Josef selber steht inmitten
dieser Ehrungen in bescheidener, würdiger Haltung. Hinter seiner
hohen, gebuckelten Stirn aber wirren sich die Gedanken. Dies ist
ein gesegneter Tag, der Tag der Erfüllung, lang ersehnt. Dies ist
der Eingang Israels durch eine erste Pforte in die Ehrenhalle der
Völker. Aber ist es nicht eine erschlichene Ehre? Da steht seine
Büste; blaß und edel unter dem dunkelgrünen Kranz schimmert die
Bronze. Er selber aber ist aus schlechtem Stoff. Wie kümmerlich ist
sein Buch, vergleicht er es mit dem, was zu machen er berufen ist.
Und selbst dieses ärmliche Buch hat er nur vollenden können mit
Hilfe des Phineas. Die Zeiten sind vorbei, da er, wie damals nach
Vollendung seines Makkabäer-Buches, stolz auf sein Griechisch war.
Jetzt weiß er, daß er überall der Stützen und Krücken bedarf. Nicht
einmal seinen Sohn Paulus kann er für seine Idee gewinnen: wie soll
er die Welt gewinnen? Er verliert sich, er ist ganz angefüllt von
der Bewußtheit seines Nichts. Er hört den festlichen, ehrenvollen
Lärm; durch den Lärm hindurch aber, leise und ihn trotzdem mühelos
übertönend, hört er wiederum die bittere, verächtliche Stimme, die
Stimme des Freundfeindes, abschließend, jeden Widerspruch von
vornherein vernichtend: »Ihr Doktor Josef ist ein Lump.« Er schaut
in die Gesichter ringsum: erkennen sie denn nicht, wie erbärmlich
er ist? Das Gefühl seiner Ohnmacht droht ihn zu ersticken, gleich
wird er zusammenbrechen. Er schaut ringsum nach Hilfe. Da ist
niemand, der ihm helfen könnte. Nicht einmal Alexas ist da, der
Glasfabrikant. Wenn er wenigstens die Hand auf den Scheitel seines
jüdischen Sohnes legen könnte, Simeon-Janikis. Aber niemand ist
da.
Sein blasser, knochiger Kopf
indes hält immer das gleiche, bescheidene und stolze Lächeln fest.
Höchstens um einen Schatten bleicher ist er geworden. Man findet,
er ist ein Mann, der sein Glück gut zu tragen weiß, wert seines
Erfolges.
ZWEITES
BUCH
Der Mann
ach
der qualvollen Hitze der letzten Wochen hatte sich heute, am
siebenundzwanzigsten August, ein guter
Wind aufgemacht, und
Josef, in seiner Sänfte, auf dem Weg zum Palatin, genoß mit allen
Sinnen die leichte, frische Luft. Er fühlte sich glücklich. Es war
ein Triumph für ihn, daß Titus sogar jetzt, während der
Feuersbrunst, nach ihm verlangte. Denn heute, am vierten Tag, war
der Brand noch immer nicht gelöscht, es war der größte seit den
Zeiten des Nero. Vielleicht war das Unglück diesmal noch schlimmer.
Denn damals hatte das Feuer die engen, häßlichen Innenviertel
zerstört, diesmal aber hatte es die schönsten Stadtteile erreicht,
das Marsfeld, den Palatin. Das Pantheon war ausgebrannt, die Bäder
des Agrippa, die Tempel der Isis und des Neptun, das
Balbus-Theater, das Pompejus-Theater, die Volkshalle, das Amt für
militärische Finanzen, viele Hunderte der schönsten Privathäuser.
Vor allem aber war das Capitol ein zweites Mal zerstört, das kaum
neu vollendete, das Zentrum der römischen Weltherrschaft.
War das ein Zeichen der Götter
gegen den Walfisch? Das feindselige Geraun gegen ihn verstärkte
sich. Die Juden vor allem waren in Bewegung. Sie waren selber vom
Brande betroffen, ihre schönste Synagoge, die des linken
Tiberufers, die Veliasynagoge, war zerstört. Trotzdem sahen sie das
Feuer geradezu mit Genugtuung. Es war ihr Geld, das für Jahves
Tempel bestimmte, mit dem der übermütige Sieger das neue Haus der
Capitolinischen Trinität gebaut hatte. Und jetzt also, nach so
kurzem Bestand, war es ein zweites Mal vernichtet worden, das
Capitol, dessen Anblick ihnen soviel Grimm und Herzeleid gebracht
hatte. Jahves Hand, triumphierten sie, Jahves Hand trifft den Mann,
der seinen Tempel eingeäschert und sein Volk erniedrigt hat.
Überall in ihren Vierteln sammelten sich Straßenprediger,
verkündeten den Untergang der Welt, verteilten Traktate über den
Messias, den Rächer, der das Schwert bringt.
Josef selber allerdings sah die
Dinge anders. Er war angefüllt mit Zufriedenheit. Titus, obgleich
er sofort, mit einer in der letzten Zeit ungewohnten Tatkraft,
eingegriffen hatte, überallhin Lösch- und Aufräumekommandos
entsendend, Plünderungsversuche im Keim erstickend, den Obdachlosen
Unterkunft schaffend, fand trotzdem Zeit, ihn, Josef, vor sein
Angesicht zu berufen. Leichtgeschaukelt in der Sänfte, in
angenehmen Gedanken, atmete Josef den guten Wind. Alles fügte sich
ihm. Dorion hat sich seit der Aufstellung der Büste gewandelt, sie
ist eins mit ihm wie in ihrer ersten, besten Zeit in Alexandrien.
Er freut sich, daß er ihre Wünsche oder vielmehr – warum das
verschönernde Wort? – ihre Launen befriedigen kann. Leicht fällt es
ihm nicht. Er hat die Voranschläge für die Villa überprüft. Trotz
des unerwartet hohen Geschenks, das der Kaiser ihm gemacht hat,
wird er Geld aufnehmen müssen, wenn er für die Synagoge, die seinen
Namen tragen soll, eine halbwegs anständige Stiftung machen und
gleichzeitig Dorions Villa bauen will. Claudius Regin, sein
Verleger, wird ihm die notwendigen Summen nicht verweigern, aber es
wird ihm eine willkommene Gelegenheit sein, unangenehme Anmerkungen
zu machen. Allein gerade daß Dorions Launen ihn Opfer kosten, ist
das Reizvolle. Heute nacht hat er ihr die Villa versprochen. Er
lächelt, wenn er daran denkt, wie listig sie ihm die Zusage
abgeschmeichelt hat. Es wird jetzt nach dem Brande, hat sie ihm
sachlich auseinandergesetzt, eine neue, große Bautätigkeit
einsetzen. Viele, die bisher im Zentrum wohnten, werden in der
Umgebung bauen, die Terrains bei Albanum und die Baukosten werden
anziehen. Aber sie, klug, wie sie ist, hat sich schon mit dem
Architekten Grovius ins Benehmen gesetzt. Er bleibt ihr im Wort, er
reserviert ihr das Terrain, er hält seinen Voranschlag
ein.
Josef kennt die Welt, er weiß,
daß der Architekt den Voranschlag natürlich trotzdem überschreiten
wird, er weiß, daß er sein Versprechen teuer wird bezahlen müssen.
Aber er denkt an sie, wie sie neben ihm lag, den Kopf auf seiner
Brust, und mit ihrer dünnen Kinderstimme auf ihn einsprach, und er
bereut auch jetzt, im hellen Tageslicht, seine Zusage nicht. Er
darf es sich leisten, großzügig zu sein. Ein genügsamer Mann ist er
nicht, nein, das kann man nicht sagen. Er war niemals genügsam, er
war immer gierig nach mehr Leben, nach mehr Erfolg, Leistung,
Genuß, Liebe, Weisheit, Gott. Jetzt aber ist er im Zug, jetzt
schaufelt er ein.
Titus kam ihm mit raschen
Schritten entgegen, herzlich. Seitdem der Kaiser den Grund kennt,
der Berenikes Ankunft hinauszögert, seitdem er weiß, daß dieser
Grund nicht in ihm liegt, ist er beschwingt, aufgetan, seine
Schlaffheit ist weg. Die Feuersbrunst kann seiner Sicherheit nichts
anhaben. Daß man Glück mit Opfern bezahlen muß, dieser Gedanke war
ihm geläufig. Hat die kluge Berenike das nicht freiwillig getan, im
vorhinein? Obendrein gibt ihm der Brand Gelegenheit, seine eigene
Freigebigkeit im Gegensatz zu der Enge seines Vaters zu
manifestieren. Eigentlich, versichert er dem Josef, sich ganz vor
ihm gehenlassend, sei ihm der Brand sogar willkommen. Immer habe es
in seiner Absicht gelegen, zu bauen. Der Untergang des alten Rom
sei ihm nur eine Bestätigung, daß der Himmel sein Vorhaben billige.
Beflissen, angeregt erzählt er Josef von dem neuen Rom, dessen Bild
er in seiner Seele trage, wieviel großartiger er das Capitol
aufbauen, wieviel herrliches Neues er an Stelle des schlechten
Alten setzen werde.
Mehr aber als der Neubau Roms,
mehr als alles andere beschäftigt ihn nach wie vor Berenike.
Vertraulich, nicht zum erstenmal, befragt er den Juden Josef,
seinen Freund, ob es ihm wohl glücken werde, niederzureißen, was
zwischen ihm und ihr steht. »Du selber, mein Josef«, redet er auf
ihn ein, »hast die Ägypterin geheiratet. Ich weiß, daß viele dir
das als Sünde anrechnen. Auch meine Römer sehen es nicht gern, wenn
ich die Fremde heirate. Sag mir aufrichtig, was haltet ihr Juden
von der Ehe mit einer Fremden? Ist es eine Sünde vor eurem Gott?«
Dem Josef tat es wohl, daß der Kaiser sich so vor ihm aufschloß.
Geduldig, wie schon mehrmals, setzte er ihm auseinander: »Josef,
unser Heros, dessen Namen ich trage, hat eine Ägypterin zur Frau
genommen, unser Gesetzgeber Moses eine Midianitin. König Salomo hat
mit vielen fremden Weibern als mit seinen Frauen geschlafen. Und
wir Juden preisen mit höchstem Preis Esther, die Gattin des
Perserkönigs Ahasver.« – »Das klingt tröstlich«, erwiderte
nachdenklich Titus. »Ich muß es dir sagen, mein Josef«, fügte er
hinzu, nahe an ihm, den Arm um seine Schulter, lächelnd, knabenhaft
verlegen, »ich bin vor ihr immer wie ein kleiner Junge. Sie ist
fremd und hoch über mir, selbst wenn ich sie nehme. Ich will, daß
sie eins mit mir wird, ich will mich mischen mit ihr. Aber sie
bleibt mir versperrt, selbst wenn sie sich mir gibt. Ihr Juden habt
dieses infernalisch gescheite Wort für den Akt: ein Mann erkennt
eine Frau. Ich habe sie bis jetzt nicht erkannt. Aber wenn sie nun
kommen wird, dann, des bin ich sicher, wird sie sich mir auftun.
Ich habe nämlich den Grund gefunden, warum ich ihr bisher nicht
näherkam. Ich war gehemmt durch einen Rest läppischer Konvention,
mein Römerdünkel war wie ein Panzer zwischen mir und ihr. Aber ich
bin weiser geworden in diesen letzten Wochen. Ich weiß jetzt, daß
das Reich mehr ist als ein vergrößertes Italien. Vielleicht war
diese Katastrophe eine Mahnung eures Gottes. Es brauchte diese
Mahnung kaum mehr. Ich war lässig, ich gebe es zu, meine Hände
waren träg, das zu tun, was mein Herz und mein Hirn mich hießen.
Ich werde nicht länger träg sein. Dieser Flavius Silva wird seine
Vorlage über die Beschneidung nicht im Senat einbringen. Die
Weißbeschuhten in Alexandrien werden in ihre Schranken
zurückgewiesen werden. Sag es deinen Juden. Sie sollen an mich
glauben. Schon in den nächsten Tagen werde ich es mit Claudius
Regin bis in alle Einzelheiten überdenken.«
Eigentlich hatte Josef nach der
Audienz zurück in sein Haus wollen. Aber er hatte von Anfang an ein
kindisches Gelüst verspürt, sich Mara und dem jungen Simeon im
Galakleid zu zeigen. Jetzt, nach der Huld des Titus, konnte er
dieses Gelüst nicht länger bezähmen. Er begab sich zu dem
Glasfabrikanten Alexas.
Die Dinge fügen sich ihm, innen
und außen. Fort ist jenes Gefühl drückender Unzulänglichkeit, das
ihn damals im Augenblick seines höchsten äußeren Triumphs
überfallen hat. Schön, sein Leben ist kompliziert, die Sache mit
Dorion ist kompliziert, die Sache mit Mara nicht einfach. Aber er
hat die Methode. Die Frau, die er liebt und die sein Herz und seine
Sinne nicht entbehren können, weigert ihm den Sohn. So nimmt er
eben den Sohn der andern, die er nicht liebt, die ihm aber nichts
weigert.
Es ist mit dem jungen Simeon in
Rom nicht so glatt gegangen, wie Mara es sich vorgestellt hat. In
der orthodoxen Schule auf dem rechten Tiberufer, in die sie den
Jungen zunächst schickte, bekam er, der Bastard, der Sohn des
geächteten Josef, allerlei Unangenehmes zu hören. Mara nahm ihn
weg, schickte ihn auf Rat des Glasfabrikanten Alexas, der sich in
den geweckten Jungen vergafft hatte, in eine liberale Schule. Dort
fühlt sich Simeon wohl, man stößt sich nicht daran, daß er der Sohn
des Josef ist. Seine Mutter aber, die ängstlich an den alten
Bräuchen festhält, ist unzufrieden. Ihr Simeon-Janiki lernt in der
vornehmen Schule bedenkliche Dinge. Niemand verwehrt ihm, selbst am
Sabbat nicht, mit den heidnischen Jungens auf der Straße seine
wilden Spiele zu treiben. Vor allem ist da der kleine Constans, der
Sohn des pensionierten Hauptmanns Lucrio. Die beiden Jungen haben
Isispriester verulkt, es hat Krach gegeben, sogar die Polizei hat
sich eingemischt. Auch in dem Restaurant »Zum großen Olivenstall«
sind die beiden einmal gesehen worden. Ob Simeon dort verbotene
Dinge gegessen hat, ist aus ihm nicht herauszubekommen, er schweigt
eisern auf Maras Fragen: aber was soll aus ihm werden, wenn er dort
etwa Schinken gekostet haben sollte, den das Schild des Restaurants
als Spezialität anpreist?
Josef findet diese Streiche nicht
so schlimm. Er hat den kleinen Constans gesehen, den Kameraden
seines Sohnes, einen wilden, schmutzigen Burschen. Die beiden
prügeln sich, aber sie hängen aneinander, ja, der kleine Constans
verehrt Simeon, seitdem dieser einmal dem pensionierten Hauptmann,
seinem Vater, eines seiner Geschützmodelle vorgeführt und der
Hauptmann gebrummt hat: »Nicht übel. Für einen Judenjungen
allerhand.« Aber ideal ist die Erziehung Simeons wirklich nicht,
das muß man Mara zugeben, und es wäre Zeit, daß er in die rechten
Hände kommt. Nun ja. Maras Wünsche sind leichter zu erfüllen als
die Dorions, und sie gehen mehr in der Richtung seiner eigenen. Er
hat sich also entschlossen. Er überläßt Dorion Paulus, aber er
selber kümmert sich um die Erziehung Simeons, vielleicht sogar,
wenn er sich bewährt, nimmt er ihn später ins Haus. Das scheint ihm
eine glückliche Lösung, die alle befriedigt. Selbst die Juden der
Hauptstadt werden sich mit seinem griechischen Sohn abfinden, wenn
er ihnen seinen jüdischen Sohn vorweist. Mit Dorion hat er noch
nicht über sein Vorhaben gesprochen. Aber was wohl sollte sie
dagegen einzuwenden haben? Er lächelt rechenhaft, mit gutmütigem
Zynismus. Er hat ihr die Villa geschenkt, sie ist ihm einen
Gegendienst schuldig. So trägt Großzügigkeit ihren Lohn in
sich.
Anmaßlich, in seinem glänzenden
Festgewand, erscheint er vor Mara. Sie ist eitel Bewunderung;
selbst Simeon, bei all seiner Kritik, konstatiert mit sachlicher
Anerkennung, wie gut Josef aussieht.
Eigentlich hat Josef vor, sich
zuerst mit Dorion über sein Projekt auseinanderzusetzen. Aber er
ist gut gelaunt und will Freude um sich verbreiten. Mara mag
endgültig in Rom bleiben, verkündet er gnädig, den Jungen wird er
bei hochgestellten Freunden unterbringen, später vielleicht sogar
zu sich ins Haus nehmen.
Gewöhnlich dauert es lange, ehe
Mara begreift; aber diesmal, da es sich um ihren Jungen handelt,
sieht sie sogleich, welch tiefen Einschnitt in ihr Leben Josefs
Entscheid bedeutet. Wenn der Knabe bei Freunden Josefs oder gar in
seinem eigenen Hause erzogen wird, dann heißt das, daß sie sich von
Simeon trennen muß. Sicherlich dann wird sie ihren Jungen selten zu
sehen bekommen. Ihr Herr und Gebieter Josef ist sehr weise. Aber
weiß nicht sie, die Mutter, manches um den Jungen, was Josef nicht
weiß? Und wird Simeon nicht viele von den guten alten Bräuchen
verlernen? Trotzdem ist sie glücklich. Ihr Simeon-Janiki hat das
Herz des Vaters gewonnen, er wird ein großer Mann werden wie
dieser, wenn auch nicht ein Doktor und Herr und Weiser in Israel.
Sie küßt Josefs Hand, sie heißt den Jungen seine Hand küssen, sie
ist demütig, stolz, glücklich.
Josef, an diesem großen Tag,
beschließt, nun er den Bau der Villa genehmigt hat, auch die
Stiftung der Synagoge endgültig zu regeln. Er teilt dem Doktor
Licin mit, daß er sich am Bau der neuen Synagoge beteiligen wolle.
Licin ist ehrlich erfreut. Auf geschickte Art, die den andern nicht
demütigt, schneidet er die Finanzfrage an. Die Josef-Synagoge soll
kein allzu prunkvolles Bethaus werden. Provisorisch, unverbindlich
veranschlagt er die Kosten des Baus auf eine Million
siebenhunderttausend Sesterzien. Josef erschrickt. Mehr als
zweihunderttausend kann er unter keinen Umständen auf die Stiftung
verwenden, und darf er es bei so geringer Leistung annehmen, daß
man die Synagoge nach ihm benennt? Doktor Licin aber, ohne ihn zu
Wort kommen zu lassen, spricht weiter. Er denke es sich so, daß er
und Josef sich in die Kosten teilen. Josef solle die siebzig
kostbaren Thorarollen zusteuern, die er aus der Zerstörung
Jerusalems gerettet habe und die er, Licin, mit etwa
siebenhunderttausend Sesterzien in Anschlag bringe; Josef hätte
dann in bar noch etwa hundertfünfzigtausend zuzuschießen. Diese
Thorarollen seien ja der wesentlichste Bestandteil des neuen
Gotteshauses. Sollte das Äußere, der Bau, wider Erwarten höher zu
stehen kommen als nach dem Voranschlag, dann sei es Sache Licins
und seiner Leute, für den Mehraufwand einzustehen.
Das ist ein großmütiges Angebot
der jungen Herrn, das ist ein glücklicher Tag. Josef kann seine
Freude kaum verbergen: sichtbar vor den Augen der Römer steht seine
Bildsäule im Friedenstempel, und vor den Augen der Juden wird er
durch die Josef-Synagoge ausgesöhnt sein mit seinem unsichtbaren
Gott.
Stolz, mit vielen Worten, erzählte die Dame
Dorion ihrem Vater, dem Hofmaler Fabuli, daß Josef ihr nun
endgültig den Bau ihrer Villa bei Albanum zugesagt habe. Der
massige Herr saß in strenger Haltung da, besonders sorgfältig
angezogen, wie das seine Art war; weil er als Maler von Beruf
gesellschaftlich nicht voll genommen wurde, legte er es mit
doppeltem Eifer darauf an, sich korrekt und römisch zu geben. Als
seinerzeit Dorion, an der er leidenschaftlich hing, des Juden Frau
geworden war, hatte ihn das bis ins Mark getroffen. Seither war er
noch strenger, wortkarger.
Dorion also, lebhaft, glücklich,
mit ihrer dünnen, kindlichen Stimme, brüstete sich, wie geschickt
sie alles arrangiert habe. Vor Jahren schon hat sie mit dem
Architekten Grovius einen erstaunlich billigen Preis für das
Terrain und für den Bau vereinbart. Es war nicht leicht, Grovius
die ganze Zeit hinzuhalten. Sie hat es erreicht. Auch jetzt, nach
dem Brand, trotzdem die Preise geradezu stündlich anziehen, bleibt
ihr der Architekt im Wort.
Fabull hörte versperrten
Gesichtes zu. Im Anfang, unmittelbar nach Dorions Heirat, hatte er
für diesen Juden, den Lumpen, den Hund, an den sein Kind sich
weggeworfen, nichts gehabt als Haß und Verachtung. Daß Josef gar
noch Schriftsteller war, hatte diesen Haß gesteigert; er wollte von
Literatur nichts wissen, er war erbittert, daß Rom die Literaten
gelten ließ, nicht aber die Künstler. Allein er war ein großer
Porträtist, gewohnt, in den Gesichtern der Menschen zu lesen, er
hatte dem Gesicht des Josef viel von seinem Schicksal und seinem
Wesen abgelesen, er konnte sich der Bedeutung des Mannes nicht
verschließen, und es war im Lauf der Jahre etwas wie eine
Aussöhnung zustande gekommen. Ja, allmählich wuchs in dem Maler
Fabull eine Art haßvoller Bewunderung. Dieser Mann Josef beschrieb
in seinem Buch Menschen, Landschaften, Vorgänge überaus bildhaft,
mit dem Aug des Malers; dabei verabscheute er alle Bildnerei. Er
wurde Fabull schließlich geradezu unheimlich. Der Mann besaß
magische Kräfte. Nicht nur sein Kind hat er behext, auch den alten
Kaiser und den jungen. Ihm hat man die gesellschaftliche Geltung,
die er, Fabull, so schmerzlich vermißt, geradezu nachgeworfen.
Verschärft noch wurde der Groll des Fabull durch den Bericht des
Bildhauers Basil, daß Josef es abgelehnt habe, die Ehrensäule für
die Bibliothek von ihm bemalen zu lassen. Seinem künstlerischen
Ansehen konnte diese Weigerung nichts anhaben, er galt als der
erste Maler der Zeit; aber sein ganzer, unvernünftiger Zorn gegen
den Schwiegersohn war ihm bei dem Bericht wieder
hochgestiegen.
Wie ihm die Tochter von Josefs
neuem Glück erzählte, und daß sein Reichtum ihm jetzt erlaube, ihr
die lang erträumte Villa zu schenken, packte den Maler zwiefacher
Grimm. Er selber war wohlhabend, auch keineswegs geizig, er hätte
gern seiner Tochter, die er liebte, ihr Landhaus geschenkt; wenn er
es sich versagte, dann nur, um ihr zu zeigen, daß dem Josef trotz
seines großen, scheinbaren Glanzes ein Wesentliches fehlte. Es war
ihm eine Genugtuung, daß sie ihre Liebe zu diesem Josef wenigstens
mit Entbehrungen bezahlen mußte.
Mit gewohnter Stummheit hörte er
zu, während sie lange und glücklich sprach. Er dachte daran, daß
seine Dorion dem Menschen eines wenigstens
abgeschlagen hatte: ihren Sohn Paulus hatte sie nicht zum Juden
machen lassen. Das war sein Trost. Sein Enkel wurde, was er selber
war, rechtlos, aber von Gehabe und Anschauungen römisch-streng und
erfüllt von griechischer Bildung. Doch dieser Gedanke milderte
seinen Grimm nur wenig. Als Dorion schließlich seinen
gravitätischen Kopf in ihre Hände nahm, mit den Worten: »Ich freue
mich ja so, Väterchen, daß du jetzt ›Die versäumten Gelegenheiten‹
für mich malst«, da machte sich der alternde Mann behutsam, doch
entschieden von ihren lieben Händen los, und wortkarg, mit seiner
sehr männlichen Stimme, erwiderte er: »Es tut mir leid, Dorion, ich
werde dem Juden das Bild nicht machen.«
Dorion, gekränkt, empört,
staunte: »Was heißt das? Du hast es mir doch versprochen. Es war
nicht leicht, Josef dahin zu bringen.« – »Das kann ich mir denken«,
sagte haßvoll der Alte. »Das ist der Grund, warum ich es nicht tue.
Der Kaiser ist nicht so heikel wie dein Jude«, fuhr er fort. »Der
Kaiser hat mich beauftragt, die Große Halle der Neuen Bäder
auszumalen. ›Die versäumten Gelegenheiten‹ werden dort vielleicht
kompetentere und auf alle Fälle freundlichere Beschauer finden als
im Landhaus des Flavius Josephus.« – »Du machst mich lächerlich vor
ihm«, erzürnte sich Dorion, »nachdem ich mich so lange vor ihm
abgezappelt habe. Du hast noch nie dein Wort gebrochen«, bat sie.
