Der zweite Band der »Josephus«-Trilogie zeigt Josef Ben
Matthias, der sich als Schriftsteller nach dem römischen
Herrscherhause Flavius Josephus nennt, im vollen Glanze
seines Ruhms. Der ehrgeizige, leidenschaftliche und erfolg
gewohnte Mann hat viel erreicht: er ist Günstling des Kai
sers Titus, Mitglied des Zweiten Römischen Adels, seine
Bildsäule steht unter den Skulpturen der großen Schrift
steller im Ehrensaal des Friedenstempels; aber gleichzeitig
findet er die Gegensätze seiner Zeit in sich vereinigt. Er will
beides sein: Jude und Römer, Israelit und Weltbürger. An
diesem Ideal zerbricht seine Ehe mit der schönen Ägypterin
Dorion, und am Schicksal seiner Söhne muß er schmerzhaft
erfahren, daß die harte, nüchterne römische Realität seinem
ungestümen Drang nach Geltung und Erfolg Grenzen setzt.


Lion Feuchtwanger

Die Söhne








Roman


















AUFBAU-VERLAG



Die „Josephus“-Trilogie umfaßt die Romane


DER JÜDISCHE KRIEG
DIE SÖHNE
DER TAG WIRD KOMMEN

„Der jüdische Krieg“ erschien erstmalig im Jahre 1932, „Die Söhne“ im Jahre 1935, „Der Tag wird kommen“ in englischer Übersetzung 1942,
in deutscher Sprache 1945











5. Auflage 1989
Alle Rechte Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
© Marta Feuchtwanger 1962
Einbandgestaltung Heinz Unzner
Karl-Marx-Werk, Graphischer Großbetrieb, Pößneck V 15/3o
Printed in the German Democratic Republic
Lizenznummer 301.120/113/89
Bestellnummer 611362 5
I-III 03150





Feuchtwanger, Ges. Werke
ISBN 3-351-00623-3
Bd. 2-4
ISBN 3-351-00681-0



ERSTES BUCH

Der Schriftsteller





      ls der Schriftsteller Flavius Josephus von seinem Sekretär erfuhr, der Kaiser liege im Sterben, gelang es
      ihm, sein Gesicht ruhig zu halten. Er zwang sich sogar, zu arbeiten wie sonst. Es war freilich gut, daß der Sekretär am Schreibtisch saß, während Josef in seinem Rücken auf und ab ging. Den Anblick des ruhigen, ironisch höflichen Gesichts hätte Josef heute nicht ertragen. Wie immer, er beherrschte sich, hielt durch, erklärte erst nach einer Stunde Arbeit, es sei für heute genug.
  Sowie er aber allein war, erhellten sich seine heftigen, langen Augen, er holte tief Atem, strahlte. Vespasian im Sterben. Sein Kaiser. Hörbar vor sich hin sagte er es, auf aramäisch, mehrmals, voll tiefer Befriedigung: »Jetzt stirbt er, der Kaiser. Jetzt stirbt er, der Messias, der Herr des Erdkreises, mein Kaiser.«
  Ihm war es erlaubt, zu sagen: mein Kaiser. Er war mit ihm verknüpft seit ihrer ersten Begegnung, als er, der gefangene General der aufständischen jüdischen Armee, nach dem Fall seiner letzten Festung verhungert und erschöpft vor diesen Römer Vespasian gebracht wurde. Josefs Lippen verpreßten sich, dachte er an jene Begegnung. Damals hatte er den Mann als den Messias begrüßt, als den künftigen Kaiser. Es war eine peinigende Erinnerung. Hatte damals das Fieber der unsäglichen Entbehrung aus ihm gesprochen? War es nur ein schlaues Manöver gewesen, ihm vom Trieb der Selbsterhaltung eingegeben? Unnütze Grübelei. Die Ereignisse haben ihn bestätigt, Gott hat ihn bestätigt.
  Er sah ihn vor sich, den alten Mann, der jetzt im Sterben lag, den harten, langen Mund in dem mächtigen, kahlen Bauernschädel, die schlauen, jovialen, unerbittlichen Augen. Ist er diesem Kaiser zugetan? Er bemüht sich, gerecht zu sein. Er, der jüdische Feldherr, ist zu den Römern übergegangen, während diese sein Land bekriegten. Er hat immer wieder zwischen Rom und seinen Landsleuten vermittelt trotz der ungeheuren Schmähungen von beiden Seiten. Er hat dann durch sein großes Buch vom jüdischen Krieg sein Teil dazu beigetragen, die Juden der östlichen Reichshälfte zu besänftigen. Und das war nötig; denn die waren nach der Zerstörung der Stadt und des Tempels gefährlich geneigt, gegen die Sieger von neuem loszuschlagen. Hat der Mann, der jetzt starb, ihm diese großen Dienste gelohnt? Er hat ihm ein Ehrenkleid gegeben, ein Jahresgehalt, Landbesitz, den Purpurstreif und den Goldenen Ring des Zweiten Adels, dazu freie Wohnung auf Lebenszeit in dem Haus, das früher er selber bewohnt hatte. Ja, wenn man mit flüchtigem Auge hinsah, dann hat der römische Kaiser Vespasian den jüdischen Staatsmann, General und Schriftsteller Josef Ben Matthias bezahlt, auf den Sesterz genau. Dennoch sind, nun Josef mit dem Sterbenden Abrechnung hält, seine Augen finster, sein hageres, fanatisches Gesicht voll Haß. Er hebt das goldene Schreibzeug, das er, ein Geschenk des Kronprinzen Titus, im Gürtel trägt; mechanisch, mit kleinen Schlägen klopft er auf das Holz des Tisches. Der Kaiser hat ihn wieder und wieder auf eine besondere, sehr bittere Art gedemütigt. Hat ihm das Mädchen Mara hingeworfen, nachdem er selber sich an ihr sattgeliebt hatte, hat ihn gezwungen, diesen seinen Wegwurf zu heiraten, trotzdem er wußte, daß das für ihn Ausstoßung aus dem Priesterstand und Bann bedeutete. Oft und abermals, solange Josef in seiner Umgebung war, hat er ihn mit derben, bäurischen, bösartigen Späßen gequält, vielleicht weil er wußte, daß Josef über Mächte und Eigenschaften verfügte, die ihm selber fremd und versagt waren. Alles in allem hat der Kaiser den Josef so behandelt, wie das hochmütige Rom eben immer den Osten traktierte. Der Osten war älter, länger zivilisiert, hatte tiefere Bindungen zu Gott. Man fürchtete diesen Osten, er zog einen an und war einem unheimlich. Man brauchte ihn, nützte ihn aus und zeigte ihm zum Dank und zur Rache bald Wohlwollen, bald Verachtung.
  Josef dachte an seine letzte Begegnung mit dem Kaiser. Er preßte die Zähne aufeinander, daß die Jochbogen seines knochigen, blaßbraunen Gesichts doppelt stark hervortraten. Es war bei dem großen Empfang gewesen, den Vespasian unmittelbar vor Antritt seiner letzten, erfolglosen Erholungsreise gegeben hatte. »Bekommen wir jetzt bald die Neufassung Ihres ›Jüdischen Krieges‹, Doktor Josef?« hatte er ihn gefragt, eine Menge Menschen hatten zugehört. Und »Seien Sie diesmal gerechter mit Ihren Juden«, hatte er hinzugefügt mit seiner rauhen, knarrenden Stimme. »Ich gestatte Ihnen, gerecht zu sein. Wir können uns das jetzt leisten.« Ließ sich ein frecherer Hohn denken? War es billig, ihn als gekauftes Werkzeug abzutun, sein Buch als läppische Schmeichelei? Josefs Gesicht rötete sich, heftiger mit dem Schreibzeug klopfte er auf den Tisch. Er hat den hochmütig behaglichen Tonfall des Alten genau im Ohr. »Ich gestatte Ihnen, gerecht zu sein.« Es ist gut, daß der Mund, der solche Worte sprach, keine Gelegenheit mehr haben wird, ähnliche zu sprechen. Er malt sich aus, wie dieser Mund jetzt schmal und verzerrt ist, weit offen vielleicht oder auch fest zugesperrt, krampfig bemüht jedenfalls um letzten Atem. Er wird keinen leichten Tod haben, sein Kaiser, er ist so voll Leben, es wird ihn sicher hart ankommen, dieses Leben zu lassen. Es wäre auch schwer zu ertragen, wenn diesem Manne ein leichter Tod vergönnt wäre.
  »Ich gestatte Ihnen, gerecht zu sein.« Schön, sein Buch war dazu angetan, die römische Herrschaft zu festigen, die Juden des Ostens von einem neuen Aufstand abzuhalten. War das nicht im höchsten Sinne »gerecht«? Die Juden waren endgültig besiegt. Ihren großen Krieg so darzustellen, daß die Aussichtslosigkeit eines neuen Aufstands jedermann sichtbar wurde, war das nicht verdienstvoll im jüdischen Sinne noch mehr als in dem der Römer? Ach, er weiß, welche Lockung es ist, sich nationalem Hochgefühl hinzugeben. Er selber hat sich davon tragen lassen, als der Aufstand losbrach. Aber daß er damals, die Nutzlosigkeit der wilden und großen Unternehmung erkennend, den patriotischen Brand in sich austrat und der besseren Vernunft folgte, das, wahrhaftig, war die beste Tat seines Lebens und, im höchsten Sinne, gerecht.
  Wer denn hätte das Buch über den jüdischen Krieg schreiben sollen, wenn nicht er? Er hat diesen Krieg von Jerusalem her und von Rom her erlebt. Er hat sich nichts geschenkt, er hat den Krieg mit angesehen bis zu seinem bitteren Ende, um sein Buch zu schreiben. Er hat die Augen nicht zugemacht, als man Jerusalem niederbrannte und den Tempel, das Haus Jahves, den stolzesten Bau der Welt. Er hat seine Landsleute sterben sehen in Cäsarea, in Antiochia, in Rom, wie sie in der Arena sich selber bis zum Tod zerfleischten, wie sie ertränkt, verbrannt, von wilden Tieren gehetzt wurden, zum Spaß johlender Zuschauer. Er hat es mit angesehen, als einziger Jude er, von der kaiserlichen Loge aus, wie die Zerstörer Jerusalems im Triumph in Rom einzogen und wie sie die besten der Verteidiger mitschleppten, gegeißelt, jämmerlich, zum Tode bestimmt. Er hat das durchgestanden. Es war seine Bestimmung, das alles aufzuschreiben, wie es war, auf daß man den Sinn dieses Krieges erkenne.
  Man kann die Geschichte des Krieges kühner schreiben, als er es getan hat, klarer, eindeutiger, freier. Er hat Konzessionen gemacht, hat manches große Wort getilgt, manches leidenschaftliche Bekenntnis, weil es im Rom Vespasians hätte Anstoß erregen können. Aber was war besser, Kompromisse schließend einen Teil der Wirkung zu erreichen oder prinzipientreu gar keine?
  Welch ein Segen, daß jetzt der Alte stirbt und seinem Sohne den Platz frei macht, diesem Titus, dem Freunde Josefs, dem Freunde der Jüdin Berenike. Die Jüdin wird in den Palatin einziehen, und dann, ja, du sehr guter, sehr großer Kaiser Vespasian, dann erst wird mein »Jüdischer Krieg« seine ganze »gerechte« Wirkung tun. Josef läuft hin und her, schmeckt seinen Erfolg im vorhinein ganz aus. Mechanisch greift er nach dem sehr schwarzen Bart, der dreieckig in starren, gepflegten Locken von den ausrasierten Lippen herunterzackt. Er summt vor sich hin in jenem uralten Singsang, in dem er in seiner frühen Jugend in den Lehrstunden der Universität Jerusalem die Sprüche der Bibel zu zitieren gelernt hat. Sein hageres Gesicht strahlt Hochmut und Glück.
  Er kann zufrieden sein mit dem Erreichten. Er hat durch zahllose Strapazen hindurch müssen, das Schicksal hat ihn heftiger geschaukelt als die meisten andern, aber im Grunde hat jede letzte Welle ihn höher getragen. Heute, mit seinen zweiundvierzig Jahren, in seiner besten Kraft, weiß er genau, was er kann. Es ist viel. Er war Soldat, er war Politiker: jetzt ist er Schriftsteller, und das von Herzen, ein Mann, der Gedanken aussinnt, die den Soldaten und den Politiker leiten. Man trägt ihm scharfe, hämische Worte seiner griechischen Kollegen zu, sie machen sich lustig über sein dürftiges Griechisch. Sollen sie. Seine Leistung steht da, die Welt hat ja dazu gesagt. Wenn er aus seinen Büchern vorliest, dann drängt sich trotz seines schlechten Griechisch die ganze große Gesellschaft Roms, ihn zu hören. »Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und ich bin einer von ihnen«, jenes uralte, hochmütige Wort eines verschollenen Priesters klingt in ihm auf. Er ist zufrieden.
  Er ist nicht zufrieden. Seine langen, heftigen Augen werden finster. Er denkt an die, die ihn nicht gelten lassen.
  An jenen Justus zuerst, seinen Freundfeind, Justus von Tiberias, der ihm seit seinen Anfängen als ein ewiger Vorwurf im Wege steht. Worin jetzt, nachdem man politisch unterlegen ist, die Aufgabe eines jüdischen Schriftstellers besteht, darüber waren sie beide sich klar. Es gilt, den Sieger Rom von innen her zu besiegen, im Geiste. Jüdischen Geist in seiner ganzen Großheit vor das mächtige Rom, vor die bewunderten, gehaßten Griechen so hinzustellen, daß sie sich ihm hingeben, das ist heute des jüdischen Schriftstellers Sendung. Von dem Augenblick an, da er zum erstenmal vom Capitol aus über die Stadt Rom hinsah, hat Josef das gespürt. Doch nicht er allein hat so gespürt, sondern, leider, eben auch jener Justus. Ja, jener Justus hat, sehr frühzeitig, klare Gedanken aus seinen Gefühlen gemacht. »Gott ist jetzt in Italien.« Josef weiß nicht mehr genau, wer dieses Wort zum erstenmal gesagt hat, er selber oder der andere. Ohne den andern jedenfalls wäre es nicht in der Welt.
  Wie immer, nun hat ihrer beiden Arbeit das gleiche Ziel: der westlichen Welt das Wesen des Judentums darzustellen, seinen schwierigen, verkannten Geist, so oft verborgen unter scheinbar aberwitzigen Bräuchen. Nur eben ist die Methode des Justus viel härter, gerader. Er will nicht begreifen, der Mensch, daß man an Römer und Griechen ohne Kompromisse nicht herankommt. Als Josef glücklich so weit war, daß er die sieben Bücher seines »Jüdischen Krieges« abgeschlossen vorlegen konnte, da, inmitten des stürmischen Beifalls der Hauptstadt, hat Justus nichts für ihn gehabt als ein tödlich freches Lächeln. »Ich wüßte niemand, der Sprungbretter für eine gute Karriere besser fabrizierte als Sie«, damit hatte er Josefs Lebensarbeit abgetan. Und dann hat er sich, dieser dreisteste aller Menschen, der doch ohne des Josef Zutun überhaupt nicht mehr in der Welt wäre, darangesetzt, sein, des Josef Werk noch einmal zu schreiben, einen »Jüdischen Krieg«, wie Justus ihn sieht. Mag er. Josef hat keine Angst davor. Das Buch wird werden wie die andern paar schmalen Bücher, die Justus bisher veröffentlicht hat, scharf, klar, geschliffen und ohne Wirkung. Sein eigenes Buch aber, das Buch mit dem dürftigen Griechisch und den Konzessionen, hat die Probe bestanden. Hat gewirkt, wird wirken, wird bleiben.
  Und jetzt genug von Justus. Der ist weit weg, in seinem Alexandrien, und soll dort bleiben. Josef setzt sich an den Schreibtisch, nimmt das Manuskript des Phineas auf, des Sekretärs. Wieder wie so oft verdrießt ihn die flüchtige, unordentliche Schrift des Mannes. Gewiß, es kommt bei dieser Arbeit auf das Technische des Schreibens nicht an; allein Josef ist gewohnt an die Sorgfalt, mit der man die Schriftrollen der hebräischen Gesetzbücher herstellt, und er ärgert sich.
  Er überfliegt das Papier. Meisterhaft ist es, das Griechisch dieses Phineas, keine Frage. Josef ist angewiesen auf seine Hilfe. So lebendig sein Aramäisch und sein Hebräisch ist, seinem Griechisch fehlen die Nuancen. Er hat den Phineas als Leibeigenen gekauft, für teures Geld. Er hat bald gesehen, daß er keinen zweiten Mitarbeiter finden könnte, so tauglich wie ihn. Niemand versteht besser als er, was Josef will. Bald aber auch hat er erkennen müssen, daß dieser Phineas, stolz auf sein Griechentum, im Grunde alles Jüdische verachtet. Der Sekretär zeigt es ihm auf seine Art. Oftmals, höhnisch geradezu, führt er ihm vor, wie geschmeidig er sich seinen Gedankengängen anzupassen vermag, und gibt einer Wendung jenen letzten Schliff, den Josef ersehnt. Aber dann wieder, gerade wenn Josef sein Herz daran hängt, einen Gedanken, ein Gefühl mit letzter Feinheit auszudrücken, dann versagt er sich, der Tückische, stellt sich dumm, sucht eifrig, beflissen und findet nichts, genießt es aus, wie Josef sich um das ersehnte Wort abzappelt, und läßt ihn am Ende im Stich in seiner Plumpheit. Am liebsten, trotz der Dienste, die er ihm leistet, jagte er ihn aus dem Hause.
  Aber es geht nicht. Er kann ihn so wenig loswerden wie den Justus. Dorion, seiner Frau, ist der Mensch unentbehrlich geworden, sie hat ihn zum Erzieher des kleinen Paulus bestimmt, und auch der Junge hat sich in den Griechen vergafft, rettungslos.
  »Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und ich bin einer von ihnen.« Alle preisen ihn glücklich. Er ist ein großer Schriftsteller in einer Welt, die den Schriftsteller unmittelbar nach dem Kaiser ehrt. Aber dieser große Schriftsteller kann heute nicht mehr erreichen, was er damals erreichte, als er in seinen Anfängen war und noch keineswegs erprobt. Damals hatte er die Kraft, die Fremdheit wegzuschmelzen zwischen sich und Dorion. Damals, in Alexandrien, sind sie in eines geflossen, er und dieses Mädchen Dorion, seine Frau.
  Wie weit das hinter ihm liegt. Vieles hat sich verändert in diesen zehn Jahren. Sie ist wieder die ägyptische Griechin geworden von früher, und er ist der Jude.
  Aber jetzt, nun Titus Kaiser wird, nun der große Umschwung kommt, kann es nicht wieder werden wie in Alexandrien? Dorion liebt den Erfolg. Dorion kann den Mann nicht trennen von seinem Erfolg. Sicher weiß sie noch nichts von dem bevorstehenden Tod des Kaisers. Er wird hinübergehen zu ihr, um ihr selber die glückliche Wendung mitzuteilen. Sie wird dasitzen, schmal, lang – ihr Leib ist zart geblieben, nicht entstellt, trotzdem sie ihm Kinder geboren hat –, den gelbbraunen Kopf wird sie nach hinten werfen, leicht mit der stumpfen Nase wird sie schnuppern. Mit den dünnen Händen, mechanisch, wird sie ihren Kater Chronos streicheln, ihren geliebten Kater, den er nicht leiden kann und den sie für einen Gott hält, wie sie ihre glücklich verreckte Katze Immutfru für einen Gott gehalten hat. Er begehrt sie heftig, wie er sie sich so vorstellt, den Mund mit den kleinen Zähnen töricht halboffen vor Überraschung, nachdenklich, in der Haltung eines kleinen Mädchens. Dorion ist ein Kind, sie hat die Gabe, sich zu freuen, ungehemmt wie ein Kind. Man sieht, wie Freude in ihr entsteht, wie sie wächst, wie erst ihr Mund sich freut, dann die Augen, dann ihr ganzes Gesicht, endlich ihr ganzer Leib. Sie ist herrlich, wenn sie sich freut.
  Er wird trotzdem nicht zu ihr gehen und sie benachrichtigen. Es wäre ein zu billiger Triumph, es wäre ein Eingeständnis, wie sehr er sie braucht, und er muß behutsam sein vor ihr, er darf sich nicht gehenlassen, er hat gewisse Wünsche, die sie ihm versagt. Ihr sein großes Verlangen zeigen hieße sich ihr unterlegen zeigen.
  Aber viel Überwindung kostet es ihn, nicht zu ihr zu gehen. Er hat zahllose Frauen gehabt, er sieht jung aus und nach etwas Besonderem, er ist kräftig, elegant, Ruhm und Erfolg ist um ihn, die Frauen fliegen ihm zu. Doch erst seitdem er Dorion kennt, weiß er, was Liebe heißt und was Begehren heißt, und alle Verse des Hohenliedes beziehen ihm Sinn nur mehr aus ihr. Ihre Haut duftet wie Sandelholz, ihr Atem aus dem vorstehenden, begehrlichen Mund ist wie die Luft Galiläas im Frühling. Es gibt wenig Frauen, die er länger lieben kann als die Zeit, in der er körperlich mit ihnen zusammen ist. Auf alle Frauen in der Welt könnte er verzichten: aber daß er leben sollte ohne diese Frau Dorion, kann er sich nicht ausdenken.
  Sie gehören zusammen. Sie ist die Frau seiner Rippe, und sie spürt es. Was alles hat sie ihm geopfert. Kurz nach ihrer Hochzeit schon hat er sich von ihr trennen müssen, um in Begleitung des Kronprinzen vor Jerusalem zu ziehen und den Fall der Stadt mit anzuschauen. Wie hat sie sich gehalten, als er endlich zurückkam, nur um sie von neuem wegzuschicken. Zeitlebens wird er sie vor sich sehen, wie sie damals dastand, schweigend. Leicht und rein hob sich auf ihrem steilen Kinderhals der lange, dünne Kopf mit dem großen Mund. Sie schaute ihn an mit ihren meerfarbenen Augen, die zusehends dunkler wurden. Er sah ihre Haut, er wußte, daß diese Haut süß, glatt und sehr kalt war. Sie war alle Süßigkeit der Welt, diese seine Frau Dorion, und endlos hat sie ihn erwartet, und nun war er zurück, und sie stand vor ihm, und sie war ganz Verlangen nach ihm. Da war aber sein Buch, dieses verfluchte Buch, um dessentwillen er so vieles auf sich genommen hat, und wenn er bei ihr blieb, dann konnte er es nicht schreiben, und wenn er es jetzt nicht schrieb, dann entflog es ihm für immer. Er mußte ihr das sagen, er mußte sie wegschicken. Sie aber stand da, hörte ihn, hielt ihn nicht, sagte kein Wort des Widerspruchs. Nicht einmal, daß sie ihm einen Sohn geboren hatte in der Zeit, da er vor Jerusalem gewesen war, sagte sie ihm.
  Sehr anders war die Dorion von heute als jene Dorion. Während der fünfzehn Monate, da er sein Buch schrieb, dieses gesegnete, verfluchte Buch, hatte sie sich zurückverwandelt in die spöttische, hochmütige Dame von früher, jenes alexandrinische Mädchen, kühl und neugierig, angefüllt mit den leichtfertigen Gesichten der griechischen Fabelwelt. In solcher Gestalt war sie zu ihm gekommen, als er sie nach der Vollendung seines Buches zurückgerufen hatte. Sie war streitbar geworden, kritisch. Sie habe, hatte sie ihm erklärt, nun die schimpfliche Judensteuer eingeführt sei, ihren Übertritt zum Judentum rückgängig gemacht, und sie denke nicht daran, den kleinen Paulus beschneiden zu lassen. Es hatte wilden Streit gegeben. Er wollte es nicht dulden, daß man seinen Sohn als Griechen erziehe, daß sein Sohn ausgeschlossen bleiben sollte aus der Gemeinschaft der Erwählten, Gottgläubigen. Aber seine Ehe als die eines römischen Vollbürgers mit einer Frau ohne römisches Bürgerrecht war vor dem Gesetz nur eine Ehe halber Legalität. Paulus unterstand der Vormundschaft der Mutter, war ägyptischer Grieche wie sie. Josef konnte ihn ohne ihre Einwilligung nicht zum Juden machen. Es wäre ihm nicht schwergefallen, seiner Ehe Vollgültigkeit zu erwirken, der Junge wäre dadurch zum Mitglied des Zweiten Adels geworden wie er selber. Wie oft hatte er Dorion bestürmt, darein zu willigen. Er wollte alles vorbereiten, es hätte sie einen einzigen Gang vor Gericht gekostet. Dorion lehnte ab. Damals in Alexandrien hatte sie darauf gedrängt, daß er das Bürgerrecht erwerbe. Sie hatte es zur Vorbedingung ihrer Ehe gemacht, daß er das Unmögliche erwirke und binnen zehn Tagen römischer Vollbürger sei. Jetzt zog sie es vor, Bürgerin Zweiter Klasse zu bleiben, nur damit der Junge auch weiter ihrer Vormundschaft unterstehe und kein Jude werde.
  Paulus. Des Josef ganzes Herz hängt an dem Jungen. Aber Paulus ist der Sohn seiner Mutter. Er schaut auf zu dem Griechen, dem Leibeigenen, dem erst Josef die Freiheit geschenkt hat. Ihn liebt er, diesen verfluchten Phineas. Wenn Josef an ihn heranwill, sperrt er sich zu, ist fremd und höflich, wahr scheinlich schämt er sich seines Vaters, weil der ein Jude ist. Er selber ist ein Grieche, der kleine Paulus. Allein wenn jetzt, unter Titus, alles sich ändern wird, wird Josef dann nicht endlich die Wand niederreißen können zwischen sich und dem Jungen? Es muß ihm glücken. Er wird noch höher steigen, noch mehr Erfolg um sich häufen, und Dorion wird sich überzeugen lassen, wird ihm helfen. Sie wird begreifen, daß jetzt der Schriftsteller Flavius Josephus die Zukunft seines Sohnes nicht mehr gefährdet, auch wenn er ihn zum Juden macht.
  Josef ist voll Zuversicht. Er ist zweiundvierzig Jahre alt, in seiner besten Kraft. Vespasian stirbt. Kaiser wird der Mann Titus, der Josefs Freund ist. Josef wird durchsetzen, was er will, wird aus seinem Leben austilgen, was ihn stört. Wird seine »Universalgeschichte des jüdischen Volkes« schreiben, das Buch, von dem er träumt, und Justus wird schweigen und keine Einwände wissen. Auch Dorion wird er von neuem zu sich zwingen, und seinen Sohn wird er zum Juden und Weltbürger machen, zu seinem ersten Jünger und Apostel. Josef hat das Pergament mit den unordentlichen Schriftzeichen des Phineas aufgerollt. Phineas, der Grieche, der Judenhasser, ist ihm im Wege, er muß fort. Es wird schwer sein, sich ohne ihn zu behelfen. Josef hat einen Psalm geschrieben, den Psalm des Weltbürgers. Leise vor sich hin spricht er die hebräischen Verse:

»O Jahve, gib mir mehr Ohr und mehr Auge,
Die Weite deiner Welt zu sehen und zu hören.
O Jahve, gib mir mehr Herz,
Die Vielfalt deiner Welt zu begreifen.
O Jahve, gib mir mehr Stimme,
Die Größe deiner Welt zu bekennen.

Merkt auf, Völker, und hört gut zu, Nationen.
Spart nicht, spricht Jahve, mit dem Geist, den ich über
euch ausgoß,
Verschwendet euch, geht die Stimme des Herrn, Denn ich speie aus denjenigen, der knausert.


Und wer eng hält sein Herz und sein Vermögen, Von dem wende ich mein Antlitz.


Reiße dich los von deinem Anker, spricht Jahve.
Ich liebe nicht, die im Hafen verschlammen.
Ein Greuel sind mir, die verfaulen im Gestank
ihrer Trägheit.
Ich habe dem Menschen Schenkel gegeben, ihn zu
tragen über die Erde,
Und Beine zum Laufen,
Daß er nicht stehen bleibe wie ein Baum in seinen Wurzeln.

Denn ein Baum hat nur eine Nahrung. Aber der Mensch nähret sich von allem,
Was ich geschaffen habe unter dem Himmel. Ein Baum kennt immer nur das gleiche,
Aber der Mensch hat Augen, daß er das Fremde in sich einschlinge,
Und eine Haut, das andere zu tasten und zu schmecken.

Lobet Gott und verschwendet euch über die Länder. Lobet Gott und vergeudet euch über die Meere.

Ein Knecht ist, wer sich festbindet an ein einziges Land. Nicht Zion heißt das Reich, das ich euch gelobte, Sein Name heißt: Erdkreis.«

Es sind gute Verse, sie besagen genau das, was er sagen will. Aber es sind hebräische Verse, und so, wie sie jetzt übersetzt sind, klingen sie arm und ohne Musik. Ihre Wirkung auf die Welt können sie erst tun, wenn auch im Griechischen ihre Musik mitklingt, die Musik von den Stufen des Jahve-Tempels. Als man vor nunmehr dreihundert Jahren die Heilige Schrift ins Griechische übersetzte, da arbeiteten die zweiundsiebzig Doktoren, die mit dem Werk betraut waren, unter Klausur, jeder streng abgesondert; dennoch hatte der Text eines jeden am Ende wortwörtlich übereingestimmt mit dem Text aller andern, und es war ein herrliches Werk geworden. Aber solche Wunder geschehen nicht mehr. Er findet keine zweiundsiebzig Menschen, die seinen Psalm übersetzen könnten. Er findet keinen einzigen außer, vielleicht, diesen Phineas, und Phineas müßte guten Willens sein und seine ganze Kraft daran wenden.

  Wie immer, der Psalm ist in der Welt, wenn auch in schlechtem Griechisch. Nun Titus Kaiser wird, darf es sich der Schriftsteller Flavius Josephus erlauben, wieder der Doktor Josef Ben Matthias zu sein. Er wird seine Gefühle reiner ausdrücken, tiefer, jüdischer, in schlechterem Griechisch. Er verzichtet auf Phineas, er ist fertig mit ihm. Einmal, trotzdem, wird die Stunde kommen, da alle Völker seinen Psalm verstehen.

