Der zweite Band der
»Josephus«-Trilogie zeigt Josef Ben
Matthias, der sich als
Schriftsteller nach dem römischen
Herrscherhause Flavius
Josephus nennt, im vollen Glanze
seines Ruhms. Der
ehrgeizige, leidenschaftliche und erfolg
gewohnte Mann hat viel
erreicht: er ist Günstling des Kai
sers Titus, Mitglied des
Zweiten Römischen Adels, seine
Bildsäule steht unter den
Skulpturen der großen Schrift
steller im Ehrensaal des
Friedenstempels; aber gleichzeitig
findet er die Gegensätze
seiner Zeit in sich vereinigt. Er will
beides sein: Jude und
Römer, Israelit und Weltbürger. An
diesem Ideal zerbricht
seine Ehe mit der schönen Ägypterin
Dorion, und am Schicksal
seiner Söhne muß er schmerzhaft
erfahren, daß die harte,
nüchterne römische Realität seinem
ungestümen Drang nach
Geltung und Erfolg Grenzen setzt.
Lion
Feuchtwanger
Die Söhne
Roman
AUFBAU-VERLAG
Die „Josephus“-Trilogie umfaßt die Romane
DER JÜDISCHE KRIEG
DIE SÖHNE
DER TAG WIRD KOMMEN
„Der jüdische Krieg“ erschien erstmalig im
Jahre 1932, „Die Söhne“ im Jahre 1935, „Der Tag wird kommen“ in
englischer Übersetzung 1942,
in deutscher Sprache 1945
5. Auflage 1989
Alle Rechte Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
© Marta Feuchtwanger 1962
Einbandgestaltung Heinz Unzner
Karl-Marx-Werk, Graphischer Großbetrieb, Pößneck V 15/3o
Printed in the German Democratic Republic
Lizenznummer 301.120/113/89
Bestellnummer 611362 5
I-III 03150
Feuchtwanger, Ges. Werke
ISBN 3-351-00623-3
Bd. 2-4
ISBN 3-351-00681-0
ERSTES
BUCH
Der
Schriftsteller
ls der
Schriftsteller Flavius Josephus von seinem Sekretär erfuhr, der
Kaiser liege im Sterben, gelang es
ihm, sein
Gesicht ruhig zu halten. Er zwang sich sogar, zu arbeiten wie
sonst. Es war freilich gut, daß der Sekretär am Schreibtisch saß,
während Josef in seinem Rücken auf und ab ging. Den Anblick des
ruhigen, ironisch höflichen Gesichts hätte Josef heute nicht
ertragen. Wie immer, er beherrschte sich, hielt durch, erklärte
erst nach einer Stunde Arbeit, es sei für heute genug.
Sowie er aber allein war,
erhellten sich seine heftigen, langen Augen, er holte tief Atem,
strahlte. Vespasian im Sterben. Sein Kaiser. Hörbar vor sich hin
sagte er es, auf aramäisch, mehrmals, voll tiefer Befriedigung:
»Jetzt stirbt er, der Kaiser. Jetzt stirbt er, der Messias, der
Herr des Erdkreises, mein Kaiser.«
Ihm war es erlaubt, zu sagen:
mein Kaiser. Er war mit ihm verknüpft seit ihrer ersten Begegnung,
als er, der gefangene General der aufständischen jüdischen Armee,
nach dem Fall seiner letzten Festung verhungert und erschöpft vor
diesen Römer Vespasian gebracht wurde. Josefs Lippen verpreßten
sich, dachte er an jene Begegnung. Damals hatte er den Mann als den
Messias begrüßt, als den künftigen Kaiser. Es war eine peinigende
Erinnerung. Hatte damals das Fieber der unsäglichen Entbehrung aus
ihm gesprochen? War es nur ein schlaues Manöver gewesen, ihm vom
Trieb der Selbsterhaltung eingegeben? Unnütze Grübelei. Die
Ereignisse haben ihn bestätigt, Gott hat ihn bestätigt.
Er sah ihn vor sich, den alten
Mann, der jetzt im Sterben lag, den harten, langen Mund in dem
mächtigen, kahlen Bauernschädel, die schlauen, jovialen,
unerbittlichen Augen. Ist er diesem Kaiser zugetan? Er bemüht sich,
gerecht zu sein. Er, der jüdische Feldherr, ist zu den Römern
übergegangen, während diese sein Land bekriegten. Er hat immer
wieder zwischen Rom und seinen Landsleuten vermittelt trotz der
ungeheuren Schmähungen von beiden Seiten. Er hat dann durch sein
großes Buch vom jüdischen Krieg sein Teil dazu beigetragen, die
Juden der östlichen Reichshälfte zu besänftigen. Und das war nötig;
denn die waren nach der Zerstörung der Stadt und des Tempels
gefährlich geneigt, gegen die Sieger von neuem loszuschlagen. Hat
der Mann, der jetzt starb, ihm diese großen Dienste gelohnt? Er hat
ihm ein Ehrenkleid gegeben, ein Jahresgehalt, Landbesitz, den
Purpurstreif und den Goldenen Ring des Zweiten Adels, dazu freie
Wohnung auf Lebenszeit in dem Haus, das früher er selber bewohnt
hatte. Ja, wenn man mit flüchtigem Auge hinsah, dann hat der
römische Kaiser Vespasian den jüdischen Staatsmann, General und
Schriftsteller Josef Ben Matthias bezahlt, auf den Sesterz genau.
Dennoch sind, nun Josef mit dem Sterbenden Abrechnung hält, seine
Augen finster, sein hageres, fanatisches Gesicht voll Haß. Er hebt
das goldene Schreibzeug, das er, ein Geschenk des Kronprinzen
Titus, im Gürtel trägt; mechanisch, mit kleinen Schlägen klopft er
auf das Holz des Tisches. Der Kaiser hat ihn wieder und wieder auf
eine besondere, sehr bittere Art gedemütigt. Hat ihm das Mädchen
Mara hingeworfen, nachdem er selber sich an ihr sattgeliebt hatte,
hat ihn gezwungen, diesen seinen Wegwurf zu heiraten, trotzdem er
wußte, daß das für ihn Ausstoßung aus dem Priesterstand und Bann
bedeutete. Oft und abermals, solange Josef in seiner Umgebung war,
hat er ihn mit derben, bäurischen, bösartigen Späßen gequält,
vielleicht weil er wußte, daß Josef über Mächte und Eigenschaften
verfügte, die ihm selber fremd und versagt waren. Alles in allem
hat der Kaiser den Josef so behandelt, wie das hochmütige Rom eben
immer den Osten traktierte. Der Osten war älter, länger
zivilisiert, hatte tiefere Bindungen zu Gott. Man fürchtete diesen
Osten, er zog einen an und war einem unheimlich. Man brauchte ihn,
nützte ihn aus und zeigte ihm zum Dank und zur Rache bald
Wohlwollen, bald Verachtung.
Josef dachte an seine letzte
Begegnung mit dem Kaiser. Er preßte die Zähne aufeinander, daß die Jochbogen seines
knochigen, blaßbraunen Gesichts doppelt stark hervortraten. Es war
bei dem großen Empfang gewesen, den Vespasian unmittelbar vor
Antritt seiner letzten, erfolglosen Erholungsreise gegeben hatte.
»Bekommen wir jetzt bald die Neufassung Ihres ›Jüdischen Krieges‹,
Doktor Josef?« hatte er ihn gefragt, eine Menge Menschen hatten
zugehört. Und »Seien Sie diesmal gerechter mit Ihren Juden«, hatte
er hinzugefügt mit seiner rauhen, knarrenden Stimme. »Ich gestatte
Ihnen, gerecht zu sein. Wir können uns das jetzt leisten.« Ließ
sich ein frecherer Hohn denken? War es billig, ihn als gekauftes
Werkzeug abzutun, sein Buch als läppische Schmeichelei? Josefs
Gesicht rötete sich, heftiger mit dem Schreibzeug klopfte er auf
den Tisch. Er hat den hochmütig behaglichen Tonfall des Alten genau
im Ohr. »Ich gestatte Ihnen, gerecht zu sein.« Es ist gut, daß der
Mund, der solche Worte sprach, keine Gelegenheit mehr haben wird,
ähnliche zu sprechen. Er malt sich aus, wie dieser Mund jetzt
schmal und verzerrt ist, weit offen vielleicht oder auch fest
zugesperrt, krampfig bemüht jedenfalls um letzten Atem. Er wird
keinen leichten Tod haben, sein Kaiser, er ist so voll Leben, es
wird ihn sicher hart ankommen, dieses Leben zu lassen. Es wäre auch
schwer zu ertragen, wenn diesem Manne ein leichter Tod vergönnt
wäre.
»Ich gestatte Ihnen, gerecht zu
sein.« Schön, sein Buch war dazu angetan, die römische Herrschaft
zu festigen, die Juden des Ostens von einem neuen Aufstand
abzuhalten. War das nicht im höchsten Sinne »gerecht«? Die Juden
waren endgültig besiegt. Ihren großen Krieg so darzustellen, daß
die Aussichtslosigkeit eines neuen Aufstands jedermann sichtbar
wurde, war das nicht verdienstvoll im jüdischen Sinne noch mehr als
in dem der Römer? Ach, er weiß, welche Lockung es ist, sich
nationalem Hochgefühl hinzugeben. Er selber hat sich davon tragen
lassen, als der Aufstand losbrach. Aber daß er damals, die
Nutzlosigkeit der wilden und großen Unternehmung erkennend, den
patriotischen Brand in sich austrat und der besseren Vernunft
folgte, das, wahrhaftig, war die beste Tat seines Lebens und, im
höchsten Sinne, gerecht.
Wer denn hätte das Buch über den
jüdischen Krieg schreiben sollen, wenn nicht er? Er hat diesen
Krieg von Jerusalem her und von Rom her erlebt. Er hat sich nichts
geschenkt, er hat den Krieg mit angesehen bis zu seinem bitteren
Ende, um sein Buch zu schreiben. Er hat die Augen nicht zugemacht,
als man Jerusalem niederbrannte und den Tempel, das Haus Jahves,
den stolzesten Bau der Welt. Er hat seine Landsleute sterben sehen
in Cäsarea, in Antiochia, in Rom, wie sie in der Arena sich selber
bis zum Tod zerfleischten, wie sie ertränkt, verbrannt, von wilden
Tieren gehetzt wurden, zum Spaß johlender Zuschauer. Er hat es mit
angesehen, als einziger Jude er, von der kaiserlichen Loge aus, wie
die Zerstörer Jerusalems im Triumph in Rom einzogen und wie sie die
besten der Verteidiger mitschleppten, gegeißelt, jämmerlich, zum
Tode bestimmt. Er hat das durchgestanden. Es war seine Bestimmung,
das alles aufzuschreiben, wie es war, auf daß man den Sinn dieses
Krieges erkenne.
Man kann die Geschichte des
Krieges kühner schreiben, als er es getan hat, klarer, eindeutiger,
freier. Er hat Konzessionen gemacht, hat manches große Wort
getilgt, manches leidenschaftliche Bekenntnis, weil es im Rom
Vespasians hätte Anstoß erregen können. Aber was war besser,
Kompromisse schließend einen Teil der Wirkung zu erreichen oder
prinzipientreu gar keine?
Welch ein Segen, daß jetzt der
Alte stirbt und seinem Sohne den Platz frei macht, diesem Titus,
dem Freunde Josefs, dem Freunde der Jüdin Berenike. Die Jüdin wird
in den Palatin einziehen, und dann, ja, du sehr guter, sehr großer
Kaiser Vespasian, dann erst wird mein »Jüdischer Krieg« seine ganze
»gerechte« Wirkung tun. Josef läuft hin und her, schmeckt seinen
Erfolg im vorhinein ganz aus. Mechanisch greift er nach dem sehr
schwarzen Bart, der dreieckig in starren, gepflegten Locken von den
ausrasierten Lippen herunterzackt. Er summt vor sich hin in jenem
uralten Singsang, in dem er in seiner frühen Jugend in den
Lehrstunden der Universität Jerusalem die Sprüche der Bibel zu
zitieren gelernt hat. Sein hageres Gesicht strahlt Hochmut und
Glück.
Er kann zufrieden sein mit dem
Erreichten. Er hat durch zahllose Strapazen hindurch müssen, das
Schicksal hat ihn heftiger geschaukelt als die meisten andern, aber
im Grunde hat jede letzte Welle ihn höher getragen. Heute, mit
seinen zweiundvierzig Jahren, in seiner besten Kraft, weiß er
genau, was er kann. Es ist viel. Er war Soldat, er war Politiker:
jetzt ist er Schriftsteller, und das von Herzen, ein Mann, der
Gedanken aussinnt, die den Soldaten und den Politiker leiten. Man
trägt ihm scharfe, hämische Worte seiner griechischen Kollegen zu,
sie machen sich lustig über sein dürftiges Griechisch. Sollen sie.
Seine Leistung steht da, die Welt hat ja dazu gesagt. Wenn er aus
seinen Büchern vorliest, dann drängt sich trotz seines schlechten
Griechisch die ganze große Gesellschaft Roms, ihn zu hören.
»Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und ich bin
einer von ihnen«, jenes uralte, hochmütige Wort eines verschollenen
Priesters klingt in ihm auf. Er ist zufrieden.
Er ist nicht zufrieden. Seine
langen, heftigen Augen werden finster. Er denkt an die, die ihn
nicht gelten lassen.
An jenen Justus zuerst, seinen
Freundfeind, Justus von Tiberias, der ihm seit seinen Anfängen als
ein ewiger Vorwurf im Wege steht. Worin jetzt, nachdem man
politisch unterlegen ist, die Aufgabe eines jüdischen
Schriftstellers besteht, darüber waren sie beide sich klar. Es
gilt, den Sieger Rom von innen her zu besiegen, im Geiste.
Jüdischen Geist in seiner ganzen Großheit vor das mächtige Rom, vor
die bewunderten, gehaßten Griechen so hinzustellen, daß sie sich
ihm hingeben, das ist heute des jüdischen Schriftstellers Sendung.
Von dem Augenblick an, da er zum erstenmal vom Capitol aus über die
Stadt Rom hinsah, hat Josef das gespürt. Doch nicht er allein hat
so gespürt, sondern, leider, eben auch jener Justus. Ja, jener
Justus hat, sehr frühzeitig, klare Gedanken aus seinen Gefühlen
gemacht. »Gott ist jetzt in Italien.« Josef weiß nicht mehr genau,
wer dieses Wort zum erstenmal gesagt hat, er selber oder der
andere. Ohne den andern jedenfalls wäre es nicht in der
Welt.
Wie immer, nun hat ihrer beiden
Arbeit das gleiche Ziel: der westlichen Welt das Wesen des
Judentums darzustellen, seinen schwierigen, verkannten Geist, so
oft verborgen unter scheinbar aberwitzigen Bräuchen. Nur eben ist
die Methode des Justus viel härter, gerader. Er will nicht
begreifen, der Mensch, daß man an Römer und Griechen ohne
Kompromisse nicht herankommt. Als Josef glücklich so weit war, daß
er die sieben Bücher seines »Jüdischen Krieges« abgeschlossen
vorlegen konnte, da, inmitten des stürmischen Beifalls der
Hauptstadt, hat Justus nichts für ihn gehabt als ein tödlich
freches Lächeln. »Ich wüßte niemand, der Sprungbretter für eine
gute Karriere besser fabrizierte als Sie«, damit hatte er Josefs
Lebensarbeit abgetan. Und dann hat er sich, dieser dreisteste aller
Menschen, der doch ohne des Josef Zutun überhaupt nicht mehr in der
Welt wäre, darangesetzt, sein, des Josef Werk noch einmal zu
schreiben, einen »Jüdischen Krieg«, wie Justus ihn sieht. Mag er.
Josef hat keine Angst davor. Das Buch wird werden wie die andern
paar schmalen Bücher, die Justus bisher veröffentlicht hat, scharf,
klar, geschliffen und ohne Wirkung. Sein eigenes Buch aber, das
Buch mit dem dürftigen Griechisch und den Konzessionen, hat die
Probe bestanden. Hat gewirkt, wird wirken, wird bleiben.
Und jetzt genug von Justus. Der
ist weit weg, in seinem Alexandrien, und soll dort bleiben. Josef
setzt sich an den Schreibtisch, nimmt das Manuskript des Phineas
auf, des Sekretärs. Wieder wie so oft verdrießt ihn die flüchtige,
unordentliche Schrift des Mannes. Gewiß, es kommt bei dieser Arbeit
auf das Technische des Schreibens nicht an; allein Josef ist
gewohnt an die Sorgfalt, mit der man die Schriftrollen der
hebräischen Gesetzbücher herstellt, und er ärgert sich.
Er überfliegt das Papier.
Meisterhaft ist es, das Griechisch dieses Phineas, keine Frage.
Josef ist angewiesen auf seine Hilfe. So lebendig sein Aramäisch
und sein Hebräisch ist, seinem Griechisch fehlen die Nuancen. Er
hat den Phineas als Leibeigenen gekauft, für teures Geld. Er hat
bald gesehen, daß er keinen zweiten Mitarbeiter finden könnte, so
tauglich wie ihn. Niemand versteht besser als er, was Josef will.
Bald aber auch hat er erkennen müssen, daß dieser Phineas, stolz
auf sein Griechentum, im Grunde alles Jüdische verachtet. Der
Sekretär zeigt es ihm auf seine Art. Oftmals, höhnisch geradezu,
führt er ihm vor, wie geschmeidig er sich seinen Gedankengängen
anzupassen vermag, und gibt einer Wendung jenen letzten Schliff,
den Josef ersehnt. Aber dann wieder, gerade wenn Josef sein Herz
daran hängt, einen Gedanken, ein Gefühl mit letzter Feinheit
auszudrücken, dann versagt er sich, der Tückische, stellt sich
dumm, sucht eifrig, beflissen und findet nichts, genießt es aus,
wie Josef sich um das ersehnte Wort abzappelt, und läßt ihn am Ende
im Stich in seiner Plumpheit. Am liebsten, trotz der Dienste, die
er ihm leistet, jagte er ihn aus dem Hause.
Aber es geht nicht. Er kann ihn
so wenig loswerden wie den Justus. Dorion, seiner Frau, ist der
Mensch unentbehrlich geworden, sie hat ihn zum Erzieher des kleinen
Paulus bestimmt, und auch der Junge hat sich in den Griechen
vergafft, rettungslos.
»Siebenundsiebzig sind es, die
haben das Ohr der Welt, und ich bin einer von ihnen.« Alle preisen
ihn glücklich. Er ist ein großer Schriftsteller in einer Welt, die
den Schriftsteller unmittelbar nach dem Kaiser ehrt. Aber dieser
große Schriftsteller kann heute nicht mehr erreichen, was er damals
erreichte, als er in seinen Anfängen war und noch keineswegs
erprobt. Damals hatte er die Kraft, die Fremdheit wegzuschmelzen
zwischen sich und Dorion. Damals, in Alexandrien, sind sie in eines
geflossen, er und dieses Mädchen Dorion, seine Frau.
Wie weit das hinter ihm liegt.
Vieles hat sich verändert in diesen zehn Jahren. Sie ist wieder die
ägyptische Griechin geworden von früher, und er ist der
Jude.
Aber jetzt, nun Titus Kaiser
wird, nun der große Umschwung kommt, kann es nicht wieder werden
wie in Alexandrien? Dorion liebt den Erfolg. Dorion kann den Mann
nicht trennen von seinem Erfolg. Sicher weiß sie noch nichts von
dem bevorstehenden Tod des Kaisers. Er wird hinübergehen zu ihr, um
ihr selber die glückliche Wendung mitzuteilen. Sie wird dasitzen,
schmal, lang – ihr Leib ist zart geblieben, nicht entstellt,
trotzdem sie ihm Kinder geboren hat –, den gelbbraunen Kopf wird
sie nach hinten werfen, leicht mit der stumpfen Nase wird sie
schnuppern. Mit den dünnen Händen, mechanisch, wird sie ihren Kater
Chronos streicheln, ihren geliebten Kater, den er nicht leiden kann
und den sie für einen Gott hält, wie sie ihre glücklich verreckte
Katze Immutfru für einen Gott gehalten hat. Er begehrt sie heftig,
wie er sie sich so vorstellt, den Mund mit den kleinen Zähnen
töricht halboffen vor Überraschung, nachdenklich, in der Haltung
eines kleinen Mädchens. Dorion ist ein Kind, sie hat die Gabe, sich
zu freuen, ungehemmt wie ein Kind. Man sieht, wie Freude in ihr
entsteht, wie sie wächst, wie erst ihr Mund sich freut, dann die
Augen, dann ihr ganzes Gesicht, endlich ihr ganzer Leib. Sie ist
herrlich, wenn sie sich freut.
Er wird trotzdem nicht zu ihr
gehen und sie benachrichtigen. Es wäre ein zu billiger Triumph, es
wäre ein Eingeständnis, wie sehr er sie braucht, und er muß
behutsam sein vor ihr, er darf sich nicht gehenlassen, er hat
gewisse Wünsche, die sie ihm versagt. Ihr sein großes Verlangen
zeigen hieße sich ihr unterlegen zeigen.
Aber viel Überwindung kostet es
ihn, nicht zu ihr zu gehen. Er hat zahllose Frauen gehabt, er sieht
jung aus und nach etwas Besonderem, er ist kräftig, elegant, Ruhm
und Erfolg ist um ihn, die Frauen fliegen ihm zu. Doch erst seitdem
er Dorion kennt, weiß er, was Liebe heißt und was Begehren heißt,
und alle Verse des Hohenliedes beziehen ihm Sinn nur mehr aus ihr.
Ihre Haut duftet wie Sandelholz, ihr Atem aus dem vorstehenden,
begehrlichen Mund ist wie die Luft Galiläas im Frühling. Es gibt
wenig Frauen, die er länger lieben kann als die Zeit, in der er
körperlich mit ihnen zusammen ist. Auf alle Frauen in der Welt
könnte er verzichten: aber daß er leben sollte ohne diese Frau
Dorion, kann er sich nicht ausdenken.
Sie gehören zusammen. Sie ist die
Frau seiner Rippe, und sie spürt es. Was alles hat sie ihm
geopfert. Kurz nach ihrer Hochzeit schon hat er sich von ihr
trennen müssen, um in Begleitung des Kronprinzen vor Jerusalem zu
ziehen und den Fall der Stadt mit anzuschauen. Wie hat sie sich
gehalten, als er endlich zurückkam, nur um sie von neuem
wegzuschicken. Zeitlebens wird er sie vor sich sehen, wie sie
damals dastand, schweigend. Leicht und rein hob sich auf ihrem
steilen Kinderhals der lange, dünne Kopf mit dem großen Mund. Sie
schaute ihn an mit ihren meerfarbenen Augen, die zusehends dunkler
wurden. Er sah ihre Haut, er wußte, daß diese Haut süß, glatt und
sehr kalt war. Sie war alle Süßigkeit der Welt, diese seine Frau
Dorion, und endlos hat sie ihn erwartet, und nun war er zurück, und
sie stand vor ihm, und sie war ganz Verlangen nach ihm. Da war aber
sein Buch, dieses verfluchte Buch, um dessentwillen er so vieles
auf sich genommen hat, und wenn er bei ihr blieb, dann konnte er es
nicht schreiben, und wenn er es jetzt nicht schrieb, dann entflog
es ihm für immer. Er mußte ihr das sagen, er mußte sie wegschicken.
Sie aber stand da, hörte ihn, hielt ihn nicht, sagte kein Wort des
Widerspruchs. Nicht einmal, daß sie ihm einen Sohn geboren hatte in
der Zeit, da er vor Jerusalem gewesen war, sagte sie ihm.
Sehr anders war die Dorion von
heute als jene Dorion. Während der fünfzehn Monate, da er sein Buch
schrieb, dieses gesegnete, verfluchte Buch, hatte sie sich
zurückverwandelt in die spöttische, hochmütige Dame von früher,
jenes alexandrinische Mädchen, kühl und neugierig, angefüllt mit
den leichtfertigen Gesichten der griechischen Fabelwelt. In solcher
Gestalt war sie zu ihm gekommen, als er sie nach der Vollendung
seines Buches zurückgerufen hatte. Sie war streitbar geworden,
kritisch. Sie habe, hatte sie ihm erklärt, nun die schimpfliche
Judensteuer eingeführt sei, ihren Übertritt zum Judentum rückgängig
gemacht, und sie denke nicht daran, den kleinen Paulus beschneiden
zu lassen. Es hatte wilden Streit gegeben. Er wollte es nicht
dulden, daß man seinen Sohn als Griechen erziehe, daß sein Sohn
ausgeschlossen bleiben sollte aus der Gemeinschaft der Erwählten,
Gottgläubigen. Aber seine Ehe als die eines römischen Vollbürgers
mit einer Frau ohne römisches Bürgerrecht war vor dem Gesetz nur
eine Ehe halber Legalität. Paulus unterstand der Vormundschaft der
Mutter, war ägyptischer Grieche wie sie. Josef konnte ihn ohne ihre
Einwilligung nicht zum Juden machen. Es wäre ihm nicht
schwergefallen, seiner Ehe Vollgültigkeit zu erwirken, der Junge
wäre dadurch zum Mitglied des Zweiten Adels geworden wie er selber.
Wie oft hatte er Dorion bestürmt, darein zu willigen. Er wollte
alles vorbereiten, es hätte sie einen einzigen Gang vor Gericht
gekostet. Dorion lehnte ab. Damals in Alexandrien hatte sie darauf
gedrängt, daß er das Bürgerrecht erwerbe. Sie hatte es zur
Vorbedingung ihrer Ehe gemacht, daß er das Unmögliche erwirke und
binnen zehn Tagen römischer Vollbürger sei. Jetzt zog sie es vor,
Bürgerin Zweiter Klasse zu bleiben, nur damit der Junge auch weiter
ihrer Vormundschaft unterstehe und kein Jude werde.
Paulus. Des Josef ganzes Herz
hängt an dem Jungen. Aber Paulus ist der Sohn seiner Mutter. Er
schaut auf zu dem Griechen, dem Leibeigenen, dem erst Josef die
Freiheit geschenkt hat. Ihn liebt er, diesen verfluchten Phineas.
Wenn Josef an ihn heranwill, sperrt er sich zu, ist fremd und
höflich, wahr scheinlich schämt er sich seines Vaters, weil der ein
Jude ist. Er selber ist ein Grieche, der kleine Paulus. Allein wenn
jetzt, unter Titus, alles sich ändern wird, wird Josef dann nicht
endlich die Wand niederreißen können zwischen sich und dem Jungen?
Es muß ihm glücken. Er wird noch höher steigen, noch mehr Erfolg um
sich häufen, und Dorion wird sich überzeugen lassen, wird ihm
helfen. Sie wird begreifen, daß jetzt der Schriftsteller Flavius
Josephus die Zukunft seines Sohnes nicht mehr gefährdet, auch wenn
er ihn zum Juden macht.
Josef ist voll Zuversicht. Er ist
zweiundvierzig Jahre alt, in seiner besten Kraft. Vespasian stirbt.
Kaiser wird der Mann Titus, der Josefs Freund ist. Josef wird
durchsetzen, was er will, wird aus seinem Leben austilgen, was ihn
stört. Wird seine »Universalgeschichte des jüdischen Volkes«
schreiben, das Buch, von dem er träumt, und Justus wird schweigen
und keine Einwände wissen. Auch Dorion wird er von neuem zu sich
zwingen, und seinen Sohn wird er zum Juden und Weltbürger machen,
zu seinem ersten Jünger und Apostel. Josef hat das Pergament mit
den unordentlichen Schriftzeichen des Phineas aufgerollt. Phineas,
der Grieche, der Judenhasser, ist ihm im Wege, er muß fort. Es wird
schwer sein, sich ohne ihn zu behelfen. Josef hat einen Psalm
geschrieben, den Psalm des Weltbürgers. Leise vor sich hin spricht
er die hebräischen Verse:
»O Jahve, gib mir mehr Ohr und mehr
Auge,
Die Weite deiner Welt zu sehen und zu hören.
O Jahve, gib mir mehr Herz,
Die Vielfalt deiner Welt zu begreifen.
O Jahve, gib mir mehr Stimme,
Die Größe deiner Welt zu bekennen.
Merkt auf, Völker, und hört gut zu,
Nationen.
Spart nicht, spricht Jahve, mit dem Geist, den ich über
euch ausgoß,
Verschwendet euch, geht die Stimme des Herrn,
Denn ich speie aus denjenigen, der knausert.
Und wer eng hält sein Herz und sein Vermögen,
Von dem wende ich mein Antlitz.
Reiße dich los von deinem Anker, spricht
Jahve.
Ich liebe nicht, die im Hafen verschlammen.
Ein Greuel sind mir, die verfaulen im Gestank
ihrer Trägheit.
Ich habe dem Menschen Schenkel gegeben, ihn zu
tragen über die Erde,
Und Beine zum Laufen,
Daß er nicht stehen bleibe wie ein Baum in
seinen Wurzeln.
Denn ein Baum hat nur eine Nahrung. Aber der Mensch nähret sich von
allem,
Was ich geschaffen habe unter dem Himmel. Ein
Baum kennt immer nur das gleiche,
Aber der Mensch hat Augen, daß er das Fremde
in sich einschlinge,
Und eine Haut, das andere zu tasten und zu
schmecken.
Lobet Gott und verschwendet euch über die
Länder. Lobet Gott und vergeudet euch über die Meere.
Ein Knecht ist, wer sich festbindet an ein
einziges Land. Nicht Zion heißt das Reich, das ich euch gelobte,
Sein Name heißt: Erdkreis.«
Es sind gute Verse, sie besagen genau das, was
er sagen will. Aber es sind hebräische Verse, und so, wie sie jetzt
übersetzt sind, klingen sie arm und ohne Musik. Ihre Wirkung auf
die Welt können sie erst tun, wenn auch im Griechischen ihre Musik
mitklingt, die Musik von den Stufen des Jahve-Tempels. Als man vor
nunmehr dreihundert Jahren die Heilige Schrift ins Griechische
übersetzte, da arbeiteten die zweiundsiebzig Doktoren, die mit dem
Werk betraut waren, unter Klausur, jeder streng abgesondert;
dennoch hatte der Text eines jeden am Ende wortwörtlich
übereingestimmt mit dem Text aller andern, und es war ein
herrliches Werk geworden. Aber solche Wunder geschehen nicht mehr.
Er findet keine zweiundsiebzig Menschen, die seinen Psalm
übersetzen könnten. Er findet keinen einzigen außer, vielleicht,
diesen Phineas, und Phineas müßte guten Willens sein und seine
ganze Kraft daran wenden.
Wie immer, der Psalm ist in der
Welt, wenn auch in schlechtem Griechisch. Nun Titus Kaiser wird,
darf es sich der Schriftsteller Flavius Josephus erlauben, wieder
der Doktor Josef Ben Matthias zu sein. Er wird seine Gefühle reiner
ausdrücken, tiefer, jüdischer, in schlechterem Griechisch. Er
verzichtet auf Phineas, er ist fertig mit ihm. Einmal, trotzdem,
wird die Stunde kommen, da alle Völker seinen Psalm
verstehen.
Der Kaiser Titus Flavius Vespasian lag am
Abend dieses Tages im Schlafraum seines altmodischen Landhauses in
der Nähe des Städtchens Cosa. Als er gemerkt hatte, daß es zu Ende
ging, hatte er sich hierherbringen lassen auf das von der
Großmutter ererbte etrurische Gut, wo er aufgewachsen war. Er
liebte das bäurische, verräucherte Haus, an dem Geschlechter gebaut
und immer wieder angebaut hatten. Er hatte alles unverändert
gelassen, unkomfortabel und dunkel, wie es vor sechzig Jahren in
seiner Knabenzeit gestanden war. Die Decke des Zimmers war niedrig,
geschwärzt, die Tür des großen, fensterlosen Raumes öffnete sich
weit auf den riesigen, von einer uralten Eiche überschatteten Hof,
in dem sich ein Schwein mit seinen Ferkeln herumtrieb. Das breite
Bett, sich nur ein paar Handhoch über den Boden erhebend, war in
eine nicht hohe Nische hineingebaut, es war ein Steinlager, viel
Wolle darauf, überzogen mit grobem Bauernleinen.
Auf diesen primitiven Schlafraum
also richtete die große Stadt Rom ihre Augen, ja, schon Italien und
die näher gelegenen Provinzen; denn geflügelt hatte sich die
Nachricht von dem bevorstehenden Tode des Kaisers
verbreitet.
Es waren nur wenige Menschen um
den Kaiser, sein Sohn Titus, der Leibarzt Hekatäus, der Adjutant
Florus, der Kammerdiener, der Friseur; dazu Claudius Regin, der
Hofjuwelier, Sohn eines sizilischen Freigelassenen und einer
jüdischen Mutter, der große Finanzmann, von dem sich der Kaiser in
wirtschaftlichen Dingen gern beraten ließ. Diesen Mann hatte
Vespasian an sein Sterbebett befohlen. Die Anwesenheit seines
jüngeren Sohnes hingegen, Domitians, hatte er sich ausdrücklich
verbeten.
Es war sieben Uhr abends, aber es
war der dreiundzwanzigste Juni, der Tag wird noch lang sein. Der
Kaiser auf seinem groben Bett sah erbärmlich mager aus. Die Krämpfe
und Durchfälle, die ihn den ganzen Tag über gequält, hatten jetzt
nachgelassen, um so schmerzhafter spürte er seine Schwäche. Er
dachte daran, daß man ihn gleich nach seinem Tod durch
Senatsbeschluß heiligsprechen, unter die Götter erheben wird. Er
verzog den langen Mund zu einem. Grinsen, wandte sich an den Arzt,
leicht röchelnd, das Sprechen fiel ihm schwer: »Holla, Doktor
Hekatäus. Diesmal wird’s nichts mehr, diesmal werde ich ein Gott.
Oder glauben Sie, daß ich noch warten muß, bis es dunkel
ist?«
Man schaute gespannt auf den
Doktor Hekatäus, was der erwidern werde. Hekatäus war berühmt um
seiner Gradheit willen. Auch jetzt sagte er ohne Umschweife: »Nein,
Majestät. Ich glaube, Sie werden nicht mehr bis zur Nacht warten
müssen.«
Vespasian schnaufte stark. »Na
also«, sagte er. »Los, meine Kinder.« Er hatte Auftrag gegeben,
ihn, wenn es soweit sei, anzukleiden, zu rasieren, zu frisieren. Er
legte nicht viel Gewicht auf Äußerlichkeiten, aber er glaubte,
Senat und Volk von Rom hätten Anspruch darauf, daß der Kaiser
anständig sterbe. Titus näherte sich, das breite Knabengesicht des
Neununddreißigjährigen war besorgt. Er wußte, welche Anstrengung es
den Sterbenden kosten werde, sich baden und ankleiden zu lassen.