»Die Situation hat sich geändert«, gab Fabuli zurück. »Flavius
Josephus hat es ausdrücklich abgelehnt, von mir arbeiten zu lassen.
Er hat mich abgelehnt, als der Bildhauer Basil mich
vorschlug.«
Dorion schwieg, betreten, denn
davon hatte sie nichts gewußt. Ihr Vater aber sprach weiter. »Du
lächerlich vor ihm«, sagte er, höhnisch. »Er hat sich lächerlich
gemacht vor aller Welt, unzählige Male. Hat sich auspeitschen
lassen, ist mit der Kette des Leibeigenen herumgelaufen. Und wenn
sie auch sein Bild in die Bibliothek gestellt haben, er bleibt
lächerlich, er bleibt bemakelt. Der Jude, der Hund, der
Wegwurf.«
Niemals hatte Dorion aus dem Mund
ihres Vaters so maßlose Worte gehört. Für einen Augenblick war sie
geneigt gewesen, ihm recht zu geben; jetzt, da dies aus ihm
herausquoll, änderten sich ihre Gefühle. Damals, als sie ihm ihren
Entschluß mitteilte, mit dem Juden zu leben, hatte sie harte,
höhnische Worte von ihm erwartet, aber er hatte nichts gesagt, er
hatte den Mund zugepreßt, daß er ganz dünn wurde, seine Augen waren
beängstigend rund aus seinem Gesicht herausgetreten, es war schlimm
gewesen, und sie war schnell aus dem Hause gegangen, zu Josef. Er
hatte geschwiegen, damals, er hatte auch seither geschwiegen, und
sie war aufs tiefste erstaunt, daß er jetzt, nach zehn Jahren, auf
einmal sprach.
Zuerst fehlten ihr, der sonst so
Wortgewandten, vor Erstaunen die Worte. Dann aber sah sie vor sich
die Büste im Ehrensaal, ihren blassen, hohen Schimmer, das
rätselhafte Leuchten um Josefs Kopf, sie hörte den festlichen Lärm,
der ihn feierte, und ihr Staunen wandelte sich in Empörung. »Ich
lasse ihn nicht beschimpfen«, brach sie los. »Auch von dir nicht.
Er ein Hund? Er Wegwurf? Er hat Macht wie einer der Totenrichter«,
fuhr sie fort mit ihrer dünnen Stimme, es klang etwas läppisch, sie
selber hatte darüber gelacht, als Josef sich dessen rühmte, aber
ihre Augen waren hell, wild, ekstatisch, als sie es ihm jetzt
nachsprach. »Er hält Gericht über Lebende und Tote. Ihm ist die
Macht gegeben. Er ist der Hermes mit dem Vogelkopf, der den Spruch
verzeichnet auf seiner Schreibtafel.« Fast war sie froh, daß der
Vorwurf des Vaters, der so lang verschwiegene, aufgestapelte, nun
endlich Wort geworden war, daß sie sich dagegen wehren
konnte.
Er sprach weiter, schimpfte
weiter, hart, grob, wie ein Rollkutscher. Es war ihm leid, während
er sich so gehenließ. Er liebte seine Tochter, liebte sie um ihrer
ägyptischen Mutter willen, um ihres Kunstverstandes willen, um
ihres Sohnes willen, den sie in seinem Sinne großzog. Er wußte, daß
er sie mit jedem Wort weiter von sich wegstieß, und er selber litt
unter seinen Worten, es paßte nicht zu ihm, harte, grobe Reden zu
führen. Aber wenn er an den Menschen dachte, an den Juden, den
Lumpen, den Hund, dann verließ ihn seine Zucht, es riß ihn hin, und
er sagte mehr, als er sagen wollte. Alles, was er so lange stumm in
sich herumgetragen hatte, brach aus ihm heraus, schmutzig, niedrig,
gemein.
Dorion erblaßte, um die Lippen
zuerst, wie es ihre Art war, dann über das ganze Gesicht. War das
ihr Vater, der da hin und her ging und so gemein schimpfte und
fluchte, der größte Künstler der Zeit, und an dem sie hing? Einmal
hatte sie wählen müssen zwischen ihm und Josef, da hatte sie den
Mann gewählt. Aber dann war alles gut geworden, sie hatte den Mann
und den Vater, und sie hatte sich so darauf gefreut, daß jetzt in
dem Haus, das der Mann ihr schenkte, das Werk des Vaters um sie
sein sollte, dieses halb rührende, halb spöttische, sein bestes,
»Die versäumten Gelegenheiten«. Und nun also endete alles in
wüstem, grobem Geschimpfe. Aber es war nicht zu ändern, auch sie
konnte sich nicht zähmen. »Geh«, unterbrach sie ihn plötzlich mit
ihrer dünnen, schrillen Stimme, sie war jetzt vollkommen erblaßt,
häßlich, verzerrt. »Geh«, sagte sie noch einmal, »und mal dein
Bild, für wen du willst, für den Kaiser oder für den Pöbel von
Rom.«
Fabull saß da wie damals, als sie
ihm zum erstenmal von ihrer Verbindung mit dem Juden gesprochen
hatte, die Lippen ganz dünn, die Augen weit aus dem Kopf heraus. Er
schwieg wie damals. Sie wünschte sehr, er spräche ein einziges
Wort, das wie ein Widerruf klang oder eine Entschuldigung. Aber er
sagte nichts, er nahm nichts zurück, er saß einfach da, vielleicht
schaukelte er ein ganz klein wenig, unmerklich. Sein Schweigen
legte sich um sie und engte sie hart ein, so daß ihr ganzer Rumpf
schmerzte. Allein auch sie nahm nichts zurück, und als er
schließlich aufstand, hielt sie ihn nicht. Da ging er denn, ein
wenig schwankend, den Rücken nicht ganz so aufrecht wie
sonst.
So also sah es um Dorion aus, als Josef zu
ihr kam, um ihr mitzuteilen, was er mit seinem Sohne Simeon
vorhatte. Er wählte leichte, beiläufige Worte. Im Grunde war er
stolz auf seinen Einfall und kam nicht auf den Gedanken, Dorion
könnte ernsthafte Einwände machen.
Ihr blaßbraunes Gesicht blieb
unbewegt, während er sprach. Durch ihre Freunde wußte sie von der
Anwesenheit der ersten Frau des Josef, man lächelte über diese Frau
aus der Provinz, es war ein Jugendabenteuer, Dorion selber hatte
gelächelt und die Geschichte schnell wieder vergessen. Jetzt,
während Josef sprach, nahm die Angelegenheit für sie ein anderes
Gesicht an. Sie hatte für diesen Mann ungeheure Opfer gebracht, er
hatte sie als etwas Natürliches hingenommen und ihr immer neue
Demütigungen zugefügt. Und nun gar wollte er den Bastard dieser
Kleinbürgerin aus der Provinz ihrem Paulus gleichstellen, ihn ihr
ins Haus bringen. War er so stumpf, daß er nicht merkte, was er ihr
zumutete? Oder waren es vielleicht trotz allem tiefere Bindungen,
die ihn mit diesem judäischen Weib verknüpften? Man hatte ihr
gesagt, die Frau sei eine dumme, dickliche, kleine Jüdin, ein
Nichts: aber wer weiß, was diesen merkwürdigen Josef an sie
fesselte. Jude bleibt Jude, Jude geht zur Jüdin wie Wolf zur Wölfin
und Hund zur Hündin. Sie hatte ihn erst gestern noch so heiß gegen
ihren Vater verteidigt, mit Nägeln und Zähnen, hatte ihren Vater,
den einzigen Menschen, an dem sie hing, seinethalb aus dem Hause
gewiesen. Das also war der Ersatz, den er ihr für ihren Vater bot:
sein Bankert. Aber sie bezähmte sich, sie ließ von dem Bösen,
Bitteren, das in ihr hochstieg, nichts laut werden, sie sagte nur
hart und dünn: »Nein. Ich bin nicht damit einverstanden, daß du
diesen Jungen unserm Paulus gleichstellst.«
Josef ließ sich durch ihren
kühlen Ton täuschen. Es war nicht weiter verwunderlich, daß es
einiges Hin und Her kostete, ehe sie ihre Zustimmung gab. In großer
Ruhe also sprach er weiter. »Unserm Paulus?« fragte er zurück. »Das
ist es ja eben, daß Paulus leider nur dein Paulus ist, nicht unser
Paulus. Du mußt es doch begreifen, daß ich endlich einen richtigen,
jüdischen Sohn haben will. Überlege dir, bitte, in Ruhe, Dorion,
meine kluge, liebenswerte, ob ich Unbilliges von dir
fordere.«
Dorion gab sich weiter
unzugänglich. »Nicht ich bin es«, sagte sie bösartig, doch
beherrscht, »die dir den Jungen verweigert. Er selber verweigert
sich dir. Er tut recht daran; denn er ist nun einmal kein Jude. Du
hast es geschafft, du hast dich aus dem niedrigen Volk
herausgehoben. Warum soll mein Junge zu deinen Juden
hinuntersteigen? Es ist guter Instinkt, wenn er nicht will. Sieh
ihn dir an, sprich mit ihm: er will nicht. Versuch es. Hol ihn dir,
wenn du kannst.«
Ihr ruhiger Hohn brachte ihn auf.
Hatte nicht sie verhindert, daß der Junge mit jüdischen Lehren und
jüdischen Menschen in Berührung kam? Hatte nicht sie ihm diesen
Phineas in den Nacken gesetzt? Und nun wagte sie es, ihn zu
verspotten, weil der Junge nicht jüdischer war? Er stellte sich
Paulus vor, er verglich ihn mit Simeon. Paulus war schlank, edel
gewachsen, er hatte die stillen, gefälligen Manieren des Phineas,
es war keine Frage, daß, wenn man Simeon und ihn gegenüberstellte,
der laute, hemmungslose Judenjunge nicht gut abschnitt. Aber hatte
sie das Recht, ihn zu verlachen, weil er nicht Paulus zu seinem
jüdischen Sohn hatte machen können? Ich selber bin schuld, daß sie
jetzt so dreist ist, sagte er sich. Pherizus, Emanzipation, das ist
die böseste Eigenschaft, die eine Frau haben kann, lehren die
Doktoren, und vor keiner Gattung Weib warnen sie heftiger als vor
der Emanzipierten. Verse der Bibel stiegen in ihm hoch. »Bitterer
als den Tod empfand ich das Weib; sie gleicht einem Netz, ihr Herz
einer Schlinge, ihre Hände Fangstricken. Wem Gott wohlwill,
entrinnt ihr, aber der Sünder fängt sich in ihr.« Leise, unhörbar
fast, wie als Junge, da er die Verse memoriert hatte, sprach er sie
vor sich hin. »Sagtest du was?« fragte Dorion. Aber er hatte sich
schon wieder in der Gewalt. Er muß Geduld mit ihr haben. Frauen
haben keine Logik. Gott hat ihnen aufbauenden Verstand versagt.
Selbst eine Jüdin ist der Logik kaum zugänglich: wie sollte es
diese sein, die Griechin? »Du solltest das nicht sagen, Dorion«,
meinte er also, ruhig. »Hast du nicht selber alles getan, ihn zum
Griechen zu machen, und dich widersetzt, wenn ich ihm nur mit einem
bißchen Judentum kommen wollte? Ich sage das nicht, um es dir
vorzuwerfen, aber sei nun auch du, bitte, vernünftig, und stell
dich mir nicht entgegen, wenn ich einen jüdischen Sohn haben
will.«
Allein sie beharrte. Ihr Junge
war Grieche, jede Faser an ihm war griechisch. Judentum
aufzupfropfen wäre Verbrechen. Ja, sie habe es durchgesetzt, nicht
ohne Mühe, daß Paulus seine eigenen Gaben durch die Bildung und die
Sitten des Phineas veredle. Darauf sei sie stolz; denn das sei das
Wenigste, was eine gute Mutter für einen solchen Sohn tun
könne.
Ihn reizte ihre Zähigkeit. »Und
was«, fragte er spöttisch, »ist das Höchste, was du mit den
Methoden deines Phineas errei chen kannst? Daß Paulus, wenn er
erwachsen ist, beliebt sein wird bei aller Welt und ein Flachkopf
wie dein Annius und die andern um dich herum.« Schon während er
dies sagte, bereute er es. Aber es war zu spät. Sie stand auf,
stand ihm gegenüber, dünn, schlank, blaß. Zunächst freilich gelang
es ihr, an sich zu halten. »Du verstehst ihn nicht, den Jungen«,
sagte sie. »Er ist nun einmal Grieche, und du bleibst Jude, und
wenn du dir den Bart noch so sorgfältig abrasierst.« Dann aber, als
käme ihr, was er gesagt hatte, jetzt erst zum vollen Bewußtsein,
packte sie die weiße Wut. Er wage es, brach sie los, ihr den Annius
vorzuwerfen, er, der so blind und wahllos sei in seiner Geilheit.
Wer sei sie denn, diese Frau, um deren Jungen er so heftig kämpfe?
Oh, sie wisse gut, wer sie sei, man habe es ihr gesagt. Eine
Kleinbürgerin aus der Provinz, ein schmutziges Nichts, eine dicke,
dumme Jüdin, an der selbst der alte Vespasian nach einer Nacht genug gehabt habe. Und deren Frucht
wolle er jetzt ihrem behüteten, gepflegten Paulus gleichstellen.
Und darum beschimpfe er sie. Woher er denn überhaupt wisse, daß
dieser Straßenjunge sein Sohn sei und nicht der des
Vespasian?
Während sie so gegen ihn keifte,
schrill, dünn, gemein, war sie sich bitter und reuevoll bewußt, wie
heiß sie ihn gestern hier an der gleichen Stelle gerühmt hatte. Sie
liebte ihn doch. Sie hatte doch gezeigt, daß sie bereit war, auf
ihn einzugehen, ihm gefügig zu sein, auch wenn sie ihn nicht
verstand. Warum war er so gar nicht bereit zur geringsten
Rücksicht? Warum verlangte er so viel und gab so wenig? Warum zwang
er sie, widerlich und niedrig gegen ihn loszuschimpfen? Sie war
sehr blaß, während sie schimpfte, ihr Zorn konnte sich nur schwer
halten vor ihrer großen Liebe.
Josefs nacktes Gesicht, während
ihre Worte auf ihn einpeitschten, rötete sich. Es drängte ihn, sich
auf sie zu stürzen, auf sie einzuschlagen, auf diesen dünnen,
frechen, gebrechlichen Körper, mit Fäusten, mit seinem Schreibzeug.
Hinter ihrem Gesicht sah er das höfliche, höhnische des Phineas,
hinter ihrer dünnen Stimme hörte er des Phineas wohlklingende,
elegante. Aber in all seinem Zorn war er sich bewußt, daß es die
erduldete Kränkung vieler Jahre war, die jetzt aus ihr losschrie.
Er dachte daran, was alles sie ihm gegeben hatte, es war, als
drängen durch ihre Worte hindurch ihre verschwiegenen Gedanken zu
ihm. Er sah sie vor sich, wie sie sich hatte wegschicken lassen,
schweigend, den Sohn nicht einmal erwähnend, diesen Sohn Paulus,
den sie mit Recht den ihren nannte; denn es war ihr Sohn, nicht der
seine. War es denn nicht seine Schuld, daß sie sich so verändert
hatte? Er darf nicht zu genau wägen, was sie sagt. Sie ist
verstört. Ihre Schimpfworte sind Worte des Augenblicks, in der
nächsten Stunde schon wird sie bereuen. Er wußte nicht, daß sie
bereute, schon während, ja bevor sie sie sprach.
Er ging zu ihr, setzte sich, zog
sie zu sich herunter, machte seine Stimme sanft, redete auf sie
ein. Sie habe recht. Er sei nun einmal Jude und sie Griechin, und
nur in ihren besten, glücklichsten Momenten könnten sie ganz eins
werden. So habe der Himmel das gefügt. Aber das gerade sei ja der
Grund seines Vorschlags. Sie möge bedenken, daß dieser Vorschlag
auch für ihn ein Opfer einschließe: den Verzicht auf Paulus. Es sei
nicht so, daß er immer nur nehmen wolle und niemals geben. Daß er
sie die Villa bauen lasse, auch das zum Beispiel, lege ihm
allerhand Lasten auf.
Dieses Letzte hätte er nicht
sagen sollen. Sie sprang auf, legte Raum zwischen ihn und sich.
Hart, kalt, mit einer Stimme, deren Ruhe ihn mehr aufbrachte und
erschreckte als ihr Zorn, erklärte sie, sie kenne eine ganze Reihe
Männer, die ihr eine solche Villa und eine bessere mit Freuden
schenkten, und ohne ihr das Geschenk hinterher vorzuwerfen. Was
übrigens das Fresko »Die versäumten Gelegenheiten« anlange, so sei
seine Überwindung überflüssig geworden. Ihr Vater weigere sich, es
für ihn zu malen, er male es für den Kaiser.
Josefs Augen waren fast töricht
vor Verwunderung. Er begriff die Gründe nicht, nicht die
Zusammenhänge, er verstand diese Menschen nicht. Er schwieg. Sie
aber, weitergetrieben wahrscheinlich durch die Erinnerung an ihren
Vater, wurde heftiger, zügelloser. »Schick das Weib weg«, verlangte
sie plötzlich, ohne Übergang, hart, herrisch, »das Weib und den
Bastard.«
Josef schaute auf sie, überrascht
in seinem Herzen. Seine Erwägungen waren falsch gewesen, das sah er
jetzt. Er kannte sie gut, aber doch nicht bis ans Ende. Er hatte in
der Vergangenheit so viel von ihr verlangt, daß jetzt offenbar
selbst eine gerechte Forderung sie in Wut brachte. »Schick das Weib
weg«, beharrte sie, immer mit den gleichen, wilden, hellen Augen.
Sie hatte alle Herrschaft über sich verloren.
Josef, wie immer, wenn etwas ganz
Überraschendes, Unheilvolles ihn traf, wurde eiskalt, drückte seine
Gefühle nieder, rief seine Vernunft zu Hilfe. »Überleg dir meinen
Vorschlag in Ruhe, Dorion«, bat er, und seine Stimme klang
gleichmütig. »Beschlafe ihn zwei, drei Nächte. Und was den Bau
anlangt, so laß dich nicht hinhalten und verlange jede
Beschleunigung. Ich habe zwei Raten bezahlt. Überleg dir alles gut,
Dorion.« Er nahm ihren langen, dünnen Kopf zwischen seine beiden
Hände, ihre Haut war zart und sehr kühl, er küßte sie, sie ließ es
sich ohne Regung gefallen, und er ging.
Josef verlangte von Claudius Regin einen
Vorschuß auf seine künftigen Arbeiten, hundertfünfzigtausend
Sesterzien. Es wurde, wie Josef vorgesehen hatte, eine unangenehme
Unterredung. Regin zahlte zwar, aber er hatte eine unbehagliche
Art, die Überreichung einer Anweisung mit mürrischen und ironischen
Bemerkungen allgemeiner Natur zu begleiten. Heute war er besonders
unwirsch. Seit dem Tode Vespasians, erklärte er dem Josef, ist eine
Zeit der Verschwendung angebrochen. Der Alte, wenn er sähe, mit wie
leichter Hand Titus das Kapital vertut, das er mit soviel Mühe
zusammengekratzt hat, sein Finger wüchse drohend aus dem Grab.
»Vespasian«, raunzte er, »hätte Ihnen für die Neufassung des
›Jüdischen Kriegs‹ keine solche Summe hingeschmissen. Die Dame
Dorion muß ihre Villa haben, natürlich. Muß man allen Launen der
Damen nachgeben? Ich sehe es nicht gern, daß Sie jetzt bauen. Alle
Welt muß jetzt bauen. Unser Titus steckt weitere zwölfeinhalb
Millionen in sein Amphitheater. Hundert Tage müssen die Spiele
dauern, mit denen es eingeweiht wird. Jeder Tag kostet nahe an eine
halbe Million. Dem Alten bliebe der Speichel weg. Er hat mit
Jupiters und meiner Hilfe ein paar Milliarden hinterlassen. Wenn
wir so weitermachen, werden wir bald am Rande sein.
Es ist mir nicht um die einmalige
Summe. Sie drückt, aber sie läßt sich schaffen. Es ist der
Standard. Nach den Bädern und nach dem Amphitheater werden unsere
lieben Römer noch eine Wandelhalle wollen, nach der Wandelhalle
einen Tempel, und in den Bädern will man baden, und hunderttägige
Spiele kann man nicht alle Jahre machen. Sie werden es erleben,
Doktor Josef. An sich selber. Ihre Dame Dorion wird für die Villa
ein Dutzend neue Leibeigene brauchen und Pferde und einen Wagen.
Wir haben die Preise gesenkt, stimmt. Der Scheffel Weizen kostet
nur mehr fünf Sesterzien, und schon für vierzehn kriegen Sie ein
paar gute Schuhe. Der Schneider verlangt nur mehr sieben Sesterzien
Tagelohn, und der Schreiber ist mit dreieinhalb für je hundert
Zeilen zufrieden. Das sind Beträge, die Sie nicht umwerfen, das
können Sie sich leisten. Aber Sie werden Augen machen, wie Ihr
Budget anzieht, wenn erst die Dame Dorion in ihrer Villa sitzt.
Schauen Sie mich an. Dieses Oberkleid ist vier Jahre alt, diese
Schuhe drei. Ich könnte mir neue spendieren, aber ich halte es
nicht für weise, meinen Standard ins Blaue hinein zu
erhöhen.
Ich sehe es nicht gern, Doktor
Josef, daß Sie sich den Kopf mit Finanzsorgen vernebeln, statt ihn
für Ihre ›Jüdische Geschichte‹ frei zu halten. Ich habe allerhand
in Sie hineingesteckt, Doktor Josef. Ich habe in Sie, lassen Sie
mich mal rechnen, etwa zweitausend Prozent mehr hineingesteckt als
in Ihren Kollegen Justus von Tiberias, und das Leben in Rom ist nur
um siebenunddreißig Prozent teurer als das Leben in
Alexandrien.«
»Na ja«, seufzte er und stellte
Josef die Anweisung aus.
»Nicht ich bin es«, hatte Dorion gesagt, »die
dir Paulus verweigert. Er selber verweigert sich dir. Versuch es.
Hol ihn dir, wenn du kannst.« Diese Worte fraßen an Josef. Denn
Dorion hatte recht, es war immer eine Fremdheit zwischen ihm und
Paulus gewesen. Aber woran lag das? Zugegeben, Kinder
interessierten ihn nicht, es fiel ihm schwer, sich in sie
einzufühlen. Er war selber ein altkluges Kind gewesen, schnell
erwachsen, und dachte nicht gern an seine frühe Jugend. Freier,
glücklicher hatte er sich erst mit zunehmenden Jahren gefühlt, da
hatte er das Gefühl des Wachsens, des Reifens genossen. Aber
trotzdem, wenn er ernstlich wollte, verstand er Menschen zu nehmen,
auch sehr junge; freilich war er hochfahrend und wollte selten.
Seinen Sohn Paulus hätte er gerne für sich gewonnen, denn er liebte
ihn. Warum versagte er gerade vor ihm und vermochte seine Liebe
nicht zu äußern? Wenn er es scharf überprüfte, dann war der Knabe
der einzige Mensch, vor dem er befangen war. Immer war er vor
Paulus unsicher gewesen, auch jetzt wird er seine Fremdheit nicht
überwinden können. Dorion hatte recht.
Dabei sah er mit Bitterkeit und
Freude, daß Paulus ein Sohn war, den man wohl lieben und dessen man
stolz sein durfte. Die Glieder des Neunjährigen waren zart und
dennoch kräftig, seine Bewegungen leicht und sicher. Auf einem
langen Hals saß dünn und braun der Kopf, der Kopf der Mutter, aber
die heftigen Augen waren die des Vaters, sie glühten herrisch in
dem schmalen, feinen Gesicht.
In der Schule des Nikias, die er
besuchte, hatte er unter seinen Kameraden wenig Freunde. Es war
nicht nur, weil ihm das Kleid des römischen Bürgerknaben versagt
war – unter den achtzig Schülern des Nikias waren zwei Dutzend ohne
den Bürgerstreifen –, aber er galt als hochfahrend. Wenn man mit
ihm spielte, wenn er sich an den Hahnenkämpfen seiner Kameraden
beteiligte und seine eigenen Hähne ins Spiel brachte, dann endete
das häufig nicht nur mit Prügeln – das wäre nicht weiter unangenehm
gewesen –, sondern es setzte auch scharfe, bösartige Worte, die man
einander lange nachtrug. Dabei hatten die andern Achtung vor
Paulus, er war tapfer, das bestritt keiner, selbst sein Hochmut
gefiel ihnen, und wenn er mit seinem Ziegengespann, dem schönsten
seiner Straße, vor der Schule des Nikias anfuhr, dann waren sie
geradezu stolz auf ihn. Das hinderte nicht, daß sie sich über den
Ziegengestank lustig machten, der ständig um ihn war; wer ein gutes
Gespann haben wollte, durfte die Pflege der Tiere nicht Leibeigenen
überlassen, er mußte sich selbst darum kümmern. Von dem
Ziegengestank aber war kein weiter Weg zu herzkränkenden
Schimpfworten über Judengestank und ähnliches. Paulus wußte, daß es
nur der Neid war, der seine Kameraden zu solchen Beschimpfungen
trieb, der Neid auf seine Ziegen und auf seinen Vater, doch der
Hohn traf ihn darum nicht weniger tief. Er ließ es sich nicht
merken, ein römischer Junge mußte seinen Ärger verbeißen. Er preßte
die Lippen zusammen und blickte hochfahrend über die andern weg. Er
war etwas Besonderes, das hob ihn und das fraß an ihm.
