denen ich ja sagen und vor denen ich mich beugen soll«, empörte er sich, »das sind Leute, die den Tempel verbrannt haben und die vierundzwanzigtausend Priester gemetzelt. Und der ganze Tempelberg glühte im Feuer, und alle Höhen waren voll von Kreuzen, und unter der Erde, in den heimlichen Gängen, schlugen sie sich tot um ein Stück schimmeliges Brot. Der, vor dem ich mich beugen soll, ist der Sohn des Mannes, der, alt und geil, dich entjungfert hat und der, um uns beide zu verhöhnen, unsere erste, lächerliche Hochzeit ausrichtete. Soll ich jetzt, nach dreizehn Jahren, nochmals voll Verehrung ja zu alledem sagen? Gott will, daß ich es tue, die Vernunft verlangt es. Aber alles Blut steigt mir in den Kopf, wenn ich daran denke, daß ich unter dem Bogen durchgehen soll, und ich muß schlucken, daß ich fast ersticke, und ich kann es nicht. Und ich werde den Römern zum Hohn sein und den Juden zum Haß. Und Vernunft ist schön und gut, und einmal auch bekommt man seinen Lohn dafür, in fünfhundert Jahren. Und die Vernunft ist Gottes erstgeborenes Kind, aber Gott selber zahlt dafür erst, wenn man tot ist, und solange man lebt, hat man nichts dafür als Fußtritte und Dreck.« Er ging auf und ab vor Mara, er war dürr und schlaff, sein Kleid schleifte nach, seine Augen standen groß, trüb und fieberig in seinem hohlen Gesicht, Bart und Haar kräuselten sich schmutzig, verfärbt, und seine Stimme war so verfallen wie sein Antlitz.
  Mara saß still da, sie folgte ihm mit den Augen, während er hin und her ging. Sie war jetzt siebenundzwanzig Jahre alt, ein wenig dicklich, doch prall, voll Kraft und keineswegs verblüht. Das scheue, mondlich Strahlende ihrer ersten Jugend freilich war fort. Sie war durch vieles hindurchgegangen, hatte Leben und Tod gesehen, Jubel und Verzweiflung, Greise und Kinder, Judäa und die Welt. Auch diesen Doktor und Herrn Josef Ben Matthias hatte sie gesehen, wie ein großes Strahlen und Blühen von ihm ausging. Ein ganzes Volk hatte dieses Strahlen in sich aufgenommen, war durch ihn über sich hinausgehoben und glücklich geworden. Heute noch gilt er Hunderttausenden als ein großer Jude und ein großer Mann, in Judäa neigt man sich vor ihm, er ist Priester der Ersten Reihe, ein Auserwählter Gottes, und gleichzeitig römischer Ritter, Tischgenosse dreier Kaiser, und sein Bild steht im Ehrensaal. Aber da läuft er vor ihr auf und ab, jämmerlich, und schreit seine Pein hinaus wie ein gehetztes Tier. Gott hat ihm schwerere Prüfungen auferlegt als den andern. Sie versteht nicht alles, was er sagt, aber das versteht sie, daß er sehr elend ist. Sie hat ihn immer geliebt, sie weiß jetzt, daß sie ihn liebte, auch wenn sie ihn zu hassen schien, und ein süßes, schmerzvolles Mitleid füllt sie von der Sohle bis zum Haar. Brennend wünscht sie ihren Doktor und Herrn Josef strahlen zu sehen wie früher, erhöht über die andern, wie Saul erhöht war über die andern in Israel. Sie spürt mit ihm, wie groß und herrlich es wäre, dem römischen Kaiser zu trotzen, dem Judenfeind, dem Verbrecher, dem Hund. Aber wenn ihr auch die rechten Worte fehlen, sie weiß genau, worum es geht, daß es in Gottes Augen wohlgefällig ist, wenn er sich die strahlende Tat versagt und das Joch der Schmach auf sich nimmt.