Aber Vespasian winkte ab: »Nein, mein Junge. Disziplin muß sein.«
Er versuchte, zu dem Adjutanten Florus hinüberzulächeln. Dieser
Florus nämlich hielt auf Formen, litt unter der Formlosigkeit des
Kaisers, unter seinem groben Dialekt. Vor drei Tagen noch, als
Vespasian den Namen des Städtchens Cosa, wohin er gebracht werden
wollte, »Causa« aussprach, hatte sich Florus nicht enthalten
können, ihn zu korrigieren, es heiße nicht Causa, sondern Cosa.
Woraufhin der Kaiser dem Adjutanten Florus erwidert hatte: »Ich
weiß schon, Flaurus.« – »Disziplin muß sein«, wiederholte er also
auch jetzt, ein wenig mühsam, sehr im Dialekt. »Nicht wahr,
Flaurus?«
Man badete den Sterbenden.
Ausgemergelt, die grobe Haut faltig, Brust und Bauch
schmutzigweißlich behaart, schnaufend, hing der Alte in den Armen
seiner Leute. Man trocknete ihn, der Friseur machte sich mit dem
Rasiermesser über ihn her. Es war ein guter Friseur, er war bei
einem ersten ägyptischen Meister in die Schule gegangen, aber als
Friseur des Kaisers hatte der Arme wenig Gelegenheit, seine Kunst
zu zeigen. Er mußte statt der guten gallischen Seife billige
lemnische Ziegelerde nehmen, die andere war dem Kaiser zu teuer,
und nach dem Bade duldete er statt der echten Nardensalbe nur die
scheußliche napolitanische Imitation. Heute aber durfte der Friseur
das Kostbarste verwenden, was da war. Einer kleinen Büchse aus
Alabaster und Onyx, einem Geschenk der Provinz Bithynien, entnahm
er Balsam, Opobalsam, jenes edelste Würzwerk der Welt, in winzigen
Quantitäten aus dem Innern Arabiens herbeigeschafft. Zwei Büchsen
dieses Opobalsams gab es alles in allem auf der Erde, beide im
Besitz der jüdischen Fürstin Berenike. Eine davon hatte sie vor
Jahren dem Prinzen Titus geschenkt, und der hatte sie dem Friseur
für diesen Tag überlassen. Die niedrige Bauernstube war voll von
den edeln Düften, in die sich vom Hof her der Geruch der Schweine
mischte. »Na, Flaurus«, sagte der Kaiser, »ich hoffe, ich stehe
jetzt in gutem Gestank bei Ihnen.« Alle dachten daran, wie er einst
dem Titus, als dieser sich über die von ihm ausgeheckte unwürdige
Latrinensteuer beklagte, einen aus dieser Latrinensteuer stammenden
Sesterz vor die Augen gehalten hatte mit den Worten: »Findest du,
er stinkt?«
Gebadet und gesalbt ließ sich der
Sterbende das purpurne Festkleid anziehen, dazu die hochgesohlten,
schwarzgeriemten Schuhe des Ersten Adels. Er seufzte tief auf, als
man damit zu Ende war, ließ sich zurücklegen. »Ein Glas eiskalten
Wassers«, befahl er. Er sah, daß man zögerte. »Es kommt schon nicht
mehr darauf an«, sagte er zu dem Arzt hinüber. »Meinen Sie nicht,
Doktor Hekatäus?« Der Mann erwiderte aufrichtig: »Es kostet Sie
höchstens zehn Minuten Leben.« Man brachte ihm den Becher
Schneewasser. Es tröpfelte in seinen ausgedörrten Mund, es
schmeckte sehr süß. Wahrscheinlich hat Doktor Hekatäus ein
Betäubungsmittel hineingetan, um seine Schmerzen zu lindern. Er
leckte mit rauher Zunge die letzten Tropfen von den langen,
gesprungenen Lippen. Jetzt aber, bevor ihm wirr wird, muß er es
ihnen noch einmal einschärfen: »Daß ihr mich ja hochhebt, wenn ich
das Zeichen mit dem Finger mache. Ich will im Stehen sterben. Keine
falsche Rücksicht. Versprecht es mir. Versprecht es mir beim
Herkules.« Er grimassierte hinüber zu seinem Sohne Titus. Der
nämlich hat einmal einen umständlichen, kostspieligen Stammbaum der
Dynastie anfertigen lassen zurück bis auf Herkules. Aber wenn sich
Vespasian sonst auch in Repräsentationsdingen seinem Sohne fügte,
damals hatte er aufbegehrt. Sein Vater war Steuerbeamter gewesen,
später Bankier in der Schweiz, sein Großvater Inhaber eines
Inkassobüros, sein Urgroßvater Inhaber eines Vermittlungsbüros für
Landarbeiter. So war es und nicht anders. Daran ließ er nicht
rütteln. Nichts da Herkules.
Er schnaufte, blinzelte hinaus in
den Hof, der blaß und ruhevoll dalag. Vom Meer hatte sich ein
leichter Abendwind aufgemacht, man hörte ihn im Laub der Eiche.
Bald werden Sterne da sein, den Abendstern kann man wahrscheinlich
schon sehen.
Es ist gut, daß es zu Ende geht.
Bis jetzt ist das Sterben verhältnismäßig einfach. Als er sich das
letztemal seinem Sohn Titus zulieb auf den Triumphwagen gestellt
hat, um den Sieg über die Juden zu feiern, und den ganzen Tag
aufrecht in den schweren Kleidern des Capitolinischen Jupiter hat
herumfahren müssen, meine Lieben, das zum Beispiel ist viel härter
gewesen. Jetzt wird er höchstens ein paar Minuten aufrecht stehen
müssen.
Er hat wild herumgefuhrwerkt über
den Erdkreis. Hat sich in England mit den Barbaren herumgeschlagen,
in Rom mit dem Senat und dem Militärkabinett. In Judäa haben sie
ihn verwundet, in Afrika mit Pferdeäpfeln nach ihm geschmissen, in
Ägypten mit Heringsköpfen. Es ist wild auf und ab gegangen in
seinem Leben. Er war Bürgermeister von Rom, Konsul, Triumphator,
aber auch Spediteur, Vermittler von Adelstiteln, Agent für dunkle
Finanzgeschäfte, mehrmals bankrott. Wenn er sich nicht hat
kleinkriegen lassen, dann ist das eigentlich das Verdienst der
Eiche da draußen im Hof, dieser alten, heiligen Eiche des Mars. Sie
hat, so haben ihm Mutter und Großmutter immer wieder erzählt, bei
seiner Geburt einen unwahrscheinlich üppigen Wurzelschößling
getrieben, ein Zeichen dafür, daß er vom Schicksal zum Höchsten
bestimmt war. Lange genug hat sie sich blamiert, die heilige Eiche.
Er hat gestöhnt, wenn seine Mutter und später seine Freundin, die
Dame Cänis, unter Berufung auf diese Eiche ihn immer von neuem
quälten, er dürfe sich nicht, wie er es doch so gerne wollte,
behaglich hier auf dem Gut als zufriedener Bauer zur Ruhe setzen.
Nun ja, er hat sich gefügt, hat fluchend weitergeschuftet.
Schließlich hat die Eiche ja auch recht behalten, und seine Mutter
und Großmutter, deren verräucherte Wachsbüsten draußen im Vorraum
stehen, können zufrieden sein.
Es dämmert. Seine Gedanken werden
dumpf und wirr, der Betäubungstrank beginnt zu wirken. Eine fettige
Hand bemüht sich, die Mücken zu verscheuchen, die sich immer wieder
auf der schweißigen, lederigen Haut seines Gesichts niederlassen
wollen. Er blinzelt. Es ist Claudius Regin, der ihm die Mücken
wehrt. Ein Halbjude, aber kein schlechter Mann. Vierzig Milliarden
haben gefehlt, als Vespasian die Geschäfte übernahm. Vierzig
Milliarden. Der Summe will ins Auge geschaut sein. Der Jude hat ihr
ins Auge geschaut. Ohne den Juden hätte er sie nicht
geschafft.
Claudius Regin, Halbjude, Mann
aus dem Osten. Vespasian weiß, daß er ohne die Hilfe des Ostens nie
Kaiser geworden wäre. Aber er ist Römer, der Osten ist ihm
unheimlich, er mag ihn nicht. Man muß aus dem Osten soviel Profit
ziehen wie möglich, aber tiefer darf man sich nicht mit ihm
einlassen. Sowie er den Osten nicht mehr brauchte, hat er ihn
kaltgestellt. Hat ganzen Provinzen, Griechenland zum Beispiel, ihre
Privilegien wieder entzogen. Auch dieser Bursche Josef ist
unausstehlich. Alle Literaten sind unausstehlich, die jüdischen
doppelt. Leider kann man ohne sie nicht auskommen. Biographien sind
wichtig. Man stirbt leichter, wenn man weiß, man hinterläßt einen
guten Geruch bei der Nachwelt. Ein richtiges Buch hält länger vor
als ein Standbild. Das Buch dieses Juden Josef ist dauerhaft. Und
nicht teuer, alles in allem. Noch keine Million hat er auf den
Menschen verwendet. Ein lächerlicher Preis für ein paar
Jahrtausende Nachruhm. Wenn er annimmt, das Buch hält für
zweitausend Jahre vor, was dann hat pro Tag er für seinen Nachruhm
bezahlt? Laß sehen. Zuerst: zweitausend mal
dreihundertfünfundsechzig. Dann: eine Million geteilt durch das
Ganze. Wenn er nur nicht eine so verfluchte Dumpfheit im Schädel
hätte. Zweitausend mal dreihundertfünfundsechzig. Es geht nicht
mehr. Aber auf alle Fälle ein gutes Geschäft.
Eine Mücke ist im Innern seines
Ärmels. Daß er das noch spüren kann, ist ein günstiges Zeichen. Er
kriegt auch bestimmt noch heraus, was ihn der Tag Nachruhm kostet.
Man müßte die Mücke wegjagen. Aber das Sprechen erfordert Kraft,
und er braucht seine Kraft für ein anständiges letztes Wort. Ein
römischer Kaiser muß mit einem anständigen letzten Wort sterben.
»Jagt mir die Mücke weg«, wäre ja ganz gut, aber doch nicht würdig
genug.
Jetzt ist sie weg. Er hat Glück
mit seinem Sterben. Hier in dieser alten, angenehmen Bauernstube
mit dem Hof davor, der Eiche und den Schweinen läßt es sich leicht
sterben, wacker, respektabel.
Sein Titus ist ein guter Sohn.
Ein wenig zu ehrgeizig. Wenn man nicht scharf aufgepaßt hätte, dann
hätte er ihn wahrscheinlich schon Vorjahren aus dem Weg geräumt.
Die ganze Zeit hindurch hat er ihm seinen Arzt Valens aufzudrängen
versucht. Ob er ihn vielleicht doch hat vergiften lassen? Nein. Der
Doktor Hekatäus ist zuverlässig: es ist nur das Darmleiden.
Zweitausend Jahre Nachruhm für insgesamt eine Million Sesterzien.
Zweitausend mal dreihundertfünfundsechzig. Er würde es übrigens dem
Titus nicht verdenken, wenn der ihm eine kleine Dosis Gift
zugeführt hätte. Neunundsechzig Jahre, einen Monat und sieben Tage,
das ist ein schönes Alter, damit kann man sich zufriedengeben. Die
vierzig Milliarden Schulden sind auch weg. Unfreundschaftlich wäre
es ja und nicht kindlich, wenn Titus ihm Gift gegeben hätte; denn
er hat ihn während ihrer gemeinsamen Regierung wirklich fast immer
gewähren lassen. Zweitausend mal dreihundertfünfundsechzig. Er war
doch sonst so stark im Kopfrechnen.
Es ist gut, daß er Order gegeben
hat, sein Sohn Domitian dürfe nicht heraus zu ihm. Er möchte ihn
jetzt nicht im Zimmer haben. Domitian, Bübchen, das Früchtchen. Er
mag ihn nicht. Warum hat dieser verdammte Titus soviel herumgehurt?
Jetzt hat er nur eine Tochter und kann sich Bübchen nicht vom Halse
schaffen, man braucht ihn für die Dynastie.
Zweitausend mal
dreihundertfünfundsechzig. Einen Philosophen müßte man da haben.
Aber die Philosophen hat er hinausgeschmissen aus Italien. Es gibt
vier Arten von Philosophen. Erstens diejenigen, die schweigen und
für sich philosophieren; die sind schlimm und verdächtig, weil sie
schweigen. Zweitens diejenigen, die regelrecht Unterricht geben;
die sind schlimm und verdächtig, weil sie reden. Drittens
diejenigen, die Vortragsreisen machen; die sind überaus schlimm und
verdächtig, weil sie sehr viel reden. Viertens die
Bettelphilosophen, die Cyniker; die sind die allerschlimmsten, weil
sie sogar unterm Proletariat herumgehen und reden. Trotz seinem
unbehaglichen Respekt vor der Literatur hat er die Burschen
allesamt aus dem Land gejagt. Gewisse hochnäsige Aristokraten haben
erklärt, das sei pöbelhaft. Na schön, er hat keine Salonmanieren,
er ist ein alter Bauer. Am heftigsten hat damals der Senator Helvid
gegen ihn gewettert. Ein verdammt frecher Bursche, dieser Helvid.
Bis zuletzt hat er ihm seinen Kaisertitel verweigert. Eigentlich
imposant, soviel Frechheit. Aber unüberlegt, wenn man nicht zwanzig
Armeekorps hinter sich hat. Böses Blut hat es gemacht, als er ihn
abtat. In seiner Biographie wird die Geschichte trotzdem keinen
Flekken zurücklassen. Denn als er sah, welchen Sturm das
Todesurteil erregte, hat er es sofort kassiert. Erst dann freilich,
als sein Sohn Titus die Exekution bereits angeordnet hatte, so daß
bei allem guten Willen der Widerruf des Urteils zu spät eintreffen
mußte. Schlau hat er das gedeichselt. In solchen Dingen haben Titus
und er sich immer ohne Worte verstanden. Fair haben sie sich
benommen, einer gegen den andern. Von den Freuden der Herrschaft
hat er dem Titus den größeren Teil gelassen. Dafür mußte der alle
unangenehmen Maßnahmen auf die eigene Schulter nehmen, auf daß der
Begründer der Dynastie nicht allzu unpopulär werde. Populär ist man
sowieso nicht. Wenn man Vernunft anwendet, kann man schwerlich
populär werden. Aber wenn eine Dynastie lange genug hält, dann wird
sie vielleicht populär, selbst wenn sie vernünftig ist.
Zweitausend mal
dreihundertfünfundsechzig. Er kriegt es nicht mehr heraus. Und er
muß doch dem Titus noch sagen, daß der auch den jüngeren Helvid
erledigen soll, auch den Senecio und den Arulen, so klug und
schweigsam sie sich halten, und noch eine ganze Reihe anderer
philosophischer Herren von der Opposition. Man kann es sich jetzt
leisten, durchzugreifen. Die Dynastie sitzt fest genug, und, der
Sterbende lächelt listig, seine eigene Biographie kriegt keine
Flekken mehr davon.
Erledigt werden müssen die
Burschen. Opposition ist ein großes Vergnügen für den, der sie
macht. Aber man muß auch wissen, was man riskiert, und bereit sein,
dafür zu zahlen. Wenn ihm nur das Sprechen nicht so schwerfiele. Er
muß sich reiflich überlegen, ob er sein bißchen Atem für diese
Weisung oder für ein anständiges letztes Wort verbrauchen
soll.
Schade, daß Titus keinen Sohn
hat. Julia, seine Tochter, ist ein nettes Mädchen. Weiß, fleischig,
ein angenehmes Stück Weib, und sie trägt ihre kunstvolle Frisur so,
als ob wirklich Herkules ihr Ahnherr sei und nicht der Inhaber des
Inkassobüros. Ein richtiger, handfester, römischer Weibertyp ist ja
doch das Beste, in Gesellschaft sowohl wie im Bett. Und da können
die alten Geschlechter mit einigem aufwarten, das muß man ihnen
lassen. Bübchen hat keinen schlechten Geschmack gehabt, als er sich
mit soviel Energie diese Lucia ins Bett holte.
Es hat schwere Mühe gekostet,
damals vor acht Jahren, den Titus von seiner Jüdin loszueisen.
Hätte man ihn selber von seiner Cänis loseisen wollen, er hätte
auch gebockt. Aber gewisse Dinge gehen nun einmal nicht. Dicke
Steuern durchsetzen und gleichzeitig zu den Juden halten, das geht
nicht, mein Lieber. Wenn man wirtschaftlich im Dreck steckt, dann
muß man die Massen gegen die Juden loslassen. Von dieser Regel kann
man nun einmal nicht ab. Manchmal hat der Junge den Blick seiner
Mutter, jenes Vage, Wirre, Unverantwortliche, jenes, geradeheraus,
ein wenig Verrückte, das ihn an dieser Domitilla immer erschreckt
hat. Dazu hat er seinen aristokratischen Tick. Wahrscheinlich ist
er nur deshalb so ungeheuer auf die Jüdin hereingefallen, weil sie
aus altem Königsblut stammt. Hoffentlich läßt er sich jetzt nach
seinem Tod nicht von neuem mit ihr ein.
Ein stärkerer Wind weht, man hört
ihn in der Eiche. Gute, alte Eiche. Sie hat sich bewährt. Es ist
ein wenig frischer geworden, die edeln Gerüche, mit denen man
Vespasian gesalbt hat, verwehen. Die Schweine haben sich in ihren
Koben im Winkel zurückgezogen. Vespasian ist ein alter Bauer, es
ist Abend und alles getan, er darf getrost sterben. Bis jetzt war
eine leise Furcht in ihm, er werde noch einen Krampf kriegen und,
vielleicht, sein kostbares Sterbekleid besudeln. Doch jetzt ist es
sicher, daß ihm in den paar Minuten, die es noch dauern wird,
nichts mehr passiert. Er wird seine Sache gut machen bis zuletzt.
Wenn bei der Leichenfeier seine Väter und Urväter vor ihm
einhergehen und seine Mutter und seine Großmutter, er darf sich mit
ihnen sehen lassen. Alles, was seine Vorfahren geleistet haben,
der. Bankmensch, der Mann vom Inkasso- und der vom Vermittlungsbüro
und die tüchtigen Gutsbesitzer, von denen er von Mutterseite
abstammt, alles das mündet in ihn ein wie Flüsse in ein großes
Meer. Er hat das Gut gehalten, er hat es ausgezeichnet bestellt, es
ist gediehen, es ist ein riesiges Gut geworden, es reicht über die
See, es ist der Erdkreis geworden, das Meer ist nur ein Teil von
seinem Gut, es reicht nach Asien, nach Afrika, nach England. Sein
Gut heißt Rom.
Nun aber ist es sehr dämmerig.
Titus steht in der breiten Tür, die zum Hof hinausführt. Nicht
groß, aber fest und stattlich steht er da, mit rundem, offenem
Gesicht, das kurze Kinn kräftig vorgestoßen, so daß es scharf,
dreieckig einzackt. Vespasian sieht seinen Sohn, er hört den Wind
in der Eiche, seine behaarten Ohren sind voll von diesem Wind.
Fernher durch den Wind hört er Schmettern von Trompeten wie
seinerzeit, wenn er, in England oder in Judäa, Attacke kommandiert
hat. Sein Titus hat leider keinen Humor, aber dafür ist manchmal in
seiner Stimme etwas von diesem Schmettern. Vespasian kann sich
ruhig konsekrieren lassen, kann ruhig eingehen unter die Götter.
Wenn Herkules auch nicht sein Ahnherr ist, er darf es sich
erlauben, mit ihm zu reden als Mann zum Mann. Sie werden sich
gegenseitig in die Rippen stoßen, Herkules wird lachen und die
Keule senken, sie setzen sich nebeneinander und erzählen sich
Witze.
Zweitausend mal
dreihundertfünfundsechzig. Die Dumpfheit in seinem Schädel weicht
plötzlich einer klaren Schärfe. Zweitausend mal
dreihundertfünfundsechzig, sehr einfach, das sind
siebenhundertdreißigtausend. Rund eine Million hat er auf diesen
Burschen Josef verwandt. Also noch nicht eineinhalb Sesterzien
kostet ihn ein Tag Nachruhm. Das ist geschenkt.
Er fühlt sich leicht und voll
Zufriedenheit. Gleich wird es soweit sein. Nur kurze Zeit noch,
zwei Minuten noch, noch eine. Die muß er durchhalten. Er muß Würde
haben wegen der Eiche.
Er gibt das Zeichen mit der Hand,
schwach, kaum merklich. Aber sie merken es, sie richten ihn hoch.
Sie sollen es lassen. Es tut scheußlich weh, er ist ungeheuer
schwach, sie sollen ihn liegen lassen. Aber er hat nicht die Kraft,
es ihnen zu sagen. Er muß doch etwas sagen. Was denn? Er hat es so
genau gewußt. Seit Tagen hat er sich auf sein letztes Wort
vorbereitet. Sie richten ihn weiter hoch. Es ist unerträglich, aber
sie haben keine Rücksicht.
Wind kommt von außen. Das schafft
ein wenig Erleichterung. Sie sollen keine Rücksicht nehmen.
Disziplin muß sein. Er will im Stehen sterben, so hat er es sich
vorgenommen.
Und wirklich, er steht, oder
vielmehr er hängt vornübergeneigt, die Arme um die Schultern der
andern. Um die Schultern seines Sohnes Titus und seines Beraters,
des Claudius Regin. Er hängt schwer vornüber, er schnauft kläglich,
von der harten, ledernen Haut seiner Stirn rinnt Schweiß,
Schweißtropfen stehen auf seiner mächtigen Glatze.
Es geht nicht mehr. Wozu die
Quälerei? Der Halbjude Claudius Regin macht nicht mehr mit, er gibt
dem Titus ein Zeichen. Sie lassen ihn zurückgleiten.
Der alte Mann, der Herr des
Erdkreises, der diesen Erdkreis beharrlich, schimpfend, Witze
machend, so lange auf seinen Schultern geschleppt hat, läßt sich
gleiten. Eine gewaltige Last wälzt sich von ihm. Er sieht die
Eiche, er spürt den Wind, spürt die Seligkeit des
Sichfallenlassens. Er liegt auf dem harten Lager, stolz, glücklich.
Oh, er braucht nicht hauszuhalten, er kann seinen Atem
verschwenden, er kann es sich erlauben, noch vor dem würdigen
letzten Wort diesem schlauen Geschäftsmann Regin mitzuteilen, welch
allerschlauestes Geschäft er gemacht hat. Flüsternd, grausig
spaßhaft, keucht er ihm ins Ohr: »Wissen Sie, was ein Tag Nachruhm
mich kostet? Einen Sesterz, ein As und sechseinhalb Unzen.
Geschenkt, nicht?« Dann erst, sich zusammenreißend, den Kopf mit
ungeheurer Anstrengung von einem zum andern wendend, stößt er
hervor: »Cäsar Titus, meine Herren, sagen Sie dem Senat und dem
Volk von Rom: ihr Kaiser Vespasian ist im Stehen gestorben.« Dies
lügend, liegend, veratmet er.
Den zweiten Tag darauf wurde die Leiche,
sorglich einbalsamiert, nach Rom überführt und im Kaiserhaus auf
dem Palatin aufgebahrt, auf hohem Katafalk, in der Halle, wo die
Wände entlang die Wachsbüsten der Ahnen standen. Da lag er also,
der tote Vespasian, die Füße nach dem Ausgang hin, in purpurnem
Kaiserornat, eine Kupfermünze mit der Umschrift »Das besiegte
Judäa« als Fährgeld für den Totenschiffer unter der Zunge, Kranz
auf dem Haupt, Siegelring am Finger, schwarzgekleidete Liktoren,
die Rutenbündel gesenkt, vor ihm, und täglich kamen Titus,
Domitian, Julia, Lucia und riefen ihn mit all seinen Namen und
Titeln. Amtlich übrigens war er noch am Leben; denn der Senat hatte
beschlossen, ihn unter die Götter zu erheben. Er galt also, bis zur
Verbrennung, als noch nicht tot, man brachte ihm Speisen, legte ihm
Dokumente vor, die Ärzte kamen, untersuchten ihn, gaben Bulletins
aus über seinen Zustand.
Am Nachmittag aber, um von ihrem
Kaiser Abschied zu nehmen, schritten in endlosem Zug Senat und Volk
von Rom an dem Prunkbett vorbei, Hunderte vom Ersten, Tausende vom
Zweiten Adel, Hunderttausende von den zwei Millionen Bewohnern der
Stadt Rom.
Niemand wagte fernzubleiben; man
wußte, daß die Polizei Listen führte. Auch die hocharistokratischen
Herren der Opposition stellten sich ein, an ihrer Spitze der
Senator Helvid. Der Kaiser hatte seinen Vater töten lassen, weil
der kühn die Rechte des Senats, der gesetzgebenden Körperschaft,
hatte wahren wollen. Die Herren waren nicht wie ihre Väter, sie
redeten nicht wie diese viel und laut, sie fügten sich. Aber sie
vergaßen nicht. Der Tag wird kommen, da sie reden und handeln
dürfen.
Auch jetzt also bezeigen sie dem
Regime Unterwerfung, traten vor die Leiche, im Trauerkleid, wie der
Brauch es forderte. Sie schauten den Kaiser an; selbst im Tode, mit
geschlossenen Augen, schien ihnen sein mächtiger Schädel bäurisch
und gemein. Der Vater Helvid hatte sich seinerzeit mit stolzen
Worten dagegen verwahrt, als Vespasian die Ehre, das zerstörte
Capitol neu aufzubauen, für sich in Anspruch nahm. Sie, die
jüngeren, waren gewitzt, sie hatten im Senat dafür gestimmt, daß
man den toten Parvenü zum Gott erhebe. Mag man ihm Tempel und
Standbilder errichten: er bleibt tot. Da liegt er, er verzieht
nicht die langen, schmalen Lippen zu seinem bösartigen Grinsen, er
kann nicht mehr über sie witzeln auf seine gemeine Art, der sie,
die würdigen, vornehmen Herren, so gar nicht gewachsen sind. Haß
und Hohn im Herzen, schauten sie auf die Leiche, und mit
trauernden, ehrfürchtigen Gebärden verhüllten sie das Haupt gleich
den andern und riefen mit den andern: O unser Kaiser Vespasian, o
du sehr guter, sehr großer Kaiser Vespasian.
Auch der Senator Junius Marull
kam, der große Advokat und gefürchtete Redner, einer der reichsten
Männer der Stadt. Er war kein politischer Gegner des Toten, aber er
hatte dem Kaiser in seinen Geschäften Konkurrenz gemacht, und die
beiden hatten einen langen, versteckten, erbitterten Kampf geführt.
Als Vespasian sah, daß er den andern wirtschaftlich nicht schlagen
konnte, hatte er ihn politisch und gesellschaftlich zu erledigen
gesucht: er schloß ihn aus dem Senat aus, weil er – ein Vorwand von
billiger Ironie – vor langer Zeit einmal in der Arena gegen eine
spartanische Ringkämpferin angetreten sei. Der elegante,
überfeinerte Marull hatte diese Maßregelung mit derselben
gleichmütig spöttischen Geste hin genommen wie alle andern
Handlungen des bäurischen Kaisers. Die Degradierung, nachdem er
alle Genüsse der Welt ausgekostet, war dem blasierten Herrn nichts
gewesen als eine neue Sensation. Höhnisch hatte er den breiten
Purpurstreif und den hochsohligen Schuh der Hocharistokratie mit
der Uniform der Entsagung vertauscht, mit dem härenen Mantel, dem
Wanderstab, dem Bettelranzen des Stoikers, des Philosophen
strengster Observanz. Sein härener Mantel freilich war vom ersten
Schneider der Stadt angefertigt, sein Wanderstab mit Gold und
Elfenbein eingelegt, sein Bettelranzen aus vornehmstem Leder. Im
übrigen stand sein neuer Stoizismus ihm nicht weniger gut zu
Gesicht als früher sein Prunk. Niemand konnte die Lehrsätze der
stoischen Schule eleganter dozieren, und wenn er in der schönen
Bibliothek seines Hauses über Philosophie sprach, dann drängte sich
alles zu, was in der Stadt Geltung hatte.
Auch heute kam Junius Marull in
seiner Philosophentracht. Es war offenbar anstößig, daß der frühere
Senator in diesem Aufzug vor die Leiche trat, aber die
Zeremonialbeamten fanden keinen rechten Grund, es ihm zu verwehren.
Den blickschärfenden Smaragd hielt er vor das hellblaue Auge, und,
den Toten angelegentlich, ungebührlich lange beschauend, sagte er
mit seiner lauten, näselnden Stimme: »Ich will mir unsern sehr
guten, sehr großen Kaiser genau betrachten, bevor er ein Gott wird.
Einem Stoiker ist manches erlaubt, was einem Senator vielleicht
nicht anstünde.«
Auch der jüdische Hofschauspieler
Demetrius Liban verweilte ungeziemend lange vor der Leiche. Aller
Augen waren auf dem sehr Berühmten, als er mit geübtem Schritt, der
Würde, Trauer und Ehrfurcht ausdrückte, vor den Katafalk trat. In
angemessener Entfernung blieb der nicht große Herr stehen, die
etwas trüben, graublauen Augen richtete er eindringlich auf die
geschlossenen des Kaisers. Er hatte eine Streitsache mit diesem
Mann. Die letzten Jahre waren hart für ihn gewesen, und der Tote
trug die Schuld daran. Der Tote war es, der ihm die Gelegenheit
genommen hatte, sich seinem Publikum zu zeigen, er hatte ihn
gezwungen, seinen Titel Erster Schauspieler der Epoche an andere
abzugeben. Klingt es nicht heute schon fast wie ein Märchen, daß
man einmal Polizei und Militär hat aufbieten müssen, um die Unruhen
zu dämpfen, die seine Pointen hervorgerufen haben? Unter dem neuen
Kaiser, unter Titus, dem Freund der jüdischen Prinzessin, wird das
anders werden. Die Nichtskönner, die Favor, die Latin, werden nicht
länger Gelegenheit haben, einen Demetrius Liban in den Schatten zu
stellen.
Da lag er, der Tote, der Feind.
Er weiß nicht, was er ihm angetan hat. Wahrscheinlich hat er es
auch bei Lebzeiten nicht gewußt. Für ihn war die Sache einfach
gewesen: die Massen sehen es nicht gern, daß der Kronprinz mit
einer Jüdin liiert ist, folglich zeigt der Kaiser, daß er diese
Liaison nicht billigt, daß er die Juden nicht mag, und läßt den
jüdischen Schauspieler nicht ans Licht. Von Kunst hat er nichts
verstanden, der Bauer, der Emporkömmling. Wahrscheinlich hat er
nicht die leiseste Ahnung gehabt, was er ihm, dem Demetrius,
angetan hat. Woher auch soll ein Klotz wie der gewußt haben, was
alles er anrichtete mit seiner albernen Politik? Nie hätte der
begriffen, was es heißt, zuschauen müssen, wenn ein anderer an
einer Rolle herumstümpert, die man selber in höchster Vollendung
hätte schaffen können. Man erstickt an dem Grimm über die verpaßten
Gelegenheiten. Welche Gefahren hat er auf sich nehmen müssen, um
nur überhaupt zu einer Rolle zu kommen. Da hat einmal der alte
Helvid, der Führer der Antikaiserlichen im Senat, der jetzt
hingerichtete, ein freches Stück geschrieben, einen »Cato«, und
dieses Stück in seinem Hause geladenen Gästen vorführen wollen.
Welche Kämpfe hat er, Demetrius, durchgemacht, ehe er sich
entschlossen hat, darin zu spielen. Es bedeutete Lebensgefahr, in
dieser dem Regime feindlichen Aufführung aufzutreten, er war kein
kühner Mann, und dabei war ihm die Rolle nicht einmal
gelegen.
Still, gesammelt, ehrerbietig
stand er vor dem Toten, aber in seinem Innern, stürmisch, haderte
er mit ihm. Jetzt, du Toter, kannst du mich nicht mehr hindern,
jetzt tauche ich wieder empor. Jung bin ich nicht mehr,
einundfünfzig, der Beruf verbraucht einen. In vier langen Jahren
habe ich ganze fünf Rollen gespielt, man kommt aus der Übung, man
verliert den Kontakt mit dem Publikum. Aber ich habe trainiert, ich
habe Diät gehalten, ich schaffe es. Du bist tot, du bist ein
»Gott«, aber ich bin der lebendige Schauspieler Demetrius Liban,
und wenn es darauf ankommt, dann mache ich noch immer Statuen
lachen, wie der alte Seneca einmal von mir gesagt hat. Paß auf, der
Neue, dein Sohn, der versteht mehr als du von der Kunst, der läßt
mich hinauf. Vor zwölf Jahren, im Trauerzug der Kaiserin Poppäa,
habe ich die Karikatur der Poppäa gespielt, das war was, das war
eine Leistung. Jetzt wird man mich an dich heranlassen. Ich werde
Sie spielen, Majestät, bei Ihrem Leichenbegängnis, ich, nicht der
Favor. Es ist noch nicht gewiß, ich sollte es noch nicht Wort
werden lassen, noch nicht einmal Gedanke. Leider ist kein Holz da,
an das ich klopfen könnte. Ob ich wohl an den Katafalk vor kann und
klopfen? Nein, das geht nicht, übrigens ist er ja auch nicht aus
Holz. Aber sie werden mir die Rolle geben. Jetzt, nachdem du tot
bist, besteht kein Grund mehr, sie mir nicht zu geben. Ich bin der,
der es am besten macht, die Rolle gehört mir, das ist klar, alle
sehen es. Man muß mir sehr feind sein, um es nicht zu sehen, und
Titus ist mir nicht feind. Und wie werde ich dich spielen, was
werde ich aus dir herausholen, du Kaiser, du Gott, du Toter, du
Judenfeind.