Im Grunde hätte er
leidenschaftlich gern mit den andern gespielt. Wenn sie an ihren
Tierpuppen aus Wachs und Ton herumkneteten, an primitiven
Karikaturen von Lehrern, Kameraden, Bekannten, dann hätte er gerne
mitgetan, aber er war jähzornig, er wußte, es kam leicht zum
Streit, und er konnte es nicht verwinden, wenn sie ihn als Juden
beschimpften. Wenn sie mit diesem besonderen Schimpf anrückten,
dann wußte er nichts zu erwidern. So wurde er, gegen seinen Willen,
mehr und mehr zu den Erwachsenen getrieben. Er verbrachte viel Zeit
in der Gesellschaft seiner Mutter, bewunderte den alten, steifen,
ungeheuer vornehmen Valer, verehrte scheu aus der Ferne die weiße,
strenge Tullia, suchte Gespräch mit dem lärmenden, sicheren
Obersten Annius, mit dem man sogleich vertraut war, schloß sich
immer enger an seinen Lehrer Phineas an. Wenn er mit dem zusammen
sein konnte oder wenn er sich mit seinen Ziegen abgab, das war
seine beste Zeit.
Es ging ihm gut. Er lernte
leicht; im Griechischen, in der Geschichte glänzte er mühelos über
seine Kameraden. Als einziger Sohn eines wohlhabenden Hauses hatte
er reichliche Mittel zur Verfügung, war gut angezogen, hatte die
besten Manieren und das beste Ziegengespann. Es muß gesagt werden,
daß er oft heimlich die weiten Ärmel seines Kleides voll von Wachs
und Kitt hatte, um Tierfiguren zu kneten, und daß die Sauberkeit
seines Anzuges unter dieser Angewohnheit ein wenig litt. Dennoch
gehörte er unbestritten zu den vornehmsten und schicksten Jungen in
der Schule des Nikias. Was ihm all diesen Glanz vergällte, das war,
ohne daß er es sich recht eingestand, das Judentum seines Vaters.
Sein Vater war römischer Ritter, ein großer Schriftsteller und ein
Freund des Kaisers, er liebte ihn und war stolz auf ihn: aber er
war ein Jude. Was das eigentlich war, konnte einem keiner recht
sagen. Es mußte etwas Gutes sein, denn sonst wäre sein Vater kein
Jude, aber es mußte gleichzeitig etwas sehr Übles sein, sonst würde
seine Mutter es zulassen, daß auch er Jude wurde und damit ein
junger adliger Römer. Wenn er darüber Fragen stellte, vertröstete
man ihn, man werde ihm das alles erklären, wenn er älter sei; aber
er gäbe sein Ziegengespann darum, wenn er aus seiner verzwickten
Lage heraus wäre.
Oft, wenn er mit dem Vater
zusammen war, betrachtete er ihn scheu, bemüht, näher an ihn
heranzukommen. Beschaute seine Hände, die nackte Haut seiner Beine,
das alles war fremd und war doch sein Vater, er streichelte wohl
auch neugierig und zärtlich diese Haut; sein Vater bemerkte es kaum
oder entzog sich ihm bald, ein wenig verwundert. Am meisten an
seinem Vater hatte den Jungen der Bart beschäftigt, dieser
kunstvoll geknüpfte, scharf dreieckige, schwarze Bart. Als kleines
Kind hatte er oft versucht, damit zu spielen, daran herumzudröseln.
Später sagte man ihn, daß nur östliche Menschen solche Bärte
trügen. Als in allerletzter Zeit der Bart verschwand, war ihm das
nackte Gesicht seines Vaters noch fremdartiger vorgekommen als das
bärtige, und manchmal sehnte er sich nach dem strengen, kunstvollen
Bart.
Es kam vor, daß der Vater ihm
Geschichten aus der jüdischen Legende erzählte, oder er beschrieb
ihm die Pracht des Tempels. Aber so gut Josef solche Dinge in
seinen Büchern gestaltete, seinem Jungen konnte er sie nicht
mundgerecht machen. Die Geschichten der griechischen Welt, die
Phineas ihm beibrachte, waren schöner, feiner. Auch war das
Griechisch des Vaters fehlerhaft, voll von Akzenten und Betonungen,
die Phineas ihm selber streng verbot. Paulus hörte höflich zu, aber
er war froh, wenn der Vater zu Ende war.
Einmal fragte er den Onkel Annius
geradezu, wie es denn um die Juden stehe, und ob sie Barbaren
seien. Einen kleinen Moment schien Onkel Annius betreten, dann aber
sagte er dem Jungen auf seine laute, herzhaft offene Art Bescheid.
Im Krieg haben sich die Juden als tapfere Soldaten erwiesen, keine
Frage. Daß sie, wie allgemein behauptet werde, in ihrem Tempel
einen Esel verehrt oder Griechenknaben geschlachtet hätten, halte
er für unwahrscheinlich. Im übrigen steckten sie voll von
Aberglauben. Dieser Aberglaube verleite sie zum Beispiel dazu,
jeden siebenten Tag, also den siebenten Teil ihres Lebens, zu
verfaulenzen. Dabei sei das nicht einfacher Müßiggang. Er habe
selber erlebt, wie sich welche an diesem siebenten Tag aus ihrem
Aberglauben heraus wehrlos hinschlachten ließen. Man müsse sich mit
ihnen abfinden, wie sie nun einmal seien. Ein richtiger Römer könne
mit jedem Lebewesen der bewohnten Welt fertig werden. Barbaren? Ja,
in einem gewissen Sinn wohl, aber sie gehörten zu der feineren, der
höheren Spezies. Mit den Deutschen etwa oder den Briten dürfe man
sie nicht auf eine Stufe steilen.
Über dieses Gespräch dachte
Paulus oft und lange nach, am liebsten, wenn er in seinem
Ziegenstall mit der Zurichtung des Futters beschäftigt war. Die
Beschaffung und richtige Mischung des Futters für die Ziegen war
keine leichte Arbeit. Sie waren wählerisch, vor allem Paniscus, der
schöne, kastrierte Bock, auf den er stolz war. Sie brauchten
trockene, gute Kräuter, ihre sorgfältig abgemessenen kleinen
Portionen Salz und sehr viel frisches Grün, das in der Stadt nicht
immer leicht zu beschaffen war. Paulus schnitt und mischte, die
Ziegen drängten sich an ihn heran, rupften, kauten geräuschvoll,
und er dachte. Da, einmal, kam ihm die Erleuchtung. Wenn die Juden
Barbaren waren und wenn sein Vater ein Jude war, dann war es eben
ein Gutes, ein Barbar zu sein, und dann war er stolz darauf, von
einem Barbaren zu stammen. Er war mit seiner Arbeit fertig, aber er
verließ den Stall nicht. Er kauerte in seiner Ecke. Das Geräusch
der fressenden Ziegen war um ihn, und er dachte weiter an seinem
Gedanken. »Ja, so ist es, mein Paniscus«, sagte er befriedigt und
kraulte das eifrig kauende Tier hinter dem spitzen, kleinen
Ohr.
Josef sagte sich natürlich, daß
sein Junge über seine eigene Zugehörigkeit zu den Juden allerlei
Ärgerliches zu hören bekomme, aber wie sehr das an ihm zehrte,
davon wußte er nichts, und Paulus sagte ihm nichts. Selbst in
diesen Tagen, da Dorions Worte hart in ihm nachklangen, ahnte er
nichts von dem Hin und Her im Herzen seines Sohnes.
Einmal in dieser Zeit traf er
Paulus unvermutet auf dem Marsfeld. Der Junge kutschierte sein
Ziegengespann. Josef freute sich der Gelegenheit. Er selber war in
seiner Sänfte, er schlug Paulus einen Wettlauf vor, wer eher zu
Hause sei, der mit seinen Ziegen oder er mit seinen geübten
kappadokischen Sänftenträgern, und er war fast ebenso stolz wie
Paulus, als dieser einen kleinen Vorsprung hatte.
Er forderte seinen Sohn auf, mit
in sein Arbeitszimmer zu kommen. Das tat er selten, und es war eine
große Ehrung für den Jungen. Vater und Sohn schwatzten. In guter
Haltung saß der anmutige, kräftige Knabe seinem Vater gegenüber,
beglänzt von einem Streif der starken, schräg einfallenden
Sommernachmittagssonne. Wieder verglich Josef im Geiste den Sohn
der Mara mit dem Sohn der Dorion, und sein jüdischer Sohn erschien
ihm plump.
Er fragte und erfuhr, daß Paulus
jetzt die Odyssee las, in der Schule sowohl wie mit Phineas, und
zwar den fünfzehnten Gesang. Josef selber hatte in Rom mit heißem
Bemühen seinen Homer studiert. Gutmütig jetzt, ungewohnt täppisch
und gleichzeitig stolz zitierte er Paulus ein paar Verse. Der Junge
hörte höflich zu. Ungefüg kamen die edlen griechischen Laute aus
dem Munde des Vaters. Sie waren Barbaren, die Juden, sie verhunzten
das Griechische durch ihren Akzent; gewiß, wenn sein Vater ein
Barbar war, dann durfte man stolz darauf sein, zu den Barbaren zu
gehören, aber Paulus konnte trotzdem, als sein Vater zu Ende war,
der Versuchung nicht widerstehen, seinesteils ein paar Verse zu
zitieren in der einwandfreien Aussprache und in dem elegant
modischen Tonfall, halb Prosa, halb Gesang, wie er ihn von Phineas
erlernt hatte. Josef, keineswegs gekränkt, hörte erfreut, wie
wohllautend die schönen Zeilen aus dem Munde seines Jungen kamen.
Sein Griechisch kann er, dieser Phineas. Wie stolz war er selber
auf sein Griechisch gewesen, damals, als er an dem MakkabäerBuch
schrieb. Jetzt weiß er, wie erbärmlich es war. Phineas müßte den
Kosmopolitischen Psalm übersetzen. Schade, daß er so tückisch
ist.
Der Junge sprach seine Verse
weiter: »Siehe, so mußte auch ich das Land meiner Väter verlassen,
und so ward ich ein Fremder und Flüchtling unter den Menschen.«
Paulus war zu Ende, die Verse standen noch im Raum, Josef hatte nur
ihren Klang gehört, jetzt überdachte er ihren Sinn, und sie
schmeckten ihm bitter.
»Mein griechischer Akzent ist
nicht gut«, sagte er plötzlich, scheinbar ohne Zusammenhang, es
klang wie eine Bitte und eine Entschuldigung. Er fragte sich,
welchen Homer-Kommentar Phineas wohl benütze; es gab vier oder fünf
sehr gute Kommentare, einer davon war voll von antisemitischen
Ausfällen, es war der des Apion. Wenn er den des Apion benützt,
dachte Josef, dann schmeiße ich ihn hinaus. Aber er wagte nicht,
seinen Sohn zu fragen.
Der, mittlerweile, mechanisch,
formte in der Verborgenheit seines weiten Ärmels an dem Kitt, den
er dort mit sich trug. »Was kramst du da?« fragte Josef. Der Junge
hatte sich soeben im Stolz seines herrlichen Griechisch dem Vater
überlegen gefühlt, jetzt errötete er tief. Josef lachte gutmütig,
er lachte selten. In seinem Innern aber dachte er: Alles bringen
sie ihm bei, wovon sie wissen, daß es mir verboten und verhaßt ist.
Wenn er den Kommentar des Apion benützt, schmeiß ich ihn
hinaus.
Wenige Tage darauf ging er in das Zimmer des
Paulus zur Zeit, da Phineas ihn unterrichtete. Er setzte sich still
hin und hörte zu. Phineas ging gründlich vor, zergliederte die
Verse, ging keiner Schwierigkeit aus dem Weg und machte doch
gleichzeitig alles dem Kinde schmackhaft und verständlich. Josef
war interessiert; Homer war den Griechen, was den Juden die Bibel
war. Homer, das waren lauter hübsch gefärbte Lügen und Phantasien,
aber man konnte viel Scharfsinn daran knüpfen, diese Phantasien zu
kommentieren. Es war eine andere Methode, aber sie war eine gute
Schulung. Es wäre amüsant, den Homer einmal kritisch zu beklopfen
mit den Auslegungsmethoden, die man auf den jüdischen Hochschulen
zur Kommentierung der Bibel anwandte. So hätte er dem Paulus den Homer beizubringen versucht.
Schade, daß das nicht ging.
Josef kramte in den Manuskripten,
die auf dem Tisch lagen, lächelnd, mit dem Interesse eines
Erwachsenen für eine kindliche Spielerei. Plötzlich, mitten in der
nachlässigen Lektüre eines aufgeschlagenen Buches – es war einer
jener modischen Papyrusbände zum Umblättern, wie sie Josef nicht
leiden konnte, nicht eine der alten, soliden Pergamentrollen –
setzten ihm Herz und Gedanken aus. War das nicht ...? Er blätterte
nach vorn. Ja, das war der Kommentar des Apion.
Ruhig bleiben, sagte sich Josef.
Nicht durchgehen, vor dem Jungen keinen Zorn zeigen. Ich muß ihn
hinausschmeißen. Nachdem er dies wagt, kann ich ihn nicht mehr
schonen; es wäre Irrsinn. Aber gespannt bin ich, ob er sich
erfrecht, das Buch dieses Hundes in meiner Gegenwart dem Jungen
vorzusetzen. Josef konnte den Worten des Phineas nur noch mit Mühe
folgen, seine heftigen Augen waren verschleiert vor Wut, er atmete
mühsam. Aber er war gewiß, bis jetzt hatte Phineas den Apion noch
nicht zitiert. Er sprach nichts, hörte zu, wartete.
Der kluge Phineas hatte längst
gemerkt, worum es ging. Seit seiner letzten Arbeit mit Josef
rechnete er damit, daß der ihm einmal, bald, Dienst und Brot
aufsagen werde. Es kümmerte ihn wenig; er war bedürfnislos, und das
Gesetz zwang Josef, seinem Freigelassenen das Existenzminimum zu
geben. Leid freilich wäre es dem Phineas, wenn man ihn des
Einflusses auf den Knaben beraubte, den er liebgewonnen hat. Aber
er denkt nicht daran, aus solchen Gründen sein Griechentum und
seine griechische Wahrheit zu verleugnen.
Gleichmütig also, es mochte eine
kleine halbe Stunde sein, seitdem Josef im Zimmer war, sagte er:
»Apion meint dazu«, und er greift nach dem Buch und beginnt daraus
zu zitieren. Josef unterbricht ihn. »Wollen Sie wirklich dem Jungen
diesen Kommentar beibringen?« fragt er. »Meinem Jungen?« Seine
Stimme ist heiser, er preßt sie, um nicht heftig zu werden, er
spricht leise, aber eine Welt von Empörung liegt in diesem
»meinen«. »Finden Sie den Homer-Kommentar des Apion nicht gut?«
fragte gelassen Phineas zurück, während Paulus neugierig, erstaunt,
von einem zum andern schaut. »Aber darüber brauche ich mit dem
Schriftsteller Flavius Josephus nicht zu diskutieren«, fährt er
verbindlich fort. »Wissen Sie einen zweiten, der so gute Worte
gefunden hätte zum Lob des Schriftstellers wie dieser Apion? Ist
Ihnen aufgefallen, daß der Senator Marull in der Lobrede vor Ihrer
Büste unversehens auf Worte des Apion zurückgriff? Ich glaube, es
gibt schwerlich ein besseres Mittel, unserem Paulus« – er betonte
ganz leise das »unserem« – »beizubringen, wie hoch und edel der
Beruf seines Vaters ist.«
Er hatte das Buch wieder auf den
Tisch gelegt. Josef, unwillkürlich, packte es; er pflegte sorgsam
mit Geschriebenem umzugehen, doch er konnte sich nicht zähmen, er
packte es so heftig, daß es beschädigt wurde. Aber immer noch
preßte er die Stimme und wurde nicht laut. »Und Sie geben
wirklich«, sagte er, »dem Jungen den schmutzigen Unsinn zu lesen,
den dieser Ägypter über das Volk seines Vaters auskübelt?« Während
er das sagte, dachte er: Jetzt ist es soweit, jetzt schmeiße ich
ihn hinaus. Aber ich muß es ruhig tun, ohne Heftigkeit. Dabei ist
es ein Jammer, daß er nicht den Kosmopolitischen Psalm übersetzt.
Ein guter Lehrer ist er auch. Schade, daß er so tückisch ist.
Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und ich bin
einer von ihnen. Aber das Ohr meines Jungen habe ich nicht. Er hat
es. Und er vergiftet meinen Jungen, er stiehlt ihn mir für immer,
er macht ihn mir schmutzig mit dem Dreck dieses aussätzigen,
ägyptischen Hundes. Und ich schmeiß ihn hinaus.
Der sehr große, blasse Kopf des
Phineas war noch blutloser geworden. Aber seine Stimme blieb
gelassen, elegant und kalt wie immer, als er erwiderte: »Ich weiß
nicht, ob ich die judenfeindlichen Sätze in dem Homer-Kommentar
überschlagen hätte, sie sind nicht wichtig. Aber das muß ich sagen:
ich hatte die Absicht, in zwei oder in drei Jahren mit unserem
Paulus die Schrift des Apion ›Gegen die Juden‹ zu lesen und auch
die ›Ägyptische Geschichte‹ des Priesters Manetho.« Dies waren die
erbittertsten judenfeindlichen Schriften, die die Epoche
kannte.
Ruhig bleiben, sagte sich Josef.
»Lest ihr in der Schule auch den Kommentar des Apion?« wandte er
sich an Paulus. Seine Stimme klang beherrscht. Trotzdem war ein
solcher Grimm in ihr, daß Paulus aufstand und sich – war es eine
Flucht oder ein Bekenntnis? – neben Phineas stellte. »Ja«,
antwortete, da er schwieg, für ihn Phineas, »auch in der Schule des
Nikias lesen sie den Kommentar des Apion. Mit Recht. Ich hielte es
für verfehlt«, fügte er hinzu, und seine grauen, klaren Augen
schauten furchtlos wie die eines Naturforschers das nackte, heftige
Gesicht des Josef auf und ab, »dem Jungen die Bücher des Manetho
und Apion vorzuenthalten. Was diese Autoren über die Juden sagen,
mag zu einem kleinen Teil richtig sein und zum größeren falsch –
ich zum Beispiel halte es natürlich für unsinnig, zu unterstellen,
daß Sie etwa jemals an der Schlachtung eines griechischen Knaben
teilgenommen hätten –, aber es ist eine von vielen angenommene
Meinung großer Männer, und man kann sie nicht einfach verschweigen.
Es ist nicht meine Absicht, unsern Paulus so zu erziehen, daß er,
wenn er einmal an das Studium des ›Jüdischen Kriegs‹ herankann, das
Werk ohne Kritik liest. Er wird seine Vorzüge vielleicht doppelt
schätzen, wenn er auch die Meinungen anderer kennt.«
Vor diesem kühlen, höflichen Hohn
zerbrach die mühsame Gelassenheit des Josef. »Sie haben mein
Vertrauen tückisch mißbraucht, Phineas«, sagte er, »Sie sind ein
Lump, Freigelassener Phineas«, und er legte das Buch des Apion
zurück auf den Tisch, auffallend behutsam. Auch seine Stimme blieb
leise, aber er konnte nicht verhindern, daß diese seine leise
Stimme voll war von einem unendlichen Haß und daß sein Gesicht sich
verzerrte. Was für einen Unsinn mache ich, dachte er. Wie kann ich
in Gegenwart des Jungen solchen Unsinn machen? Sie sind ein Lump,
habe ich gesagt. Es ist einfach verrückt, und hat nicht einmal
einer in meiner Gegenwart von mir gesagt, daß ich ein Lump bin? Und
schaut nicht Paulus zu? Ja, Paulus schaut mir ins Gesicht, Paulus
hört meine Stimme, Paulus hat gelernt, daß ein Mann sich
beherrschen muß und daß einer verächtlich ist, ein Barbar, wenn er
sich nicht beherrscht. Ich bin verächtlich für Paulus, ich bin ein
Barbar für Paulus. Jetzt habe ich selber eine Mauer zwischen mich
und Paulus gestellt, eine riesige. Ich bin ein Narr. Und Phineas
ist zwar ein Lump, aber der einzige, von dem Paulus seinen Homer
annimmt, und der einzige, der den Psalm übersetzen könnte. Und wie
stand er da im Friedenstempel, nach dem Vortrag des Dio, als er zu
den Senatoren sprach. Ich bin ein Narr. Ich hätte mich nicht auf
einen Streit mit ihm einlassen dürfen.
Der Knabe hatte sich dicht neben
seinen Lehrer gestellt; mit der einen Hand im Ärmel, nervös,
knetete er heftig an einem Stückchen Kitt herum, mit der andern
hatte er die des Phineas ergriffen. Mit hochgezogenen Augenbrauen
schaute er blaß auf seinen Vater, der so alle Herrschaft über sich
verloren hatte. »Sie waren mein Herr, Flavius Josephus«, sagte
Phineas, »ich bin Ihr Freigelassener, ich bin Ihnen Gehorsam und
Achtung schuldig nach dem Gesetz. Außerdem steht Zorn dem Manne
schlecht an, das versuchte ich von jeher unserm Paulus
beizubringen, und ich will nicht einer sein, der gegen seine
eigenen Lehren handelt. Was soll ich Ihnen erwidern, Flavius
Josephus? Ich glaube nicht, daß ich irgend jemandes Vertrauen
mißbraucht habe. Leider haben Sie selber niemals mit mir über
Paulus gesprochen, aber die Dame Dorion gab mir oft Gelegenheit,
mich mit ihr über meine Lehrmethoden zu unterhalten. Sie billigt
sie.«
Auf dieses letzte, höllische
Argument des Griechen wußte Josef nichts zu erwidern. Nein, er war
dem Phineas nicht gewachsen. Sein Bild stand im Friedenstempel in
korinthischem Erz, er hat ein Buch geschrieben, das Ost und West
priesen, aber er wurde seines Freigelassenen nicht Herr, er war
lächerlich und ein Narr in seinem eigenen Hause, es war ihm nicht
gegeben, den Sohn, den er liebte, aus den Irrlehren des Griechen zu
befreien. »Ich billige Ihre Lehrmethoden nicht, Phineas«, sagte er
schließlich, trocken, es war ein verhältnismäßig guter Rückzug,
seine Stimme verriet nichts von seinen bitteren, hilflosen
Gedanken. »Ich wünsche Ihre Dienste nicht länger, weder als
Erzieher meines Sohnes noch als Sekretär.« Er strich mehrmals
glättend über das Buch des Apion, lächelte Paulus zu, der blaß
dastand, sehr nah an seinem Lehrer, und ging.
Am andern Tag erschien eine Zofe der Dorion
und fragte förmlich im Auftrag ihrer Herrin, ob Josef die Dame
Dorion empfangen wolle. Josef erwiderte: »Ja, natürlich«, aber er
fühlte sich unbehaglich, unsicher.
Und dann, sogleich, kam Dorion,
kühl, höflich. Josef liebte es nicht, wenn sie die hauchdünnen
Kleider trug, die sie fürs Haus bevorzugte. Dennoch hätte er sie
heute lieber in einem solchen Kleid gesehen als in der
Besuchstracht, die sie angelegt hatte. Sie ging ohne Umschweife auf
ihre Sache los. Der Ausbruch des Josef, die Art, wie er sich vor
ihrem lieben Sohn habe gehenlassen, habe ihre Geduld ausgeschöpft.
Phineas sei der ideale Erzieher des Jungen, ein Erzieher, den
Paulus dringlich benötige. Sie wolle nicht länger mit einem Manne
zusammen leben, der ihren Sohn des Erziehers beraube. Sie wisse,
daß ein solches Argument dem Sittengericht nicht für die Scheidung
genüge, wohl aber, darüber hätten ihre Freunde sie unterrichtet,
sei die Tatsache, daß Josef seine frühere Konkubine mit ihrem Sohn
habe nach Rom kommen lassen, für dieses Gericht ein zureichender
Scheidungsgrund. Sie bitte ihn also, ihr binnen drei Tagen
mitzuteilen, ob er gütlich in die Scheidung willige oder ob er sie
zu einem Prozeß zwingen wolle.
Josef war hilflos erbittert. Er
wußte, Dorions Ansinnen war nicht ernst gemeint, sie wollte ihn
durch die Drohung mit der Scheidung lediglich nötigen, den Phineas
zurückzurufen. Aber niemals bisher hatte sie so grobe Mittel
angewandt. Überdies hatte sie ihren Freunden von der Sache erzählt,
ihn durch die leidige Geschichte vor diesen Burschen bloßgestellt,
vor dem unausstehlichen Annius, dem läppischen, senilen Valer, vor
der ganzen widerwärtigen Clique. Dabei hatte sie doch selber ihn in
die Sache mit Phineas hineingehetzt. Hat nicht sie ihn höhnisch
aufgefordert, sich Paulus zurückzuholen? Finster jetzt, ohne sie zu
unterbrechen, hörte er sie an, und als sie zu Ende war, nach einem
kleinen Schweigen, sagte er trocken: »Schön, ich werde es mir
überlegen.«
Noch ehe es Nacht war, bereute
er. Überlegen. Unsinn. Er dachte doch nicht daran, sie aufzugeben.