Der Kaiser Titus Flavius Vespasian lag am Abend dieses Tages im Schlafraum seines altmodischen Landhauses in der Nähe des Städtchens Cosa. Als er gemerkt hatte, daß es zu Ende ging, hatte er sich hierherbringen lassen auf das von der Großmutter ererbte etrurische Gut, wo er aufgewachsen war. Er liebte das bäurische, verräucherte Haus, an dem Geschlechter gebaut und immer wieder angebaut hatten. Er hatte alles unverändert gelassen, unkomfortabel und dunkel, wie es vor sechzig Jahren in seiner Knabenzeit gestanden war. Die Decke des Zimmers war niedrig, geschwärzt, die Tür des großen, fensterlosen Raumes öffnete sich weit auf den riesigen, von einer uralten Eiche überschatteten Hof, in dem sich ein Schwein mit seinen Ferkeln herumtrieb. Das breite Bett, sich nur ein paar Handhoch über den Boden erhebend, war in eine nicht hohe Nische hineingebaut, es war ein Steinlager, viel Wolle darauf, überzogen mit grobem Bauernleinen.
  Auf diesen primitiven Schlafraum also richtete die große Stadt Rom ihre Augen, ja, schon Italien und die näher gelegenen Provinzen; denn geflügelt hatte sich die Nachricht von dem bevorstehenden Tode des Kaisers verbreitet.
  Es waren nur wenige Menschen um den Kaiser, sein Sohn Titus, der Leibarzt Hekatäus, der Adjutant Florus, der Kammerdiener, der Friseur; dazu Claudius Regin, der Hofjuwelier, Sohn eines sizilischen Freigelassenen und einer jüdischen Mutter, der große Finanzmann, von dem sich der Kaiser in wirtschaftlichen Dingen gern beraten ließ. Diesen Mann hatte Vespasian an sein Sterbebett befohlen. Die Anwesenheit seines jüngeren Sohnes hingegen, Domitians, hatte er sich ausdrücklich verbeten.
  Es war sieben Uhr abends, aber es war der dreiundzwanzigste Juni, der Tag wird noch lang sein. Der Kaiser auf seinem groben Bett sah erbärmlich mager aus. Die Krämpfe und Durchfälle, die ihn den ganzen Tag über gequält, hatten jetzt nachgelassen, um so schmerzhafter spürte er seine Schwäche. Er dachte daran, daß man ihn gleich nach seinem Tod durch Senatsbeschluß heiligsprechen, unter die Götter erheben wird. Er verzog den langen Mund zu einem. Grinsen, wandte sich an den Arzt, leicht röchelnd, das Sprechen fiel ihm schwer: »Holla, Doktor Hekatäus. Diesmal wird’s nichts mehr, diesmal werde ich ein Gott. Oder glauben Sie, daß ich noch warten muß, bis es dunkel ist?«
  Man schaute gespannt auf den Doktor Hekatäus, was der erwidern werde. Hekatäus war berühmt um seiner Gradheit willen. Auch jetzt sagte er ohne Umschweife: »Nein, Majestät. Ich glaube, Sie werden nicht mehr bis zur Nacht warten müssen.«
  Vespasian schnaufte stark. »Na also«, sagte er. »Los, meine Kinder.« Er hatte Auftrag gegeben, ihn, wenn es soweit sei, anzukleiden, zu rasieren, zu frisieren. Er legte nicht viel Gewicht auf Äußerlichkeiten, aber er glaubte, Senat und Volk von Rom hätten Anspruch darauf, daß der Kaiser anständig sterbe. Titus näherte sich, das breite Knabengesicht des Neununddreißigjährigen war besorgt. Er wußte, welche Anstrengung es den Sterbenden kosten werde, sich baden und ankleiden zu lassen. Aber Vespasian winkte ab: »Nein, mein Junge. Disziplin muß sein.« Er versuchte, zu dem Adjutanten Florus hinüberzulächeln. Dieser Florus nämlich hielt auf Formen, litt unter der Formlosigkeit des Kaisers, unter seinem groben Dialekt. Vor drei Tagen noch, als Vespasian den Namen des Städtchens Cosa, wohin er gebracht werden wollte, »Causa« aussprach, hatte sich Florus nicht enthalten können, ihn zu korrigieren, es heiße nicht Causa, sondern Cosa. Woraufhin der Kaiser dem Adjutanten Florus erwidert hatte: »Ich weiß schon, Flaurus.« – »Disziplin muß sein«, wiederholte er also auch jetzt, ein wenig mühsam, sehr im Dialekt. »Nicht wahr, Flaurus?«
  Man badete den Sterbenden. Ausgemergelt, die grobe Haut faltig, Brust und Bauch schmutzigweißlich behaart, schnaufend, hing der Alte in den Armen seiner Leute. Man trocknete ihn, der Friseur machte sich mit dem Rasiermesser über ihn her. Es war ein guter Friseur, er war bei einem ersten ägyptischen Meister in die Schule gegangen, aber als Friseur des Kaisers hatte der Arme wenig Gelegenheit, seine Kunst zu zeigen. Er mußte statt der guten gallischen Seife billige lemnische Ziegelerde nehmen, die andere war dem Kaiser zu teuer, und nach dem Bade duldete er statt der echten Nardensalbe nur die scheußliche napolitanische Imitation. Heute aber durfte der Friseur das Kostbarste verwenden, was da war. Einer kleinen Büchse aus Alabaster und Onyx, einem Geschenk der Provinz Bithynien, entnahm er Balsam, Opobalsam, jenes edelste Würzwerk der Welt, in winzigen Quantitäten aus dem Innern Arabiens herbeigeschafft. Zwei Büchsen dieses Opobalsams gab es alles in allem auf der Erde, beide im Besitz der jüdischen Fürstin Berenike. Eine davon hatte sie vor Jahren dem Prinzen Titus geschenkt, und der hatte sie dem Friseur für diesen Tag überlassen. Die niedrige Bauernstube war voll von den edeln Düften, in die sich vom Hof her der Geruch der Schweine mischte. »Na, Flaurus«, sagte der Kaiser, »ich hoffe, ich stehe jetzt in gutem Gestank bei Ihnen.« Alle dachten daran, wie er einst dem Titus, als dieser sich über die von ihm ausgeheckte unwürdige Latrinensteuer beklagte, einen aus dieser Latrinensteuer stammenden Sesterz vor die Augen gehalten hatte mit den Worten: »Findest du, er stinkt?«
  Gebadet und gesalbt ließ sich der Sterbende das purpurne Festkleid anziehen, dazu die hochgesohlten, schwarzgeriemten Schuhe des Ersten Adels. Er seufzte tief auf, als man damit zu Ende war, ließ sich zurücklegen. »Ein Glas eiskalten Wassers«, befahl er. Er sah, daß man zögerte. »Es kommt schon nicht mehr darauf an«, sagte er zu dem Arzt hinüber. »Meinen Sie nicht, Doktor Hekatäus?« Der Mann erwiderte aufrichtig: »Es kostet Sie höchstens zehn Minuten Leben.« Man brachte ihm den Becher Schneewasser. Es tröpfelte in seinen ausgedörrten Mund, es schmeckte sehr süß. Wahrscheinlich hat Doktor Hekatäus ein Betäubungsmittel hineingetan, um seine Schmerzen zu lindern. Er leckte mit rauher Zunge die letzten Tropfen von den langen, gesprungenen Lippen. Jetzt aber, bevor ihm wirr wird, muß er es ihnen noch einmal einschärfen: »Daß ihr mich ja hochhebt, wenn ich das Zeichen mit dem Finger mache. Ich will im Stehen sterben. Keine falsche Rücksicht. Versprecht es mir. Versprecht es mir beim Herkules.« Er grimassierte hinüber zu seinem Sohne Titus. Der nämlich hat einmal einen umständlichen, kostspieligen Stammbaum der Dynastie anfertigen lassen zurück bis auf Herkules. Aber wenn sich Vespasian sonst auch in Repräsentationsdingen seinem Sohne fügte, damals hatte er aufbegehrt. Sein Vater war Steuerbeamter gewesen, später Bankier in der Schweiz, sein Großvater Inhaber eines Inkassobüros, sein Urgroßvater Inhaber eines Vermittlungsbüros für Landarbeiter. So war es und nicht anders. Daran ließ er nicht rütteln. Nichts da Herkules.
  Er schnaufte, blinzelte hinaus in den Hof, der blaß und ruhevoll dalag. Vom Meer hatte sich ein leichter Abendwind aufgemacht, man hörte ihn im Laub der Eiche. Bald werden Sterne da sein, den Abendstern kann man wahrscheinlich schon sehen.
  Es ist gut, daß es zu Ende geht. Bis jetzt ist das Sterben verhältnismäßig einfach. Als er sich das letztemal seinem Sohn Titus zulieb auf den Triumphwagen gestellt hat, um den Sieg über die Juden zu feiern, und den ganzen Tag aufrecht in den schweren Kleidern des Capitolinischen Jupiter hat herumfahren müssen, meine Lieben, das zum Beispiel ist viel härter gewesen. Jetzt wird er höchstens ein paar Minuten aufrecht stehen müssen.
  Er hat wild herumgefuhrwerkt über den Erdkreis. Hat sich in England mit den Barbaren herumgeschlagen, in Rom mit dem Senat und dem Militärkabinett. In Judäa haben sie ihn verwundet, in Afrika mit Pferdeäpfeln nach ihm geschmissen, in Ägypten mit Heringsköpfen. Es ist wild auf und ab gegangen in seinem Leben. Er war Bürgermeister von Rom, Konsul, Triumphator, aber auch Spediteur, Vermittler von Adelstiteln, Agent für dunkle Finanzgeschäfte, mehrmals bankrott. Wenn er sich nicht hat kleinkriegen lassen, dann ist das eigentlich das Verdienst der Eiche da draußen im Hof, dieser alten, heiligen Eiche des Mars. Sie hat, so haben ihm Mutter und Großmutter immer wieder erzählt, bei seiner Geburt einen unwahrscheinlich üppigen Wurzelschößling getrieben, ein Zeichen dafür, daß er vom Schicksal zum Höchsten bestimmt war. Lange genug hat sie sich blamiert, die heilige Eiche. Er hat gestöhnt, wenn seine Mutter und später seine Freundin, die Dame Cänis, unter Berufung auf diese Eiche ihn immer von neuem quälten, er dürfe sich nicht, wie er es doch so gerne wollte, behaglich hier auf dem Gut als zufriedener Bauer zur Ruhe setzen. Nun ja, er hat sich gefügt, hat fluchend weitergeschuftet. Schließlich hat die Eiche ja auch recht behalten, und seine Mutter und Großmutter, deren verräucherte Wachsbüsten draußen im Vorraum stehen, können zufrieden sein.
  Es dämmert. Seine Gedanken werden dumpf und wirr, der Betäubungstrank beginnt zu wirken. Eine fettige Hand bemüht sich, die Mücken zu verscheuchen, die sich immer wieder auf der schweißigen, lederigen Haut seines Gesichts niederlassen wollen. Er blinzelt. Es ist Claudius Regin, der ihm die Mücken wehrt. Ein Halbjude, aber kein schlechter Mann. Vierzig Milliarden haben gefehlt, als Vespasian die Geschäfte übernahm. Vierzig Milliarden. Der Summe will ins Auge geschaut sein. Der Jude hat ihr ins Auge geschaut. Ohne den Juden hätte er sie nicht geschafft.
  Claudius Regin, Halbjude, Mann aus dem Osten. Vespasian weiß, daß er ohne die Hilfe des Ostens nie Kaiser geworden wäre. Aber er ist Römer, der Osten ist ihm unheimlich, er mag ihn nicht. Man muß aus dem Osten soviel Profit ziehen wie möglich, aber tiefer darf man sich nicht mit ihm einlassen. Sowie er den Osten nicht mehr brauchte, hat er ihn kaltgestellt. Hat ganzen Provinzen, Griechenland zum Beispiel, ihre Privilegien wieder entzogen. Auch dieser Bursche Josef ist unausstehlich. Alle Literaten sind unausstehlich, die jüdischen doppelt. Leider kann man ohne sie nicht auskommen. Biographien sind wichtig. Man stirbt leichter, wenn man weiß, man hinterläßt einen guten Geruch bei der Nachwelt. Ein richtiges Buch hält länger vor als ein Standbild. Das Buch dieses Juden Josef ist dauerhaft. Und nicht teuer, alles in allem. Noch keine Million hat er auf den Menschen verwendet. Ein lächerlicher Preis für ein paar Jahrtausende Nachruhm. Wenn er annimmt, das Buch hält für zweitausend Jahre vor, was dann hat pro Tag er für seinen Nachruhm bezahlt? Laß sehen. Zuerst: zweitausend mal dreihundertfünfundsechzig. Dann: eine Million geteilt durch das Ganze. Wenn er nur nicht eine so verfluchte Dumpfheit im Schädel hätte. Zweitausend mal dreihundertfünfundsechzig. Es geht nicht mehr. Aber auf alle Fälle ein gutes Geschäft.
  Eine Mücke ist im Innern seines Ärmels. Daß er das noch spüren kann, ist ein günstiges Zeichen. Er kriegt auch bestimmt noch heraus, was ihn der Tag Nachruhm kostet. Man müßte die Mücke wegjagen. Aber das Sprechen erfordert Kraft, und er braucht seine Kraft für ein anständiges letztes Wort. Ein römischer Kaiser muß mit einem anständigen letzten Wort sterben. »Jagt mir die Mücke weg«, wäre ja ganz gut, aber doch nicht würdig genug.
  Jetzt ist sie weg. Er hat Glück mit seinem Sterben. Hier in dieser alten, angenehmen Bauernstube mit dem Hof davor, der Eiche und den Schweinen läßt es sich leicht sterben, wacker, respektabel.
  Sein Titus ist ein guter Sohn. Ein wenig zu ehrgeizig. Wenn man nicht scharf aufgepaßt hätte, dann hätte er ihn wahrscheinlich schon Vorjahren aus dem Weg geräumt. Die ganze Zeit hindurch hat er ihm seinen Arzt Valens aufzudrängen versucht. Ob er ihn vielleicht doch hat vergiften lassen? Nein. Der Doktor Hekatäus ist zuverlässig: es ist nur das Darmleiden. Zweitausend Jahre Nachruhm für insgesamt eine Million Sesterzien. Zweitausend mal dreihundertfünfundsechzig. Er würde es übrigens dem Titus nicht verdenken, wenn der ihm eine kleine Dosis Gift zugeführt hätte. Neunundsechzig Jahre, einen Monat und sieben Tage, das ist ein schönes Alter, damit kann man sich zufriedengeben. Die vierzig Milliarden Schulden sind auch weg. Unfreundschaftlich wäre es ja und nicht kindlich, wenn Titus ihm Gift gegeben hätte; denn er hat ihn während ihrer gemeinsamen Regierung wirklich fast immer gewähren lassen. Zweitausend mal dreihundertfünfundsechzig. Er war doch sonst so stark im Kopfrechnen.
  Es ist gut, daß er Order gegeben hat, sein Sohn Domitian dürfe nicht heraus zu ihm. Er möchte ihn jetzt nicht im Zimmer haben. Domitian, Bübchen, das Früchtchen. Er mag ihn nicht. Warum hat dieser verdammte Titus soviel herumgehurt? Jetzt hat er nur eine Tochter und kann sich Bübchen nicht vom Halse schaffen, man braucht ihn für die Dynastie.
  Zweitausend mal dreihundertfünfundsechzig. Einen Philosophen müßte man da haben. Aber die Philosophen hat er hinausgeschmissen aus Italien. Es gibt vier Arten von Philosophen. Erstens diejenigen, die schweigen und für sich philosophieren; die sind schlimm und verdächtig, weil sie schweigen. Zweitens diejenigen, die regelrecht Unterricht geben; die sind schlimm und verdächtig, weil sie reden. Drittens diejenigen, die Vortragsreisen machen; die sind überaus schlimm und verdächtig, weil sie sehr viel reden. Viertens die Bettelphilosophen, die Cyniker; die sind die allerschlimmsten, weil sie sogar unterm Proletariat herumgehen und reden. Trotz seinem unbehaglichen Respekt vor der Literatur hat er die Burschen allesamt aus dem Land gejagt. Gewisse hochnäsige Aristokraten haben erklärt, das sei pöbelhaft. Na schön, er hat keine Salonmanieren, er ist ein alter Bauer. Am heftigsten hat damals der Senator Helvid gegen ihn gewettert. Ein verdammt frecher Bursche, dieser Helvid. Bis zuletzt hat er ihm seinen Kaisertitel verweigert. Eigentlich imposant, soviel Frechheit. Aber unüberlegt, wenn man nicht zwanzig Armeekorps hinter sich hat. Böses Blut hat es gemacht, als er ihn abtat. In seiner Biographie wird die Geschichte trotzdem keinen Flekken zurücklassen. Denn als er sah, welchen Sturm das Todesurteil erregte, hat er es sofort kassiert. Erst dann freilich, als sein Sohn Titus die Exekution bereits angeordnet hatte, so daß bei allem guten Willen der Widerruf des Urteils zu spät eintreffen mußte. Schlau hat er das gedeichselt. In solchen Dingen haben Titus und er sich immer ohne Worte verstanden. Fair haben sie sich benommen, einer gegen den andern. Von den Freuden der Herrschaft hat er dem Titus den größeren Teil gelassen. Dafür mußte der alle unangenehmen Maßnahmen auf die eigene Schulter nehmen, auf daß der Begründer der Dynastie nicht allzu unpopulär werde. Populär ist man sowieso nicht. Wenn man Vernunft anwendet, kann man schwerlich populär werden. Aber wenn eine Dynastie lange genug hält, dann wird sie vielleicht populär, selbst wenn sie vernünftig ist.
  Zweitausend mal dreihundertfünfundsechzig. Er kriegt es nicht mehr heraus. Und er muß doch dem Titus noch sagen, daß der auch den jüngeren Helvid erledigen soll, auch den Senecio und den Arulen, so klug und schweigsam sie sich halten, und noch eine ganze Reihe anderer philosophischer Herren von der Opposition. Man kann es sich jetzt leisten, durchzugreifen. Die Dynastie sitzt fest genug, und, der Sterbende lächelt listig, seine eigene Biographie kriegt keine Flekken mehr davon.
  Erledigt werden müssen die Burschen. Opposition ist ein großes Vergnügen für den, der sie macht. Aber man muß auch wissen, was man riskiert, und bereit sein, dafür zu zahlen. Wenn ihm nur das Sprechen nicht so schwerfiele. Er muß sich reiflich überlegen, ob er sein bißchen Atem für diese Weisung oder für ein anständiges letztes Wort verbrauchen soll.
  Schade, daß Titus keinen Sohn hat. Julia, seine Tochter, ist ein nettes Mädchen. Weiß, fleischig, ein angenehmes Stück Weib, und sie trägt ihre kunstvolle Frisur so, als ob wirklich Herkules ihr Ahnherr sei und nicht der Inhaber des Inkassobüros. Ein richtiger, handfester, römischer Weibertyp ist ja doch das Beste, in Gesellschaft sowohl wie im Bett. Und da können die alten Geschlechter mit einigem aufwarten, das muß man ihnen lassen. Bübchen hat keinen schlechten Geschmack gehabt, als er sich mit soviel Energie diese Lucia ins Bett holte.
  Es hat schwere Mühe gekostet, damals vor acht Jahren, den Titus von seiner Jüdin loszueisen. Hätte man ihn selber von seiner Cänis loseisen wollen, er hätte auch gebockt. Aber gewisse Dinge gehen nun einmal nicht. Dicke Steuern durchsetzen und gleichzeitig zu den Juden halten, das geht nicht, mein Lieber. Wenn man wirtschaftlich im Dreck steckt, dann muß man die Massen gegen die Juden loslassen. Von dieser Regel kann man nun einmal nicht ab. Manchmal hat der Junge den Blick seiner Mutter, jenes Vage, Wirre, Unverantwortliche, jenes, geradeheraus, ein wenig Verrückte, das ihn an dieser Domitilla immer erschreckt hat. Dazu hat er seinen aristokratischen Tick. Wahrscheinlich ist er nur deshalb so ungeheuer auf die Jüdin hereingefallen, weil sie aus altem Königsblut stammt. Hoffentlich läßt er sich jetzt nach seinem Tod nicht von neuem mit ihr ein.
  Ein stärkerer Wind weht, man hört ihn in der Eiche. Gute, alte Eiche. Sie hat sich bewährt. Es ist ein wenig frischer geworden, die edeln Gerüche, mit denen man Vespasian gesalbt hat, verwehen. Die Schweine haben sich in ihren Koben im Winkel zurückgezogen. Vespasian ist ein alter Bauer, es ist Abend und alles getan, er darf getrost sterben. Bis jetzt war eine leise Furcht in ihm, er werde noch einen Krampf kriegen und, vielleicht, sein kostbares Sterbekleid besudeln. Doch jetzt ist es sicher, daß ihm in den paar Minuten, die es noch dauern wird, nichts mehr passiert. Er wird seine Sache gut machen bis zuletzt. Wenn bei der Leichenfeier seine Väter und Urväter vor ihm einhergehen und seine Mutter und seine Großmutter, er darf sich mit ihnen sehen lassen. Alles, was seine Vorfahren geleistet haben, der. Bankmensch, der Mann vom Inkasso- und der vom Vermittlungsbüro und die tüchtigen Gutsbesitzer, von denen er von Mutterseite abstammt, alles das mündet in ihn ein wie Flüsse in ein großes Meer. Er hat das Gut gehalten, er hat es ausgezeichnet bestellt, es ist gediehen, es ist ein riesiges Gut geworden, es reicht über die See, es ist der Erdkreis geworden, das Meer ist nur ein Teil von seinem Gut, es reicht nach Asien, nach Afrika, nach England. Sein Gut heißt Rom.
  Nun aber ist es sehr dämmerig. Titus steht in der breiten Tür, die zum Hof hinausführt. Nicht groß, aber fest und stattlich steht er da, mit rundem, offenem Gesicht, das kurze Kinn kräftig vorgestoßen, so daß es scharf, dreieckig einzackt. Vespasian sieht seinen Sohn, er hört den Wind in der Eiche, seine behaarten Ohren sind voll von diesem Wind. Fernher durch den Wind hört er Schmettern von Trompeten wie seinerzeit, wenn er, in England oder in Judäa, Attacke kommandiert hat. Sein Titus hat leider keinen Humor, aber dafür ist manchmal in seiner Stimme etwas von diesem Schmettern. Vespasian kann sich ruhig konsekrieren lassen, kann ruhig eingehen unter die Götter. Wenn Herkules auch nicht sein Ahnherr ist, er darf es sich erlauben, mit ihm zu reden als Mann zum Mann. Sie werden sich gegenseitig in die Rippen stoßen, Herkules wird lachen und die Keule senken, sie setzen sich nebeneinander und erzählen sich Witze.
  Zweitausend mal dreihundertfünfundsechzig. Die Dumpfheit in seinem Schädel weicht plötzlich einer klaren Schärfe. Zweitausend mal dreihundertfünfundsechzig, sehr einfach, das sind siebenhundertdreißigtausend. Rund eine Million hat er auf diesen Burschen Josef verwandt. Also noch nicht eineinhalb Sesterzien kostet ihn ein Tag Nachruhm. Das ist geschenkt.
  Er fühlt sich leicht und voll Zufriedenheit. Gleich wird es soweit sein. Nur kurze Zeit noch, zwei Minuten noch, noch eine. Die muß er durchhalten. Er muß Würde haben wegen der Eiche.
  Er gibt das Zeichen mit der Hand, schwach, kaum merklich. Aber sie merken es, sie richten ihn hoch. Sie sollen es lassen. Es tut scheußlich weh, er ist ungeheuer schwach, sie sollen ihn liegen lassen. Aber er hat nicht die Kraft, es ihnen zu sagen. Er muß doch etwas sagen. Was denn? Er hat es so genau gewußt. Seit Tagen hat er sich auf sein letztes Wort vorbereitet. Sie richten ihn weiter hoch. Es ist unerträglich, aber sie haben keine Rücksicht.
  Wind kommt von außen. Das schafft ein wenig Erleichterung. Sie sollen keine Rücksicht nehmen. Disziplin muß sein. Er will im Stehen sterben, so hat er es sich vorgenommen.
  Und wirklich, er steht, oder vielmehr er hängt vornübergeneigt, die Arme um die Schultern der andern. Um die Schultern seines Sohnes Titus und seines Beraters, des Claudius Regin. Er hängt schwer vornüber, er schnauft kläglich, von der harten, ledernen Haut seiner Stirn rinnt Schweiß, Schweißtropfen stehen auf seiner mächtigen Glatze.
  Es geht nicht mehr. Wozu die Quälerei? Der Halbjude Claudius Regin macht nicht mehr mit, er gibt dem Titus ein Zeichen. Sie lassen ihn zurückgleiten.
  Der alte Mann, der Herr des Erdkreises, der diesen Erdkreis beharrlich, schimpfend, Witze machend, so lange auf seinen Schultern geschleppt hat, läßt sich gleiten. Eine gewaltige Last wälzt sich von ihm. Er sieht die Eiche, er spürt den Wind, spürt die Seligkeit des Sichfallenlassens. Er liegt auf dem harten Lager, stolz, glücklich. Oh, er braucht nicht hauszuhalten, er kann seinen Atem verschwenden, er kann es sich erlauben, noch vor dem würdigen letzten Wort diesem schlauen Geschäftsmann Regin mitzuteilen, welch allerschlauestes Geschäft er gemacht hat. Flüsternd, grausig spaßhaft, keucht er ihm ins Ohr: »Wissen Sie, was ein Tag Nachruhm mich kostet? Einen Sesterz, ein As und sechseinhalb Unzen. Geschenkt, nicht?« Dann erst, sich zusammenreißend, den Kopf mit ungeheurer Anstrengung von einem zum andern wendend, stößt er hervor: »Cäsar Titus, meine Herren, sagen Sie dem Senat und dem Volk von Rom: ihr Kaiser Vespasian ist im Stehen gestorben.« Dies lügend, liegend, veratmet er.

Den zweiten Tag darauf wurde die Leiche, sorglich einbalsamiert, nach Rom überführt und im Kaiserhaus auf dem Palatin aufgebahrt, auf hohem Katafalk, in der Halle, wo die Wände entlang die Wachsbüsten der Ahnen standen. Da lag er also, der tote Vespasian, die Füße nach dem Ausgang hin, in purpurnem Kaiserornat, eine Kupfermünze mit der Umschrift »Das besiegte Judäa« als Fährgeld für den Totenschiffer unter der Zunge, Kranz auf dem Haupt, Siegelring am Finger, schwarzgekleidete Liktoren, die Rutenbündel gesenkt, vor ihm, und täglich kamen Titus, Domitian, Julia, Lucia und riefen ihn mit all seinen Namen und Titeln. Amtlich übrigens war er noch am Leben; denn der Senat hatte beschlossen, ihn unter die Götter zu erheben. Er galt also, bis zur Verbrennung, als noch nicht tot, man brachte ihm Speisen, legte ihm Dokumente vor, die Ärzte kamen, untersuchten ihn, gaben Bulletins aus über seinen Zustand.
  Am Nachmittag aber, um von ihrem Kaiser Abschied zu nehmen, schritten in endlosem Zug Senat und Volk von Rom an dem Prunkbett vorbei, Hunderte vom Ersten, Tausende vom Zweiten Adel, Hunderttausende von den zwei Millionen Bewohnern der Stadt Rom.
  Niemand wagte fernzubleiben; man wußte, daß die Polizei Listen führte. Auch die hocharistokratischen Herren der Opposition stellten sich ein, an ihrer Spitze der Senator Helvid. Der Kaiser hatte seinen Vater töten lassen, weil der kühn die Rechte des Senats, der gesetzgebenden Körperschaft, hatte wahren wollen. Die Herren waren nicht wie ihre Väter, sie redeten nicht wie diese viel und laut, sie fügten sich. Aber sie vergaßen nicht. Der Tag wird kommen, da sie reden und handeln dürfen.
  Auch jetzt also bezeigen sie dem Regime Unterwerfung, traten vor die Leiche, im Trauerkleid, wie der Brauch es forderte. Sie schauten den Kaiser an; selbst im Tode, mit geschlossenen Augen, schien ihnen sein mächtiger Schädel bäurisch und gemein. Der Vater Helvid hatte sich seinerzeit mit stolzen Worten dagegen verwahrt, als Vespasian die Ehre, das zerstörte Capitol neu aufzubauen, für sich in Anspruch nahm. Sie, die jüngeren, waren gewitzt, sie hatten im Senat dafür gestimmt, daß man den toten Parvenü zum Gott erhebe. Mag man ihm Tempel und Standbilder errichten: er bleibt tot. Da liegt er, er verzieht nicht die langen, schmalen Lippen zu seinem bösartigen Grinsen, er kann nicht mehr über sie witzeln auf seine gemeine Art, der sie, die würdigen, vornehmen Herren, so gar nicht gewachsen sind. Haß und Hohn im Herzen, schauten sie auf die Leiche, und mit trauernden, ehrfürchtigen Gebärden verhüllten sie das Haupt gleich den andern und riefen mit den andern: O unser Kaiser Vespasian, o du sehr guter, sehr großer Kaiser Vespasian.
  Auch der Senator Junius Marull kam, der große Advokat und gefürchtete Redner, einer der reichsten Männer der Stadt. Er war kein politischer Gegner des Toten, aber er hatte dem Kaiser in seinen Geschäften Konkurrenz gemacht, und die beiden hatten einen langen, versteckten, erbitterten Kampf geführt. Als Vespasian sah, daß er den andern wirtschaftlich nicht schlagen konnte, hatte er ihn politisch und gesellschaftlich zu erledigen gesucht: er schloß ihn aus dem Senat aus, weil er – ein Vorwand von billiger Ironie – vor langer Zeit einmal in der Arena gegen eine spartanische Ringkämpferin angetreten sei. Der elegante, überfeinerte Marull hatte diese Maßregelung mit derselben gleichmütig spöttischen Geste hin genommen wie alle andern Handlungen des bäurischen Kaisers. Die Degradierung, nachdem er alle Genüsse der Welt ausgekostet, war dem blasierten Herrn nichts gewesen als eine neue Sensation. Höhnisch hatte er den breiten Purpurstreif und den hochsohligen Schuh der Hocharistokratie mit der Uniform der Entsagung vertauscht, mit dem härenen Mantel, dem Wanderstab, dem Bettelranzen des Stoikers, des Philosophen strengster Observanz. Sein härener Mantel freilich war vom ersten Schneider der Stadt angefertigt, sein Wanderstab mit Gold und Elfenbein eingelegt, sein Bettelranzen aus vornehmstem Leder. Im übrigen stand sein neuer Stoizismus ihm nicht weniger gut zu Gesicht als früher sein Prunk. Niemand konnte die Lehrsätze der stoischen Schule eleganter dozieren, und wenn er in der schönen Bibliothek seines Hauses über Philosophie sprach, dann drängte sich alles zu, was in der Stadt Geltung hatte.
  Auch heute kam Junius Marull in seiner Philosophentracht. Es war offenbar anstößig, daß der frühere Senator in diesem Aufzug vor die Leiche trat, aber die Zeremonialbeamten fanden keinen rechten Grund, es ihm zu verwehren. Den blickschärfenden Smaragd hielt er vor das hellblaue Auge, und, den Toten angelegentlich, ungebührlich lange beschauend, sagte er mit seiner lauten, näselnden Stimme: »Ich will mir unsern sehr guten, sehr großen Kaiser genau betrachten, bevor er ein Gott wird. Einem Stoiker ist manches erlaubt, was einem Senator vielleicht nicht anstünde.«
  Auch der jüdische Hofschauspieler Demetrius Liban verweilte ungeziemend lange vor der Leiche. Aller Augen waren auf dem sehr Berühmten, als er mit geübtem Schritt, der Würde, Trauer und Ehrfurcht ausdrückte, vor den Katafalk trat. In angemessener Entfernung blieb der nicht große Herr stehen, die etwas trüben, graublauen Augen richtete er eindringlich auf die geschlossenen des Kaisers. Er hatte eine Streitsache mit diesem Mann. Die letzten Jahre waren hart für ihn gewesen, und der Tote trug die Schuld daran. Der Tote war es, der ihm die Gelegenheit genommen hatte, sich seinem Publikum zu zeigen, er hatte ihn gezwungen, seinen Titel Erster Schauspieler der Epoche an andere abzugeben. Klingt es nicht heute schon fast wie ein Märchen, daß man einmal Polizei und Militär hat aufbieten müssen, um die Unruhen zu dämpfen, die seine Pointen hervorgerufen haben? Unter dem neuen Kaiser, unter Titus, dem Freund der jüdischen Prinzessin, wird das anders werden. Die Nichtskönner, die Favor, die Latin, werden nicht länger Gelegenheit haben, einen Demetrius Liban in den Schatten zu stellen.
  Da lag er, der Tote, der Feind. Er weiß nicht, was er ihm angetan hat. Wahrscheinlich hat er es auch bei Lebzeiten nicht gewußt. Für ihn war die Sache einfach gewesen: die Massen sehen es nicht gern, daß der Kronprinz mit einer Jüdin liiert ist, folglich zeigt der Kaiser, daß er diese Liaison nicht billigt, daß er die Juden nicht mag, und läßt den jüdischen Schauspieler nicht ans Licht. Von Kunst hat er nichts verstanden, der Bauer, der Emporkömmling. Wahrscheinlich hat er nicht die leiseste Ahnung gehabt, was er ihm, dem Demetrius, angetan hat. Woher auch soll ein Klotz wie der gewußt haben, was alles er anrichtete mit seiner albernen Politik? Nie hätte der begriffen, was es heißt, zuschauen müssen, wenn ein anderer an einer Rolle herumstümpert, die man selber in höchster Vollendung hätte schaffen können. Man erstickt an dem Grimm über die verpaßten Gelegenheiten. Welche Gefahren hat er auf sich nehmen müssen, um nur überhaupt zu einer Rolle zu kommen. Da hat einmal der alte Helvid, der Führer der Antikaiserlichen im Senat, der jetzt hingerichtete, ein freches Stück geschrieben, einen »Cato«, und dieses Stück in seinem Hause geladenen Gästen vorführen wollen. Welche Kämpfe hat er, Demetrius, durchgemacht, ehe er sich entschlossen hat, darin zu spielen. Es bedeutete Lebensgefahr, in dieser dem Regime feindlichen Aufführung aufzutreten, er war kein kühner Mann, und dabei war ihm die Rolle nicht einmal gelegen.
  Still, gesammelt, ehrerbietig stand er vor dem Toten, aber in seinem Innern, stürmisch, haderte er mit ihm. Jetzt, du Toter, kannst du mich nicht mehr hindern, jetzt tauche ich wieder empor. Jung bin ich nicht mehr, einundfünfzig, der Beruf verbraucht einen. In vier langen Jahren habe ich ganze fünf Rollen gespielt, man kommt aus der Übung, man verliert den Kontakt mit dem Publikum. Aber ich habe trainiert, ich habe Diät gehalten, ich schaffe es. Du bist tot, du bist ein »Gott«, aber ich bin der lebendige Schauspieler Demetrius Liban, und wenn es darauf ankommt, dann mache ich noch immer Statuen lachen, wie der alte Seneca einmal von mir gesagt hat. Paß auf, der Neue, dein Sohn, der versteht mehr als du von der Kunst, der läßt mich hinauf. Vor zwölf Jahren, im Trauerzug der Kaiserin Poppäa, habe ich die Karikatur der Poppäa gespielt, das war was, das war eine Leistung. Jetzt wird man mich an dich heranlassen. Ich werde Sie spielen, Majestät, bei Ihrem Leichenbegängnis, ich, nicht der Favor. Es ist noch nicht gewiß, ich sollte es noch nicht Wort werden lassen, noch nicht einmal Gedanke. Leider ist kein Holz da, an das ich klopfen könnte. Ob ich wohl an den Katafalk vor kann und klopfen? Nein, das geht nicht, übrigens ist er ja auch nicht aus Holz. Aber sie werden mir die Rolle geben. Jetzt, nachdem du tot bist, besteht kein Grund mehr, sie mir nicht zu geben. Ich bin der, der es am besten macht, die Rolle gehört mir, das ist klar, alle sehen es. Man muß mir sehr feind sein, um es nicht zu sehen, und Titus ist mir nicht feind. Und wie werde ich dich spielen, was werde ich aus dir herausholen, du Kaiser, du Gott, du Toter, du Judenfeind.
  Der Schauspieler Demetrius Liban betrachtet den Toten, verhüllten Hauptes, ehrerbietig. Aber seine Augen sind nicht ehrerbietig. Bösartig durchforschen sie das Gesicht des Kaisers, spähen, was daran zum Lachen reizen könnte, erblicken, was die andern nicht sehen, die Spuren seines harten Geizes, den scharfen Kontrast zwischen seiner hausbackenen Art, seiner Nüchternheit, seiner bäurischen Derbheit und dem zeremoniösen Prunk seiner Stellung. So lange hast du mich in den Schatten gedrängt, während meiner besten Jahre hast du mich kaltgestellt. Aber jetzt bin ich daran. So, wie ich dich machen werde, wirst du im Gedächtnis der Menschen fortleben. Ich werde bestimmen, welche Maske, welche Form dein Andenken annehmen wird.
  Verhüllten Hauptes gleich den andern grüßt er den Toten, den Arm mit der flachen Hand ausgestreckt, und mit den andern ruft er: O unser Kaiser Vespasian, o du sehr guter, sehr großer Kaiser Vespasian.
Schon hatte bis in die fernste Provinz der Feuertelegraf die Nachricht vom Tod des Kaisers verbreitet, und mit der Nachricht Furcht und Hoffnung.
  In England schickte der Gouverneur Agricola die Grenztruppen vor bis zum Flusse Taus, fürchtend, der Thronwechsel könnte die nördlichen Pikten zu neuen Einfällen in das befriedete Gebiet ermuntern. Am Niederrhein regten sich die Chatten, die Bataver. In der Provinz Afrika rüstete in aller Eile der Gouverneur Valer Festus ein zweites Detachement Kamelreiter, er wollte den zu Raubzügen geneigten Stämmen der südlichen Wüste, den Garmaten, rechtzeitig beweisen, sie hätten unter dem neuen Herrn kein weniger wachsames Regiment zu erwarten als unter dem alten. An der untern Donau liefen Kuriere zwischen den Häuptlingen der Daker hin und her: war es ratsam, jetzt einen neuen Vorstoß über die römische Grenze zu wagen? Am Kaukasus, am Asowschen Meer hoben die Alanen die Köpfe, witternd, ob ihre Zeit gekommen sei.
  Der ganze Osten spannte sich in Erregung. Der Provinz Griechenland hatte der karge Vespasian die Privilegien genommen, die ihr der kunstbegeisterte Nero verliehen hatte. Der neue Kaiser war jünger, war groß geworden in griechischen Ideengängen, in griechischer Bildung. Sicherlich wird er der adeligsten unter den Nationen des Reichs die Rechte zurückgeben, die man ihr geraubt hat.
  In Ägypten rief der Gouverneur Tiber Alexander alle Offiziere und Mannschaften aus dem Sommerurlaub zurück. Seine Residenz, die Stadt Alexandrien, die zweitgrößte und die beweglichste der bewohnten Welt, fieberte. Die Juden dort, fast die Hälfte der Bevölkerung, reich und mächtig, hatten seinerzeit der neuen Dynastie als die ersten ihre Ergebenheit bewiesen und den Prätendenten Vespasian mit Geld und Einfluß unterstützt. Der hatte es ihnen nicht gedankt. Im Gegenteil, er hatte sie durch Einführung einer schimpflichen Sondersteuer gebrandmarkt und hatte es zugelassen, daß die Weißbeschuhten, die judenfeindliche Partei Ägyptens, unter Führung gewisser Professoren der Universität Alexandrien immer dreister wurden. Jetzt, hofften die Juden, wird Berenike Kaiserin, jetzt wird es aus sein mit den Weißbeschuhten.
  Die Provinz Judäa selber machte ihrer Regierung Sorgen. Der Generalgouverneur Flavius Silva war ein gerechter Mann, aber seine Situation war schwierig. Viele Juden waren im Krieg umgekommen, viele hatte man zu Leibeigenen gemacht, viele waren ausgewandert. Ihre Städte verödeten, die griechischen blühten, und immer neue syrisch-griechische Siedlungen wurden gegründet. Die Rivalität zwischen den geduckten, erbitterten Juden und den privilegierten griechischen Einwanderern führte zu blutigen Zwischenfällen. Der Thronwechsel steifte den Juden den Nacken, schürte ihre Hoffnung, auf dem verwüsteten Grund Jerusalems, wo jetzt als einzige Baulichkeiten nackt und kahl römische Militärbaracken drohten, werde bald wieder ihre Stadt und ihr Tempel glänzen.
  Ganz Syriens sommerliche Ruhe war gefährdet. Am Hof des Perserkönigs äugten und lauerten die Prinzen von Kommagene, Magnus und Kallinikos, deren Länder Vespasian annektiert hatte. Überall fanden für diese Prinzen Kundgebungen statt, der Gouverneur Trajan mußte scharfe Maßnahmen treffen, um die Ordnung zu sichern.
  Bis in das ferne China strahlte die Nachricht vom Tode des alten Kaisers Wirkung aus. Vespasian hatte durch seine Luxussteuer den Handel mit chinesischer Seide und chinesischen Bronzen sehr beengt. Von dem jungen Kaiser erhofften sich die Seestädte am Roten Meer neuen Aufschwung. Sie schickten, um die alten Verbindungen anzuknüpfen, eine Gesandtschaft an den General Pan Tschao, den großen Marschall der Han-Dynastie.
  So, von überallher, schaute man in Hoffnung und Furcht nach dem Palatin auf den neuen Herrn, auf Titus.