Der Schauspieler Demetrius Liban
betrachtet den Toten, verhüllten Hauptes, ehrerbietig. Aber seine
Augen sind nicht ehrerbietig. Bösartig durchforschen sie das
Gesicht des Kaisers, spähen, was daran zum Lachen reizen könnte,
erblicken, was die andern nicht sehen, die Spuren seines harten
Geizes, den scharfen Kontrast zwischen seiner hausbackenen Art,
seiner Nüchternheit, seiner bäurischen Derbheit und dem
zeremoniösen Prunk seiner Stellung. So lange hast du mich in den
Schatten gedrängt, während meiner besten Jahre hast du mich
kaltgestellt. Aber jetzt bin ich daran. So, wie ich dich machen
werde, wirst du im Gedächtnis der Menschen fortleben. Ich werde
bestimmen, welche Maske, welche Form dein Andenken annehmen
wird.
Verhüllten Hauptes gleich den
andern grüßt er den Toten, den Arm mit der flachen Hand
ausgestreckt, und mit den andern ruft er: O unser Kaiser Vespasian,
o du sehr guter, sehr großer Kaiser Vespasian.
Schon hatte bis in die fernste Provinz der
Feuertelegraf die Nachricht vom Tod des Kaisers verbreitet, und mit
der Nachricht Furcht und Hoffnung.
In England schickte der
Gouverneur Agricola die Grenztruppen vor bis zum Flusse Taus,
fürchtend, der Thronwechsel könnte die nördlichen Pikten zu neuen
Einfällen in das befriedete Gebiet ermuntern. Am Niederrhein regten
sich die Chatten, die Bataver. In der Provinz Afrika rüstete in
aller Eile der Gouverneur Valer Festus ein zweites Detachement
Kamelreiter, er wollte den zu Raubzügen geneigten Stämmen der
südlichen Wüste, den Garmaten, rechtzeitig beweisen, sie hätten
unter dem neuen Herrn kein weniger wachsames Regiment zu erwarten
als unter dem alten. An der untern Donau liefen Kuriere zwischen
den Häuptlingen der Daker hin und her: war es ratsam, jetzt einen
neuen Vorstoß über die römische Grenze zu wagen? Am Kaukasus, am
Asowschen Meer hoben die Alanen die Köpfe, witternd, ob ihre Zeit
gekommen sei.
Der ganze Osten spannte sich in
Erregung. Der Provinz Griechenland hatte der karge Vespasian die
Privilegien genommen, die ihr der kunstbegeisterte Nero verliehen
hatte. Der neue Kaiser war jünger, war groß geworden in
griechischen Ideengängen, in griechischer Bildung. Sicherlich wird
er der adeligsten unter den Nationen des Reichs die Rechte
zurückgeben, die man ihr geraubt hat.
In Ägypten rief der Gouverneur
Tiber Alexander alle Offiziere und Mannschaften aus dem
Sommerurlaub zurück. Seine Residenz, die Stadt Alexandrien, die
zweitgrößte und die beweglichste der bewohnten Welt, fieberte. Die
Juden dort, fast die Hälfte der Bevölkerung, reich und mächtig,
hatten seinerzeit der neuen Dynastie als die ersten ihre
Ergebenheit bewiesen und den Prätendenten Vespasian mit Geld und
Einfluß unterstützt. Der hatte es ihnen nicht gedankt. Im
Gegenteil, er hatte sie durch Einführung einer schimpflichen
Sondersteuer gebrandmarkt und hatte es zugelassen, daß die
Weißbeschuhten, die judenfeindliche Partei Ägyptens, unter Führung
gewisser Professoren der Universität Alexandrien immer dreister
wurden. Jetzt, hofften die Juden, wird Berenike Kaiserin, jetzt
wird es aus sein mit den Weißbeschuhten.
Die Provinz Judäa selber machte
ihrer Regierung Sorgen. Der Generalgouverneur Flavius Silva war ein
gerechter Mann, aber seine Situation war schwierig. Viele Juden
waren im Krieg umgekommen, viele hatte man zu Leibeigenen gemacht,
viele waren ausgewandert. Ihre Städte verödeten, die griechischen
blühten, und immer neue syrisch-griechische Siedlungen wurden
gegründet. Die Rivalität zwischen den geduckten, erbitterten Juden
und den privilegierten griechischen Einwanderern führte zu blutigen
Zwischenfällen. Der Thronwechsel steifte den Juden den Nacken,
schürte ihre Hoffnung, auf dem verwüsteten Grund Jerusalems, wo
jetzt als einzige Baulichkeiten nackt und kahl römische
Militärbaracken drohten, werde bald wieder ihre Stadt und ihr
Tempel glänzen.
Ganz Syriens sommerliche Ruhe war
gefährdet. Am Hof des Perserkönigs äugten und lauerten die Prinzen
von Kommagene, Magnus und Kallinikos, deren Länder Vespasian
annektiert hatte. Überall fanden für diese Prinzen Kundgebungen
statt, der Gouverneur Trajan mußte scharfe Maßnahmen treffen, um
die Ordnung zu sichern.
Bis in das ferne China strahlte
die Nachricht vom Tode des alten Kaisers Wirkung aus. Vespasian
hatte durch seine Luxussteuer den Handel mit chinesischer Seide und
chinesischen Bronzen sehr beengt. Von dem jungen Kaiser erhofften
sich die Seestädte am Roten Meer neuen Aufschwung. Sie schickten,
um die alten Verbindungen anzuknüpfen, eine Gesandtschaft an den
General Pan Tschao, den großen Marschall der
Han-Dynastie.
So, von überallher, schaute man
in Hoffnung und Furcht nach dem Palatin auf den neuen Herrn, auf
Titus.
Dieser Titus, am vierten Tag nach dem Tode
Vespasians, besprach in seinem Arbeitszimmer mit dem
Zeremonienmeister und mit dem Intendanten der Schauspiele das
Arrangement der Totenfeier. Der Zeremoniell für das
Leichenbegängnis eines unter die Götter erhobenen Kaisers war vag
und wollte bis in jedes Detail festgelegt werden; denn Titus wußte,
Senat und Volk werden bei der geringsten Ungeschicklichkeit mit
bösartigem Spott über ihn herfallen. Immerhin hat man jetzt wohl
alles durchgesprochen, die Herren könnten gehen: worauf warten
sie?
In seinem Innern weiß Titus,
worauf sie warten. Über eines hat man noch
nicht gesprochen, über ein Unwesentliches, auf das aber ganz Rom
neugierig ist, über die Frage nämlich, wer im Leichenzug den Toten
verkörpern soll. Demetrius Liban ist beliebt; allein es bleibt ein
heikles Problem, ob man dem Juden die Rolle des toten Kaisers geben
darf. Titus sieht vor sich hin, hinauf zu dem Bild der Berenike. Um
dem Vater kein Ärgernis zu geben, hat er das Porträt bisher in
seinem kleinen privaten Arbeitszimmer hängen lassen; jetzt hat er
es in diesen Raum gebracht, der auch offiziellen Besuchern
zugänglich ist. Das lange, edle Gesicht der jüdischen Prinzessin
schaut auf ihn, die eine ihrer großen, schönen Hände ist sichtbar,
das Bild ist beängstigend lebendig, es ist ein Meisterwerk des
Malers Fabull; Titus, während er es beschaut, hört ihre tiefe,
leicht heisere, vibrierende Stimme, sieht ihren königlichen Gang.
»Was übrigens die Besetzung der Rolle des Vespasian anlangt«, wirft
er schließlich den noch immer zögernden Herren hin, »so werde ich
Ihnen im Lauf des Tages Vorschläge machen lassen.«
Und dann, endlich, ist er allein.
Er lehnt zurück, schließt die Augen, das breite, runde Gesicht
erschlafft. In einer Viertelstunde wird Bübchen dasein, Domitian,
sein Bruder. Es wird keine angenehme Auseinandersetzung werden.
Titus ist ehrlich willens, Bübchen entgegenzukommen; aber gerade
daß der Junge das weiß, das macht ihn so arrogant.
Der neue Kaiser hat die Augen
geöffnet, schaut mit fast dümmlich träumerischem Blick vor sich
hin, die Lippen wie die eines schmollenden Kindes vorgeschoben.
Noch fünf Minuten. Er ist schrecklich müde. Soll er im Hausrock
bleiben, wie er ist? Bübchen wird sicher in voller Gala auftreten.
Was immer er tut, Bübchen wird es als Kränkung empfinden. Empfängt
er ihn in der Tracht des Kaisers, dann ist es herausfordernd,
empfängt er ihn im Hausanzug, ist es Nichtachtung. Er bleibt, wie
er ist.
Die wachhabenden Offiziere
draußen erweisen klirrend die Ehrenbezeigung: Domitian kommt.
Wahrhaftig, er ist in voller Uniform. Titus erhebt sich, geht dem
zwölf Jahre Jüngeren höflich entgegen. Beschaut ihn aufmerksam wie
einen Fremden. Bübchen sieht eigentlich besser aus als er selber.
Das Gesicht ist weniger fleischig, er ist größer. Die Arme freilich
hält er sonderbar eckig nach unten. Aber sonst ist die Haltung gut,
er wirkt kräftig, jünglinghaft. Nur an der aufgeworfenen Oberlippe,
findet Titus, erkennt man die Arroganz.
»Guten Tag, Bübchen«, sagt Titus
und küßt ihn, wie es die Sitte verlangt. Domitian läßt es sich kalt
gefallen. Er kann aber nicht verhindern, daß sein hübsches Gesicht
sich rötet. Auch schwitzt er. Titus konstatiert es mit Genugtuung.
Das kommt davon, daß er sich bei der Hitze so schwer und offiziell
angezogen hat.
Es ist nicht nur die Hitze, die
Domitian bedrückt. Für ihn hängt von dieser Unterredung mehr ab als
für den Bruder. Er ist allerdings gut vorbereitet. Der Senator
Marull, dem alten Kaiser von jeher abgeneigt und deshalb sein, des
Domitian, Freund, hat sich seit seiner Degradierung ihm noch enger
angeschlossen, und mit diesem höllisch klugen Berater hat er die
Situation genau durchgesprochen. Die Sache liegt so. Der Alte hat
ihn nicht gemocht, und dieser da mag ihn ebensowenig. Am liebsten
hätten sie sich seiner entledigt. Titus könnte es auch ohne
weiteres, er hat die Macht dazu. Aber er wird es nicht tun, Marull
hat ihm das schlagend bewiesen. Im Gegenteil, Titus wird ihm im
Lauf dieser Unterredung allerhand Konzessionen anbieten. Denn für
Titus bedeutet die Dynastie den Sinn seines Lebens, und auf ihm,
auf Domitian, steht die Dynastie. Titus hat zwar seine Tochter
Julia, aber, und wenn er sich noch tausend Frauen ins Bett holt, er
hat keine Hoffnung mehr, noch einen Sohn zu zeugen.
Domitian zögert, bevor er zu
sprechen anfängt. Er ist willens, scharfe, heftige Dinge zu sagen,
legt aber Gewicht auf Höflichkeit der Form. Auch weiß er, daß sich
in der Erregung, wenn er laut wird, seine Stimme leicht
überschlägt, darum will er ruhig bleiben, leise. Er verzeihe dem
Bruder, sagt er endlich, daß der ihm nicht schon heute die Titel
gegeben habe, die ihm zukämen. Daran müsse man sich wohl erst
gewöhnen.
Titus, aus engen, nach innen
gerichteten Augen, schaut dem
Domitian aufmerksam auf den Mund. »Willst du
mir nicht erklären, welche Titel?« fragt er, ehrlich
verwundert.
Er sei überzeugt, erwidert
Domitian, der Mann, dessen Leiche unten in der Halle aufgebahrt
sei, habe ihn zum Alleinerben eingesetzt. Er habe oft mit ihm
darüber gesprochen, und er wisse genau, das Schriftstück sei auch
ausgefertigt worden. Lediglich damit dieses Testament nicht an den
Tag komme, habe Titus ihn vom Sterbelager des Vaters ferngehalten.
Er bringt das mit leiser Stimme vor, errötend, manchmal ein wenig
stotternd, mit sehr höflichen Gebärden.
Titus hört ihn an, immer ruhig
und aufmerksam; ja er macht sich sogar Notizen, stenographiert, wie
es seine Gewohnheit ist, einige Sätze mit. Da Domitian lange nicht
zu Ende kommt, wischt er mechanisch mit dem Schreibgriffel wieder
aus, was er sich notiert hat, glättet das Wachs. »Hör einmal,
Bübchen«, redet er dem Domitian, wie der endlich fertig ist,
freundlich zu, »ich habe dich zu mir bitten lassen, um mich mit dir
offen auszusprechen. Wollen wir nicht wie vernünftige, erwachsene
Männer miteinander reden?« Er ist fest entschlossen, auf den Unsinn
nicht einzugehen, den der Bruder vorgebracht hat. Trotzdem, gegen
seinen Willen, hat auch er sich gerötet. Das haben sie von der
Mutter, daß sie ihre Erregung nicht verbergen können.
Domitian hat mit ängstlicher
Spannung gewartet, wie Titus seine Frechheit aufnehmen werde. Er
hatte gefürchtet, Titus werde mit schmetternder Stimme gegen ihn
loslegen, und dieses soldatische Schmettern machte ihn immer nervös
und schüchtern. Daß der Bruder leise blieb, war ihm eine
Bestätigung. Die Methode, die Marull ihm angeraten hatte, war schon
die rechte. Er habe es für seine Pflicht gehalten, fuhr er also
fort, immer mit der gleichen Höflichkeit, den Bruder über seinen
Standpunkt nicht im unklaren zu lassen. Er werde auch vor Dritten
mit seiner Meinung über das beseitigte Testament nicht
zurückhalten. Wenn anders Titus Schwierigkeiten vermeiden wolle,
dann möge er ihm zumindest die Mitregentschaft einräumen.
Titus ist müde. Wozu das lange,
unnütze Gerede? Es gibt soviel zu tun. Die Minister verlangen
Entscheidungen, der Senat, die Generäle, die Gouverneure der
Provinzen. Die Zeremonien der Trauerwoche, die Vorbereitungen der
Leichenfeier sind anstrengend, zeitraubend. Begreift Bübchen
wirklich nicht, daß er den aufrichtigen Wunsch hat, sich mit ihm zu
verständigen? Ach, wie gerne würde er ihn an der Herrschaft
teilnehmen lassen. Aber es ist leider unmöglich, mit ihm
zusammenzuarbeiten. Bübchen ist so heftig und von so böser Art, daß
er binnen drei Wochen zerschlüge, was man in der mühevollen Arbeit
von zehn Jahren aufgebaut hat.
Domitians Augen sind jetzt auf
dem Bild, auf dem großen Bild der Berenike. Titus habe einigen
Grund, meint er, immer mit der gleichen, höflichen Tücke, sich gut
mit ihm zu stellen. Er werde es nicht leicht haben, die Dame gegen
Senat und Volk durchzusetzen. Ohne dem Bruder zu nahe zu treten,
glaube er, daß er selber sich bei den Römern größerer Popularität
erfreue. Er gestatte sich, daran zu erinnern, daß sie vermutlich
nicht hier säßen, wenn nicht seinerzeit er, Domitian, die Stadt
gehalten hätte.
Titus hörte sich das wilde,
phantastische Gerede aufmerksam an. Richtig daran ist nur so viel,
daß vor zehn Jahren, als er und Vespasian noch mit dem Heer im
Osten standen, Bübchen sich in Verkleidung aus dem belagerten
Capitol gerettet hat. »Darf ich dich fragen«, erwidert er, und
jetzt ist in seiner Stimme jenes Schmettern, das Domitian nicht
liebt, »was deine damalige Flucht aus dem Capitol mit Berenike zu
tun hat?«
Bübchen errötet tief. Es ist
Marull, der ihm empfohlen hat, sowie es brenzlig wird, Berenikes
Namen zu nennen, an diesen wunden Punkt des Titus zu rühren. Im
übrigen fühlt er sich in der Sache mit der Jüdin im Recht, hier ist
er der Sachwalter Roms. Natürlich kann Titus mit seiner Berenike
schlafen, sooft es ihm Spaß macht. Aber daß die Beziehungen des
Bruders zu der Jüdin so öffentlich sind, das gibt Ärgernis, und die
Dynastie, gerade weil sie jung ist, muß darauf achten, Skandal zu
vermeiden. Lange und ausdrucksvoll beschaut er das Bild. Dann, noch
höflicher und zeremoniöser als vorher, führt er aus: »Sie werden
eine jüdische Kaiserin nicht durchsetzen können, Bruder. Vielleicht
wird man sie Ihnen verzeihen, wenn es auch eine römische Kaiserin
gibt. Vielleicht wird man Ihre Berenike neben meiner Lucia
ertragen. Sie sehen, nüchternste Vernunft verlangt, daß Sie mich
zumindest zum Mitregenten machen.«
Das ist richtig. Die Dynastie ist
unpopulär. Berenike wird Anstoß erregen. Und mit Lucia, Bübchens
Frau, der Tochter des überaus populären Feldmarschalls Corbulo,
kann man sich sehen lassen, Rom liebt sie. Aber hat Titus nicht
Zeit? Hat er nicht die Armee hinter sich? Wenn man ihm nur Zeit
läßt, dann schluckt die Masse am Ende alles. Immerhin, gerade weil
dieses Argument Domitians das erste ist, das Sinn hat, ärgert es
ihn. Mit harten, engen Augen sieht er auf den Bruder, sein rundes,
offenes Gesicht ist jetzt sehr rot. »Laß das meine Sorge sein«,
herrscht er ihn an. »Glaube mir, ich werde Maßnahmen treffen, die
mir Popularität unter allen Umständen sichern.«
Domitian, leidend unter dem
Geschmetter, zuckt sichtlich zusammen, ist eingeschüchtert. »Aber
vielleicht gestatten Sie, daß ich an Vaters Beerdigung teilnehme«,
sagt er mit gefärbter Demut. »Was heißt das?« ärgert sich Titus.
»Natürlich wirst du neben mir gehen hinter der Bahre.« – »Das ist
freundlich von Ihnen«, bedankt sich immer mit der gleichen
gefärbten Demut Domitian. »Und haben Sie auch angeordnet, daß die
Beutestücke aus dem Jüdischen Triumph mitgeführt werden?« erkundigt
er sich besorgt. Diese Frage ist hinterhältig. Denn man führt im
Leichenzug das mit, was an die Leistungen des Toten erinnert; die
Beute aber des jüdischen Krieges ist von Titus errungen worden,
nicht von Vespasian.
Titus stand jetzt am
Schreibtisch. Er war ein gutes Stück kleiner als der Bruder, aber
nun war auch er gereizt, und er schaute so verächtlich auf Bübchen,
daß der den Blick nicht aushielt. Titus dachte an den Toten, der
unten in der Halle lag, im Purpur des Triumphators; an seinem
Prunkbett aber zogen die Römer vorbei, in endlosem Zug. Was der
also wohl, was der Vater dem Früchtchen geantwortet hätte, bedachte
Titus. Und er fand die Antwort. »Man hat mir deine Rechnungen auf
den Tisch gelegt«, sagte er kalt, sachlich. »Allein auf der Domäne
am Albanersee hast du eine Million zweihunderttausend neue
Schulden. Hat in Vaters verlorenem Testament auch was über deine
Schulden gestanden?« Domitian schluckte. Der Vater hatte ihn immer
knapp gehalten, so daß er die Villa und das Theater am Albanersee,
die Prunkbauten, die er für Lucia begonnen hatte, in den Anfängen
hatte steckenlassen müssen. »Wollen wir nicht endlich ernsthaft
reden?« begann von neuem, veränderten Tones Titus. »Ich will
Frieden mit dir, ich will Freundschaft. Du sollst Geld haben, du
sollst auf der Domäne bauen können, du sollst für Lucia haben, was
du willst. Aber nimm Vernunft an. Gib Frieden.«
Domitian ist stark gelockt. Aber
er weiß, Titus braucht ihn, auf ihm steht die Dynastie, Marull hat
ihm versichert, er könne viel mehr aus ihm herauspressen. »Bedenken
Sie, bitte«, erwidert er, »daß mir rechtens der Erdkreis gehört.
Würden Sie sich an meiner Stelle mit einer Handvoll Sesterzien
abspeisen lassen?« Titus, lächelnd, hat eine Anweisung geschrieben
und eine Quittung. »Willst du das Geld, oder willst du es nicht?«
fragt er. »Natürlich will ich das Geld«, mault stirnrunzelnd
Bübchen, unterschreibt die Quittung und schiebt die Anweisung in
den breiten Purpursaum seines Galakleides.
Titus fühlt sich erschöpft. Die
ganzen letzten Jahre stak diese Müdigkeit in ihm. Er hat so lange
auf die Herrschaft gewartet. Oft hat er mit dem Gedanken gespielt,
sie mit Gewalt an sich zu reißen, es hat Überwindung gekostet, zu
warten, er war klug, er hat sich überwunden. Er hat gehofft, wenn
er erst nach Recht und Gesetz Herr der Welt sein wird, dann wird
seine Müdigkeit vorbei sein, dann wird ein großes Glücksgefühl sie
wegschwemmen. Und nun ist es soweit, nun liegt der Alte unten in
der Halle. Aber die Müdigkeit ist nicht fort, nach wie vor füllt
eine tiefe Gleichgültigkeit ihn an; dieses erste Erreichnis erwies
sich als eine Enttäuschung. Jetzt hat die ganze Welt nur noch zwei
Lockungen für ihn. Mit Berenike zusammen zu sein, mit Nikion,
verknüpft, für immer, ist die eine. Die andere ist, diesen hier zu
gewinnen, den Bruder. Sollte er wirklich nicht fähig sein, das zu
erreichen? Er hat die Armee herumgekriegt, hat bewirkt, daß selbst
sein nüchterner, zugesperrter Vater auf seine Art ihm zugetan war,
daß Nikion trotz der Verbundenheit mit ihrem uralten Volk ihm die
Zerstörung des Tempels verzieh und ihn liebt. Versagt er so übel
hier vor diesem jungen Menschen? Was soll das kleinliche,
kümmerliche Gezänk? Er steht auf, tritt zu dem Sitzenden, legt ihm
den Arm um die Schulter. »Nimm Vernunft an, Bübchen«, bittet er
nochmals. »Mach keine Geschichten, die zuletzt nur dich selber
schädigen. Zwing mich nicht, Härte gegen dich anzuwenden.« Er macht
ihm neue Angebote, ihm zu beweisen, wie ehrlich er es mit ihm
meint. Er will, um das Volk endgültig für die Dynastie zu gewinnen,
öffentliche Bauten größten Stiles errichten, er will Spiele geben,
wie man sie noch niemals gesehen hat. Bübchen, bietet er ihm an,
soll für viele dieser Bauten, soll für die wichtigsten dieser
Spiele als Protektor zeichnen und die Ehre davon haben.
Domitian hat die Oberlippe noch
mehr vorgewölbt, er sitzt steif und ablehnend da. Sicher sind das
Fallen, die Titus ihm legt. Das Volk endgültig für die Dynastie
gewinnen will er? Aha, er sieht ein, wie wenig Anhang er im Volk
hat. Er braucht ihn, er braucht den Namen des Jüngeren. Bauten
großen Stiles errichten will er? Aha, er will ihm seine guten
Baumeister abspenstig machen, die Grovius und Rabirius. »Ich will
Mitregent sein oder nichts«, sagt er feindselig,
starrköpfig.
Titus hört ihn an. Wut steigt in
ihm hoch. Aber er darf sich nicht hinreißen lassen. Wenn er heftig
wird, verdirbt er die Sache vollends. Um ruhig zu bleiben, sagt er
sich vor, was alles für den Bruder spricht. Man hat ihn, als er ein
Knabe war, elend und knapp gehalten; dann plötzlich, er war kaum
achtzehn, fiel ihm die Stellvertretung des Vaters in Rom zu, das
Regiment der halben Welt. Kein Wunder, daß einer da das
Gleichgewicht verliert. Bübchen ist nicht unbegabt. Er hat Ideen,
er hat Elan. Das Ungestüm, mit dem damals der Achtzehnjährige die
junge, strotzende Lucia dahin brachte, sich scheiden zu lassen und
ihn zu heiraten, war imposant. Imposant auch bei aller
Überflüssigkeit der Schneid, mit dem er damals zur Armee nach
Gallien aufbrach. Gibt es denn kein Mittel, den Bruder spüren zu
lassen, wie läppisch sein Mißtrauen ist, wie überflüssig seine
Quertreibereien?
Nein, es gibt keines. Bübchen
spürt nichts. »Du wirst natürlich bei der Leichenfeier deinen
Demetrius Liban beschäftigen?« fragt er bösartig. Titus hat
geschwankt, ob er das tun soll. Jetzt, gereizt durch den Ton des
Bruders, kann er sich trotz aller Mühe nicht länger zähmen. »Ja«,
sagt er scharf, ich werde mir gestatten, diesen Künstler
zuzuziehen.« – »Du weißt«, erwidert giftig Domitian, und jetzt ist
es aus mit seiner Höflichkeit, seine Stimme kippt, »daß Vater den
Favor genommen hätte. Keinen anderen. Deinen Juden mit seinen
vulgären Übertreibungen bestimmt nicht.« – »Dein Favor ist wohl
diskret?« höhnt Titus zurück. »Das Couplet von den Schweinen ist
wohl diskret?« Trotz des Schmetterns läßt Bübchen sich jetzt nicht
einschüchtern. »Das stand zu erwarten«, erwidert er, »daß dein
orientalischer Geschmack an den Schweinen Anstoß nimmt.«
Den Titus wurmt es, daß er auf
den kindischen Ton des Bruders einging, daß er nicht hat
durchhalten können. Er macht einen letzten, großen Versuch, Bübchen
zu gewinnen. »Ich kann dich nicht zum Mitregenten machen«, sagt er,
die Augen nach innen gestellt, versunken, gequält geradezu. »Du
kennst die Gründe. Aber alles sonst will ich dir geben. Heirate
Julia.«
Domitian sieht auf. Das ist mehr,
als er erwartet hat. Wenn dieser da ihm die Tochter zur Frau geben
will, statt ihn umbringen zu lassen, so bedeutet das allerhand. Wer
kann wissen, ob Titus immer von der gleichen Langmut bleiben wird,
ob er sich nicht doch eines Tages entschließt, sich des
gefährlichen Nebenbuhlers zu entledigen, ihn zu beseitigen. Er,
Domitian, an seiner Stelle hätte es längst getan. Heiratet er
Julia, dann ist ihm Leben und Anspruch auf die Nachfolge gesichert.
Dazu ist Julia schön. Blond, fleischig, weißhäutig, von einer
lässigen, reizvollen Trägheit. Eine kurze Zeit schwankt er. Doch
sehr bald wieder fällt ihn das alte Mißtrauen an. Der andere will,
daß er Julia heirate, sich von Lucia scheiden lasse? Aha, Titus
will Lucia für sich selber, will zeigen, daß ihm die Frau, die der
Bruder geheiratet hat, als Freundin gerade recht ist. Gefehlt, mein
Lieber. Darauf fällt dir ein Domitian nicht herein.
Er stellt sich vor, wie er seinen
Freunden, dem Senator Marull und seinem Adjutanten Annius, diese
Unterredung schildern, wie er vor allem seiner geliebten Lucia
triumphierend davon erzählen wird. Bis in jede Einzelheit ausmalen
wird er ihr, wie sich der Bruder vor ihm abgezappelt hat, wie er
seine List durchschaut hat und ihn hat abfahren lassen. Lucia wird
lachen; sie kann gut lachen, und wer sie zum Lachen bringt, hat
viel bei ihr gewonnen. Er ist sehr mißtrauisch, die Menschen sind
Geschmeiß, davon ist er zutiefst überzeugt, aber wenn Lucia lacht,
dann ist er glücklich. Vielleicht, wenn sie gut und zustimmend über
seine Erzählung lacht, läßt sie ihn auch einmal wieder die Narbe
unter ihrer linken Brust küssen, deren Berührung sie ihm so oft
versagt. »Ich anerkenne Ihre guten Absichten, Bruder«, erklärt er
endlich, sehr höflich. »Allein das ändert nichts an der Rechtslage.
Die Unterschlagung des Testaments bleibt ein Verbrechen, das
vielleicht vergeben, aber durch solche Angebote nicht gesühnt
werden kann. Ich behalte mir alles Weitere vor«, schließt er,
grüßt, geht.
Als er dann, am dreißigsten Juni, hinter der
Bahre des Vaters einherschritt, fühlte er sich nicht unzufrieden.
Daß man zum Beispiel die Beutestücke aus dem jüdischen Krieg
mittrug, die Schaubrottische, den Goldenen Leuchter, daß man also
der Wahrheit die Ehre gab und den Vespasian, nicht den Titus als
den Besieger Judäas anerkannte, das hat er erwirkt, das hat der
Bruder ihm konzedieren müssen. Je länger die Zeremonie dauerte, so
mehr füllte ihn Befriedigung. Es ist gut, daß es mit dem Alten aus
ist. Darin ist er mit Titus einig, daß man jetzt die Würde der
Dynastie ganz anders wahren kann. Der Tote da vor ihm freilich, wie
er auf seinem hohen Traggerüst halb sitzend liegt, in der Haltung
eines Lebenden, die Wange in eine Hand gestützt, ist trotz des
kaiserlich purpurnen Kleides nicht eben sehr würdig. Doch schon die
Prozession der vorausschreitenden Ahnen ist eine höchst
eindrucksvolle Schaustellung. Denn jetzt haben er und Titus freie
Hand. Die Schauspieler, die dort vorne, eine endlose Reihe, zu Fuß,
zu Pferd, auf Ruhebetten gelagert, die Ahnen verkörpern, ihre
Masken tragend, stellen nicht den Inhaber des Inkassobüros dar und
nicht den des Vermittlungsbüros, wohl aber Feldherren, Oberrichter,
Präsidenten, und ihr Zug mündet aus in Herkules, den Ahnherrn des
Geschlechts. Mögen die Beweisstücke für diese Vorväter zweifelhaft
sein: wenn man sie den Massen nur oft genug zeigt, dann glauben sie
daran; er selber beginnt schon, daran zu glauben.
Neben dem kräftigeren, jüngeren
Bruder wirkt Titus ein wenig müde. Ab und zu murmelt er mit den
Chören: »O Vespasian, o mein Vater Vespasian«; aber es bleibt ein
mechanisches Bewegen der Lippen. Er leidet unter der Hitze, unter
seiner Schlaffheit. Vielleicht hat Bübchen ihm ein Gift eingegeben,
ein schleichendes, langsam wirkendes. Sein Arzt Valens freilich
bestreitet es, und Valens ist vertrauenswürdig. Vielleicht ist
wirklich seine Erschöpfung einfach die Konsequenz seines wilden,
rastlosen Lebens. Vielleicht auch die Folge einer Krankheit, die
eine Frau ihm angehängt hat. Vielleicht auch weder Gift noch
Krankheit, sondern einfach eine Strafe des jüdischen
Gottes.
Neun Jahre sind es jetzt her, daß
man das Haus dieses Gottes verbrannt hat. Nicht er: man. Er hat
Berenike versprochen, den Tempel zu schonen, und er hat das Seine
dazu getan. Wenn es am Ende doch anders kam, dann trägt er nicht
mehr Schuld daran als sein Vater, und wenn er jetzt die Beute von
damals, die Tempelgeräte, mit im Leichenzug führen läßt, so gibt er
mit Recht dem Toten die Ehre des Triumphs, wälzt aber mit dem
gleichen Recht die Verantwortung für die Lästerung des jüdischen
Gottes auf ihn ab.
Er erinnert sich genau, wie er
damals dem Ersten Zenturio der Fünften den Tagesbefehl für den
fatalen neunundzwanzigsten August übergab. »Belästigt der Gegner
die Lösch- und Aufräumekommandos, so ist er mit Energie abzuweisen,
doch unter Schonung der Baulichkeiten, soweit sie zum eigentlichen
Tempelhaus gehören«, so hat er es formuliert. Er ist gedeckt. Das
Kriegsgericht hat alles festgestellt. Man hat der Ersten Kohorte
der Fünften Legion die Unzufriedenheit der Heeresleitung
ausgesprochen, weil sie den Brand nicht verhindert hat. Er braucht
nicht lange einen guten Advokaten, um sich zu
rechtfertigen.
Eine andere Frage bleibt
allerdings, ob auch der beste Redner und listigste Advokat, ob
selbst ein Marull oder Helvid ihn vor diesem verdammt listigen
östlichen Gott, vor diesem unsichtbaren Jahve, zu einem Freispruch
verhelfen könnte. Der Zenturio der Fünften hat vorschriftsmäßig den
Tagesbefehl wiederholt. Er sieht ihn noch, diesen Hauptmann Pedan,
wie er damals vor ihm stand, fleischig, mit nacktem, rosigem
Gesicht, gewaltigen Schultern, mächtigem Nacken, mit seinem
lebendigen und seinem Glasauge. Er hat es noch gut im Ohr, wie der
Hauptmann damals, wiederholend, den Befehl mit seiner quäkenden
Stimme vorlas. Dann, unmittelbar nachdem Pedan geendet hatte, war
ein winziges Schweigen gewesen. Er wußte noch genau, was er während
dieses winzigen Schweigens gespürt hatte. Daß man das da
herunterreißen müsse, das Weißgoldene, den Tempel dieses
unheimlichen, unsichtbaren Gottes, daß man ihn unter die Füße
stampfen müsse, das hat er gespürt. Jerusalem muß hin sein,
Hierosolyma est perdita, die Initialen davon: Hep, Hep, das hat er
damals gespürt, genau wie seine Soldaten. Aber was er gespürt hat,
ist seine Sache, Gedanken sind unsichtbar, nur für seine Taten muß
man einstehen. Möglich freilich, daß dieser listige Jahve es anders
hält, der ja leider aus seiner Unsichtbarkeit heraus alles merkt.
Vielleicht ist es deshalb, daß er sich jetzt an ihm rächt und ihn
krank macht und ihm alle Tatkraft und Freude nimmt. Vielleicht wäre
es klüger, an Stelle des Doktor Valens einen guten jüdischen
Priester zu Rate zu ziehen. Er muß das mit seinem Juden Josef
bereden.
Ach, wenn er es mit Berenike
bereden könnte. Wenn er sie da hätte. Es ist ihrethalb, daß er
diesen Feuertelegrafen eingerichtet hat. Sicher weiß man es längst
in Judäa, daß der Alte tot ist. Sicherlich auch hat es Berenike in
der Einsamkeit ihrer judäischen Besitzungen erfahren. Sicherlich
weiß sie, wie sehr er sie braucht, sicher ist sie längst
aufgebrochen. »O Vespasian, o mein Vater Vespasian«, bewegten sich
seine Lippen. Aber seine Gedanken sind bei Berenike. Er berechnet,
daß sie bei gutem Wind in zehn Tagen schon hier sein
kann.