Was? Soll er sich von Dorion und Paulus trennen, weil ein Phineas
den Apion und Manetho für gute Schriftsteller hält? Das war ihm
doch längst bekannt. Und daß Phineas dem Paulus nicht die Bibel und
die Propheten beibringt, sondern den Homer und den Apion, das hatte
er sich doch auch von jeher an den Fingern abzählen können. Er wird
zu bequem, er läßt sich immer mehr von seinem Trieb leiten statt
von seiner Vernunft. Er muß kältere Bäder nehmen, dann wird er sich
nicht mehr so leicht hinreißen lassen. Er hat sich unwürdig
benommen. Sein in den Prinzipien der Stoa, der Selbstbeherrschung,
erzogener Sohn wird ihm das nicht so leicht vergessen.
Er muß die ganze Geschichte
einrenken.
Ohne sich lange zu besinnen, ohne
sich melden zu lassen, geht er hinüber zu Dorion, klinkt die Tür
auf. Er findet sie auf dem Ruhebett, ungeschminkt, aufgelöst in Wut
und Tränen. Ihre Augen haben nichts mehr von ihrer hellen Wildheit,
es sind trübe, schmollende Kinderaugen. Er setzt sich zu ihr, faßt
sie um die Schulter, redet ihr gut zu.
Zwischen zwei Umarmungen treffen
sie ein Abkommen. Es wird alles beim alten bleiben. Er nimmt die
Verabschiedung des Phineas zurück. Sie redet nicht mehr von der
Austreibung der Mara und sagt dem Phineas, er möge ihren Sohn mit
der Lektüre des Apion und Manetho verschonen.
Die Prinzessin Berenike hatte in der kleinen
Badehalle ihres Palais in Athen geschwommen, jetzt ließ sie sich
von ihrem Masseur unter Aufsicht des Leibarztes salben und kneten.
Wenn sie den Kopf zurücklegte, dann war die Haut ihres Halses glatt
und edel; richtete sie aber den Kopf hoch, dann sah man trotz aller
Schönheitspflege Fältchen.
Während Leibarzt, Masseur und
Kammerfrau sich um sie beschäftigten, schwatzte sie mit ihrem
Bruder, dem jüdischen Titularkönig Agrippa. Es war von frühester
Jugend an zwischen den Geschwistern große Vertrautheit gewesen, vor
ihm gab sie sich rückhaltlos, sie schämte sich nicht ihrer
Nacktheit, sie befragte ihn sachlich, ob sie nicht schlaff und
ältlich aussehe. Grünlich wässeriges Licht füllte das kellerartige
Gewölbe des Schwimmbads und der Turnhalle, es war angenehm kühl.
»Man sollte das Schwimmbad vergrößern lassen«, meinte Berenike,
aber es klang zerstreut. »Warum nicht«, erwiderte ebenso zerstreut
Agrippa. Die Geschwister, die reichsten Fürsten des Ostens, waren
in der ganzen Welt um ihrer Bauleidenschaft willen bekannt; allein
heute stand weder ihr noch ihm der Sinn nach baulichen
Projekten.
»Fester, knete mich fester«,
forderte Berenike den makedonischen Masseur auf, der jetzt an ihrem
Fuß arbeitete. »Nicht zu fest, Hoheit«, mahnte der Arzt. »Sie
machen es dadurch nur schlechter und haben die Schmerzen.«
Berenikes Gesicht war wirklich leicht verzerrt. Aber alle hier im
Raum wußten, daß sie zehnmal mehr Schmerz auf sich genommen hätte,
wenn das die Heilung ihres Fußes auch nur um ein Winziges
beschleunigte.
»Hat man wirklich nichts
gemerkt?« erkundigte sie sich ängstlich, schon zum drittenmal, bei
ihrem Bruder. »Ich würde es dir doch sagen, Nikion«, begütigte sie
Agrippa. »Habe ich es dir irgendwann unterschlagen? Bestätigen Sie
es ihr, Doktor«, wandte er sich an den Arzt. »Sind wir nicht
übereingekommen, Nikion unter keinen Umständen etwas vorzumachen?
Sie soll alles genau wissen, jedes Detail.« – »Sie haben mir heute
morgen so wenig Ursache gegeben, Hoheit«, erklärte der Arzt, »mich
um Sie zu kümmern, daß ich wirklich Muße hatte, die Gesichter zu
studieren, die auf der Tribüne und die auf der Straße. Es ist
niemand auch nur auf die Vermutung gekommen, es könnte mit Ihrem
Fuß etwas nicht in Ordnung sein.« – »Wenn ich lange Kleider
anhabe«, überlegte Berenike, »wird es jetzt wahrscheinlich wirklich
selten erkennbar. Aber wie ist es, wenn man den Fuß sieht?« – »Ich
habe herumgehorcht«, mischte sich die Kammerfrau ein. »In
Griechenland so gut wie in Syrien und in Ägypten glaubt jedermann,
daß die Prinzessin nur wegen ihres Haares und des Gelübdes zögert,
nach Rom zu gehen.«
Berenike war tapfer, gewohnt,
ihre Angelegenheiten mit sich allein auszumachen. Aber es drängte
sie, sich immer von neuem bestätigen zu lassen, daß ihr Fuß völlig
verheilen werde. Sie verlangte nach immer neuen Beruhigungen. Heute
morgen hatte man ihr hier in der Stadt Athen einen Ehrenbogen
errichtet, die Zeremonie, von der sie zurückkam, war lang und
ermüdend gewesen, der Gouverneur der Provinz hatte gesprochen, der
Bürgermeister von Athen, der Präsident der Akademie, sie selber
hatte erwidert, und während dieser ganzen Zeit hatte sie stehen
müssen. Sie fühlte sich müde, aber sie hatte das Gefühl, sie habe
gut durchgehalten. »Fester, knete mich fester«, forderte sie
nochmals. Trotz allem, was der Arzt sagte, glaubte sie, durch noch
energischeres Training, durch noch mehr Schmerz könne sie eine
raschere Genesung erzwingen.
Sie hat die Stadt wahrhaftig
königlich beschenkt, hat ihr eine große Wandelhalle gestiftet, ein
glanzvolles Bade-Etablissement. Heute abend wird der Bürgermeister
ein zweites Mal bei ihr vorsprechen. Sie weiß, warum. Griechenland
rühmt ihre leidenschaftliche Neigung für griechische Kultur. Sie
ist die einzige Frau, der die Stadt einen Ehrenbogen errichtet hat.
Jetzt, hofft man, wird sie bei Titus der Stadt und der Provinz die
Rechte und Privilegien neu erwirken, die Kaiser Nero erteilt und
Vespasian annulliert hat. Berenike ist geneigt, sich für diese
Wünsche einzusetzen, sie freut sich, daß man mit solcher Sicherheit
in ihr die künftige Kaiserin sieht; aber nicht ohne Sorge denkt sie
daran, daß sie sich bei der Audienz heute abend ein zweites Mal
wird zusammenraffen und repräsentieren müssen. Sie kann zwar die
Reden der Herren sitzend anhören, aber dann, wenn sie erwidert, muß
sie aufstehen und eine geraume Zeit stehen bleiben. Disziplin.
Damals, unmittelbar bevor Titus nach Jerusalem aufbrach, bei dem
großen Abschiedsbankett in Alexandrien, hatte Titus von römischer
Disziplin gesprochen; es waren Worte, die ihm tief aus dem Innern
kamen, und sie hat ihn sehr geliebt für diese Worte. Nun hat sie
Gelegenheit, Disziplin zu zeigen. Bis jetzt, glaubt sie, hat sie
sich nicht schlecht gehalten.
Drei Wochen noch, das ist das
Äußerste, länger kann sie die Reise nach Rom nicht hinauszögern.
»Werden wir es schaffen, Strato«, wendet sie sich an den Arzt, zum
fünfzigstenmal, »in drei Wochen?« Und »Ja, Hoheit«, erklärt zum
fünfzigstenmal der Arzt. »Sie werden es schaffen, auch mit der
Hälfte Ihrer Energie.«
Man ist zu Ende mit der Massage.
Der Arzt Strato mit Hilfe der Kammerfrau umwickelt das
geschwollene, verdickte, zerbrochene Bein mit Kräutern und
Verbänden, dann läßt er Berenike und ihren Bruder allein. Sie liegt
auf dem Ruhebett in dem grünlichen, von Wasserdunst erfüllten Raum,
sie liegt nackt, sie bewegt den kranken Fuß mechanisch auf und ab,
sie hat sich gewöhnt, zu trainieren, immerzu, allen Abmahnungen zum
Trotz.
Aber nun, nach der ungeheuren
Anspannung, die die Zeremonie von ihr verlangte, und vor der neuen
Anspannung, die die Audienz von ihr verlangen wird, überkommt sie
trotz allem eine große Schlaffheit. Vor ihrem Bruder darf sie sich
gehenlassen, sich ausschütten, klagen. Kraftlos liegt sie, schließt
die Augen, violett verfälteln sich unter den dünn rasierten Brauen
die Lider. Sie sieht ihren Bruder nicht, aber sie spürt, wie er auf
sie schaut, still, eins mit ihr, der Mensch, der sie am meisten auf
der Erde liebt. Und ganz leise, im Aramäisch ihrer frühen Jahre,
spricht sie zu ihm, zusammenhanglos, aber sie weiß, er kennt die
Zusammenhänge, sie muß es heraussagen, das endlos oft Gedachte, sie
muß jammern, klagen, Gott und die Welt anklagen, wie sinnlos man
mit ihr umgesprungen ist. »O Agrippa, o mein Bruder«, jammert sie,
»warum mußte der Gouverneur diese Jagd für mich veranstalten? Wenn
einer mein Freund ist, dann doch dieser Tiber Alexander. Und warum
mußte er mir dieses verdammte Pferd Saxo geben? Warum mußte mir
dieser läppische Unfall zustoßen? Sag es mir, mein Bruder, erklär
es mir. Ich werde verrückt darüber. Als der Alte starb, da war ich
so sicher, ich werde die zweite Esther sein. Du selber hast mich
nicht mehr Nikion genannt, sondern immer nur Esther. Jetzt hast du
mich lange nicht mehr Esther genannt.
Ja, ich weiß schon, es war Glück
im Unglück, und alle haben getan, was sie vermochten. Es war ein
Glück, daß ich auf der Jagd den Schmerz verbeißen konnte. Es ist
ein Glück, daß nur neun Leute um den Unfall wissen und daß sie
zuverlässig sind, alle neun. Tiber Alexander wird nichts verraten,
es ist nicht in seinem Interesse, und die andern sind von uns
abhängig, ich weiß es, und du hast ihnen klargemacht, daß sie
Freiheit haben werden und Reichtum, wenn sie bis zum Ende
mitspielen, und daß sie dir nicht entgehen können und erledigt
werden, wenn sie das nicht tun. Auch die Idee mit dem Gelübde war
eine gesegnete Idee von dir. Du bist mein kluger Bruder, und du
kennst die Welt. Ja, ja, es wird gut hinausgehen, es muß gut
hinausgehen, sag es mir noch einmal, sag es mir oft.
Aber wenn du es mir noch so oft
sagst und wenn ich selber es mir sage, der Wurm bleibt doch und
bohrt in mir. Es wird nicht gut hinausgehen. Es ist eine Strafe,
und man kann sich ihr nicht entziehen. Wir wollten Griechen sein,
und wir wollten Juden sein, und das geht nicht. Jahve erlaubt es
nicht. Wir wollten zuviel, wir waren zu hochmütig. Es ist eine
einzige Sünde, die die griechischen Götter genauso strafen wie
Jahve, das ist der Hochmut, die Hybris, und wir haben sie begangen,
und das ist die Strafe.
Ja, Titus hat mich geliebt, und
er liebt mich noch. Aber selbst wenn es mir glückt, selbst wenn ich
jede äußere Spur verwischen kann und nicht hinke, wird nicht jenes
Unaussprechliche weg sein, um dessentwillen sie meinen Gang
rühmten? Ja, sag es mir noch einmal, sag es mir hundertmal, es ist
nicht wegen meines Ganges, daß Titus mich liebt. Aber, frag dich
selbst, ist es nicht immer eine läppische Kleinigkeit, die einen
Mann anzieht, und wenn sie nicht mehr da ist, selbst wenn er es
nicht merkt, ist dann nicht der ganze Zauber fort? O Agrippa, o
mein Bruder, es ist vergebens. Alles, was wir tun, und wenn du es
noch so klug ausgesonnen hast, ist vergeblich. Es ist unser
Hochmut, und es ist die Strafe.«
Drei Stunden später aber, als sie
Bürgermeister und Magistrat der Stadt Athen empfing, war sie
strahlend und königlich wie je. Und die Stadt Athen freute sich,
daß die künftige Kaiserin ihren Delegierten soviel Huld
erwies.
Der Prinz Domitian zeigte seinem Freund
Marull den Fortgang der Bauten, die er auf der Domäne von Albanum
aufführte. Die Villa mit ihren zahlreichen Nebengebäuden, das
Theater, die in den See vorgeschobenen Pavillons. Die Architekten
Grovius und Rabirius führten, großes Gefolge war da, der Intendant
des Prinzen, der Obergärtner, dazu Silen, ein dicker, behaarter
Zwerg, den der Prinz um seines grotesken, erschreckenden Aussehens
willen für teures Geld gekauft hatte und der mit hoher Fistelstimme
bösartige Witze vorbrachte.
Seitdem Bübchen die Erfahrung
gemacht hatte, daß er von Titus Geld in jeder Menge haben konnte,
setzte er seiner verschwenderischen Laune keine Grenzen mehr. Was
er baute, sollte den Staatsbauten seines Bruders nicht nachstehen.
Hier die Villa gar war für Lucia bestimmt, und was war kostbar
genug, für Lucia den rechten Rahmen zu bilden? Der Spleen des
Prinzen trieb seine Architekten und Ingenieure dazu an, immer neue
Überraschungen zu ersinnen, barocke Maschinen, um nach Belieben die
Wände eines Saales zurückweichen, die Decke verschwinden zu lassen,
auf daß alles ringsum sich jeder wechselnden Laune Lucias anpasse.
In den Wüsten Afrikas, in den Steppen und Dschungeln Asiens jagte
man, um seine Gärten, Lucias Gärten, mit merkwürdigem,
schauerlichem und groteskem Getier anzufüllen.
Es war heiß, der Rundgang war
ermüdend. Marull war froh, als man zu Ende war und in einem
kleinen, dämmerigen Saal Eisgetränke serviert bekam. Domitian bat
seinen Freund um ein ehrliches Urteil. Der hielt auch nicht zurück
und wog Lob und Tadel gemessen ab. Er hatte Verständnis für den
finstern, großartigen Humor des Prinzen, so plump sich dessen
Launen manchmal auswirkten. Er hatte sich ursprünglich aus äußeren
Gründen dem Domitian genähert: er wollte, nachdem Vespasian ihn aus
dem Senat ausgestoßen hatte, sich an dem Kaiser dadurch rächen, daß
er sich seinem unlieben Sohn befreundete. Allmählich aber, so
scharf Marull alle Mängel des Prinzen sah, war aus dieser äußeren
Verknüpfung beinahe etwas wie wahre Freundschaft
geworden.
Als Bübchen ihm seine neuen
Bauten mit soviel Beflissenheit vorführte, hatte Marull gleich
geahnt, daß der Prinz mehr von ihm wollte als bloße Begutachtung.
Bald zeigte sich, daß seine Vermutung richtig war. Domitian
brauchte seine Hilfe zur Ausführung einer originellen Idee. Er
wollte nämlich zur Eröffnung des zur Villa gehörigen Theaters eine
Posse spielen, in der die Eroberung einer östlichen, barbarischen
Provinz durch die Makedonier gezeigt werden sollte. »Und?« fragte
aufmerksam Marull, den Prinzen aus seinen scharfen, hellblauen
Augen durch den blickschärfenden Smaragd musternd. Domitians
Gesicht rötete sich leicht, die aufgeworfene Oberlippe dehnte sich
zu einem bösartigen Lächeln. »Es soll natürlich«, sagte er, »kein
verstaubtes, historisches Theater sein, sondern die aktuellen
Beziehungen sollen, auch ohne starke Unterstreichung, sofort
jedermann deutlich werden. Wenn Sie mir zum Beispiel, lieber
Marull, Ihren Adjutanten Johann von Gischala für die Aufführung
ausborgen wollten, dann würde mein Brüderchen ohne weiteres merken,
worum es geht.«
Marull klopfte nachdenklich mit
seinem eleganten Bettelstab den Boden. Er hatte alles durchkostet,
was der verwöhnteste Mann der Epoche ausschmecken kann, er war
ausgekältet. Sensationen mußten, wenn sie ihm Spaß machen sollten,
sehr abgelegen sein. Vielleicht war der einzige Mensch, an dem ihm
wirklich lag, eben jener Johann von Gischala, sein Leibeigener.
Dieser Johann war im judäischen Krieg Feldherr gewesen, neben dem
Kommandanten Simon Bar Giora die bedeutendste jüdische Figur des
Krieges; er hatte die Bauern Galiläas in den Krieg getrieben, sie
angeführt. Den Simon Bar Giora hatte man ans Kreuz geschlagen, den
Johann von Gischala hatte er, Marull, um sehr viel Geld und mit
Aufbietung all seiner Beziehungen aus der Beute erworben. Er
verwendete ihn jetzt als ständigen Begleiter; Johann hatte,
gestützt auf sein ausgezeichnetes Gedächtnis, ihm die Namen und
Eigenschaften der Begegnenden zuzuflüstern, deren sich Marull
selber nicht entsinnen konnte. Aber es war nicht um seines
Gedächtnisses willen, daß Marull an dem Manne hing. Er wollte, der
Stoiker, in ihm ein Symbol des Schicksals um sich haben, des
mächtigen, unentrinnbaren, mit höchster Einsicht begabten und
unverständlichen, ein Symbol menschlicher Größe und menschlichen
Sturzes, eine stete, ironische Mahnung.
Wie jetzt der Prinz ihn
aufforderte, ihm den Johann für seine Aufführung auszuborgen,
zögerte er. Er hatte, was ihm an menschlicher Wärme geblieben war,
an diesen Johann gehängt. Zuerst hatte er sich nur einen Spaß mit
Bedeutung machen wollen, er hatte erwartet, Johann werde nach
soviel hartem und großem Erleben finster und pathetisch sein,
erfüllt von dunkler Menschenverachtung. Aber nichts dergleichen.
Johann legte trotz seines ausgezeichneten Gedächtnisses eine
merkwürdige Fähigkeit an den Tag, seine eigene Vergangenheit
restlos zu verdauen. Er hatte alle seine Intensität in den
jüdischen Feldzug gesteckt, hatte Zehntausende in den Tod
geschickt, sein eigenes Leben unzählige Male aufs Spiel gesetzt,
hatte Schicksal ausgeteilt und Schicksal erlitten. War neben Simon
Bar Giora im Triumphzug aufgeführt, gegeißelt, in die Gewalt des
Marull überstellt worden. Damit war für ihn der jüdische Feldzug
aus, sein Pathos vorbei. Das Unternehmen war mißglückt, er hatte
seine Folgen auf sich genommen, hatte es liquidiert. Die
Geschehnisse waren abgetan, Schluß damit, es beginnt eine neue
Existenz.
Nur diesen einfachen, dürren
Bestand, nichts anderes, Interessanteres konnte Marull aus Johann
herausholen, wenn er ihn auf noch so kluge und behutsame Art
auszuforschen suchte. Zuerst hatte Marull geglaubt, der Mann wolle
ihn auf irgendeine verschmitzte Art hereinlegen. Aber immer
deutlicher zeigte sich, daß die Haltung des Johann aufrichtig war.
So pathetisch den Römern die Motive des Krieges schienen, dieser
Hauptanstifter hatte ihn wirklich nicht aus pathetischen Gründen
angezettelt. Johann von Gischala war ein kleiner, galiläischer
Landedelmann gewesen. Er hing an seinem Gut, er hatte den starken
Erwerbsinn des Bauern, er wollte sein Öl mit gutem Gewinn
verkaufen, sein Terrain vergrößern und fand es unerträglich, daß
diese Römer übers Meer herkamen und sich in seine Geschäfte
mischten. Dagegen mußte etwas geschehen, dagegen mußte man
aufbegehren, dagegen mußte man, wenn es nötig war, Krieg anfangen.
Man hatte Krieg angefangen, Johann war gegen seinen Willen ins
Pathetische hineingerissen worden, hatte, wie er selber glaubte und
hunderttausend andere glauben machte, Krieg geführt für Jahve gegen
Jupiter. Nun war der Krieg mißglückt, und im Grunde war der
verstandesklare Mensch froh, seines Pathos wieder ledig zu sein. Er
hatte die Erfahrung gemacht, daß der Krieg nicht das rechte Mittel
war, die Dinge ins Gleis zu bringen. Folglich muß man eine andere
Methode suchen. Seine nächste Aufgabe jedenfalls war, wieder zu
Terrain und zu gut verkäuflichem Öl zu kommen.
Diese Haltung, dem Marull
vollkommen fremd, gefiel ihm gerade wegen dieser Fremdheit. Er
gewann den Mann auf seine Art lieb. Oft spielte er mit dem
Gedanken, ihn freizulassen, aber er fürchtete, der sehr gewandte
Johann werde dann Mittel finden, nach seinem Galiläa
zurückzukehren, und ihm für immer entschwinden. Johann war dem
Marull mehr geworden als eine snobistische Attrappe, er sah
geradezu einen Freund in ihm und wollte ihn ungern
verlieren.
Wie jetzt Domitian mit seinem
Ansinnen herausrückte, bewegte den Marull Zwiespältiges. Den
Feldherrn eines Krieges in einer Parodie auf diesen Krieg auftreten
zu lassen, das konnte an sich ein guter Spaß sein, aber der
Parodierte mußte der Sieger sein, nicht der Besiegte. Der jüdische
Krieg war in Wahrheit alles eher als ein Spaß gewesen, es war
wohlfeil, ihn zehn Jahre nach erfochtenem Sieg zu verulken. Marull
hatte nichts dawider, wenn einer den Menschen ihre Schwächen auf
bissige, kränkende Art vorhielt. Aber die Juden hatten sich tapfer
gehalten, man traf sie nicht, wenn man ihren Krieg lächerlich
machte. Seine jüdischen Freunde, Flavius Josephus, Demetrius Liban,
Johann von Gischala selber, mochten den Witz mit Recht als frostig
empfinden, das ganze Unternehmen als platt, einfältig.
Er machte also höfliche
Ausflüchte. Gewiß war die Idee des Prinzen ausgezeichnet, aber war
sie würdig der großen Gelegenheit? Roch sie nicht ein bißchen nach
Atelierscherz?
Gerade das Zögern des Marull
reizte den Domitian. Er ersah daraus nur, daß sein Projekt sehr
verwegen war. Auch lockte es ihn, den Marull zu etwas zu zwingen,
was der nicht wollte. Selber oft gedemütigt, hatte er Freude daran,
andere zu demütigen. Marull war von ihm abhängig. Der Gegner des
Vespasian, sein Freund, war notwendig auch der Feind des Titus, und
somit war seine wichtigste Stütze er, Domitian. Der Prinz also,
verbindlich und bösartig, bestand auf seinem Willen. Sein Theater
in Albanum sollte Lucias würdig sein, sollte alle andern Theater
des Reichs schlagen. Wenn sein Projekt etwas vom Atelierscherz an
sich habe, wie sein guter und kritischer Freund Marull scharf, doch
vielleicht nicht mit Unrecht anzumerken beliebe, so schade das
nichts. Das Theater soll kein Haus für die große Masse werden. Ihm,
Domitian, liege daran, das Lachen der Lucia zu hören. Dazu brauche
er den Johann von Gischala.
Er ließ nicht locker. Es blieb
dem Marull nach einigem Hin und Her nichts übrig, als zuzustimmen.
Einen Vorbehalt freilich machte er. Johann von Gischala sei
hintergründig. Man könne einen Menschen zwingen, zu sterben, aber
nicht, eine Rolle zu spielen.
Auf dem Weg nach Rom ärgerte er sich, daß er
sich von Domitian das Versprechen hatte abringen lassen. Ist die
Demütigung der ohnmächtigen Juden, wie Bübchen sie plant, nicht
viel witzloser als etwa jener Ringkampf mit der Spartanerin,
dessenthalb Vespasian ihn aus dem Senat gestoßen hat? Diese Bauern,
die Flavier, sind in Wahrheit Parvenüs, Domitian nicht weniger als
der Alte. Dem Alten hat er widerstanden, er hat keine Furcht, aber
er spürt jetzt, daß der Junge gefährlicher ist. Er hätte sich nicht
so tief mit ihm einlassen sollen.
Doch nun ist es einmal soweit, er
kann nicht zurück. Angenehm wird die Unterredung mit Johann von
Gischala nicht werden.
Marull drückt denn auch lange
herum, bevor er zur Sache kommt. Er spricht auf die übliche,
mokante Art über Angelegenheiten des römischen Terrainmarkts. Die
Preise, infolge des großen Brandes, ziehen weiter an. Johann hat
für alles, was mit Fragen des Terrains zu tun hat, ungewöhnliches
Verständnis, er hat einen Riecher dafür, welche Gegend man im Rom
der Zukunft als Wohnviertel bevorzugen wird: den Norden nämlich.