Dieser Titus, am vierten Tag nach dem Tode Vespasians, besprach in seinem Arbeitszimmer mit dem Zeremonienmeister und mit dem Intendanten der Schauspiele das Arrangement der Totenfeier. Der Zeremoniell für das Leichenbegängnis eines unter die Götter erhobenen Kaisers war vag und wollte bis in jedes Detail festgelegt werden; denn Titus wußte, Senat und Volk werden bei der geringsten Ungeschicklichkeit mit bösartigem Spott über ihn herfallen. Immerhin hat man jetzt wohl alles durchgesprochen, die Herren könnten gehen: worauf warten sie?

  In seinem Innern weiß Titus, worauf sie warten. Über eines hat man noch nicht gesprochen, über ein Unwesentliches, auf das aber ganz Rom neugierig ist, über die Frage nämlich, wer im Leichenzug den Toten verkörpern soll. Demetrius Liban ist beliebt; allein es bleibt ein heikles Problem, ob man dem Juden die Rolle des toten Kaisers geben darf. Titus sieht vor sich hin, hinauf zu dem Bild der Berenike. Um dem Vater kein Ärgernis zu geben, hat er das Porträt bisher in seinem kleinen privaten Arbeitszimmer hängen lassen; jetzt hat er es in diesen Raum gebracht, der auch offiziellen Besuchern zugänglich ist. Das lange, edle Gesicht der jüdischen Prinzessin schaut auf ihn, die eine ihrer großen, schönen Hände ist sichtbar, das Bild ist beängstigend lebendig, es ist ein Meisterwerk des Malers Fabull; Titus, während er es beschaut, hört ihre tiefe, leicht heisere, vibrierende Stimme, sieht ihren königlichen Gang. »Was übrigens die Besetzung der Rolle des Vespasian anlangt«, wirft er schließlich den noch immer zögernden Herren hin, »so werde ich Ihnen im Lauf des Tages Vorschläge machen lassen.«
  Und dann, endlich, ist er allein. Er lehnt zurück, schließt die Augen, das breite, runde Gesicht erschlafft. In einer Viertelstunde wird Bübchen dasein, Domitian, sein Bruder. Es wird keine angenehme Auseinandersetzung werden. Titus ist ehrlich willens, Bübchen entgegenzukommen; aber gerade daß der Junge das weiß, das macht ihn so arrogant.
  Der neue Kaiser hat die Augen geöffnet, schaut mit fast dümmlich träumerischem Blick vor sich hin, die Lippen wie die eines schmollenden Kindes vorgeschoben. Noch fünf Minuten. Er ist schrecklich müde. Soll er im Hausrock bleiben, wie er ist? Bübchen wird sicher in voller Gala auftreten. Was immer er tut, Bübchen wird es als Kränkung empfinden. Empfängt er ihn in der Tracht des Kaisers, dann ist es herausfordernd, empfängt er ihn im Hausanzug, ist es Nichtachtung. Er bleibt, wie er ist.
  Die wachhabenden Offiziere draußen erweisen klirrend die Ehrenbezeigung: Domitian kommt. Wahrhaftig, er ist in voller Uniform. Titus erhebt sich, geht dem zwölf Jahre Jüngeren höflich entgegen. Beschaut ihn aufmerksam wie einen Fremden. Bübchen sieht eigentlich besser aus als er selber. Das Gesicht ist weniger fleischig, er ist größer. Die Arme freilich hält er sonderbar eckig nach unten. Aber sonst ist die Haltung gut, er wirkt kräftig, jünglinghaft. Nur an der aufgeworfenen Oberlippe, findet Titus, erkennt man die Arroganz.
  »Guten Tag, Bübchen«, sagt Titus und küßt ihn, wie es die Sitte verlangt. Domitian läßt es sich kalt gefallen. Er kann aber nicht verhindern, daß sein hübsches Gesicht sich rötet. Auch schwitzt er. Titus konstatiert es mit Genugtuung. Das kommt davon, daß er sich bei der Hitze so schwer und offiziell angezogen hat.
  Es ist nicht nur die Hitze, die Domitian bedrückt. Für ihn hängt von dieser Unterredung mehr ab als für den Bruder. Er ist allerdings gut vorbereitet. Der Senator Marull, dem alten Kaiser von jeher abgeneigt und deshalb sein, des Domitian, Freund, hat sich seit seiner Degradierung ihm noch enger angeschlossen, und mit diesem höllisch klugen Berater hat er die Situation genau durchgesprochen. Die Sache liegt so. Der Alte hat ihn nicht gemocht, und dieser da mag ihn ebensowenig. Am liebsten hätten sie sich seiner entledigt. Titus könnte es auch ohne weiteres, er hat die Macht dazu. Aber er wird es nicht tun, Marull hat ihm das schlagend bewiesen. Im Gegenteil, Titus wird ihm im Lauf dieser Unterredung allerhand Konzessionen anbieten. Denn für Titus bedeutet die Dynastie den Sinn seines Lebens, und auf ihm, auf Domitian, steht die Dynastie. Titus hat zwar seine Tochter Julia, aber, und wenn er sich noch tausend Frauen ins Bett holt, er hat keine Hoffnung mehr, noch einen Sohn zu zeugen.
  Domitian zögert, bevor er zu sprechen anfängt. Er ist willens, scharfe, heftige Dinge zu sagen, legt aber Gewicht auf Höflichkeit der Form. Auch weiß er, daß sich in der Erregung, wenn er laut wird, seine Stimme leicht überschlägt, darum will er ruhig bleiben, leise. Er verzeihe dem Bruder, sagt er endlich, daß der ihm nicht schon heute die Titel gegeben habe, die ihm zukämen. Daran müsse man sich wohl erst gewöhnen.
  Titus, aus engen, nach innen gerichteten Augen, schaut dem
Domitian aufmerksam auf den Mund. »Willst du mir nicht erklären, welche Titel?« fragt er, ehrlich verwundert.
  Er sei überzeugt, erwidert Domitian, der Mann, dessen Leiche unten in der Halle aufgebahrt sei, habe ihn zum Alleinerben eingesetzt. Er habe oft mit ihm darüber gesprochen, und er wisse genau, das Schriftstück sei auch ausgefertigt worden. Lediglich damit dieses Testament nicht an den Tag komme, habe Titus ihn vom Sterbelager des Vaters ferngehalten. Er bringt das mit leiser Stimme vor, errötend, manchmal ein wenig stotternd, mit sehr höflichen Gebärden.
  Titus hört ihn an, immer ruhig und aufmerksam; ja er macht sich sogar Notizen, stenographiert, wie es seine Gewohnheit ist, einige Sätze mit. Da Domitian lange nicht zu Ende kommt, wischt er mechanisch mit dem Schreibgriffel wieder aus, was er sich notiert hat, glättet das Wachs. »Hör einmal, Bübchen«, redet er dem Domitian, wie der endlich fertig ist, freundlich zu, »ich habe dich zu mir bitten lassen, um mich mit dir offen auszusprechen. Wollen wir nicht wie vernünftige, erwachsene Männer miteinander reden?« Er ist fest entschlossen, auf den Unsinn nicht einzugehen, den der Bruder vorgebracht hat. Trotzdem, gegen seinen Willen, hat auch er sich gerötet. Das haben sie von der Mutter, daß sie ihre Erregung nicht verbergen können.
  Domitian hat mit ängstlicher Spannung gewartet, wie Titus seine Frechheit aufnehmen werde. Er hatte gefürchtet, Titus werde mit schmetternder Stimme gegen ihn loslegen, und dieses soldatische Schmettern machte ihn immer nervös und schüchtern. Daß der Bruder leise blieb, war ihm eine Bestätigung. Die Methode, die Marull ihm angeraten hatte, war schon die rechte. Er habe es für seine Pflicht gehalten, fuhr er also fort, immer mit der gleichen Höflichkeit, den Bruder über seinen Standpunkt nicht im unklaren zu lassen. Er werde auch vor Dritten mit seiner Meinung über das beseitigte Testament nicht zurückhalten. Wenn anders Titus Schwierigkeiten vermeiden wolle, dann möge er ihm zumindest die Mitregentschaft einräumen.
  Titus ist müde. Wozu das lange, unnütze Gerede? Es gibt soviel zu tun. Die Minister verlangen Entscheidungen, der Senat, die Generäle, die Gouverneure der Provinzen. Die Zeremonien der Trauerwoche, die Vorbereitungen der Leichenfeier sind anstrengend, zeitraubend. Begreift Bübchen wirklich nicht, daß er den aufrichtigen Wunsch hat, sich mit ihm zu verständigen? Ach, wie gerne würde er ihn an der Herrschaft teilnehmen lassen. Aber es ist leider unmöglich, mit ihm zusammenzuarbeiten. Bübchen ist so heftig und von so böser Art, daß er binnen drei Wochen zerschlüge, was man in der mühevollen Arbeit von zehn Jahren aufgebaut hat.
  Domitians Augen sind jetzt auf dem Bild, auf dem großen Bild der Berenike. Titus habe einigen Grund, meint er, immer mit der gleichen, höflichen Tücke, sich gut mit ihm zu stellen. Er werde es nicht leicht haben, die Dame gegen Senat und Volk durchzusetzen. Ohne dem Bruder zu nahe zu treten, glaube er, daß er selber sich bei den Römern größerer Popularität erfreue. Er gestatte sich, daran zu erinnern, daß sie vermutlich nicht hier säßen, wenn nicht seinerzeit er, Domitian, die Stadt gehalten hätte.
  Titus hörte sich das wilde, phantastische Gerede aufmerksam an. Richtig daran ist nur so viel, daß vor zehn Jahren, als er und Vespasian noch mit dem Heer im Osten standen, Bübchen sich in Verkleidung aus dem belagerten Capitol gerettet hat. »Darf ich dich fragen«, erwidert er, und jetzt ist in seiner Stimme jenes Schmettern, das Domitian nicht liebt, »was deine damalige Flucht aus dem Capitol mit Berenike zu tun hat?«
  Bübchen errötet tief. Es ist Marull, der ihm empfohlen hat, sowie es brenzlig wird, Berenikes Namen zu nennen, an diesen wunden Punkt des Titus zu rühren. Im übrigen fühlt er sich in der Sache mit der Jüdin im Recht, hier ist er der Sachwalter Roms. Natürlich kann Titus mit seiner Berenike schlafen, sooft es ihm Spaß macht. Aber daß die Beziehungen des Bruders zu der Jüdin so öffentlich sind, das gibt Ärgernis, und die Dynastie, gerade weil sie jung ist, muß darauf achten, Skandal zu vermeiden. Lange und ausdrucksvoll beschaut er das Bild. Dann, noch höflicher und zeremoniöser als vorher, führt er aus: »Sie werden eine jüdische Kaiserin nicht durchsetzen können, Bruder. Vielleicht wird man sie Ihnen verzeihen, wenn es auch eine römische Kaiserin gibt. Vielleicht wird man Ihre Berenike neben meiner Lucia ertragen. Sie sehen, nüchternste Vernunft verlangt, daß Sie mich zumindest zum Mitregenten machen.«
  Das ist richtig. Die Dynastie ist unpopulär. Berenike wird Anstoß erregen. Und mit Lucia, Bübchens Frau, der Tochter des überaus populären Feldmarschalls Corbulo, kann man sich sehen lassen, Rom liebt sie. Aber hat Titus nicht Zeit? Hat er nicht die Armee hinter sich? Wenn man ihm nur Zeit läßt, dann schluckt die Masse am Ende alles. Immerhin, gerade weil dieses Argument Domitians das erste ist, das Sinn hat, ärgert es ihn. Mit harten, engen Augen sieht er auf den Bruder, sein rundes, offenes Gesicht ist jetzt sehr rot. »Laß das meine Sorge sein«, herrscht er ihn an. »Glaube mir, ich werde Maßnahmen treffen, die mir Popularität unter allen Umständen sichern.«
  Domitian, leidend unter dem Geschmetter, zuckt sichtlich zusammen, ist eingeschüchtert. »Aber vielleicht gestatten Sie, daß ich an Vaters Beerdigung teilnehme«, sagt er mit gefärbter Demut. »Was heißt das?« ärgert sich Titus. »Natürlich wirst du neben mir gehen hinter der Bahre.« – »Das ist freundlich von Ihnen«, bedankt sich immer mit der gleichen gefärbten Demut Domitian. »Und haben Sie auch angeordnet, daß die Beutestücke aus dem Jüdischen Triumph mitgeführt werden?« erkundigt er sich besorgt. Diese Frage ist hinterhältig. Denn man führt im Leichenzug das mit, was an die Leistungen des Toten erinnert; die Beute aber des jüdischen Krieges ist von Titus errungen worden, nicht von Vespasian.
  Titus stand jetzt am Schreibtisch. Er war ein gutes Stück kleiner als der Bruder, aber nun war auch er gereizt, und er schaute so verächtlich auf Bübchen, daß der den Blick nicht aushielt. Titus dachte an den Toten, der unten in der Halle lag, im Purpur des Triumphators; an seinem Prunkbett aber zogen die Römer vorbei, in endlosem Zug. Was der also wohl, was der Vater dem Früchtchen geantwortet hätte, bedachte Titus. Und er fand die Antwort. »Man hat mir deine Rechnungen auf den Tisch gelegt«, sagte er kalt, sachlich. »Allein auf der Domäne am Albanersee hast du eine Million zweihunderttausend neue Schulden. Hat in Vaters verlorenem Testament auch was über deine Schulden gestanden?« Domitian schluckte. Der Vater hatte ihn immer knapp gehalten, so daß er die Villa und das Theater am Albanersee, die Prunkbauten, die er für Lucia begonnen hatte, in den Anfängen hatte steckenlassen müssen. »Wollen wir nicht endlich ernsthaft reden?« begann von neuem, veränderten Tones Titus. »Ich will Frieden mit dir, ich will Freundschaft. Du sollst Geld haben, du sollst auf der Domäne bauen können, du sollst für Lucia haben, was du willst. Aber nimm Vernunft an. Gib Frieden.«
  Domitian ist stark gelockt. Aber er weiß, Titus braucht ihn, auf ihm steht die Dynastie, Marull hat ihm versichert, er könne viel mehr aus ihm herauspressen. »Bedenken Sie, bitte«, erwidert er, »daß mir rechtens der Erdkreis gehört. Würden Sie sich an meiner Stelle mit einer Handvoll Sesterzien abspeisen lassen?« Titus, lächelnd, hat eine Anweisung geschrieben und eine Quittung. »Willst du das Geld, oder willst du es nicht?« fragt er. »Natürlich will ich das Geld«, mault stirnrunzelnd Bübchen, unterschreibt die Quittung und schiebt die Anweisung in den breiten Purpursaum seines Galakleides.
  Titus fühlt sich erschöpft. Die ganzen letzten Jahre stak diese Müdigkeit in ihm. Er hat so lange auf die Herrschaft gewartet. Oft hat er mit dem Gedanken gespielt, sie mit Gewalt an sich zu reißen, es hat Überwindung gekostet, zu warten, er war klug, er hat sich überwunden. Er hat gehofft, wenn er erst nach Recht und Gesetz Herr der Welt sein wird, dann wird seine Müdigkeit vorbei sein, dann wird ein großes Glücksgefühl sie wegschwemmen. Und nun ist es soweit, nun liegt der Alte unten in der Halle. Aber die Müdigkeit ist nicht fort, nach wie vor füllt eine tiefe Gleichgültigkeit ihn an; dieses erste Erreichnis erwies sich als eine Enttäuschung. Jetzt hat die ganze Welt nur noch zwei Lockungen für ihn. Mit Berenike zusammen zu sein, mit Nikion, verknüpft, für immer, ist die eine. Die andere ist, diesen hier zu gewinnen, den Bruder. Sollte er wirklich nicht fähig sein, das zu erreichen? Er hat die Armee herumgekriegt, hat bewirkt, daß selbst sein nüchterner, zugesperrter Vater auf seine Art ihm zugetan war, daß Nikion trotz der Verbundenheit mit ihrem uralten Volk ihm die Zerstörung des Tempels verzieh und ihn liebt. Versagt er so übel hier vor diesem jungen Menschen? Was soll das kleinliche, kümmerliche Gezänk? Er steht auf, tritt zu dem Sitzenden, legt ihm den Arm um die Schulter. »Nimm Vernunft an, Bübchen«, bittet er nochmals. »Mach keine Geschichten, die zuletzt nur dich selber schädigen. Zwing mich nicht, Härte gegen dich anzuwenden.« Er macht ihm neue Angebote, ihm zu beweisen, wie ehrlich er es mit ihm meint. Er will, um das Volk endgültig für die Dynastie zu gewinnen, öffentliche Bauten größten Stiles errichten, er will Spiele geben, wie man sie noch niemals gesehen hat. Bübchen, bietet er ihm an, soll für viele dieser Bauten, soll für die wichtigsten dieser Spiele als Protektor zeichnen und die Ehre davon haben.
  Domitian hat die Oberlippe noch mehr vorgewölbt, er sitzt steif und ablehnend da. Sicher sind das Fallen, die Titus ihm legt. Das Volk endgültig für die Dynastie gewinnen will er? Aha, er sieht ein, wie wenig Anhang er im Volk hat. Er braucht ihn, er braucht den Namen des Jüngeren. Bauten großen Stiles errichten will er? Aha, er will ihm seine guten Baumeister abspenstig machen, die Grovius und Rabirius. »Ich will Mitregent sein oder nichts«, sagt er feindselig, starrköpfig.
  Titus hört ihn an. Wut steigt in ihm hoch. Aber er darf sich nicht hinreißen lassen. Wenn er heftig wird, verdirbt er die Sache vollends. Um ruhig zu bleiben, sagt er sich vor, was alles für den Bruder spricht. Man hat ihn, als er ein Knabe war, elend und knapp gehalten; dann plötzlich, er war kaum achtzehn, fiel ihm die Stellvertretung des Vaters in Rom zu, das Regiment der halben Welt. Kein Wunder, daß einer da das Gleichgewicht verliert. Bübchen ist nicht unbegabt. Er hat Ideen, er hat Elan. Das Ungestüm, mit dem damals der Achtzehnjährige die junge, strotzende Lucia dahin brachte, sich scheiden zu lassen und ihn zu heiraten, war imposant. Imposant auch bei aller Überflüssigkeit der Schneid, mit dem er damals zur Armee nach Gallien aufbrach. Gibt es denn kein Mittel, den Bruder spüren zu lassen, wie läppisch sein Mißtrauen ist, wie überflüssig seine Quertreibereien?
  Nein, es gibt keines. Bübchen spürt nichts. »Du wirst natürlich bei der Leichenfeier deinen Demetrius Liban beschäftigen?« fragt er bösartig. Titus hat geschwankt, ob er das tun soll. Jetzt, gereizt durch den Ton des Bruders, kann er sich trotz aller Mühe nicht länger zähmen. »Ja«, sagt er scharf, ich werde mir gestatten, diesen Künstler zuzuziehen.« – »Du weißt«, erwidert giftig Domitian, und jetzt ist es aus mit seiner Höflichkeit, seine Stimme kippt, »daß Vater den Favor genommen hätte. Keinen anderen. Deinen Juden mit seinen vulgären Übertreibungen bestimmt nicht.« – »Dein Favor ist wohl diskret?« höhnt Titus zurück. »Das Couplet von den Schweinen ist wohl diskret?« Trotz des Schmetterns läßt Bübchen sich jetzt nicht einschüchtern. »Das stand zu erwarten«, erwidert er, »daß dein orientalischer Geschmack an den Schweinen Anstoß nimmt.«
  Den Titus wurmt es, daß er auf den kindischen Ton des Bruders einging, daß er nicht hat durchhalten können. Er macht einen letzten, großen Versuch, Bübchen zu gewinnen. »Ich kann dich nicht zum Mitregenten machen«, sagt er, die Augen nach innen gestellt, versunken, gequält geradezu. »Du kennst die Gründe. Aber alles sonst will ich dir geben. Heirate Julia.«
  Domitian sieht auf. Das ist mehr, als er erwartet hat. Wenn dieser da ihm die Tochter zur Frau geben will, statt ihn umbringen zu lassen, so bedeutet das allerhand. Wer kann wissen, ob Titus immer von der gleichen Langmut bleiben wird, ob er sich nicht doch eines Tages entschließt, sich des gefährlichen Nebenbuhlers zu entledigen, ihn zu beseitigen. Er, Domitian, an seiner Stelle hätte es längst getan. Heiratet er Julia, dann ist ihm Leben und Anspruch auf die Nachfolge gesichert. Dazu ist Julia schön. Blond, fleischig, weißhäutig, von einer lässigen, reizvollen Trägheit. Eine kurze Zeit schwankt er. Doch sehr bald wieder fällt ihn das alte Mißtrauen an. Der andere will, daß er Julia heirate, sich von Lucia scheiden lasse? Aha, Titus will Lucia für sich selber, will zeigen, daß ihm die Frau, die der Bruder geheiratet hat, als Freundin gerade recht ist. Gefehlt, mein Lieber. Darauf fällt dir ein Domitian nicht herein.
  Er stellt sich vor, wie er seinen Freunden, dem Senator Marull und seinem Adjutanten Annius, diese Unterredung schildern, wie er vor allem seiner geliebten Lucia triumphierend davon erzählen wird. Bis in jede Einzelheit ausmalen wird er ihr, wie sich der Bruder vor ihm abgezappelt hat, wie er seine List durchschaut hat und ihn hat abfahren lassen. Lucia wird lachen; sie kann gut lachen, und wer sie zum Lachen bringt, hat viel bei ihr gewonnen. Er ist sehr mißtrauisch, die Menschen sind Geschmeiß, davon ist er zutiefst überzeugt, aber wenn Lucia lacht, dann ist er glücklich. Vielleicht, wenn sie gut und zustimmend über seine Erzählung lacht, läßt sie ihn auch einmal wieder die Narbe unter ihrer linken Brust küssen, deren Berührung sie ihm so oft versagt. »Ich anerkenne Ihre guten Absichten, Bruder«, erklärt er endlich, sehr höflich. »Allein das ändert nichts an der Rechtslage. Die Unterschlagung des Testaments bleibt ein Verbrechen, das vielleicht vergeben, aber durch solche Angebote nicht gesühnt werden kann. Ich behalte mir alles Weitere vor«, schließt er, grüßt, geht.


Als er dann, am dreißigsten Juni, hinter der Bahre des Vaters einherschritt, fühlte er sich nicht unzufrieden. Daß man zum Beispiel die Beutestücke aus dem jüdischen Krieg mittrug, die Schaubrottische, den Goldenen Leuchter, daß man also der Wahrheit die Ehre gab und den Vespasian, nicht den Titus als den Besieger Judäas anerkannte, das hat er erwirkt, das hat der Bruder ihm konzedieren müssen. Je länger die Zeremonie dauerte, so mehr füllte ihn Befriedigung. Es ist gut, daß es mit dem Alten aus ist. Darin ist er mit Titus einig, daß man jetzt die Würde der Dynastie ganz anders wahren kann. Der Tote da vor ihm freilich, wie er auf seinem hohen Traggerüst halb sitzend liegt, in der Haltung eines Lebenden, die Wange in eine Hand gestützt, ist trotz des kaiserlich purpurnen Kleides nicht eben sehr würdig. Doch schon die Prozession der vorausschreitenden Ahnen ist eine höchst eindrucksvolle Schaustellung. Denn jetzt haben er und Titus freie Hand. Die Schauspieler, die dort vorne, eine endlose Reihe, zu Fuß, zu Pferd, auf Ruhebetten gelagert, die Ahnen verkörpern, ihre Masken tragend, stellen nicht den Inhaber des Inkassobüros dar und nicht den des Vermittlungsbüros, wohl aber Feldherren, Oberrichter, Präsidenten, und ihr Zug mündet aus in Herkules, den Ahnherrn des Geschlechts. Mögen die Beweisstücke für diese Vorväter zweifelhaft sein: wenn man sie den Massen nur oft genug zeigt, dann glauben sie daran; er selber beginnt schon, daran zu glauben.

  Neben dem kräftigeren, jüngeren Bruder wirkt Titus ein wenig müde. Ab und zu murmelt er mit den Chören: »O Vespasian, o mein Vater Vespasian«; aber es bleibt ein mechanisches Bewegen der Lippen. Er leidet unter der Hitze, unter seiner Schlaffheit. Vielleicht hat Bübchen ihm ein Gift eingegeben, ein schleichendes, langsam wirkendes. Sein Arzt Valens freilich bestreitet es, und Valens ist vertrauenswürdig. Vielleicht ist wirklich seine Erschöpfung einfach die Konsequenz seines wilden, rastlosen Lebens. Vielleicht auch die Folge einer Krankheit, die eine Frau ihm angehängt hat. Vielleicht auch weder Gift noch Krankheit, sondern einfach eine Strafe des jüdischen Gottes.
  Neun Jahre sind es jetzt her, daß man das Haus dieses Gottes verbrannt hat. Nicht er: man. Er hat Berenike versprochen, den Tempel zu schonen, und er hat das Seine dazu getan. Wenn es am Ende doch anders kam, dann trägt er nicht mehr Schuld daran als sein Vater, und wenn er jetzt die Beute von damals, die Tempelgeräte, mit im Leichenzug führen läßt, so gibt er mit Recht dem Toten die Ehre des Triumphs, wälzt aber mit dem gleichen Recht die Verantwortung für die Lästerung des jüdischen Gottes auf ihn ab.
  Er erinnert sich genau, wie er damals dem Ersten Zenturio der Fünften den Tagesbefehl für den fatalen neunundzwanzigsten August übergab. »Belästigt der Gegner die Lösch- und Aufräumekommandos, so ist er mit Energie abzuweisen, doch unter Schonung der Baulichkeiten, soweit sie zum eigentlichen Tempelhaus gehören«, so hat er es formuliert. Er ist gedeckt. Das Kriegsgericht hat alles festgestellt. Man hat der Ersten Kohorte der Fünften Legion die Unzufriedenheit der Heeresleitung ausgesprochen, weil sie den Brand nicht verhindert hat. Er braucht nicht lange einen guten Advokaten, um sich zu rechtfertigen.
  Eine andere Frage bleibt allerdings, ob auch der beste Redner und listigste Advokat, ob selbst ein Marull oder Helvid ihn vor diesem verdammt listigen östlichen Gott, vor diesem unsichtbaren Jahve, zu einem Freispruch verhelfen könnte. Der Zenturio der Fünften hat vorschriftsmäßig den Tagesbefehl wiederholt. Er sieht ihn noch, diesen Hauptmann Pedan, wie er damals vor ihm stand, fleischig, mit nacktem, rosigem Gesicht, gewaltigen Schultern, mächtigem Nacken, mit seinem lebendigen und seinem Glasauge. Er hat es noch gut im Ohr, wie der Hauptmann damals, wiederholend, den Befehl mit seiner quäkenden Stimme vorlas. Dann, unmittelbar nachdem Pedan geendet hatte, war ein winziges Schweigen gewesen. Er wußte noch genau, was er während dieses winzigen Schweigens gespürt hatte. Daß man das da herunterreißen müsse, das Weißgoldene, den Tempel dieses unheimlichen, unsichtbaren Gottes, daß man ihn unter die Füße stampfen müsse, das hat er gespürt. Jerusalem muß hin sein, Hierosolyma est perdita, die Initialen davon: Hep, Hep, das hat er damals gespürt, genau wie seine Soldaten. Aber was er gespürt hat, ist seine Sache, Gedanken sind unsichtbar, nur für seine Taten muß man einstehen. Möglich freilich, daß dieser listige Jahve es anders hält, der ja leider aus seiner Unsichtbarkeit heraus alles merkt. Vielleicht ist es deshalb, daß er sich jetzt an ihm rächt und ihn krank macht und ihm alle Tatkraft und Freude nimmt. Vielleicht wäre es klüger, an Stelle des Doktor Valens einen guten jüdischen Priester zu Rate zu ziehen. Er muß das mit seinem Juden Josef bereden.
  Ach, wenn er es mit Berenike bereden könnte. Wenn er sie da hätte. Es ist ihrethalb, daß er diesen Feuertelegrafen eingerichtet hat. Sicher weiß man es längst in Judäa, daß der Alte tot ist. Sicherlich auch hat es Berenike in der Einsamkeit ihrer judäischen Besitzungen erfahren. Sicherlich weiß sie, wie sehr er sie braucht, sicher ist sie längst aufgebrochen. »O Vespasian, o mein Vater Vespasian«, bewegten sich seine Lippen. Aber seine Gedanken sind bei Berenike. Er berechnet, daß sie bei gutem Wind in zehn Tagen schon hier sein kann.
  Endlich ist man auf dem Forum. Man macht halt vor der Rednertribüne. Titus ersteigt die Bühne. Er ist ein guter Redner, Lobreden auf Tote sind dankbare Aufgaben, er ist gut vorbereitet. Auf einem in der Falte seines Ärmels versteckten Täfelchen hat er stenographische Notizen. Seiner Sache sehr sicher also, ja mit einer gewissen Freude, begann er zu spre chen. Doch merkwürdigerweise wich er sehr bald ab von dem, was er sagen wollte. Er sagte fast nichts über den englischen Feldzug des Toten und wenig über die Errettung des Reichs und die Stabilisierung der Wirtschaft. Mit schmetternder Kommandostimme aber, in langen Sätzen, pries er, wie der Tote Jerusalem, die niemals eroberte Stadt, genommen und zerstört habe. Verwundert hörten es die Römer, Bübchen grinste geradezu. Auch die Juden standen erstaunt. Warum wollte es der neue Kaiser nicht wahrhaben, daß er der Zerstörer des Tempels war? Bedeutete es für sie Gutes oder Schlechtes, daß der neue Herr seine eigenen Taten zugleich mit der Leiche verbrennen wollte?