Endlich ist man auf dem Forum.
Man macht halt vor der Rednertribüne. Titus ersteigt die Bühne. Er
ist ein guter Redner, Lobreden auf Tote sind dankbare Aufgaben, er
ist gut vorbereitet. Auf einem in der Falte seines Ärmels
versteckten Täfelchen hat er stenographische Notizen. Seiner Sache
sehr sicher also, ja mit einer gewissen Freude, begann er zu spre
chen. Doch merkwürdigerweise wich er sehr bald ab von dem, was er
sagen wollte. Er sagte fast nichts über den englischen Feldzug des
Toten und wenig über die Errettung des Reichs und die
Stabilisierung der Wirtschaft. Mit schmetternder Kommandostimme
aber, in langen Sätzen, pries er, wie der Tote Jerusalem, die
niemals eroberte Stadt, genommen und zerstört habe. Verwundert
hörten es die Römer, Bübchen grinste geradezu. Auch die Juden
standen erstaunt. Warum wollte es der neue Kaiser nicht wahrhaben,
daß er der Zerstörer des Tempels war? Bedeutete es für sie Gutes
oder Schlechtes, daß der neue Herr seine eigenen Taten zugleich mit
der Leiche verbrennen wollte?
Auf dem Marsfeld war in Pyramidenform ein
ungeheurer Scheiterhaufen errichtet, mit sieben sich verjüngenden
Stockwerken. Die Pyramide war mit goldbestickten Decken bekleidet,
Elfenbeinreliefs und Gemälde verherrlichten die Taten des Mannes,
der jetzt im Begriff war, ein Gott zu werden. Gaben, die Senat und
Volk dem Toten gespendet hatten, waren über die sieben Stockwerke
verteilt, Speisen, Kleider, Schmucksachen, Waffen, Geräte, was
immer ihm im Jenseits lieb und nützlich sein mochte. Weithin
duftete der Scheiterhaufen nach Wohlgerüchen, nach Gewürz,
Weihrauch, Balsam, auf daß der Gestank des Brandes übertäubt
werde.
Die Dächer der Gebäude ringsum,
der Theater, Badeanstalten, Wandelhallen, waren bedeckt mit
Zuschauern. Vier große Tribünen waren errichtet für diejenigen, die
man am Zug nicht hatte teilnehmen lassen können, weil die
Entfernung vom Palatin zum Marsfeld nicht lang genug war, alle
Berechtigten zu fassen.
Auf einer der Tribünen hatte man
den Vorstehern der sieben jüdischen Gemeinden Roms Plätze
angewiesen. Zu ihnen hatte sich Claudius Regin gesellt. Es waren
sehr gute Plätze, und die jüdischen Herren betrachteten das als
günstiges Zeichen.
Es war bitter notwendig, daß
endlich freundlichere Winde kamen. Die Regierung hatte seinerzeit
die Juden Roms den Aufstand in Judäa nicht entgelten lassen.
Dennoch war mit der Zerstörung ihres Staates und ihres Tempels
schwerer Kummer über sie hereingebrochen. Obwohl viele von ihnen
schon seit fast anderthalb Jahrhunderten hier in Rom saßen, hatten
sie nie aufgehört, ihr Judäa als ihr Heimatland zu betrachten, und
alle paar Jahre waren sie, frommes Glück im Herzen, zum Passahfest
nach Jerusalem gewallfahrtet, zum Hause Jahves. Jetzt waren sie für
immer dieser ihrer wahren Heimat beraubt. Nicht nur das: sie wurden
Tag um Tag auf eine besonders demütigende Art an die Zerstörung
ihres Heiligtums erinnert. Der Mann nämlich, dessen Leiche man
jetzt hierhertrug, war nicht geneigt gewesen, ihnen die kleine
Abgabe zu schenken, die sie früher für den Tempel in Jerusalem
gezinst hatten. Er hatte vielmehr voll bösartigen Witzes verordnet,
daß die fünf Millionen Juden des Reiches diese Steuer nunmehr für
den Kult des Capitolinischen Jupiter zu entrichten hätten. Bei
Todesstrafe war es ihnen verboten, sich dem Areal ihres eigenen,
verwüsteten Tempels im Umkreis von zehn Meilen zu nähern: in
höhnischem Glanz aber hob sich vor ihren Augen, von ihrem Geld neu
errichtet, das Heiligtum der Capitolinischen Trinität, das Haus
jenes Jupiter, der nach der Meinung dieser Römer ihren Jahve
besiegt und in den Staub getreten hatte.
Und nicht nur diese schimpfliche
Sondersteuer drückte sie. Da war noch die Frage der Emigranten aus
Judäa. Der Krieg hatte eine ungeheure Menge Juden von dort
weggespült. Die östlichen Provinzen mit ihren großen Städten
Antiochien und Alexandrien hatten Hunderttausende aufgenommen; aber
ihrer dreißigtausend etwa waren bis in die Hauptstadt gelangt. Es
gab in Rom Juden von großem Reichtum und großem Einfluß, doch die
Mehrzahl waren Proletarier, sie wohnten kümmerlich in freiwilligem
Ghetto auf dem rechten Tiberufer, sie erregten durch ihr Elend und
ihre Absonderung Unwillen und Gelächter, und der neue Zustrom
zumeist bettelhafter Emigranten war den Altangesessenen
unwillkommen. Dazu kam, daß zahllose Juden durch den Krieg
Leibeigene geworden waren; noch immer bestand ein großer Teil des
Menschenmaterials, das den Vorrat für die Tierhetzen und die andern
blutigen Spiele der Arena bildete, aus Juden.
Selbstverständlich versuchte man
von diesen Leibeigenen so viele wie möglich freizukaufen; allein
das erforderte große Mittel, und wen man freigekauft hatte, der lag
einem auf der Tasche. Dabei schickten die jüdischen Gemeinden
Alexandriens und Antiochiens immer wieder Delegierte, nun möchten
doch auch die römischen Juden endlich größere Summen für die
gemeinsamen Hilfskomitees stiften. Richtig war, daß jene östlichen
Gemeinden für die Kriegsopfer ungleich höhere Beträge aufgebracht
hatten als Rom. Aber Rom konnte eben nicht mehr leisten; es war
schmerzhaft, immer wieder daran erinnert zu werden, wieviel reicher
und mächtiger die östlichen Juden waren als die westlichen, immer
wieder zu spüren, mit welchem Hochmut sie auf die Westjuden
herabschauten.
Heute aber quälten diese Gedanken
die Juden der Stadt Rom nicht so hart wie sonst. Vespasian war tot.
Auf der Tribüne des Marsfeldes saßen die Repräsentanten ihrer
sieben Gemeinden, ihre Präsidenten, Syndici und Doktoren, und
warteten darauf, daß er unter die Götter eingehe. Sie versprachen
sich manches von der Zeit, da dieser Vespasian endlich ein Gott und
Titus Kaiser sein wird. Das Bild der Berenike hing groß und jedem
sichtbar im Empfangsraum des neuen Herrn, sehr bald wird die
jüdische Prinzessin auf dem Palatin einziehen. Sie wird, eine neue
Esther, ihr Volk aus den Demütigungen retten, die seine Feinde ihm
antun.
Die sieben Gemeinden liebten
einander nicht. Die eine war modernistisch, liberalistisch, eine
andere zählte nur Leibeigene und Freigelassene zu ihren
Mitgliedern, wieder eine andere nur römische Bürger und große
Herren; dennoch waren sie alle, Vornehme und Proletarier, freier
Denkende und streng Ritengläubige, verbunden durch den gemeinsamen
Schmerz um den verlorenen Staat, durch die gemeinsame Schmach der
Judensteuer und der Eintragung in besondere Steuerlisten und jetzt
durch die gemeinsame Hoffnung auf Umschwung.
Die jüdischen Herren auf der
Tribüne saßen in einer großen Gruppe. Cajus Barzaarone, der
Präsident der AgrippenserGemeinde, der mitgliederreichsten, ist
nicht so zuversichtlich wie die übrigen Herren. Er hat viel erlebt
und viel gesehen. Jahve ist ein gütiger Gott und ziemlich tolerant,
aber der Kaiser, jeder Kaiser, greift oft ein in die Rechte Jahves
und macht es den Juden nicht leicht. Der alte Herr wiegt den klugen
Kopf. Es ist schwer, ein guter Jude und zugleich ein guter Römer zu
sein. Es ist schwer für ihn selber, seine Möbelfabrik, die erste in
Rom, auf der Höhe und zugleich alle Gebote Jahves zu halten. Sein
Vater, den er sehr liebte, hat sein Alter vergällt gesehen durch
die inneren Konflikte, die diese Situation mit sich brachte. Es
wird auch diesmal, erklärt er, nicht so einfach sein, wie die
Herren es sich vorstellen. Es wird wahrscheinlich noch viel Wasser
den Tiber hinunterfließen, ehe die Prinzessin Berenike Kaiserin
ist, und wenn sie es wirklich wird, wer weiß, wieviel von ihrem
Judentum sie dafür wird preisgeben müssen. Man hat da
Beispiele.
Alle wissen, an wen der kluge,
kopfwiegende Herr denkt. Der Schriftsteller Josef Ben Matthias ist
den Juden Ursache ständigen Zankes und Ärgernisses. Dieser Mann,
sein Leben, sein Buch, sein vielfacher Verrat und sein vielfaches
Verdienst um die Judenheit, bleibt ihnen ein Rätsel. Das regierende
Kollegium von Jerusalem hat ihn seinerzeit in den Bann getan.
Einige von den Doktoren in Rom sind der Ansicht, nach dem Untergang
des Tempels gelte dieser Bann nicht mehr. Aber den meisten Juden
der Stadt ist Josef gleichwohl ein Abtrünniger, und sie halten,
wenn er in ihre Nähe kommt, die sieben Schritte Abstand wie vor
einem Aussätzigen. So auch hält es Cajus Barzaarone.
»Ich glaube«, sagt der Finanzmann
Claudius Regin, und die schlauen, schläfrigen Augen unter seiner
vorgebauten Stirn schauen gerade und unverwandt in die listigen,
beweglichen des Möbelhändlers, »ich glaube, es wird sich jetzt
zeigen, daß Doktor Josef Ben Matthias sein Judentum nicht vergessen
hat.« Er gibt Josef mit Absicht seinen jüdischen Namen und Titel.
Er möchte die Gelegenheit benützen, für ihn bei den Juden etwas
herauszuschlagen. Wahrscheinlich weiß der sehr weltkundige Herr
besser als die Männer hier auf der Tribüne um die vielen brüchigen
Stellen im Wesen des Josef, und oft in seiner mundfaulen Art gibt
er ihm das zu verstehen. Gleichwohl hat er eine aus den Tiefen
kommende Neigung für ihn, er hilft ihm, wo er kann, und hat als des
Josef Verleger einen großen Teil seines Ruhmes
geschaffen.
Die Juden auf der Tribüne hören
aufmerksam zu, wie Claudius Regin zu sprechen beginnt. Er betont
zwar immer, er gehöre nicht zu ihnen, er sei froh, daß sein
sizilischer Vater dem Drängen seiner jüdischen Mutter widerstehend,
ihn nicht habe beschneiden lassen. Aber, alle wissen es, wenn
einer ein Freund der Juden ist, dann dieser
Claudius Regin. »Ich glaube«, fährt er fort, »es wäre gut, den
Doktor Josef Ben Matthias zu unterstützen, wenn er sein Judentum
beweisen will.« – »Kann man einen dabei unterstützen?« brummelt
ablehnend Cajus Barzaarone. Aber Claudius Regin weiß, die Juden auf
der Tribüne werden sich seine Worte überlegen.
Der Zug nahte, umkreiste das
Marsfeld. Die auf der Tribüne erhoben sich, den Arm mit der flachen
Hand ausstreckend, grüßten den toten Kaiser. Aber worauf sie
warteten, alle, gespannt, das war nicht der tote, das war der
lebendige Vespasian, der Schauspieler, ihr Schauspieler, Demetrius
Liban, der Jude. Und da kam er auch schon, von weit her erkannte
man sein Nahen an dem stürmischen Gelächter, das ihm voranging.
Zwischen dem Senat und den Gruppen des Zweiten Adels schritten sie,
der ganze Trauerzug der Ahnen, ein zweites Mal, dargestellt
wiederum von Tänzern und Schauspielern, aber Masken und Gesten
schärfer jetzt, grotesk, ins Komische verzerrt. Und da, endlich,
als ihr letzter, Vespasian. Unser Demetrius Liban.
Nein, das war nicht Demetrius,
das war wirklich Vespasian. Ein Jammer, daß der Tote sich nicht
mehr selber sehen kann, es wäre ihm ein Hauptspaß. Mit derben,
kräftigen Schritten ging Demetrius-Vespasian einher, seine Lippen
waren vielleicht ein Winziges länger, seine Falten ein Winziges
härter, ein Winziges breiter seine Stirn, ein Winziges nüchterner,
vulgärer das ganze Gesicht als das des Toten da vorne. Aber gerade
darum war er doppelt Vespasian. Leiblich gemacht war den
Hunderttausenden der ganze Kontrast zwischen der Würde und Mystik
römischer Kaisermacht und der bäurisch rechenhaften Persönlichkeit
ihres letzten Trägers. Jubelnd begrüßten sie ihren Kaiser, wie er
da zwischen ihnen einherschritt, Spott austeilend, Spott
hinnehmend. Er sei vergnügt, sagte er den Massen am Straßenrand; es
sei heute ein heißer Tag, das
mache durstig, das sei gut für die
Latrinensteuer.
Seinen Hauptspaß aber hielt
Demetrius Liban noch zurück. Soll er ihn überhaupt machen? Immer
wieder faßte ihn Furcht vor seinem eigenen Mut. Jetzt aber sah er
auf einer der Tribünen den Kollegen Favor, den Ersten Schauspieler
der Epoche, den Nichtskönner, um dessentwillen dieser Tote ihn aus
dem Licht in den Schatten gedrängt hat. Da packte es ihn, und das
Herz trat ihm auf die Zunge. Mit derben Schritten machte er sich
Bahn bis zum Intendanten der Schauspiele, wartete, bis es ganz
still wurde, und, auf den Scheiterhaufen und die Pracht des
Leichenzuges weisend, mit lauter, knarrender Stimme, fragte er:
»Sagen Sie, Herr, wieviel haben Sie denn nun für den ganzen Zauber
ausgeworfen?« – »Zehn Millionen«, antwortete wahrheitsgemäß der
überraschte Intendant. Da grinste Demetrius-Vespasian schlau über
sein hartes Bauerngesicht, stieß den andern in die Seite, streckte
ihm die Hand hin, blinzelte, schlug ihm vor: »Gebt mir
hunderttausend und schmeißt mich in den Tiber.«
Einen Augenblick stutzte man,
dann aber pruschte man heraus, die Zuschauer am Straßenrand, die
Senatoren auf der Tribüne; selbst die spalierbildenden Soldaten der
Leibgarde konnten sich des Lachens nicht enthalten. Dröhnendes
Gelächter war von einem Ende des Platzes bis zum andern.
Den Juden auf der Tribüne aber,
trotzdem sie sich der anstekkenden Heiterkeit nicht entzogen, kamen
sogleich Bedenken. Liban ist ein ausgezeichneter Schauspieler,
meinten die einen, sein Witz ist gut, und er darf ihn sich leisten.
Nein, meinten die andern, ein Jude muß Rücksicht nehmen, und es
wird peinliche Folgen haben. Und ja und nein, und sie waren voll
Anerkennung und priesen den Demetrius, und sie schüttelten
sorgenvoll die Köpfe und schimpften.
Jetzt aber war der Zug am Scheiterhaufen
angelangt. Man erstieg die Pyramide, setzte die Bahre auf dem
obersten Stockwerk nieder. Titus öffnete dem Toten die Augen, er
und Domitian küßten ihn, sie blieben bei ihm, während unten ein
Regiment der Garde mit Tuben und Hörnern ein letztes Mal vorbeizog.
Dann stiegen sie hinunter und zündeten, abgewand ten Gesichtes, den
Scheiterhaufen an. In dem Augenblick, da die Flamme hinausschlug,
schwang sich vom Giebel des obersten Stockwerks ein Adler in die
Luft.
In wenigen Minuten stand die
Pyramide in Feuer. Die entzündeten Massen des Parfüms verbreiteten
einen ungeheuren, betäubenden Geruch. Die Zuschauer aber, nicht
abgehalten von Hitze und Geruch, drängten vor, zerrissen das
Spalier der Garde. »Leb wohl, Vespasian, leb wohl, du sehr guter,
sehr großer Kaiser. Sei gegrüßt, Gott Vespasian«, riefen sie,
stürzten zum Scheiterhaufen, warfen letzte Gaben in die Flammen,
Kränze, Kleider, abgeschnittene Haarlocken, Schmuck. Ein Taumel
ergriff sie, halb gespielte Trauer, halb echte, sie schrien, die
Hörner und Tuben klangen, noch sah man den Adler in der
Luft.
Auf seiner Tribüne der dickliche
Finanzmann Claudius Regin schaute aus seinen schweren, schläfrigen
Augen unter der vorgebauten Stirn in das Getümmel. Vielleicht
spürte unter den Hunderttausenden allein er wirkliche Trauer. Ohne
viele Worte zu machen, hatte der römische Kaiser niemanden als
diesen Halbjuden in seine geheimen Sorgen und Freuden hineinschauen
lassen. Vermutlich wußte niemand besser als er um die Schwächen des
Toten, doch niemand besser auch um seine kluge Sachlichkeit, seinen
trockenen, witzigen Verstand, seinen tiefen Blick fürs Menschliche.
Claudius Regin verlor in ihm einen Freund. Mit seinen schweren
Beinen schnell und mühevoll wackelte er herunter von der Tribüne,
in die Hitze um den Scheiterhaufen hinein, schrie mit den andern,
riß sich die Schuhe ab, schmiß sie in die Flammen.
Es wuchs die Hitze, das Geschrei,
der Taumel. Selbst die große, römische Lucia konnte sich nicht
halten, sie zerfetzte ihr schwarzes Gewand, warf die Fetzen in die
Flammen, ihre linke Brust mit der kleinen Narbe darunter war bloß.
»Leb wohl, Kaiser Vespasian. Sei gegrüßt, Gott«, schrie sie mit den
andern.
Sehr schnell brannte die Pyramide
nieder. Die glimmenden Kohlen wurden mit Wein gelöscht, dann
sammelte man die Gebeine, begoß sie mit Milch, trocknete sie an
Linnen ab, legte sie, mit Salben und Wohlgerüchen vermischt, in
eine Urne. Gleichzeitig aber, in einer kleinen Höhlung, die im
Mausoleum des Augustus vorbereitet war, begrub man den beringten
dritten Finger des Toten, den man vor der Verbrennung abgeschnitten
hatte.
Josef arbeitete trotz der drückenden Hitze
vom frühen Morgen bis tief in die Nacht. Es ging um mehr als eine
stilistische Überfeilung. Er wollte jetzt, nach dem Tod des
Vespasian, die jüdische Grundhaltung des Buches auch in der
griechischen Version so klar herausarbeiten wie in der
ursprünglichen aramäischen Fassung.
Phineas saß am Tisch, still,
zugesperrt. Josef hielt sich in seinem Rücken. Sicherlich hatte der
Sekretär, der überzeugte Grieche, Verachtung für die jüdischen
Tendenzen des Buches und verhöhnte sie in seinem Innern. Sein
großes, blasses Gesicht aber mit der mächtigen Nase blieb glatt,
höflich, beflissen. Josef verlangte von ihm nicht weniger als von
sich selbst, und Phineas, ohne ein Wort des Unmuts, hielt durch.
Josef sah den starken, wenig behaarten Hinterkopf des Menschen,
hörte seine tiefe, gleichmütige, wohlklingende Stimme. Der ganze
Raum war angefüllt von seinem undurchdringlichen Hohn. Der Hohn des
Josef freilich war besser, tiefer; sein Entschluß, sich von dem
Mann zu trennen, gab ihm Überlegenheit.
So arbeitete er, gehetzt,
verbissen, kaum gehemmt durch die vielen Widerstände, bis er die
Überfeilung der ganzen sieben Bücher des »Jüdischen Krieges«
vollendet hatte. Tief atmete er auf, als er soweit war. Er hatte
sich bis jetzt keine Gedanken gegönnt an die Dinge außerhalb seiner
Arbeit. Jetzt tauchte er herauf. Jetzt wollte er die Augen
aufmachen, wollte sehen, was sich in diesen Wochen rings um ihn
ereignet hatte.
Er schlenderte durch die Stadt.
Es war angenehm, nach der Stille dieser letzten Wochen und ihrer
engen Sammlung die Weite Roms zu spüren, sein brausendes
Leben.
Josef geriet auf das Forum, das
den Namen des toten Kaisers trug. Weiß und stolz hob sich vor ihm
das Haus der Friedensgöttin. Am Mittwoch pflegten hier öffentliche
Vorträge stattzufinden. Josef ging solchen Veranstaltungen
gemeinhin aus dem Wege. Heute indes lockte es ihn, einen
griechischen Redner zu hören, ohne jede Endung und Wendung auf ihre
Brauchbarkeit für sein eigenes Werk hin prüfen zu müssen. Er betrat
den Tempel, ging in den Rezitationssaal.
Die übergroße Zahl der
literarischen Vorträge war zur Plage geworden; die Vorträge im
Friedenstempel gar galten als anspruchsvoll und überkultiviert, und
gewöhnlich blieb der weite, vornehme Raum leer. Doch heute konnte
Josef nur mit Mühe Platz finden. Der Redner nämlich, ein gewisser
Dio aus Prusa, war in letzter Zeit, vor allem durch die Protektion
des Titus, sehr in Sicht gekommen, und sein Thema »Griechen und
Römer« war von höchster Aktualität. Denn der schlaue Kaiser
Vespasian hatte zwar dem griechischen Osten viele wirtschaftliche
und politische Privilegien entzogen, hatte aber diese Unbill durch
Schmeicheleien für griechische Bildung und Kultur und durch
Ehrengehälter für eine Reihe griechischer Künstler und
Wissenschaftler versüßt. Der Steuerzuwachs aus dem Entzug der
Privilegien brachte an die fünf Milliarden, die Ehrengehälter
kosteten noch keine Viertelmillion. Trotzdem hatte die Geste auf
die ehrsüchtigen Griechen ihre Wirkung nicht verfehlt. Die
senatorische Opposition in Rom aber, immer bestrebt, den Kaiser, da
sie es durch ernsthaften Widerstand nicht konnte, durch Nadelstiche
zu kränken, hatte daraufhin die »Griechlein« noch heftiger als
bisher ihre altrömische Verachtung spüren lassen. Dio, der Redner
von heute, der Günstling des Titus, war der Wortführer der Griechen
in Rom, und man war gespannt, was er sagen und was man ihm erwidern
werde.
Viel Neues brachte der berühmte
Mann nicht vor, das wenige freilich in glänzender Form. Er pries
vor allem, und zwar mit deutlichen Spitzen gegen die Herren von der
senatorischen Opposition, die man zahlreich unter den Zuhörern sah,
die geistige Freiheit, die die Monarchie gebracht habe, ein
Erreichnis, das der griechische Osten besonders schätze. Politische
Freiheit, führte er aus, sei ein zynisches Vorurteil. Ein so
riesiger Organismus wie der des Römischen Reiches müßte, wollte man
ihn statt von einem einheitlichen Willen von einer größeren
Körperschaft regieren lassen, schnell in Anarchie und Barbarei
zerfallen. Ein geordnetes Ganzes aber sei die Voraussetzung einer
wirklichen Freiheit, der Freiheit im Geiste. Es sei also, so
paradox es klinge, die Herrschaft eines einzelnen die einzige
Möglichkeit, geistige Freiheit zu gewährleisten. Geistige Freiheit
aber sei von jeher das A und O hellenischer Kultur gewesen, und es
sei somit die Monarchie die den Griechen am meisten gemäße
Regierungsform. Die römische Monarchie gar entspreche durchaus den
Vorstellungen, die die Besten der Griechen seit Homer sich vom
Staate gemacht hätten. Sie sei keine orientalische Tyrannis,
sondern eben jenes aufgeklärte Königtum, das die politische
Ideologie der hellenischen Klassiker immer und immer wieder ersehnt
habe. Kein Wunder daher, daß seit den Zeiten des Augustus die
griechische Bildung einen neuen Aufschwung genommen habe. Jetzt
seien römische Macht und griechischer Geist im Begriff, für immer
harmonisch eins zu werden.
Die Herren von der
aristokratischen Opposition, kenntlich an dem breiten Purpurstreif
ihrer weißen Galakleider und an ihren hohen, roten,
schwarzgeriemten Schuhen, hörten die Rede mißvergnügt mit an. Sie
hatten gleich erwartet, daß der Sprecher des Titus sein Thema zu
Ausfällen gegen sie benutzen werde. Sie beharrten auf der Fiktion,
den sechshundert Senatoren stehe die Herrschaft des Reiches zu, der
Kaiser sei nur der Erste unter Gleichen, und was war der Vortrag
des Dio anders gewesen als ein Angriff gegen diese ihre Auffassung?
Sie standen in einer anmaßlichen Gruppe zusammen, als der Redner
geendet hatte. Josef, mit vielen anderen, trat näher an die Gruppe
heran; man war gespannt, ob sie sich auf eine Diskussion einlassen
würden. Josef lachte in seinem Innern über ihre utopischen
Ansprüche. Sie waren um nichts besser, diese Herren mit den
hochklingenden Titeln und Ämtern, als jene »Rächer Israels«, die
seinerzeit den jüdischen Aufstand fortgeführt hatten, als er längst
besiegt war.
Jetzt begann wirklich einer von
den jüngeren Herren zu reden. Er wagte es nicht, die
monarchistischen Theorien Dios anzugreifen, er zog es vor, seinen
Ärger in Schmähungen des Griechentums zu entladen. Wenn es im Osten
immer wieder zu Reibungen komme, führte er aus, so liege das nur am
Dünkel der Griechen. Die wollten den Römern vorschreiben, was sie
zu tun und zu lassen hätten, was einem Römer anstehe und was nicht.
Wie sähen sie denn in Wahrheit aus, diese Menschen, die sich als
das Salz der Erde betrachteten? Schnelle, witzige Urteile hätten
sie bei der Hand, das leugne er nicht, ihre Beredsamkeit sei
betäubend, aber sie seien höchst unbedenklich in der Wahl ihrer
Argumente. Ihre leicht angeregte Phantasie hindere sie, zwischen
Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Außerdem habe lange
Knechtschaft sie zur Schmeichelei erzogen, ihre komödiantischen
Talente entwickelt. Natürlich könne man diese Eigenschaften auch
mit freundlicheren Worten bezeichnen, könne sie Anpassungsfähigkeit
nennen, Anmut des Wesens und der Rede, Erfindungsgabe,
Geschäftsgewandtheit. Wenn aber die Griechen sich ernstlich mit Rom
verständigen wollten, täten sie gut, sich selbst zu sehen, wie sie
seien. »Wir hier«, schloß er, »halten es gewiß für einen Vorzug,
gut zu reden und zu schreiben und schöne Bilder zu malen. Aber die
Fähigkeit, ein Reich und eine Armee zu organisieren, scheint uns
wertvoller. Wir sind nicht gewillt«, fügte er bei, anspielend auf
das hohe Ansehen, das Dio bei Hofe genoß, »es hinzunehmen, daß bei
Tafel ein Jemand, den der gleiche Wind in unsere Stadt wehte, der
uns die Damaszenerpflaumen bringt und die syrischen Feigen, vor uns
den Vorrang hat. Daß wir von Kind auf die Luft des Aventin geatmet
und uns mit sabinischer Frucht genährt haben, halten wir für einen
Vorzug, den wir gegen keine Fixigkeit griechischer Rede vertauschen
möchten.«
Josef, so plump ihm dieser
Ausspruch römischen Stolzes schien, hörte es gern, daß der Mann den
Griechen so hochmütig abfertigte. Viele hatten sich um die Gruppe
gesammelt, Griechen und Römer, aufmerksam lauschend. Der Redner Dio
stand dem jungen Aristokraten gegenüber, lang, elegant, sehr
sicher, ein verbindliches Lächeln um den dünnen Mund. Er schien
gleichmütig, aber man sah, wie es hinter seiner hohen, steilen
Stirn arbeitete, und wartete gespannt, wie jetzt der griechische
Professor, dieses Licht aus dem Osten, dem jungen, hoffärtigen
Römer seine Frechheiten heimzahlen werde.
Allein noch bevor Dio den Mund
auftat, hatte ein anderer sich an diese Aufgabe gemacht, ein Mann
mit einem großen, gescheiten Kopf auf einem mageren, eleganten
Körper. Der Teint des Mannes war von krankhafter Blässe, seine
Hände dünn, unmäßig lang. Aber man sah diese Blässe nicht mehr und
nicht mehr die großen, dünnen Hände, sowie er erst zu sprechen
angefangen hatte, man hörte dann nur mehr seine tiefe,
wohlklingende, wandlungsfähige Stimme. Josef hatte das an sich
selber erfahren. So zuwider ihm sein Sekretär Phineas war, er
konnte sich dem Zauber seiner Rede schwer entziehen. Daß aber
dieser Phineas sich an solchen Diskussionen beteiligte, hatte er
bisher nicht gewußt, und er hörte aufmerksam und betreten
zu.
Was Phineas sagte, war bis zur
Gefahr tapfer. »Es ist nicht ausgemacht«, meinte er, und sein Ton
war besonders höflich, »ob wir Griechen, wenn wir unsere ganze
Intensität auf Erhaltung unserer politischen Freiheit gerichtet
hätten, besiegt worden wären. Wer Isokrates aufmerksam liest, der
erkennt, daß es unter uns jederzeit Männer gab, die unsere
politische Freiheit bewußt preisgeben wollten, um unsere geistige
Freiheit zu wahren. Darin hat dieser große, weise Herr Dio aus
Prusa zweifellos recht. Allein nicht zu dem Zweck haben wir auf
unsere politische Souveränität verzichtet, um uns jetzt von Männern
heruntermachen zu lassen, die die Zusammenhänge nicht überblicken.
Wir haben ein Universalreich angestrebt. Rom hat, im Rohbau
wenigstens, dieses Universalreich geschaffen. Wir müssen uns aber
dagegen verwahren, daß man uns unseren Anteil abspricht. Wir geben
Rom, was Roms ist: man anerkenne, was unser ist. Unser Anteil ist
nicht gering. Nehmen Sie der römischen Bildung ihre griechische
Grundlage, und alles stürzt zusammen. Cicero ist nicht denkbar ohne
Demosthenes, Virgil nicht ohne Homer. So gewiß in Politik und
Wirtschaft Rom der Welt Gesetze gibt, so gewiß trägt alles Geistige
unsere hellenische Prägung. Kaiser Vespasian hat uns Freiheiten
entzogen, die ein früherer Monarch uns gegeben hat. Wir beklagen
uns nicht darüber. Wir haben auch nicht groß gejubelt, als jener
andere uns diese Freiheiten verlieh. So mächtig der römische Kaiser
ist, die Dinge, die uns Griechen die wichtigsten auf der Welt
scheinen, kann er uns nicht nehmen und nicht geben. Er kann sie
bestenfalls von uns emp fangen. Der junge Herr, der von der Höhe
seines Senatorenschuhs so tief auf uns ›Griechlein‹ in unseren
silbernen Sandalen herabschaut, möge wissen, daß wir bei all
unserer Schmiegsamkeit eine Eigenschaft
nicht umbiegen und nicht umlügen, niemandem zuliebe: den Stolz,
Griechen zu sein. Macht ist eine große Sache, Politik ist eine
große Sache, aber im Bereich des Geistes, vom Standpunkt des
ordnenden Philosophen aus, sind die Politiker nichts Besseres als
Polizisten, ausführende Organe des Alleinherrschers Geist. Ohne
Aristoteles, ohne griechische Ideologie wäre Alexander nicht
möglich gewesen. Und was ist dieses große Römische Reich anders
als, in kleinerem Format, die Wiederholung dessen, was als erster
Alexander geschaffen hat?«
Josef stand ziemlich weit hinten.
Er konnte Phineas schlecht sehen und hoffte nur, der habe ihn nicht
gesehen. Die Stimme des Mannes drang in ihn. Der Mann brauchte
keine großen Worte zu machen, eine leise Schwingung seiner Stimme,
und sein Gegner war begraben unter einem Berg von Hohn. Betroffen
nahm Josef wahr, wie selbst die eisig hochmütigen römischen
Aristokraten sich seiner Rede nicht entziehen konnten. Sie machten
Miene, zu gehen, aber sie blieben, sie hörten zu, sie schauten auf
den großen, blassen Kopf, aus dem geflügelt die Worte kamen. Josef
verstand die Tiefe dieses Erfolgs. Phineas sprach vor Männern, die
ihm nicht gewogen waren, er, der Freigelassene, vor Männern des
höchsten Adels. Es war sicherlich nicht das erstemal, daß er bei
einer solchen Gelegenheit sprach: so spricht keiner, der das
erstemal spricht. Wie kam es, daß er ihm niemals ein Rühmens aus
seiner Begabung gemacht hat? Welcher Hochmut von dem
Freigelassenen, welch innerer Vorwurf für ihn selber, daß er es
nicht für der Mühe wert hielt, ihm davon auch nur zu
sprechen.
Aber mehr als das alles traf ihn
der Inhalt dessen, was der Mann sagte, dieser selbstverständliche
Stolz auf die griechische Superiorität. Waren das nicht seine
eigenen Träume von jüdischer Überlegenheit, nur eben angewandt aufs
Griechentum? Wenn, wie Phineas mit Recht sagte, dieses große
Römische Reich nichts anderes war als eine Nachahmung der schon von
Alexander erreichten Universalmonarchie, war dann das jüdische
Schicksal, selbst wenn es bis zu den Höhen geführt werden könnte,
von denen Josef träumte, etwas anderes als ein läppisch
verkleinerter Abklatsch des griechischen? War sein, des Josef,
Lebensziel wirklich nur die Imitation eines längst
Erreichten?