  Der Mann, ihr Mann, spricht weiter, und seine Stimme, von der einmal soviel Zauber und Überredung ausging, ist hohl und rostig. »Was soll ich tun, Mara?« fragt er. »Wenn ich mich füge und das Vernünftige tue, dann scheine ich ein Verräter an meinem Volk, und Hunderttausende hassen und verachten mich. Wenn ich mich nicht füge, dann bin ich ein Verräter am wahren Israel, an Gott und an mir selber. Gib mir einen Rat, Mara.« Er schwieg, hockte nieder, schloß die Augen, erschöpft.
  Mara sagte: »Schwer muß es sein, den Übermütigen die Hand zu lecken und den Staub ihrer Füße zu küssen, und ich, Mara, könnte es nicht. Es wäre schön und meinem Herzen eine Freude, wenn du nein sagtest und dem Kaiser der Römer den Hohn in sein Gesicht zurückspieest; denn er ist der Sohn des Mannes, der mir Schmach antat und auf mir lag in seinem Hurenbett. Aber du bist weise, und ich, Mara, bin unweise, und wenn du sagst: ›Mein Wille will es, aber meine Vernunft verbietet es‹, dann muß es für dich ebenso schwer sein, zu trotzen wie nicht zu trotzen, da dein Wille stark ist, o Herr, und deine Vernunft sehr groß. Ich, Mara, dein Weib, habe dich gehört und bin stolz, daß du zu mir gesprochen hast. Aber ich kann dir nichts sagen, nur, daß mir deine Bedrückung auf dem Herzen liegt, als wäre es meine eigene. Geh nach rechts, mein lieber Herr, oder geh nach links: du bleibst mein Herr und Geliebter.«
  Josef hörte sie, und er schämte sich. Er hatte vor ihr alles ausgesagt, was ihn drückte. Eines aber hatte er verschwiegen: daß er, wenn er sich beugte, Furcht hatte vor dem Gesicht eines einzigen Menschen, dem seines Sohnes Paulus, und daß er, wenn er sich nicht beugte, Furcht hatte vor dem Gesicht eines einzigen Menschen, dem seines Freundes Justus.

Am andern Morgen stand Josef sehr früh auf. Er badete, salbte und parfümierte sich, der Friseur richtete ihm Bart und Haar. Er zog sich sorgfältig an, das Galakleid des Zweiten Adels mit dem Purpurstreif, den Goldenen Ring, den roten Überwurf. So ging er zum Palatin, wo der Festzug sich ordnen sollte.
  Der Zeremonienmeister wies ihm seinen Platz im Zug an. Langsam schritt die Prozession den Palatin hinunter und erstieg die kleine Höhe zum Triumphbogen. Überall waren Menschen, dicht gedrängt standen sie in den Vorhallen, auf den Dächern der Gebäude, hingen, klammerten mit Lebensgefahr an Säulen, an Vorsprüngen. Josef schaute bleich aus, doch gelassen und würdig; der kurze, jüdische Bart wirkte fremdartig zur römischen Galatracht. Das goldene Schreibzeug, das Titus ihm geschenkt hatte, trug er im Gürtel.
  Er hält den Kopf hoch, er sieht gerade vor sich hin. Sieht ein Meer von Köpfen, neue Wellen bei jedem Schritt. Er kann kein einzelnes Gesicht unterscheiden, aber immer wieder glaubt er das Antlitz seines Sohnes Paulus wahrzunehmen, den dünnen, bräunlichblassen Kopf auf dem langen Hals, die leidenschaftlichen, heftigen Augen, seine eigenen Augen, jetzt finster vor Zorn über die Schmach, die sein Vater ihm antut, finster vor Verachtung. Alle werden ihn verachten, die republikanischen Senatoren, Phineas, Dorion, und vielleicht sogar, trotz aller Vernunft, Marull. Am meisten aber wird sein Sohn Paulus ihn verachten.