Ruhig sitzt er da, streicht seinen Knebelbart und belegt diese
seine Meinung mit vielen guten Gründen. Aber er hat Witterung nicht
nur für die Terrainverhältnisse, sondern er merkt auch, daß dem
Marull heute andere Dinge am Herzen liegen. Er beschaut ihn aus
seinen kleinen, listigen Augen, ist auf der Hut.
Endlich bricht Marull das
Gespräch über die Terrains ab und setzt ihm in nüchternen Worten
auseinander, was der Prinz von ihm will. Er selber finde den Spaß
nicht sehr tief, schließt er, und er finde es eine starke Zumutung
des Prinzen an ihn, den Marull. Johann wisse nun aber, wie Bübchen
sei, und kenne seine eigene, des Marull, Lage. Es sei sehr wohl
denkbar, daß andere Freiheitsführer in der Situation des Johann es
vorzögen, sich oder den Prinzen umzubringen. Wobei wahrscheinlich
nur das erstere gelänge. Johann indes sei klug und frei von
unvernünftigem Pathos. Darum habe er ihm die Sache ohne Umschweife
mitgeteilt. »Wir kennen uns, mein Johann«, schloß er, »du weißt,
daß du mir mehr bist als ein guter Adjutant. Ob du ein guter
Schauspieler bist, daran zweifle ich. Ich halte es für einen blöden
Witz, dich dazu verwenden zu wollen. Ich brauche dir nicht zu
sagen, wie zuwider mir das Ganze ist.«
Johann hat, während Marull
spricht, alles, was er damals im Kriege erlebt hat, vor sich
gesehen, mit seinen listigen, unbestechlichen Bauernaugen. Die
Kämpfe in Galiläa. Die Scheußlichkeiten des belagerten Jerusalem,
dieser wüsten, stinkenden Kloake, die wenige Monate zuvor die
schönste Stadt der Welt gewesen war. Die üble Nebenbuhlerschaft mit
Simon Bar Giora. Wie sie sich herumgestritten hatten, er und Simon,
gleich Hähnen, die, mit den Füßen aneinandergebunden, zum
Abschlachten geführt werden und immer noch einer nach dem andern
krallen und mit dem Schnabel hauen. Jenes Abendmahl, da er die
letzten zum Opferdienst bestimmten Lämmer genommen und gegessen und
den Priester gezwungen hat, die Knochen abzunagen. Und jetzt also
soll er das alles und sich selber verulken, in einer Posse, den
Römern zum Spaß.
Aufmerksam schaut er dem Marull
auf den dünnen Mund, läßt ihn ganz zu Ende reden. Dann, ohne
Zögern, sagt er: »Schön, ich mache es. Aber ich stelle eine
Bedingung. Sie geben mir endlich die Freiheit, und Sie geben mir
hunderttausend Sesterzien für die Erwerbung von Terrains im Norden.
Die Rolle ist nicht leicht«, fügt er hinzu, und jetzt lächelt er
sogar. »Demetrius Liban hätte mindestens zweihunderttausend
verlangt.«
Denn als er sich die Bilder des
belagerten Jerusalem ins Gedächtnis zurückrief, hat er das nicht
etwa mit Erhebung getan oder mit Grimm, sondern mit Genugtuung. Ja,
Genugtuung füllte ihn an, immer steigende, darüber, daß er all
dieses Scheußliche nicht umsonst durchgemacht hat, daß es ihm
vielmehr jetzt das Mittel neuen Aufstiegs sein soll. Und noch
während Marull sprach, hat er schon anderes gesehen, sich selber
nämlich als Freigelassenen in einem Büro in Rom, wo er
Grundstücksgeschäfte tätigt und Geld verdient, um sich in Galiläa
neues Öl und neues Terrain zu erwerben. Denn als Bauer ist er
geboren, und sein Leben wäre gut, wenn er seinen Rest als Bauer
verbringen und als Bauer in Galiläa sterben könnte.
Marull war überrascht, wie Johann
so schnell zustimmte. Er hat ihn wahrhaftig unterschätzt, diesen
Johann. Er hat geglaubt, er sei nichts weiter als ein Nationalheld:
und nun erweist er sich als ein vernünftiger Mann. »Schön«, sagt
er, »einverstanden. Aber fünfzigtausend genügen auch für den
Anfang.«
Domitian, den Brief in der Hand, in dem ihm
Marull die Zustimmung Johanns mitteilte, lief zu Lucia. Sie war
dabei, Toilette zu machen. Friseur und Zofen bemühten sich, ihre
Haare in zahllosen Locken zu einem kunstvollen Turm aufzubauen.
Domitian war froh erregt. Das hübsche Gesicht gerötet, stellte er
sich groß vor der geliebten Frau auf, den einen Arm eckig nach
hinten, in der andern den Brief. Sein dicker, behaarter Zwerg Silen
war grotesk hinter ihm einhergewatschelt, er bemühte sich, den Arm
eckig hinter seinem Buckel zu halten, seinen Herrn nachahmend. Der
Prinz sprach schnell und wichtig, er achtete nicht darauf, daß
seine Stimme sich überschlug, auch die zahlreichen Leibeigenen
kümmerten ihn nicht, sie waren Hunde für ihn. Er dachte, die
lustige Lucia werde an seinem Plan so viel Spaß haben wie er
selber, er wartete auf ihr lautes, fröhliches Lachen. In seinem
Innern hoffte er, nachdem er sich ihr zu Gefallen so erfinderisch
angestrengt habe, werde sie ihn endlich einmal wieder die Narbe
unter ihrer linken Brust küssen lassen. »Und dieser Jude wird es
machen«, schloß er triumphierend. »Soeben schreibt mir Marull, daß
er es machen wird. Der Walfisch muß kommen zu der Einweihung. Er
kann nicht anders, ohne dich und mich auf den Tod zu kränken. Stell
dir sein Gesicht vor, wenn er das sehen wird.« Und er lachte sein
hohes, sich überschlagendes Lachen, in das die Fistelstimme des
Zwerges stürmisch meckernd einstimmte.
Lucia hatte sich ihm zugewandt.
Erst hatten Friseur und Zofen an ihrem Lockenturm weitergearbeitet,
aber sehr bald merkten sie, daß die harmlose Morgenvisite sich in
eine böse Auseinandersetzung zu verwandeln drohte, und zogen sich
ängstlich mit ihren Utensilien in die Ecke zurück. Lucia hatte ihr
heftiges Gesicht mit jähem Ruck dem Prinzen ganz zugewandt, so daß
das halb vollendete Gebäu ihrer Frisur einstürzte. Nein, ihr
mißfiel die Idee Bübchens aufs äußerste. »Bist du verrückt
geworden?« fuhr sie ihn schroff an. »Ich verstehe nicht, wie Marull
sich zu einer so plumpen, läppischen Sache hergeben kann.« Sie
dachte an den Juden Josef, und was sie bei diesem über Johann
gelesen hatte. Ihre großen, weit auseinanderstehenden Augen
schauten zornig, abschätzig auf ihren Gatten.
Domitian begriff nicht, was sie
an seinem Projekt mißbilligte. Für einen kleinen Moment kam ihm das
Zögern des Marull ins Gedächtnis. Der hatte von einem Atelierspaß
gesprochen. War das nur ein freundlicheres Wort gewesen für
»Geschmacklosigkeit« oder »Plumpheit«? Nein, seine Idee war gut,
Lucia war einfach schlechter Laune. Alle hatten sich wieder einmal
zusammengetan, um ihm die Freude zu verderben. Der Zwerg Silen war
nach vorn gekommen, das groteske Gesicht voll von blöder Hoffart,
den stolzen Zorn Lucias parodierend. Mit einem Fußtritt stieß ihn
der Prinz in die Ecke. Aber dann, sogleich wieder, fand er zu
seiner gewohnten Höflichkeit zurück. Stark gerötet, doch mit
verbindlichem, fast zustimmendem Lächeln sagte er: »Sie sind heute
ungnädig, Prinzessin. Vielleicht haben Sie nur halb hingehört auf
das, was ich Ihnen erzählte. Es scheint auch, daß Ihre Leibeigenen
ungeschickt mit Ihrer Frisur umgingen. Sie sollten sie vielleicht
strenger halten. Jetzt wollen wir von anderem sprechen, und Sie
erlauben, daß ich Ihnen meine Idee später einmal in Ruhe
auseinandersetze.« Aber Lucia, heftig und gerade, wie sie war, trug
keinen Anstand, ihn vor den Leibeigenen weiter zu demütigen. »Gib
dir keine Mühe, Bübchen«, sagte sie schroff. »Pökle dir deine
abgeschmackte Idee ein, bis du jemanden findest, dem sie gefällt.
Ich werde nicht nach Albanum kommen, wenn dort irgend etwas von dem
gespielt wird, was du da erwähnt hast.«
Domitian schwitzte. Er dachte
nicht daran, seinen Plan aufzugeben, aber er hielt es für klug,
Lucia zu nehmen, wie sie nun einmal war. Er setzte sich, er
schwatzte höflich und beflissen Belangloses. Rief sogar den Zwerg
aus seiner Ecke und wies ihn an, sich weiter zu betätigen. Lucia
aber blieb einsilbig und sagte ihm schließlich kurzerhand, sie sei
heute nicht in der Laune für ihn und wäre ihm verbunden, wenn er
sie und ihre Leute ihre Toilette in Ruhe beenden ließe. Domitian
nahm das wohl oder übel für einen Scherz und zog höflich und in
guter Haltung ab.
Lucia aber wußte, daß er nicht so
leicht von einer Sache abzubringen war, die er sich einmal in den
Kopf gesetzt hatte. Sie war gutmütig, und sie mochte ihr Bübchen
gerne leiden. Sie nahm sich vor, ihn auch gegen seinen Willen vor
der Blamage zu bewahren.
Schon wenige Tage später, am
vierten September, bei der Eröffnung der großen vierzehntägigen
Spiele im Theater des zweiten Bezirks, fand sie Gelegenheit, ihren
Vorsatz auszuführen. Sie war in der kaiserlichen Loge. Titus schien
frisch und besonders gut gelaunt. Er hatte nicht mehr den trüben,
verschwommenen Blick der früheren Wochen, vielmehr sah er sie an
mit Augen, die sahen, und wenn er sprach, dann war in seiner Stimme
jenes leise Schmettern seiner besten Zeit. Sie hatte des Domitian
Treibereien gegen Titus nie gebilligt; sie war lebenslustig,
glanzsüchtig, aber aus viel zu großer Familie, um ehrgeizig zu
sein. Auch spürte sie aus den Beziehungen des Titus zu Berenike die
echte Leidenschaft, und die Zähigkeit dieser Neigung imponierte
ihr. Es war das erstemal, daß sie ihren Schwager seit seiner
Veränderung traf, er gefiel ihr, es war wahrhaftig nichts mehr vom
Walfisch an ihm, und sie beschloß, das geschmacklose, tückische
Projekt des Domitian jetzt schon in der Wurzel zunichte zu
machen.
Es war, als ob Titus ihre
Gedanken erraten hätte. Denn in der Pause fragte er sie, wie es
denn nun mit ihrer Villa in Albanum voranginge und ob man bald mit
der Eröffnung ihres Theaters rechnen könne. Sie schaute aus ihren
großen, weit auseinanderstehenden Augen gerade in seine trüberen,
harten, engen und sagte, es liege nicht am Bau, wenn man das
Theater nicht so bald eröffne, vielmehr bestünden noch
Meinungsdifferenzen zwischen ihr und Bübchen, was man da eigentlich
spielen solle. Und sie erzählte unbekümmert Bübchens
Projekt.
Titus schaute sie aufmerksam an,
meinte, das sei interessant, dankte ihr, lächelte. Sie gefiel ihm,
sie war in Wahrheit die Tochter des Feldmarschalls Corbulo, der so
groß und froh zu leben und so groß und furchtlos zu sterben gewußt
hatte. Er wunderte sich, daß Bübchen sie hatte gewinnen können und
sie halten konnte, er beneidete ihn. Er beneidete sie um die
Selbstverständlichkeit ihrer Handlungen, um ihre Kraft, um ihr
strotzendes Römertum.
Auf der Bühne ging das Spiel
weiter. Titus schaute Lucia, seine Nachbarin, von der Seite an.
Diese und ihr Geschlecht sind nicht wie er und die Seinen durch
tausend Wenn und Aber gehemmt. Sie sind ihre eigenen Richter, die
Meinung der Welt ist ihnen gleichgültig. Sie lieben das Leben, sie
fürchten nicht den Tod, und gerade darum können sie es genießen.
Sie hatte die Unterredung mit ihm offenbar wieder vergessen, mit
ganzer Anteilnahme folgte sie dem Spiel der Bühne. Wäre nicht
Berenike, diese Frau wäre noch die einzige, die ihn reizte. Die
Ärzte hatten ihm gesagt, er habe ein für allemal die Fähigkeit
verloren, einen Sohn zu zeugen. Er versank in sich, grübelte,
träumte. Er sah die Wange der Frau, den Arm mit der Hand, in die
sie die Wange gestützt hatte. Eine leise, wahnsinnige Hoffnung
stieg in ihm hoch, diese Frau könnte ihm vielleicht trotz des
Spruches der Ärzte einen Sohn gebären.
Zwei Tage darauf ließ sich zu seiner
Überraschung Domitian bei ihm melden. Bübchen gab sich höflich,
geradezu unterwürfig. Es war wohl, nahm Titus an, das verunglückte
Theaterprojekt und die Mißbilligung der Lucia, die den sonst so
ungebärdigen Bruder heute so klein machten. Er selber, Titus,
strahlte, er fühlte sich frisch, in guter Form, die Ankunft
Berenikes stand bevor, und daß jetzt der Bruder so gedemütigt zu
ihm kam, hob ihn noch mehr.
Freilich zeigte sich bald, daß
der Prinz nicht etwa nur aus Schuldbewußtsein gekommen war.
Behutsam nämlich, aber dem Titus deutlich erkennbar, steuerte er
auf ein bestimmtes Ziel los. Immer wieder lenkte er das Gespräch
auf ein Gesetz, das der Kaiser vor wenigen Tagen im Senat hatte
beschließen lassen und das die Strafen gegen die falschen Anzeigen
wegen Majestätsbeleidigung erheblich verschärfte. Offensichtlich
machte sich der Prinz Sorgen über die Anwendung und Auswirkung
dieses Gesetzes. Wieso aber, das blieb Titus fürs erste
unklar.
Er selber hatte das Gesetz
erlassen, weil in Rom die Stimmen nicht zum Schweigen kamen, die in
dem Brand ein Zeichen sahen, wie sehr der Himmel seine Verbindung
mit Berenike mißbillige. Es galt so, den Massen zu beweisen, wie
fromm und mild er war. Das neue Gesetz war ein gutes Mittel. Die
Verfahren wegen Majestätsbeleidigung waren verhaßt, die Ankläger
verachtet. Indem Titus die Strafandrohungen gegen falsche
Denunzianten verschärfte, schmeichelte er den Massen und ehrte die
Götter.
Sehr ernst freilich nahmen weder
der Hof noch die Gerichte diese Verschärfung der Gesetze. Die
Strafen für Majestätsverbrechen waren außerordentlich hart, Tod,
Verbannung, in jedem Falle aber Vermögenskonfiskation. Um diese
Vermögenskonfiskation ging es; denn die im Verlauf solcher
Verfahren konfiszierten Gelder und Güter bildeten einen
wesentlichen Teil der Einnahmen der staatlichen und der
kaiserlichen Kassen. Wer eine Anzeige erstattete, die zur
Verurteilung des Angeschuldigten führte, erhielt einen hohen Anteil
der konfiszierten Güter. Titus und seine Minister rechneten damit,
daß infolge dieser hohen Belohnungen trotz der scharfen
Strafandrohungen nach wie vor viele Anzeigen erfolgen
würden.
Er spielte mit Bübchen, gab ihm
auf seine Anmerkungen zu dem Gesetz nur beiläufige Antworten,
lenkte ab, schwatzte munter über dies und jenes. Bübchen aber kam
gewandt auf vielen Wegen immer wieder auf das Edikt gegen die
Denunzianten zurück, so daß Titus sich immer gespannter fragte, was
er denn eigentlich wolle.
Endlich nannte Domitian einen
Namen, den Namen Junius Marull. Er nannte ihn behutsam, obenhin.
Allein sowie dieser Name einmal gefallen war, sah Titus mit
einemmal klar. Er lächelte still, grimmig, befriedigt. Da hatte er
sich, und noch dazu ohne daß er es beabsichtigte, eine brauchbare
Waffe gegen Bübchens Anmaßung geschaffen.
Dem Senator Marull nämlich war
seine Ausstoßung aus dem Senat geschäftlich gut bekommen, er hatte
sich für den sozialen Abstieg durch einen Ungeheuern
wirtschaftlichen Aufschwung entschädigt. Solange er Senator war,
war es ihm verboten gewesen, Anzeigen zu erstatten. Nach seinem
Ausschluß konnte er es sich erlauben, den und jenen seiner früheren
Kollegen des Majestätsverbrechens zu zeihen. Er war ein gewiegter
Jurist, ein ausgezeichneter Redner, er stillte seinen
unersättlichen wirtschaftlichen Appetit. Neun Anzeigen hatte er
erstattet; saftige Anzeigen. Der um die Mehrung des Staatsschatzes
und seines eigenen stets besorgte Vespasian war ihm nicht in den
Arm gefallen, und die Prozesse hatten zur Vergrößerung des
wirtschaftlichen Ansehens sowohl Vespasians wie seines Gegners
Marull viel beigetragen. In einem einzigen Fall, einem
geringfügigen, hatte Vespasian, um das Prestige zu wahren, den
Beschuldigten freisprechen lassen; aber unter dem ökonomischen
Kaiser waren die Strafen gegen falsche Denunzianten mild gewesen,
Marull war mit einer Geldbuße davongekommen.
Als jetzt das neue Edikt so
scharfe Strafen gegen die Anzeiger festsetzte, hatte Marull,
spürsinnig, wie er war, sogleich bedacht, daß der Kaiser bei
einigem schlechten Willen, ohne eine neue Vorlage im Senat
einzubringen, dem Gesetz Rückwirkung verleihen und es gegen ihn
ausdeuten lassen konnte. Wie er das dem Domitian mitteilte,
beiläufig übrigens, wie es sich für einen Stoiker schickte, elegant
und sorglos, festigte sich in dem immer finsteren und mißtrauischen
Prinzen sogleich die Überzeugung, des Titus einziger Zweck bei der
Einbringung des Gesetzes sei gewesen, den Marull zu treffen, seinen
Freund Marull.
Er war dem Marull ehrlich freund,
wenn er es auch nicht lassen konnte, ihn manchmal zu quälen. Gerade
jetzt, beim Scheitern des Theaterprojekts, war ihm wieder bewußt
geworden, daß es auf der ganzen Welt nur drei Menschen gab, an
denen er hing. Lucia, Annius, Marull. Hätte ein anderer ihn auf so
brüske Art verraten wie jetzt Lucia, er hätte ihn in den Tod gehaßt
und verfolgt: sie liebte er für ihren Verrat nur um so mehr. Hätte
ein anderer sein Projekt verblümt als plump gescholten und einen
feineren Geschmack zu zeigen gewagt als er selber, er hätte das
diesem andern niemals verziehen: Marull liebte er darum um so
mehr.
Wie jetzt Marull ihm von der
Gefahr sprach, in die das neue Gesetz ihn brachte, hatte er
sogleich beschlossen, den freund vor den Intrigen des Bruders zu
retten. Ohne Marull etwas davon zu sagen, war er zum Walfisch
gegangen.
Der hatte mit keinem leisesten
Gedanken daran gedacht, das Gesetz gegen Marull anzuwenden. Wie er
aber jetzt Bübchens Ängste merkte, war er schlau genug, ihn nicht
zu beruhigen. Mit keinem Wort sprach er von Marull. Wohl aber
erwähnte er beiläufig, seine Berater seien sich noch nicht
schlüssig geworden, ob man nicht vielleicht das Gesetz gegen die
falschen Anzeiger auch auf die Vergangenheit ausdehnen solle.
Domitian meinte, das sei nicht ratsam, man müßte dann wohl gegen
einige sehr angesehene Männer vorgehen, denen die staatlichen und
die kaiserlichen Kassen viel verdankten; man tue nicht gut daran,
diese alten, dem Ansehen der Dynastie nicht förderlichen
Geschichten aufzuwärmen. Das war ein etwas laues Argument. Bübchen
wußte das selber, und als Titus leichthin erwiderte, es sei
freundlich von ihm, daß er sich soviel Sorgen um die Minderung
seiner Popularität mache, wußte er nichts mehr zu erwidern und zog
verstimmt ab, die gewohnte Höflichkeit mühsam wahrend.
Senator Marull stand vor dem schweren Problem,
ob er den Johann von Gischala wirklich aus der Leibeigenschaft
freilassen sollte, wie er es ihm anläßlich des peinlichen
Theaterprojekts Bübchens in Aussicht gestellt hatte. Niemand
natürlich konnte ihn zwingen, sein Versprechen zu halten, und der
kluge Galiläer war auch beherrscht genug, ihn nicht daran zu
erinnern. Aber Johann war dem Marull nicht ein Leibeigener im
gemeinen Sinn, und wenn die menschliche Bindung zwischen ihnen
beiden nicht reißen sollte, konnte er ihn nicht auf immer in diesem
unwürdigen Stand belassen. Dazu kam ein anderes. Wenn auch Marull
an eine unmittelbare Gefahr nicht glaubte, so konnte immerhin bei
den seltsamen Beziehungen zwischen Titus und Domitian den Walfisch
plötzlich einmal die Laune ankommen, ihn mit Hilfe des Gesetzes
gegen die Denunzianten zu verschlucken, und es wäre ärgerlich, wenn
dann Johann in die Hand eines Irgendwer fiele. Marull beschloß
also, seinen Johann freizulassen.
Vorher aber wollte er sich mit
seiner Hilfe noch einen Spaß machen. Marull, in letzter Zeit an den
Zähnen und infolgedessen an zunehmender Menschenfeindschaft
leidend, fand, Josephus wiege sich seit seiner großen Ehrung in
besonders satter Selbstzufriedenheit, und Liban war ihm von jeher
wichtigmacherisch erschienen. Er beschloß, seinen beiden
hochmütigen Freunden einmal eine Lehre zu erteilen, und da er
wußte, daß sie annahmen, sie selber und ihre Tätigkeit in Rom seien
der Anlaß des jüdischen Krieges gewesen, hielt er seinen in die
tiefsten Tiefen gefallenen Leibeigenen für den rechten Mann, dieses
Geschäft zu besorgen.
Er bat also Josef und Liban
zusammen mit Claudius Regin und einigen andern zu Gast. Der
Schauspieler machte ihm sein Vorhaben leicht. Kaum nämlich hatte
Marull, nach dem Essen, vom jüdischen Krieg und seinen Ursachen zu
sprechen angefangen, da begann Demetrius auf seine gewohnte,
unterstrichen schlichte und darum um so bedeutungsvollere Manier,
sich in Meditationen zu ergehen, wie seltsam Jahve und das
Schicksal mit den Menschen spiele; man könnte mit dem Dichter
sagen, »gleichwie der Wind mit Tropfen Wassers spielt auf breiten
Blättern«. Damals, als er den »Juden Apella« aufführte, hatte er da
nicht geglaubt, der gesamten Judenheit einen Dienst zu erweisen,
und hatte er nicht, wie der hier anwesende Doktor Josef bezeugen
könne, gerade dadurch die Entscheidung in der Frage von Cäsarea und
somit den Ausbruch des Krieges herbeigeführt? Josef schwieg. Es war
ihm nicht lieb, an jene Episode erinnert zu werden. Allein Marull
forderte ihn auf: »Legen Sie Zeugnis ab, mein Josef, wie unser
Demetrius will. Waren wirklich Sie und er die Ursache des Krieges?«
– »Der unmittelbare Anlaß wohl«, zuckte Josef die Achseln, ein
wenig verärgert.
»Und was meinst du, mein Johann?« wandte sich plötzlich Marull an
den Galiläer, der bescheiden unter den Aufwartenden in einer Ecke
stand. Demetrius und Josef sahen unmutig hoch. Marull wußte doch,
daß seit Beginn des jüdischen Krieges zwischen Johann und Josef
bittere Feindschaft war, und was den Schauspieler anlangte, so war
dem der Galiläer von jeher unsympathisch gewesen. Ein Nationalheld
hatte pathetisch auszuschauen, romantisch, interessant. Es war ihm,
dem großen Schauspieler, vorbehalten, daraus mit Hilfe eines
witzigen Denkspiels das Gegenteil zu machen. Und nun erdreistete
sich dieser Johann, das zu sein, was er selber, Demetrius,
allenfalls zu spielen vorhatte. Es war eine derbe Unhöflichkeit von
Marull, einen solchen Mann, einen Leibeigenen obendrein, als Zeugen
wider einen Josef und einen Demetrius aufzurufen.