Der Stolz des Römers auf sein
Römertum war lächerlich. Keine Frage, daß Phineas ein besserer Mann
war als der junge, dünkelhafte Mensch, der die Griechen angepöbelt
hatte. Phineas hatte ihm gut erwidert, aber seine Argumente, sowie
man sie näher betrachtete, zerfielen wie die des andern. Daß einer
sich besser dünkt als der andere, weil die Vorfahren der Leute, in
deren Mitte er geboren war und deren Sprache er sprach, große Taten
verrichtet hatten, war sinnlos und verächtlich.
Josef, als er so weit gedacht
hatte, erschrak. Wenn das für den Römer galt und für den Griechen,
galt es weniger für ihn, den Juden? Schnell schaltete er seinen
Vorbehalt ein. Gut, er hat den Psalm des Weltbürgers geschrieben,
und sicherlich ist auch sein letztes Ziel, daß alle Stämme der Welt
ein Volk werden, geeint im Geiste: aber
solange das nicht erreicht ist, gilt es da nicht, die eigene Gruppe
zusammenzuhalten, schon weil sie die einzige ist, die dieses Ziel
erstrebt?
Er suchte das stark erschütterte
Gebäude seines Stammesdünkels durch dieses Argument zu stützen,
aber es gelang nicht. Er dachte seine Gedanken nicht zu Ende, hörte
den Phineas nicht zu Ende. Er schlich hinaus, die hohen Stufen des
Friedenstempels hinunter drückte er sich, benommen, in großer
Verwirrung, fliehend beinahe.
Am Abend dieses Tages aber, als er zu
Claudius Regin, seinem Verleger, ging, um ihm das abgeschlossene
Manuskript zu überreichen, hatte der leichtfertige Mann alle
Eindrücke und Gedanken des Vormittags schon wieder in die unterste
Tiefe seiner Brust verdrängt.
Der große Finanzmann, nach der
Mahlzeit, lag auf dem Speisesofa, schlecht, lotterig angezogen, und
trank in kleinen Schlucken an seinem Wein, er mußte ihn lauwarm
trinken, er hatte einen schwachen Magen. Er sei enttäuscht von der
Haltung des Titus, erzählte er dem Josef. Der Kaiser sei sonderbar
apathisch. Immer müsse der Arzt um ihn sein, dieser Doktor Valens.
Selbst wenn es um Summen von vierzig, fünfzig Millionen gehe,
bleibe er zerstreut, eine auffallende Haltung für einen Sohn des
Vespasian. Er schiebe Entscheidungen immer wieder auf. Auch die
Juden ernsthaft zu beschützen, wie er es wohl gern möchte, könne er
sich nicht entschließen. Wahrscheinlich liege das an den Gerüchten,
die Domitian, das Früchtchen, aussprenge. Früher sei dem Titus das
Geschwätz der Straße gleichgültig gewesen. Jetzt aber habe er
solche Furcht davor, daß er sich scheue, den Juden seine Sympathien
zu zeigen. Es wäre gut, wenn endlich Berenike käme.
Trotzdem Josef von der
Weltkenntnis seines Verlegers viel hielt, stand die innere
Zuversicht, die ihn erfaßt hatte, als er zum erstenmal vom Ableben
des Vespasian hörte, so fest, daß ihn die Reden des Claudius Regin
nicht irremachten.
Der jetzt hatte das Manuskript
des Josef aufgerollt. »Lesen Sie den Anfang des sechsten Buches«,
bat Josef, »das Kapitel unmittelbar vor dem Sturm auf die
Tempelburg.« – »Die Römer«, las Claudius Regin, »rasierten, um sich
das für ihre Belagerungswälle erforderliche Bauholz zu verschaffen,
das an die Stadt anstoßende Gelände bis auf neunzig Stadien im
Umkreis. Das Land, das vorher im üppigsten Schmuck von Bäumen und
Lustgärten geprangt hatte, lag jetzt vollkommen kahl. Kein Fremder,
der die herrliche Umgebung Jerusalems früher gesehen, hätte jetzt,
beim Anblick solcher Verödung, auf die ungeheure Veränderung anders
reagieren können als mit bestürztem Jammer. Wäre jemand, der mit
der Gegend von früher her vertraut war, jetzt unversehens
hierherversetzt worden, er hätte sie nicht wiedererkannt, er hätte
die Stadt suchen müssen, die doch vor ihm lag.«
Josef wartete gespannt, was Regin
sagen werde; er wußte, dieser Mann war einer der besten Kenner.
»Ich freue mich«, sagte schließlich der Verleger, »daß Sie die
jüdische Tendenz verstärkt haben. Ihr Buch, mein Doktor und Herr,
ist sicherlich das beste Buch über den Krieg.« Josefs Herz hob
sich. Aber Claudius Regin war noch nicht zu Ende. »Ich bin
neugierig«, schloß er, »was Justus nach Ihrem Buch zu sagen haben
wird.«
Den Freitagabend darauf ging Josef über die
Emiliusbrücke, die hinüber zum rechten Ufer des Tiber führte, wo
die Juden wohnten. Er war voll Genugtuung. Cajus Barzaarone, der
Vorstand der Agrippenser-Gemeinde, die Worte bedenkend, die
Claudius Regin bei der Bestattung des Kaisers gesprochen, hatte den
Josef eingeladen, den Vorabend des Sabbats in seinem Hause zu
verbringen. Josef ging also zum DreiStraßen-Tor in das Haus des
Cajus.
Mit Vergnügen erkannte er das
Speisezimmer wieder. Heute wie damals vor fünfzehn Jahren, als er
zum erstenmal hierhergekommen, war der Raum zur Feier des
Sabbateingangs nicht nach römischer Art erleuchtet, sondern, nach
dem Brauch Judäas, von silbernen, mit Veilchengirlanden
geschmückten Lampen, die von der Decke hingen. Heute wie damals
stand auf dem Büfett altes Tafelgeschirr mit dem Emblem Israels,
der Weintraube. Mehr aber als alles andere rührte das Herz des
Josef der Anblick der strohumhüllten Wärmekisten; da am Sabbat
nicht gekocht werden durfte, bewahrte man die schon bereiteten
Speisen in diesen Kisten auf, und ihr vertrauter Geruch erfüllte
den Raum.
Cajus Barzaarone kam ihm
unbefangen entgegen, als hätte er ihn gestern zum letztenmal
gesehen. »Friede mit dir, mein Doktor und Herr Josef Ben Matthias,
Priester der Ersten Reihe«, bot er ihm ehrerbietig den hebräischen
Gruß und führte ihn zum mittleren Speisesofa, dem Ehrenplatz.
Sogleich dann sprach er, man hatte offenbar nur auf Josef gewartet,
über einem Becher judäischen Weines, Weines von Eschkol, das
Heiligungsgebet des Sabbatabends. Segnete sodann das Brot, brach
es, verteilte es, alle sagten amen, und man begann zu
essen.
Solange die Frauen und die Kinder
anwesend waren, kam keine rechte Unterhaltung zustande. Endlich
aber war die Mahlzeit aus, und Josef, Cajus und des Cajus
Schwiegersohn, der Doktor Licin, blieben allein. Sie saßen
zusammen, die drei Männer, bei Wein, Konfekt und Früchten. Der
alte, schlaue Möbelhändler lockerte seine vorsichtige
Zurückhaltung. Wären gewisse äußere Ereignisse nicht eingetreten,
begann er, dann hätte er den Josef nicht in sein Haus gebeten, so
sei aber nichts von dem eingetroffen, was sich die Juden von dem
neuen Regime versprochen hätten; im Gegenteil, die Erwartung, daß
der Kaiser eine Jüdin heiraten werde, habe die judenfeindliche
Stimmung nur verstärkt. Und der Kaiser schreite nicht dagegen ein,
und Berenike komme nicht. Er habe nun gehört, Josef werde anläßlich
der Vollendung der Neufassung seines Buches Gelegenheit haben, den
Kaiser ausführlich zu sprechen. Er fordere den Josef auf, Titus
dann daran zu erinnern, daß die bedrängten Juden Roms auf ein Wort
des Wohlwollens warteten.
Josef hatte sich nichts
vorgemacht über die Gründe, die Cajus Barzaarone veranlaßt haben
mochten, die Versöhnung mit ihm anzubahnen. Bei aller Verachtung,
die die Juden ihm gezeigt hatten, war man auch früher schon
manchmal an ihn herangetreten, wenn es galt, bei Hofe Beschwerden
vorzubringen oder Vergünstigungen zu erlangen. Aber daß der Mann
jetzt so nackt und unumwunden heraussagte, was er von ihm wollte,
ärgerte ihn. Mit hochgezogenen Augenbrauen hörte er zu. »Ich will
tun, was ich kann«, erwiderte er kurz.
Der geschmeidige Doktor Licin
bemerkte Josefs Verstimmung. »Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit noch
für eine andere Sache«, sagte er schnell, sehr liebenswürdig. Josef
konstatierte fast wider Willen, wie sehr zu seinem Vorteil der
früher ein wenig affektierte Herr sich verändert hatte. Vermutlich
hatte ihn Irene zurechtgeschliffen. Wenig fehlte, und damals hätte
er selber die Tochter des reichen Möbelhändlers geheiratet; glühend
hatte sie ihn verehrt in seiner ersten römischen Zeit, als er, ein
begnadeter Soldat Jahves, ausziehen wollte, um für sein Land zu
streiten. Wie anders wäre alles gekommen, wenn er sie zur Frau
gehabt hätte. Er wäre dann wohl in Rom geblieben und hätte niemals
eine Armee geleitet und ins Verderben geführt. Er wäre nie
Tischgenosse des Kaisers und des Prinzen geworden. Er lebte dann
jetzt wohl in Rom als Schriftsteller, reich, ruhevoll, mit mäßigen
Sünden und mäßigen Verdiensten, wohl angesehen, so wie dieser
Doktor Licin. Die stille, ernste Irene hätte ihn vor seinen
ausschweifenden Handlungen bewahrt, er hätte seine Taten in der
Phantasie begangen statt in der Wirklichkeit und hätte sich damit
begnügt, von ihnen zu schreiben. Ein wenig vielleicht beneidete er
den Doktor Licin: aber im Grunde war er einverstanden, daß dieser
Irene geheiratet hatte und nicht er.
»Es ist jetzt gewiß«, setzte ihm
Doktor Licin auseinander, »daß meine Synagoge auf der Velia
niedergerissen werden wird, wenn der Kaiser dort baut. Ich höre nun
von dem Glasfabrikanten Alexas, daß Sie nach wie vor beabsichtigen,
für die siebzig Thorarollen, die Sie aus Jerusalem gerettet haben,
eine eigene Synagoge zu stiften. Natürlich beabsichtigen auch wir,
an Stelle der Veliasynagoge auf dem linken Tiberufer ein neues Haus
zu errichten. Hören Sie meinen Vorschlag. Wollen wir gemeinsam
bauen? Es wäre schön, wenn das neue Haus eine Josef-Synagoge
würde.«
Josef horchte groß auf. Wie, die
Juden des linken Tiberufers, die vornehmsten der Stadt, wollten
wirklich ihre neue Synagoge unter sein Protektorat stellen? Man
will sich ernstlich mit ihm aussöhnen? Der Doktor Licin freilich
ist ein gute: Mann, er hat eigentlich immer auf einer Front mit ihm gekämpft, er schreibt selber
griechische Tragödien, die ihre Stoffe der Bibel entnehmen, und die
orthodoxen Doktoren verzeihen ihm dieses gewagte Unterfangen
höchstens deshalb, weil er der Schwiegersohn des Cajus Barzaarone
ist. Es wäre natürlich großartig, wenn er, Josef, Protektor und
Präsident der vornehmsten römischen Synagoge würde. Aber keine
Übereilung jetzt. Kann er, wenn er darauf eingeht, sich der
Forderung entziehen, seinen Sohn Paulus zu beschneiden und zum
Juden zu machen? Und davon abgesehen, woher soll er die Mittel
nehmen, einen würdigen Beitrag zum Bau der Synagoge zu stiften? Der
Ruhm eines Schriftstellers münzt sich nicht in Geld um. »Ich darf
mir diese Sache ein paar Wochen überlegen«, sagte er zögernd. »Aber
was Sie mir anbieten«, fügte er rasch hinzu, und Stimme und Gesicht
nahmen jenes Strahlen an, das ihm von jeher die Herzen gewann, »ist
mir eine große innere Freude. Ich danke Ihnen, Doktor Licin«, und
er streckte ihm die Hand hin.
Er war glücklich in diesen Tagen
nach der Vollendung seines Werkes. Vergessen hatte er, daß er noch
seine Angelegenheit mit dem Sekretär Phineas zu bereinigen hatte,
vergessen, daß Frau und Sohn sich ihm entfremdeten. Denn alles
andere ging, wie er wollte. Die Juden söhnten sich mit ihm aus, und
im Palatin zeigte man ihm ein strahlendes Gesicht. Man hatte
nämlich seine Audienz auf einen Donnerstag gelegt, das war der Tag,
der den Freunden und Vertrauten des Kaisers vorbehalten blieb, und
Titus hatte der offiziellen Einladung eine eigenhändige Nachschrift
beigefügt, er freue sich, den Josef endlich einmal wieder
ausführlich zu sprechen.
Und jetzt, stark im Gefühl seines Glückes,
war Josef genügend gerüstet und in der rechten Laune, jene
Auseinandersetzung mit Dorion herbeizuführen, die er so lange
hinausgezögert.
Er durchschritt den verwinkelten
Korridor, der hinüber in ihre Räume führte. Er sehnte sich nach
ihr, nach ihrem langen Kopf mit den meerfarbenen Augen, nach ihrem
dünnen Körper, nach der hohen Kinderstimme, mit der sie ihre
zärtlichen, bösartigen Sätze vorbrachte. Er hatte sich häuslich,
doch elegant angezogen. Sein reiches Haar fiel in schwarzen,
halblangen Locken, die schmalen, heftigen Lippen waren sorgfältig
ausrasiert, der Bart zackte in starrem, strengem Dreieck herunter.
Er ging beschwingt wie in seiner besten Jugend; er war voll von
männlicher Zärtlichkeit für Dorion und freute sich darauf, ihr
seine guten Nachrichten zu bringen.
Er fand sie nicht allein. Ein
paar Herren und eine Dame saßen um sie herum, eine Reihe leerer
Sessel war da, sie hatte offenbar eine größere Gesellschaft um sich
gehabt. Sie lag auf dem Ruhebett in einem Gewand aus hauchdünnem
koischem Flor, ihr geliebter, schwärzlichgrüner Kater Chronos, der
dem Josef verhaßt war, ihr zur Seite.
Ein Aufleuchten ging über ihr
gelbbraunes Gesicht, ein bißchen Empörung, ein bißchen Triumph, als
Josef eintrat. Sie streckte ihm die Hand hin. »Wie schade, daß du
nicht früher gekommen bist, mein Josef«, sagte sie. »Senator Valer
hat uns aus seinen ›Argonauten‹ vorgelesen.« – »Ja, das ist
schade«, sagte ein wenig trocken Josef und wandte sich dem Senator
zu.
Der alte Valer saß steif und
würdig da. Das Reich zählte jetzt nur mehr zweiunddreißig Familien
von reinem, altem Adel, und wenn eine dieser Familien ihren
Ursprung unbestritten bis zu dem Trojaner Äneas zurückführen
konnte, dann war es die seine. Valer pflegte auf Inschriften und
Dokumenten mit seinem vollen Namen zu zeichnen: Q. Tullius Valerius
Senecio Roscius Murena Coelius Sex. Julius Frontinus Silius C. Pius
Augustanus L. Proculus Valens Rufinus Fuscus Claudius Rutilianus.
Jeder dieser Namen hob seine Beziehungen zu dem edelsten Blut des
Reichs hervor. Leider aber entsprach das Vermögen des Senators
Valer nicht diesem hohen Adel. Ja, es war schiere Höflichkeit, wenn
man ihn noch als Senator bezeichnete; denn dieser Tullius Valer
besaß nicht einmal mehr die Million Sesterzien, die für Mitglieder
des Ersten Adels unterste Vermögensgrenze war. Kaiser Vespasian
hatte ihn deshalb kraft seines Zensoramtes aus den Listen des
Senats gestrichen. Er hatte ihm aber, die Verabschiedung mildernd,
in dem Haus, das er selber früher bewohnt, auf Lebenszeit freie
Station zugesprochen. Dort also hatte jetzt der alte Valer das
Obergeschoß inne, während dem Josef die beiden unteren Stockwerke
angewiesen waren. Der zensurierte Senator trug sein Schicksal mit
Würde. Die neuen Räume boten ihm nicht einmal Platz, die
Wachsbüsten seiner hohen Ahnen alle unterzubringen; er mußte einen
Teil beim Spediteur unterstellen. Aber er klagte nicht.
Zurückgezogen lebte er mit seiner Tochter, der
zweiundzwanzigjährigen, strengen, weißgesichtigen Tullia, in dem
verwinkelten Haus des sechsten Bezirks, zwischen Reliquien,
vermotteten Prunkkleidern, verstaubten Liktorenbündeln, verwelkten
Triumphatorenkränzen seiner Urväter. Er widmete sich nur mehr
literarischer Tätigkeit, schrieb an seinem großen Versroman über
die Argonauten, mit denen er natürlich auch verwandt war. Aber er
verzieh dem Parvenü Vespasian nicht die Schmach der Ausstoßung;
heimlich brütete er über einem kühnen, rebellischen Epos, bestimmt,
die Taten seines Ururvetters Brutus zu feiern, strotzend von
aufrührerischen, republikanischen Sentenzen. Trotz aller
Heimlichkeit wußte übrigens ganz Rom von diesem Unternehmen, und
lächelnd kolportierte man eine Äußerung Vespasians: gerade darum
habe er dem guten Valer freie Wohnung gewährt, daß der in Ruhe
seine Hymnen auf die Republik schreiben könne; denn habe einer erst
einmal republikanische Verse dieses feierlichen alten Esels
gelesen, dann werde er in Zukunft, sowie er nur das Wort Republik
höre, gähnen.
Josef begrüßte Dorions Gäste.
Tullia saß weiß und zugesperrt da, knapp dankend. Auch sein
Schwiegervater Fabull, der Maler, der Hochmütige, blieb einsilbig.
Um so lärmender begrüßte ihn Dorions intimster Freund, der Oberst
Annius Bassus. Doch seine laute Höflichkeit täuschte Josef nicht
darüber hinweg, daß seine Dazwischenkunft Dorions Gesellschaft
gestört hatte. Es war offenkundig, daß man sich vor Josefs Eintritt
vertraut und gut unterhalten hatte; jetzt aber sprach man
schleppend über Gleichgültiges. Josef bemühte sich, amüsant zu
sein. Die Gäste dankten es ihm nicht, entfernten sich
bald.
Dorion blieb nicht ungern mit
Josef allein. Immer, selbst in den Stunden der Vermischung, war er
ihr aufregend rätselhaft geblieben, immer war sie neugierig, was
dieser Seltsame jetzt wieder anstellen werde. Hätte etwa ein
anderer Mann nach einem so folgenschweren Ereignis wie dem
Thronwechsel so lange geschwiegen? Gab es einen zweiten, der,
vertraut mit seiner Frau, nicht das Bedürfnis verspürt hätte, sich
in solchem Falle mit ihr auszusprechen?
Mit schlaksiger Bewegung drehte
sie ihm ihren zarten, dünnen Leib zu, schaute ihm voll ins Gesicht.
Es sei schade, meinte sie, daß er nicht früher gekommen sei. Der
alte Valer habe nämlich nicht aus den »Argonauten« vorgelesen,
sondern aus dem »Brutus«; es sei erstaunlich, welch kühne Sprache
der Mann sich erlaube. »Soweit ich seine Verse kenne«, erwiderte
lächelnd Josef, »sind sie so schweißig wie er selber.« Der alte
Valer trug nämlich stets nur die feierliche, altmodische Toga, und
zwar auf dem bloßen Leib, wie es der Brauch vor dreihundert Jahren
verlangt hatte; das war Hausgesetz bei den Valeriern, weil sie eine
so alte Familie waren.
Dorion stützte sich halb auf, so
daß die weiten Ärmel zurückfielen und ihre langen, braunen Arme
freilagen. Es machte ihr Spaß, wenn Josef sich über ihre Freunde
mokierte. Aber diesmal ging sie nicht auf seine Worte ein. Was denn
mit Phineas los sei, fragte sie. Die letzten Wochen über sei der
kleine Paulus arg vernachlässigt worden. Dem Josef kam es gelegen,
daß sie die Rede auf Phineas brachte. Er war entschlossen, Phineas
von sich abzuschieben, aber das sollte langsam geschehen, ohne
große Worte und Gesten, kühl, höflich, nobel, ironisch. Der Mann
hatte gut für ihn gearbeitet, keine Frage. Aber er hatte sich nicht
an das Werk hingegeben, es war äußerliche Arbeit geblieben.
Äußerlich sollte denn auch der Lohn sein, reichlich, aber ohne
Herzensdank.
Er habe den Phineas in diesen
letzten Wochen viel beschäftigen müssen, sagte er. Doch das sei
jetzt zu Ende. Phineas habe im übrigen gut gearbeitet, er wolle ihm
eine Gratifikation geben. Was sie dazu meine, wenn er ihm die
Garderobe ergänze und erneuere. Die Kleider des Phineas seien
schäbig geworden. Sich griechisch zu tragen erfordere eben Geld. Ob
sie sich dieser Sache annehmen wolle. Sie verstehe das
besser.
Dorion schaut ihm ins Gesicht,
den Mund halboffen, lächelnd. Schön, erwidert sie, sie werde das
besorgen. Es sei gut, daß Phineas wieder für den Jungen Zeit habe.
Hätte sich nicht ab und zu Oberst Annius um die Erziehung des
Paulus gekümmert, dann hätte kein Mensch sich seiner
angenommen.
»Annius«, sagte Josef wegwerfend,
»Annius Bassus«, und er machte eine Bewegung mit der Hand, die den
Mann auswischte. Alles an diesem Offizier verdroß ihn, sein Lachen,
sein lautes, offenes, herzliches Gehabe. Annius Bassus war
Unterbefehlshaber im jüdischen Krieg gewesen und hatte sich
mehrmals ausgezeichnet. Josef aber hatte ihm eine gewisse
antisemitische Äußerung nicht vergessen und in seinem Buch seine
Leistung totgeschwiegen. Allein der Oberst schien ärgerlicherweise
dieses feindselige Schweigen nicht zur Kenntnis zu nehmen, er
behandelte vielmehr den Josef nach wie vor mit der gleichen,
stürmischen Freundschaftlichkeit, erzählte ihm pikante Anekdoten
über Kriegskameraden, haute ihn auf die Schulter. Den Josef wurmte
das, und zwiefach kränkte ihn, daß Dorion sich in ihre Freundschaft
mit dem Offizier nicht einreden ließ.
Auch heute wies sie die
verächtliche Geste des Josef zurück. Es sei gut, meinte sie, daß
nicht er allein über die Qualitäten des Annius zu befinden habe.
Der alte Kaiser zum Beispiel habe seine Meinung offenbar nicht
geteilt. Sonst hätte er schwerlich den Annius zum Obersten in der
Garde gemacht und ihm die heikle Aufgabe anvertraut, des Prinzen
Domitian Hofmarschall und Adjutant zu sein.
Das war richtig. Annius hatte
sich sogar in dieser schwierigen Stellung gut bewährt, er hatte es
zuwege gebracht, sich dem jungen Prinzen anzufreunden, ohne das
Vertrauen des Alten zu verlieren.
Der Oberst werde es unter Titus
nicht leicht haben, meinte trocken, ein wenig hämisch Josef. Ihm,
Josef, sei das übrigens gleichgültig. Für ihn sei der Mann
erledigt. Die große Gelegenheit des Annius sei der Krieg gewesen,
und die habe er verpaßt. Er habe sich vor Jerusalem nicht so
gehalten, daß seine Taten auch nur der Erwähnung wert gewesen
seien.
Dorion lächelte, rückte näher an
ihn heran. »Natürlich geht es nur dich an«, meinte sie, »was du der
Erwähnung für wert hältst, was nicht. Ich weiß, daß ein Künstler
nicht arbeiten kann, ohne von sich überzeugt zu sein. Auch mein
Vater könnte es nicht. Aber bist du nicht vielleicht ein wenig sehr
stolz, mein Josef?« Er hörte ihre Sticheleien. Sie lag aufgestützt.
Er sah ihre schräge, hohe Stirn, ihr leichtes, reines Profil, die
Worte kamen zierlich, stachelig aus ihrem großen, frechen Mund und
taten ihm nicht weh. Er liebte sie sehr. »Bist du ganz sicher«,
fuhr sie fort, »daß dein Urteil ein für allemal Geltung hat, daß
deine Wertung die letzte ist?«
»Ja«, sagte Josef, und es klang
überzeugt, nicht eitel. Er setzte sich zu ihr, nahm ihren Kopf in
beide Hände, hielt ihn in seinem Schoß, sprach hinunter zu ihr:
»Siehst du, in euerm Alexandrien glaubt ihr an das Totengericht.
Osiris thront, Anubis und Horus stehen an der Waage, zweiundvierzig
Beisitzer, Straußfeder auf dem Haupt, Schwert in der Hand, halten
Gericht über den Verstorbenen, und euer Hermes mit dem Vogelkopf
verzeichnet den Spruch. Ich habe die Waage, ich verzeichne den
Spruch. Ich brauche keinen Osiris und keine zweiundvierzig
Beisitzer.«
Dorion hörte ihm zu. Der Mann ist
offenbar verrückt, größenwahnsinnig. Aber seine Stimme ist
angenehm, sie geht ihr angenehm ins Ohr und ins Herz. Ihr Kopf
liegt auf seinem Schoß, mit der einen Hand streichelt sie ihren
großen, langhaarigen Kater Chronos, Josefs starrer, dreieckiger
Bart kitzelt sie. Sie war ihm oft fremd in diesen letzten Wochen.
Oft, gerade wenn dieser nette und männliche Oberst Annius da war,
hat sie nicht begriffen, warum sie sich an diesen sonderbaren Juden
weggeworfen hat, der monatelang, jahrelang keine Zeit für sie
hatte. Aber sowie er da ist, sowie er sie auf und ab schaut mit
seinen heftigen, hemmungslosen Augen, nach ihr greift mit seinen
heftigen, hemmungslosen Händen, dann liebt sie ihn, dann gehört sie
ihm.
»Ich weiß, mein Hermes«, sagt
sie, immer lächelnd, mit ihren dünnen, beweglichen Fingern seinen
kunstvoll geknüpften Bart aufdröselnd, »ich weiß, du brauchst nur
deinen unsichtbaren Gott.«
Josef war nicht gewillt, mit ihr
darüber zu debattieren. Er nahm sie fester, beugte sich tiefer zu
ihr herunter, sprach mit seiner schönen, gewinnenden Stimme auf sie
ein. Er habe sie arg vernachlässigt in diesen letzten Wochen, es
habe ihn große Überwindung gekostet, aber er habe ganz für sie
dasein wollen, ungeteilt. Das sei nicht möglich gewesen, solange er
nicht eine bestimmte Arbeit vollendet hatte. Jetzt sei es soweit.
Es sei gute Arbeit geworden. Am Donnerstag werde er das Buch dem
Kaiser überreichen. Sehr bald darauf werde er öffentlich daraus
vorlesen. Vorher aber, und noch bevor er es dem Kaiser gibt, wolle
er es ihr geben. Das erste Exemplar müsse sie haben.
Dorion erwidert lange nichts. Sie
fühlt sich wohl, den Kopf in seinem Schoß, die Hand in seinem Bart.
Dann, unvermutet, mit ihrer hohen Kinderstimme, lächelnd, fragt
sie: »Sage, mein Josef, wenn jetzt unser Titus Kaiser ist, werden
wir dann endlich zu Geld kommen?«
Josef ändert seine Haltung nicht.
Er ist vornübergeneigt, die eine Hand hält er unter ihrem Kopf.
Geld, denkt er, was heißt Geld. Er findet, daß man mit seinen rund
sechzigtausend Sesterzien Jahreseinnahmen ganz leidlich auskommt.
Dorion ist offenbar nicht dieser Meinung. »Geld?« fragt er zurück,
immer lächelnd. »Was brauchst du? Schmuck? Neues Perso nal? Mußt du
sehr sparen? Sag mir, was du brauchst.« – »Ich?« meint faul und
träumerisch Dorion und streckt sich behaglich. »Ich brauche nichts,
außer vielleicht, daß man sich ein wenig um mich kümmert. Aber wir,
ich meine, du und ich und der Junge, wir brauchen eine Villa, ein
Landhaus, wenn wir schon nicht in der Stadt neu bauen können.« Und
mit einem Ruck richtet sie sich hoch, sitzt da, kindlich, ein wenig
steif, den Kater im Schoß.
Darauf war Josef nicht
vorbereitet. Wohl wußte er, daß ihr das dunkle Haus in Rom niemals
gefallen hat. Es war ehrenvoll, vom Kaiser behaust zu werden in dem
Hause, das er selber einmal bewohnt hat; aber es war nicht zu
leugnen, dieses Haus war altmodisch, verwinkelt, dunkel, muffig.
Seit dem ersten großen Erfolg des Josef hat Dorion sich gewünscht,
in Rom im eigenen Haus zu wohnen. Aber was man hätte bauen können,
das wäre bescheiden gewesen, kleinbürgerlich, nichts für den
verwöhnten Geschmack der Tochter des Hofmalers Fabull. Josef hatte
wirklich zu wenig Zeit und Gedanken an Dorion gewandt; sonst hätte
er voraussehen müssen, daß die Änderung der Situation ihre Träume
neu werde aufleben lassen.
Sie sprach weiter. Sie hatte sich
schon umgetan um das Wie und Wo. Wenn es um die Befriedigung ihrer
Launen ging, konnte die Lässige sehr betriebsam sein. Ihr Vater war
befreundet mit dem Baumeister Grovius, dem Lieblingsarchitekten des
Prinzen Domitian. Der Prinz wird auf der Domäne bei Albanum im
größten Stil bauen. Architekt Grovius, unterstützt von des Prinzen
Freund, unserm Annius, wird erwirken, daß man dort Terrain käuflich
oder mittels langen Pachtvertrages billig erhält. Er hat schon,
unverbindlich natürlich, ein Haus für sie entworfen. Nicht teuer,
bescheiden, dem Vermögen eines Schriftstellers angepaßt, aber hell
und luftig. Ein Herrenhaus, zwei Dienerschaftsgebäude, das ist
alles. Ihr Vater Fabuli hat seit langem eine Idee für ein Fresko,
das organisch durch die Wandelgänge einer Villa laufen soll. Er
hätte es oftmals ausführen können, viele haben ihn darum gebeten;
aber er hat ihr zugesagt, es für sie aufzusparen. Jetzt sei man
also soweit. Sie schaute Josef strahlend an.
Er hörte von diesen Plänen mit
Unbehagen. Ihn störte nicht das alte Haus, nicht die Dunkelheit
seines Arbeitsraums. Man wird »billig« bauen. Wie stellt sich
Dorion das vor? Unter dreihunderttausend wird er nie wegkommen. Er
wird Geld aufnehmen müssen; die Zinsen sind hoch. Und was alles
wird nötig sein, wenn erst Dorion ihre Villa bezieht. Neue Wagen,
neue Dienerschaft. Diese modernen, hellen Häuser sind nicht denkbar
ohne Statuen und Fresken. »Du sollst dir kein Bild machen«, heißt
es in der Schrift. Josef, sowenig er sonst am jüdischen Ritus
festhält, haßt alles Bildwerk, es ist ihm ein Greuel.
Dorion inzwischen schwatzt
weiter, glücklich. Setzt ihm die Pläne des Architekten Grovius
auseinander. Sie zieht ihm das goldene Schreibzeug aus dem Gürtel,
zeichnet mit ein paar Strichen den Grundriß auf. Hier der große
Speiseraum für den Sommer mit Aussicht auf den See und auf das
Meer. Hier die Wandelgänge für Regen. Da kann sich Josef ergehen
und sich von seinem unsichtbaren Gott für sein Totenrichteramt
inspirieren lassen. Hier auch – ihre Stimme wurde bewegt vor Stolz
–, die ganze Wandelhalle durch, soll das Fresko ihres Vaters Fabull
laufen, sein schönstes Werk, das ihre Villa am Albanersee berühmt
machen wird für die Ewigkeit, das Fresko »Die versäumten
Gelegenheiten«. Ein junger Mann schaut jungen Frauen nach, die, ein
langer Zug, von ihm weggehen, Göttinnen, wie es scheint; sie gehen
weg, sie drehen noch den Kopf über die Schulter und lächeln ihm zu,
sie sind sehr schön, in ihrem Lächeln ist ein kleines Bedauern und
sehr viel Spott, und der junge Mann sitzt und starrt ihnen
nach.
Josef ist nicht sehr interessiert
an den Details des Freskos »Die versäumten Gelegenheiten«. Dorion
hat ihm große Opfer gebracht, ungeheure, aber sie hat auch viel von
ihm verlangt, mehr, als gemeinhin ein Mensch zu geben gewillt ist.
Wenn er ihr die Villa schenkt, wird er für die Synagoge kein Geld
mehr haben. Immer wieder stellt sie ihn vor solche Entscheidungen.
Du sollst dich nicht vergatten mit den Töchtern der Sünde. Sie war
halb Griechin, halb Ägypterin, ein Reis jener beiden Völker, die
das seine am meisten gequält haben. Der Priester Pinchas, als er
sah, daß einer aus der Gemeinde Israel hurte mit einer Midianitin,
nahm einen Spieß und ging dem Manne nach in den Hurenwinkel und
durchstach beide, den Mann und das Weib, durch ihren Bauch. Du
sollst dich nicht vergatten. Es war eine sehr große Sünde.
Andernteils hat Moses eine Midianitin geheiratet, Salomo eine
Ägypterin. Ihm selber, dem es aufgetragen war, aus dem Bürger eines
kleinen Staates ein Weltbürger zu werden, mußte allerhand erlaubt
sein. Bisher war es ihm geglückt: er war Jude geblieben und war
Römer geworden. Er hat sich mit der Tochter Edoms vermischt und ist
Josef Ben Matthias geblieben.