  Schon ist man nah am Triumphbogen. Die Umschalung ist entfernt; stolz und weiß, aus parischem Marmor, hebt er sich, nicht sehr hoch, doch edel von Form, geschmückt mit Reliefs aus der Werkstatt des Bildhauers Basil. Basil hat wie stets gestöhnt und geschimpft über die unwürdige, unkünstlerische Eile, zu welcher der Monarch ihn nötigte; aber er scheint trotzdem gute Arbeit geleistet zu haben. Seit Wochen jedenfalls spricht Rom von seinen Reliefs, und Josef weiß seit langem, was sie darstellen: den Triumphzug des Titus, die Beute der besiegten Juden, die Tempelgeräte; vielleicht sogar hat der ironische Basil seinen, des Josef Kopf auf den Reliefs angebracht.
  Langsam erschreitet der Zug die kleine Höhe. Vor Josef schimmert der Bogen. Er ist hoch genug, daß man erhobenen Hauptes durchgehen könnte, aber Josef wird er niedrig wie das Joch der Schmach und Niederlage, zwei Lanzen in die Erde gesteckt, eine dritte darüber, so niedrig, daß man sich tief zur Erde beugen muß. Er muß sich beugen. Wieder einmal muß er die Niederlage seiner Juden feiern, sich neigen vor dem Sieger, verleugnen sein eigenes Volk. Und wenn seine Demütigung auch diesem Volke hilft, wer sieht das? Aber daß er es verleugnet, sehen alle, die Zehntausende ringsum auf den Dächern, und sein Sohn sieht es.
  Josef schreitet im Zug, Schritt setzt er vor Schritt. Er schreitet auf harten Quadern, wohlgeformten, geglätteten, auf denen es sich gut geht, und er hat keinen langen Weg mehr vor sich; fünfzig Schritte mögen es noch sein bis zum Bogen. Es werden fünfzig harte Schritte sein. Aber gehen wird er sie, beugen wird er sich. Es ist sein Vorsatz, er hat ihn hin und her gewälzt in diesen drei furchtbaren Tagen, es ist ihm auferlegt, und er hat es auf sich genommen. Und jetzt führt er es durch, jetzt zieht er hin, sich zu demütigen und sein Volk zu verleugnen.
  Es ist ein angenehmer Tag, nicht heiß; aber Josef schwitzt, er ist sehr blaß, das Innere seines Leibes ist ausgehöhlt. Er hat geglaubt, die Erwartung sei das Schwerste. Das war ein Irrtum. Wieviel Schritte mögen es jetzt noch sein? Fünfundvierzig. Nein, nur mehr vierzig. Den Fuß hoch: hat er denn Blei unter den Sohlen?, und er hebt den Fuß. Er malmt mit den Zähnen, er knirscht. Das darf er nicht, die um ihn könnten es hören.
  Plötzlich ist in seiner Vorstellung der Mann Bileam, ein großer Zauberer und Prophet unter den Heiden, der da auszog, das Volk Israel zu verfluchen, dem aber Jahve die Worte im Mund verkehrte, so daß er segnen mußte. Ich bin ein umgekehrter Bileam, denkt er. Ich ziehe aus, um meinem Volk Gutes zu tun, und allen scheint, ich verleugnete es. Um sich das Gehen zu erleichtern, klammert er sich an die Verse, die uralten, die die Schrift dem Bileam in den Mund legt, und an ihren Rhythmus: »Wie mag ich verwünschen / Schritt / wen Gott nicht verwünscht / Schritt / und wie mag ich schelten / Schritt / wen Jahve nicht schilt / Schritt / Sieh da ein Volk / Schritt / das abseits wohnt / Schritt / und unter die andern / Schritt / zählt es sich nicht / Schritt / Wer mißt den Staub Jakobs / Schritt / wer Israels Heerschar / Schritt / Wie schön sind deine Zelte, Jakob / Schritt / deine Wohnungen, Israel / Schritt / Wer dich segnet, ist gesegnet, / Schritt / Wer dir flucht, ist verflucht / Schritt / Ich sehe ihn / Schritt / doch nicht schon jetzt / Schritt / ich schaue ihn / Schritt / doch nicht nahe / Schritt / Es strahlt auf ein Stern aus Jakob.«
Und nun sind es höchstens noch zwanzig Schritte.