Auf dem Marsfeld war in Pyramidenform ein ungeheurer Scheiterhaufen errichtet, mit sieben sich verjüngenden Stockwerken. Die Pyramide war mit goldbestickten Decken bekleidet, Elfenbeinreliefs und Gemälde verherrlichten die Taten des Mannes, der jetzt im Begriff war, ein Gott zu werden. Gaben, die Senat und Volk dem Toten gespendet hatten, waren über die sieben Stockwerke verteilt, Speisen, Kleider, Schmucksachen, Waffen, Geräte, was immer ihm im Jenseits lieb und nützlich sein mochte. Weithin duftete der Scheiterhaufen nach Wohlgerüchen, nach Gewürz, Weihrauch, Balsam, auf daß der Gestank des Brandes übertäubt werde.
  Die Dächer der Gebäude ringsum, der Theater, Badeanstalten, Wandelhallen, waren bedeckt mit Zuschauern. Vier große Tribünen waren errichtet für diejenigen, die man am Zug nicht hatte teilnehmen lassen können, weil die Entfernung vom Palatin zum Marsfeld nicht lang genug war, alle Berechtigten zu fassen.
  Auf einer der Tribünen hatte man den Vorstehern der sieben jüdischen Gemeinden Roms Plätze angewiesen. Zu ihnen hatte sich Claudius Regin gesellt. Es waren sehr gute Plätze, und die jüdischen Herren betrachteten das als günstiges Zeichen.
  Es war bitter notwendig, daß endlich freundlichere Winde kamen. Die Regierung hatte seinerzeit die Juden Roms den Aufstand in Judäa nicht entgelten lassen. Dennoch war mit der Zerstörung ihres Staates und ihres Tempels schwerer Kummer über sie hereingebrochen. Obwohl viele von ihnen schon seit fast anderthalb Jahrhunderten hier in Rom saßen, hatten sie nie aufgehört, ihr Judäa als ihr Heimatland zu betrachten, und alle paar Jahre waren sie, frommes Glück im Herzen, zum Passahfest nach Jerusalem gewallfahrtet, zum Hause Jahves. Jetzt waren sie für immer dieser ihrer wahren Heimat beraubt. Nicht nur das: sie wurden Tag um Tag auf eine besonders demütigende Art an die Zerstörung ihres Heiligtums erinnert. Der Mann nämlich, dessen Leiche man jetzt hierhertrug, war nicht geneigt gewesen, ihnen die kleine Abgabe zu schenken, die sie früher für den Tempel in Jerusalem gezinst hatten. Er hatte vielmehr voll bösartigen Witzes verordnet, daß die fünf Millionen Juden des Reiches diese Steuer nunmehr für den Kult des Capitolinischen Jupiter zu entrichten hätten. Bei Todesstrafe war es ihnen verboten, sich dem Areal ihres eigenen, verwüsteten Tempels im Umkreis von zehn Meilen zu nähern: in höhnischem Glanz aber hob sich vor ihren Augen, von ihrem Geld neu errichtet, das Heiligtum der Capitolinischen Trinität, das Haus jenes Jupiter, der nach der Meinung dieser Römer ihren Jahve besiegt und in den Staub getreten hatte.
  Und nicht nur diese schimpfliche Sondersteuer drückte sie. Da war noch die Frage der Emigranten aus Judäa. Der Krieg hatte eine ungeheure Menge Juden von dort weggespült. Die östlichen Provinzen mit ihren großen Städten Antiochien und Alexandrien hatten Hunderttausende aufgenommen; aber ihrer dreißigtausend etwa waren bis in die Hauptstadt gelangt. Es gab in Rom Juden von großem Reichtum und großem Einfluß, doch die Mehrzahl waren Proletarier, sie wohnten kümmerlich in freiwilligem Ghetto auf dem rechten Tiberufer, sie erregten durch ihr Elend und ihre Absonderung Unwillen und Gelächter, und der neue Zustrom zumeist bettelhafter Emigranten war den Altangesessenen unwillkommen. Dazu kam, daß zahllose Juden durch den Krieg Leibeigene geworden waren; noch immer bestand ein großer Teil des Menschenmaterials, das den Vorrat für die Tierhetzen und die andern blutigen Spiele der Arena bildete, aus Juden.
  Selbstverständlich versuchte man von diesen Leibeigenen so viele wie möglich freizukaufen; allein das erforderte große Mittel, und wen man freigekauft hatte, der lag einem auf der Tasche. Dabei schickten die jüdischen Gemeinden Alexandriens und Antiochiens immer wieder Delegierte, nun möchten doch auch die römischen Juden endlich größere Summen für die gemeinsamen Hilfskomitees stiften. Richtig war, daß jene östlichen Gemeinden für die Kriegsopfer ungleich höhere Beträge aufgebracht hatten als Rom. Aber Rom konnte eben nicht mehr leisten; es war schmerzhaft, immer wieder daran erinnert zu werden, wieviel reicher und mächtiger die östlichen Juden waren als die westlichen, immer wieder zu spüren, mit welchem Hochmut sie auf die Westjuden herabschauten.
  Heute aber quälten diese Gedanken die Juden der Stadt Rom nicht so hart wie sonst. Vespasian war tot. Auf der Tribüne des Marsfeldes saßen die Repräsentanten ihrer sieben Gemeinden, ihre Präsidenten, Syndici und Doktoren, und warteten darauf, daß er unter die Götter eingehe. Sie versprachen sich manches von der Zeit, da dieser Vespasian endlich ein Gott und Titus Kaiser sein wird. Das Bild der Berenike hing groß und jedem sichtbar im Empfangsraum des neuen Herrn, sehr bald wird die jüdische Prinzessin auf dem Palatin einziehen. Sie wird, eine neue Esther, ihr Volk aus den Demütigungen retten, die seine Feinde ihm antun.
  Die sieben Gemeinden liebten einander nicht. Die eine war modernistisch, liberalistisch, eine andere zählte nur Leibeigene und Freigelassene zu ihren Mitgliedern, wieder eine andere nur römische Bürger und große Herren; dennoch waren sie alle, Vornehme und Proletarier, freier Denkende und streng Ritengläubige, verbunden durch den gemeinsamen Schmerz um den verlorenen Staat, durch die gemeinsame Schmach der Judensteuer und der Eintragung in besondere Steuerlisten und jetzt durch die gemeinsame Hoffnung auf Umschwung.
  Die jüdischen Herren auf der Tribüne saßen in einer großen Gruppe. Cajus Barzaarone, der Präsident der AgrippenserGemeinde, der mitgliederreichsten, ist nicht so zuversichtlich wie die übrigen Herren. Er hat viel erlebt und viel gesehen. Jahve ist ein gütiger Gott und ziemlich tolerant, aber der Kaiser, jeder Kaiser, greift oft ein in die Rechte Jahves und macht es den Juden nicht leicht. Der alte Herr wiegt den klugen Kopf. Es ist schwer, ein guter Jude und zugleich ein guter Römer zu sein. Es ist schwer für ihn selber, seine Möbelfabrik, die erste in Rom, auf der Höhe und zugleich alle Gebote Jahves zu halten. Sein Vater, den er sehr liebte, hat sein Alter vergällt gesehen durch die inneren Konflikte, die diese Situation mit sich brachte. Es wird auch diesmal, erklärt er, nicht so einfach sein, wie die Herren es sich vorstellen. Es wird wahrscheinlich noch viel Wasser den Tiber hinunterfließen, ehe die Prinzessin Berenike Kaiserin ist, und wenn sie es wirklich wird, wer weiß, wieviel von ihrem Judentum sie dafür wird preisgeben müssen. Man hat da Beispiele.
  Alle wissen, an wen der kluge, kopfwiegende Herr denkt. Der Schriftsteller Josef Ben Matthias ist den Juden Ursache ständigen Zankes und Ärgernisses. Dieser Mann, sein Leben, sein Buch, sein vielfacher Verrat und sein vielfaches Verdienst um die Judenheit, bleibt ihnen ein Rätsel. Das regierende Kollegium von Jerusalem hat ihn seinerzeit in den Bann getan. Einige von den Doktoren in Rom sind der Ansicht, nach dem Untergang des Tempels gelte dieser Bann nicht mehr. Aber den meisten Juden der Stadt ist Josef gleichwohl ein Abtrünniger, und sie halten, wenn er in ihre Nähe kommt, die sieben Schritte Abstand wie vor einem Aussätzigen. So auch hält es Cajus Barzaarone.
  »Ich glaube«, sagt der Finanzmann Claudius Regin, und die schlauen, schläfrigen Augen unter seiner vorgebauten Stirn schauen gerade und unverwandt in die listigen, beweglichen des Möbelhändlers, »ich glaube, es wird sich jetzt zeigen, daß Doktor Josef Ben Matthias sein Judentum nicht vergessen hat.« Er gibt Josef mit Absicht seinen jüdischen Namen und Titel. Er möchte die Gelegenheit benützen, für ihn bei den Juden etwas herauszuschlagen. Wahrscheinlich weiß der sehr weltkundige Herr besser als die Männer hier auf der Tribüne um die vielen brüchigen Stellen im Wesen des Josef, und oft in seiner mundfaulen Art gibt er ihm das zu verstehen. Gleichwohl hat er eine aus den Tiefen kommende Neigung für ihn, er hilft ihm, wo er kann, und hat als des Josef Verleger einen großen Teil seines Ruhmes geschaffen.
  Die Juden auf der Tribüne hören aufmerksam zu, wie Claudius Regin zu sprechen beginnt. Er betont zwar immer, er gehöre nicht zu ihnen, er sei froh, daß sein sizilischer Vater dem Drängen seiner jüdischen Mutter widerstehend, ihn nicht habe beschneiden lassen. Aber, alle wissen es, wenn einer ein Freund der Juden ist, dann dieser Claudius Regin. »Ich glaube«, fährt er fort, »es wäre gut, den Doktor Josef Ben Matthias zu unterstützen, wenn er sein Judentum beweisen will.« – »Kann man einen dabei unterstützen?« brummelt ablehnend Cajus Barzaarone. Aber Claudius Regin weiß, die Juden auf der Tribüne werden sich seine Worte überlegen.
  Der Zug nahte, umkreiste das Marsfeld. Die auf der Tribüne erhoben sich, den Arm mit der flachen Hand ausstreckend, grüßten den toten Kaiser. Aber worauf sie warteten, alle, gespannt, das war nicht der tote, das war der lebendige Vespasian, der Schauspieler, ihr Schauspieler, Demetrius Liban, der Jude. Und da kam er auch schon, von weit her erkannte man sein Nahen an dem stürmischen Gelächter, das ihm voranging. Zwischen dem Senat und den Gruppen des Zweiten Adels schritten sie, der ganze Trauerzug der Ahnen, ein zweites Mal, dargestellt wiederum von Tänzern und Schauspielern, aber Masken und Gesten schärfer jetzt, grotesk, ins Komische verzerrt. Und da, endlich, als ihr letzter, Vespasian. Unser Demetrius Liban.
  Nein, das war nicht Demetrius, das war wirklich Vespasian. Ein Jammer, daß der Tote sich nicht mehr selber sehen kann, es wäre ihm ein Hauptspaß. Mit derben, kräftigen Schritten ging Demetrius-Vespasian einher, seine Lippen waren vielleicht ein Winziges länger, seine Falten ein Winziges härter, ein Winziges breiter seine Stirn, ein Winziges nüchterner, vulgärer das ganze Gesicht als das des Toten da vorne. Aber gerade darum war er doppelt Vespasian. Leiblich gemacht war den Hunderttausenden der ganze Kontrast zwischen der Würde und Mystik römischer Kaisermacht und der bäurisch rechenhaften Persönlichkeit ihres letzten Trägers. Jubelnd begrüßten sie ihren Kaiser, wie er da zwischen ihnen einherschritt, Spott austeilend, Spott hinnehmend. Er sei vergnügt, sagte er den Massen am Straßenrand; es sei heute ein heißer Tag, das
mache durstig, das sei gut für die Latrinensteuer.
  Seinen Hauptspaß aber hielt Demetrius Liban noch zurück. Soll er ihn überhaupt machen? Immer wieder faßte ihn Furcht vor seinem eigenen Mut. Jetzt aber sah er auf einer der Tribünen den Kollegen Favor, den Ersten Schauspieler der Epoche, den Nichtskönner, um dessentwillen dieser Tote ihn aus dem Licht in den Schatten gedrängt hat. Da packte es ihn, und das Herz trat ihm auf die Zunge. Mit derben Schritten machte er sich Bahn bis zum Intendanten der Schauspiele, wartete, bis es ganz still wurde, und, auf den Scheiterhaufen und die Pracht des Leichenzuges weisend, mit lauter, knarrender Stimme, fragte er: »Sagen Sie, Herr, wieviel haben Sie denn nun für den ganzen Zauber ausgeworfen?« – »Zehn Millionen«, antwortete wahrheitsgemäß der überraschte Intendant. Da grinste Demetrius-Vespasian schlau über sein hartes Bauerngesicht, stieß den andern in die Seite, streckte ihm die Hand hin, blinzelte, schlug ihm vor: »Gebt mir hunderttausend und schmeißt mich in den Tiber.«
  Einen Augenblick stutzte man, dann aber pruschte man heraus, die Zuschauer am Straßenrand, die Senatoren auf der Tribüne; selbst die spalierbildenden Soldaten der Leibgarde konnten sich des Lachens nicht enthalten. Dröhnendes Gelächter war von einem Ende des Platzes bis zum andern.
  Den Juden auf der Tribüne aber, trotzdem sie sich der anstekkenden Heiterkeit nicht entzogen, kamen sogleich Bedenken. Liban ist ein ausgezeichneter Schauspieler, meinten die einen, sein Witz ist gut, und er darf ihn sich leisten. Nein, meinten die andern, ein Jude muß Rücksicht nehmen, und es wird peinliche Folgen haben. Und ja und nein, und sie waren voll Anerkennung und priesen den Demetrius, und sie schüttelten sorgenvoll die Köpfe und schimpften.

Jetzt aber war der Zug am Scheiterhaufen angelangt. Man erstieg die Pyramide, setzte die Bahre auf dem obersten Stockwerk nieder. Titus öffnete dem Toten die Augen, er und Domitian küßten ihn, sie blieben bei ihm, während unten ein Regiment der Garde mit Tuben und Hörnern ein letztes Mal vorbeizog. Dann stiegen sie hinunter und zündeten, abgewand ten Gesichtes, den Scheiterhaufen an. In dem Augenblick, da die Flamme hinausschlug, schwang sich vom Giebel des obersten Stockwerks ein Adler in die Luft.

  In wenigen Minuten stand die Pyramide in Feuer. Die entzündeten Massen des Parfüms verbreiteten einen ungeheuren, betäubenden Geruch. Die Zuschauer aber, nicht abgehalten von Hitze und Geruch, drängten vor, zerrissen das Spalier der Garde. »Leb wohl, Vespasian, leb wohl, du sehr guter, sehr großer Kaiser. Sei gegrüßt, Gott Vespasian«, riefen sie, stürzten zum Scheiterhaufen, warfen letzte Gaben in die Flammen, Kränze, Kleider, abgeschnittene Haarlocken, Schmuck. Ein Taumel ergriff sie, halb gespielte Trauer, halb echte, sie schrien, die Hörner und Tuben klangen, noch sah man den Adler in der Luft.
  Auf seiner Tribüne der dickliche Finanzmann Claudius Regin schaute aus seinen schweren, schläfrigen Augen unter der vorgebauten Stirn in das Getümmel. Vielleicht spürte unter den Hunderttausenden allein er wirkliche Trauer. Ohne viele Worte zu machen, hatte der römische Kaiser niemanden als diesen Halbjuden in seine geheimen Sorgen und Freuden hineinschauen lassen. Vermutlich wußte niemand besser als er um die Schwächen des Toten, doch niemand besser auch um seine kluge Sachlichkeit, seinen trockenen, witzigen Verstand, seinen tiefen Blick fürs Menschliche. Claudius Regin verlor in ihm einen Freund. Mit seinen schweren Beinen schnell und mühevoll wackelte er herunter von der Tribüne, in die Hitze um den Scheiterhaufen hinein, schrie mit den andern, riß sich die Schuhe ab, schmiß sie in die Flammen.
  Es wuchs die Hitze, das Geschrei, der Taumel. Selbst die große, römische Lucia konnte sich nicht halten, sie zerfetzte ihr schwarzes Gewand, warf die Fetzen in die Flammen, ihre linke Brust mit der kleinen Narbe darunter war bloß. »Leb wohl, Kaiser Vespasian. Sei gegrüßt, Gott«, schrie sie mit den andern.
  Sehr schnell brannte die Pyramide nieder. Die glimmenden Kohlen wurden mit Wein gelöscht, dann sammelte man die Gebeine, begoß sie mit Milch, trocknete sie an Linnen ab, legte sie, mit Salben und Wohlgerüchen vermischt, in eine Urne. Gleichzeitig aber, in einer kleinen Höhlung, die im Mausoleum des Augustus vorbereitet war, begrub man den beringten dritten Finger des Toten, den man vor der Verbrennung abgeschnitten hatte.

Josef arbeitete trotz der drückenden Hitze vom frühen Morgen bis tief in die Nacht. Es ging um mehr als eine stilistische Überfeilung. Er wollte jetzt, nach dem Tod des Vespasian, die jüdische Grundhaltung des Buches auch in der griechischen Version so klar herausarbeiten wie in der ursprünglichen aramäischen Fassung.
  Phineas saß am Tisch, still, zugesperrt. Josef hielt sich in seinem Rücken. Sicherlich hatte der Sekretär, der überzeugte Grieche, Verachtung für die jüdischen Tendenzen des Buches und verhöhnte sie in seinem Innern. Sein großes, blasses Gesicht aber mit der mächtigen Nase blieb glatt, höflich, beflissen. Josef verlangte von ihm nicht weniger als von sich selbst, und Phineas, ohne ein Wort des Unmuts, hielt durch. Josef sah den starken, wenig behaarten Hinterkopf des Menschen, hörte seine tiefe, gleichmütige, wohlklingende Stimme. Der ganze Raum war angefüllt von seinem undurchdringlichen Hohn. Der Hohn des Josef freilich war besser, tiefer; sein Entschluß, sich von dem Mann zu trennen, gab ihm Überlegenheit.
  So arbeitete er, gehetzt, verbissen, kaum gehemmt durch die vielen Widerstände, bis er die Überfeilung der ganzen sieben Bücher des »Jüdischen Krieges« vollendet hatte. Tief atmete er auf, als er soweit war. Er hatte sich bis jetzt keine Gedanken gegönnt an die Dinge außerhalb seiner Arbeit. Jetzt tauchte er herauf. Jetzt wollte er die Augen aufmachen, wollte sehen, was sich in diesen Wochen rings um ihn ereignet hatte.
  Er schlenderte durch die Stadt. Es war angenehm, nach der Stille dieser letzten Wochen und ihrer engen Sammlung die Weite Roms zu spüren, sein brausendes Leben.
  Josef geriet auf das Forum, das den Namen des toten Kaisers trug. Weiß und stolz hob sich vor ihm das Haus der Friedensgöttin. Am Mittwoch pflegten hier öffentliche Vorträge stattzufinden. Josef ging solchen Veranstaltungen gemeinhin aus dem Wege. Heute indes lockte es ihn, einen griechischen Redner zu hören, ohne jede Endung und Wendung auf ihre Brauchbarkeit für sein eigenes Werk hin prüfen zu müssen. Er betrat den Tempel, ging in den Rezitationssaal.
  Die übergroße Zahl der literarischen Vorträge war zur Plage geworden; die Vorträge im Friedenstempel gar galten als anspruchsvoll und überkultiviert, und gewöhnlich blieb der weite, vornehme Raum leer. Doch heute konnte Josef nur mit Mühe Platz finden. Der Redner nämlich, ein gewisser Dio aus Prusa, war in letzter Zeit, vor allem durch die Protektion des Titus, sehr in Sicht gekommen, und sein Thema »Griechen und Römer« war von höchster Aktualität. Denn der schlaue Kaiser Vespasian hatte zwar dem griechischen Osten viele wirtschaftliche und politische Privilegien entzogen, hatte aber diese Unbill durch Schmeicheleien für griechische Bildung und Kultur und durch Ehrengehälter für eine Reihe griechischer Künstler und Wissenschaftler versüßt. Der Steuerzuwachs aus dem Entzug der Privilegien brachte an die fünf Milliarden, die Ehrengehälter kosteten noch keine Viertelmillion. Trotzdem hatte die Geste auf die ehrsüchtigen Griechen ihre Wirkung nicht verfehlt. Die senatorische Opposition in Rom aber, immer bestrebt, den Kaiser, da sie es durch ernsthaften Widerstand nicht konnte, durch Nadelstiche zu kränken, hatte daraufhin die »Griechlein« noch heftiger als bisher ihre altrömische Verachtung spüren lassen. Dio, der Redner von heute, der Günstling des Titus, war der Wortführer der Griechen in Rom, und man war gespannt, was er sagen und was man ihm erwidern werde.
  Viel Neues brachte der berühmte Mann nicht vor, das wenige freilich in glänzender Form. Er pries vor allem, und zwar mit deutlichen Spitzen gegen die Herren von der senatorischen Opposition, die man zahlreich unter den Zuhörern sah, die geistige Freiheit, die die Monarchie gebracht habe, ein Erreichnis, das der griechische Osten besonders schätze. Politische Freiheit, führte er aus, sei ein zynisches Vorurteil. Ein so riesiger Organismus wie der des Römischen Reiches müßte, wollte man ihn statt von einem einheitlichen Willen von einer größeren Körperschaft regieren lassen, schnell in Anarchie und Barbarei zerfallen. Ein geordnetes Ganzes aber sei die Voraussetzung einer wirklichen Freiheit, der Freiheit im Geiste. Es sei also, so paradox es klinge, die Herrschaft eines einzelnen die einzige Möglichkeit, geistige Freiheit zu gewährleisten. Geistige Freiheit aber sei von jeher das A und O hellenischer Kultur gewesen, und es sei somit die Monarchie die den Griechen am meisten gemäße Regierungsform. Die römische Monarchie gar entspreche durchaus den Vorstellungen, die die Besten der Griechen seit Homer sich vom Staate gemacht hätten. Sie sei keine orientalische Tyrannis, sondern eben jenes aufgeklärte Königtum, das die politische Ideologie der hellenischen Klassiker immer und immer wieder ersehnt habe. Kein Wunder daher, daß seit den Zeiten des Augustus die griechische Bildung einen neuen Aufschwung genommen habe. Jetzt seien römische Macht und griechischer Geist im Begriff, für immer harmonisch eins zu werden.
  Die Herren von der aristokratischen Opposition, kenntlich an dem breiten Purpurstreif ihrer weißen Galakleider und an ihren hohen, roten, schwarzgeriemten Schuhen, hörten die Rede mißvergnügt mit an. Sie hatten gleich erwartet, daß der Sprecher des Titus sein Thema zu Ausfällen gegen sie benutzen werde. Sie beharrten auf der Fiktion, den sechshundert Senatoren stehe die Herrschaft des Reiches zu, der Kaiser sei nur der Erste unter Gleichen, und was war der Vortrag des Dio anders gewesen als ein Angriff gegen diese ihre Auffassung? Sie standen in einer anmaßlichen Gruppe zusammen, als der Redner geendet hatte. Josef, mit vielen anderen, trat näher an die Gruppe heran; man war gespannt, ob sie sich auf eine Diskussion einlassen würden. Josef lachte in seinem Innern über ihre utopischen Ansprüche. Sie waren um nichts besser, diese Herren mit den hochklingenden Titeln und Ämtern, als jene »Rächer Israels«, die seinerzeit den jüdischen Aufstand fortgeführt hatten, als er längst besiegt war.
  Jetzt begann wirklich einer von den jüngeren Herren zu reden. Er wagte es nicht, die monarchistischen Theorien Dios anzugreifen, er zog es vor, seinen Ärger in Schmähungen des Griechentums zu entladen. Wenn es im Osten immer wieder zu Reibungen komme, führte er aus, so liege das nur am Dünkel der Griechen. Die wollten den Römern vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hätten, was einem Römer anstehe und was nicht. Wie sähen sie denn in Wahrheit aus, diese Menschen, die sich als das Salz der Erde betrachteten? Schnelle, witzige Urteile hätten sie bei der Hand, das leugne er nicht, ihre Beredsamkeit sei betäubend, aber sie seien höchst unbedenklich in der Wahl ihrer Argumente. Ihre leicht angeregte Phantasie hindere sie, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Außerdem habe lange Knechtschaft sie zur Schmeichelei erzogen, ihre komödiantischen Talente entwickelt. Natürlich könne man diese Eigenschaften auch mit freundlicheren Worten bezeichnen, könne sie Anpassungsfähigkeit nennen, Anmut des Wesens und der Rede, Erfindungsgabe, Geschäftsgewandtheit. Wenn aber die Griechen sich ernstlich mit Rom verständigen wollten, täten sie gut, sich selbst zu sehen, wie sie seien. »Wir hier«, schloß er, »halten es gewiß für einen Vorzug, gut zu reden und zu schreiben und schöne Bilder zu malen. Aber die Fähigkeit, ein Reich und eine Armee zu organisieren, scheint uns wertvoller. Wir sind nicht gewillt«, fügte er bei, anspielend auf das hohe Ansehen, das Dio bei Hofe genoß, »es hinzunehmen, daß bei Tafel ein Jemand, den der gleiche Wind in unsere Stadt wehte, der uns die Damaszenerpflaumen bringt und die syrischen Feigen, vor uns den Vorrang hat. Daß wir von Kind auf die Luft des Aventin geatmet und uns mit sabinischer Frucht genährt haben, halten wir für einen Vorzug, den wir gegen keine Fixigkeit griechischer Rede vertauschen möchten.«
  Josef, so plump ihm dieser Ausspruch römischen Stolzes schien, hörte es gern, daß der Mann den Griechen so hochmütig abfertigte. Viele hatten sich um die Gruppe gesammelt, Griechen und Römer, aufmerksam lauschend. Der Redner Dio stand dem jungen Aristokraten gegenüber, lang, elegant, sehr sicher, ein verbindliches Lächeln um den dünnen Mund. Er schien gleichmütig, aber man sah, wie es hinter seiner hohen, steilen Stirn arbeitete, und wartete gespannt, wie jetzt der griechische Professor, dieses Licht aus dem Osten, dem jungen, hoffärtigen Römer seine Frechheiten heimzahlen werde.
  Allein noch bevor Dio den Mund auftat, hatte ein anderer sich an diese Aufgabe gemacht, ein Mann mit einem großen, gescheiten Kopf auf einem mageren, eleganten Körper. Der Teint des Mannes war von krankhafter Blässe, seine Hände dünn, unmäßig lang. Aber man sah diese Blässe nicht mehr und nicht mehr die großen, dünnen Hände, sowie er erst zu sprechen angefangen hatte, man hörte dann nur mehr seine tiefe, wohlklingende, wandlungsfähige Stimme. Josef hatte das an sich selber erfahren. So zuwider ihm sein Sekretär Phineas war, er konnte sich dem Zauber seiner Rede schwer entziehen. Daß aber dieser Phineas sich an solchen Diskussionen beteiligte, hatte er bisher nicht gewußt, und er hörte aufmerksam und betreten zu.
  Was Phineas sagte, war bis zur Gefahr tapfer. »Es ist nicht ausgemacht«, meinte er, und sein Ton war besonders höflich, »ob wir Griechen, wenn wir unsere ganze Intensität auf Erhaltung unserer politischen Freiheit gerichtet hätten, besiegt worden wären. Wer Isokrates aufmerksam liest, der erkennt, daß es unter uns jederzeit Männer gab, die unsere politische Freiheit bewußt preisgeben wollten, um unsere geistige Freiheit zu wahren. Darin hat dieser große, weise Herr Dio aus Prusa zweifellos recht. Allein nicht zu dem Zweck haben wir auf unsere politische Souveränität verzichtet, um uns jetzt von Männern heruntermachen zu lassen, die die Zusammenhänge nicht überblicken. Wir haben ein Universalreich angestrebt. Rom hat, im Rohbau wenigstens, dieses Universalreich geschaffen. Wir müssen uns aber dagegen verwahren, daß man uns unseren Anteil abspricht. Wir geben Rom, was Roms ist: man anerkenne, was unser ist. Unser Anteil ist nicht gering. Nehmen Sie der römischen Bildung ihre griechische Grundlage, und alles stürzt zusammen. Cicero ist nicht denkbar ohne Demosthenes, Virgil nicht ohne Homer. So gewiß in Politik und Wirtschaft Rom der Welt Gesetze gibt, so gewiß trägt alles Geistige unsere hellenische Prägung. Kaiser Vespasian hat uns Freiheiten entzogen, die ein früherer Monarch uns gegeben hat. Wir beklagen uns nicht darüber. Wir haben auch nicht groß gejubelt, als jener andere uns diese Freiheiten verlieh. So mächtig der römische Kaiser ist, die Dinge, die uns Griechen die wichtigsten auf der Welt scheinen, kann er uns nicht nehmen und nicht geben. Er kann sie bestenfalls von uns emp fangen. Der junge Herr, der von der Höhe seines Senatorenschuhs so tief auf uns ›Griechlein‹ in unseren silbernen Sandalen herabschaut, möge wissen, daß wir bei all unserer Schmiegsamkeit eine Eigenschaft nicht umbiegen und nicht umlügen, niemandem zuliebe: den Stolz, Griechen zu sein. Macht ist eine große Sache, Politik ist eine große Sache, aber im Bereich des Geistes, vom Standpunkt des ordnenden Philosophen aus, sind die Politiker nichts Besseres als Polizisten, ausführende Organe des Alleinherrschers Geist. Ohne Aristoteles, ohne griechische Ideologie wäre Alexander nicht möglich gewesen. Und was ist dieses große Römische Reich anders als, in kleinerem Format, die Wiederholung dessen, was als erster Alexander geschaffen hat?«
  Josef stand ziemlich weit hinten. Er konnte Phineas schlecht sehen und hoffte nur, der habe ihn nicht gesehen. Die Stimme des Mannes drang in ihn. Der Mann brauchte keine großen Worte zu machen, eine leise Schwingung seiner Stimme, und sein Gegner war begraben unter einem Berg von Hohn. Betroffen nahm Josef wahr, wie selbst die eisig hochmütigen römischen Aristokraten sich seiner Rede nicht entziehen konnten. Sie machten Miene, zu gehen, aber sie blieben, sie hörten zu, sie schauten auf den großen, blassen Kopf, aus dem geflügelt die Worte kamen. Josef verstand die Tiefe dieses Erfolgs. Phineas sprach vor Männern, die ihm nicht gewogen waren, er, der Freigelassene, vor Männern des höchsten Adels. Es war sicherlich nicht das erstemal, daß er bei einer solchen Gelegenheit sprach: so spricht keiner, der das erstemal spricht. Wie kam es, daß er ihm niemals ein Rühmens aus seiner Begabung gemacht hat? Welcher Hochmut von dem Freigelassenen, welch innerer Vorwurf für ihn selber, daß er es nicht für der Mühe wert hielt, ihm davon auch nur zu sprechen.
  Aber mehr als das alles traf ihn der Inhalt dessen, was der Mann sagte, dieser selbstverständliche Stolz auf die griechische Superiorität. Waren das nicht seine eigenen Träume von jüdischer Überlegenheit, nur eben angewandt aufs Griechentum? Wenn, wie Phineas mit Recht sagte, dieses große Römische Reich nichts anderes war als eine Nachahmung der schon von Alexander erreichten Universalmonarchie, war dann das jüdische Schicksal, selbst wenn es bis zu den Höhen geführt werden könnte, von denen Josef träumte, etwas anderes als ein läppisch verkleinerter Abklatsch des griechischen? War sein, des Josef, Lebensziel wirklich nur die Imitation eines längst Erreichten?
  Der Stolz des Römers auf sein Römertum war lächerlich. Keine Frage, daß Phineas ein besserer Mann war als der junge, dünkelhafte Mensch, der die Griechen angepöbelt hatte. Phineas hatte ihm gut erwidert, aber seine Argumente, sowie man sie näher betrachtete, zerfielen wie die des andern. Daß einer sich besser dünkt als der andere, weil die Vorfahren der Leute, in deren Mitte er geboren war und deren Sprache er sprach, große Taten verrichtet hatten, war sinnlos und verächtlich.
  Josef, als er so weit gedacht hatte, erschrak. Wenn das für den Römer galt und für den Griechen, galt es weniger für ihn, den Juden? Schnell schaltete er seinen Vorbehalt ein. Gut, er hat den Psalm des Weltbürgers geschrieben, und sicherlich ist auch sein letztes Ziel, daß alle Stämme der Welt ein Volk werden, geeint im Geiste: aber solange das nicht erreicht ist, gilt es da nicht, die eigene Gruppe zusammenzuhalten, schon weil sie die einzige ist, die dieses Ziel erstrebt?
  Er suchte das stark erschütterte Gebäude seines Stammesdünkels durch dieses Argument zu stützen, aber es gelang nicht. Er dachte seine Gedanken nicht zu Ende, hörte den Phineas nicht zu Ende. Er schlich hinaus, die hohen Stufen des Friedenstempels hinunter drückte er sich, benommen, in großer Verwirrung, fliehend beinahe.