Johann näherte sich auf
bescheidene Art. »Was soll ich?« fragte er höflich. »Du hast
gehört«, sagte Marull, »was unsere Freunde Flavius Josephus und
Demetrius Liban über den Ursprung des jüdischen Krieges denken. Du
warst an diesem Krieg nicht unbeteiligt, mein Johann. Willst du uns
nicht sagen, was du dazu meinst?«
»Wenn hier der große Schauspieler
Demetrius Liban erklärt«, meinte sachlich Johann, »der Streit um
einige Sitze im Magistrat von Cäsarea sei die Ursache des Krieges
gewesen, so behaupten die Doktoren von Jabne, die Sünden Israels
trügen die Schuld, und die jüdischen Nationalisten sagen, die
Übergriffe der römischen Gouverneure. Die ›Gläubigen‹ wieder, die
sogenannten Minäer oder Christen, sind der Ansicht, schuld am
Kriege und seinem Ausgang sei ein Prozeß gegen einen gewissen
falschen Messias. Sie sehen, meine Herren, die Meinungen sind
geteilt.« Er verstummte, strich nachdenklich seinen kurzen
Knebelbart und schaute wieder bescheiden aus seinen grauen,
verschmitzten Augen der Reihe nach über die Gesichter seiner Hörer.
»Auch unser Flavius Josephus«, sagte liebenswürdig Marull, »führt
in seinem berühmten Buch eine ganze Reihe patriotischer und
religiöser Motive an. Aber«, munterte er den Bescheidenen auf, »was
meinst du, mein Johann?« – »Ich meine«,
sagte Johann und schaute dem Josef gerade und voll ins Gesicht, »im
Grunde sind die Ursachen des Krieges viel einfachere und viel
tiefere.«
Josef hatte beschlossen, sich an
dieser unwürdigen Debatte mit seinem alten Feind Johann nicht zu
beteiligen; dennoch, wider seinen Willen, riß es ihm jetzt den Mund
auf. »Was sind denn das für geheimnisvolle Ursachen?« fragte er
hochmütig, bösartig.
»Das will ich Ihnen sagen, Doktor
Josef«, erwiderte friedfertig Johann, »freilich lieber aramäisch.
Wir beide sprechen ja das Aramäische besser und haben uns oft auf
gut aramäisch unterhalten. Aber wir wären dann wohl unhöflich gegen
die andern Herren, meine ich. Also, schlecht und lateinisch. Ich
selber habe zu Anfang des Krieges seine Ursachen nicht besser
gekannt als Sie, vielleicht auch habe ich sie nicht kennen wollen.
Jedenfalls habe ich meinen Bauern, als ich sie in den Krieg hetzte,
um sie in Stimmung zu bringen, genauso wie Sie tausendmal
vorgeredet, daß es ein Krieg Jahves gegen Jupiter sei, und ich habe
es auch geglaubt. Ich war, wie Sie schreiben, einer der Anstifter
und Führer, ich habe den ganzen Krieg mitgemacht, ich war oft und
abermals nahe daran, umzukommen. Dann wäre ich sonderbarerweise
verreckt, ohne recht zu wissen, worum eigentlich dieser Krieg
ging.«
»Und jetzt wissen Sie es?« fragte
immer mit der gleichen bösartigen Kälte Josef.
»Ja«, erwiderte ruhig, fast
freundlich Johann von Gischala. »Nach dem Krieg, im Dienst dieses
milden Senators Marull, hatte ich Zeit, es mir zu überlegen. Und
ich habe es auch herausbekommen.« – »Los endlich«, ermunterte ihn
Marull. »Es ging damals«, fuhr Johann fort, »nicht um Jahve und
nicht um Jupiter: es ging um den Preis des Öls, des Weins, des
Korns und der Feigen. Hätte eure Tempelaristokratie in Jerusalem«,
wandte er sich mit freundlicher Belehrung an Josef, »nicht so
gemeine Steuern auf unsere mageren Produkte gelegt, und hätte Ihre
Regierung in Rom«, wandte er sich ebenso freundlich-sachlich an
Marull, »uns nicht so niederträchtige Zölle und Abgaben
aufgebrummt, dann wären Jahve und Jupiter noch lange ausgezeichnet
miteinander ausgekommen. Hier in Rom konnte der Liter Falernerwein
für fünfeinhalb Sesterzien verkauft werden, wir mußten unseren Wein
für dreiviertel Sesterzien verschleudern und davon fast noch einen
halben Sesterz Steuern abgeben. Wenn man sich das nicht klarmacht
und wenn man nicht unsere Vorkriegspreise für Korn mit denen hier
in Italien vergleicht, dann weiß man von den Ursachen des Kriegs,
auf gut galiläisch, einen Dreck. Ich habe Ihr Buch sehr aufmerksam
gelesen, Doktor Josef: Preise und Wirtschaftsziffern habe ich keine
darin gefunden. Lassen Sie mich, einen einfachen Bauern, Ihnen
sagen: Ihr Buch mag ein Kunstwerk sein, aber wenn man es gelesen
hat, weiß man über das Warum und Wieso des Krieges keinen Deut mehr
als vorher. Das Wichtigste haben Sie nämlich leider
ausgelassen.«
Regin hatte sich erhoben; seinen
Becher in der Hand – er trank den Wein wegen seines schlechten
Magens gewärmt –, ging er auf und ab, manchmal einen
unartikulierten Brummlaut ausstoßend, der nach Zustimmung klang.
Josef, um seine Gleichgültigkeit zu zeigen, kaute unhöflich an
einem Stück Konfekt. Liban hatte eine hochmütig ironische Miene
aufgesetzt, Marull eine ergötzte. Niemand sprach, alle warteten sie
gespannt, was Johann weiter sagen werde.
»Ich halte Judäa«, fuhr der
scheinbar ohne Zusammenhang fort, »für ein gutes, gesundes Land und
seine Lehre für etwas Großes, Herrliches, wohl wert, daß man sie
verteidige. Ich meine nicht den unsichtbaren Gott und die großen
Reden der Propheten. Das ist sicher etwas Erhabenes, aber doch mehr
eine Sache für unseren Doktor Josef. Für mich sind das Beste an der
Lehre die Agrargesetze, vor allem die über die Brachlegung der
Äcker in jedem siebenten Jahr. Das sind eminent gescheite
Vorschriften, und es ist nur schade, daß sie von der Habsucht der
Jerusalemer Aristokratie so oft sabotiert wurden«, meinte er
anzüglich, gegen Josef gewandt.
»Ich glaube«, wandte er sich
wieder an die andern, »dieses unser Siebenjahr wird sein gut Teil
dazu beitragen, Rom kleinzukriegen. Sie erlauben mir, Senator
Marull, daß ich meine bäurische Meinung gerade heraussage. ›Die
Besiegten dik tieren den Siegern ihre Gesetze‹, immer wieder
zitiert ihr entrüstet diesen Spruch eures Seneca. Unser Doktor
Josef will das durch den Geist bewerkstelligen, höre ich. Das sind
Wolkenschlösser. Aber mittels der Konkurrenz unserer
Landwirtschaft, scheint mir, werden wir euch in nicht allzu ferner
Zeit wirklich Gesetze diktieren können, und recht spürbare. Die
Landwirtschaft Italiens ist nämlich auf dem Hund, Senator Marull.
Ihr importiert und stapelt aus politischen Gründen, um das Getreide
unentgeltlich oder zu sehr billigen Preisen an die Bevölkerung zu
liefern, so viel Korn in Rom, daß ihr die Getreidewirtschaft
Italiens ein für allemal unrentabel gemacht habt. Dafür habt ihr
euch auf hochwertige Weine spezialisiert. Ursprünglich war diese
Planwirtschaft nicht übel, sie war sogar großartig. Jetzt aber ist
der Markt für eure Weine längst zu klein geworden. Afrika hat
Überproduktion an Wein, Spanien deckt jetzt schon achtzig Prozent
seines Bedarfs aus eigenen Erzeugnissen, Gallien vierzig, halb
Asien beliefern wir Juden, bald werden wir es ganz beliefern.
Glauben Sie, ihr könnt von dem Weinbedarf Englands und der beiden
deutschen Provinzen leben? Überall sonst habt ihr kräftig
zugegriffen. Aber an dieses Problem wagt ihr euch seit hundert
Jahren nicht heran. Jetzt ist es zu spät, die Landwirtschaft
Italiens umzustellen, und lebensfähig halten könnt ihr sie auch
nicht länger. Nicht am griechischen Geist und nicht am jüdischen
und nicht an den Barbaren wird Rom kaputtgehen, sondern am
Zusammenbruch seiner Landwirtschaft. Das sage ich Ihnen, Senator
Marull, Johann von Gischala, Bauer aus Galiläa. Denn von der
Terrainspekulation und der Weltherrschaft allein kann man auf die
Dauer nicht leben. Es geht nicht ohne eine vernünftig organisierte
Landwirtschaft. Womit ich gegen den Kunstwert Ihres Buches nichts
gesagt haben möchte«, schloß er trocken, sich höflich an Josef
wendend.
»Sind Ihre Gesichtspunkte nicht
ein bißchen sehr agrarisch?« fragte Demetrius, da Josef schwieg. Es
war nur ein ganz leiser Hohn in seiner Stimme, aber er hatte
während der Rede Johanns Zeit gehabt, diesen Hohn gut zu
präparieren, so daß aus ihm die ganze Verachtung des Idealisten für
den rohen Materialismus des Erdenmenschen herausklang. »Wir
Galiläer«, erklärte friedfertig Johann, »sind überzeugte Bauern.
Die klugen Herren in Jerusalem«, lächelte er, »ersetzten denn auch
das Wort Dummkopf durch das Wort Bauernvolk oder
Galiläer.«
Alle schauten auf Josef, was der
wohl erwidern werde. Aber Josef blieb seinem Vorsatz treu und
erwiderte nichts. Die Einwände des Johann waren lächerlich,
wirkliche Bauerneinwände, die Einwände einer Schildkröte gegen
einen Adler. Getreidepreise, Weinpreise, Ölpreise. Davon soll
Politik abhängen, davon sollen Kriege herrühren? Oh, er hätte dem
Johann schon herausgeben können. Wollen Sie vielleicht auch, hätte
er ihm sagen können, den Auszug aus Ägypten, die Wanderung durch
die Wüste, die Errichtung der Reiche Juda und Israel, die Kämpfe
mit Babel, Assur und Hellas aus den Brot- und Weinpreisen erklären?
Aber er bezwang sich und schwieg. Er hatte bessere Gelegenheit,
seine Meinung darzutun. In seiner »Jüdischen Universalgeschichte«
wird es darum gehen, immer wieder Ursachen und Folgen aufzuzeigen,
und gerade da wird er erweisen, daß, was die Schicksale der
Nationen geformt hat, immer Gedanken waren, religiöse Ideen,
Geistiges. Preise, Statistiken, dachte er. Ich habe die Entstehung
des Krieges aus der Entwicklung eines ganzen Jahrhunderts erklärt,
nicht aus ein paar zufälligen Ziffern. Sind Preise und Statistiken
in den historischen Büchern der Bibel? Sind Preise und Statistiken
bei Homer? Der Narr der, der Bauerntölpel, der Galiläer. Was will
er denn? Jahve hat doch längst gegen ihn entschieden.
Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und ich bin
einer von ihnen. Wessen Ohr aber hat der da? Marull will sich einen
Spaß machen, darum läßt er ihn mit seinen Ziffern gegen mich los.
Ich denke nicht daran, dem Römer darauf hereinzufallen.
Leise bohrend aber, gegen seinen
Willen, stieg in ihm die Erinnerung hoch, daß Justus von Tiberias
in den wenigen, schmalen Bänden seiner Geschichtswerke Preise und
Statistiken genannt hatte.
Demetrius Liban mittlerweile
ärgerte sich, daß die Aufmerksamkeit so ganz von ihm abgeglitten
war. Nicht dazu hat er sich bezichtigt, an der Zerstörung des
Tempels schuld zu sein, um dem Johann Gelegenheit zu einem langen,
agrarökonomischen Vortrag zu geben. Was glaubt dieser Mensch? Will
er sein Galiläa hierherverpflanzen? Hier hat man Gott sei Dank noch
immer Sinn für Kunst, und die Betonung eines Wortes durch den
Schauspieler Demetrius Liban interessiert die Römer immer noch mehr
als die Ölpreise sämtlicher Provinzen.
Da Josef schwieg und auch Liban
nichts zu sagen wußte, meinte schließlich nachdenklich mit seiner
hellen, fetten Stimme Claudius Regin: »Schade, daß Sie kein
Schriftsteller sind, Johann von Gischala. Mit diesen Ihren
Ansichten ließe sich ein höchst lesenswertes Buch
schreiben.«
Zwei Wochen später erschienen
Senator Marull, Claudius Regin und der Leibeigene Johann von
Gischala in der großen Julischen Halle, vor einer der Kammern des
Hundertmännergerichts. Die Lanze war aufgepflanzt, das Zeichen der
Besitzergreifung, denn diese Gerichtshöfe entschieden
ausschließlich über Zivilstreitigkeiten.
Die Formen der Verhandlung waren
sehr feierlich, der Präsident des Gerichtshofes selber amtierte,
einer der achtzehn Großrichter des Reichs, und die Liktoren
walteten in voller Amtstracht, ausgestattet mit Beilen und
Rutenbündeln. Aber in seltsamem Gegensatz zu dieser Feierlichkeit
stand die Fülle der gleichzeitig verhandelten Prozesse. Acht
Kammern tagten in der einen großen Halle,
nur durch Vorhänge voneinander getrennt, so daß man da und dort die
verschiedenen Verhandlungen gleichzeitig hörte.
Sehr bald wurden die Parteien des
Scheinprozesses »Claudius Regin gegen Junius Marull«
aufgerufen.
Regin rührte mit der verlängerten
Hand, das heißt mit einem kleinen Stab, die Schulter des Johann und
sagte die Formel: »Ich nehme diesen Mann als Freien in
Anspruch.«
Der Richter fragte den Marull:
»Haben Sie dagegen etwas einzuwenden?« Marull schwieg.
Daraufhin rührte der Liktor mit
der verlängerten Hand die Schulter des Johann und sagte: »Man nimmt
diesen Mann als einen Freien in Anspruch. Hat jemand dagegen etwas
einzuwenden?« Und Marull schwieg abermals. Daraufhin erklärte der
Richter: »So trete ich dem Freiheitsanspruch bei und erkläre diesen
Mann für einen Freien nach Römischem Recht.«
Nachdem dieser Akt vollzogen war,
sagte Marull mit etwas fatalem Grinsen zu Johann: »So, mein Johann,
und jetzt gebe ich dir fünfzigtausend Sesterzien, und wenn es
fünfhunderttausend sind, dann kannst du meinethalb nach Judäa
gehen.« Johann sagte: »Geben Sie mir zehntausend, und lassen Sie
mich gehen, wenn es hunderttausend sind.«
Claudius Regin hörte aufmerksam
zu.
Marull sagte sich, es sei
vielleicht nicht klug gewesen, daß er dieses Gespräch in Gegenwart
des Verlegers begonnen hatte. Aber nun blieb ihm nichts übrig, als
ja zu sagen.
Titus, nach den Mühen, die die
Regierungsübernahme und die große Brandkatastrophe ihm gebracht
hatten, fuhr, nur in Begleitung seines Arztes Valens, nach seinem
Landgut bei Cosa, um sich eine kurze Rast zu gönnen.
Die Rast wurde kürzer, als er
beabsichtigt hatte. Schon nach den ersten Tagen traf aus der Stadt
neue Unglücksbotschaft ein. Die Epidemie, die in Ägypten und in
Sizilien so viele Opfer gefordert, hatte nun, gerade noch am Ende
des Sommers, die Stadt Rom erreicht. Für den gestrigen Tag meldete
der Gesundheitsdienst einhundertachtzehn Todesfälle. »Müssen wir
nicht zurück nach Rom, mein Valens?« fragte Titus seinen Arzt und
Vertrauten.
Valens verneinte. Er führte viele
Gründe an. Die Epidemie kam ihm nicht gelegen. Er ist ein großer
Diagnostiker, aber für die Seuche braucht man keinen Diagnostiker,
sie tritt so auf, daß jedes Kind die Symptome im ersten Augenblick
erkennt. Nein, in Rom ist jetzt nicht viel Ansehen für ihn zu
holen. Die Stadt ist sowieso geneigt, ägyptische, jüdische und
griechische Ärzte vorzuziehen. Daß die Griechen und Ägypter auf dem
Gebiet der Seuchenbekämpfung mehr Erfahrungen haben als er, ist
unbestreitbar.
Der Leibarzt Valens ist ein
kalter, müder Mann, ein Realist. Er hat erreicht, was er erreichen
kann, hat zahllose Anhänger, hat eine neue Schule gegründet. Leicht
hat man ihm seine Karriere nicht gemacht. Er wäre trotz seiner
neuen Methoden nicht hochgekommen, wenn er nicht ein paar Damen der
Aristokratie in einigen kritischen Fällen mit Erfolg zum Abort
verholfen hätte. Auch dann war es nicht ganz einfach gewesen. Wohl
hatte er die höchsten Honorare in Rom erzielt, aber noch Jahre
hindurch nahm man ihn nicht für voll, und gewisse hochnäsige
jüdische und griechische Kollegen behandelten ihn ganz offen als
Scharlatan. Erst als Titus ihn zu seinem Leibarzt machte, hatte das
Gerede aufgehört. Jetzt hatte er Geld und Ruhm und war überdies der
Vertraute des Titus. Mitregent in einem gewissen Sinn. Er war auf
dem Gipfel.
Wer aber einmal so hoch
geklettert ist, hat es schwer, sich zu halten. Ist nicht schon ein
kleiner Abstieg da? Es war mit Titus in den letzten Wochen eine
Veränderung vorgegangen die für den Arzt Valens einen Erfolg, für
den Menschen Valens aber eine Gefahr bedeutete. Titus war frischer,
selbständiger geworden, drohte ihm zu entgleiten. Jetzt kam noch
diese Seuche hinzu, die gewisse andere sicher zum Anlaß benutzten,
sich in den Vordergrund zu drängen.
Schon am nächsten Tag mußte
Valens erfahren, daß seine Befürchtungen nicht grundlos waren. Als
nämlich Claudius Regin eintraf, beriet der Kaiser lange mit ihm,
ohne Valens zuzuziehen. Es wurden aber an diesem Tage
dreihundertdreiundvierzig Tote gemeldet, den Tag darauf über
vierhundert. Es war eine andere Art von Seuche als die bisher
beobachtete, sie trat nicht mit schwarzen Beulen auf, sondern mit
starken Durchfällen und einer erschreckenden Durchkältung der Haut
sowie des ganzen Körpers. Die jüdischen und griechischen Ärzte
rühmten sich, in einigen Fällen Heilung erzielt zu haben. Auch
wandten sie neue Präventivmethoden an, anscheinend mit Erfolg.
Valens war erbittert.
Viele der Wohlhabenden, trotzdem
sie jetzt, zu Ende des Sommers, gerade erst von ihren Landgütern
zurückgekehrt waren, verließen die Stadt aufs neue. Titus, gegen
den Rat der Ärzte, kehrte in die Stadt zurück. Claudius Regin hatte
ihm vorgestellt, daß er, nachdem seine Gegner das Auftreten der
Seuche als ein neues Zeichen der Götter gegen ihn ausbeuteten,
jetzt erst recht zeigen müsse, ein wie guter Vater er seinen Römern
sei.
In der Stadt erreichte ihn ein
Schreiben der Berenike. Sie fand, es sei nicht gut, ihre
Wiedervereinigung zu feiern, solange die Epidemie in Rom wüte. Sie
hoffe, daß die Seuche schon in zwei oder drei Wochen derart
eingedämmt sein werde, daß sie kommen könne. Des Titus erster
Gedanke, als ihn die Nachricht vom Auftreten der Epidemie
erreichte, war gewesen, daß er nun noch länger auf Berenike werde
zu warten haben. Jetzt fragte er sich, ob er ihr nicht nach
Griechenland entgegenfahren solle. Allein schon im nächsten
Augenblick verwarf er diesen Plan. Er war seiner sicher, er war
Berenikes sicher, er wollte vor seinen Römern nicht feig
erscheinen. Die Seuche war ein gutes Omen, sie gab ihm Gelegenheit,
sich zu bewähren.
Es erwies sich auch, daß die
Römer ihm diesmal sein Verhalten hoch anrechneten; ja, sie fanden,
daß seit der Ankunft des Walfischs die Seuche abnahm.
Dorion hatte, sowie das erste Geflüster über
die Seuche sie erreichte, dem Josef vorgeschlagen, die Stadt zu
verlassen; denn trotz der Anwesenheit des Kaisers flüchtete jetzt,
wer immer es sich leisten konnte. Die Villa bei Albanum war nicht
fertig, aber zur Not konnte man dort hausen, und man wird ja
ohnedies die meiste Zeit im Freien verbringen. Josef fand es
vernünftig, daß sie mit dem Jungen aus dem verseuchten Rom
fortwollte. Aber er haßte die Villa bei Albanum, er schlug vor,
nach Campanien zu gehen. Sie beharrte, es kam zu heftigen Worten,
und es zeigte sich, daß ihre Versöhnung Flickwerk gewesen war.
Schließlich erklärte er, er fühle sich sicher in der Hand seines
Gottes, und blieb in Rom, während sie mit Paulus und Phineas nach
Albanum ging.
Es lag schwer auf Dorion, daß sie
mit ihrem Vater in Unfrieden war. Sie liebte ihren Mann Josef
heißer, aber die Bindung mit ihrem Vater war gleichmäßiger; mit ihm
verstand sie sich, mit Josef verstand sie sich nicht. Sie dachte
daran, Fabull trotz des Zerwürfnisses aufzusuchen, ihn nochmals
kindlich zu bitten, ihren Lieblingswunsch zu erfüllen, das Haus bei
Albanum auszumalen. Hier in dem verseuchten Rom konnte er jetzt
doch nicht bleiben.
Schon hatte sie Weisung gegeben,
die Sänfte bereitzustellen, da klangen ihr die gemeinen, niedrigen
Worte von neuem hoch, die er gegen Josef gesagt hatte. Nein, sie
konnte nicht zu ihm gehen. Sie selber durfte Josef beschimpfen, sie
durfte ihn auch vor Dritten lästern, sie, aber niemand sonst, auch
ihr Vater nicht. Sie versuchte gleichwohl, sich zu überwinden. Sie
liebte doch ihren Vater, und zwischen ihr und Josef wurde es immer
schlimmer: wie soll sie leben, ohne mit ihrem Vater ausgesöhnt zu
sein? Sie befahl ihren Füßen, zu gehen, aber sie gingen nicht. Sie
fuhr nach Albanum, ohne ihren Vater gesehen zu haben.
Es war schön in Albanum. Die
Berge schwangen sich in edlen Linien, das Meer lag weit und groß,
und lieblich der See, die Luft atmete sich leicht. Auch der Bau
ging gut voran, und sie gab mit Lust immer neue Weisungen. Aber die
Wände blieben leer, sie brachte es nicht über sich, einem andern
den Auftrag zu geben, sie zu bemalen, so gute Leute der Architekt
Grovius ihr vorschlug. Sie sah die leeren Wände, und es nagte an
ihr, daß sie leer waren.
Josef blieb in Rom. Was er gesagt
hatte, war wahr. Er war wirklich ganz angefüllt mit hochfahrender,
fatalistischer Sicherheit. Die Seuche konnte ihm nichts anhaben.
Verschwunden aber war jene Zuversicht, daß es zwischen ihm und
Dorion wieder gut werde. Dorion gleitet fort von ihm, alle seine
Macht über sie ist fort. Er hat sich vor ihr gedemütigt, hat auf
seinen Sohn Paulus verzichtet, hat sie ihre Villa in Albanum bauen
lassen. Aber es nützt nichts, er kommt so nicht weiter, sie will
alles oder nichts. Er kann sie nur halten, wenn er sich vollends
ihrem Willen fügt und sich selber aufgibt.
Er ging in diesen Tagen oft in
die Subura, zu Mara, zu seinem Sohne Simeon. Er hatte sie
aufgefordert, Rom zu verlassen, aber sie war von Galiläa her
gewohnt, Epidemien fatalistisch hinzunehmen. Sie wollte bleiben, wo
Josef war; heimlich freute sie sich, daß sie infolge der Seuche
Gelegenheit hatte, Josef öfter zu sehen. Fast immer jetzt trug sie
ihre geflochtenen, parfümierten Sandalen; sie wollte in
feiertäglicher Bereitschaft für ihn sein.
Josef saß in dem behaglichen
Raum, den der Glasfabrikant Alexas ihr überlassen hatte. Selbst
jetzt, während der Seuche, war die Subura so voll von Verkehr, daß
der Lärm bis in das Zimmer drang. Josef las oder schwatzte ein
weniges mit Mara, oder er beschäftigte sich mit Simeon-Janiki,
seinem jüdischen Sohn. Infolge der Seuche konnte sich Simeon nicht
auf den Straßen herumtreiben wie sonst; hatte Mara nicht Grund, die
Seuche wirklich für ein Geschenk des Himmels zu halten? Er war
vielmehr, um Ansteckung zu vermeiden, gezwungen, sich zu Hause zu
halten, und er befaßte sich wohl oder übel mehr mit Büchern. Josef
brachte ihm den »Jüdischen Krieg«. Es war die aramäische Version,
die ursprüngliche, die weniger Kompromisse machte als die
griechische. Den Simeon interessierte das Buch, er war ein
geweckter Junge, und den Josef rührte Reue und Bitterkeit, wenn er
merkte, wie sein kleiner Sohn sich immer wieder den Kopf zerbrach
über Stellen, die Josef aus politischen Gründen lückenhaft und
undurchsichtig gefaßt hatte. In seinem Innern übrigens haderte er
bei solchen Anlässen oft mit Johann von Gischala und Justus von
Tiberias und verspottete sie wegen ihrer Wirtschaftsziffern und
Statistiken.