  Es ist plötzlich, sicherlich ist das Weisung, leerer Raum um ihn, in dem gedrängten Zug geht er ganz allein. Die Beine bis herauf zu den Hüften hängen an ihm leblos, schwer; gleich wird er, so stark er es will, den Fuß nicht mehr heben können. Aber er hebt ihn. Ja, sein Gesicht bleibt dabei ganz ruhig; die Zähne freilich preßt er so heftig zusammen, daß die Kaumuskeln sich aus den Wangen herauswulsten. Und er hebt den Fuß nochmals, und nochmals, und leerer Raum ist vor ihm, und leerer Raum ist hinter ihm.
  Nein doch. Hinter ihm, in kleinem Abstand, jede seiner Bewegungen nachäffend, geht des Kaisers Zwerg, der dicke, behaarte, bösartige, närrische Silen.
  Josef weiß, alle die Tausende schauen jetzt nur auf ihn, warten mit höhnischer Spannung darauf, wie er sich unters Joch ducken wird. Ein gelles, ungeheures Pfeifen wird im nächsten Augenblick anheben und durch ganz Rom gehen, ein Orkan von Hohn und Gelächter. »Wie hat er sich geduckt. Wie tief und sklavisch hat er sich geduckt. Was für Schisser und feige Hunde sind diese Juden. Was für ein feiger Hund ist dieser Jud Josephus.« Und hunderttausend Juden in Rom und in zwei Wochen fünf Millionen Juden überall in der Welt werden das Gesicht verzerren und fluchen: »Wie hat dieser Lump Josef Ben Matthias wiederum sein Judentum besudelt und die ganze Judenheit. Was für ein Lump und feiger Hund ist dieser Josef Ben Matthias.« Und alle, Juden wie Römer, werden grinsen, höhnen, fluchen: »Ho, Josef der Hund. Ho, Josef der Lump.«
  Vor ihm heben sich die lateinischen Buchstaben des Bogens, eine schlichte Inschrift an Stelle der prunkvollen früheren: »Senat und Volk von Rom dem Gotte Titus, Sohn des Gottes Vespasian.« Er liest die lateinischen Worte, aber gleichzeitig in ihm denkt es, aramäisch: Jetzt stehenbleiben dürfen, umkehren. Wie glücklich waren jene, die damals die Waffen gegen Rom hoben und den Cestius Gall totschlugen und seine Legion. Verrückt waren sie und glücklich. Selig sind die Armen im Geiste, selig die Unvernünftigen. Wie glücklich war ich selber, als ich in Galiläa einherzog, vor den Aufständischen, auf meinem Pferde Pfeil. O meine Kraft, o meine Freude, o meine Jugend, und ich bin noch nicht alt.
  Nur die letzten Schritte noch trennen ihn von dem Bogen. Schon sieht er an den Innenwänden die verhaßten Steinbilder, die beiden vielbesprochenen Reliefs, auf der einen Seite die erbeuteten Geräte, hoch erhoben, auf der andern Titus auf dem Triumphwagen. Schon gibt ihm die Wölbung des Bogens den Blick frei auf das Capitol, das sich am andern Ende des Heiligen Weges erhebt, dem Jupiter errichtet von dem Geld der unterworfenen Juden: Rom triumphiert über Judäa.