Am Abend dieses Tages aber, als er zu Claudius Regin, seinem Verleger, ging, um ihm das abgeschlossene Manuskript zu überreichen, hatte der leichtfertige Mann alle Eindrücke und Gedanken des Vormittags schon wieder in die unterste Tiefe seiner Brust verdrängt.
  Der große Finanzmann, nach der Mahlzeit, lag auf dem Speisesofa, schlecht, lotterig angezogen, und trank in kleinen Schlucken an seinem Wein, er mußte ihn lauwarm trinken, er hatte einen schwachen Magen. Er sei enttäuscht von der Haltung des Titus, erzählte er dem Josef. Der Kaiser sei sonderbar apathisch. Immer müsse der Arzt um ihn sein, dieser Doktor Valens. Selbst wenn es um Summen von vierzig, fünfzig Millionen gehe, bleibe er zerstreut, eine auffallende Haltung für einen Sohn des Vespasian. Er schiebe Entscheidungen immer wieder auf. Auch die Juden ernsthaft zu beschützen, wie er es wohl gern möchte, könne er sich nicht entschließen. Wahrscheinlich liege das an den Gerüchten, die Domitian, das Früchtchen, aussprenge. Früher sei dem Titus das Geschwätz der Straße gleichgültig gewesen. Jetzt aber habe er solche Furcht davor, daß er sich scheue, den Juden seine Sympathien zu zeigen. Es wäre gut, wenn endlich Berenike käme.
  Trotzdem Josef von der Weltkenntnis seines Verlegers viel hielt, stand die innere Zuversicht, die ihn erfaßt hatte, als er zum erstenmal vom Ableben des Vespasian hörte, so fest, daß ihn die Reden des Claudius Regin nicht irremachten.
  Der jetzt hatte das Manuskript des Josef aufgerollt. »Lesen Sie den Anfang des sechsten Buches«, bat Josef, »das Kapitel unmittelbar vor dem Sturm auf die Tempelburg.« – »Die Römer«, las Claudius Regin, »rasierten, um sich das für ihre Belagerungswälle erforderliche Bauholz zu verschaffen, das an die Stadt anstoßende Gelände bis auf neunzig Stadien im Umkreis. Das Land, das vorher im üppigsten Schmuck von Bäumen und Lustgärten geprangt hatte, lag jetzt vollkommen kahl. Kein Fremder, der die herrliche Umgebung Jerusalems früher gesehen, hätte jetzt, beim Anblick solcher Verödung, auf die ungeheure Veränderung anders reagieren können als mit bestürztem Jammer. Wäre jemand, der mit der Gegend von früher her vertraut war, jetzt unversehens hierherversetzt worden, er hätte sie nicht wiedererkannt, er hätte die Stadt suchen müssen, die doch vor ihm lag.«
  Josef wartete gespannt, was Regin sagen werde; er wußte, dieser Mann war einer der besten Kenner. »Ich freue mich«, sagte schließlich der Verleger, »daß Sie die jüdische Tendenz verstärkt haben. Ihr Buch, mein Doktor und Herr, ist sicherlich das beste Buch über den Krieg.« Josefs Herz hob sich. Aber Claudius Regin war noch nicht zu Ende. »Ich bin neugierig«, schloß er, »was Justus nach Ihrem Buch zu sagen haben wird.«
Den Freitagabend darauf ging Josef über die Emiliusbrücke, die hinüber zum rechten Ufer des Tiber führte, wo die Juden wohnten. Er war voll Genugtuung. Cajus Barzaarone, der Vorstand der Agrippenser-Gemeinde, die Worte bedenkend, die Claudius Regin bei der Bestattung des Kaisers gesprochen, hatte den Josef eingeladen, den Vorabend des Sabbats in seinem Hause zu verbringen. Josef ging also zum DreiStraßen-Tor in das Haus des Cajus.
  Mit Vergnügen erkannte er das Speisezimmer wieder. Heute wie damals vor fünfzehn Jahren, als er zum erstenmal hierhergekommen, war der Raum zur Feier des Sabbateingangs nicht nach römischer Art erleuchtet, sondern, nach dem Brauch Judäas, von silbernen, mit Veilchengirlanden geschmückten Lampen, die von der Decke hingen. Heute wie damals stand auf dem Büfett altes Tafelgeschirr mit dem Emblem Israels, der Weintraube. Mehr aber als alles andere rührte das Herz des Josef der Anblick der strohumhüllten Wärmekisten; da am Sabbat nicht gekocht werden durfte, bewahrte man die schon bereiteten Speisen in diesen Kisten auf, und ihr vertrauter Geruch erfüllte den Raum.
  Cajus Barzaarone kam ihm unbefangen entgegen, als hätte er ihn gestern zum letztenmal gesehen. »Friede mit dir, mein Doktor und Herr Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe«, bot er ihm ehrerbietig den hebräischen Gruß und führte ihn zum mittleren Speisesofa, dem Ehrenplatz. Sogleich dann sprach er, man hatte offenbar nur auf Josef gewartet, über einem Becher judäischen Weines, Weines von Eschkol, das Heiligungsgebet des Sabbatabends. Segnete sodann das Brot, brach es, verteilte es, alle sagten amen, und man begann zu essen.
  Solange die Frauen und die Kinder anwesend waren, kam keine rechte Unterhaltung zustande. Endlich aber war die Mahlzeit aus, und Josef, Cajus und des Cajus Schwiegersohn, der Doktor Licin, blieben allein. Sie saßen zusammen, die drei Männer, bei Wein, Konfekt und Früchten. Der alte, schlaue Möbelhändler lockerte seine vorsichtige Zurückhaltung. Wären gewisse äußere Ereignisse nicht eingetreten, begann er, dann hätte er den Josef nicht in sein Haus gebeten, so sei aber nichts von dem eingetroffen, was sich die Juden von dem neuen Regime versprochen hätten; im Gegenteil, die Erwartung, daß der Kaiser eine Jüdin heiraten werde, habe die judenfeindliche Stimmung nur verstärkt. Und der Kaiser schreite nicht dagegen ein, und Berenike komme nicht. Er habe nun gehört, Josef werde anläßlich der Vollendung der Neufassung seines Buches Gelegenheit haben, den Kaiser ausführlich zu sprechen. Er fordere den Josef auf, Titus dann daran zu erinnern, daß die bedrängten Juden Roms auf ein Wort des Wohlwollens warteten.
  Josef hatte sich nichts vorgemacht über die Gründe, die Cajus Barzaarone veranlaßt haben mochten, die Versöhnung mit ihm anzubahnen. Bei aller Verachtung, die die Juden ihm gezeigt hatten, war man auch früher schon manchmal an ihn herangetreten, wenn es galt, bei Hofe Beschwerden vorzubringen oder Vergünstigungen zu erlangen. Aber daß der Mann jetzt so nackt und unumwunden heraussagte, was er von ihm wollte, ärgerte ihn. Mit hochgezogenen Augenbrauen hörte er zu. »Ich will tun, was ich kann«, erwiderte er kurz.
  Der geschmeidige Doktor Licin bemerkte Josefs Verstimmung. »Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit noch für eine andere Sache«, sagte er schnell, sehr liebenswürdig. Josef konstatierte fast wider Willen, wie sehr zu seinem Vorteil der früher ein wenig affektierte Herr sich verändert hatte. Vermutlich hatte ihn Irene zurechtgeschliffen. Wenig fehlte, und damals hätte er selber die Tochter des reichen Möbelhändlers geheiratet; glühend hatte sie ihn verehrt in seiner ersten römischen Zeit, als er, ein begnadeter Soldat Jahves, ausziehen wollte, um für sein Land zu streiten. Wie anders wäre alles gekommen, wenn er sie zur Frau gehabt hätte. Er wäre dann wohl in Rom geblieben und hätte niemals eine Armee geleitet und ins Verderben geführt. Er wäre nie Tischgenosse des Kaisers und des Prinzen geworden. Er lebte dann jetzt wohl in Rom als Schriftsteller, reich, ruhevoll, mit mäßigen Sünden und mäßigen Verdiensten, wohl angesehen, so wie dieser Doktor Licin. Die stille, ernste Irene hätte ihn vor seinen ausschweifenden Handlungen bewahrt, er hätte seine Taten in der Phantasie begangen statt in der Wirklichkeit und hätte sich damit begnügt, von ihnen zu schreiben. Ein wenig vielleicht beneidete er den Doktor Licin: aber im Grunde war er einverstanden, daß dieser Irene geheiratet hatte und nicht er.
  »Es ist jetzt gewiß«, setzte ihm Doktor Licin auseinander, »daß meine Synagoge auf der Velia niedergerissen werden wird, wenn der Kaiser dort baut. Ich höre nun von dem Glasfabrikanten Alexas, daß Sie nach wie vor beabsichtigen, für die siebzig Thorarollen, die Sie aus Jerusalem gerettet haben, eine eigene Synagoge zu stiften. Natürlich beabsichtigen auch wir, an Stelle der Veliasynagoge auf dem linken Tiberufer ein neues Haus zu errichten. Hören Sie meinen Vorschlag. Wollen wir gemeinsam bauen? Es wäre schön, wenn das neue Haus eine Josef-Synagoge würde.«
  Josef horchte groß auf. Wie, die Juden des linken Tiberufers, die vornehmsten der Stadt, wollten wirklich ihre neue Synagoge unter sein Protektorat stellen? Man will sich ernstlich mit ihm aussöhnen? Der Doktor Licin freilich ist ein gute: Mann, er hat eigentlich immer auf einer Front mit ihm gekämpft, er schreibt selber griechische Tragödien, die ihre Stoffe der Bibel entnehmen, und die orthodoxen Doktoren verzeihen ihm dieses gewagte Unterfangen höchstens deshalb, weil er der Schwiegersohn des Cajus Barzaarone ist. Es wäre natürlich großartig, wenn er, Josef, Protektor und Präsident der vornehmsten römischen Synagoge würde. Aber keine Übereilung jetzt. Kann er, wenn er darauf eingeht, sich der Forderung entziehen, seinen Sohn Paulus zu beschneiden und zum Juden zu machen? Und davon abgesehen, woher soll er die Mittel nehmen, einen würdigen Beitrag zum Bau der Synagoge zu stiften? Der Ruhm eines Schriftstellers münzt sich nicht in Geld um. »Ich darf mir diese Sache ein paar Wochen überlegen«, sagte er zögernd. »Aber was Sie mir anbieten«, fügte er rasch hinzu, und Stimme und Gesicht nahmen jenes Strahlen an, das ihm von jeher die Herzen gewann, »ist mir eine große innere Freude. Ich danke Ihnen, Doktor Licin«, und er streckte ihm die Hand hin.
  Er war glücklich in diesen Tagen nach der Vollendung seines Werkes. Vergessen hatte er, daß er noch seine Angelegenheit mit dem Sekretär Phineas zu bereinigen hatte, vergessen, daß Frau und Sohn sich ihm entfremdeten. Denn alles andere ging, wie er wollte. Die Juden söhnten sich mit ihm aus, und im Palatin zeigte man ihm ein strahlendes Gesicht. Man hatte nämlich seine Audienz auf einen Donnerstag gelegt, das war der Tag, der den Freunden und Vertrauten des Kaisers vorbehalten blieb, und Titus hatte der offiziellen Einladung eine eigenhändige Nachschrift beigefügt, er freue sich, den Josef endlich einmal wieder ausführlich zu sprechen.

Und jetzt, stark im Gefühl seines Glückes, war Josef genügend gerüstet und in der rechten Laune, jene Auseinandersetzung mit Dorion herbeizuführen, die er so lange hinausgezögert.
  Er durchschritt den verwinkelten Korridor, der hinüber in ihre Räume führte. Er sehnte sich nach ihr, nach ihrem langen Kopf mit den meerfarbenen Augen, nach ihrem dünnen Körper, nach der hohen Kinderstimme, mit der sie ihre zärtlichen, bösartigen Sätze vorbrachte. Er hatte sich häuslich, doch elegant angezogen. Sein reiches Haar fiel in schwarzen, halblangen Locken, die schmalen, heftigen Lippen waren sorgfältig ausrasiert, der Bart zackte in starrem, strengem Dreieck herunter. Er ging beschwingt wie in seiner besten Jugend; er war voll von männlicher Zärtlichkeit für Dorion und freute sich darauf, ihr seine guten Nachrichten zu bringen.
  Er fand sie nicht allein. Ein paar Herren und eine Dame saßen um sie herum, eine Reihe leerer Sessel war da, sie hatte offenbar eine größere Gesellschaft um sich gehabt. Sie lag auf dem Ruhebett in einem Gewand aus hauchdünnem koischem Flor, ihr geliebter, schwärzlichgrüner Kater Chronos, der dem Josef verhaßt war, ihr zur Seite.
  Ein Aufleuchten ging über ihr gelbbraunes Gesicht, ein bißchen Empörung, ein bißchen Triumph, als Josef eintrat. Sie streckte ihm die Hand hin. »Wie schade, daß du nicht früher gekommen bist, mein Josef«, sagte sie. »Senator Valer hat uns aus seinen ›Argonauten‹ vorgelesen.« – »Ja, das ist schade«, sagte ein wenig trocken Josef und wandte sich dem Senator zu.
  Der alte Valer saß steif und würdig da. Das Reich zählte jetzt nur mehr zweiunddreißig Familien von reinem, altem Adel, und wenn eine dieser Familien ihren Ursprung unbestritten bis zu dem Trojaner Äneas zurückführen konnte, dann war es die seine. Valer pflegte auf Inschriften und Dokumenten mit seinem vollen Namen zu zeichnen: Q. Tullius Valerius Senecio Roscius Murena Coelius Sex. Julius Frontinus Silius C. Pius Augustanus L. Proculus Valens Rufinus Fuscus Claudius Rutilianus. Jeder dieser Namen hob seine Beziehungen zu dem edelsten Blut des Reichs hervor. Leider aber entsprach das Vermögen des Senators Valer nicht diesem hohen Adel. Ja, es war schiere Höflichkeit, wenn man ihn noch als Senator bezeichnete; denn dieser Tullius Valer besaß nicht einmal mehr die Million Sesterzien, die für Mitglieder des Ersten Adels unterste Vermögensgrenze war. Kaiser Vespasian hatte ihn deshalb kraft seines Zensoramtes aus den Listen des Senats gestrichen. Er hatte ihm aber, die Verabschiedung mildernd, in dem Haus, das er selber früher bewohnt, auf Lebenszeit freie Station zugesprochen. Dort also hatte jetzt der alte Valer das Obergeschoß inne, während dem Josef die beiden unteren Stockwerke angewiesen waren. Der zensurierte Senator trug sein Schicksal mit Würde. Die neuen Räume boten ihm nicht einmal Platz, die Wachsbüsten seiner hohen Ahnen alle unterzubringen; er mußte einen Teil beim Spediteur unterstellen. Aber er klagte nicht. Zurückgezogen lebte er mit seiner Tochter, der zweiundzwanzigjährigen, strengen, weißgesichtigen Tullia, in dem verwinkelten Haus des sechsten Bezirks, zwischen Reliquien, vermotteten Prunkkleidern, verstaubten Liktorenbündeln, verwelkten Triumphatorenkränzen seiner Urväter. Er widmete sich nur mehr literarischer Tätigkeit, schrieb an seinem großen Versroman über die Argonauten, mit denen er natürlich auch verwandt war. Aber er verzieh dem Parvenü Vespasian nicht die Schmach der Ausstoßung; heimlich brütete er über einem kühnen, rebellischen Epos, bestimmt, die Taten seines Ururvetters Brutus zu feiern, strotzend von aufrührerischen, republikanischen Sentenzen. Trotz aller Heimlichkeit wußte übrigens ganz Rom von diesem Unternehmen, und lächelnd kolportierte man eine Äußerung Vespasians: gerade darum habe er dem guten Valer freie Wohnung gewährt, daß der in Ruhe seine Hymnen auf die Republik schreiben könne; denn habe einer erst einmal republikanische Verse dieses feierlichen alten Esels gelesen, dann werde er in Zukunft, sowie er nur das Wort Republik höre, gähnen.
  Josef begrüßte Dorions Gäste. Tullia saß weiß und zugesperrt da, knapp dankend. Auch sein Schwiegervater Fabull, der Maler, der Hochmütige, blieb einsilbig. Um so lärmender begrüßte ihn Dorions intimster Freund, der Oberst Annius Bassus. Doch seine laute Höflichkeit täuschte Josef nicht darüber hinweg, daß seine Dazwischenkunft Dorions Gesellschaft gestört hatte. Es war offenkundig, daß man sich vor Josefs Eintritt vertraut und gut unterhalten hatte; jetzt aber sprach man schleppend über Gleichgültiges. Josef bemühte sich, amüsant zu sein. Die Gäste dankten es ihm nicht, entfernten sich bald.
  Dorion blieb nicht ungern mit Josef allein. Immer, selbst in den Stunden der Vermischung, war er ihr aufregend rätselhaft geblieben, immer war sie neugierig, was dieser Seltsame jetzt wieder anstellen werde. Hätte etwa ein anderer Mann nach einem so folgenschweren Ereignis wie dem Thronwechsel so lange geschwiegen? Gab es einen zweiten, der, vertraut mit seiner Frau, nicht das Bedürfnis verspürt hätte, sich in solchem Falle mit ihr auszusprechen?
  Mit schlaksiger Bewegung drehte sie ihm ihren zarten, dünnen Leib zu, schaute ihm voll ins Gesicht. Es sei schade, meinte sie, daß er nicht früher gekommen sei. Der alte Valer habe nämlich nicht aus den »Argonauten« vorgelesen, sondern aus dem »Brutus«; es sei erstaunlich, welch kühne Sprache der Mann sich erlaube. »Soweit ich seine Verse kenne«, erwiderte lächelnd Josef, »sind sie so schweißig wie er selber.« Der alte Valer trug nämlich stets nur die feierliche, altmodische Toga, und zwar auf dem bloßen Leib, wie es der Brauch vor dreihundert Jahren verlangt hatte; das war Hausgesetz bei den Valeriern, weil sie eine so alte Familie waren.
  Dorion stützte sich halb auf, so daß die weiten Ärmel zurückfielen und ihre langen, braunen Arme freilagen. Es machte ihr Spaß, wenn Josef sich über ihre Freunde mokierte. Aber diesmal ging sie nicht auf seine Worte ein. Was denn mit Phineas los sei, fragte sie. Die letzten Wochen über sei der kleine Paulus arg vernachlässigt worden. Dem Josef kam es gelegen, daß sie die Rede auf Phineas brachte. Er war entschlossen, Phineas von sich abzuschieben, aber das sollte langsam geschehen, ohne große Worte und Gesten, kühl, höflich, nobel, ironisch. Der Mann hatte gut für ihn gearbeitet, keine Frage. Aber er hatte sich nicht an das Werk hingegeben, es war äußerliche Arbeit geblieben. Äußerlich sollte denn auch der Lohn sein, reichlich, aber ohne Herzensdank.
  Er habe den Phineas in diesen letzten Wochen viel beschäftigen müssen, sagte er. Doch das sei jetzt zu Ende. Phineas habe im übrigen gut gearbeitet, er wolle ihm eine Gratifikation geben. Was sie dazu meine, wenn er ihm die Garderobe ergänze und erneuere. Die Kleider des Phineas seien schäbig geworden. Sich griechisch zu tragen erfordere eben Geld. Ob sie sich dieser Sache annehmen wolle. Sie verstehe das besser.
  Dorion schaut ihm ins Gesicht, den Mund halboffen, lächelnd. Schön, erwidert sie, sie werde das besorgen. Es sei gut, daß Phineas wieder für den Jungen Zeit habe. Hätte sich nicht ab und zu Oberst Annius um die Erziehung des Paulus gekümmert, dann hätte kein Mensch sich seiner angenommen.
  »Annius«, sagte Josef wegwerfend, »Annius Bassus«, und er machte eine Bewegung mit der Hand, die den Mann auswischte. Alles an diesem Offizier verdroß ihn, sein Lachen, sein lautes, offenes, herzliches Gehabe. Annius Bassus war Unterbefehlshaber im jüdischen Krieg gewesen und hatte sich mehrmals ausgezeichnet. Josef aber hatte ihm eine gewisse antisemitische Äußerung nicht vergessen und in seinem Buch seine Leistung totgeschwiegen. Allein der Oberst schien ärgerlicherweise dieses feindselige Schweigen nicht zur Kenntnis zu nehmen, er behandelte vielmehr den Josef nach wie vor mit der gleichen, stürmischen Freundschaftlichkeit, erzählte ihm pikante Anekdoten über Kriegskameraden, haute ihn auf die Schulter. Den Josef wurmte das, und zwiefach kränkte ihn, daß Dorion sich in ihre Freundschaft mit dem Offizier nicht einreden ließ.
  Auch heute wies sie die verächtliche Geste des Josef zurück. Es sei gut, meinte sie, daß nicht er allein über die Qualitäten des Annius zu befinden habe. Der alte Kaiser zum Beispiel habe seine Meinung offenbar nicht geteilt. Sonst hätte er schwerlich den Annius zum Obersten in der Garde gemacht und ihm die heikle Aufgabe anvertraut, des Prinzen Domitian Hofmarschall und Adjutant zu sein.
  Das war richtig. Annius hatte sich sogar in dieser schwierigen Stellung gut bewährt, er hatte es zuwege gebracht, sich dem jungen Prinzen anzufreunden, ohne das Vertrauen des Alten zu verlieren.
  Der Oberst werde es unter Titus nicht leicht haben, meinte trocken, ein wenig hämisch Josef. Ihm, Josef, sei das übrigens gleichgültig. Für ihn sei der Mann erledigt. Die große Gelegenheit des Annius sei der Krieg gewesen, und die habe er verpaßt. Er habe sich vor Jerusalem nicht so gehalten, daß seine Taten auch nur der Erwähnung wert gewesen seien.
  Dorion lächelte, rückte näher an ihn heran. »Natürlich geht es nur dich an«, meinte sie, »was du der Erwähnung für wert hältst, was nicht. Ich weiß, daß ein Künstler nicht arbeiten kann, ohne von sich überzeugt zu sein. Auch mein Vater könnte es nicht. Aber bist du nicht vielleicht ein wenig sehr stolz, mein Josef?« Er hörte ihre Sticheleien. Sie lag aufgestützt. Er sah ihre schräge, hohe Stirn, ihr leichtes, reines Profil, die Worte kamen zierlich, stachelig aus ihrem großen, frechen Mund und taten ihm nicht weh. Er liebte sie sehr. »Bist du ganz sicher«, fuhr sie fort, »daß dein Urteil ein für allemal Geltung hat, daß deine Wertung die letzte ist?«
  »Ja«, sagte Josef, und es klang überzeugt, nicht eitel. Er setzte sich zu ihr, nahm ihren Kopf in beide Hände, hielt ihn in seinem Schoß, sprach hinunter zu ihr: »Siehst du, in euerm Alexandrien glaubt ihr an das Totengericht. Osiris thront, Anubis und Horus stehen an der Waage, zweiundvierzig Beisitzer, Straußfeder auf dem Haupt, Schwert in der Hand, halten Gericht über den Verstorbenen, und euer Hermes mit dem Vogelkopf verzeichnet den Spruch. Ich habe die Waage, ich verzeichne den Spruch. Ich brauche keinen Osiris und keine zweiundvierzig Beisitzer.«
  Dorion hörte ihm zu. Der Mann ist offenbar verrückt, größenwahnsinnig. Aber seine Stimme ist angenehm, sie geht ihr angenehm ins Ohr und ins Herz. Ihr Kopf liegt auf seinem Schoß, mit der einen Hand streichelt sie ihren großen, langhaarigen Kater Chronos, Josefs starrer, dreieckiger Bart kitzelt sie. Sie war ihm oft fremd in diesen letzten Wochen. Oft, gerade wenn dieser nette und männliche Oberst Annius da war, hat sie nicht begriffen, warum sie sich an diesen sonderbaren Juden weggeworfen hat, der monatelang, jahrelang keine Zeit für sie hatte. Aber sowie er da ist, sowie er sie auf und ab schaut mit seinen heftigen, hemmungslosen Augen, nach ihr greift mit seinen heftigen, hemmungslosen Händen, dann liebt sie ihn, dann gehört sie ihm.
  »Ich weiß, mein Hermes«, sagt sie, immer lächelnd, mit ihren dünnen, beweglichen Fingern seinen kunstvoll geknüpften Bart aufdröselnd, »ich weiß, du brauchst nur deinen unsichtbaren Gott.«
  Josef war nicht gewillt, mit ihr darüber zu debattieren. Er nahm sie fester, beugte sich tiefer zu ihr herunter, sprach mit seiner schönen, gewinnenden Stimme auf sie ein. Er habe sie arg vernachlässigt in diesen letzten Wochen, es habe ihn große Überwindung gekostet, aber er habe ganz für sie dasein wollen, ungeteilt. Das sei nicht möglich gewesen, solange er nicht eine bestimmte Arbeit vollendet hatte. Jetzt sei es soweit. Es sei gute Arbeit geworden. Am Donnerstag werde er das Buch dem Kaiser überreichen. Sehr bald darauf werde er öffentlich daraus vorlesen. Vorher aber, und noch bevor er es dem Kaiser gibt, wolle er es ihr geben. Das erste Exemplar müsse sie haben.
  Dorion erwidert lange nichts. Sie fühlt sich wohl, den Kopf in seinem Schoß, die Hand in seinem Bart. Dann, unvermutet, mit ihrer hohen Kinderstimme, lächelnd, fragt sie: »Sage, mein Josef, wenn jetzt unser Titus Kaiser ist, werden wir dann endlich zu Geld kommen?«
  Josef ändert seine Haltung nicht. Er ist vornübergeneigt, die eine Hand hält er unter ihrem Kopf. Geld, denkt er, was heißt Geld. Er findet, daß man mit seinen rund sechzigtausend Sesterzien Jahreseinnahmen ganz leidlich auskommt. Dorion ist offenbar nicht dieser Meinung. »Geld?« fragt er zurück, immer lächelnd. »Was brauchst du? Schmuck? Neues Perso nal? Mußt du sehr sparen? Sag mir, was du brauchst.« – »Ich?« meint faul und träumerisch Dorion und streckt sich behaglich. »Ich brauche nichts, außer vielleicht, daß man sich ein wenig um mich kümmert. Aber wir, ich meine, du und ich und der Junge, wir brauchen eine Villa, ein Landhaus, wenn wir schon nicht in der Stadt neu bauen können.« Und mit einem Ruck richtet sie sich hoch, sitzt da, kindlich, ein wenig steif, den Kater im Schoß.
  Darauf war Josef nicht vorbereitet. Wohl wußte er, daß ihr das dunkle Haus in Rom niemals gefallen hat. Es war ehrenvoll, vom Kaiser behaust zu werden in dem Hause, das er selber einmal bewohnt hat; aber es war nicht zu leugnen, dieses Haus war altmodisch, verwinkelt, dunkel, muffig. Seit dem ersten großen Erfolg des Josef hat Dorion sich gewünscht, in Rom im eigenen Haus zu wohnen. Aber was man hätte bauen können, das wäre bescheiden gewesen, kleinbürgerlich, nichts für den verwöhnten Geschmack der Tochter des Hofmalers Fabull. Josef hatte wirklich zu wenig Zeit und Gedanken an Dorion gewandt; sonst hätte er voraussehen müssen, daß die Änderung der Situation ihre Träume neu werde aufleben lassen.
  Sie sprach weiter. Sie hatte sich schon umgetan um das Wie und Wo. Wenn es um die Befriedigung ihrer Launen ging, konnte die Lässige sehr betriebsam sein. Ihr Vater war befreundet mit dem Baumeister Grovius, dem Lieblingsarchitekten des Prinzen Domitian. Der Prinz wird auf der Domäne bei Albanum im größten Stil bauen. Architekt Grovius, unterstützt von des Prinzen Freund, unserm Annius, wird erwirken, daß man dort Terrain käuflich oder mittels langen Pachtvertrages billig erhält. Er hat schon, unverbindlich natürlich, ein Haus für sie entworfen. Nicht teuer, bescheiden, dem Vermögen eines Schriftstellers angepaßt, aber hell und luftig. Ein Herrenhaus, zwei Dienerschaftsgebäude, das ist alles. Ihr Vater Fabuli hat seit langem eine Idee für ein Fresko, das organisch durch die Wandelgänge einer Villa laufen soll. Er hätte es oftmals ausführen können, viele haben ihn darum gebeten; aber er hat ihr zugesagt, es für sie aufzusparen. Jetzt sei man also soweit. Sie schaute Josef strahlend an.
  Er hörte von diesen Plänen mit Unbehagen. Ihn störte nicht das alte Haus, nicht die Dunkelheit seines Arbeitsraums. Man wird »billig« bauen. Wie stellt sich Dorion das vor? Unter dreihunderttausend wird er nie wegkommen. Er wird Geld aufnehmen müssen; die Zinsen sind hoch. Und was alles wird nötig sein, wenn erst Dorion ihre Villa bezieht. Neue Wagen, neue Dienerschaft. Diese modernen, hellen Häuser sind nicht denkbar ohne Statuen und Fresken. »Du sollst dir kein Bild machen«, heißt es in der Schrift. Josef, sowenig er sonst am jüdischen Ritus festhält, haßt alles Bildwerk, es ist ihm ein Greuel.
  Dorion inzwischen schwatzt weiter, glücklich. Setzt ihm die Pläne des Architekten Grovius auseinander. Sie zieht ihm das goldene Schreibzeug aus dem Gürtel, zeichnet mit ein paar Strichen den Grundriß auf. Hier der große Speiseraum für den Sommer mit Aussicht auf den See und auf das Meer. Hier die Wandelgänge für Regen. Da kann sich Josef ergehen und sich von seinem unsichtbaren Gott für sein Totenrichteramt inspirieren lassen. Hier auch – ihre Stimme wurde bewegt vor Stolz –, die ganze Wandelhalle durch, soll das Fresko ihres Vaters Fabull laufen, sein schönstes Werk, das ihre Villa am Albanersee berühmt machen wird für die Ewigkeit, das Fresko »Die versäumten Gelegenheiten«. Ein junger Mann schaut jungen Frauen nach, die, ein langer Zug, von ihm weggehen, Göttinnen, wie es scheint; sie gehen weg, sie drehen noch den Kopf über die Schulter und lächeln ihm zu, sie sind sehr schön, in ihrem Lächeln ist ein kleines Bedauern und sehr viel Spott, und der junge Mann sitzt und starrt ihnen nach.
  Josef ist nicht sehr interessiert an den Details des Freskos »Die versäumten Gelegenheiten«. Dorion hat ihm große Opfer gebracht, ungeheure, aber sie hat auch viel von ihm verlangt, mehr, als gemeinhin ein Mensch zu geben gewillt ist. Wenn er ihr die Villa schenkt, wird er für die Synagoge kein Geld mehr haben. Immer wieder stellt sie ihn vor solche Entscheidungen. Du sollst dich nicht vergatten mit den Töchtern der Sünde. Sie war halb Griechin, halb Ägypterin, ein Reis jener beiden Völker, die das seine am meisten gequält haben. Der Priester Pinchas, als er sah, daß einer aus der Gemeinde Israel hurte mit einer Midianitin, nahm einen Spieß und ging dem Manne nach in den Hurenwinkel und durchstach beide, den Mann und das Weib, durch ihren Bauch. Du sollst dich nicht vergatten. Es war eine sehr große Sünde. Andernteils hat Moses eine Midianitin geheiratet, Salomo eine Ägypterin. Ihm selber, dem es aufgetragen war, aus dem Bürger eines kleinen Staates ein Weltbürger zu werden, mußte allerhand erlaubt sein. Bisher war es ihm geglückt: er war Jude geblieben und war Römer geworden. Er hat sich mit der Tochter Edoms vermischt und ist Josef Ben Matthias geblieben.
  Er tauchte auf aus seinen Träumen, und er sah die Frau, ihr zartes, hochfahrendes, begehrliches Gesicht, ihre gelockerten Glieder. Er hat diese Frau oft und abermals gekränkt. Er kann ihr jetzt nicht nein sagen, da es um ein so Kleines geht wie Geld. Er hat sich vermischt mit ihr, sie ist ihm sehr fremd, sie ist aus dem Blut uralter Götzendiener, ihre Väter, die die seinen gequält und gedemütigt haben, schlafen unter spitzen, hohen, dreieckigen Bergen, sie ist ganz angefüllt mit törichtem Aberglauben, sie hält die Bücher, die ihm heilig und sein Liebstes sind, für dumm und verächtlich und seine Lebensart für leere Spielerei. Gerade erst, da er von seiner Aufgabe erzählt, von seinem Totenrichteramt, hat sie ihn ausgelacht. Dennoch gehört sie zu ihm, und er zu ihr, der Jude zu der fremden Frau. Er hat den Psalm des Weltbürgers geschrieben: »Nicht Zion heißt das Reich, das ich euch gelobte, sein Name heißt: Erdkreis.« Und da ist die Frau, und er kann ihr nicht nein sagen wegen Geld.
  Er packte sie, daß der Kater Chronos in Sprüngen davonlief, er riß ihren Kopf hintenüber und sagte ihr, ganz nah an ihrem halbgeöffneten Mund: »Wenn ich dir deine Villa gebe, Dorion, gibst du mir dann Paulus?«
  Da lachte Dorion, laut, schrill, bösartig. »Ich denke nicht daran, mein Josef«, sagte sie, aber ihre Stimme war zärtlich. Doch im nächsten Augenblick riß sie sich los, jagte hinter einen der leeren Stühle, auf denen die Hörer des alten Valer gesessen waren. Er ihr nach, mit seinem geübten Schritt. Er packte sie, fester, gewalttätig. »Bekomme ich meine Villa?« fragte sie, sich wehrend, aber ihre Augen verschwammen schon.
  Josef sagte weder ja noch nein. Nahm sie. Ringsum standen die leeren Stühle. Von einem Winkel aus schaute der Kater Chronos zu, leise fauchend, den Rücken gekrümmt.