Er tauchte auf aus seinen
Träumen, und er sah die Frau, ihr zartes, hochfahrendes,
begehrliches Gesicht, ihre gelockerten Glieder. Er hat diese Frau
oft und abermals gekränkt. Er kann ihr jetzt nicht nein sagen, da
es um ein so Kleines geht wie Geld. Er hat sich vermischt mit ihr,
sie ist ihm sehr fremd, sie ist aus dem Blut uralter Götzendiener,
ihre Väter, die die seinen gequält und gedemütigt haben, schlafen
unter spitzen, hohen, dreieckigen Bergen, sie ist ganz angefüllt
mit törichtem Aberglauben, sie hält die Bücher, die ihm heilig und
sein Liebstes sind, für dumm und verächtlich und seine Lebensart
für leere Spielerei. Gerade erst, da er von seiner Aufgabe erzählt,
von seinem Totenrichteramt, hat sie ihn ausgelacht. Dennoch gehört
sie zu ihm, und er zu ihr, der Jude zu der fremden Frau. Er hat den
Psalm des Weltbürgers geschrieben: »Nicht Zion heißt das Reich, das
ich euch gelobte, sein Name heißt: Erdkreis.« Und da ist die Frau,
und er kann ihr nicht nein sagen wegen Geld.
Er packte sie, daß der Kater
Chronos in Sprüngen davonlief, er riß ihren Kopf hintenüber und
sagte ihr, ganz nah an ihrem halbgeöffneten Mund: »Wenn ich dir
deine Villa gebe, Dorion, gibst du mir dann Paulus?«
Da lachte Dorion, laut, schrill,
bösartig. »Ich denke nicht daran, mein Josef«, sagte sie, aber ihre
Stimme war zärtlich. Doch im nächsten Augenblick riß sie sich los,
jagte hinter einen der leeren Stühle, auf denen die Hörer des alten
Valer gesessen waren. Er ihr nach, mit seinem geübten Schritt. Er
packte sie, fester, gewalttätig. »Bekomme ich meine Villa?« fragte
sie, sich wehrend, aber ihre Augen verschwammen schon.
Josef sagte weder ja noch nein.
Nahm sie. Ringsum standen die leeren Stühle. Von einem Winkel aus
schaute der Kater Chronos zu, leise fauchend, den Rücken
gekrümmt.
Dreihundertfünfzig leibeigene Schreiber, in
sieben Gruppen eingeteilt, arbeiteten an der Herstellung des
»Jüdischen Kriegs«, nach dem Diktat von sieben Spezialisten. Zwei
Tage vor der Audienz konnte Claudius Regin dem Josef das für den
Kaiser bestimmte Exemplar aushändigen. Es war eine schöne, große
Rolle, der Behälter, die Handgriffe aus kostbarem, altem Elfenbein,
das Material herrlichstes Pergament. Die Initialen jedes Kapitels
waren kunstvoll verziert, vornean war vielfarbig das Porträt des
Autors.
Sehr aufmerksam beschaute Josef
das Porträt, kritisch, wie das eines Fremden. Ein brauner, langer
Kopf, heftige Augen, starke Augenbrauen, die Stirne hoch, vielfach
gebuckelt, die Nase lang, leicht gekrümmt, das Haar dicht,
schwarzglänzend, der Bart starr, dreieckig zugespitzt, die dünnen,
geschwungenen Lippen ausrasiert. »Flavius Josephus Römischer
Ritter«, lautet die Umschrift: aber es ist der Kopf des Doktors und
Herrn Josef Ben Matthias, Priesters der Ersten Reihe, Vetters der
Prinzessin Berenike, aus dem Geschlechte Davids. Die Sprache ist
griechisch, aber es ist ein jüdisches Buch. Es ist ein jüdisches
Buch, doch sein Geist ist der eines Weltbürgers.
»Flavius Josephus Römischer
Ritter.« Noch immer beschaut Josef das Porträt. Die Juden rasieren
nicht die Ecken ihres Haupt- und Barthaars. »Ihr sollt nicht rund
abnehmen die Seitenenden eures Haupthaars und nicht zerstören die
Enden eures Bartes«, heißt es in der Schrift. Die Römer hingegen
tragen das Gesicht glattrasiert. Solang es nicht ausgearbeitet
genug ist, lassen sie den Bart stehen; dann aber, wenn sie finden,
ihr Gesicht sei fertig, zeigen sie es nackt. Josef hat jetzt genug
gearbeitet an sich und seinem Buch. Er darf es wagen, sein Gesicht
nackt zu tragen.
Aber ist es klug, jetzt, da er
zum erstenmal zu Titus geht, sich ihm ohne Bart zu zeigen? Titus
verlangt nach dem Juden, nicht nach dem Römer.
Josef rollt das Buch auf. Er hat
ein jüdisches Buch geschrieben. Sein Judentum steckt nicht in
seinem Haar und seinem Bart. Er darf es sich leisten, mit nacktem
Gesicht zu Titus zu gehen.
Der erwartet ihn in angenehmer Spannung. Seit
Wochen hatte er Verlangen getragen, Josef zu sehen; nur jene
seltsame Lauheit, die ihn die ganzen letzten Wochen hindurch
hemmte, hatte ihn verhindert, ihn rufen zu lassen, bevor er sich
meldete.
Der Kaiser hatte in diesen ersten
Wochen seines Regiments keine gute Zeit gehabt. Er war stumpf,
mutlos, alle Frische war ihm ausgeronnen. Es zehrte an ihm, daß das
römische Volk sich all seinen Mühen zum Trotz feindselig vor ihm
zusperrte, daß die Massen in ihm einen Tyrannen sahen, einen
Emporkömmling, einen Ausbeuter. Auch sonst ging alles quer. Die
Mißstimmung gegen die Juden, das Volk seiner geliebten Berenike,
wuchs, und er, vergiftet von jener quälenden Apathie, brachte es
nicht über sich, ernsthafte Maßnahmen dagegen anzuordnen.
Wäre doch erst Berenike da. Er
muß einen Menschen haben, vor dem er sich ganz ausschütten kann.
Sein Arzt Valens schaut einen mit seinen schweren, langsamen,
prüfenden Blikken durch und durch; das tut schmerzhaft wohl. Er hat
Valens soviel wie möglich um sich; auch jetzt ist er bei ihm. Aber
über das Letzte, was ihm fehlt, kann Titus mit diesem seinem Arzt
doch nicht sprechen; der ist Römer, und was ihm fehlt, ist eben das
andere, ist der Osten.
In großer Spannung also erwartet
er Josef. Denn Josef weiß um seine Listen und Kämpfe, Berenike zu
gewinnen, weiß um das Hin und Her, das der Zerstörung des Tempels
vorausging, weiß um seinen Streit mit dem unsichtbaren jüdischen
Gott. In Aufgelöstheit und Bereitschaft erwartet er seinen
jüdischen Freund.
Er stand auf, als Josef kam, ging
ihm entgegen. Aber auf halbem Wege stutzte er. Was ist das, dieses
nackte Gesicht? Ist das sein Jude Josef? Er verzögert den Schritt,
enttäuscht. Soll ihm auch diese Freude wieder zerrinnen? Er sucht
in dem Gesicht des andern, erkennt die gebuckelte, gewalttätige
Stirn, die heftigen Augen, die lange, leicht gekrümmte Nase, die
begehrlichen, geschwungenen Lippen, den ganzen westöstlichen Mann.
Allein so schnell schmilzt seine Fremdheit nicht. Wohl umarmt er
den Josef und küßt ihn, wie es der Gebrauch unter Freunden fordert;
aber seine Gesten bleiben kühl, formell. »Ich freue mich, Sie
einmal wiederzusehen, Flavius Josephus«, sagt er. Er gibt ihm
seinen römischen Titel, und in seiner Stimme ist nichts von der
Vertrautheit, auf die Josef sich gefreut hat.
Josef ist gleichwohl nicht
entmutigt. Mit raschem Blick hat er die Situation übersehen. Das
Porträt der Berenike, die fremden, spähenden, gequälten Augen des
Titus, des Kaisers, seines Freundes. Daß der sich erst in seinem
neuen Gesicht zurechtfinden muß, darauf war er gefaßt. Er muß ihm
Zeit lassen. Mit seiner schönen, warmen Stimme erwidert er, wie
sehr er sich freue, dem Kaiser die neue Fassung seines Werkes zu
überreichen. Dann stellt er ihm den Mann vor, der die Rolle trägt,
diesen seinen Sekretär Phineas. Vielwortig setzt er auseinander,
ein wie trefflicher Mitarbeiter der Herr ihm gewesen sei. Auf
solche Art zahlt er dem Griechen seinen Haß durch Großmut heim und
gibt gleichzeitig dem Kaiser Gelegenheit, Neutrales zu reden und
sich an sein neues Gesicht zu gewöhnen.
Titus spricht mit dem Sekretär
ein paar freundlich gleichgültige Worte. Dann nimmt er ihm die
schwere Rolle des »Jüdischen Kriegs« ab, rollt sie auf, gewahrt das
Porträt des Josef. Lange beschaut er das Porträt, schaut dann von
dem Bild auf den Mann, seine Augen werden frischer, ein Schmunzeln
geht über sein knabenhaftes Gesicht. »Da hast du aber noch deinen
Bart gehabt, mein Josef«, meint er freundschaftlich, mit einem
kleinen Lachen. Josef, das Lachen des Kaisers offen und vertraulich
zurückgebend, erwidert: »Bitte, lesen Sie mein Buch, Majestät, und
sagen Sie mir, ob ich soweit bin, mein Gesicht nackt zu zeigen,
oder ob ich mir von neuem den Bart stehen lassen soll.« – »Sei
sicher, daß ich es dir offen sagen werde«, erwidert, zusehends
herzlicher und vergnügter, Titus, entrollt das Buch weiter, rollt
es dann behutsam wieder zu und legt es, zärtlich fast, auf den
Tisch. Alle seine Schlaffheit ist fort. Er faßt den größeren Josef
um die Schulter, redet auf ihn ein, führt ihn weg von den andern,
geht mit ihm auf und ab in dem weiten Raum, redet, frisch, gelöst,
doch die Stimme leicht gesenkt, auf daß die andern ihn nicht
hören.
Er spricht aber mit ihm von den
langen Monaten, da sie zusammen vor den Mauern des verhungernden,
verfallenden Jerusalem lagen. »Weißt du noch, mein Josef«, sagt er,
»wie wir damals an der Leichenschlucht standen, in Abschnitt IX?
Weißt du noch, was wir damals gesprochen haben?« Ob Josef es wußte.
Das war der Abgrund vor der Mauer gewesen, in den die in der Stadt
ihre Leichen zu werfen pflegten, Tausende jeden Tag. Gegen Ende
Juli war es gewesen, es mögen jetzt ziemlich genau neun Jahre her
sein. Eine große Stille war, sie standen in der früher so üppigen
Landschaft, die nun öde war und voll von scharfem, beizendem,
atemnehmendem Gestank. Da standen sie, zu ihren Füßen die Schlucht,
in der Menschen von Josefs Stamm verwesten, hinter ihnen, vor
ihnen, neben ihnen die Kreuze, an denen Gefangene, Menschen von
Josefs Stamm, hingen, die Luft, das ganze, kahle Land voll Getier,
das auf den Fraß wartete. Es war ein sehr bitterer Sommer gewesen
für den Mann Josef und, bei allem Stolz und Glück, ein sehr
schmerzhafter auch für den Römer. »Und weißt du noch«, fuhr der
Kaiser fort, »was wir miteinander sprachen, als ich dich besuchte,
wie du verwundet lagst, getroffen von den Schüssen der Juden?« Ob
Josef es wußte. »Bist du unser Feind, mein Jude?« hatte Titus
damals gefragt, und »Nein, mein Prinz«, hatte er geantwortet. Aber
»Gehörst du zu denen jenseits der Mauer?« hatte Titus weiter
gefragt, dringlicher, und »Ja, mein Prinz«, hatte Josef erwidert.
Er erinnert sich genau, wie Titus ihn damals angesehen hatte, ohne
Haß, doch kummervoll vor Nachdenken; denn auch Berenike gehörte zu
jenen Fanatischen, Unverständlichen, Verblendeten, und niemals wird
er sie ganz verstehen. »Weißt du noch, weißt du noch«, fragte der
Kaiser, und Josef wußte, und jetzt verstanden sie einer den andern.
Sie waren älter geworden, das Gesicht des einen, jetzt nackt, war
zerarbeitet, viele neue Erfahrungen waren darin eingeschrieben, das
des andern verfettet, müde, voll Verzicht. Aber sie lockerten sich
auf, beide, sie dachten sich zurück, die frühere große Vertrautheit
war um sie. Josef war weitergegangen auf seinem Weg nach Westen,
den Titus zog es weiter auf dem Weg nach Osten. Josef hoffte,
spürte, der Tag wird kommen, da er offen mit diesem Manne über
seine geheimsten Ziele wird reden können, über die sieghafte
Verschmelzung des Ostens mit Rom. An diesem Tage aber werden der
römische Kaiser und der jüdische Schriftsteller eines sein: die
ersten Weltbürger, die ersten Menschen eines späteren
Jahrtausends.
»Ich muß dir übrigens doch
sagen«, erzählte ihm vertraulich Titus, »was mein Vater mir einmal
geraten hat. ›Laß dich nicht zu tief ein mit den Juden‹, redete er
mir zu. ›Es tut manchmal ganz gut, zu wissen, daß es auf der Welt
noch was anderes gibt als die Ideen des Forums und des Palatins. Es
schadet nichts, wenn du dir manchmal von jüdischen Weibern die Haut
und von jüdischen Propheten das Herz kraulen läßt: aber glaub mir,
das römische Exerzierreglement und das politische Handbuch des
Kaisers August sind Dinge, mit denen du im Leben besser bestehst
als mit allen heiligen Schriften des Ostens.‹«
»Und werden Sie sich danach
richten, Majestät?« fragte Josef. »Das siehst du doch«, schmunzelte
vergnügt Titus und schaute auf das Bild der Berenike. Ihr langes,
edles Gesicht blickte aus braungoldenen Augen auf sie herunter,
überaus lebendig. »Dein Schwiegervater Fabuli hat da ein
Meisterstück gemalt«, fuhr er fort, nachdenklich. »Aber was ist es?
Holz und Farbe. Wo ist ihre Stimme? Weißt du noch, es war immer
eine ganz kleine Heiserkeit in ihrer Stimme. Zuerst hat sie mir gar
nicht gefallen. Und wo ist ihr Gang? Während wir vor Jerusalem
standen, wie oft, habe ich davon geträumt, daß sie die Stufen des
Tempels herunterschreiten wird, herunter aus dem Weißgoldenen.
Nikion, Nikion, meine Wildtaube, mein Glanz«, sagte er, in etwas
ungelenkem Aramäisch, gegen das Bild hin. Es war das erstemal, daß
er das Bild der Frau vor einem Dritten mit diesem ihrem Kosenamen
anrief. »Das wird eine gute Zeit werden«, fuhr er fort, strahlend.
»Wir werden einige Mühe haben, unsere Nikion durchzusetzen, aber
wir werden es schaffen.« Er war überaus zuversichtlich, der Soldat,
den Josef kannte, das Kinn kurz, hart, die Augen eng, aufs Ziel
gerichtet. In seiner Stimme aber war das alte, militärische
Schmettern, so daß die beiden andern aufschauten.
Die haben sich inzwischen
miteinander unterhalten, Phineas, der Sekretär, mit dem Leibarzt,
mit Mucius Valens, Inhaber des Goldenen Rings des Zweiten Adels,
einem sehr großen Herrn, einem der mächtigsten des Reichs. Er hat
die medizinische Wissenschaft revolutioniert, dieser Valens, er hat
eine neue Methode der Diagnose gefunden, er erkennt die
Beschaffenheit fast jeder Krankheit an den Augen des Patienten, und
seine Kunst hat ihm großen Ruhm gebracht und viel Geld. Er ist ein
kalter Herr, der Leibarzt Valens, ein Realist, der im Grunde nichts
gelten läßt als Profit und Karriere. Er gibt sich nicht aus im
Gespräch. Auch diesem Griechen Phineas, den der Jude so hoch
gerühmt hat, will er nichts sagen, er will ihn aushorchen, er will
nicht draufzahlen, er will haben, was der andre zu geben hat. Aber
Phineas ist geschickter im Gespräch als der Römer. Er erzählt wenig
von sich, spricht mit Nichtachtung von den Widersachern des Valens,
schmeichelt klug seiner Eitelkeit: er holt ihn aus, und
selbstgefällig und mit großer Offenheit gibt Valens ihm seine
medizinischen Überzeugungen preis.
Die beiden Männer haben lange
Zeit, sich gegenseitig zu beschnüffeln; denn der Kaiser hört nicht
auf, mit dem Juden zu reden. Mit Ungeduld, Neid und Erbitterung
nehmen es die beiden wahr. Es dauert eine Ewigkeit, bis der Kaiser
mit Josef zu ihnen zurückkommt. »Wir müssen uns jetzt sehr oft
sehen, mein Josef«, beendet er das vertrauliche Gespräch. Dann
strafft er sich, klatscht einen Sekretär herbei, verkündet: »Wir
freuen Uns, Flavius Josephus, daß Sie die zweite Fassung Ihres
großen Werkes abgeschlossen haben. Neun Jahre verlangte Horaz für
die Reife eines Buches, neun Jahre jetzt haben Sie an diesem Werk
gearbeitet. Ihr Buch ist ein Ehrendenkmal für Unsern Vater, den
göttlichen Vespasian, eine Ehrung für Uns selbst und Uns sehr
willkommen. Wir sind gewillt, Ihnen auch für die Zukunft die
Möglichkeit zu schaffen, Ihre Wissenschaft und Kunst in würdiger
Muße Unsern Interessen und denen des Reichs zu widmen. Lassen Sie
mich Ihnen zum Zeichen Unseres Dankes und Unserer Anerkennung eine
Anweisung auf den Fonds zur Förderung der Wissenschaften
überreichen.« Und er nimmt aus der Hand des Sekretärs die Anweisung
und übergibt sie Josef.
Josef, gemeinhin nicht eben
geldgierig, hätte in diesem Augenblick doch sehr gerne gewußt, wie
hoch die Anweisung sein mag. Vieles hing für ihn davon ab. Allein
er mußte sie wohl ungelesen in den Ärmel schieben. Er schickte sich
an, dem Kaiser zu danken. Der schaute ihm voll ins Gesicht, mit
einem ganz kleinen Lächeln, dann, unversehens, es war wohl ein
plötzlicher Entschluß, fuhr er fort, und jetzt klang seine Stimme
nicht mehr schmetternd, sondern es war die Stimme eines Freundes,
der dem andern eine Freude macht: »Außerdem, mein Josef, will ich,
daß dein Buch in der Bibliothek des Friedenstempels niedergelegt
und daß dir dort eine Ehrensäule errichtet wird.«
Josef atmete hoch, eine schnelle
Röte über seinem nackten Antlitz. Er mußte an sich halten, sich
nicht ans Herz zu greifen. Selbst Valens und Phineas konnten ihre
Überraschung nicht ganz verbergen. Eine Büste im Ehrensaal des
Friedenstempels. Es gab viele Statuen in Rom, aber eine Büste in
diesem Saal blieb das höchste Ziel eines jeden Schriftstellers;
denn unter den Schriftstellern aller Zeiten, deren Werke in
griechischer oder lateinischer Sprache vorlagen, hatte man nur
einhundertsiebenundneunzig würdig befunden, ihre Werke in die
Ehrenschränke des Friedenstempels aufzunehmen, und nur siebzehn
Lebende waren darunter, elf Griechen und sechs Römer. Oftmals, wenn
Josef an den Tafeln vorbeiging, auf denen in Erz gemeißelt die
Namen dieser großen Schriftsteller standen, hatte er neidvolle,
hochfahrende Betrachtungen angestellt. Ist es ausgemacht, daß unter
den Lebenden wirklich gerade die elf Griechen und sechs Römer
dieser Ehrensäulen die Jahrhunderte überdauern werden? Seit drei
Jahrhunderten lag die Bibel in griechischer Übersetzung vor: warum
fehlten auf der Tafel Namen wie Jesajas, Jeremias, Ezechiel? Sind
die Hymnen König Davids schlechter als die des Pindar? Aber daß er
selber der erste Fremde, der erste »Barbar« in diesem erlauchten
Kreise sein könnte, hatte er aus Furcht vor dem mißgünstigen
Schicksal auch in seinen leisesten Träumen nicht zu denken gewagt.
Wie Tuben und Hörner klang es ihm jetzt durch den Kopf, er fühlte
sich wie damals, als er als Knabe zum erstenmal die Weißgekleideten
auf den Stufen des Tempels hatte singen hören. Das alte Wort
tauchte ihm hoch: »Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der
Welt, und ich bin einer von ihnen«, und betäubend überfiel ihn sein
Glück.
Sogleich aber, noch ehe er dem
Kaiser und Freund dankte, mischte sich eine Sorge in diese seine
flutende Seligkeit. »Du sollst dir kein Bild machen.« Er hat es
zugelassen, ja, er war die Ursache, daß einstmals das Schloß des
Titularkönigs Agrippa in Tiberias um der Bildsäulen willen gestürmt
und niedergebrannt wurde. Es ist eine Todsünde, wenn er es jetzt
zuläßt, daß in dem heidnischen Tempel seine eigene Bildsäule
errichtet wird. Viele Juden, die meisten, werden im geheimen stolz
sein über die Ehrung, die man einem der Ihren erweist. Öffentlich
aber, in den Synagogen und Lehrhäusern, wird man von neuem gegen
ihn predigen, und überall im Reich, selbst jenseits der Grenzen,
bei den Juden des fernen Ostens, wird sein Name zum Abscheu werden.
Leise auch mischten sich andere Besorgnisse ein. Wird er, wenn man
ihm selber eine Ehrensäule errichtet, Dorion das Fresko des Fabull
verweigern können? Und wie soll er das Geld für alles das schaffen?
Vielleicht, dies kam vor, wird er die Errichtung der Bildsäule aus
eigenen Mitteln bezahlen müssen.
Dieser letzten Sorge freilich
wurde er rasch überhoben. Kaum nämlich hatte er seinen Dank
gestammelt, da sagte ihm Titus, er sprach jetzt, dem Freunde zu
Gefallen, aramäisch, schwierig suchte er die Worte aus seinem
Gedächtnis: »In den nächsten Tagen also schicke ich dir den
Bildhauer Basil. Überleg dir aber«, fügte er lächelnd hinzu, »ob er
dich nicht doch lieber mit Bart machen soll.«
An die vierzig Freunde hatten den
Josef zum Palatin begleitet. Sie warteten in der Halle. Als er
zurückkam, strahlend, waren es ihrer sechzig geworden. Unheimlich
schnell hatte sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, daß der
Kaiser den Josef an die zwei Stunden in einer Privataudienz
dabehalten hatte. Man empfing ihn mit lärmender Freude. Als er gar
in halb echter, halb gespielter Bescheidenheit erzählte, welche
Ehrenbezeigungen der Kaiser ihm zugedacht, jubelte man, umarmte
ihn, küßte ihn. Am stürmischsten bekundete der Schauspieler
Demetrius Liban seine Freude. Er streckte den Arm mit der flachen
Hand aus, führte ihn zurück, küßte die Hand, warf Josef den Kuß zu,
verhüllte das Haupt bis auf Stirn und Augen, und so, in der Pose
des Mannes, der die Gottheit verehrt, rührend und komisch zugleich,
rief er wieder und wieder: »O du sehr guter, sehr großer Jude
Josephus.« Er dachte aber daran, daß der Kaiser, wenn er schon
diesen so hoch ehrte, ihm selber bestimmt noch ganz andere Ehrungen
werde zuteil werden lassen.
In großem Triumphzug geleitete
man den Josef nach seinem Haus. »Was ist los?« fragten die
Vorübergehenden. »Es ist der Schriftsteller Flavius Josephus«,
antwortete man ihnen, »der Jude. Er hat ein neues Buch geschrieben.
Der Kaiser hat ihm eine Million geschenkt und läßt ihm Denkmäler
errichten. Es ist aus. Wir kriegen die Jüdin zur
Kaiserin.«
Schon nach zwei Tagen lud der Bildhauer Basil
den Josef ein mit ihm die Einzelheiten der zu modellierenden
Ehrensäule zu besprechen. Josef war in großer Verwirrung. Soll er
nicht doch die Ehrung ablehnen? Wie man es mit den Bräuchen halten
sollte, das blieb ihm ein ständiges, stacheliges Problem. Es
führten mehrere Wege zu Jahve; die Bräuche waren einer von diesen
Wegen. Josef selber hat die Bräuche nicht nötig, er hat seinen
eigenen Weg zu Gott gefunden. Aber für die große Masse sind sie
notwendig. Und jetzt gar, nachdem der Staat nicht mehr da ist, gibt
es, will sich einer zu diesem geistigen Prinzip »Judentum«
bekennen, schwerlich ein anderes Mittel als die Bräuche. Bildwerk
irgendwelcher Art um sich zu dulden ist überdies mehr als die
Verletzung irgendeines der vielen Verbote, es ist die Verleugnung
des geistigen Urprinzips, des unsichtbaren Gottes.
Ist es denn überhaupt möglich,
die Ehrung zurückzuweisen? Es ist möglich. Er könnte zum Beispiel
erklären, er fühle sich dieser Ehrung erst dann würdig, wenn er ein
zweites, größeres Werk vollendet habe. Dies bedeutete ein Opfer,
einen ungeheu ren Verzicht. Und selbst wenn er sich entschließen
sollte, das Opfer auf sich zu nehmen, durfte er es denn? Bedeutete
nicht ein solcher Verzicht zugleich eine Schädigung der gesamten
Judenheit?
Josef fragte den Claudius Regin
um Rat. Der Verleger schaute ihn auf und ab aus seinen schweren,
schläfrigen Augen, seine dicken, schlechtrasierten Lippen
lächelten. Er wußte, Josefs Herz hing an dieser Ehrung, er wußte,
Josef will nur, daß man ihm zurede. Aber er machte sich den Spaß,
ihm nicht zuzureden, er ließ ihn zappeln. Gewiß wäre es ein Schaden
für die Judenheit, meinte er mundfaul, wenn Josef die Ehrung
ablehnte. Aber die Juden hätten schon so viel überstanden, die
Zerstörung des Tempels zum Beispiel; sie würden vielleicht auch die
Nichtaufstellung der Säule überstehen. Josef bat ihn, ernsthaft zu
reden. Es gebe gewisse Handlungen des Josef, erwiderte Regin, die
er selber nicht getan haben möchte. Ob es aber wesentlich sei, von
den dreihundertfünfundsechzig Verboten der Schrift, die die
Doktoren ausgeklügelt hätten, einhundertachtundsiebzig zu
übertreten oder einhunderteinundachtzig, und welche von diesen
dreihundertfünfundsechzig Verboten stärker wiegen und wieviel Unzen
stärker, darüber nachzudenken stehe einem Doktor der
Tempeluniversität von Jerusalem wie dem Josef besser an als einem
vielbeschäftigten Finanzmann. Auf diesem Gebiet sei Josef selber
auch zweifellos sachverständiger als er, und er müsse diese Frage
schon mit sich allein bereinigen. Im übrigen freue er sich, ihm
berichten zu können, daß die Neufassung des »Jüdischen Kriegs«
ausgezeichnet gehe. Vor allem die jüdischen Besteller seien
zahlreich. Er nehme an, das rühre daher, daß diese neue Fassung
weniger, sagen wir: vorsichtig sei. Vielleicht gebe diese Tatsache
dem Josef einen Fingerzeig.
Josef, sehr verärgert, ging zu
Cajus Barzaarone. Hier fand er mehr Verständnis. »Wenn Sie mich
fragen«, sagte der alte Möbelhändler, »so kann ich Sie nur auf mein
eigenes Exempel hinweisen. Sie wissen, ich habe mich dazu
verstanden, an dem von mir verfertigten Hausrat Tierfiguren als
Ornamente anbringen zu lassen; sonst hätte mich die Konkurrenz
überholt. Einige angesehene Doktoren haben mir freundliche Gutach
ten ausgestellt und in meinem Fall die Fabrikation der
Tierornamente für eine läßliche Sünde oder gar für erlaubt erklärt.
Aber diese Konzessionen sind fragwürdig, darüber bin ich mir klar;
schließlich heißt es in der Schrift eindeutig: ›Du sollst dir kein
Bildnis machen.‹ Ich habe jedenfalls meinem alten Vater – das
Andenken des Gerechten zum Guten – noch vor seinem Ende durch
meinen Liberalismus viel Kummer gemacht, und manchmal sage ich mir,
vielleicht war auch der Schiffbruch und Untergang meines ältesten
Sohnes Cornel eine Strafe für meine Sünden. Ich versuche, meine
Schuld gutzumachen. Für den Loskauf jüdischer Leibeigener habe ich
dreimal mehr beigesteuert als den vorgeschriebenen Zehnten.
Trotzdem drückt mich der Zweifel, ob es erlaubt ist, Geld, selbst
wenn man es für solche Zwecke verwendet, mit fragwürdigen Mitteln
zu erwerben. Ihre Situation, Doktor Josef, ist noch ungünstiger.
Eine Porträtbüste anfertigen zu lassen verstößt zweifellos gegen
den Geist der Lehre. In Ihrem Fall werden die Doktoren von Jabne
kaum Milderungsgründe finden.« – »Sie raten mir also ab?« fragte
Josef. »Ich rate Ihnen zu«, erwiderte langsam Cajus Barzaarone, vor
sich hin schauend. »Es ist im Interesse von uns allen. Sie haben
schwere Sünden auf sich genommen, und sie waren weniger im
Interesse von uns allen. Nehmen Sie die Ehrung an.« Er schaute ihm
plötzlich voll ins Gesicht und sagte, unerwartet dringlich: »Aber
zeigen Sie, daß Sie ein Jude sind. Lassen Sie endlich Ihren Jungen
beschneiden, Doktor Josef.«
Der Mann redete. Der Mann hatte
leicht reden. Er wußte doch, daß Josef keine juristischen
Möglichkeiten besaß, seinen Sohn ohne Dorions Zustimmung ins
Judentum zu zwingen. Als hätte Cajus Barzaarone seine Gedanken
erraten, fügte er hinzu: »Wenn Ihre Frau Sie liebt, wird sie kein
Bedenken tragen, den Jungen nach Ihren Wünschen erziehen zu
lassen.« Josef erwiderte nichts. Es war aussichtslos, dem andern
klarzumachen, daß Dorion ihn liebte und es dennoch nicht zuließ,
daß sein Sohn zum Juden wurde.
Im Grunde freilich hat der Mann
recht. Je mehr Josef Ben Matthias zum Flavius Josephus wird, um so
mehr ist er verpflichtet, seinen Paulus zum Juden zu machen. Er
wird die Ehrung annehmen, und er wird den Kampf um seinen Sohn von
neuem beginnen. Wenn erst Berenike da ist, dann wird er vielleicht
sogar durchsetzen können, daß die juristischen Hemmungen fallen und
daß Paulus auch ohne Dorions Zustimmung zum Juden werden
kann.
Vorläufig aber kam nicht die Prinzessin
Berenike, sondern es kam der Gouverneur der Provinz Judäa, Flavius
Silva. Er brachte mit sich das Konzept eines Buches, das er über
die Juden schreiben, und eine Denkschrift, die er dem Kaiser
überreichen wollte. Nun Berenike in Rom erwartet wurde, hielt er es
für ratsam, selber in der Hauptstadt zu sein, und er war glücklich,
daß sich die Ankunft der Prinzessin so lange
hinauszögerte.
Der Gouverneur Flavius Silva war
ein vergnügter, lärmender Herr, ein Vetter des Obersten Annius
Bassus und diesem sehr ähnlich. Man hatte, nachdem die Generäle
Cerealis und Lucil versagt hatten, ihn mit der Statthalterschaft
der sehr schwierigen Provinz betraut, und er hatte sich in die
Aufgabe verbissen, Judäa zu befrieden und zu romanisieren. Es
verbarg sich hinter seinem lauten und jovialen Gehabe ein gut Teil
harter, zäher Schlauheit.
Das Land war verwüstet, die
berühmte Stadt Jerusalem zerstört, ein großer Teil der jüdischen
Bevölkerung tot oder als Leibeigene verkauft. Der neue Gouverneur
bemühte sich mit Erfolg, das Land neu zu besiedeln. Im Einvernehmen
mit der Zentralregierung in Rom verteilte er Hunderttausende der
jüdischen Bewohner seiner Provinz übers ganze Reich, erleichterte
ihre Auswanderung, zog möglichst viele nichtjüdische Kolonisten
nach Judäa. Baute eine ganze Reihe von zerstörten jüdischen Städten
als griechisch-römische Siedlungen neu auf, gründete neue, die
Stadt Flavisch Neapel zum Beispiel, und brachte sie rasch hoch.
Neun Jahre nach der Zerstörung Jerusalems konnte er nach Rom
melden, sein Neapel habe bereits vierzigtausend Einwohner, seine
Hauptstadt, die Meerstadt Cäsarea, habe um sechzigtausend
zugenommen.
Flavius Silva war ein gerechter
Mann, den Juden nicht abgeneigt. Aber er war Römer bis in die
Knochen, dem Kai serhaus verwandt und fest entschlossen, römischen
Frieden und römische Ordnung, wie sie Kaiser Vespasian dem ganzen
Reich aufgezwungen, auch in seiner Provinz durchzusetzen. Er
brachte seine Syrer zur Räson, wenn diese glaubten, sie könnten
ungestraft die Juden schikanieren, aber er duldete es auch nicht,
wenn die Juden seine Syrer und Griechen durch ihren albernen
Religionseifer zu ihrem eigenen Glauben verleiten wollten. Rom war
tolerant, der jüdische Glaube von Staats wegen erlaubt. Man hatte
nach vielem Blutvergießen darauf verzichtet, die jüdische
Bevölkerung zu zwingen, den Bildsäulen der konsekrierten Kaiser
Reverenz zu erweisen. Hatte sogar aus Rücksicht auf die jüdische
Bevölkerung die allwöchentlichen unentgeltlichen
Getreidelieferungen in den Städten Alexandrien und Antiochien vom
Sonnabend auf den Freitag verlegt. Wenn aber jetzt die Juden seiner
Provinz darüber hinaus sich anschickten, Griechen oder Römer ihrem
angestammten Glauben an die Staatsgötter abspenstig zu machen, so
war das Maß überschritten, und Flavius Silva dachte nicht daran,
diesen staatsfeindlichen Bekehrungseifer der Juden
hinzunehmen.