  In diesem Augenblick gewahrt er, und zwar auf der Tribüne vor dem schmalen Gebäude der Neuen Münze, das Gesicht seines Sohnes Paulus. Sogleich wieder war es untergetaucht in der Flut der andern Gesichter. Aber Josef hatte es deutlich gesehen, bräunlichweiß, dünn, fast durchsichtig schimmernd, dabei verzerrt von Haß und Verachtung. Auch daß Paulus gegen seine Gewohnheit den Mund weit aufriß, hatte er gesehen. Ja, so ist es, sein Sohn Paulus schreit wie die andern. Nein, nicht wie die andern. Die jauchzen: »O du sehr guter, sehr großer Kaiser und Gott Titus.« Sein Sohn Paulus aber, Josef weiß es genau, schreit: »Mein Vater der Lump, mein Vater der Hund«, und sein Gesicht ist entstellt und scheußlich.
  Josef steht vor dem Bogen. Für einen Augenblick setzt das Geschrei ringsum aus; der Zug selber und die Tausende von Zuschauern sind erstarrt in Erwartung. Ein unzähmbarer Drang packt Josef, nicht weiterzugehen, umzukehren, sein Schreibzeug dem Zwerg in die häßliche Fratze zu schlagen. Gott hat verlangt, denkt es in ihm während dieses endlos langen Augenblicks, daß Abraham seinen Sohn opfere. Seinen Sohn opfern, das kann man. Aber so handeln, daß das Gesicht des eigenen Sohnes sich verzerrt wie dieses da, das geht über die Kraft, das darf man keinem Vater zumuten. Nein, denkt es in ihm, ich kann das nicht. Ich brenne ja am ganzen Leib, und vor mir ist Feuer, und hinter mir ist Wasser, und ich gehe nicht weiter, und jetzt kehre ich um.
  Unsinn. Woher will ich denn wissen, was Paulus geschrien hat? Er hat geschrien, weil die andern geschrien haben, und jedes Gesicht verzerrt sich beim Schreien. Ich rede mir was ein, weil ich eine Ausflucht haben, weil ich umkehren will. Großartig wäre das ja, umkehren. Labsal und Kühlung wäre es, süß und ehrenvoll wäre es.
  Verbrecherisch unvernünftig wäre es, ruft er sich scharf zurück. Es ist nicht leicht, vernünftig zu sein, und es bringt keinen Dank. Aber die Vernunft ist Gottes erstgeborenes Kind, und ihr hange ich an.
  Und der Weltbürger Josef Ben Matthias, genannt Flavius Josephus, wissend, daß er die Achtung der Römer und der Juden für immer zertritt und für immer die Liebe seines Sohnes Paulus, nahm sein Herz in beide Hände, riß seinen Willen zusammen und tat den letzten Schritt. Neigte, wie es Vorschrift war, tief das verhüllte Haupt, führte die Hand zu dem bärtigen, jüdischen Mund, warf dem Bild des vergotteten Titus den Kuß zu und ging durch die Wölbung des Bogens, über sich und zu beiden Seiten die triumphierende Göttin Rom, den Siegeswagen des Kaisers, die schimpflich gefangenen Juden.
  Und hinter ihm der Zwerg Silen ahmte jede seiner Bewegungen nach.


Hier endet der zweite der drei Romane über den Geschichtsschreiber Flavius Josephus.





Der Roman »Josephus« sollte ursprünglich nur zwei Teile umfassen. Der zweite, abschließende Band war im Jahr 1932, als ich den ersten veröffentlichte, bis zu seinem Ende entworfen und zu einem großen Teil ausgeführt.
  Als aber im März 1933 die Nationalsozialisten mein Haus in Berlin plünderten, vernichteten sie das ausgeführte Manuskript dieses Schlußbandes sowie das vorhandene wissenschaftliche Material.
  Den verlorenen Teil in der ursprünglichen Form wiederherzustellen erwies sich als unmöglich. Ich hatte zu dem Thema des »Josephus«: Nationalismus und Weltbürgertum manches zugelernt, der Stoff sprengte den früheren Rahmen, und ich war gezwungen, ihn in drei Bände aufzuteilen.
L.F.