Mara saß still und zufrieden
dabei, wenn ihr Herr Josef mit dem Knaben, den sie ihm geboren
hatte, über sein Buch redete. Der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai
war ein heiliger Mann gewesen, Jahve hat aus ihm
gesprochen.
Was Simeon-Janiki im »Jüdischen
Krieg« am brennendsten interessierte, war die Beschreibung von
militärischen Dingen, insbesondere von Kriegswerkzeugen. Die
Artillerie, die Belagerungsmachinen, die Geschütze, die Widder, die
Katapulte und Ballisten, davon konnte er nicht genug hören. Stämmig
saß er dem Vater gegenüber, aufmerksam aus dem eirunden Gesicht
schauten seine schnellen Augen, unermüdlich fragte er nach jedem
Detail. Sehr bald wußte er genau den Unterschied zwischen einem
Oxybol und einem Petrobol, zwischen einem Geradspanner, einem
Euthyton, und einem Winkelspanner, einem Palyton. Er wußte, wie ein
Geschütz konstruiert wird, dessen Spanner nur einmal zwischen den
Spannbolzen hinläuft, und eines, dessen Nerv nach dem ersten Umlauf
wieder denselben Weg zwischen den Spannbolzen zurücklegt. So
interessiert war er an diesen Dingen, daß er, seine Schreibfaulheit
überwindend, sich das Wichtigste notierte und der Mutter mehrmals
laut vorlas, um es ja zu behalten. Und Mara freute sich ihres
klugen Sohnes.
In dem Müßiggang dieser
Seuchenwochen entstand im Kopf des Knaben Simeon ein verschmitzter
Plan. Josef hatte ihm von einem sehr wirksamen Geschütz der Juden
erzählt, einem Katapult, genannt »Die Große Deborah«. Es war
offenbar ein genial konstruiertes Geschütz gewesen; der Erfinder
hatte den verblüffenden Einfall gehabt, die waagrechte Welle am
hintern Ende der Geschoßführung durch einen Flaschenzug mit der
Bogensehne zu verbinden. Die Geschoßlänge dieser Kriegsmaschine
betrug 1,36, ihr Geschoßdurchmesser 0,148, ihre Tragweite 458,20
Meter. Simeon wollte nun die erzwungene Muße der langweiligen
Wochen, die ihn ans Haus fesselten, dazu benutzen, ein Modell
dieser »Großen Deborah« anzufertigen, obendrein mit einer
Verbesserung: eine Art Handspeiche sollte es ermöglichen, die
Bogensehne mühelos und sehr schnell bis zum Abzug zurückzuwinden.
Mit diesem Modell wollte er seinen Vater überraschen.
Als er aber an die Ausführung
ging, mußte er erkennen, daß er mit zwei Händen nicht auskam, daß
zumindest vier Hände notwendig waren. Er vertraute sich seiner
Mutter an, sie half ihm nach Kräften, aber ihre Beflissenheit
nützte wenig; Frauen waren eben für so männliche Angelegenheiten
nicht zu brauchen. Seinen Freund hätte er dahaben müssen, seinen
Kameraden Constans.
Der aber hatte sich seit dem
Ausbruch der Epidemie nicht mehr sehen lassen. Da man dem Simeon
eingeschärft hatte, wegen der Ansteckungsgefahr so wenig wie
möglich mit andern zusammenzukommen, hatte wohl sein Freund
Constans ähnliche Weisung erhalten. Allein jetzt, da es um die
»Große Deborah« ging, fand Simeon diese Ängstlichkeit übertrieben
und machte sich auf den Weg, seinen Kameraden zu besuchen. Der
Mutter, die ihn zurückhalten wollte, sagte er, er müsse sich
Schnitzholz für sein Modell besorgen.
Doch im Haus des Freundes hatte
er ein böses Erlebnis. Des Constans Vater nämlich, der Hauptmann
Lucrio, hatte während seiner Dienstzeit in der Armee ein paar
unangenehme Epidemien miterlebt, seine Leute waren gestorben wie
Fliegen an kalten Tagen, er war, als jetzt die Seuche in Rom
ausbrach, nervös geworden. Seine Mittel erlaubten ihm nicht, die
Stadt zu verlassen; aber in seiner Wohnung wenigstens traf er alle
Vorsichtsmaßnahmen. Er opferte zweimal täglich auf dem kleinen
Hausaltar, hielt ständig ein mit Essig getränktes Tuch vor die
Nase, verbrannte Sandelholz, um durch den Rauch die
Ansteckungskeime zu vertreiben, vermied alles, was die Götter
reizen könnte, und hatte seinem Sohn Constans den Verkehr mit
Simeon streng untersagt, damit der sich nicht durch den Umgang mit
einem Juden, einem Gottlosen, beflecke. Voll Schrecken und Zorn
also wich der Hauptmann, sowie er den Simeon kommen sah, vor dem
erstaunten Knaben zurück und überschüttete ihn mit wüsten
Schimpfreden. Er solle sich scheren, er verpeste mit seinem Atem
die Luft und mache jeden aussätzig, der in seine Nähe komme. Seine
alte Judensau – er meinte Berenike, aber das begriff Simeon nicht –
sei schuld an der ganzen Seuche, und wenn er sich nicht verziehe,
und das mit der Schnelligkeit eines gehetzten Hasen, dann werde er,
der Hauptmann Lucrio, ihn kunstgerecht zu Ragout verarbeiten.
Simeon zog ab, seine Verblüffung war fast noch größer als seine
Scham und sein Zorn.
Weder dem Vater noch der Mutter
sprach er von dem seltsamen Benehmen des Hauptmanns. Das war eine
Sache zwischen ihm und diesem. Aber um so beflissener dachte er
über den Hauptmann nach, seine Wut und seine Worte. Lucrio war ein
barscher Herr, das wußte er, er hatte auch früher schon
gelegentlich judenfeindliche Äußerungen getan. Allein Simeon war
nicht nachträgerisch, er selber pflegte viel und heftig zu
schimpfen. Zudem stellte er als kluger, welterfahrener Junge in
Rechnung, daß Lucrio wohl infolge der Seuche nervös war. Immerhin,
einen gewissen Stolz hat man, und niemand läßt sich gerne sagen, er
verpeste die Luft und verbreite Aussatz. Simeon entschloß sich, den
Hauptmann nach den Gründen zu fragen, die ihn zu so ehrenrührigen
Reden veranlaßten. Freilich wird er das erst dann tun, wenn die
Seuche vorbei und der Hauptmann wieder trätabel ist.
Übrigens führte sein Besuch im
Hause des Freundes trotz des soldatischen Zornausbruchs des Lucrio
zum Ziel. Kamerad Constans nämlich als anständiger Bursche und
guter Freund schämte sich der Haltung seines Vaters. Schon während
der Alte auf Simeon eingeschimpft, hatte er ihm, rot und hilflos
danebenstehend, hinter dem Rücken des Vaters beschwichtigende
Gesten gemacht. Nach zwei Tagen bewerkstelligte er es, sich
verstohlen bei Simeon einzufinden. Mara verfügte nicht über den
kräftigen Wortschatz des Hauptmanns Lucrio, aber sie war, als
Constans auftauchte, nicht minder entsetzt als der Hauptmann beim
Erscheinen des Simeon. Simeon indes, als die Mutter den ersehnten
Freund, nun er endlich da war, hinausweisen wollte, schimpfte und
fluchte dermaßen, daß es Hauptmann Lucrio nicht hätte besser
können. Vor allem gebrauchte er mehrmals das Fluchwort »Beim
Herkel«, eine von ihm selber erfundene Abkürzung der
Beteuerungsformel »Beim Herkules«. Er wußte, daß er die Mutter
durch die Anrufung des monströsen, heidnischen Gottes auf das
äußerste erschrecken werde, und sie verstummte denn auch sogleich
und zog sich zurück.
Constans, als sie endlich allein
waren, drückte herum, versuchte, seinen Vater zu entschuldigen, ihn
zu rechtfertigen. Simeon fand es nicht an der Zeit, Constans etwas
von den Gedanken mitzuteilen, die er sich über den Hauptmann Lucrio
in diesen zwei Tagen gemacht hatte, er war froh, den Freund
dazuhaben, und ihm ging es jetzt vor allem um die »Große Deborah«.
So schnitt er denn die Reden des Constans kurz ab und erzählte ihm
von seinem Plan. Constans, froh, daß Simeon ihn die Haltung seines
Vaters nicht entgelten ließ, machte sich mit Feuer ans Werk, und
sie kamen flott voran.
Constans stellte sich bald ein
zweites Mal ein. Von da an saßen die beiden Knaben zum Entsetzen
der Mara immer häufiger zusammen, angespornt von der Schwierigkeit
und der Heimlichkeit ihres Unternehmens, und während sich ringsum
die Stadt in Angst wegen der Seuche und in Gebeten verzehrte,
bastelten sie an ihrer »Großen Deborah«.
Mara wurde gequält von Zweifeln,
ob sie Josef nichts von diesen Besuchen mitteilen solle. Aber sie
konnte das ihrem Janiki nicht antun. Auch hob es ihr Herz, daß sie
gewissermaßen eine Mitverschworene ihres Sohnes war. Still saß sie
dabei, wenn Simeon den Vater auf vorsichtige, umwegige Art über die
Konstruktion der »Großen Deborah« ausholte, und sie konnte sich nur
schwer beherrschen, dem Sohne nicht manchmal einverständnisvoll
zuzublinzeln.
Josef merkte nichts von der
Heimlichkeit der beiden. Er kam oft in die Subura, und ihm gefiel
sein jüdischer Sohn. Der war ein netter, geweckter Junge, freilich
sehr gebunden ans Sinnlich-Materielle. Aber Josef wendete nicht
allzuviel Gedanken an ihn. Immer wieder, während er mit ihm
schwatzte, stellte er sich seinen Sohn Paulus vor, wie der auf den
Hügeln bei Albanum einherfuhr, auf seinem Ziegengespann, schlank,
blaßbraun, hochmütig. Er beantwortete geduldig die Fragen seines
Sohnes Simeon, er beschaute das runde, klare, zufriedene Gesicht
der Mara, und er liebte seinen Sohn Paulus sehr.
Der Maler Fabull sah sich infolge des Brandes
und der gesteigerten Bautätigkeit mit Aufträgen überschüttet. Er
arbeitete. Wenn er nicht arbeitete, wartete er auf seine Tochter,
stellte sich vor, wie sie kommen und ihm Abbitte leisten werde, und
dieses Warten zehrte an dem verschlossenen, hochmütigen Mann. Sie
wußte, wie sehr er sie liebte, sie liebte ihn, sie wird kommen. Er
wartete. Arbeitete immer wilder, um nicht warten zu
müssen.
Die Seuche kümmerte ihn nicht. Es
schien ihm undenkbar, daß sie ihn erreichen könnte, ehe er sein
großes Bild gemalt und sich mit seinem lieben Kinde ausgesöhnt
hätte. Er arbeitete. Er zog sich peinlich korrekt an wie stets, er
malte nur im Galakleid. Er malte oder er wartete auf seine Tochter.
So vergingen ihm die Tage und die Nächte. Noch ging die Sonne früh
auf und spät unter, er konnte lange malen.
Jetzt war auch der Riesenbau der
Neuen Bäder so weit gefördert, daß er mit seinem großen Fresko
beginnen könnte, mit den »Versäumten Gelegenheiten«. Jahre hindurch
hatte er sich mit diesem Gemälde beschäftigt. Er hatte davon
geträumt, es für sein Kind zu malen, und es verdroß ihn tief, daß
das nun nicht sein sollte. Aber der Künstler in ihm verhehlte sich
nicht, daß die Proportionen der Halle, die es jetzt auszumalen
galt, günstiger waren, als irgendein Privatbau sie ihm bieten
konnte. Mit verbissenem Eifer machte er sich an die Aufgabe. »Die
versäumten Gelegenheiten« werden ein gutes Bild sein, man wird ihn
nicht nur den Ersten Maler der Flavier, man wird ihn den Ersten
Maler aller Kaiser nennen. Man hat die schönsten Gemälde aus sechs
oder sieben Jahrhunderten nach Rom geschleppt, aber der wird Rom
nicht gesehen haben, der nicht sein Bild gesehen hat.
Er hatte kaum sein Gerüst
aufschlagen lassen und die ersten Pinselstriche getan, als ihn die
Seuche anfiel. Sie warf ihn aufs Bett, sie zwang dem peinlich
saubern und korrekten Herrn Durchfälle und Erbrechen auf, die Ärzte
erkannten nach wenigen Stunden, daß er verloren war. Hohläugig lag
er, den fleischigen Kopf eingefallen, spitznasig, Gesicht und Hände
bläulich, die Haut kalt wie die eines Leichnams. Rings um ihn war
Räucherwerk angezündet, um die Ansteckungsgefahr zu vermindern und
den Gestank zu übertäuben, der von ihm ausging. Seine Waden
krampften sich, sein Bewußtsein blieb klar, aber die Ohren sausten
ihm, Schwindel überkam ihn, er suchte sich sein Bild vorzustellen,
aber es wurde ihm dick und schwarz vor den Augen. Entsetzlicher
Durst quälte ihn, er sah und wußte, was um ihn vorging. Er wußte,
daß er jeden Trunk mit Erbrechen, Schmerzen, Schwäche zu bezahlen
haben werde, und für die Ärzte, die seine geradezu spleenige
Sauberkeit und Korrektheit kannten, war es das Erschrekkendste, daß
er trotzdem zu trinken verlangte, immer wieder zu trinken. Die
Dinge um ihn wurden ihm gleichgültig, zuerst seine Freunde, dann
seine Bilder, zuletzt sein Kind. Auch sein bevorstehender Tod wurde
ihm gleichgültig, nur eines verlangte er:
Wasser, Wasser.
Als man am Abend des dritten
Tages dem Bildhauer Basil mitteilte, daß sein Freund Fabull
gestorben war, sagte er zu seinem Gehilfen Kritias: »Siehst du,
mein Kritias, was hat man nun davon? Er hat seine ›Versäumten
Gelegenheiten‹ malen wollen, daran ist er gestorben. Man schuftet
sich ab, man rechnet, man nimmt noch einen Auftrag an und noch
einen. Man weiß, man kann auskommen mit dem Geld, das man gemacht
hat. Und man hat das Beste geschaffen, was man schaffen kann. Aber
man will noch mehr Geld, man will noch Besseres machen, man will
noch mehr Ruhm, man will, daß der Umsatz der Fabrik im nächsten
Jahr zweihundertdreißigtausend Büsten beträgt statt
zweihundertzehntausend. Wir sind Fetthirne, mein Kritias. Ich
sollte mir ein nettes, kleines Gut am Jonischen Meer kaufen, nur
dann arbeiten, wenn ich Lust habe, alle vier oder fünf Tage, und
niemanden vor mich lassen als ein paar nette Frauen. Und vielleicht
dich, wenn du nicht gerade zu widerborstig bist. Man sollte in der
Sonne liegen und Wein trinken und ab und zu ein gutes Buch lesen.
Und vor allem sollte man mit vier Pferden fort aus dieser
verfluchten Stadt. Ich habe durchaus nicht den Ehrgeiz, in den
Sielen zu sterben wie dieser lächerliche und großartige Fabuli. So,
und wie hast du mir für morgen den Tag eingeteilt?«
Dorion, als sie den Tod ihres
Vaters erfuhr, fiel ohnmächtig um. Sie hatte, seitdem sie ihn aus
ihrem Hause gewiesen, nichts mehr von ihm gehört, sie hatte
angenommen, er habe die verseuchte Stadt geflohen. Als man ihr
sagte, er sei an der Epidemie gestorben, spürte sie geradezu
körperlich, wie Schuldgefühl sich auf sie senkte, sich um sie
legte, pressend, vernichtend: sie hat ihn umgebracht.
Als sie aus langer Ohnmacht
erwachte, war sie bestürzend verändert, blutlos, das Gesicht
fleckig. Den Bemühungen ihrer Zofe, des Paulus, des Phineas blieb
sie unzugänglich. Sie gab Weisung, sie in die Stadt
zurückzubringen. Als man ihr vorstellte, die Leiche sei bestimmt
gleich nach dem Tode verbrannt worden, erwiderte sie nichts,
beharrte, fuhr zurück in die Stadt.
Sie fuhr nicht erst nach Hause.
Wie sie war, in dem Kleid, in dem sie die Nachricht erhalten hatte,
ungewaschen, unfrisiert, ging sie in das Atelier ihres Vaters, zu
seinen Ärzten. Sie wollte seine Asche haben. Man machte Ausflüchte.
Man hatte ihn der Vorschrift gemäß zusammen mit andern Leichen
verbrannt, aber das wagte man ihr nicht zu sagen. Vielmehr erklärte
man ihr vielwortig, die Asche könne nur ausgefolgt werden, wenn
eine spezielle Erlaubnis der obersten Gesundheitsbehörde vorliege.
Sie ging zu den leitenden Ärzten, drang bis zu Valens vor. Die
Asche wenigstens wollte sie haben. Schließlich gab man ihr eine
aschengefüllte Urne.
Vielleicht ahnte sie in ihrem
Innersten, daß das irgendwelche Asche war, aber sie wollte es nicht
wissen. Es war die Asche ihres Vaters, des von ihr getöteten, den
man ruchloserweise verbrannt hatte, so daß nun auch seine Seele,
sein »Ka«, für immer vernichtet war, und sie hatte es geschehen
lassen.
Mit dem Häufchen Asche in der
billigen, kümmerlichen Urne ging sie zurück in das Haus des Fabull.
Man wollte sie wegbringen, da man das Haus trotz der Desinfektion
für ansteckungsgefährlich hielt. Aber sie widersetzte sich. Mit der
Urne hockte sie in dem Atelier des Fabull, wo halbvollendete Bilder
herumstanden und lehnten, Zeichnungen zu den »Versäumten
Gelegenheiten« und anderes. Sie kauerte auf dem Boden, sprach zu
der Urne.
Die Dame Dorion war aufgeklärt,
sie hatte offenen Sinn für die Wirklichkeit; aber was Tod und
Jenseits anlangte, so hatte ihre Mutter sie von frühester Kindheit
an angefüllt mit den uralten, dunklen Vorstellungen des Nillandes.
Die Mutter selber war dem strengen, alten Ritus gemäß einbalsamiert
worden, ihr für die Ewigkeit konservierter Leib lag wohlversorgt in
dem kleinen Wohnhaus, das ihr Fabull auf dem Totenhof von
Alexandrien errichtet hatte. Ihr Vater Fabull aber war nicht nur
durch ihre Schuld umgekommen, sondern auch infolge ihrer
grauenvollen Fahrlässigkeit für immer vernichtet. Sie hatte es
zugelassen, daß sein heiliger Leib auf barbarische Art verbrannt
wurde, so daß er sein Wohnhaus für die Ewigkeit nicht betreten, das
Schiff nicht besteigen konnte, das darauf wartete, ihn nach den
Ländern der Seligen zu bringen.
Sie hockte auf der Erde, mager,
verschmutzt, die meerfarbenen Augen verwildert, mit den dünnen
Händen preßte sie die Urne. Sie hatte eines jener Totenbücher im
Atelier gefunden, wie man sie den Einbalsamierten mitgab, ein Buch
mit den Beschwörungen und Zauberformeln, die Fährnisse abzuwenden,
die den Wanderer im Jenseits bedrohten. Sinnlos vor sich hin, mit
scheppernder Stimme, sprach sie die uralten ägyptischen
Formeln.
Plötzlich hielt sie ein,
verstummte, stierte voll Furcht und Haß vor sich hin. Sie war an
das Kapitel über das Totengericht gekommen. Da klangen ihr mit
einemmal Schrecken erregend die geheimnisvollen Worte des Josef
auf, die hochfahrenden, daß er Macht habe, den Spruch über die
Toten aufzuzeichnen. Seine Reden bekamen jählings einen
überraschenden, haßvollen Sinn. Er war es, seine Rachsucht war es,
die ihren Vater für immer vernichtet hatte.
Am dritten Tag kam er. Sie sprang
auf, mit einem kleinen Schrei. Wich mit solchem Entsetzen vor ihm
zurück, wies ihn, fauchend, mit solchem Haß von sich, daß er nicht
zu bleiben wagte.
Er schickte ihr Ärzte, Pfleger.
Erst nach Tagen kehrte sie in ihr Haus zurück.
Als er sie dann, wieder nach
Tagen, in ihren Räumen aufsuchte, erschien sie noch schmaler und
zarter als sonst, aber sie war sorgfältig gekleidet und gepflegt
wie immer, ja, sie trug jene hauchdünnen Gewänder, die sie liebte,
und ihr Kater Chronos war um sie. Sie hatte sich zusammengerafft,
sie hatte Pläne. Es blieben ihr nur mehr zwei Dinge zu tun. Das
erste war, ihren Sohn im Sinn seines Großvaters zu erziehen, das
zweite, dem Juden heimzuzahlen, was er ihr und ihm angetan hatte.
Beides erfordert Ruhe und List, Eigenschaften, die sie nicht gut
meistert. Aber es geht um den Sinn ihres Lebens, sie wird ruhig und
listig sein.
Still und höflich erklärte sie
ihm, sie werde nach Alexandrien gehen. Die Seele, das »Ka«, ihres
Vaters sei vernichtet, aber sie wolle trotzdem die Asche in dem für
Fabuli bestimmten Totenhaus in Alexandrien beisetzen. Ihren Paulus
werde sie mitnehmen, um ihn in Alexandrien erziehen zu lassen. Wenn
Josef ihr gestatte, den Phineas mitzunehmen, so wäre sie ihm
dankbar. Für ihn bedeute es eine finanzielle Entlastung, und sie
drücke es nicht; denn infolge des Todes ihres Vaters habe sie ja
Mittel.
Josef hatte längst eingesehen,
daß er Dorion nicht werde halten, daß er nicht länger mit ihr werde
zusammen leben können. Aber was sein Verstand erkannte, wollte sein
Gefühl nicht wahrhaben. Er bat sie, beschwor sie, in Rom zu
bleiben. Er stellte ihr vor, daß ihr Vater selber den Jungen als
Römer habe erzogen wissen wollen, nicht als Alexandriner. Er
versprach ihr feierlich, ihr in die Erziehung ihres Sohnes nicht
mehr einzureden. Aber bleiben solle sie.
Sie hatte damit gerechnet, daß er
so sprechen werde. Mit stiller Genugtuung bestätigte sie sich, daß
sie seine Worte kalt anhören konnte, daß nichts mehr an ihm, nicht
seine Stimme nicht seine Augen an ihr Gefühl rührten. Sie wird
ihren Plan ohne Furcht vor der Überrumpelung durch ihre alte
Neigung zu Ende führen können.
Sie war von Anfang an
entschlossen gewesen, in Rom zu bleiben; aber sie wollte sich diese
ihre Bereitschaft abkaufen, ihn dafür zahlen lassen. Langsam,
schrittweise, mit kluger Taktik, gab sie nach. Sie wird in Rom
bleiben, aber sie stellte Bedingungen. Sie kam auf ihre alte
Forderung zurück. Die dünne Stimme gezügelt, die hellen, wilden
Augen sehr kalt, erklärte sie, sie bestehe darauf, daß er das Weib,
jene Jüdin, aus der Provinz, aus Rom wegweise.
Josef dachte an die Geschichte
Abrahams. »Da sprach Sara zu Abraham: Treibe aus diese Magd Hagar
mit ihrem Sohne: denn nicht erben soll der Sohn dieser Magd mit
meinem Sohne, mit Isaak. Und leid war die Sache sehr in den Augen
Abrahams. Aber er machte sich auf am Morgen und nahm Brot und einen
Schlauch Wasser und gab es der Hagar, legte es auf ihre Schulter
samt dem Kinde und schickte sie fort. Und sie ging.«
Josef sagte Dorion zu, er werde
Mara aus Rom wegweisen.
Am andern Morgen ging er in das Haus an der
Subura, zu Mara. Sie strahlte, als Josef kam; ihrem klaren, runden
Gesicht, das jetzt etwas vollbäckig geworden war, sah man jede
Regung sogleich an. Auch der Junge freute sich offensichtlich. Er
war mit seinem Modell vorangekommen, bald wird er es dem Vater
zeigen können. Mara lief geschäftig ab und zu. Sie machte Josef ein
kaltes Fußbad zurecht; sie wußte, daß er, wenn er zu Fuß kam, es
liebte, die Füße zu baden. Sie versuchte, es ihm behaglich zu
machen, brachte ihm den Schemel, Eisgetränke.
Josef ließ es sich herrenhaft
gefallen. Aber er verwandte keinen Blick von ihr, wie sie ab und zu
ging. Sie war ein bißchen dicklich geworden in diesen zehn Jahren.
Aber das sah er jetzt nicht, vielmehr sah er sie heute, wie er sie
während ihres ganzen Aufenthaltes in Rom nicht gesehen hatte, so
nämlich, wie sie damals in Cäsarea gewesen war. Seine Phantasie
wischte das Pausbäckige ihres Gesichts fort, er sah ihr Antlitz
rein, eirund, die niedrige Stirn schimmernd wie damals, die langen
Augen, den üppig vorspringenden Mund, das ganze, demütige, junge,
süße, galiläische Gesicht von damals, betont noch in seiner
Reinheit durch das dunkelbraune, viereckige Kleid mit den roten
Streifen, wie es im Norden Judäas landesüblich war. Verlangen nach
ihr stieg ihm auf wie in der ersten Zeit in Cäsarea.