Dreihundertfünfzig leibeigene Schreiber, in sieben Gruppen eingeteilt, arbeiteten an der Herstellung des »Jüdischen Kriegs«, nach dem Diktat von sieben Spezialisten. Zwei Tage vor der Audienz konnte Claudius Regin dem Josef das für den Kaiser bestimmte Exemplar aushändigen. Es war eine schöne, große Rolle, der Behälter, die Handgriffe aus kostbarem, altem Elfenbein, das Material herrlichstes Pergament. Die Initialen jedes Kapitels waren kunstvoll verziert, vornean war vielfarbig das Porträt des Autors.
  Sehr aufmerksam beschaute Josef das Porträt, kritisch, wie das eines Fremden. Ein brauner, langer Kopf, heftige Augen, starke Augenbrauen, die Stirne hoch, vielfach gebuckelt, die Nase lang, leicht gekrümmt, das Haar dicht, schwarzglänzend, der Bart starr, dreieckig zugespitzt, die dünnen, geschwungenen Lippen ausrasiert. »Flavius Josephus Römischer Ritter«, lautet die Umschrift: aber es ist der Kopf des Doktors und Herrn Josef Ben Matthias, Priesters der Ersten Reihe, Vetters der Prinzessin Berenike, aus dem Geschlechte Davids. Die Sprache ist griechisch, aber es ist ein jüdisches Buch. Es ist ein jüdisches Buch, doch sein Geist ist der eines Weltbürgers.
  »Flavius Josephus Römischer Ritter.« Noch immer beschaut Josef das Porträt. Die Juden rasieren nicht die Ecken ihres Haupt- und Barthaars. »Ihr sollt nicht rund abnehmen die Seitenenden eures Haupthaars und nicht zerstören die Enden eures Bartes«, heißt es in der Schrift. Die Römer hingegen tragen das Gesicht glattrasiert. Solang es nicht ausgearbeitet genug ist, lassen sie den Bart stehen; dann aber, wenn sie finden, ihr Gesicht sei fertig, zeigen sie es nackt. Josef hat jetzt genug gearbeitet an sich und seinem Buch. Er darf es wagen, sein Gesicht nackt zu tragen.
  Aber ist es klug, jetzt, da er zum erstenmal zu Titus geht, sich ihm ohne Bart zu zeigen? Titus verlangt nach dem Juden, nicht nach dem Römer.
  Josef rollt das Buch auf. Er hat ein jüdisches Buch geschrieben. Sein Judentum steckt nicht in seinem Haar und seinem Bart. Er darf es sich leisten, mit nacktem Gesicht zu Titus zu gehen.

Der erwartet ihn in angenehmer Spannung. Seit Wochen hatte er Verlangen getragen, Josef zu sehen; nur jene seltsame Lauheit, die ihn die ganzen letzten Wochen hindurch hemmte, hatte ihn verhindert, ihn rufen zu lassen, bevor er sich meldete.
  Der Kaiser hatte in diesen ersten Wochen seines Regiments keine gute Zeit gehabt. Er war stumpf, mutlos, alle Frische war ihm ausgeronnen. Es zehrte an ihm, daß das römische Volk sich all seinen Mühen zum Trotz feindselig vor ihm zusperrte, daß die Massen in ihm einen Tyrannen sahen, einen Emporkömmling, einen Ausbeuter. Auch sonst ging alles quer. Die Mißstimmung gegen die Juden, das Volk seiner geliebten Berenike, wuchs, und er, vergiftet von jener quälenden Apathie, brachte es nicht über sich, ernsthafte Maßnahmen dagegen anzuordnen.
  Wäre doch erst Berenike da. Er muß einen Menschen haben, vor dem er sich ganz ausschütten kann. Sein Arzt Valens schaut einen mit seinen schweren, langsamen, prüfenden Blikken durch und durch; das tut schmerzhaft wohl. Er hat Valens soviel wie möglich um sich; auch jetzt ist er bei ihm. Aber über das Letzte, was ihm fehlt, kann Titus mit diesem seinem Arzt doch nicht sprechen; der ist Römer, und was ihm fehlt, ist eben das andere, ist der Osten.
  In großer Spannung also erwartet er Josef. Denn Josef weiß um seine Listen und Kämpfe, Berenike zu gewinnen, weiß um das Hin und Her, das der Zerstörung des Tempels vorausging, weiß um seinen Streit mit dem unsichtbaren jüdischen Gott. In Aufgelöstheit und Bereitschaft erwartet er seinen jüdischen Freund.
  Er stand auf, als Josef kam, ging ihm entgegen. Aber auf halbem Wege stutzte er. Was ist das, dieses nackte Gesicht? Ist das sein Jude Josef? Er verzögert den Schritt, enttäuscht. Soll ihm auch diese Freude wieder zerrinnen? Er sucht in dem Gesicht des andern, erkennt die gebuckelte, gewalttätige Stirn, die heftigen Augen, die lange, leicht gekrümmte Nase, die begehrlichen, geschwungenen Lippen, den ganzen westöstlichen Mann. Allein so schnell schmilzt seine Fremdheit nicht. Wohl umarmt er den Josef und küßt ihn, wie es der Gebrauch unter Freunden fordert; aber seine Gesten bleiben kühl, formell. »Ich freue mich, Sie einmal wiederzusehen, Flavius Josephus«, sagt er. Er gibt ihm seinen römischen Titel, und in seiner Stimme ist nichts von der Vertrautheit, auf die Josef sich gefreut hat.
  Josef ist gleichwohl nicht entmutigt. Mit raschem Blick hat er die Situation übersehen. Das Porträt der Berenike, die fremden, spähenden, gequälten Augen des Titus, des Kaisers, seines Freundes. Daß der sich erst in seinem neuen Gesicht zurechtfinden muß, darauf war er gefaßt. Er muß ihm Zeit lassen. Mit seiner schönen, warmen Stimme erwidert er, wie sehr er sich freue, dem Kaiser die neue Fassung seines Werkes zu überreichen. Dann stellt er ihm den Mann vor, der die Rolle trägt, diesen seinen Sekretär Phineas. Vielwortig setzt er auseinander, ein wie trefflicher Mitarbeiter der Herr ihm gewesen sei. Auf solche Art zahlt er dem Griechen seinen Haß durch Großmut heim und gibt gleichzeitig dem Kaiser Gelegenheit, Neutrales zu reden und sich an sein neues Gesicht zu gewöhnen.
  Titus spricht mit dem Sekretär ein paar freundlich gleichgültige Worte. Dann nimmt er ihm die schwere Rolle des »Jüdischen Kriegs« ab, rollt sie auf, gewahrt das Porträt des Josef. Lange beschaut er das Porträt, schaut dann von dem Bild auf den Mann, seine Augen werden frischer, ein Schmunzeln geht über sein knabenhaftes Gesicht. »Da hast du aber noch deinen Bart gehabt, mein Josef«, meint er freundschaftlich, mit einem kleinen Lachen. Josef, das Lachen des Kaisers offen und vertraulich zurückgebend, erwidert: »Bitte, lesen Sie mein Buch, Majestät, und sagen Sie mir, ob ich soweit bin, mein Gesicht nackt zu zeigen, oder ob ich mir von neuem den Bart stehen lassen soll.« – »Sei sicher, daß ich es dir offen sagen werde«, erwidert, zusehends herzlicher und vergnügter, Titus, entrollt das Buch weiter, rollt es dann behutsam wieder zu und legt es, zärtlich fast, auf den Tisch. Alle seine Schlaffheit ist fort. Er faßt den größeren Josef um die Schulter, redet auf ihn ein, führt ihn weg von den andern, geht mit ihm auf und ab in dem weiten Raum, redet, frisch, gelöst, doch die Stimme leicht gesenkt, auf daß die andern ihn nicht hören.
  Er spricht aber mit ihm von den langen Monaten, da sie zusammen vor den Mauern des verhungernden, verfallenden Jerusalem lagen. »Weißt du noch, mein Josef«, sagt er, »wie wir damals an der Leichenschlucht standen, in Abschnitt IX? Weißt du noch, was wir damals gesprochen haben?« Ob Josef es wußte. Das war der Abgrund vor der Mauer gewesen, in den die in der Stadt ihre Leichen zu werfen pflegten, Tausende jeden Tag. Gegen Ende Juli war es gewesen, es mögen jetzt ziemlich genau neun Jahre her sein. Eine große Stille war, sie standen in der früher so üppigen Landschaft, die nun öde war und voll von scharfem, beizendem, atemnehmendem Gestank. Da standen sie, zu ihren Füßen die Schlucht, in der Menschen von Josefs Stamm verwesten, hinter ihnen, vor ihnen, neben ihnen die Kreuze, an denen Gefangene, Menschen von Josefs Stamm, hingen, die Luft, das ganze, kahle Land voll Getier, das auf den Fraß wartete. Es war ein sehr bitterer Sommer gewesen für den Mann Josef und, bei allem Stolz und Glück, ein sehr schmerzhafter auch für den Römer. »Und weißt du noch«, fuhr der Kaiser fort, »was wir miteinander sprachen, als ich dich besuchte, wie du verwundet lagst, getroffen von den Schüssen der Juden?« Ob Josef es wußte. »Bist du unser Feind, mein Jude?« hatte Titus damals gefragt, und »Nein, mein Prinz«, hatte er geantwortet. Aber »Gehörst du zu denen jenseits der Mauer?« hatte Titus weiter gefragt, dringlicher, und »Ja, mein Prinz«, hatte Josef erwidert. Er erinnert sich genau, wie Titus ihn damals angesehen hatte, ohne Haß, doch kummervoll vor Nachdenken; denn auch Berenike gehörte zu jenen Fanatischen, Unverständlichen, Verblendeten, und niemals wird er sie ganz verstehen. »Weißt du noch, weißt du noch«, fragte der Kaiser, und Josef wußte, und jetzt verstanden sie einer den andern. Sie waren älter geworden, das Gesicht des einen, jetzt nackt, war zerarbeitet, viele neue Erfahrungen waren darin eingeschrieben, das des andern verfettet, müde, voll Verzicht. Aber sie lockerten sich auf, beide, sie dachten sich zurück, die frühere große Vertrautheit war um sie. Josef war weitergegangen auf seinem Weg nach Westen, den Titus zog es weiter auf dem Weg nach Osten. Josef hoffte, spürte, der Tag wird kommen, da er offen mit diesem Manne über seine geheimsten Ziele wird reden können, über die sieghafte Verschmelzung des Ostens mit Rom. An diesem Tage aber werden der römische Kaiser und der jüdische Schriftsteller eines sein: die ersten Weltbürger, die ersten Menschen eines späteren Jahrtausends.
  »Ich muß dir übrigens doch sagen«, erzählte ihm vertraulich Titus, »was mein Vater mir einmal geraten hat. ›Laß dich nicht zu tief ein mit den Juden‹, redete er mir zu. ›Es tut manchmal ganz gut, zu wissen, daß es auf der Welt noch was anderes gibt als die Ideen des Forums und des Palatins. Es schadet nichts, wenn du dir manchmal von jüdischen Weibern die Haut und von jüdischen Propheten das Herz kraulen läßt: aber glaub mir, das römische Exerzierreglement und das politische Handbuch des Kaisers August sind Dinge, mit denen du im Leben besser bestehst als mit allen heiligen Schriften des Ostens.‹«
  »Und werden Sie sich danach richten, Majestät?« fragte Josef. »Das siehst du doch«, schmunzelte vergnügt Titus und schaute auf das Bild der Berenike. Ihr langes, edles Gesicht blickte aus braungoldenen Augen auf sie herunter, überaus lebendig. »Dein Schwiegervater Fabuli hat da ein Meisterstück gemalt«, fuhr er fort, nachdenklich. »Aber was ist es? Holz und Farbe. Wo ist ihre Stimme? Weißt du noch, es war immer eine ganz kleine Heiserkeit in ihrer Stimme. Zuerst hat sie mir gar nicht gefallen. Und wo ist ihr Gang? Während wir vor Jerusalem standen, wie oft, habe ich davon geträumt, daß sie die Stufen des Tempels herunterschreiten wird, herunter aus dem Weißgoldenen. Nikion, Nikion, meine Wildtaube, mein Glanz«, sagte er, in etwas ungelenkem Aramäisch, gegen das Bild hin. Es war das erstemal, daß er das Bild der Frau vor einem Dritten mit diesem ihrem Kosenamen anrief. »Das wird eine gute Zeit werden«, fuhr er fort, strahlend. »Wir werden einige Mühe haben, unsere Nikion durchzusetzen, aber wir werden es schaffen.« Er war überaus zuversichtlich, der Soldat, den Josef kannte, das Kinn kurz, hart, die Augen eng, aufs Ziel gerichtet. In seiner Stimme aber war das alte, militärische Schmettern, so daß die beiden andern aufschauten.
  Die haben sich inzwischen miteinander unterhalten, Phineas, der Sekretär, mit dem Leibarzt, mit Mucius Valens, Inhaber des Goldenen Rings des Zweiten Adels, einem sehr großen Herrn, einem der mächtigsten des Reichs. Er hat die medizinische Wissenschaft revolutioniert, dieser Valens, er hat eine neue Methode der Diagnose gefunden, er erkennt die Beschaffenheit fast jeder Krankheit an den Augen des Patienten, und seine Kunst hat ihm großen Ruhm gebracht und viel Geld. Er ist ein kalter Herr, der Leibarzt Valens, ein Realist, der im Grunde nichts gelten läßt als Profit und Karriere. Er gibt sich nicht aus im Gespräch. Auch diesem Griechen Phineas, den der Jude so hoch gerühmt hat, will er nichts sagen, er will ihn aushorchen, er will nicht draufzahlen, er will haben, was der andre zu geben hat. Aber Phineas ist geschickter im Gespräch als der Römer. Er erzählt wenig von sich, spricht mit Nichtachtung von den Widersachern des Valens, schmeichelt klug seiner Eitelkeit: er holt ihn aus, und selbstgefällig und mit großer Offenheit gibt Valens ihm seine medizinischen Überzeugungen preis.
  Die beiden Männer haben lange Zeit, sich gegenseitig zu beschnüffeln; denn der Kaiser hört nicht auf, mit dem Juden zu reden. Mit Ungeduld, Neid und Erbitterung nehmen es die beiden wahr. Es dauert eine Ewigkeit, bis der Kaiser mit Josef zu ihnen zurückkommt. »Wir müssen uns jetzt sehr oft sehen, mein Josef«, beendet er das vertrauliche Gespräch. Dann strafft er sich, klatscht einen Sekretär herbei, verkündet: »Wir freuen Uns, Flavius Josephus, daß Sie die zweite Fassung Ihres großen Werkes abgeschlossen haben. Neun Jahre verlangte Horaz für die Reife eines Buches, neun Jahre jetzt haben Sie an diesem Werk gearbeitet. Ihr Buch ist ein Ehrendenkmal für Unsern Vater, den göttlichen Vespasian, eine Ehrung für Uns selbst und Uns sehr willkommen. Wir sind gewillt, Ihnen auch für die Zukunft die Möglichkeit zu schaffen, Ihre Wissenschaft und Kunst in würdiger Muße Unsern Interessen und denen des Reichs zu widmen. Lassen Sie mich Ihnen zum Zeichen Unseres Dankes und Unserer Anerkennung eine Anweisung auf den Fonds zur Förderung der Wissenschaften überreichen.« Und er nimmt aus der Hand des Sekretärs die Anweisung und übergibt sie Josef.
  Josef, gemeinhin nicht eben geldgierig, hätte in diesem Augenblick doch sehr gerne gewußt, wie hoch die Anweisung sein mag. Vieles hing für ihn davon ab. Allein er mußte sie wohl ungelesen in den Ärmel schieben. Er schickte sich an, dem Kaiser zu danken. Der schaute ihm voll ins Gesicht, mit einem ganz kleinen Lächeln, dann, unversehens, es war wohl ein plötzlicher Entschluß, fuhr er fort, und jetzt klang seine Stimme nicht mehr schmetternd, sondern es war die Stimme eines Freundes, der dem andern eine Freude macht: »Außerdem, mein Josef, will ich, daß dein Buch in der Bibliothek des Friedenstempels niedergelegt und daß dir dort eine Ehrensäule errichtet wird.«
  Josef atmete hoch, eine schnelle Röte über seinem nackten Antlitz. Er mußte an sich halten, sich nicht ans Herz zu greifen. Selbst Valens und Phineas konnten ihre Überraschung nicht ganz verbergen. Eine Büste im Ehrensaal des Friedenstempels. Es gab viele Statuen in Rom, aber eine Büste in diesem Saal blieb das höchste Ziel eines jeden Schriftstellers; denn unter den Schriftstellern aller Zeiten, deren Werke in griechischer oder lateinischer Sprache vorlagen, hatte man nur einhundertsiebenundneunzig würdig befunden, ihre Werke in die Ehrenschränke des Friedenstempels aufzunehmen, und nur siebzehn Lebende waren darunter, elf Griechen und sechs Römer. Oftmals, wenn Josef an den Tafeln vorbeiging, auf denen in Erz gemeißelt die Namen dieser großen Schriftsteller standen, hatte er neidvolle, hochfahrende Betrachtungen angestellt. Ist es ausgemacht, daß unter den Lebenden wirklich gerade die elf Griechen und sechs Römer dieser Ehrensäulen die Jahrhunderte überdauern werden? Seit drei Jahrhunderten lag die Bibel in griechischer Übersetzung vor: warum fehlten auf der Tafel Namen wie Jesajas, Jeremias, Ezechiel? Sind die Hymnen König Davids schlechter als die des Pindar? Aber daß er selber der erste Fremde, der erste »Barbar« in diesem erlauchten Kreise sein könnte, hatte er aus Furcht vor dem mißgünstigen Schicksal auch in seinen leisesten Träumen nicht zu denken gewagt. Wie Tuben und Hörner klang es ihm jetzt durch den Kopf, er fühlte sich wie damals, als er als Knabe zum erstenmal die Weißgekleideten auf den Stufen des Tempels hatte singen hören. Das alte Wort tauchte ihm hoch: »Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und ich bin einer von ihnen«, und betäubend überfiel ihn sein Glück.
  Sogleich aber, noch ehe er dem Kaiser und Freund dankte, mischte sich eine Sorge in diese seine flutende Seligkeit. »Du sollst dir kein Bild machen.« Er hat es zugelassen, ja, er war die Ursache, daß einstmals das Schloß des Titularkönigs Agrippa in Tiberias um der Bildsäulen willen gestürmt und niedergebrannt wurde. Es ist eine Todsünde, wenn er es jetzt zuläßt, daß in dem heidnischen Tempel seine eigene Bildsäule errichtet wird. Viele Juden, die meisten, werden im geheimen stolz sein über die Ehrung, die man einem der Ihren erweist. Öffentlich aber, in den Synagogen und Lehrhäusern, wird man von neuem gegen ihn predigen, und überall im Reich, selbst jenseits der Grenzen, bei den Juden des fernen Ostens, wird sein Name zum Abscheu werden. Leise auch mischten sich andere Besorgnisse ein. Wird er, wenn man ihm selber eine Ehrensäule errichtet, Dorion das Fresko des Fabull verweigern können? Und wie soll er das Geld für alles das schaffen? Vielleicht, dies kam vor, wird er die Errichtung der Bildsäule aus eigenen Mitteln bezahlen müssen.
  Dieser letzten Sorge freilich wurde er rasch überhoben. Kaum nämlich hatte er seinen Dank gestammelt, da sagte ihm Titus, er sprach jetzt, dem Freunde zu Gefallen, aramäisch, schwierig suchte er die Worte aus seinem Gedächtnis: »In den nächsten Tagen also schicke ich dir den Bildhauer Basil. Überleg dir aber«, fügte er lächelnd hinzu, »ob er dich nicht doch lieber mit Bart machen soll.«
  An die vierzig Freunde hatten den Josef zum Palatin begleitet. Sie warteten in der Halle. Als er zurückkam, strahlend, waren es ihrer sechzig geworden. Unheimlich schnell hatte sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, daß der Kaiser den Josef an die zwei Stunden in einer Privataudienz dabehalten hatte. Man empfing ihn mit lärmender Freude. Als er gar in halb echter, halb gespielter Bescheidenheit erzählte, welche Ehrenbezeigungen der Kaiser ihm zugedacht, jubelte man, umarmte ihn, küßte ihn. Am stürmischsten bekundete der Schauspieler Demetrius Liban seine Freude. Er streckte den Arm mit der flachen Hand aus, führte ihn zurück, küßte die Hand, warf Josef den Kuß zu, verhüllte das Haupt bis auf Stirn und Augen, und so, in der Pose des Mannes, der die Gottheit verehrt, rührend und komisch zugleich, rief er wieder und wieder: »O du sehr guter, sehr großer Jude Josephus.« Er dachte aber daran, daß der Kaiser, wenn er schon diesen so hoch ehrte, ihm selber bestimmt noch ganz andere Ehrungen werde zuteil werden lassen.
  In großem Triumphzug geleitete man den Josef nach seinem Haus. »Was ist los?« fragten die Vorübergehenden. »Es ist der Schriftsteller Flavius Josephus«, antwortete man ihnen, »der Jude. Er hat ein neues Buch geschrieben. Der Kaiser hat ihm eine Million geschenkt und läßt ihm Denkmäler errichten. Es ist aus. Wir kriegen die Jüdin zur Kaiserin.«

Schon nach zwei Tagen lud der Bildhauer Basil den Josef ein mit ihm die Einzelheiten der zu modellierenden Ehrensäule zu besprechen. Josef war in großer Verwirrung. Soll er nicht doch die Ehrung ablehnen? Wie man es mit den Bräuchen halten sollte, das blieb ihm ein ständiges, stacheliges Problem. Es führten mehrere Wege zu Jahve; die Bräuche waren einer von diesen Wegen. Josef selber hat die Bräuche nicht nötig, er hat seinen eigenen Weg zu Gott gefunden. Aber für die große Masse sind sie notwendig. Und jetzt gar, nachdem der Staat nicht mehr da ist, gibt es, will sich einer zu diesem geistigen Prinzip »Judentum« bekennen, schwerlich ein anderes Mittel als die Bräuche. Bildwerk irgendwelcher Art um sich zu dulden ist überdies mehr als die Verletzung irgendeines der vielen Verbote, es ist die Verleugnung des geistigen Urprinzips, des unsichtbaren Gottes.
  Ist es denn überhaupt möglich, die Ehrung zurückzuweisen? Es ist möglich. Er könnte zum Beispiel erklären, er fühle sich dieser Ehrung erst dann würdig, wenn er ein zweites, größeres Werk vollendet habe. Dies bedeutete ein Opfer, einen ungeheu ren Verzicht. Und selbst wenn er sich entschließen sollte, das Opfer auf sich zu nehmen, durfte er es denn? Bedeutete nicht ein solcher Verzicht zugleich eine Schädigung der gesamten Judenheit?
  Josef fragte den Claudius Regin um Rat. Der Verleger schaute ihn auf und ab aus seinen schweren, schläfrigen Augen, seine dicken, schlechtrasierten Lippen lächelten. Er wußte, Josefs Herz hing an dieser Ehrung, er wußte, Josef will nur, daß man ihm zurede. Aber er machte sich den Spaß, ihm nicht zuzureden, er ließ ihn zappeln. Gewiß wäre es ein Schaden für die Judenheit, meinte er mundfaul, wenn Josef die Ehrung ablehnte. Aber die Juden hätten schon so viel überstanden, die Zerstörung des Tempels zum Beispiel; sie würden vielleicht auch die Nichtaufstellung der Säule überstehen. Josef bat ihn, ernsthaft zu reden. Es gebe gewisse Handlungen des Josef, erwiderte Regin, die er selber nicht getan haben möchte. Ob es aber wesentlich sei, von den dreihundertfünfundsechzig Verboten der Schrift, die die Doktoren ausgeklügelt hätten, einhundertachtundsiebzig zu übertreten oder einhunderteinundachtzig, und welche von diesen dreihundertfünfundsechzig Verboten stärker wiegen und wieviel Unzen stärker, darüber nachzudenken stehe einem Doktor der Tempeluniversität von Jerusalem wie dem Josef besser an als einem vielbeschäftigten Finanzmann. Auf diesem Gebiet sei Josef selber auch zweifellos sachverständiger als er, und er müsse diese Frage schon mit sich allein bereinigen. Im übrigen freue er sich, ihm berichten zu können, daß die Neufassung des »Jüdischen Kriegs« ausgezeichnet gehe. Vor allem die jüdischen Besteller seien zahlreich. Er nehme an, das rühre daher, daß diese neue Fassung weniger, sagen wir: vorsichtig sei. Vielleicht gebe diese Tatsache dem Josef einen Fingerzeig.
  Josef, sehr verärgert, ging zu Cajus Barzaarone. Hier fand er mehr Verständnis. »Wenn Sie mich fragen«, sagte der alte Möbelhändler, »so kann ich Sie nur auf mein eigenes Exempel hinweisen. Sie wissen, ich habe mich dazu verstanden, an dem von mir verfertigten Hausrat Tierfiguren als Ornamente anbringen zu lassen; sonst hätte mich die Konkurrenz überholt. Einige angesehene Doktoren haben mir freundliche Gutach ten ausgestellt und in meinem Fall die Fabrikation der Tierornamente für eine läßliche Sünde oder gar für erlaubt erklärt. Aber diese Konzessionen sind fragwürdig, darüber bin ich mir klar; schließlich heißt es in der Schrift eindeutig: ›Du sollst dir kein Bildnis machen.‹ Ich habe jedenfalls meinem alten Vater – das Andenken des Gerechten zum Guten – noch vor seinem Ende durch meinen Liberalismus viel Kummer gemacht, und manchmal sage ich mir, vielleicht war auch der Schiffbruch und Untergang meines ältesten Sohnes Cornel eine Strafe für meine Sünden. Ich versuche, meine Schuld gutzumachen. Für den Loskauf jüdischer Leibeigener habe ich dreimal mehr beigesteuert als den vorgeschriebenen Zehnten. Trotzdem drückt mich der Zweifel, ob es erlaubt ist, Geld, selbst wenn man es für solche Zwecke verwendet, mit fragwürdigen Mitteln zu erwerben. Ihre Situation, Doktor Josef, ist noch ungünstiger. Eine Porträtbüste anfertigen zu lassen verstößt zweifellos gegen den Geist der Lehre. In Ihrem Fall werden die Doktoren von Jabne kaum Milderungsgründe finden.« – »Sie raten mir also ab?« fragte Josef. »Ich rate Ihnen zu«, erwiderte langsam Cajus Barzaarone, vor sich hin schauend. »Es ist im Interesse von uns allen. Sie haben schwere Sünden auf sich genommen, und sie waren weniger im Interesse von uns allen. Nehmen Sie die Ehrung an.« Er schaute ihm plötzlich voll ins Gesicht und sagte, unerwartet dringlich: »Aber zeigen Sie, daß Sie ein Jude sind. Lassen Sie endlich Ihren Jungen beschneiden, Doktor Josef.«
  Der Mann redete. Der Mann hatte leicht reden. Er wußte doch, daß Josef keine juristischen Möglichkeiten besaß, seinen Sohn ohne Dorions Zustimmung ins Judentum zu zwingen. Als hätte Cajus Barzaarone seine Gedanken erraten, fügte er hinzu: »Wenn Ihre Frau Sie liebt, wird sie kein Bedenken tragen, den Jungen nach Ihren Wünschen erziehen zu lassen.« Josef erwiderte nichts. Es war aussichtslos, dem andern klarzumachen, daß Dorion ihn liebte und es dennoch nicht zuließ, daß sein Sohn zum Juden wurde.
  Im Grunde freilich hat der Mann recht. Je mehr Josef Ben Matthias zum Flavius Josephus wird, um so mehr ist er verpflichtet, seinen Paulus zum Juden zu machen. Er wird die Ehrung annehmen, und er wird den Kampf um seinen Sohn von neuem beginnen. Wenn erst Berenike da ist, dann wird er vielleicht sogar durchsetzen können, daß die juristischen Hemmungen fallen und daß Paulus auch ohne Dorions Zustimmung zum Juden werden kann.