Nun sandten ihm zwar die Juden
immer wieder Delegationen in sein Regierungspalais, Doktoren und
Juristen, um in langen Reden und vielwortigen Schriftsätzen zu
beweisen, es liege ihnen fern, Nichtjuden zu ihrem Glauben zu
bekehren. Aber das änderte nichts an der Tatsache, daß eine ganze
Menge Bettelphilosophen in seiner Provinz herumzogen, vor Syrern
und Griechen eifernde Predigten hielten und ihnen ihr jüdisches
Himmelreich anpriesen. Als er die jüdischen Doktoren darauf
hinwies, erzählten sie ihm, diese Bettelphilosophen und Zyniker
seien eine winzige Splitterpartei, Minäer oder auch Christen
genannt, eine unbedeutende Sekte, mit abweichenden, unverbindlichen
Lehrmeinungen. Doch der Gouverneur war nicht der Mann, sich mit
einem so billigen Ableugnungsmanöver zufriedenzugeben. Wie denn?
Was denn? Diese sogenannten Christen schauten genauso aus wie seine
andern Juden, sie taten das gleiche, sie lehrten das gleiche,
anerkannten die gleichen heiligen Schriften, die gleichen
Feiertage, sprachen gleich schlecht Latein, waren gleich schwie
rig. Im Grunde hielt Flavius Silva alle Juden für Barbaren und ihre
Religion für einen wirren Aberglauben. Soweit er die verwickelten
Darlegungen der Doktoren verstand, handelte es sich bei der Sekte
der sogenannten Minäer oder Christen darum, daß diese glaubten, der
Messias sei schon vor vierzig oder fünfzig Jahren erschienen,
während die übrigen Juden annahmen, er werde erst in zwanzig oder
dreißig Jahren auftreten. Beide Annahmen offenkundig höchst
läppischer Aberglaube; denn in Wahrheit war ja der Messias vor zehn
Jahren erschienen in Gestalt des Kaisers Vespasian, was der
legitime Vertreter der jüdischen Priesterschaft, der Schriftsteller
Flavius Josephus, selber zugegeben hatte. Jedenfalls konnte sich
ein Verwaltungsbeamter, der für die Ordnung im Lande verantwortlich
war, auf so spitzfindige Unterscheidungen wie die zwischen den
Minäern und den übrigen Juden nicht einlassen. Flavius Silva hielt
denn auch der gesamten Judenheit gegenüber den Vorwurf der
Proselytenmacherei aufrecht und war entschlossen, gegen diesen
Unfug mit allen Mitteln einzuschreiten.
Aus diesem Grunde also war er,
ausgerüstet mit reichlichem Material, das seine Herren hatten
sammeln müssen, nach Rom gekommen. Er wollte, noch bevor die
Prinzessin Berenike hier eintraf und ihren Einfluß geltend machte,
gesetzgeberische Maßnahmen gegen das Unwesen erwirken. Er wollte
sich auf ein Gesetz stützen können, das mit Leibeigenschaft und Tod
einen jeden bedrohte, der einen Anhänger der Staatsreligion dem
Glauben seiner Väter abspenstig machte und ihn einem andern Glauben
zuführte, sei es durch Beschneidung, sei es durch Tauchen in
Wasser.
Der Gouverneur saß bei den
Ministern und bei den Senatoren herum. Er war ein gewitzter
Politiker, er behandelte die Herren des kaiserlichen Kabinetts sehr
anders als die des Senats. Den Ministern erklärte er, wie rasch er
in seiner Provinz die Ordnung endgültig herstellen könnte, wenn nur
endlich ein kaiserliches Edikt strenge Strafen gegen die
Gottlosenbewegung festsetzte. Gestützt auf ein solches Edikt,
könnte er die Bekenner der Staatsreligion wirksam vor dem
Bekehrungseifer der Juden schützen, ohne diesen zu nahe zu treten.
Den Senatoren legte er dar, wie übel, vor allem seit dem
Thronwechsel, die Übergriffe der Juden zunähmen. Spaßhaft erklärte
er, wenn das so weitergehe, dann würden bald durch alle syrischen
Städte Judäas Juden mit gezücktem Messer laufen, um jemanden zu
suchen, den sie beschneiden könnten. Der Senat möge doch endlich
ein Gesetz dagegen erlassen oder zumindest die Gesetze über
Körperverletzung und Eunuchentum dahin erweitern, daß sie auch die
Beschneidung eines Nichtjuden inbegriffen.
Die frische, offene Art des
Gouverneurs gefiel allgemein. Titus selber freilich zögerte die
Audienz immer wieder hinaus, in der Flavius Silva über die Zustände
in Judäa Vortrag halten und ihm seine Denkschrift überreichen
wollte. Den Senatoren hingegen, vor allem denen der Opposition,
sagte der Gedanke sehr zu, in der gesetzgebenden Körperschaft eine
Vorlage im Sinne des Gouverneurs einzubringen. Selbst wenn dann der
Kaiser sein Veto einlegte, hatte man deutlich gezeigt, daß man
nicht gewillt war, die Politik des Reichs von Rücksichten auf die
Jüdin bestimmen zu lassen.
Im übrigen hinderten den Flavius
Silva seine umständlichen politischen Geschäfte nicht, nach den
Entbehrungen der Provinz das laute, fröhliche Leben der Hauptstadt
zu genießen. Man sah ihn auf vielen Festen, man sah ihn in den
vornehmen Villen in Antium und den albanischen Bergen.
Sein Vetter Annius führte ihn bei
der Dame Dorion ein. Annius hatte ihm viel von den Opfern erzählt,
die diese reizvolle Frau auf sich genommen hatte, um ihren Sohn vor
der Beschneidung zu bewahren. Hatte sie es doch nur zu diesem Zweck
abgelehnt, römische Vollbürgerin zu werden; denn war sie erst im
Genuß dieses Bürgerrechts, dann verwandelte sich ihre Verbindung
mit Josef aus einer Ehe halber Legalität in eine vollgültige, und
dann stand es bei Josef, die Glaubenszugehörigkeit seines Sohnes zu
bestimmen. Flavius Silva war entzückt von der Haltung der Dame
Dorion und verfehlte nicht, ihr seinen Enthusiasmus auf soldatische
Art zu zeigen.
Die Tatsache, daß die Frau des
größten jüdischen Schriftstellers sich mit solcher Hartnäckigkeit
und unter so vielen Opfern der Beschneidung ihres Sohnes
widersetzte, bestätigte dem Gouverneur, wie widerwärtig jedem
normalen Untertan des Reichs der jüdische Aberglaube war und wie
berechtigt also sein Vorgehen. Dorions Kampf wurde sein
eigener.
Sehr schnell verbreitete sich
auch auf dem rechten Tiberufer die Nachricht von der Ankunft des
Gouverneurs und seiner Absicht, bittere Maßnahmen gegen das
geschlagene Volk der Juden durchzuführen. Ein Trost blieb, daß der
Kaiser ihn nicht empfing. Trotzdem wuchs Unruhe und
Angst.
Und Berenike kam nicht.
Cajus Barzaarone ging nochmals zu
Josef und bat ihn, er möge sich nicht länger Gewissensskrupel
machen. Im Interesse aller müsse er sich überwinden und die
Ehrensäule annehmen. Doktor Licin redete ihm zu, der Glasfabrikant
Alexas, sogar, leichtgrinsend, Claudius Regin. Demetrius Liban bot
seine geübte Beredsamkeit auf. Alle bestürmten sie den Josef. Er
aber ließ sich bitten, oft und abermals, und zögerte lange, ehe er
endlich tat, was zu tun er von Anfang an entschlossen
war.
Mit Unbehagen ging er durch den neunten Bezirk,
in dem der Bildhauer Basil sein Atelier hatte. In diesem Bezirk
waren die meisten Steinmetzen angesiedelt. Hier lagen, eine neben
der andern, die zahlreichen Werkstätten, in denen fabrikmäßig die
Denkmäler und Büsten hergestellt wurden, die der ungeheure Bedarf
der Stadt und des Reichs forderte. Jetzt zum Beispiel, nach der
Thronübernahme, wurden allein an großen Büsten und Denkmälern des
Titus über dreißigtausend verlangt. Man sah hier den neuen Kaiser
in allen Stellungen, als Triumphator, zu Pferde, auf dem Thron.
Sein breiter, knabenhaft nachdenklicher Kopf mit den kurzen,
krausen, in die Stirn frisierten Locken war zu Zimmerschmuck jeder
Art verarbeitet. Künstlerische Skrupel machte man sich wenige. Da
hatte man etwa auf Vorrat vierhundert Vollstatuen des Vespasian
angefertigt, die jetzt durch den Tod des Kaisers zu raumfressenden
Lagerbeständen wurden; man verwendete kurzerhand die Rümpfe und
setzte ihnen den Kopf des neuen Herrschers auf.
Josef haßte den neunten Bezirk.
Unmutig schritt er durch den heißen, staubigen, lärmenden Wald
gigantischer und winzig kleiner Stein- und Erzbilder von Göttern,
Kaisern, Heroen, Philosophen. Angewidert ging er vorbei an den
ernsten und neckischen Erzeugnissen des Kunstgewerbes, an Spiegeln,
Leuchtern, Dreifüßen, Vasen, die betrunkene Silene zeigten,
tanzende Nymphen, geflügelte Löwen, Knaben mit Gänsen, vielfältige
Ausgeburten einer kindisch tändelnden Phantasie.
Endlich war er am Hause des
Bildhauers Basil angelangt. Es lag inmitten des Getümmels der
Werkstätten. Erschreckend beinahe überfiel ihn die plötzliche
Stille, als er die Vorhalle betrat. Die Werkstatt selber war ein
großer, heller Saal; ein paar Bildwerke standen darin herum,
Antiken wahrscheinlich, Josef verstand sich nicht darauf. Der
Künstler Basil stand in dem weiten Raum, salopp, klein, etwas
verloren.
Er hieß den Josef sich setzen,
ging um ihn herum, vielwortig schwatzend. »Natürlich freut es mich,
Flavius Josephus«, sagte er, ihn mit hellen, unangenehm
eindringlichen Augen musternd, »daß der Kaiser mir diesen Auftrag
gegeben hat. Aber mir wäre lieber, er hätte ihn mir ein halbes Jahr
später gegeben. Sie können sich nicht vorstellen, was unsereiner
gerade jetzt zu tun hat. Meine Gesellschaft allein hat fünfhundert
neue Arbeiter eingestellt. Na«, kam er endlich zur Sache, seufzend,
»wollen wir eben zusehen, daß wir etwas möglichst Schönes aus Ihnen
machen. Hast du dir den Herrn gut angeschaut, Kritias?« wandte er
sich an einen ziemlich vierschrötigen Burschen, einen Leibeigenen
vermutlich oder einen Freigelassenen. »Das ist nämlich mein
Gehilfe«, erklärte er dem Josef. »Er wird Ihnen die Augen
einsetzen, wenn wir soweit sind. Das ist seine Spezialität.« Auch
der Bursche beschaute Josef eindringlich; der kam sich vor wie ein
Tier auf dem Markt, wie ein Leibeigener auf der Auktion.
Der kleine, quicke Basil, immer
um den peinvoll sitzenden Josef herumgehend, schwatzte munter
weiter. »Wie haben Sie sich’s denn gedacht, Flavius Josephus?«
fragte er. »Was meinen Sie zum Beispiel zu einer größeren Gruppe,
Sie sitzend, Buch in der Hand, zwei oder drei Schüler zu Ihnen
aufblickend? Aber auch eine Büste auf einem eingelegten Sockel oder
eine Säule wäre nicht reizlos. Einen markanten Kopf haben Sie. Ich
hatte Sie mir übrigens immer mit Bart vorgestellt. Wissen Sie, Sie
sind doch auch Nichtrömer, mit Ihnen kann ich offen reden. Im
Grunde verstehen sie nichts von Kunst, die Römer. Nur bei Porträts
muß man sich in acht nehmen. Davon verstehen sie was. Leider. Na,
was denken Sie? Gruppenbild oder Büste? Gruppenbild wäre leichter.
Reden Sie doch einen Ton, bitte«, ermunterte er ihn, da Josef
verdrossen schwieg. »Erzählen Sie mir was aus Ihrer Vergangenheit,
daß ich Leben in Ihr Gesicht kriege. Ich sehe schon«, wandte er
sich an Kritias, »der Herr will die ganze Verantwortung mir
zuschieben. Gehen wir schon an die Büste«, entschied er sich,
seufzend. »Es spricht einiges dagegen, ich sage es Ihnen offen,
Flavius Josephus. Ihr Kopf ist zwar ausgezeichnet, aber, von uns
aus gesehen, kein Schriftstellerkopf. Zuviel Energie und zuwenig
Kontemplation. Auch du wirst es nicht leicht haben, mein Kritias.
Diese beweglichen Augen, schwierig. Sie müssen wissen, Flavius
Josephus, wenn sich der Künstler mit der klassischen Manier
begnügt, mit geschlossenen Augen, dann spart er sich Zeit, Arbeit,
Seele. Na, drücken wir uns nicht. Immer einmal heran, mein
Kritias.«
Josef mußte auf einem Podium
Platz nehmen. Basil klatschte ein paar Schüler herbei, und,
unbekümmert um den mürrisch Sitzenden, analysierte er Gesicht und
Haltung seines Modells. »Ihr seht, Jungens«, führte er aus, »diesen
Herrn Flavius Josephus, einen, wie man mir sagt, ungewöhnlich
bedeutenden Schriftsteller – ich selber habe leider noch nicht die
Zeit gefunden, seine Bücher zu lesen –, dem Seine Majestät eine
Ehrensäule in der Bibliothek des Friedenstempels zuerkannt hat. Das
ist eine große Aufgabe, und wir wollen unser Modell scharf
studieren, bevor wir anfangen.
Der Herr sieht beim ersten
Anblick etwas finster aus, aber wir wollen das nicht
unterstreichen, es scheint mir nur eine momentane Stimmung. Die
Augen liegen tief, da entsteht sowieso ein finsterer Ausdruck. Gib
viel Glanz in die Augen, mein Kritias. Siehst du dieses etwas
bösartige Schillern, das der Herr jetzt gehabt hat? Das mußt du mir
festhalten. Aus den dünnen Lippen würde ein Philosoph
wahrscheinlich auf eine weitabgewandte Gesinnung schließen. Aber
unsereiner sieht sogleich, daß sich der Herr trotzdem recht gut in
der Welt auskennt. Wir müssen herauskriegen, Jungens, wie kräftig
die Lippen sind bei all ihrer Dünnheit. Wir werden den Kopf ein
wenig über die Schulter drehen. Das ist ein Experiment, das ist
gegen die Schulregel. Aber auf solche Art kriegen wir die Augen in
die Winkel. Das gibt den Ausdruck eines Mannes, der mit seinen
Augen die Welt packen will. Und dann kriegen wir auch die stolze,
gierige Geste heraus, die dem Herrn so gut steht. Eine echte
Schriftstellergeste nebenbei, die wir schon deshalb unter allen
Umständen herausholen müssen; wir leisten es uns nämlich, den Herrn
ohne Buch darzustellen, und das Gesicht wirkt sowieso nicht sehr
literarisch. Was abgesehen von dem speziellen Fall kein Nachteil
ist. Schaut euch das Hagere, Knochige des Kopfes an, Jungens, die
ausgezeichnete Stirn, die Buckel über den Augen, die Buckel unterm
Haaransatz, dieses Auf und Nieder, die Zerarbeitung, die
Zerklüftung. Der Kollege Diodor würde jeden dieser Züge wichtig
unterstreichen. Wir werden das nicht machen. Wir werden
charakterisieren, nicht karikieren.
Es ist ein jüdischer Kopf, den
wir da zu machen haben. Herr Flavius Josephus ist Jude. Denkt euch
den Bart hinzu, dann wird es noch deutlicher. Wir müssen es dahin
bringen, daß sich der Beschauer, ohne daß er es selber merkt, den
Bart hinzudenkt. Macht die Augen auf, Jungens. Schaut euch den Kopf
gut an, so wie er jetzt vor euch ist. Wenn ich ihn erst einmal
modelliert habe, dann werdet ihr ihn nur mehr sehen, wie ich ihn
sah.«
Er schickte die Schüler hinaus
und dann auch den Kritias. »Diese Vorbereitungen sind ein wenig
langweilig«, wandte er sich wieder an Josef. »Aber ich kann nicht
zu arbeiten anfangen, ehe ich mir über jede Einzelheit klargeworden
bin. Das geht am besten, wenn ich das Modell meinen Schülern
erkläre.«
»Wie halten wir es mit der
Säule?« fragte er nachdenklich. »Wenn wir Herrn Fabuli dazu
bekämen, Ihren Schwiegervater, die Säule zu bemalen, das wäre eine
große Sache.« – »Ich möchte Herrn Fabull nicht bemühen«, lehnte
Josef kurz ab. »Fabuli ist ein herrlicher Maler«, beharrte Basil,
»und für solche Arbeit unbestritten der erste Mann der Epoche. Ich
arbeite gern mit ihm.« – »Ich möchte Herrn Fabull nicht
heranziehen«, erwiderte noch energischer Josef. »Wenn Sie es
durchaus ablehnen«, seufzte Basil, »dann müssen wir den Sockel mit
Reliefs ausarbeiten. Sie waren doch General, habe ich mir sagen
lassen. Da werden wir am besten einige Ihrer Kriegstaten auf den
Reliefs darstellen.«
Josef war im Begriff, auch diesen
Vorschlag heftig zurückzuweisen, als mit kräftigem Schritt, an dem
tief sich neigenden Leibeigenen vorbei, eine junge Dame in das
Atelier kam, stattlich, schön, hochfahrend. Sie habe
unerwarteterweise zwei Stunden frei, erklärte sie dem
offensichtlich geschmeichelten Bildhauer, und jetzt wolle sie ihre
Kolossalstatue beschauen, solange sie noch im Stein stecke. Ob sie
sehr störe, unterbrach sie sich, mit einer leichten Kopfbewegung
gegen Josef. Die ganze Zeit hatte sich Josef gefragt, wessen Züge
dort drüben das große Modell der Juno trage. Jetzt erkannte er, daß
es natürlich die Züge dieser Dame waren, der Frau des Erbprinzen,
Lucia Domitia Longina. Der Bildhauer, in seiner saloppen Art,
sagte, sie störe nicht; denn selbstverständlich werde er vorher
seine Sache mit dem Herrn ins reine bringen. Dann werde er ihr gern
die Statue zeigen.
Der Herr selbst aber scheine
verärgert, bemerkte die Prinzessin, den Josef ungeniert auf und ab
schauend, leicht amüsiert über sein steifes, verschlossenes
Gesicht.
Basil stellte ihn vor. Sie habe
doch gleich gewußt, sagte Lucia, daß sie dieses Gesicht kenne. Sie
habe ihn schon mehrmals gesehen, er sei ihr aufgefallen. Aber etwas
an seinem Gesicht habe sich verändert. »Ein interessantes Buch, Ihr
›Jüdischer Krieg‹«, fuhr sie fort, ihn unverwandt und ohne
Rücksicht musternd. »Gewöhnlich wird in solchen Büchern schrecklich
gelogen. Selbst in den Memoiren meines Vaters, des Feldmarschalls,
scheint mir einiges verdächtig. Bei Ihrem Buch hatte ich den
Eindruck, Sie schwindeln nur, wenn es um Nie selber geht. Dafür
habe ich Witterung.«
Josefs Gesicht verlor seine
Finsternis. Sooft er diese Dame Lucia bei offiziellen Anlässen
gesehen hatte, war sie ihm ernst vorgekommen, streng,
repräsentativ, die Juno des Modells. Nie hätte er gedacht, daß sich
diese Juno so leicht und angenehm geben könnte. Sein Unmut war
fort. Vor Frauen solcher Art fühlte er sich sicher und beschwingt.
Möglich, setzte er ihr auseinander, daß an seinem Buch einiges
gezwungen und weniger überzeugend wirke. Das komme daher, daß er
seine Gedanken in einer fremden Sprache habe ausdrücken müssen.
Jetzt aber, in der Neufassung, sei ihm vieles besser
geglückt.
»Wie ist es also?« unterbrach
Basil. »Bleibt es bei den Reliefs?« Josefs Unbehagen kam zurück.
Was denn aus seinem früheren Leben will er in Stein hauen, dieser
Aufdringliche? Seine Taten im jüdischen Krieg? Die werden sich
nicht gut ausnehmen in römischen Augen. Seine Begegnung mit
Vespasian, diese zweideutige, ihn peinigende Begegnung, die ihn vor
den Juden befleckt, soll die in Stein gehauen werden?
per kleine, flinke Basil – ihr
»Eichhörnchen« nannte ihn Lucia – schwatzte unterdessen munter
weiter. Sonst habe man bei einem Schriftsteller nicht viel Material
für den Sockel, meinte er, aber bei einem Kriegshelden wie Josef
bleibe ja die einzige Qual das Wählen. Josef fiel ihm ins Wort. Man
lasse seine Niederlagen nicht gerne in Stein hauen, lehnte er ab.
Er bitte darum, die Säule glatt zu halten, ohne Bemalung und ohne
Relief. Vielleicht sei das eingebildet, aber er glaube, seine
eigene Darstellung der Ereignisse sei anschaulich genug.
»Schön«, fügte sich Basil. »Sie
ersparen mir Arbeit.« Lucia hatte schweigend zugehört. »Sie sind
ein schwieriger Herr«, sagte sie jetzt zu Josef, lächelnd.
»Merkwürdig, daß einer nach soviel Erlebnissen noch so empfindlich
ist.«
Dann machte man sich auf den Weg,
um die Kolossalstatue zu beschauen. Lucia forderte Josef auf,
mitzukommen. Inmitten von Staub und Lärm hob sich die riesige Juno,
noch zu einem guten Teil im Stein steckend. Die linke Hand sprang
vor, Basil kletterte hinauf. Auf der mächtigen, steinernen Hand
stehend, erklärte er seine Arbeit. Eine Juno sei keine dankbare
Aufgabe. Eine Juno bleibe fad und feierlich, selbst wenn eine Lucia
das Modell sei. Er möchte einmal die wirkliche Lucia machen, nicht
die offizielle, repräsentative. »Wie stellen Sie sich denn die
wirkliche Lucia vor?« fragte von unten herauf die Prinzessin,
lachend. »Zum Beispiel«, meinte, sich duckend, Basil, »als Tänzerin
Thais auf dem Rücken des Philosophen reitend, angenehm besoffen.
Das wäre eine Aufgabe.«
Die große Lucia streckte sich,
griff nach ihm, holte ihn von der Hand ihrer Statue herunter. Ihr
persönlich liege wenig an Respekt, erklärte sie friedfertig, aber
Bübchen würde sich ärgern, wenn er so unehrerbietiges Gerede hörte.
»Jetzt«, wandte sie sich an Josef, »wo wir Ihre Jüdin bald da haben
werden, Ihre Berenike, darf ich mir erst recht nichts vergeben. Ihr
Juden macht unsereinem viele Ungelegenheiten«, seufzte sie. »Er
gehört übrigens zur angenehmeren Sorte, finden Sie nicht, mein
Eichhörnchen?« sagte sie zu Basil. Josef ärgerte sich, daß sie so
über ihn hinweg sprach. Trotzdem, als sie ihre Sänfte bestieg,
fragte er, sie mit seinen heftigen Augen dringlich anschauend:
»Darf ich Ihnen die Neufassung meines Buches bringen?« – »Tun Sie
das, mein Lieber«, erwiderte sie. Auch das sagte sie obenhin. Aber
sie winkte dem Diener ab, der die Vorhänge schließen wollte, und
während die Sänfte sich in Bewegung setzte, schaute sie den Josef
an, mit geschlossenen Lippen lächelnd, ein klein wenig spöttisch,
sehr einladend. Ihre Stirn unter der in vielen Locken hoch sich
türmenden Frisur war rein und kindlich, ihre weit
auseinanderstehenden Augen über der langen, kräftigen Nase schauten
furchtlos, lebensgierig. Josef aber lächelte in seinem Innern und
ärgerte sich nicht mehr.
Zu ungewohnter Stunde erschien in dem Haus im
sechsten Bezirk der Glasfabrikant Alexas, den Josef unter allen
Juden in Rom für seinen besten Freund hielt. Dieser Alexas war
seinerzeit während der Belagerung in Jerusalem geblieben, seinem
alten Vater zuliebe, der sich nicht von der Stadt hatte trennen
können. Er hatte dort grausige Dinge durchgemacht, man hatte ihm
seine ganze Familie auf schauerliche Art getötet, er selber war, im
letzten Augenblick, von Josef aus einem Gefangenendepot
herausgeholt worden, das die für Tierhetzen und Kampfspiele
Bestimmten enthielt. Der weltkundige Mann mit seinen
fortschrittlichen Fabrikationsmethoden war auch in Rom rasch
hochgekommen. Seine stattliche Leibesfülle freilich und die
frischen Farben seines Gesichtes waren für immer fort, sein
strahlend schwarzer Bart verfärbt, und eine leise, wissende Trauer
war um alles, was er sagte und was er tat. Josef hielt große Stücke
auf seinen Freund. Der lebte beispielhaft und ohne viel Krampf vor,
wie man gleichzeitig ein guter Jude und ein guter römischer
Untertan sein konnte.
Heute schien der sonst so ruhige
Mann erregt, seine trüben, bekümmerten Augen belebt. Zwei
unerwartete Besucher waren in seinem Haus eingetroffen, ein Mädchen
aus Judäa, oder vielmehr eine Frau, in Begleitung eines
zehnjährigen Jungen, beide ihm von früher her nicht bekannt. Es war
die erste Frau des Josef, Mara, mit ihrem Sohne Simeon.
Dem Alexas hatten die Frau und
der Junge gut gefallen. Josef aber schien betreten, ablehnend.
Warum denn die Frau gerade zu ihm gekommen sei? fragte er den
Alexas. Es war deshalb gewesen, weil sie seinen Namen schon in
Judäa gehört hatte als den eines Freundes des Josef. Was sie in Rom
wolle, erzählte Alexas weiter, habe sie ihm nicht anvertraut, für
alle seine Fragen habe sie ein sanftes, geheimnisvolles und
verschmitztes Lächeln gehabt. Sie habe ihn nur gebeten, zu dem
Doktor Josef Ben Matthias zu gehen, Priester der Ersten Reihe,
Freund des Kaisers, ihrem Herrn und früheren Gemahl, auf daß der,
wenn er auch sie selber verworfen habe, seinem Sohne sein Antlitz
leuchten lassen möge, dem Simeon, Janiki, seinem
Erstgeborenen.
Josef hatte seine frühere Frau
die ganzen zehn Jahre hindurch nicht gesehen, auch seinen Sohn
nicht, und wenig Gedanken an die beiden verloren. Er hatte sich
damit begnügt, ihr die ausgesetzte Rente anweisen zu lassen. Mara
hatte zuerst auf dem Land gelebt, auf seinen Gütern, dann war sie
in die Stadt gezogen, in die Meerstadt Cäsarea, damit dort der
kleine Simeon die Schule besuche. Mara hätte ihn lieber in das
Lehrhaus von Jabne gebracht, das Zentrum der jüdischen
Gelehrsamkeit. Aber Josef hatte gefürchtet, daß sein Sohn dort
nicht wohl aufgenommen werde, und darum Mara veranlaßt, mit ihrem
Jungen nach Cäsarea zu gehen, der Hauptstadt des Landes, die fast
nur von Griechen und Römern bewohnt war. Es war für Juden nicht
ganz einfach, dort Zutritt zu erlangen; sie bedurften eines
Sonderpasses. Aber Josefs Verwalter Theodor Bar Theodor hatte für
Mara und ihren Jungen die Sondererlaubnis rasch erwirkt. Dort also
hatte sie die letzten Jahre gelebt, still, gefügig, ohne ihn zu
behelligen; jedes Jahr zum Hüttenfest hatte sie ihm in einem
demütigen Brief mitteilen lassen, daß sie und ihr Sohn sich wohl
befänden und ihm für seine Güte dankten.
Jetzt zum erstenmal, seitdem er
sie kannte, hatte sie einen selbständigen Beschluß gefaßt und war
ohne seinen Willen nach Rom gekommen. Er hatte sich von ihr
geschieden, hatte die öffentliche Geißelung auf sich genommen, um
diese Scheidung zu erlangen. Die Frau seiner Rippe ist Dorion, der
Erstgeborene seines Herzens Paulus. Warum war auf einmal diese da?
Was fiel ihr ein? Was wollte sie? Das Richtige wäre, sie wieder
nach Judäa zu schicken, ungesehen, mit strengem Verweis.
Er rief sich ihr Bild zurück, wie
sie, nachdem Vespasian sie genommen hatte, zu ihm gekommen war,
vernichtet, eine geschminkte Tote. Wie sie dann aufgeblüht war,
nachdem der Römer ihn gezwungen hatte, sie zu heiraten. Sie war
vierzehnjährig damals, ihr Gesicht rein, eirund, ihre niedrige
Kinderstirn schimmernd. Demütig kamen die Worte aus ihrem üppig
vorspringenden Mund, sanft und zärtlich glitt sie um einen herum,
alle kleinen Wünsche erfüllend, bevor man sie aussprach. Und er
hatte sich das gefallen lassen. Diese Mara, die, wenn auch gegen
ihren Willen, durch die Kriegsgefangenschaft und die Buhlerei mit
dem Römer zur Hure geworden, war seinem Herzen und seiner Haut
wohlgefällig gewesen. Nicht lange freilich. Niemals war von ihr
jene tiefe Lokkung ausgegangen wie von Dorion.
Jetzt also ist sie da. Als
Geliebte hat man sie nach drei Wochen vergessen, aber sicher ist
sie eine gute Mutter. Er war in Alexandrien, als sie ihm den Sohn
gebar, den Erstgeborenen, den er nie gesehen hat. Er erinnert sich
genau, wie sie es ihm mitgeteilt hat. Der Brief war von einem
Schreiber geschrieben, aber man erkannte sogleich ihren Ton: »O
Josef, mein Herr, Jahve hat gesehen, daß Deine Magd mißfällig war
vor Deinem Angesicht, und er hat meinen Leib gesegnet und hat mich
gewürdigt, daß ich Dir einen Sohn gebäre. Er ist an einem Sabbat
geboren, und er wiegt sieben Litra und fünfundsechzig Zuz, und sein
Schrei kam von der Wand zurück. Ich habe ihn Simeon genannt, das
ist der Sohn der Erhörung, denn Jahve hat mich erhört, als ich
mißfällig war. Josef, mein Herr, sei gegrüßt und werde groß in der
Sonne des Kaisers, und der Herr lasse sein Antlitz leuchten über
Dir. Und iß keinen Palmkohl, weil es Dich dann gegen die Brust
drückt.« Dieser Brief schwamm auf dem Meer von Cäsarea nach
Alexandrien, während gleichzeitig von Alexandrien nach Cäsarea
jener andere Brief schwamm, in dem er ihr die Scheidung
mitteilte.
Er will die alten Dinge nicht
aufrühren. Er liebt den Sohn aus seiner Ehe mit Dorion. O wie liebt
er ihn, seinen Sohn Paulus. Aber dieser Paulus ist nicht
aufgenommen in die Gemeinschaft der Gläubigen, er sperrt sich zu
vor ihm, hängt sich an jenen Phineas, den Hämischen, den Hund. Ist
ein Griechenjunge, hochfahrend, voll Fremdheit und Verachtung vor
dem jüdischen Vater. Jetzt also ist der andere da, sein jüdischer
Sohn. Aber der, als die Frucht aus der Ehe eines Priesters mit
einer Kriegsgefangenen, ist ein Mamser, ein Bastard.
Es ist arg, daß er keinen
rechtmäßigen jüdischen Sohn hat. Die Büste im Friedenstempel ist
eine Ehrung, wie sie noch nie einem Juden widerfahren ist. Der
Doktor Licin hat ihn aufgefordert, die Synagoge zu stiften. Es wäre
gut, wenn die Thorarollen, die aus Jerusalem geretteten, in einer
Josef-Synagoge stünden, während sein Bild im Friedenstempel steht.
Die römischen Juden würden die Stiftung einer Josef-Synagoge nur
dann würdigen, wenn er einen jüdischen Sohn hätte. Sein Schlaf wäre
gut dann, tief und ohne Störung.
Im Grunde ist der Mamser, der
Bastard, von jeher dem vollberechtigten jüdischen Bürger
gleichgestellt gewesen. Jetzt, nach der Zerstörung des Tempels, ist
es erlaubt, die Gesetzgebung über die Bastarde in einem laxen Sinne
auszudeuten. Ehefähig freilich ist der Bastard nicht. Aber es gibt
Auswege. Es wäre schön, hier in Rom einen jüdischen Sohn zu haben.
Es wäre schön, die Josef-Synagoge zu haben. Andernteils können,
wenn er Mara erst einmal vor sein Angesicht läßt, leicht tausend
Ungelegenheiten und Verwicklungen entstehen. Wenn es eine
Josef-Synagoge gibt und sein Bild im Friedenstempel, dann wird sein
Schlaf tief sein. »Ich danke Ihnen für die Botschaft, lieber
Alexas«, beschließt er seine Gedanken. »Sagen Sie Mara, ich werde
morgen kommen.«
Am nächsten Tag, auf dem Wege zu
ihr, sagte er sich, das Wichtigste sei, sich nicht überrumpeln,
sich kein Versprechen ablocken zu lassen. Er wird sich die beiden
einmal anschauen, das ist alles. Verpflichten wird er sich zu
nichts.
Die Frau, als er kam, neigte sich
tief. Sie trug das einfache Kleid des nördlichen Judäa, viereckig,
aus einem Stück, dunkelbraun, rot
gestreift. Ein vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase; sie liebte
es noch immer, ihre Sandalen zu parfümieren. »O mein Herr«, sagte
sie, »du hast dein Barthaar geopfert, aber dein Angesicht ist
stark, schön und leuchtend auch ohne dein Barthaar.« Sie war
demütig wie stets, aber voll von einer großen Sicherheit, die er
früher nicht an ihr gekannt hatte. Mit ihrer kleinen, festen Hand
wies sie auf den Jungen, nahm ihn um die Schulter, führte ihn Josef
vor. Der sah, daß er breit war, wohlgeraten; in dem eirunden
Schädel Maras hatte er entschiedene Lippen, eine kräftige Nase,
lange, schnelle Augen wie er selber. Josef legte seinem Sohn die
Hand auf das dichte, wirre Haar und segnete ihn, Gott möge ihn
machen wie Ephraim und Menasse.
Der Junge musterte den fremden
Herrn ohne Verlegenheit, aber er blieb einsilbig. Sie sprachen
aramäisch. Mara forderte ihren Sohn auf, griechisch zu sprechen; er
könne ganz gut Griechisch, erklärte sie stolz. Aber Simeon war
bockig, er sah nicht ein, warum er griechisch sprechen sollte, wenn
der Herr Aramäisch konnte.