Vorläufig aber kam nicht die Prinzessin Berenike, sondern es kam der Gouverneur der Provinz Judäa, Flavius Silva. Er brachte mit sich das Konzept eines Buches, das er über die Juden schreiben, und eine Denkschrift, die er dem Kaiser überreichen wollte. Nun Berenike in Rom erwartet wurde, hielt er es für ratsam, selber in der Hauptstadt zu sein, und er war glücklich, daß sich die Ankunft der Prinzessin so lange hinauszögerte.
  Der Gouverneur Flavius Silva war ein vergnügter, lärmender Herr, ein Vetter des Obersten Annius Bassus und diesem sehr ähnlich. Man hatte, nachdem die Generäle Cerealis und Lucil versagt hatten, ihn mit der Statthalterschaft der sehr schwierigen Provinz betraut, und er hatte sich in die Aufgabe verbissen, Judäa zu befrieden und zu romanisieren. Es verbarg sich hinter seinem lauten und jovialen Gehabe ein gut Teil harter, zäher Schlauheit.
  Das Land war verwüstet, die berühmte Stadt Jerusalem zerstört, ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung tot oder als Leibeigene verkauft. Der neue Gouverneur bemühte sich mit Erfolg, das Land neu zu besiedeln. Im Einvernehmen mit der Zentralregierung in Rom verteilte er Hunderttausende der jüdischen Bewohner seiner Provinz übers ganze Reich, erleichterte ihre Auswanderung, zog möglichst viele nichtjüdische Kolonisten nach Judäa. Baute eine ganze Reihe von zerstörten jüdischen Städten als griechisch-römische Siedlungen neu auf, gründete neue, die Stadt Flavisch Neapel zum Beispiel, und brachte sie rasch hoch. Neun Jahre nach der Zerstörung Jerusalems konnte er nach Rom melden, sein Neapel habe bereits vierzigtausend Einwohner, seine Hauptstadt, die Meerstadt Cäsarea, habe um sechzigtausend zugenommen.
  Flavius Silva war ein gerechter Mann, den Juden nicht abgeneigt. Aber er war Römer bis in die Knochen, dem Kai serhaus verwandt und fest entschlossen, römischen Frieden und römische Ordnung, wie sie Kaiser Vespasian dem ganzen Reich aufgezwungen, auch in seiner Provinz durchzusetzen. Er brachte seine Syrer zur Räson, wenn diese glaubten, sie könnten ungestraft die Juden schikanieren, aber er duldete es auch nicht, wenn die Juden seine Syrer und Griechen durch ihren albernen Religionseifer zu ihrem eigenen Glauben verleiten wollten. Rom war tolerant, der jüdische Glaube von Staats wegen erlaubt. Man hatte nach vielem Blutvergießen darauf verzichtet, die jüdische Bevölkerung zu zwingen, den Bildsäulen der konsekrierten Kaiser Reverenz zu erweisen. Hatte sogar aus Rücksicht auf die jüdische Bevölkerung die allwöchentlichen unentgeltlichen Getreidelieferungen in den Städten Alexandrien und Antiochien vom Sonnabend auf den Freitag verlegt. Wenn aber jetzt die Juden seiner Provinz darüber hinaus sich anschickten, Griechen oder Römer ihrem angestammten Glauben an die Staatsgötter abspenstig zu machen, so war das Maß überschritten, und Flavius Silva dachte nicht daran, diesen staatsfeindlichen Bekehrungseifer der Juden hinzunehmen.
  Nun sandten ihm zwar die Juden immer wieder Delegationen in sein Regierungspalais, Doktoren und Juristen, um in langen Reden und vielwortigen Schriftsätzen zu beweisen, es liege ihnen fern, Nichtjuden zu ihrem Glauben zu bekehren. Aber das änderte nichts an der Tatsache, daß eine ganze Menge Bettelphilosophen in seiner Provinz herumzogen, vor Syrern und Griechen eifernde Predigten hielten und ihnen ihr jüdisches Himmelreich anpriesen. Als er die jüdischen Doktoren darauf hinwies, erzählten sie ihm, diese Bettelphilosophen und Zyniker seien eine winzige Splitterpartei, Minäer oder auch Christen genannt, eine unbedeutende Sekte, mit abweichenden, unverbindlichen Lehrmeinungen. Doch der Gouverneur war nicht der Mann, sich mit einem so billigen Ableugnungsmanöver zufriedenzugeben. Wie denn? Was denn? Diese sogenannten Christen schauten genauso aus wie seine andern Juden, sie taten das gleiche, sie lehrten das gleiche, anerkannten die gleichen heiligen Schriften, die gleichen Feiertage, sprachen gleich schlecht Latein, waren gleich schwie rig. Im Grunde hielt Flavius Silva alle Juden für Barbaren und ihre Religion für einen wirren Aberglauben. Soweit er die verwickelten Darlegungen der Doktoren verstand, handelte es sich bei der Sekte der sogenannten Minäer oder Christen darum, daß diese glaubten, der Messias sei schon vor vierzig oder fünfzig Jahren erschienen, während die übrigen Juden annahmen, er werde erst in zwanzig oder dreißig Jahren auftreten. Beide Annahmen offenkundig höchst läppischer Aberglaube; denn in Wahrheit war ja der Messias vor zehn Jahren erschienen in Gestalt des Kaisers Vespasian, was der legitime Vertreter der jüdischen Priesterschaft, der Schriftsteller Flavius Josephus, selber zugegeben hatte. Jedenfalls konnte sich ein Verwaltungsbeamter, der für die Ordnung im Lande verantwortlich war, auf so spitzfindige Unterscheidungen wie die zwischen den Minäern und den übrigen Juden nicht einlassen. Flavius Silva hielt denn auch der gesamten Judenheit gegenüber den Vorwurf der Proselytenmacherei aufrecht und war entschlossen, gegen diesen Unfug mit allen Mitteln einzuschreiten.
  Aus diesem Grunde also war er, ausgerüstet mit reichlichem Material, das seine Herren hatten sammeln müssen, nach Rom gekommen. Er wollte, noch bevor die Prinzessin Berenike hier eintraf und ihren Einfluß geltend machte, gesetzgeberische Maßnahmen gegen das Unwesen erwirken. Er wollte sich auf ein Gesetz stützen können, das mit Leibeigenschaft und Tod einen jeden bedrohte, der einen Anhänger der Staatsreligion dem Glauben seiner Väter abspenstig machte und ihn einem andern Glauben zuführte, sei es durch Beschneidung, sei es durch Tauchen in Wasser.
  Der Gouverneur saß bei den Ministern und bei den Senatoren herum. Er war ein gewitzter Politiker, er behandelte die Herren des kaiserlichen Kabinetts sehr anders als die des Senats. Den Ministern erklärte er, wie rasch er in seiner Provinz die Ordnung endgültig herstellen könnte, wenn nur endlich ein kaiserliches Edikt strenge Strafen gegen die Gottlosenbewegung festsetzte. Gestützt auf ein solches Edikt, könnte er die Bekenner der Staatsreligion wirksam vor dem Bekehrungseifer der Juden schützen, ohne diesen zu nahe zu treten. Den Senatoren legte er dar, wie übel, vor allem seit dem Thronwechsel, die Übergriffe der Juden zunähmen. Spaßhaft erklärte er, wenn das so weitergehe, dann würden bald durch alle syrischen Städte Judäas Juden mit gezücktem Messer laufen, um jemanden zu suchen, den sie beschneiden könnten. Der Senat möge doch endlich ein Gesetz dagegen erlassen oder zumindest die Gesetze über Körperverletzung und Eunuchentum dahin erweitern, daß sie auch die Beschneidung eines Nichtjuden inbegriffen.
  Die frische, offene Art des Gouverneurs gefiel allgemein. Titus selber freilich zögerte die Audienz immer wieder hinaus, in der Flavius Silva über die Zustände in Judäa Vortrag halten und ihm seine Denkschrift überreichen wollte. Den Senatoren hingegen, vor allem denen der Opposition, sagte der Gedanke sehr zu, in der gesetzgebenden Körperschaft eine Vorlage im Sinne des Gouverneurs einzubringen. Selbst wenn dann der Kaiser sein Veto einlegte, hatte man deutlich gezeigt, daß man nicht gewillt war, die Politik des Reichs von Rücksichten auf die Jüdin bestimmen zu lassen.
  Im übrigen hinderten den Flavius Silva seine umständlichen politischen Geschäfte nicht, nach den Entbehrungen der Provinz das laute, fröhliche Leben der Hauptstadt zu genießen. Man sah ihn auf vielen Festen, man sah ihn in den vornehmen Villen in Antium und den albanischen Bergen.
  Sein Vetter Annius führte ihn bei der Dame Dorion ein. Annius hatte ihm viel von den Opfern erzählt, die diese reizvolle Frau auf sich genommen hatte, um ihren Sohn vor der Beschneidung zu bewahren. Hatte sie es doch nur zu diesem Zweck abgelehnt, römische Vollbürgerin zu werden; denn war sie erst im Genuß dieses Bürgerrechts, dann verwandelte sich ihre Verbindung mit Josef aus einer Ehe halber Legalität in eine vollgültige, und dann stand es bei Josef, die Glaubenszugehörigkeit seines Sohnes zu bestimmen. Flavius Silva war entzückt von der Haltung der Dame Dorion und verfehlte nicht, ihr seinen Enthusiasmus auf soldatische Art zu zeigen.
  Die Tatsache, daß die Frau des größten jüdischen Schriftstellers sich mit solcher Hartnäckigkeit und unter so vielen Opfern der Beschneidung ihres Sohnes widersetzte, bestätigte dem Gouverneur, wie widerwärtig jedem normalen Untertan des Reichs der jüdische Aberglaube war und wie berechtigt also sein Vorgehen. Dorions Kampf wurde sein eigener.
  Sehr schnell verbreitete sich auch auf dem rechten Tiberufer die Nachricht von der Ankunft des Gouverneurs und seiner Absicht, bittere Maßnahmen gegen das geschlagene Volk der Juden durchzuführen. Ein Trost blieb, daß der Kaiser ihn nicht empfing. Trotzdem wuchs Unruhe und Angst.
  Und Berenike kam nicht.
  Cajus Barzaarone ging nochmals zu Josef und bat ihn, er möge sich nicht länger Gewissensskrupel machen. Im Interesse aller müsse er sich überwinden und die Ehrensäule annehmen. Doktor Licin redete ihm zu, der Glasfabrikant Alexas, sogar, leichtgrinsend, Claudius Regin. Demetrius Liban bot seine geübte Beredsamkeit auf. Alle bestürmten sie den Josef. Er aber ließ sich bitten, oft und abermals, und zögerte lange, ehe er endlich tat, was zu tun er von Anfang an entschlossen war.

Mit Unbehagen ging er durch den neunten Bezirk, in dem der Bildhauer Basil sein Atelier hatte. In diesem Bezirk waren die meisten Steinmetzen angesiedelt. Hier lagen, eine neben der andern, die zahlreichen Werkstätten, in denen fabrikmäßig die Denkmäler und Büsten hergestellt wurden, die der ungeheure Bedarf der Stadt und des Reichs forderte. Jetzt zum Beispiel, nach der Thronübernahme, wurden allein an großen Büsten und Denkmälern des Titus über dreißigtausend verlangt. Man sah hier den neuen Kaiser in allen Stellungen, als Triumphator, zu Pferde, auf dem Thron. Sein breiter, knabenhaft nachdenklicher Kopf mit den kurzen, krausen, in die Stirn frisierten Locken war zu Zimmerschmuck jeder Art verarbeitet. Künstlerische Skrupel machte man sich wenige. Da hatte man etwa auf Vorrat vierhundert Vollstatuen des Vespasian angefertigt, die jetzt durch den Tod des Kaisers zu raumfressenden Lagerbeständen wurden; man verwendete kurzerhand die Rümpfe und setzte ihnen den Kopf des neuen Herrschers auf.

  Josef haßte den neunten Bezirk. Unmutig schritt er durch den heißen, staubigen, lärmenden Wald gigantischer und winzig kleiner Stein- und Erzbilder von Göttern, Kaisern, Heroen, Philosophen. Angewidert ging er vorbei an den ernsten und neckischen Erzeugnissen des Kunstgewerbes, an Spiegeln, Leuchtern, Dreifüßen, Vasen, die betrunkene Silene zeigten, tanzende Nymphen, geflügelte Löwen, Knaben mit Gänsen, vielfältige Ausgeburten einer kindisch tändelnden Phantasie.
  Endlich war er am Hause des Bildhauers Basil angelangt. Es lag inmitten des Getümmels der Werkstätten. Erschreckend beinahe überfiel ihn die plötzliche Stille, als er die Vorhalle betrat. Die Werkstatt selber war ein großer, heller Saal; ein paar Bildwerke standen darin herum, Antiken wahrscheinlich, Josef verstand sich nicht darauf. Der Künstler Basil stand in dem weiten Raum, salopp, klein, etwas verloren.
  Er hieß den Josef sich setzen, ging um ihn herum, vielwortig schwatzend. »Natürlich freut es mich, Flavius Josephus«, sagte er, ihn mit hellen, unangenehm eindringlichen Augen musternd, »daß der Kaiser mir diesen Auftrag gegeben hat. Aber mir wäre lieber, er hätte ihn mir ein halbes Jahr später gegeben. Sie können sich nicht vorstellen, was unsereiner gerade jetzt zu tun hat. Meine Gesellschaft allein hat fünfhundert neue Arbeiter eingestellt. Na«, kam er endlich zur Sache, seufzend, »wollen wir eben zusehen, daß wir etwas möglichst Schönes aus Ihnen machen. Hast du dir den Herrn gut angeschaut, Kritias?« wandte er sich an einen ziemlich vierschrötigen Burschen, einen Leibeigenen vermutlich oder einen Freigelassenen. »Das ist nämlich mein Gehilfe«, erklärte er dem Josef. »Er wird Ihnen die Augen einsetzen, wenn wir soweit sind. Das ist seine Spezialität.« Auch der Bursche beschaute Josef eindringlich; der kam sich vor wie ein Tier auf dem Markt, wie ein Leibeigener auf der Auktion.
  Der kleine, quicke Basil, immer um den peinvoll sitzenden Josef herumgehend, schwatzte munter weiter. »Wie haben Sie sich’s denn gedacht, Flavius Josephus?« fragte er. »Was meinen Sie zum Beispiel zu einer größeren Gruppe, Sie sitzend, Buch in der Hand, zwei oder drei Schüler zu Ihnen aufblickend? Aber auch eine Büste auf einem eingelegten Sockel oder eine Säule wäre nicht reizlos. Einen markanten Kopf haben Sie. Ich hatte Sie mir übrigens immer mit Bart vorgestellt. Wissen Sie, Sie sind doch auch Nichtrömer, mit Ihnen kann ich offen reden. Im Grunde verstehen sie nichts von Kunst, die Römer. Nur bei Porträts muß man sich in acht nehmen. Davon verstehen sie was. Leider. Na, was denken Sie? Gruppenbild oder Büste? Gruppenbild wäre leichter. Reden Sie doch einen Ton, bitte«, ermunterte er ihn, da Josef verdrossen schwieg. »Erzählen Sie mir was aus Ihrer Vergangenheit, daß ich Leben in Ihr Gesicht kriege. Ich sehe schon«, wandte er sich an Kritias, »der Herr will die ganze Verantwortung mir zuschieben. Gehen wir schon an die Büste«, entschied er sich, seufzend. »Es spricht einiges dagegen, ich sage es Ihnen offen, Flavius Josephus. Ihr Kopf ist zwar ausgezeichnet, aber, von uns aus gesehen, kein Schriftstellerkopf. Zuviel Energie und zuwenig Kontemplation. Auch du wirst es nicht leicht haben, mein Kritias. Diese beweglichen Augen, schwierig. Sie müssen wissen, Flavius Josephus, wenn sich der Künstler mit der klassischen Manier begnügt, mit geschlossenen Augen, dann spart er sich Zeit, Arbeit, Seele. Na, drücken wir uns nicht. Immer einmal heran, mein Kritias.«
  Josef mußte auf einem Podium Platz nehmen. Basil klatschte ein paar Schüler herbei, und, unbekümmert um den mürrisch Sitzenden, analysierte er Gesicht und Haltung seines Modells. »Ihr seht, Jungens«, führte er aus, »diesen Herrn Flavius Josephus, einen, wie man mir sagt, ungewöhnlich bedeutenden Schriftsteller – ich selber habe leider noch nicht die Zeit gefunden, seine Bücher zu lesen –, dem Seine Majestät eine Ehrensäule in der Bibliothek des Friedenstempels zuerkannt hat. Das ist eine große Aufgabe, und wir wollen unser Modell scharf studieren, bevor wir anfangen.
  Der Herr sieht beim ersten Anblick etwas finster aus, aber wir wollen das nicht unterstreichen, es scheint mir nur eine momentane Stimmung. Die Augen liegen tief, da entsteht sowieso ein finsterer Ausdruck. Gib viel Glanz in die Augen, mein Kritias. Siehst du dieses etwas bösartige Schillern, das der Herr jetzt gehabt hat? Das mußt du mir festhalten. Aus den dünnen Lippen würde ein Philosoph wahrscheinlich auf eine weitabgewandte Gesinnung schließen. Aber unsereiner sieht sogleich, daß sich der Herr trotzdem recht gut in der Welt auskennt. Wir müssen herauskriegen, Jungens, wie kräftig die Lippen sind bei all ihrer Dünnheit. Wir werden den Kopf ein wenig über die Schulter drehen. Das ist ein Experiment, das ist gegen die Schulregel. Aber auf solche Art kriegen wir die Augen in die Winkel. Das gibt den Ausdruck eines Mannes, der mit seinen Augen die Welt packen will. Und dann kriegen wir auch die stolze, gierige Geste heraus, die dem Herrn so gut steht. Eine echte Schriftstellergeste nebenbei, die wir schon deshalb unter allen Umständen herausholen müssen; wir leisten es uns nämlich, den Herrn ohne Buch darzustellen, und das Gesicht wirkt sowieso nicht sehr literarisch. Was abgesehen von dem speziellen Fall kein Nachteil ist. Schaut euch das Hagere, Knochige des Kopfes an, Jungens, die ausgezeichnete Stirn, die Buckel über den Augen, die Buckel unterm Haaransatz, dieses Auf und Nieder, die Zerarbeitung, die Zerklüftung. Der Kollege Diodor würde jeden dieser Züge wichtig unterstreichen. Wir werden das nicht machen. Wir werden charakterisieren, nicht karikieren.
  Es ist ein jüdischer Kopf, den wir da zu machen haben. Herr Flavius Josephus ist Jude. Denkt euch den Bart hinzu, dann wird es noch deutlicher. Wir müssen es dahin bringen, daß sich der Beschauer, ohne daß er es selber merkt, den Bart hinzudenkt. Macht die Augen auf, Jungens. Schaut euch den Kopf gut an, so wie er jetzt vor euch ist. Wenn ich ihn erst einmal modelliert habe, dann werdet ihr ihn nur mehr sehen, wie ich ihn sah.«
  Er schickte die Schüler hinaus und dann auch den Kritias. »Diese Vorbereitungen sind ein wenig langweilig«, wandte er sich wieder an Josef. »Aber ich kann nicht zu arbeiten anfangen, ehe ich mir über jede Einzelheit klargeworden bin. Das geht am besten, wenn ich das Modell meinen Schülern erkläre.«
  »Wie halten wir es mit der Säule?« fragte er nachdenklich. »Wenn wir Herrn Fabuli dazu bekämen, Ihren Schwiegervater, die Säule zu bemalen, das wäre eine große Sache.« – »Ich möchte Herrn Fabull nicht bemühen«, lehnte Josef kurz ab. »Fabuli ist ein herrlicher Maler«, beharrte Basil, »und für solche Arbeit unbestritten der erste Mann der Epoche. Ich arbeite gern mit ihm.« – »Ich möchte Herrn Fabull nicht heranziehen«, erwiderte noch energischer Josef. »Wenn Sie es durchaus ablehnen«, seufzte Basil, »dann müssen wir den Sockel mit Reliefs ausarbeiten. Sie waren doch General, habe ich mir sagen lassen. Da werden wir am besten einige Ihrer Kriegstaten auf den Reliefs darstellen.«
  Josef war im Begriff, auch diesen Vorschlag heftig zurückzuweisen, als mit kräftigem Schritt, an dem tief sich neigenden Leibeigenen vorbei, eine junge Dame in das Atelier kam, stattlich, schön, hochfahrend. Sie habe unerwarteterweise zwei Stunden frei, erklärte sie dem offensichtlich geschmeichelten Bildhauer, und jetzt wolle sie ihre Kolossalstatue beschauen, solange sie noch im Stein stecke. Ob sie sehr störe, unterbrach sie sich, mit einer leichten Kopfbewegung gegen Josef. Die ganze Zeit hatte sich Josef gefragt, wessen Züge dort drüben das große Modell der Juno trage. Jetzt erkannte er, daß es natürlich die Züge dieser Dame waren, der Frau des Erbprinzen, Lucia Domitia Longina. Der Bildhauer, in seiner saloppen Art, sagte, sie störe nicht; denn selbstverständlich werde er vorher seine Sache mit dem Herrn ins reine bringen. Dann werde er ihr gern die Statue zeigen.
  Der Herr selbst aber scheine verärgert, bemerkte die Prinzessin, den Josef ungeniert auf und ab schauend, leicht amüsiert über sein steifes, verschlossenes Gesicht.
  Basil stellte ihn vor. Sie habe doch gleich gewußt, sagte Lucia, daß sie dieses Gesicht kenne. Sie habe ihn schon mehrmals gesehen, er sei ihr aufgefallen. Aber etwas an seinem Gesicht habe sich verändert. »Ein interessantes Buch, Ihr ›Jüdischer Krieg‹«, fuhr sie fort, ihn unverwandt und ohne Rücksicht musternd. »Gewöhnlich wird in solchen Büchern schrecklich gelogen. Selbst in den Memoiren meines Vaters, des Feldmarschalls, scheint mir einiges verdächtig. Bei Ihrem Buch hatte ich den Eindruck, Sie schwindeln nur, wenn es um Nie selber geht. Dafür habe ich Witterung.«
  Josefs Gesicht verlor seine Finsternis. Sooft er diese Dame Lucia bei offiziellen Anlässen gesehen hatte, war sie ihm ernst vorgekommen, streng, repräsentativ, die Juno des Modells. Nie hätte er gedacht, daß sich diese Juno so leicht und angenehm geben könnte. Sein Unmut war fort. Vor Frauen solcher Art fühlte er sich sicher und beschwingt. Möglich, setzte er ihr auseinander, daß an seinem Buch einiges gezwungen und weniger überzeugend wirke. Das komme daher, daß er seine Gedanken in einer fremden Sprache habe ausdrücken müssen. Jetzt aber, in der Neufassung, sei ihm vieles besser geglückt.
  »Wie ist es also?« unterbrach Basil. »Bleibt es bei den Reliefs?« Josefs Unbehagen kam zurück. Was denn aus seinem früheren Leben will er in Stein hauen, dieser Aufdringliche? Seine Taten im jüdischen Krieg? Die werden sich nicht gut ausnehmen in römischen Augen. Seine Begegnung mit Vespasian, diese zweideutige, ihn peinigende Begegnung, die ihn vor den Juden befleckt, soll die in Stein gehauen werden?
  per kleine, flinke Basil – ihr »Eichhörnchen« nannte ihn Lucia – schwatzte unterdessen munter weiter. Sonst habe man bei einem Schriftsteller nicht viel Material für den Sockel, meinte er, aber bei einem Kriegshelden wie Josef bleibe ja die einzige Qual das Wählen. Josef fiel ihm ins Wort. Man lasse seine Niederlagen nicht gerne in Stein hauen, lehnte er ab. Er bitte darum, die Säule glatt zu halten, ohne Bemalung und ohne Relief. Vielleicht sei das eingebildet, aber er glaube, seine eigene Darstellung der Ereignisse sei anschaulich genug.
  »Schön«, fügte sich Basil. »Sie ersparen mir Arbeit.« Lucia hatte schweigend zugehört. »Sie sind ein schwieriger Herr«, sagte sie jetzt zu Josef, lächelnd. »Merkwürdig, daß einer nach soviel Erlebnissen noch so empfindlich ist.«
  Dann machte man sich auf den Weg, um die Kolossalstatue zu beschauen. Lucia forderte Josef auf, mitzukommen. Inmitten von Staub und Lärm hob sich die riesige Juno, noch zu einem guten Teil im Stein steckend. Die linke Hand sprang vor, Basil kletterte hinauf. Auf der mächtigen, steinernen Hand stehend, erklärte er seine Arbeit. Eine Juno sei keine dankbare Aufgabe. Eine Juno bleibe fad und feierlich, selbst wenn eine Lucia das Modell sei. Er möchte einmal die wirkliche Lucia machen, nicht die offizielle, repräsentative. »Wie stellen Sie sich denn die wirkliche Lucia vor?« fragte von unten herauf die Prinzessin, lachend. »Zum Beispiel«, meinte, sich duckend, Basil, »als Tänzerin Thais auf dem Rücken des Philosophen reitend, angenehm besoffen. Das wäre eine Aufgabe.«
  Die große Lucia streckte sich, griff nach ihm, holte ihn von der Hand ihrer Statue herunter. Ihr persönlich liege wenig an Respekt, erklärte sie friedfertig, aber Bübchen würde sich ärgern, wenn er so unehrerbietiges Gerede hörte. »Jetzt«, wandte sie sich an Josef, »wo wir Ihre Jüdin bald da haben werden, Ihre Berenike, darf ich mir erst recht nichts vergeben. Ihr Juden macht unsereinem viele Ungelegenheiten«, seufzte sie. »Er gehört übrigens zur angenehmeren Sorte, finden Sie nicht, mein Eichhörnchen?« sagte sie zu Basil. Josef ärgerte sich, daß sie so über ihn hinweg sprach. Trotzdem, als sie ihre Sänfte bestieg, fragte er, sie mit seinen heftigen Augen dringlich anschauend: »Darf ich Ihnen die Neufassung meines Buches bringen?« – »Tun Sie das, mein Lieber«, erwiderte sie. Auch das sagte sie obenhin. Aber sie winkte dem Diener ab, der die Vorhänge schließen wollte, und während die Sänfte sich in Bewegung setzte, schaute sie den Josef an, mit geschlossenen Lippen lächelnd, ein klein wenig spöttisch, sehr einladend. Ihre Stirn unter der in vielen Locken hoch sich türmenden Frisur war rein und kindlich, ihre weit auseinanderstehenden Augen über der langen, kräftigen Nase schauten furchtlos, lebensgierig. Josef aber lächelte in seinem Innern und ärgerte sich nicht mehr.

Zu ungewohnter Stunde erschien in dem Haus im sechsten Bezirk der Glasfabrikant Alexas, den Josef unter allen Juden in Rom für seinen besten Freund hielt. Dieser Alexas war seinerzeit während der Belagerung in Jerusalem geblieben, seinem alten Vater zuliebe, der sich nicht von der Stadt hatte trennen können. Er hatte dort grausige Dinge durchgemacht, man hatte ihm seine ganze Familie auf schauerliche Art getötet, er selber war, im letzten Augenblick, von Josef aus einem Gefangenendepot herausgeholt worden, das die für Tierhetzen und Kampfspiele Bestimmten enthielt. Der weltkundige Mann mit seinen fortschrittlichen Fabrikationsmethoden war auch in Rom rasch hochgekommen. Seine stattliche Leibesfülle freilich und die frischen Farben seines Gesichtes waren für immer fort, sein strahlend schwarzer Bart verfärbt, und eine leise, wissende Trauer war um alles, was er sagte und was er tat. Josef hielt große Stücke auf seinen Freund. Der lebte beispielhaft und ohne viel Krampf vor, wie man gleichzeitig ein guter Jude und ein guter römischer Untertan sein konnte.

  Heute schien der sonst so ruhige Mann erregt, seine trüben, bekümmerten Augen belebt. Zwei unerwartete Besucher waren in seinem Haus eingetroffen, ein Mädchen aus Judäa, oder vielmehr eine Frau, in Begleitung eines zehnjährigen Jungen, beide ihm von früher her nicht bekannt. Es war die erste Frau des Josef, Mara, mit ihrem Sohne Simeon.
  Dem Alexas hatten die Frau und der Junge gut gefallen. Josef aber schien betreten, ablehnend. Warum denn die Frau gerade zu ihm gekommen sei? fragte er den Alexas. Es war deshalb gewesen, weil sie seinen Namen schon in Judäa gehört hatte als den eines Freundes des Josef. Was sie in Rom wolle, erzählte Alexas weiter, habe sie ihm nicht anvertraut, für alle seine Fragen habe sie ein sanftes, geheimnisvolles und verschmitztes Lächeln gehabt. Sie habe ihn nur gebeten, zu dem Doktor Josef Ben Matthias zu gehen, Priester der Ersten Reihe, Freund des Kaisers, ihrem Herrn und früheren Gemahl, auf daß der, wenn er auch sie selber verworfen habe, seinem Sohne sein Antlitz leuchten lassen möge, dem Simeon, Janiki, seinem Erstgeborenen.
  Josef hatte seine frühere Frau die ganzen zehn Jahre hindurch nicht gesehen, auch seinen Sohn nicht, und wenig Gedanken an die beiden verloren. Er hatte sich damit begnügt, ihr die ausgesetzte Rente anweisen zu lassen. Mara hatte zuerst auf dem Land gelebt, auf seinen Gütern, dann war sie in die Stadt gezogen, in die Meerstadt Cäsarea, damit dort der kleine Simeon die Schule besuche. Mara hätte ihn lieber in das Lehrhaus von Jabne gebracht, das Zentrum der jüdischen Gelehrsamkeit. Aber Josef hatte gefürchtet, daß sein Sohn dort nicht wohl aufgenommen werde, und darum Mara veranlaßt, mit ihrem Jungen nach Cäsarea zu gehen, der Hauptstadt des Landes, die fast nur von Griechen und Römern bewohnt war. Es war für Juden nicht ganz einfach, dort Zutritt zu erlangen; sie bedurften eines Sonderpasses. Aber Josefs Verwalter Theodor Bar Theodor hatte für Mara und ihren Jungen die Sondererlaubnis rasch erwirkt. Dort also hatte sie die letzten Jahre gelebt, still, gefügig, ohne ihn zu behelligen; jedes Jahr zum Hüttenfest hatte sie ihm in einem demütigen Brief mitteilen lassen, daß sie und ihr Sohn sich wohl befänden und ihm für seine Güte dankten.
  Jetzt zum erstenmal, seitdem er sie kannte, hatte sie einen selbständigen Beschluß gefaßt und war ohne seinen Willen nach Rom gekommen. Er hatte sich von ihr geschieden, hatte die öffentliche Geißelung auf sich genommen, um diese Scheidung zu erlangen. Die Frau seiner Rippe ist Dorion, der Erstgeborene seines Herzens Paulus. Warum war auf einmal diese da? Was fiel ihr ein? Was wollte sie? Das Richtige wäre, sie wieder nach Judäa zu schicken, ungesehen, mit strengem Verweis.
  Er rief sich ihr Bild zurück, wie sie, nachdem Vespasian sie genommen hatte, zu ihm gekommen war, vernichtet, eine geschminkte Tote. Wie sie dann aufgeblüht war, nachdem der Römer ihn gezwungen hatte, sie zu heiraten. Sie war vierzehnjährig damals, ihr Gesicht rein, eirund, ihre niedrige Kinderstirn schimmernd. Demütig kamen die Worte aus ihrem üppig vorspringenden Mund, sanft und zärtlich glitt sie um einen herum, alle kleinen Wünsche erfüllend, bevor man sie aussprach. Und er hatte sich das gefallen lassen. Diese Mara, die, wenn auch gegen ihren Willen, durch die Kriegsgefangenschaft und die Buhlerei mit dem Römer zur Hure geworden, war seinem Herzen und seiner Haut wohlgefällig gewesen. Nicht lange freilich. Niemals war von ihr jene tiefe Lokkung ausgegangen wie von Dorion.
  Jetzt also ist sie da. Als Geliebte hat man sie nach drei Wochen vergessen, aber sicher ist sie eine gute Mutter. Er war in Alexandrien, als sie ihm den Sohn gebar, den Erstgeborenen, den er nie gesehen hat. Er erinnert sich genau, wie sie es ihm mitgeteilt hat. Der Brief war von einem Schreiber geschrieben, aber man erkannte sogleich ihren Ton: »O Josef, mein Herr, Jahve hat gesehen, daß Deine Magd mißfällig war vor Deinem Angesicht, und er hat meinen Leib gesegnet und hat mich gewürdigt, daß ich Dir einen Sohn gebäre. Er ist an einem Sabbat geboren, und er wiegt sieben Litra und fünfundsechzig Zuz, und sein Schrei kam von der Wand zurück. Ich habe ihn Simeon genannt, das ist der Sohn der Erhörung, denn Jahve hat mich erhört, als ich mißfällig war. Josef, mein Herr, sei gegrüßt und werde groß in der Sonne des Kaisers, und der Herr lasse sein Antlitz leuchten über Dir. Und iß keinen Palmkohl, weil es Dich dann gegen die Brust drückt.« Dieser Brief schwamm auf dem Meer von Cäsarea nach Alexandrien, während gleichzeitig von Alexandrien nach Cäsarea jener andere Brief schwamm, in dem er ihr die Scheidung mitteilte.
  Er will die alten Dinge nicht aufrühren. Er liebt den Sohn aus seiner Ehe mit Dorion. O wie liebt er ihn, seinen Sohn Paulus. Aber dieser Paulus ist nicht aufgenommen in die Gemeinschaft der Gläubigen, er sperrt sich zu vor ihm, hängt sich an jenen Phineas, den Hämischen, den Hund. Ist ein Griechenjunge, hochfahrend, voll Fremdheit und Verachtung vor dem jüdischen Vater. Jetzt also ist der andere da, sein jüdischer Sohn. Aber der, als die Frucht aus der Ehe eines Priesters mit einer Kriegsgefangenen, ist ein Mamser, ein Bastard.
  Es ist arg, daß er keinen rechtmäßigen jüdischen Sohn hat. Die Büste im Friedenstempel ist eine Ehrung, wie sie noch nie einem Juden widerfahren ist. Der Doktor Licin hat ihn aufgefordert, die Synagoge zu stiften. Es wäre gut, wenn die Thorarollen, die aus Jerusalem geretteten, in einer Josef-Synagoge stünden, während sein Bild im Friedenstempel steht. Die römischen Juden würden die Stiftung einer Josef-Synagoge nur dann würdigen, wenn er einen jüdischen Sohn hätte. Sein Schlaf wäre gut dann, tief und ohne Störung.
  Im Grunde ist der Mamser, der Bastard, von jeher dem vollberechtigten jüdischen Bürger gleichgestellt gewesen. Jetzt, nach der Zerstörung des Tempels, ist es erlaubt, die Gesetzgebung über die Bastarde in einem laxen Sinne auszudeuten. Ehefähig freilich ist der Bastard nicht. Aber es gibt Auswege. Es wäre schön, hier in Rom einen jüdischen Sohn zu haben. Es wäre schön, die Josef-Synagoge zu haben. Andernteils können, wenn er Mara erst einmal vor sein Angesicht läßt, leicht tausend Ungelegenheiten und Verwicklungen entstehen. Wenn es eine Josef-Synagoge gibt und sein Bild im Friedenstempel, dann wird sein Schlaf tief sein. »Ich danke Ihnen für die Botschaft, lieber Alexas«, beschließt er seine Gedanken. »Sagen Sie Mara, ich werde morgen kommen.«
  Am nächsten Tag, auf dem Wege zu ihr, sagte er sich, das Wichtigste sei, sich nicht überrumpeln, sich kein Versprechen ablocken zu lassen. Er wird sich die beiden einmal anschauen, das ist alles. Verpflichten wird er sich zu nichts.
  Die Frau, als er kam, neigte sich tief. Sie trug das einfache Kleid des nördlichen Judäa, viereckig, aus einem Stück, dunkelbraun, rot gestreift. Ein vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase; sie liebte es noch immer, ihre Sandalen zu parfümieren. »O mein Herr«, sagte sie, »du hast dein Barthaar geopfert, aber dein Angesicht ist stark, schön und leuchtend auch ohne dein Barthaar.« Sie war demütig wie stets, aber voll von einer großen Sicherheit, die er früher nicht an ihr gekannt hatte. Mit ihrer kleinen, festen Hand wies sie auf den Jungen, nahm ihn um die Schulter, führte ihn Josef vor. Der sah, daß er breit war, wohlgeraten; in dem eirunden Schädel Maras hatte er entschiedene Lippen, eine kräftige Nase, lange, schnelle Augen wie er selber. Josef legte seinem Sohn die Hand auf das dichte, wirre Haar und segnete ihn, Gott möge ihn machen wie Ephraim und Menasse.
  Der Junge musterte den fremden Herrn ohne Verlegenheit, aber er blieb einsilbig. Sie sprachen aramäisch. Mara forderte ihren Sohn auf, griechisch zu sprechen; er könne ganz gut Griechisch, erklärte sie stolz. Aber Simeon war bockig, er sah nicht ein, warum er griechisch sprechen sollte, wenn der Herr Aramäisch konnte.
  Ein bißchen taute er auf, als Josef ihn über die Reise ausfragte. Die »Viktoria« war ein gutes Schiff, nicht sehr groß freilich. Bei dem Sturm kurz nach Alexandrien seien fast alle seekrank geworden, aber er nicht. Auch ein Transport wilder Tiere sei auf dem Schiff gewesen, für die Arena. Die hätten während des Sturms kolossal gebrüllt. Zwei Geschütze habe das Schiff mitgeführt, wegen der Seeräuber. Es gab zwar keine Seeräuber mehr, aber das Gesetz, daß jedes Schiff bestückt sein müsse, war nicht aufgehoben. Für die Geschütze hatte sich Simeon besonders interessiert. Er hatte sie sich von den Mannschaften genau erklären lassen, ja, er hatte selber ein kleines Modell eines Geschützes konstruiert. Mara bestand darauf, daß er es dem Herrn zeige. Er ließ sich auch nicht lange bitten. Sein Gesicht wurde hell, wenn er von dieser seiner Konstruktion sprach, lustiger als das oft finstere des Josef. Er hatte offenbar eine gute Hand für solche Dinge.
  Für so was, erklärte Mara, habe Simeon Interesse, da könne er aufpassen, da könne er Griechisch. Im Lehrhaus aber seien seine Leistungen keineswegs befriedigend. Er lasse sich zu leicht ablenken, treibe sich, ihren Ermahnungen zum Trotz, viel auf den Straßen Cäsareas herum, wo er von den Jungens der Gojim nur übles Zeug aufschnappe. Aber ihre dunkle Stimme war sanft, während sie ihren Simeon-Janiki verklagte, es war ein gewisser Stolz darin auf ihren geweckten Jungen, der so voll Interesse war für seine Umwelt.
  Josef, vorsichtig, immer wie ein Erwachsener zu einem andern sprechend, suchte aus dem Knaben herauszuholen, was der sich im Lehrhaus angeeignet hatte. Viel war es offenbar nicht. Dennoch rührte es den Josef schmerzhaft tief auf, als er aus dem Munde seines Sohnes hebräische Worte hörte, uralte, vertraute Klänge, im Tonfall des Landes Israel. Der Junge verteidigte sich gegen die Klagen seiner Mutter. Wozu soll er die schwierigen Gesetze über Tempeldienst und Opfer auswendig lernen, da der Tempel doch leider einmal zerstört ist? Der Hafen von Cäsarea und die Schiffe und die Silos interessieren ihn eben mehr. Dafür kann er doch nichts.
  Mara fürchtete, Josef werde zürnen über diese bedenklichen Reden des Knaben. Aber Josef zürnte nicht. Er selber war ein guter Schüler gewesen und hatte seine Stunden im Lehrhaus brav abgesessen. Aber dann war er Soldat geworden und hatte sich im Leben getummelt, und offenbar stak das Soldatische doch tiefer in ihm, als er glaubte. Das zeigte sich jetzt an dem Jungen. Er sprach mit ihm über Geschütze, er erklärte ihm die Konstruktion der »Großen Deborah«, jenes berühmten Geschützes der Juden, das die Römer erst nach so vielen vergeblichen Mühen hätten erobern können und das sie mit besonderem Stolz, trotzdem es halb zerstört war, im Triumphzug aufgeführt hatten. Der Junge hörte mit leuchtenden Augen zu. Josef selber ereiferte sich. Er hatte eine klassische Schilderung dieser Maschine in seinem Buch gegeben, er geriet ins Griechische, wie er jetzt sprach, und es erwies sich, daß Simeon-Janiki ganz gut verstand. Mara hörte befriedigt zu, wie ihr Mann und ihr Junge miteinander schwatzten.
  Jetzt fragte der Junge den Vater aus nach den Merkwürdigkeiten der Stadt Rom, von denen er gehört hatte. »Euer Rom ist sehr groß«, meinte er nachdenklich. »Aber unser Cäsarea ist auch nicht klein«, fügte er sogleich hinzu, stolz. »Wir haben das Palais des Gouverneurs und die Kolossalstatuen am Hafen und die Große Rennbahn und vierzehn Tempel und das Große Theater und das Kleine Theater. Wir sind überhaupt die größte Stadt der Provinz. Mutter erlaubt nicht, daß ich zu den Wagenrennen gehe, aber ich habe mit dem Champion Thallus gesprochen, der dreizehnhundertvierunddreißig Rennen gewonnen hat. Er hat über drei Millionen gemacht, und er hat mich auf seinem Ersten Pferd Silvan reiten lassen. Sind Sie einmal auf einem Ersten Pferd gesessen?«
  Jetzt sprach der Junge wieder aramäisch, und Josef fand sein Wesen gelöst und angenehm. »Ein Bastard, der ein Gelehrter ist, steht höher als ein unwissender Priester«, lautet ein Satz der Doktoren. Diesen Satz konnte man zwar kaum auf Simeon anwenden, aber sein Sohn gefiel ihm gleichwohl. Mara war glücklich, daß Josef dem Knaben wegen seiner Unwissenheit nicht zürnte. Ihre Schuld war es nicht, wenn er nicht das Zeug zu einem Doktor und Herrn in sich hatte. Sie hat wirklich alles dazu getan. Schon während ihrer Schwangerschaft hat sie Meerbarben gegessen, auf daß ihr Simeon wohl gerate. »Eigentlich hat es auch geholfen«, meinte sie mit sanftem Stolz. »Er ist wild, er treibt sich auf den Straßen herum und gebraucht schlechte Worte, und ich habe hierher nach Rom gehen müssen, weil ich in Cäsarea nicht mit ihm fertig wurde. Aber er hat einen raschen Kopf und eine geschickte Hand und findet Wohlgefallen vor den Menschen. Nein, das darf ich ohne Vermessenheit sagen: wir sind nicht aufs Johan nisbrot gekommen.« – »Sagt man das hier noch: ›aufs Johannisbrot‹?« erkundigte sich etwas verächtlich Simeon. »Bei uns in Cäsarea sagen sie ›auf den Hund gekommen‹. Das gefällt mir besser. Aber das Richtige habe ich erst auf dem Schiff gelernt, von den Matrosen. Die sagen: beschissen.« – »Immer hat er es mit den niedrigen Worten«, beklagte sich Mara. »Mir gefällt es: beschissen«, beharrte Simeon. »Wenn du schon das Johannisbrot nicht liebst, mein Junge«, riet Josef, »dann nimm vielleicht: unten durch.« Simeon überlegte einen kleinen Augenblick. »Nicht sehr schön«, entschied er. »Das andere ist schöner. Aber wenn Mutter es durchaus will, dann sage ich also: unten durch«, und er tauschte einen Blick des Einverständnisses mit Josef, ein Erwachsener, der auf die törichten Launen einer Frau Rücksicht nimmt.
  Josef fragte seinen Sohn, ob er in Cäsarea viele Freunde habe. Es erwies sich, daß er mehrere griechische Kameraden hatte. Wurden sie frech, prügelte er sich mit ihnen herum. Unter den Polizisten hatte er gute Bekannte, die zu ihm hielten gegen die Lausebengels. Erst hatte er offenkundig statt »Lausebengels« ein kräftigeres Wort nehmen wollen, aber aus männlicher Rücksicht auf die Mutter unterdrückte er es.
  Diese, nach einer Weile, schickte den Knaben hinunter auf die Straße; er hatte auch da bereits Freunde. Josef, sowie sie allein waren, beschaute Mara. Sie war reifer als früher, ein wenig dicklich übrigens, fest in sich ruhend, voll bescheidener Genugtuung. Er, vor seinem Sohne Paulus, hatte versagt. Er, der die Welt durchtränken wollte mit jüdischem Geist, konnte nicht einmal seinen Sohn damit erfüllen. Hier aber die Frau saß da, ein kleines, zufriedenes Lächeln um den üppig vorspringenden Mund. Ihr Sohn hatte nicht das Zeug zum Schriftgelehrten, er war ein wenig vulgär, manches war in ihm von seinem Großvater, dem Theaterdiener Lakisch. Aber ein Jude war er immerhin, gut gediehen im ganzen, geweckt.
  Trotzdem reizte den Josef die Zufriedenheit der Frau. Finsterer, als es ursprünglich seine Absicht gewesen war, fragte er sie, was sie denn hier wolle, was sie von ihm wolle.
  Sein Unmut schreckte sie nicht. Sie glaube, erwiderte sie, Simeon-Janiki sei ein bißchen verwildert. Cäsarea, wo er immer mit den Griechenjungen herumgetobt habe, sei vielleicht doch nicht das Richtige für ihn gewesen, in Jabne hätte er bessere Aufsicht gehabt. Hier in Rom hoffe sie jemanden zu finden, der die Hand fest genug habe, ihn zu zähmen. Josef sah vor sich hin, erwiderte nichts. Dies sei aber nur das eine, fuhr sie fort. Sie habe noch einen wichtigeren Grund. Daß Josef, ihr Herr, seinen Sohn nicht habe in Jabne erziehen lassen, sei eine schwere Last für ihr Herz gewesen all die Jahre hindurch; denn sie glaube, sie habe den Grund richtig erraten, trotz all ihrer Torheit. So sei sie denn allein nach Jabne gegangen, Wanderstab in der Hand, Wasserschlauch und hörnernen Behälter für die Wegzehrung um die Schulter, wie man früher nach Jerusalem hinaufzog, und habe umgefragt bei den Doktoren der Universität, ob es denn kein Mittel gebe, ihren Sohn, diesen ihren wohlgeratenen Simeon-Janiki, zu befreien von dem Fluch, der auf ihm liege; denn er sei doch nun einmal vorläufig ein Mamser, ein Bastard. Sie sei bis zu dem weisesten aller Menschen vorgedrungen, kurz vor seinem Ableben übrigens, zu dem Großdoktor Jochanan Ben Sakkai, das Andenken des Gerechten zum Guten. Der habe denn auch mild zu ihr gesprochen und habe ihre Rede erwogen, als käme sie nicht wie aus dem Mund eines jungen Kalbes, und habe ihr geraten, nach Rom zu gehen und zu Josef zu sagen, er habe sie geschickt. Da habe sie angefangen zu sparen von dem Geld, das Josef in seiner Güte ihr gegeben habe, und gerade als sie die Summe für die Reise zusammen hatte, sei für alle Juden ein neuer Glanz angebrochen, weil doch nun eine jüdische Frau Kaiserin in Rom sein werde. Und nun sei sie da und hoffe, ihr Herr Josef zürne nicht. Das brachte sie vor, sanft, ohne Anspruch, immer mit ihrem kleinen, stillen, verschmitzten Lächeln.
  Josef, als er den Namen Jochanan Ben Sakkai aus dem Munde der Frau hörte, war erschüttert. Er hatte angenommen, sie sei aus Vorwitz gekommen, zudringlich, von allein. Und nun war es Jochanan Ben Sakkai, der sie geschickt hatte, sein Lehrer, der hochverehrte, listige, der an seiner Universität Jabne mit gesegneter, übermenschlicher Zähigkeit am Werke gewesen war, den verlorenen Staat der Juden durch die Lehre des Moses und die Bräuche der Doktoren zu ersetzen. Dieser Mann hatte bis zuletzt an Josef geglaubt, als längst die anderen ihn anspien. Der also, sich mühend um ihn übers Grab hinaus, hat ihm die Frau und den Jungen geschickt, und jetzt gerade sind sie gekommen, da er in Wirrnis war des Bildes wegen, das man von ihm machte.
  Die Frau sprach weiter. Sie hatte hundert Sorgen. Ob man denn richtig auf seine Nahrung sehe? Ob man ihm genügend Rettich gebe und Johannisbrotblätter? Ob man ihm nicht zu scharfe Kapernsauce vorsetze? Das habe ihm immer geschadet. Sie habe ihm ein wenig Majoran-Ysop mitgebracht, auch gutes Salz aus dem Toten Meer, das römische Salz sei so schlecht, habe man ihr gesagt.
  Sie holte die kleinen Gaben hervor, glücklich, eine Luft mit diesem Mann zu atmen, ihm von seinem, ihrem Kind zu sprechen, von diesem klügsten und tapfersten aller Söhne, Simeon-Janiki. Josef hörte ihre stillen Worte, sah ihre niedrige, schimmernde Stirn. Er dachte an den mühevollen, umwegig kämpfenden Glauben jenes großen Alten, Jochanan Ben Sakkais. Gott wird nicht kleiner, hatte der ihm gesagt, auch wenn seine Bekenner auf listigen Umwegen zu ihm gehen. Es war ein großes Geschenk, daß Jochanan Ben Sakkai ihm die Frau und den Knaben geschickt hatte.
  Mara rückte näher. »Zürnst du, mein Herr, daß ich gekommen bin?« fragte sie, da er lange schwieg. »Du hättest schreiben sollen und meinen Willen einholen«, erwiderte er. Doch sogleich, gnädig, fügte er hinzu: »Aber nun du da bist, mag es sein.«

Der Bildhauer Basil zeigte dem Josef das Stück Metall, aus dem sein Kopf entstehen sollte. Es war korinthische Bronze, jenes besonders edle Metall, das vor nunmehr zweihundertsechsundzwanzig Jahren entstanden war, als bei der Zerstörung der Stadt Korinth die Kunstwerke aus Gold, Silber, Kupfer in geschmolzenen Strömen ineinanderflossen, sich zu einer seither nie wieder erreichten Mischung von wunderbarer Schönheit vereinigend. Der Bildhauer versprach sich viel von dem blassen, fremdartigen Schimmer, der von Josefs Kopf aus gehen werde, wenn er erst in diesem Metall gegossen sei. Basil arbeitete jetzt an einem Tonmodell, nachdem er zuerst ein Wachsmodell geknetet hatte. Josef saß auf dem Podium des großen Ateliers und hörte dem Manne zu, der ihm von Dingen erzählte, die ihm sehr fremd waren. Von den zahllosen Fälschungen zum Beispiel, die man in Rom den Sammlern anzuhängen versuchte. Warum auch sollte man die reichen Leute nicht übers Ohr hauen, die auf das Alter von Kunstwerken und auf verschollene, zweifelhafte Meisternamen mehr Gewicht legten als auf den Kunstwert? »Ich habe da«, erzählte er, »jüngst bei dem Sammler Tullus gegessen. Es war eine große Gesellschaft, lauter Freunde des Tullus. Auf den Tischen standen über dreihundert Silberbecher und sonstiges Tafelgerät, eines kostbarer und älter als das andere, die Ziselierungen schon ganz verwischt. Ich sage Ihnen, Flavius Josephus, die Kunstwerke waren so echt wie die Freunde. Da war zum Beispiel ein Tafelaufsatz, ein Löwe, der eine Antilope reißt, darunter in antiken Schriftzeichen, gerade noch lesbar, der Name des großen Myron. Myron ist jetzt seit mehr als fünfhundert Jahren tot, aber wenn Sie meinen guten Kritias fragen, der könnte Ihnen genau erzählen, ob der bewußte Myron heute früh mit dem rechten oder mit dem linken Fuß aufgestanden ist.«

  Josef, während der kleine, hurtige Mann schwatzte, sah zu, erstaunt, unheimlich angerührt, wie unter seinen Händen sein Gesicht entstand. Dieser widerwärtige Basil hatte ärgerlicherweise nicht zuviel behauptet: was da vor ihm in die Welt hineinwuchs, das war in Wahrheit sein Kopf, nicht weniger lebendig als der von Fleisch und Blut, und es wird in Zukunft schwer sein, schwer sogar für ihn selber, diesen Kopf anders zu sehen. Das waren seine Lippen, seine Nüstern, seine Stirn. Und doch war es ein fremder, unheimlicher Kopf. Er riß sich zusammen, er wollte Klarheit. Waren das die Lippen, die Weisung gegeben hatten, den Justus vom Kreuz zu nehmen, den Freundfeind, der jetzt an einem »Jüdischen Krieg« schrieb, der Schamlose? Waren das die Nüstern, die den Brand und Gestank des stürzenden Jerusalem und des Tempels eingesogen hatten? War das die Stirn, hinter der der entschlossene Wille gewohnt hatte, die Festung Jotapat sieben mal sieben Tage zu halten? Ja, dies war sein Gesicht, und war doch nicht seines, wie jene Taten sein waren und doch nicht sein; denn jetzt würde er sie nicht mehr tun oder anders. Er schaute sich an, der lebendige Josef den tönernen. Vieles, was der Mann mit diesem Gesicht getan hatte, gefiel ihm, vieles mißfiel ihm, das meiste war ihm unverständlich. Welcher Josef ist der wahre: der tönerne oder der lebendige? Welcher Josef ist der wahre: der, der jene Taten getan hat, oder der, der hier sitzt? Was macht einen Menschen aus: was er jetzt ist, oder was er früher getan hat?
  Er überlegte scharf. Kam zum Schluß. Der Mann Flavius Josephus, lebend in der Stadt Rom im Jahr 832 nach Gründung der Stadt, im Jahr 3839 nach Erschaffung der Welt, hat nichts gemein mit dem Manne Josef Ben Matthias, General seinerzeit in Galiläa. Der Schriftsteller Flavius Josephus sah mit rein literarischem, wissenschaftlichem Interesse auf das, was jener Doktor Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe, getan hat. Er zeichnete die Geschichte jenes Josef Ben Matthias mit der gleichen kalten Neugier auf wie die Geschichte des Königs Herodes, den wechselvollen Lebenslauf eines fremden, vergangenen Mannes. Und Flavius Josephus, als er zu diesem Schluß gekommen war, fühlte sich dem Josef von einst, jenem toten, abgelebten Manne, sehr überlegen.
  Plötzlich aber, schreckhaft, überfiel ihn der Gedanke: was aber ist dieser Josef von heute, gemessen an dem Josef der Zukunft? Er wog, was er getan hatte und was zu tun noch vor ihm lag, und der Atem setzte ihm aus.
  Er hat dieses Buch vom jüdischen Krieg geschrieben, den Römern gefällt es, die Römer feiern den Josef von heute und gießen sein Bild in das kostbarste Metall der Welt. Der eine Teil seiner Aufgabe liegt hinter ihm, der leichte, der lohnende. Vor ihm aber, berghoch, drohend, unbegonnen, steht die wahre Aufgabe, das Werk der Zukunft, die große Geschichte seines Volkes, die zu schreiben, die der westlichen Welt zu vermitteln er sich anheischig gemacht hat. Um dieses Werkes willen hat er soviel Sünden auf sich genommen, soviel Unheil angestiftet. Und gemacht hat er, der Josef von heute, den »Jüdischen Krieg«. Ist das ein Beginn? Ist das eine Abzahlung auf die ungeheure Schuld? Es ist nichts. Er wiegt, er wiegt, er zählt, und er verwirft. Betäubend überfällt ihn das Gefühl seiner Ohnmacht. Er war ein Lügner, als er vor zehn Jahren Vespasian als den Messias bezeichnete. Er war ein Lügner jetzt, da er sich für das Werk berufen glaubte und aus solcher Berufung heraus sich vermaß, Sünden auf sich zu nehmen, die einen erdrücken mußten. Eine klare, bittere Stimme wacht mit einemmal in ihm auf, er hat sie seit langem nicht mehr gehört. »Ihr Doktor Josef ist ein Lump«, sagt die Stimme, es ist die des Justus von Tiberias, des Freundfeindes. Sie ist nicht laut, aber sie übertönt das Geschwätz des Bildhauers, sie füllt das große Atelier ganz aus, sie macht das Tonmodell schwanken und verschwimmen, sie drückt ihm das Herz ab mit ihrer Verachtung, ihrer Resignation, ihrem unbeholfenen Aramäisch. Er muß an sich halten, um nicht hier, vor diesem Bildhauer Basil, an die Brust zu schlagen und zu bekennen: Eitelkeit. Alles, was ich getan habe, ist eitel. Ich genüge nicht dem Werk. Ich bin verworfen.

Seine Büste aber, die Ehrenbüste, gedieh. Bald schon stand sie da, vorerst probeweise in gemeiner Bronze gegossen, und ungelöst war nur noch das Problem der Augen. Doch schon für morgen hatte der Gehilfe Kritias auch für sein Teil versprochen, seine Arbeit zu liefern.
  Als Josef am andern Tag in das Atelier kam, um sich das Werk in seiner endgültigen Form zeigen zu lassen, fand er dort die Prinzessin Lucia. Es war das drittemal, daß er sie bei Basil traf. Wie sie hörte, worum es ging, blieb sie.
  Gespannt schaute Josef zu, wie Kritias dem Erzmodell zwei schillernde, eirunde Steine einpaßte. Erschreckend blickten die Steine aus der Bronze. Das waren nicht mehr irgendwelche Halbedelsteine in irgendwelcher Bronze, das waren wirklich seine Augen. Betroffen erkannte Josef, daß dieser unheimliche, vierschrötige Mensch Kritias ihn durchschaut hatte, seine versteckten Gedanken, seine Sünden, seine Lüste, seinen Stolz, seine Ohnmacht. Er haßte diesen Griechen Kritias, und er haßte den Griechen Basil, weil sie ihm die Nacktheit seiner Seele abgelauert hatten. Er konnte den Anblick der Büste nicht ertragen und wandte den Kopf zur Seite.
  Da gewahrte er Lucia, wie sie aufmerksam, mit hohen Augenbrauen, die Büste beschaute. Schnell, um der Wirrnis seines Gefühls zu entkommen, klammerte er seine Gedanken an sie, an ihr kühnes, helles Gesicht. Diese Römer wissen nichts von Sünde, wahrscheinlich ist das ihre Stärke, die Ursache ihrer ungeheuren Erfolge. Ungestört von inneren Hemmungen haben sie ihr Reich aufgerichtet und unseren Staat zerschlagen. Haben wir nicht unsere erste große Schlacht verloren, weil wir uns nicht dazu verstehen konnten, am Sabbat zu fechten, und es vorzogen, uns wehrlos hinschlachten zu lassen? Ich bin klüger geworden mittlerweile. Ich habe einiges gelernt. Ich weiß um die Sünde, aber ich tu sie. Mir wächst Kraft aus meinen Sünden. »Du sollst Gott lieben auch mit deinem bösen Trieb.« Es ist leicht, stark zu sein, wenn kein Bewußtsein den Trieb hemmt. Sündig sein, bewußt, und sich nicht flüchten in Frommheit und Resignation, das ist der größte Triumph.
  Und er wandte seine Blicke wieder der Büste zu. Beschaute sie, voll trotziger Selbstbejahung. Der ganze, bronzene Kopf jetzt, wie er, halb über die Schulter gewendet, auf den Beschauer und in die Welt sah, war gespannt von einer tiefen, wissenden, gefährlichen Neugier, und Josef sagte ja zu dieser Gier und zu seinen Sünden. Vielleicht war in den schillernden Augen ein Abstoßendes: aber es waren Augen voll Kraft und Leben, es waren seine Augen, und er war froh, daß sie waren, wie sie waren.
  Alle beschauten sie die Büste mit gesammelter Aufmerksamkeit, der verwirrte, trotzige Josef, die nach allem Starken, Lebendigen lüsterne Lucia, der selbstbewußte, skeptische Basil, der stille, menschenverachtende Gehilfe Kritias. »Beim Herkules«, sagte schließlich die Prinzessin, sie versuchte leicht zu sprechen, aber ihre Stimme klang gepreßt, »Sie sind ja ein Verruchter, mein Flavius Josephus.« Überrascht riß Josef den Kopf zu ihr hinüber, finster, hochmütig. Was sie sagte, klang zwar wie eine Anerkennung, aber wer gestattete ihr, seine Gedanken zu erraten? Was er zu denken sich erdreisten durfte, war noch lange keinem zweiten erlaubt. Er erwiderte nichts. »Du hast dich selbst übertroffen, mein Freund Kritias«, sagte schließlich Basil, auch er, gegen seine Gewohnheit, betreten. »Aber ich glaube«, fügte er hinzu, und seine gewohnte Munterkeit klang diesmal etwas gezwungen, »wir machen den Kopf trotzdem ohne Augen.« – »Gut, tun wir das«, sagte zögernd Josef. »Schade«, sagte Lucia.

Unmittelbar nach Vollendung der Büste ließ der Kaiser den Josef nochmals zu sich bitten. Er war allein diesmal, und Josef bemerkte sogleich, daß die Apathie seiner ersten Wochen von ihm abgefallen war. Die Massen hatten in der Zwischenzeit einen sonderbaren Spitznamen für ihn gefunden, sie nannten ihn den »Walfisch«. Wahrscheinlich wollten sie damit seine Machtfülle bezeichnen zusammen mit seiner Entschlußlosigkeit und Schwerfälligkeit. Wie immer, heute war er bestimmt kein Walfisch. Vielmehr schien er strahlender Laune, sehr aufgeschlossen, und er verhehlte Josef auch nicht die Gründe seiner Veränderung.
  Die Angst, die das Zögern Berenikes ihm bereitet hat, ist vorbei. Nicht deshalb etwa hat sie so lange gezaudert, weil, wie er schon befürchtet hat, die Schatten seiner alten Taten sich neu zwischen sie und ihn gestellt hatten, die Zerstörung des Tempels, der männlich freche Trug, durch den er sie damals zu sich gelockt und sie vergewaltigt hat. Es hat sich vielmehr alles aufs fröhlichste entwirrt: was sie zurückhält, sind naive, liebenswerte Regungen. Sie will nämlich, fromme Törin, die sie ist, bevor sie dauernd mit ihm in Rom lebt, mit ihrem Gott ins reine kommen, will ihr späteres Glück mit Opfern fundieren, legt sich Kasteiungen auf, Taten der Entsagung und Buße. Sie hat Jahve zu Ehren ihr Haar geschoren und das Gelübde getan, erst dann nach Rom zu kommen, wenn ihr Haar wieder lang ist. Aus Scheu vor Gott, hat sie ihm geschrieben, versagt sie sich die Freude, ihn schnell zu sehen. Vielleicht auch, meint er vertraulich und stößt den Josef an, spielt dabei der Wunsch mit, sich ihm nicht in kurzem Haar zu zeigen. Die Närrin. Als ob er sie weniger liebte, selbst wenn sie ganz kahl geschoren käme. Zuerst hat sie, um sich das Opfer zu erschweren, ihm nicht einmal den Anlaß ihres Zögerns mitteilen wollen: ihr Gelübde, fand sie, sei eine Sache nur zwischen ihr und ihrem Gott. Schließlich aber hat sie sich doch eines Bessern besonnen und ihm geschrieben. Er ist im Innersten froh, daß alles sich auf so kindliche Art gelöst hat.
  Josef war überrascht, ungläubig. Er kannte Berenike, und er kannte jüdische Bräuche und Sitten. Sich des Weines zu enthalten und das Haar zu scheren, solch ein Gelübde legte man ab, wenn Jahve einen aus einer unmittelbaren, drohenden Gefahr errettet hat. Nein, das kann der wahre Grund Berenikes nicht sein, es ist etwas anderes, Geheimnisvolles um ihr Zögern. Den Römer mag sie täuschen, ihn nicht. Wie immer, sie wird kommen, und Titus glüht für sie wie damals in Alexandrien. So überlegt Josef während der wortreichen, glücklichen Erzählung des Kaisers, anmerken aber läßt er sich nichts von seinen Zweifeln.
  Der Kaiser schwatzt weiter, fröhlich, spricht von einer Überraschung, die er sich ausgedacht hat. Da ist sie auch schon. Er hat den Astronomen Konon herbestellt, um ihn in Gegenwart des Josef zu empfangen. Der Gelehrte muß ihm von dem neuen Sternbild erzählen, das er entdeckt hat. Es befindet sich in der Nähe des Löwen, sieben sehr kleine Sterne, Leute mit scharfen Augen wollen zehn bis zwölf erblicken. Es ist ein ganz fernes, feines Leuchten, zart wie ein Haarstreif.
  »Haben Sie schon einen Namen für Ihr Sternbild?« fragte der Kaiser. »Ich wollte die Majestät um eine Benennung bitten«, erwiderte demütig der Gelehrte. »Nennen Sie das Sternbild ›Haar der Berenike‹«, ordnete lächelnd Titus an. »Die Prinzessin Berenike hat nämlich ihr Haar dem Himmel geopfert«, erklärte er. »Ich denke, der Himmel hat diese Gabe angenommen und wird sie bewahren.«

Ganz Rom drängte sich in der Bibliothek des Friedenstempels, als der Kaiser dort zum erstenmal einem Juden eine Ehrensäule errichten ließ. Josef hatte Schwierigkeiten, auch nur die zwanzig Einlaßmarken zu erhalten, die Dorion für ihre Freunde benötigte.
Schwer schleppten Leibeigene die Büste herein und stellten
sie auf den glatten Marmorsockel. Schweigend in weitem Halbkreis stand die große Versammlung. Hager, fremdartig schimmernd, augenlos und doch voll wissender Neugier, schaute hoch und hochfahrend, über die Schulter gedreht, der Kopf des Josef über die prunkvolle Menge.
  Junius Marull, den man auf Josefs Wunsch zum Festredner bestimmt hatte, trat vor die Büste. Er sprach vom Schriftsteller, vom Geschichtsschreiber, er pries den Mann, der die Tat, das Vergehende, festhält. Der Staatenlenker vergeht, und sein Werk vergeht. Der Feldherr stirbt, und sein Sieg verflüchtigt sich. Sind sie denn wirklich, diese Taten? Ändern sie sich nicht, schon während sie geschehen? Vieldeutig sind sie, jedem, der daran teilnimmt, bedeuten sie anderes, jeder sieht sie anders. Da aber nimmt der Schriftsteller die Geschehnisse in die Hand und macht sie eindeutig, so daß sie ein für allemal dastehen, hell, klar. Mächtiger als der Tod ist der große Geschichtsschreiber. Er besitzt das Geheimnis, der Welle zu gebieten, daß sie nicht verrinnt, sondern feststeht für immer.
  Die Juden haben das früh erkannt. Sie haben ihre Geschichte seit Urzeiten festgehalten in einer Tradition, die ihr Gott selber ihnen offenbart hat. Sie sind, wie die Übersetzung ihrer Kanons durch die Siebzig zeigt, große Geschichtsschreiber. Es scheint mir deshalb ein doppelter Triumph, daß Kaiser Titus die Juden nicht nur besiegt, sondern auch diesen ausgezeichneten Juden Flavius Josephus dazu vermocht hat, die Geschichte dieses Sieges zu schreiben. Wenn heute der sehr gute, sehr große Titus seinen Ge-schichtsschreiber als ersten Juden in die Reihe derjenigen aufnimmt, deren Werke hier im Saal der Unsterblichen aufbewahrt werden, dann ist das ein sehr hoher Dank, doch kein zu hoher; denn durch das Buch unseres Josephus erst leben die Taten der Römer in Judäa für die fernen Geschlechter. Drüben in seinem Schrank liegt es jetzt, das Buch unseres Freundes. Es ist nichts. Nichts als ein Buch: Pergament, Tusche, Tinte. Aber dieses höchst gebrechliche Material ist gleichzeitig der härteste Stoff der Welt, nicht minder dauerhaft als hier die korinthische Bronze, aus der die Büste geformt ist. Denn nichts Größeres gaben die Götter uns Menschen als das geschriebene Wort.
  So sprach Junius Marull. Dann trat der Kaiser vor, bekränzte die Büste, umarmte Josef, küßte ihn. Die weite, ernste Halle aber war voll von brausenden Rufen und Applaus. »O unser Kaiser Titus, o du großer Schriftsteller Flavius Josephus«, schallte es von allen Seiten. Es riefen so die Senatoren, die dastanden in ihren purpurgestreiften Gewändern, auf ihren hochgesohlten, schwarzgeriemten, roten Schuhen, es riefen so, ein wenig säuerlich, die Kollegen des Josef, es riefen so, begeistert, die vielen Damen, es riefen so, stolz und gerührt, die wenigen Juden, die man eingeladen hatte, der Doktor Licin, Cajus Barzaarone.
  »O unser Kaiser Titus, o du großer Schriftsteller Flavius Josephus«, glücklich inmitten der andern ruft es auch die Dame Dorion. Es gelingt ihr auf Augenblicke, vor dem alten Valer, vor Annius Bassus die ganze Feier zu bagatellisieren und die überlegen Ironische zu spielen, aber lange hält sie nicht durch. Die beiden können sich ja selber dem Eindruck der Zeremonie nicht entziehen. Stolz also steht die Dame Dorion da, den dünnen, reinen Kopf leicht überrötet, den großen Mund kindlich halboffen. Für alle, für Annius und Valer und Flavius Silva, wird Josef künftighin nicht mehr der verachtete Jude sein, sondern der große Schriftsteller, dessen Ehrenbild hier im Friedenstempel feierlich aufragt. Sie hat ihn verhöhnt, wenn er von sich selber sprach als von einem Manne, dessen Macht unbegrenzt sei und endgültig wie die der Totenrichter. Allein hat nicht jetzt sogar der Spötter Marull Ähnliches von ihm ausgesagt? Sie schaut von seinem hageren, schönen Gesicht auf den blassen, hohen Schimmer der Büste, und es ist ein neuer Josef, den sie sieht, jenes rätselhafte Leuchten ist um ihn, wie es ausgeht von der korinthischen Bronze seines Standbilds, sein Kopf schaut hoch und fremd über die andern wie hier die Büste. Und sie fühlt ihre beste Neigung zu ihm hinströmen wie in ihrer ersten Zeit in Alexandrien, da sie sich mit ihm gemischt hat.