Ein bißchen taute er auf, als
Josef ihn über die Reise ausfragte. Die »Viktoria« war ein gutes
Schiff, nicht sehr groß freilich. Bei dem Sturm kurz nach
Alexandrien seien fast alle seekrank geworden, aber er nicht. Auch
ein Transport wilder Tiere sei auf dem Schiff gewesen, für die
Arena. Die hätten während des Sturms kolossal gebrüllt. Zwei
Geschütze habe das Schiff mitgeführt, wegen der Seeräuber. Es gab
zwar keine Seeräuber mehr, aber das Gesetz, daß jedes Schiff
bestückt sein müsse, war nicht aufgehoben. Für die Geschütze hatte
sich Simeon besonders interessiert. Er hatte sie sich von den
Mannschaften genau erklären lassen, ja, er hatte selber ein kleines
Modell eines Geschützes konstruiert. Mara bestand darauf, daß er es
dem Herrn zeige. Er ließ sich auch nicht lange bitten. Sein Gesicht
wurde hell, wenn er von dieser seiner Konstruktion sprach, lustiger
als das oft finstere des Josef. Er hatte offenbar eine gute Hand
für solche Dinge.
Für so was, erklärte Mara, habe
Simeon Interesse, da könne er aufpassen, da könne er Griechisch. Im
Lehrhaus aber seien seine Leistungen keineswegs befriedigend. Er
lasse sich zu leicht ablenken, treibe sich, ihren Ermahnungen zum
Trotz, viel auf den Straßen Cäsareas herum, wo er von den Jungens
der Gojim nur übles Zeug aufschnappe. Aber ihre dunkle Stimme war
sanft, während sie ihren Simeon-Janiki verklagte, es war ein
gewisser Stolz darin auf ihren geweckten Jungen, der so voll
Interesse war für seine Umwelt.
Josef, vorsichtig, immer wie ein
Erwachsener zu einem andern sprechend, suchte aus dem Knaben
herauszuholen, was der sich im Lehrhaus angeeignet hatte. Viel war
es offenbar nicht. Dennoch rührte es den Josef schmerzhaft tief
auf, als er aus dem Munde seines Sohnes hebräische Worte hörte,
uralte, vertraute Klänge, im Tonfall des Landes Israel. Der Junge
verteidigte sich gegen die Klagen seiner Mutter. Wozu soll er die
schwierigen Gesetze über Tempeldienst und Opfer auswendig lernen,
da der Tempel doch leider einmal zerstört ist? Der Hafen von
Cäsarea und die Schiffe und die Silos interessieren ihn eben mehr.
Dafür kann er doch nichts.
Mara fürchtete, Josef werde
zürnen über diese bedenklichen Reden des Knaben. Aber Josef zürnte
nicht. Er selber war ein guter Schüler gewesen und hatte seine
Stunden im Lehrhaus brav abgesessen. Aber dann war er Soldat
geworden und hatte sich im Leben getummelt, und offenbar stak das
Soldatische doch tiefer in ihm, als er glaubte. Das zeigte sich
jetzt an dem Jungen. Er sprach mit ihm über Geschütze, er erklärte
ihm die Konstruktion der »Großen Deborah«, jenes berühmten
Geschützes der Juden, das die Römer erst nach so vielen
vergeblichen Mühen hätten erobern können und das sie mit besonderem
Stolz, trotzdem es halb zerstört war, im Triumphzug aufgeführt
hatten. Der Junge hörte mit leuchtenden Augen zu. Josef selber
ereiferte sich. Er hatte eine klassische Schilderung dieser
Maschine in seinem Buch gegeben, er geriet ins Griechische, wie er
jetzt sprach, und es erwies sich, daß Simeon-Janiki ganz gut
verstand. Mara hörte befriedigt zu, wie ihr Mann und ihr Junge
miteinander schwatzten.
Jetzt fragte der Junge den Vater
aus nach den Merkwürdigkeiten der Stadt Rom, von denen er gehört
hatte. »Euer Rom ist sehr groß«, meinte er nachdenklich. »Aber
unser Cäsarea ist auch nicht klein«, fügte er sogleich hinzu,
stolz. »Wir haben das Palais des Gouverneurs und die
Kolossalstatuen am Hafen und die Große Rennbahn und vierzehn Tempel
und das Große Theater und das Kleine Theater. Wir sind überhaupt
die größte Stadt der Provinz. Mutter erlaubt nicht, daß ich zu den
Wagenrennen gehe, aber ich habe mit dem Champion Thallus
gesprochen, der dreizehnhundertvierunddreißig Rennen gewonnen hat.
Er hat über drei Millionen gemacht, und er hat mich auf seinem
Ersten Pferd Silvan reiten lassen. Sind Sie einmal auf einem Ersten
Pferd gesessen?«
Jetzt sprach der Junge wieder
aramäisch, und Josef fand sein Wesen gelöst und angenehm. »Ein
Bastard, der ein Gelehrter ist, steht höher als ein unwissender
Priester«, lautet ein Satz der Doktoren. Diesen Satz konnte man
zwar kaum auf Simeon anwenden, aber sein Sohn gefiel ihm
gleichwohl. Mara war glücklich, daß Josef dem Knaben wegen seiner
Unwissenheit nicht zürnte. Ihre Schuld war es nicht, wenn er nicht
das Zeug zu einem Doktor und Herrn in sich hatte. Sie hat wirklich
alles dazu getan. Schon während ihrer Schwangerschaft hat sie
Meerbarben gegessen, auf daß ihr Simeon wohl gerate. »Eigentlich
hat es auch geholfen«, meinte sie mit sanftem Stolz. »Er ist wild,
er treibt sich auf den Straßen herum und gebraucht schlechte Worte,
und ich habe hierher nach Rom gehen müssen, weil ich in Cäsarea
nicht mit ihm fertig wurde. Aber er hat einen raschen Kopf und eine
geschickte Hand und findet Wohlgefallen vor den Menschen. Nein, das
darf ich ohne Vermessenheit sagen: wir sind nicht aufs Johan
nisbrot gekommen.« – »Sagt man das hier noch: ›aufs Johannisbrot‹?«
erkundigte sich etwas verächtlich Simeon. »Bei uns in Cäsarea sagen
sie ›auf den Hund gekommen‹. Das gefällt mir besser. Aber das
Richtige habe ich erst auf dem Schiff gelernt, von den Matrosen.
Die sagen: beschissen.« – »Immer hat er es mit den niedrigen
Worten«, beklagte sich Mara. »Mir gefällt es: beschissen«, beharrte
Simeon. »Wenn du schon das Johannisbrot nicht liebst, mein Junge«,
riet Josef, »dann nimm vielleicht: unten durch.« Simeon überlegte
einen kleinen Augenblick. »Nicht sehr schön«, entschied er. »Das
andere ist schöner. Aber wenn Mutter es durchaus will, dann sage
ich also: unten durch«, und er tauschte einen Blick des
Einverständnisses mit Josef, ein Erwachsener, der auf die törichten
Launen einer Frau Rücksicht nimmt.
Josef fragte seinen Sohn, ob er
in Cäsarea viele Freunde habe. Es erwies sich, daß er mehrere
griechische Kameraden hatte. Wurden sie frech, prügelte er sich mit
ihnen herum. Unter den Polizisten hatte er gute Bekannte, die zu
ihm hielten gegen die Lausebengels. Erst hatte er offenkundig statt
»Lausebengels« ein kräftigeres Wort nehmen wollen, aber aus
männlicher Rücksicht auf die Mutter unterdrückte er es.
Diese, nach einer Weile, schickte
den Knaben hinunter auf die Straße; er hatte auch da bereits
Freunde. Josef, sowie sie allein waren, beschaute Mara. Sie war
reifer als früher, ein wenig dicklich übrigens, fest in sich
ruhend, voll bescheidener Genugtuung. Er, vor seinem Sohne Paulus,
hatte versagt. Er, der die Welt durchtränken wollte mit jüdischem
Geist, konnte nicht einmal seinen Sohn damit erfüllen. Hier aber
die Frau saß da, ein kleines, zufriedenes Lächeln um den üppig
vorspringenden Mund. Ihr Sohn hatte nicht das Zeug zum
Schriftgelehrten, er war ein wenig vulgär, manches war in ihm von
seinem Großvater, dem Theaterdiener Lakisch. Aber ein Jude war er
immerhin, gut gediehen im ganzen, geweckt.
Trotzdem reizte den Josef die
Zufriedenheit der Frau. Finsterer, als es ursprünglich seine
Absicht gewesen war, fragte er sie, was sie denn hier wolle, was
sie von ihm wolle.
Sein Unmut schreckte sie nicht.
Sie glaube, erwiderte sie, Simeon-Janiki sei ein bißchen
verwildert. Cäsarea, wo er immer mit den Griechenjungen herumgetobt
habe, sei vielleicht doch nicht das Richtige für ihn gewesen, in
Jabne hätte er bessere Aufsicht gehabt. Hier in Rom hoffe sie
jemanden zu finden, der die Hand fest genug habe, ihn zu zähmen.
Josef sah vor sich hin, erwiderte nichts. Dies sei aber nur das
eine, fuhr sie fort. Sie habe noch einen wichtigeren Grund. Daß
Josef, ihr Herr, seinen Sohn nicht habe in Jabne erziehen lassen,
sei eine schwere Last für ihr Herz gewesen all die Jahre hindurch;
denn sie glaube, sie habe den Grund richtig erraten, trotz all
ihrer Torheit. So sei sie denn allein nach Jabne gegangen,
Wanderstab in der Hand, Wasserschlauch und hörnernen Behälter für
die Wegzehrung um die Schulter, wie man früher nach Jerusalem
hinaufzog, und habe umgefragt bei den Doktoren der Universität, ob
es denn kein Mittel gebe, ihren Sohn, diesen ihren wohlgeratenen
Simeon-Janiki, zu befreien von dem Fluch, der auf ihm liege; denn
er sei doch nun einmal vorläufig ein Mamser, ein Bastard. Sie sei
bis zu dem weisesten aller Menschen vorgedrungen, kurz vor seinem
Ableben übrigens, zu dem Großdoktor Jochanan Ben Sakkai, das
Andenken des Gerechten zum Guten. Der habe denn auch mild zu ihr
gesprochen und habe ihre Rede erwogen, als käme sie nicht wie aus
dem Mund eines jungen Kalbes, und habe ihr geraten, nach Rom zu
gehen und zu Josef zu sagen, er habe sie geschickt. Da habe sie
angefangen zu sparen von dem Geld, das Josef in seiner Güte ihr
gegeben habe, und gerade als sie die Summe für die Reise zusammen
hatte, sei für alle Juden ein neuer Glanz angebrochen, weil doch
nun eine jüdische Frau Kaiserin in Rom sein werde. Und nun sei sie
da und hoffe, ihr Herr Josef zürne nicht. Das brachte sie vor,
sanft, ohne Anspruch, immer mit ihrem kleinen, stillen,
verschmitzten Lächeln.
Josef, als er den Namen Jochanan
Ben Sakkai aus dem Munde der Frau hörte, war erschüttert. Er hatte
angenommen, sie sei aus Vorwitz gekommen, zudringlich, von allein.
Und nun war es Jochanan Ben Sakkai, der sie geschickt hatte, sein
Lehrer, der hochverehrte, listige, der an seiner Universität Jabne
mit gesegneter, übermenschlicher Zähigkeit am Werke gewesen war,
den verlorenen Staat der Juden durch die Lehre des Moses und die
Bräuche der Doktoren zu ersetzen. Dieser Mann hatte bis zuletzt an
Josef geglaubt, als längst die anderen ihn anspien. Der also, sich
mühend um ihn übers Grab hinaus, hat ihm die Frau und den Jungen
geschickt, und jetzt gerade sind sie gekommen, da er in Wirrnis war
des Bildes wegen, das man von ihm machte.
Die Frau sprach weiter. Sie hatte
hundert Sorgen. Ob man denn richtig auf seine Nahrung sehe? Ob man
ihm genügend Rettich gebe und Johannisbrotblätter? Ob man ihm nicht
zu scharfe Kapernsauce vorsetze? Das habe ihm immer geschadet. Sie
habe ihm ein wenig Majoran-Ysop mitgebracht, auch gutes Salz aus
dem Toten Meer, das römische Salz sei so schlecht, habe man ihr
gesagt.
Sie holte die kleinen Gaben
hervor, glücklich, eine Luft mit diesem
Mann zu atmen, ihm von seinem, ihrem Kind zu sprechen, von diesem
klügsten und tapfersten aller Söhne, Simeon-Janiki. Josef hörte
ihre stillen Worte, sah ihre niedrige, schimmernde Stirn. Er dachte
an den mühevollen, umwegig kämpfenden Glauben jenes großen Alten,
Jochanan Ben Sakkais. Gott wird nicht kleiner, hatte der ihm
gesagt, auch wenn seine Bekenner auf listigen Umwegen zu ihm gehen.
Es war ein großes Geschenk, daß Jochanan Ben Sakkai ihm die Frau
und den Knaben geschickt hatte.
Mara rückte näher. »Zürnst du,
mein Herr, daß ich gekommen bin?« fragte sie, da er lange schwieg.
»Du hättest schreiben sollen und meinen Willen einholen«, erwiderte
er. Doch sogleich, gnädig, fügte er hinzu: »Aber nun du da bist,
mag es sein.«
Der Bildhauer Basil zeigte dem Josef das Stück
Metall, aus dem sein Kopf entstehen sollte. Es war korinthische
Bronze, jenes besonders edle Metall, das vor nunmehr
zweihundertsechsundzwanzig Jahren entstanden war, als bei der
Zerstörung der Stadt Korinth die Kunstwerke aus Gold, Silber,
Kupfer in geschmolzenen Strömen ineinanderflossen, sich zu einer
seither nie wieder erreichten Mischung von wunderbarer Schönheit
vereinigend. Der Bildhauer versprach sich viel von dem blassen,
fremdartigen Schimmer, der von Josefs Kopf aus gehen werde, wenn er
erst in diesem Metall gegossen sei. Basil arbeitete jetzt an einem
Tonmodell, nachdem er zuerst ein Wachsmodell geknetet hatte. Josef
saß auf dem Podium des großen Ateliers und hörte dem Manne zu, der
ihm von Dingen erzählte, die ihm sehr fremd waren. Von den
zahllosen Fälschungen zum Beispiel, die man in Rom den Sammlern
anzuhängen versuchte. Warum auch sollte man die reichen Leute nicht
übers Ohr hauen, die auf das Alter von Kunstwerken und auf
verschollene, zweifelhafte Meisternamen mehr Gewicht legten als auf
den Kunstwert? »Ich habe da«, erzählte er, »jüngst bei dem Sammler
Tullus gegessen. Es war eine große Gesellschaft, lauter Freunde des
Tullus. Auf den Tischen standen über dreihundert Silberbecher und
sonstiges Tafelgerät, eines kostbarer und älter als das andere, die
Ziselierungen schon ganz verwischt. Ich sage Ihnen, Flavius
Josephus, die Kunstwerke waren so echt wie die Freunde. Da war zum
Beispiel ein Tafelaufsatz, ein Löwe, der eine Antilope reißt,
darunter in antiken Schriftzeichen, gerade noch lesbar, der Name
des großen Myron. Myron ist jetzt seit mehr als fünfhundert Jahren
tot, aber wenn Sie meinen guten Kritias fragen, der könnte Ihnen
genau erzählen, ob der bewußte Myron heute früh mit dem rechten
oder mit dem linken Fuß aufgestanden ist.«
Josef, während der kleine,
hurtige Mann schwatzte, sah zu, erstaunt, unheimlich angerührt, wie
unter seinen Händen sein Gesicht entstand. Dieser widerwärtige
Basil hatte ärgerlicherweise nicht zuviel behauptet: was da vor ihm
in die Welt hineinwuchs, das war in Wahrheit sein Kopf, nicht
weniger lebendig als der von Fleisch und Blut, und es wird in
Zukunft schwer sein, schwer sogar für ihn selber, diesen Kopf
anders zu sehen. Das waren seine Lippen, seine Nüstern, seine
Stirn. Und doch war es ein fremder, unheimlicher Kopf. Er riß sich
zusammen, er wollte Klarheit. Waren das die Lippen, die Weisung
gegeben hatten, den Justus vom Kreuz zu nehmen, den Freundfeind,
der jetzt an einem »Jüdischen Krieg« schrieb, der Schamlose? Waren
das die Nüstern, die den Brand und Gestank des stürzenden Jerusalem
und des Tempels eingesogen hatten? War das die Stirn, hinter der
der entschlossene Wille gewohnt hatte, die Festung Jotapat sieben
mal sieben Tage zu halten? Ja, dies war sein Gesicht, und war doch
nicht seines, wie jene Taten sein waren und doch nicht sein; denn
jetzt würde er sie nicht mehr tun oder anders. Er schaute sich an,
der lebendige Josef den tönernen. Vieles, was der Mann mit diesem
Gesicht getan hatte, gefiel ihm, vieles mißfiel ihm, das meiste war
ihm unverständlich. Welcher Josef ist der wahre: der tönerne oder
der lebendige? Welcher Josef ist der wahre: der, der jene Taten
getan hat, oder der, der hier sitzt? Was macht einen Menschen aus:
was er jetzt ist, oder was er früher getan hat?
Er überlegte scharf. Kam zum
Schluß. Der Mann Flavius Josephus, lebend in der Stadt Rom im Jahr
832 nach Gründung der Stadt, im Jahr 3839 nach Erschaffung der
Welt, hat nichts gemein mit dem Manne Josef Ben Matthias, General
seinerzeit in Galiläa. Der Schriftsteller Flavius Josephus sah mit
rein literarischem, wissenschaftlichem Interesse auf das, was jener
Doktor Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe, getan hat. Er
zeichnete die Geschichte jenes Josef Ben Matthias mit der gleichen
kalten Neugier auf wie die Geschichte des Königs Herodes, den
wechselvollen Lebenslauf eines fremden, vergangenen Mannes. Und
Flavius Josephus, als er zu diesem Schluß gekommen war, fühlte sich
dem Josef von einst, jenem toten, abgelebten Manne, sehr
überlegen.
Plötzlich aber, schreckhaft,
überfiel ihn der Gedanke: was aber ist dieser Josef von heute,
gemessen an dem Josef der Zukunft? Er wog, was er getan hatte und
was zu tun noch vor ihm lag, und der Atem setzte ihm aus.
Er hat dieses Buch vom jüdischen
Krieg geschrieben, den Römern gefällt es, die Römer feiern den
Josef von heute und gießen sein Bild in das kostbarste Metall der
Welt. Der eine Teil seiner Aufgabe liegt hinter ihm, der leichte,
der lohnende. Vor ihm aber, berghoch, drohend, unbegonnen, steht
die wahre Aufgabe, das Werk der Zukunft, die große Geschichte
seines Volkes, die zu schreiben, die der westlichen Welt zu
vermitteln er sich anheischig gemacht hat. Um dieses Werkes willen
hat er soviel Sünden auf sich genommen, soviel Unheil angestiftet.
Und gemacht hat er, der Josef von heute, den »Jüdischen Krieg«. Ist
das ein Beginn? Ist das eine Abzahlung auf die ungeheure Schuld? Es
ist nichts. Er wiegt, er wiegt, er zählt, und er verwirft.
Betäubend überfällt ihn das Gefühl seiner Ohnmacht. Er war ein
Lügner, als er vor zehn Jahren Vespasian als den Messias
bezeichnete. Er war ein Lügner jetzt, da er sich für das Werk
berufen glaubte und aus solcher Berufung heraus sich vermaß, Sünden
auf sich zu nehmen, die einen erdrücken mußten. Eine klare, bittere
Stimme wacht mit einemmal in ihm auf, er hat sie seit langem nicht
mehr gehört. »Ihr Doktor Josef ist ein Lump«, sagt die Stimme, es
ist die des Justus von Tiberias, des Freundfeindes. Sie ist nicht
laut, aber sie übertönt das Geschwätz des Bildhauers, sie füllt das
große Atelier ganz aus, sie macht das Tonmodell schwanken und
verschwimmen, sie drückt ihm das Herz ab mit ihrer Verachtung,
ihrer Resignation, ihrem unbeholfenen Aramäisch. Er muß an sich
halten, um nicht hier, vor diesem Bildhauer Basil, an die Brust zu
schlagen und zu bekennen: Eitelkeit. Alles, was ich getan habe, ist
eitel. Ich genüge nicht dem Werk. Ich bin verworfen.
Seine Büste aber, die Ehrenbüste, gedieh.
Bald schon stand sie da, vorerst probeweise in gemeiner Bronze
gegossen, und ungelöst war nur noch das Problem der Augen. Doch
schon für morgen hatte der Gehilfe Kritias auch für sein Teil
versprochen, seine Arbeit zu liefern.
Als Josef am andern Tag in das
Atelier kam, um sich das Werk in seiner endgültigen Form zeigen zu
lassen, fand er dort die Prinzessin Lucia. Es war das drittemal,
daß er sie bei Basil traf. Wie sie hörte, worum es ging, blieb
sie.
Gespannt schaute Josef zu, wie
Kritias dem Erzmodell zwei schillernde, eirunde Steine einpaßte.
Erschreckend blickten die Steine aus der Bronze. Das waren nicht
mehr irgendwelche Halbedelsteine in irgendwelcher Bronze, das waren
wirklich seine Augen. Betroffen erkannte Josef, daß dieser
unheimliche, vierschrötige Mensch Kritias ihn durchschaut hatte,
seine versteckten Gedanken, seine Sünden, seine Lüste, seinen
Stolz, seine Ohnmacht. Er haßte diesen Griechen Kritias, und er
haßte den Griechen Basil, weil sie ihm die Nacktheit seiner Seele
abgelauert hatten. Er konnte den Anblick der Büste nicht ertragen
und wandte den Kopf zur Seite.
Da gewahrte er Lucia, wie sie
aufmerksam, mit hohen Augenbrauen, die Büste beschaute. Schnell, um
der Wirrnis seines Gefühls zu entkommen, klammerte er seine
Gedanken an sie, an ihr kühnes, helles Gesicht. Diese Römer wissen
nichts von Sünde, wahrscheinlich ist das ihre Stärke, die Ursache
ihrer ungeheuren Erfolge. Ungestört von inneren Hemmungen haben sie
ihr Reich aufgerichtet und unseren Staat zerschlagen. Haben wir
nicht unsere erste große Schlacht verloren, weil wir uns nicht dazu
verstehen konnten, am Sabbat zu fechten, und es vorzogen, uns
wehrlos hinschlachten zu lassen? Ich bin klüger geworden
mittlerweile. Ich habe einiges gelernt. Ich weiß um die Sünde, aber
ich tu sie. Mir wächst Kraft aus meinen Sünden. »Du sollst Gott
lieben auch mit deinem bösen Trieb.« Es ist leicht, stark zu sein,
wenn kein Bewußtsein den Trieb hemmt. Sündig sein, bewußt, und sich
nicht flüchten in Frommheit und Resignation, das ist der größte
Triumph.
Und er wandte seine Blicke wieder
der Büste zu. Beschaute sie, voll trotziger Selbstbejahung. Der
ganze, bronzene Kopf jetzt, wie er, halb über die Schulter
gewendet, auf den Beschauer und in die Welt sah, war gespannt von
einer tiefen, wissenden, gefährlichen Neugier, und Josef sagte ja
zu dieser Gier und zu seinen Sünden. Vielleicht war in den
schillernden Augen ein Abstoßendes: aber es waren Augen voll Kraft
und Leben, es waren seine Augen, und er war froh, daß sie waren,
wie sie waren.
Alle beschauten sie die Büste mit
gesammelter Aufmerksamkeit, der verwirrte, trotzige Josef, die nach
allem Starken, Lebendigen lüsterne Lucia, der selbstbewußte,
skeptische Basil, der stille, menschenverachtende Gehilfe Kritias.
»Beim Herkules«, sagte schließlich die Prinzessin, sie versuchte
leicht zu sprechen, aber ihre Stimme klang gepreßt, »Sie sind ja
ein Verruchter, mein Flavius Josephus.« Überrascht riß Josef den
Kopf zu ihr hinüber, finster, hochmütig. Was sie sagte, klang zwar
wie eine Anerkennung, aber wer gestattete ihr, seine Gedanken zu
erraten? Was er zu denken sich erdreisten durfte, war noch lange
keinem zweiten erlaubt. Er erwiderte nichts. »Du hast dich selbst
übertroffen, mein Freund Kritias«, sagte schließlich Basil, auch
er, gegen seine Gewohnheit, betreten. »Aber ich glaube«, fügte er
hinzu, und seine gewohnte Munterkeit klang diesmal etwas gezwungen,
»wir machen den Kopf trotzdem ohne Augen.« – »Gut, tun wir das«,
sagte zögernd Josef. »Schade«, sagte Lucia.
Unmittelbar nach Vollendung der Büste ließ
der Kaiser den Josef nochmals zu sich bitten. Er war allein
diesmal, und Josef bemerkte sogleich, daß die Apathie seiner ersten
Wochen von ihm abgefallen war. Die Massen hatten in der
Zwischenzeit einen sonderbaren Spitznamen für ihn gefunden, sie
nannten ihn den »Walfisch«. Wahrscheinlich wollten sie damit seine
Machtfülle bezeichnen zusammen mit seiner Entschlußlosigkeit und
Schwerfälligkeit. Wie immer, heute war er bestimmt kein Walfisch.
Vielmehr schien er strahlender Laune, sehr aufgeschlossen, und er
verhehlte Josef auch nicht die Gründe seiner Veränderung.
Die Angst, die das Zögern
Berenikes ihm bereitet hat, ist vorbei. Nicht deshalb etwa hat sie
so lange gezaudert, weil, wie er schon befürchtet hat, die Schatten
seiner alten Taten sich neu zwischen sie und ihn gestellt hatten,
die Zerstörung des Tempels, der männlich freche Trug, durch den er
sie damals zu sich gelockt und sie vergewaltigt hat. Es hat sich
vielmehr alles aufs fröhlichste entwirrt: was sie zurückhält, sind
naive, liebenswerte Regungen. Sie will nämlich, fromme Törin, die
sie ist, bevor sie dauernd mit ihm in Rom lebt, mit ihrem Gott ins
reine kommen, will ihr späteres Glück mit Opfern fundieren, legt
sich Kasteiungen auf, Taten der Entsagung und Buße. Sie hat Jahve
zu Ehren ihr Haar geschoren und das Gelübde getan, erst dann nach
Rom zu kommen, wenn ihr Haar wieder lang ist. Aus Scheu vor Gott,
hat sie ihm geschrieben, versagt sie sich die Freude, ihn schnell
zu sehen. Vielleicht auch, meint er vertraulich und stößt den Josef
an, spielt dabei der Wunsch mit, sich ihm nicht in kurzem Haar zu
zeigen. Die Närrin. Als ob er sie weniger liebte, selbst wenn sie
ganz kahl geschoren käme. Zuerst hat sie, um sich das Opfer zu
erschweren, ihm nicht einmal den Anlaß ihres Zögerns mitteilen
wollen: ihr Gelübde, fand sie, sei eine Sache nur zwischen ihr und
ihrem Gott. Schließlich aber hat sie sich doch eines Bessern
besonnen und ihm geschrieben. Er ist im Innersten froh, daß alles
sich auf so kindliche Art gelöst hat.
Josef war überrascht, ungläubig.
Er kannte Berenike, und er kannte jüdische Bräuche und Sitten. Sich
des Weines zu enthalten und das Haar zu scheren, solch ein Gelübde
legte man ab, wenn Jahve einen aus einer unmittelbaren, drohenden
Gefahr errettet hat. Nein, das kann der wahre Grund Berenikes nicht
sein, es ist etwas anderes, Geheimnisvolles um ihr Zögern. Den
Römer mag sie täuschen, ihn nicht. Wie immer, sie wird kommen, und
Titus glüht für sie wie damals in Alexandrien. So überlegt Josef
während der wortreichen, glücklichen Erzählung des Kaisers,
anmerken aber läßt er sich nichts von seinen Zweifeln.
Der Kaiser schwatzt weiter,
fröhlich, spricht von einer Überraschung, die er sich ausgedacht
hat. Da ist sie auch schon. Er hat den Astronomen Konon
herbestellt, um ihn in Gegenwart des Josef zu empfangen. Der
Gelehrte muß ihm von dem neuen Sternbild erzählen, das er entdeckt
hat. Es befindet sich in der Nähe des Löwen, sieben sehr kleine
Sterne, Leute mit scharfen Augen wollen zehn bis zwölf erblicken.
Es ist ein ganz fernes, feines Leuchten, zart wie ein
Haarstreif.
»Haben Sie schon einen Namen für
Ihr Sternbild?« fragte der Kaiser. »Ich wollte die Majestät um eine
Benennung bitten«, erwiderte demütig der Gelehrte. »Nennen Sie das
Sternbild ›Haar der Berenike‹«, ordnete lächelnd Titus an. »Die
Prinzessin Berenike hat nämlich ihr Haar dem Himmel geopfert«,
erklärte er. »Ich denke, der Himmel hat diese Gabe angenommen und
wird sie bewahren.«
Ganz Rom drängte sich in der Bibliothek des
Friedenstempels, als der Kaiser dort zum erstenmal einem Juden eine
Ehrensäule errichten ließ. Josef hatte Schwierigkeiten, auch nur
die zwanzig Einlaßmarken zu erhalten, die Dorion für ihre Freunde
benötigte.
Schwer schleppten Leibeigene die Büste herein
und stellten
sie auf den glatten Marmorsockel. Schweigend
in weitem Halbkreis stand die große Versammlung. Hager, fremdartig
schimmernd, augenlos und doch voll wissender Neugier, schaute hoch
und hochfahrend, über die Schulter gedreht, der Kopf des Josef über
die prunkvolle Menge.
Junius Marull, den man auf Josefs
Wunsch zum Festredner bestimmt hatte, trat vor die Büste. Er sprach
vom Schriftsteller, vom Geschichtsschreiber, er pries den Mann, der
die Tat, das Vergehende, festhält. Der Staatenlenker vergeht, und
sein Werk vergeht. Der Feldherr stirbt, und sein Sieg verflüchtigt
sich. Sind sie denn wirklich, diese Taten? Ändern sie sich nicht,
schon während sie geschehen? Vieldeutig sind sie, jedem, der daran
teilnimmt, bedeuten sie anderes, jeder sieht sie anders. Da aber
nimmt der Schriftsteller die Geschehnisse in die Hand und macht sie
eindeutig, so daß sie ein für allemal dastehen, hell, klar.
Mächtiger als der Tod ist der große Geschichtsschreiber. Er besitzt
das Geheimnis, der Welle zu gebieten, daß sie nicht verrinnt,
sondern feststeht für immer.
Die Juden haben das früh erkannt.
Sie haben ihre Geschichte seit Urzeiten festgehalten in einer
Tradition, die ihr Gott selber ihnen offenbart hat. Sie sind, wie
die Übersetzung ihrer Kanons durch die Siebzig zeigt, große
Geschichtsschreiber. Es scheint mir deshalb ein doppelter Triumph,
daß Kaiser Titus die Juden nicht nur besiegt, sondern auch diesen
ausgezeichneten Juden Flavius Josephus dazu vermocht hat, die
Geschichte dieses Sieges zu schreiben. Wenn heute der sehr gute,
sehr große Titus seinen Ge-schichtsschreiber als ersten Juden in
die Reihe derjenigen aufnimmt, deren Werke hier im Saal der
Unsterblichen aufbewahrt werden, dann ist das ein sehr hoher Dank,
doch kein zu hoher; denn durch das Buch unseres Josephus erst leben
die Taten der Römer in Judäa für die fernen Geschlechter. Drüben in
seinem Schrank liegt es jetzt, das Buch unseres Freundes. Es ist
nichts. Nichts als ein Buch: Pergament, Tusche, Tinte. Aber dieses
höchst gebrechliche Material ist gleichzeitig der härteste Stoff
der Welt, nicht minder dauerhaft als hier die korinthische Bronze,
aus der die Büste geformt ist. Denn nichts Größeres gaben die
Götter uns Menschen als das geschriebene Wort.
So sprach Junius Marull. Dann
trat der Kaiser vor, bekränzte die Büste, umarmte Josef, küßte ihn.
Die weite, ernste Halle aber war voll von brausenden Rufen und
Applaus. »O unser Kaiser Titus, o du großer Schriftsteller Flavius
Josephus«, schallte es von allen Seiten. Es riefen so die
Senatoren, die dastanden in ihren purpurgestreiften Gewändern, auf
ihren hochgesohlten, schwarzgeriemten, roten Schuhen, es riefen so,
ein wenig säuerlich, die Kollegen des Josef, es riefen so,
begeistert, die vielen Damen, es riefen so, stolz und gerührt, die
wenigen Juden, die man eingeladen hatte, der Doktor Licin, Cajus
Barzaarone.
»O unser Kaiser Titus, o du
großer Schriftsteller Flavius Josephus«, glücklich inmitten der
andern ruft es auch die Dame Dorion. Es gelingt ihr auf
Augenblicke, vor dem alten Valer, vor Annius Bassus die ganze Feier
zu bagatellisieren und die überlegen Ironische zu spielen, aber
lange hält sie nicht durch. Die beiden können sich ja selber dem
Eindruck der Zeremonie nicht entziehen. Stolz also steht die Dame
Dorion da, den dünnen, reinen Kopf leicht überrötet, den großen
Mund kindlich halboffen. Für alle, für Annius und Valer und Flavius
Silva, wird Josef künftighin nicht mehr der verachtete Jude sein,
sondern der große Schriftsteller, dessen Ehrenbild hier im
Friedenstempel feierlich aufragt. Sie hat ihn verhöhnt, wenn er von
sich selber sprach als von einem Manne, dessen Macht unbegrenzt sei
und endgültig wie die der Totenrichter. Allein hat nicht jetzt
sogar der Spötter Marull Ähnliches von ihm ausgesagt? Sie schaut
von seinem hageren, schönen Gesicht auf den blassen, hohen Schimmer
der Büste, und es ist ein neuer Josef, den sie sieht, jenes
rätselhafte Leuchten ist um ihn, wie es ausgeht von der
korinthischen Bronze seines Standbilds, sein Kopf schaut hoch und
fremd über die andern wie hier die Büste. Und sie fühlt ihre beste
Neigung zu ihm hinströmen wie in ihrer ersten Zeit in Alexandrien,
da sie sich mit ihm gemischt hat.