»Und leid war die Sache sehr in
den Augen Abrahams.« Er hat Dorion das Versprechen gegeben. Dorion,
wie sie jetzt ist, ist nicht die Frau, ihm etwas zu schenken. Er
liebt seinen Sohn Paulus, und er hängt an Dorion. Vielleicht ist es
ein Unglück für ihn, daß er an ihr hängt; aber wie immer, er kann
nicht los von ihr. Er muß vorwärts jetzt, er muß es Mara
sagen.
Er drückte herum, es fiel ihm
schwer, anzufangen, den Frieden dieses Hauses zu stören. Ringsum
war die Seuche; aber in dem Zimmer hier war alles gut. Der Junge,
Simeon-Janiki, sein jüdischer Sohn, saß da, stämmig, beflissen, und
las aus dem »Jüdischen Krieg«, langsam, doch erfolgreich um den
Sinn bemüht, Mara hörte still zu, verständnislos und glücklich, und
ihm war es auferlegt, das alles zu zerstören.
Er riß sich zusammen. Mit
Ansprung erklärte er, jetzt, nachdem auch sein Schwiegervater
Fabuli an der Seuche gestorben sei, halte er es nicht für
angebracht, daß Mara mit dem Jungen länger in Rom bleibe. Simeon
sah überrascht hoch. Wie denn? fragte er. So lange habe die Seuche
ihm nichts anhaben können, er habe keine Furcht vor ihr. In kurzem,
überlegte er in seinem Innern, wird es so weit sein, daß er dem
Herrn und Vater das Modell wird zeigen können. Die ganze Arbeit
dieser letzten Wochen stak in dem Modell. Soll sie vertan sein? Wo
wird er einen zweiten so eifrigen Mitarbeiter finden wie seinen
Freund Constans?
Mara war keine kluge Frau, doch
wenn es um Josef ging, war sie spürsinnig. Von Anfang an hatte sie
heute erkannt, daß Josef ihr etwas zu sagen hatte, und nichts
Angenehmes, und jetzt erschrak sie sehr. Sogleich ahnte sie die
Zusammenhänge. Sie hatte sich über die Dame Dorion viel erzählen
lassen, sie wußte, daß sie ihr ein Dorn im Auge war. Sicher stak
die Dame hinter Josefs Vorschlag. So lange hatte Josef sie in Rom
geduldet; in diesen letzten Wochen schien es sogar, als sei ihre
und des Jungen Anwesenheit ihm eine Stärkung. Woher diese
plötzliche Besorgnis, nun doch die Seuche schon im Abklingen war?
Sicher war es die Dame, die sie forthaben wollte. Ist sie erst
einmal fort, dann wird die Dame zu verhindern wissen, daß sie
jemals zurückkommt. Ach, sie verstand das sehr gut. Sie selber an
Stelle der Dame hätte wohl auch nicht die Anwesenheit einer zweiten
Frau des Josef und ihres Kindes geduldet.
Dies alles spürte sie in einem
Augenblick, und die Freude auf ihrem stillen und fröhlichen Gesicht
erlosch sichtbarlich. Aber sie machte nicht erst lange, lahme
Widerreden. Sie verwies dem Jungen seinen Widerspruch, und sie
selber fügte sich. In ihrem Innersten hatte sie niemals an den
Bestand dieses ihres Glückes geglaubt, und gerade als Josef ihr
versprach, er werde den Jungen bei Freunden erziehen lassen, hatte
sie zu zweifeln begonnen. Wenn Josef, ihr Herr, es wünschte, dann
ging sie natürlich. Ja, er wünschte es, er wünschte, daß sie zurück
nach Judäa gehe. »Nach Judäa?« fragte finster und widerspenstig
Simeon, aber die Mutter gab ihm einen Blick, vorwurfsvoll, traurig
und bittend zugleich, und er schwieg.
Sowie sie indes mit dem Jungen
allein war, änderte sie ihre Haltung. Sie begriff die Dame Dorion,
sie ehrte und liebte ihren Mann Josef, aber diesmal fügte sie sich
nicht ohne weiteres. Wenn es um sie allein ginge, dann wohl: aber
es geht um ihren Jungen. Jeder muß sehen, wie der in Rom aufblüht,
wie die Stadt sowohl als auch die Gegenwart seines Vaters dazu
beiträgt, ihn blühen und gedeihen zu machen. In Judäa verwildert
er. Soll sie ihn aus dem Licht zurück in den Schatten bringen? Sie
denkt nicht daran.
Sie eröffnete sich Josef und
ihrem Freund, dem Glasfabrikanten Alexas. Der beleibte Herr hörte
zu, ohne sie zu unterbrechen. Es war ein vielerprobter Mann, er
hatte mehr Leid erfahren als die meisten andern, hatte alle
verloren, die ihm lieb gewesen waren. Jetzt waren ihm diese Frau
aus Judäa und ihr Junge lieb geworden, durch den netten, geweckten
Simeon war neuer, fröhlicher Lärm in sein ödes Haus gekommen, er
wollte nicht, daß die beiden fortgingen und sein Haus wieder stumm
werde. Er hatte erfahren, wie schnell Freude entschwindet. Er fand
es frivol, dieses fröhliche Leben ohne Kampf ziehenzulassen, und
begriff nicht, wie Josef die beiden fortschicken konnte.
Die Nacht über dachte er nach.
Den andern Tag glaubte er, einen Ausweg gefunden zu haben. Er wird
Mara heiraten. Er wußte natürlich, warum Josef Mara aus Rom
forthaben wollte. Aber wenn Mara eines andern Frau ist, kann dann
ihre Anwesenheit die Dame Dorion stören?
Als Josef das nächste Mal in das
Haus an der Subura kam, um mit Mara die Einzelheiten ihrer
Rückreise zu besprechen, war zu seinem nicht angenehmen Erstaunen
auch Alexas da und teilte ihm die Lösung mit, die er gefunden
hatte. Josef schien der Plan nicht willkommen. Er wußte leider, daß
die Dame Dorion nicht so leicht zu befriedigen war, wie sein Freund
Alexas glaubte. Dorion war heftig, sicher nicht war sie mit einer
solchen halben Lösung einverstanden. Josef verlor sie, wenn Mara in
Rom blieb. Auf der andern Seite wagte er nicht recht, seinem
Freunde zu widersprechen. Wenn der Mara heiraten wollte, woher
sollte er, Josef, den Anspruch nehmen, ihn zu hindern? Niemand
nannte den Namen der Dame Dorion, aber alle wußten, daß es im
Grunde nur um sie ging. Man sprach hin und her und kam nicht vom
Fleck.
Mara sah Josefs Zögern. Die
Freundschaft des Alexas, sein Antrag waren ihr als ein neuer,
unerwarteter Glücksfall erschienen. Nun mußte sie erkennen, daß,
wenn sie in Rom blieb, ihre Gegenwart nur den Zorn Josefs, ihres
Herrn, erregen, daß sie ihm als Frau des Alexas in Rom ferner sein
werde als in Judäa. Aber ging es nicht um den Jungen? War es nicht
notwendig, Simeon-Janiki in Rom zu halten unter etwas strafferer
Zucht? Sie fand keinen Ausweg.
Alexas schließlich fand ihn. Wenn
sein Freund Josef so sehr um Maras Gesundheit fürchte, so sei es
vielleicht das klügste, wenn Mara auf einige Zeit nach Judäa
zurückkehre, schon um dort ihre und des Simeon Dinge endgültig zu
ordnen. Der Junge aber habe doch wirklich von der Seuche nichts zu
befürchten; es ereigne sich äußerst selten, daß so junge Menschen
von ihr befallen werden. Er schlage also vor, Mara solle vorläufig
allein nach Judäa zurückkehren, Simeon-Janiki aber gewissermaßen
als Pfand in seinem Hause zurückbleiben.
Mara saß stumm und erloschen da.
Der Vorschlag des Alexas war gut gemeint, doch auf diese Art verlor
sie ihren Mann sowohl wie ihren Sohn. Aber sie begriff, daß es
einen andern Ausweg nicht gab, wenn sie nicht den Zorn Josefs
erregen wollte. Sie klammerte sich daran, daß diese Regelung nur
eine »vorläufige« sein sollte, und fügte sich.
Josef und der Junge begleiteten
sie auf das Schiff. Das war eine Reise von drei Tagen, und sie
rechnete dem Josef seine Höflichkeit hoch an, denn er war erkältet
und pflegte sich zu verwöhnen.
Es war merkwürdig, wie sie sich
auf dieser Reise in die frühere Mara zurückverwandelte. Sie
verlernte vollends ihr bißchen Griechisch und Latein. Sie
bewunderte ihren Jungen, der soviel geschickter und erwachsener war
als sie. Mit vielen demütigen Worten, immer von neuem, bat sie
Josef, sich seiner anzunehmen. Alexas ist ein guter Mann und ihrem
lieben Simeon-Janiki zugetan, aber wie soll ein Sohn gedeihen ohne
den Segen und die Liebe des Vaters? Zweimal in der Woche oder
einmal wenigstens müsse Josef ihn vor sein Antlitz lassen, das
müsse er ihr versprechen. Josef versprach es, versprach mehr. Er
war gewillt, sein Versprechen zu halten, er hatte seinen jüdischen
Sohn gern. Simeon-Janiki war sein Erstgeborener. Der Erstgeborene
seines Herzens freilich blieb sein Sohn Paulus.
Mara, als man den Steg schon
weggezogen hatte und das Schiff sich in Bewegung setzte, rief ihm
noch zu, er solle ja sofort zurückkehren. Er solle um Gottes willen
sogleich nach seiner Rückkehr Kamillen mit Mangold und zerstoßener
Kresse, in alten Wein gemischt, zu sich nehmen und richtig
schwitzen. Er müsse ihr mit nächster Post schreiben, wie es um
seine Erkältung stehe. In ihrem Innern machte sie sich Vorwürfe,
daß sie seine Begleitung angenommen hatte; denn sie fürchtete,
jetzt sei er der Seuche leichter zugänglich.
Dann stach das Schiff in See. Sie
stand lange auf dem Hinterdeck. Josef und Simeon verschwanden
rasch, langsam die Küste Italiens. Sie aber stand noch, als die
Küste schon lange verschwunden war.
Simeon-Janiki liebte seine Mutter, er fühlte
sich männlich vor ihr, wie ein Erwachsener vor einer Unmündigen.
Trotzdem mußte er sich, wenn er ehrlich sein wollte, in den Wochen
nach ihrer Abreise eingestehen, daß er froh war, sie jetzt nicht um
sich zu haben. Denn es waren sehr ausgefüllte Wochen, und seine
Mutter hätte ihn behindert.
Nachdem nämlich die Seuche ihre
Kraft verloren hatte und die Begüterten von ihren Landsitzen
zurückkehrten, kündigte jetzt auch der offizielle »Tagesanzeiger«
endlich an, daß die Prinzessin Berenike in zwei Wochen in Rom
eintreffen werde. Schon hatte auch der Kaiser dem Senat mitgeteilt,
er habe beschlossen, die Eröffnung des neuen, von seinem Vater
begonnenen Amphitheaters, des größten der Welt, durch Hunderttägige
Spiele von niegesehener Pracht zu feiern. Nicht erwähnt in seinem
Schreiben war, daß diese Spiele Berenike galten, aber jedermann im
Reich wußte es.
Die Stadt tauchte in ihr altes,
fröhliches Leben herauf, die Vorbereitungen der Spiele setzten
alles in Bewegung. Die Knaben Simeon und Constans hatten groß zu
tun, sie konnten sich nicht vorstellen, daß ohne ihre Mithilfe
alles ordentlich vonstatten gehe. Selbst die Arbeit am Modell der
»Großen Deborah« blieb liegen.
Sie trieben sich in den
Stallungen der Pferdezüchter herum, der Unternehmer, die für die
Wagenrennen das Material lieferten, der »Blauen« und der »Grünen«.
Das ganze Reich war geteilt in diese beiden Rennparteien. Denn seit
hundert Jahren, seitdem den Römern mit der Möglichkeit der
politischen Betätigung auch die politische Leidenschaft verraucht
war, galt ihre ganze Passion den Pferderennen, und mit wilder
Anteilnahme verfolgte ein jeder die Siege und Niederlagen seiner
Rennpartei. Selbst die »Gläubigen«, die Minäer, die »Christen«, wie
einige sie nannten, Anhänger einer neuen, mild und strengen,
asketischen Sekte, konnten sich dieser allgemeinen Strömung nicht
entziehen. Der Terrainhändler Tryphon zum Beispiel, ein Anhänger
dieser Sekte, ein Landsmann und Geschäftsfreund des Freigelassenen
Johann von Gischala, interessierte sich jetzt mehr für die Chancen
der »Blauen« als für die Terrains im Norden oder für die
Abweichungen seines Glaubens von den Lehrmeinungen der Doktoren.
Als Johann ihn verwundert fragte, ob denn überhaupt die Lehren
seiner Sekte ihm erlaubten, den Wagenrennen beizuwohnen, antwortete
dieser »Gläubige« unerwartet liberal, man dürfe die
Ergötzlichkeiten nicht verschmähen, die Gottes Güte gewährt habe.
Und als Johann auch dann noch den Kopf schüttelte, wies der Christ
Tryphon auf die Heilige Schrift hin und berief sich auf den
Propheten Elias. Da dieser auf einem Wagen gen Himmel gefahren sei,
so könne, meinte er, die Kunst des Wagenlenkens vor Gottes Augen
nicht mißfällig sein.
Simeon war »grün«, Constans
»blau«. Es war den »Blauen« geglückt, sich den »Vindex« als
Hauptpferd für ihr wichtigstes Viergespann zu sichern. Das war ein
Ereignis, vor dem selbst die geplante Heirat des Walfischs mit der
Jüdin zurücktrat. Der Hauptmann Lucrio zum Beispiel war »blau«, und
beinahe vergaß sogar er seine Antipathie gegen die östliche Dame,
weil man jetzt das Pferd Vindex für die »Blauen« in Rom rennen
sehen sollte.
Die beiden Knaben, täglich aus
den Stallungen hinausgeworfen, ersannen täglich neue Vorwände, sich
wieder Zugang zu verschaffen. Constans erlahmte allmählich. Aber
Simeon war erfinderisch. Er bestach etwa den Türsteher mit
Amuletten, die den eigenen Gespannführern Sieg, den Gegnern
Untergang bringen sollten; er fertigte das Zeug selber an,
ägyptische Beschwörungsformeln, sonderbar geritzte Alexandermünzen,
kleine Zauberglöckchen für die Pferde. Es gelang ihm, mit dem einen
oder andern der Gespannführer ins Gespräch zu kommen. Die Beine
gegrätscht, fachmännisch stand er da und zitierte, was der Champion
Thallus, Tausendsieger, ihm einmal in Cäsarea gesagt habe,
kennerhaft beklopfte er die Hälse und Schenkel der Pferde, verglich
sie mit dem Pferd Silvan, auf dem er einmal gesessen sei, und
Constans stand voll neidischer Bewunderung daneben.
Nun hatte Constans von einem
Kameraden ein graues Eichhörnchen erworben, das sich in die Stadt
Rom verirrt hatte, und er versprach dem Simeon dieses Eichhörnchen,
falls der ihm erwirke, daß er einmal auf dem Gaul Vindex sitzen
dürfe. Simeon, keß, wie er war, traute sich das wohl zu. Es gab
aber ein Hindernis. Der Gaul Vindex lief für die »Blauen«, und er,
Simeon, war »grün«. Er war »grün« geworden damals, als der Champion
Thallus sich ihm gegenüber so anständig benommen hatte, und nicht
für den Gaul selber hätte er seine »grüne« Überzeugung verleugnet.
Glücklicherweise aber fragte ihn niemand nach seiner
Parteizugehörigkeit. Er ging schließlich bei den »Blauen« ebenso
ein und aus wie bei den »Grünen«, und er erreichte es, daß der
Gespannführer Avil, der beste Mann der »Blauen«, vorläufig ihn
selber einmal auf dem Gaul Vindex sitzen ließ. Klein, breit und die
Brust fast gesprengt vor Stolz, saß er auf dem fünfjährigen
Vollblut. »Beim Herkel«, sagte er, »mit diesem Gaul könnte man
glatt Indien erobern.«
Zunächst aber galt es, das graue
Eichhörnchen zu erobern. Allein gerade als er soweit war, dem Avil
die Bitte vorzutragen, auch seinen Freund Constans einmal auf dem
Vindex reiten zu lassen, ereignete sich ein Unglück, das die ganze
Stadt bewegte. Avil war neben Thallus wohl der beste Mann der
Rennbahn, auch er war Tausendsieger, tausendundsieben Siege hatte
er hinter sich. Er lebte in Gallien und war nach Rom gekommen, um
rechtzeitig mit dem Training auf der Großen Rennbahn zu beginnen.
Da, zwei Wochen vor seinem Auftreten, gerade noch kurz vor ihrem
endgültigen Verlöschen, packte ihn die Seuche, und er starb, bevor
er den Constans auf den Vindex gesetzt hatte.
Der Tod ihres Freundes Avil
verleidete den Knaben die Stallungen. Um so häufiger machten sie
sich nun in den Kasernen der Fechter zu schaffen. Hier ging es fast
noch bewegter zu als bei den Rennern. In die Quartiere der Fechter
Zutritt zu erhalten war übrigens leicht. Die Herren, denen die
Organisation der Fechterspiele oblag, entfalteten eine wilde
Werbetätigkeit, und ihnen war jedes Interesse willkommen. Sie
standen nämlich vor schweren Problemen. Das Material, das man für
die Hunderttägigen Spiele benötigte, war ungeheuer, etwa
fünfzehntausend Menschen; überdies mußte man bei der größeren
Hälfte der diesmal auf den Aufführungslisten Bezeichneten von
vornherein das schwarze »P« beifügen, den Anfangsbuchstaben des
Wortes »Periturus«, »vermutlich verloren«: sie waren bestimmt, im
Lauf der Spiele zu krepieren. Nun standen zwar aus der jüdischen
Kriegsbeute von vor zehn Jahren noch etwa achttausend Stück
Leibeigene zur Verfügung. Aber war es taktvoll, dieses Material bei
einer Veranstaltung zu verwenden, die zu Ehren einer jüdischen
Prinzessin abgehalten werden sollte, noch dazu der künftigen
Kaiserin? Auf alle Fälle tat man gut, wenn man, um notfalls auf
dieses Hauptreservoir verzichten zu können, anderes Material in
hinreichenden Mengen bereitstellte. In der großen Stadt konnte man
immer Menschen auftreiben, die sich, da sie am Verhungern waren,
als Fechter für die Arena anwerben ließen. Zwar war die strenge
Zucht der Kasernen gefürchtet, und der Eid, den man bei der
Anwerbung zu leisten hatte, »sich mit Ruten hauen, mit Feuer
brennen, mit Eisen töten zu lassen«, wirkte abschreckend.
Andernteils aber war die Verpflegung in den Kasernen berühmt, es
war die reine Mast, und die Aussicht, zweimal im Leben, nämlich bei
dem großen öffentlichen Festmahl, das man den Fechtern vor ihrem
Auftreten gab, und in der Arena selber, angestarrt zu werden wie
ein Senator, entschädigte manchen für die Furcht vor dem Tode. Auch
galt man als Fechter bei den Frauen; von gewissen Damen der
Hocharistokratie war bekannt, daß sie sich mit Vorliebe Fechter als
Genossen ihrer Nächte aussuchten, besonders unmittelbar vor ihrem
Auftreten, was zwar die Chance, mit dem Leben davonzukommen,
minderte, aber doch seinen Reiz hatte. Trotz dieser Lockmittel
konnten sich die Organisatoren nur mittels einer ungeheuren
Werbetätigkeit die nötige Anzahl von Fechtern verschaffen, und sie
zeigten eine erfinderische Phantasie. Simeon und Constans sahen und
hörten einmal mit brennendem Interesse mit an, wie ein Direktor der
Fechterschulen einem Berichterstatter des »Tagesanzeigers« das neu
einge stellte Material vorführte, eine ganze Anzahl Freigeborener.
Der Direktor wies vor allem auf einen, übrigens ziemlich mikkerig
aussehenden, jungen Menschen hin, der den Namen einer anständigen
Familie trug. Dieser Jüngling erklärte, er habe sich deshalb als
Fechter verpflichtet, weil er das Handgeld brauche, um die Leiche
seines Vaters, der als einer der letzten an der Seuche gestorben
war, der Verbrennung zu entziehen und sie, dem Testament zufolge,
beerdigen zu lassen; wahrscheinlich war dieser Vater ein
sogenannter »Gläubiger« oder Christ gewesen. Der Berichterstatter
versprach sich viel von der Wirkung dieser romantischen
Geschichte.
Die Fechter waren übrigens
zumeist umgängliche Burschen und ließen sich, wenn sie nicht gerade
trainierten, aßen oder schliefen, ohne weiteres mit den beiden
Knaben in Gespräche ein. Sachkundig beurteilten Simeon und Constans
ihre Technik, betasteten ihre Waffen, befühlten ihre Muskeln, gaben
Ratschläge.
Bisher war das Lieblingsspiel der
römischen Jungen »Engländer und Soldaten« gewesen. Die wilden
Engländer hatten vom letzten Krieg her in Rom eine nachdrückliche
Erinnerung hinterlassen, vor allem durch ihre blaue, barbarische
Kriegsbemalung, und zum Ärger ihrer Mütter waren die Jungen nicht
davon abzubringen, sich blau anzuschmieren und Engländer zu
spielen. Jetzt, und nicht zuletzt auf Betreiben des Simeon, wurde
dieses Spiel durch das Fechterspiel ersetzt. Die Jungen stachen und
hauten mit Holzwaffen aufeinander ein, und weithin durch die
Straßen, schauerlich, im Sprechchor, gellte und heulte ihr Schwur,
»sich mit Ruten hauen, mit Feuer brennen, mit Eisen töten zu
lassen«. Oh, wie bedauerten sie, daß sie nicht das vorgeschriebene
Mindestalter hatten, um diesen Schwur in Wahrheit zu leisten und
Fechter zu werden.
Das Niederträchtigste blieb, daß
man, da man noch nicht vierzehn Jahre alt war, nicht einmal
Aussicht hatte, in den Zuschauerraum des Amphitheaters
einzudringen. Simeon zwar vermaß sich, er werde es erreichen.
Wieder versprach ihm Constans das graue Eichhörnchen, wenn er, auf
welche Art immer, auch ihn in den Zuschauerraum einschmuggeln
könnte. »Beim Herkel«, versicherte Simeon, mit großartiger
Beiläufigkeit,
»das werden wir schon deichseln.«
Aber dieses leichtsinnige
Versprechen kostete ihn schlaflose Nächte. Ja, oft auch bei Tage
versank er in Nachdenken. Manchmal, im Bewußtsein, daß seine Mutter
nicht da war und er also keine langen, lästigen Fragen über den
Genuß verbotener Nährmittel zu fürchten habe, kaufte er sich wohl
eine mit Honig bestrichene Eselswurst, und dann konnte man ihn
klein und breit auf den hohen Stufen irgendeines Tempels sitzen
sehen, träumerisch die Wurst verzehrend und Pläne wälzend, wie er
sich wohl mit Constans während der Spiele in das Amphitheater
einschleichen könnte.
»Was meinen Sie, mein Demetrius?« unterbrach
plötzlich Marull die Arbeit am Manuskript des »Seeräubers Laureol«.
»Wie wäre es, wenn wir die Seeräuber zu entlaufenen Leibeigenen
machten?« Der Schauspieler Demetrius Liban sah hoch. »Wie das?«
fragte er. Seine Unlust war mit einemmal fort, sein ganzes,
gedunsenes Gesicht spannte sich.
Auch für ihn waren diese Wochen
vor den Spielen eine große Zeit. Seit den Trauerfeierlichkeiten für
den verstorbenen Kaiser war er nicht mehr öffentlich aufgetreten.
Er hatte sich für eine große Gelegenheit aufsparen wollen: nun, mit
den Hunderttägigen Spielen, war diese große Gelegenheit da. Seit
seiner Kindheit war es sein Lieblingstraum gewesen, den Seeräuber
Laureol darzustellen, den beliebtesten Verbrecher des Jahrhunderts,
Helden eines alten Volksspiels des Catull. Immer wieder hatte er es
sich versagt, diese Rolle zu spielen, weil er sich ihr nicht
gewachsen fühlte. Jetzt, nach so vielem Auf und Ab, war er
innerlich reif, jetzt konnte er der alten, halbtoten Figur frischen
Odem einhauchen, den Odem seiner eigenen Zeit. Allein er war mit
der Arbeit nicht so gut vorangekommen, wie er gehofft hatte. Auch
Marull, der ihm das Buch schrieb, schien schwunglos. Schon seit
drei Wochen plagten sie sich ab; doch das Manuskript, sie fühlten
es beide, ohne es sich einzugestehen, blieb lahm. Das war nicht der
»Laureol«, von dem sie geträumt hatten.
Wie nun Marull plötzlich diese
neue Idee mit den Leibeigenen in die Debatte warf, hob den
Schauspieler neue Hoffnung. »Sie werden sehen, mein Demetrius, es
geht«, fuhr Marull angeregt und zuversichtlich fort. »Ich
rekapituliere, was wir für das Vorspiel haben«, sagte er auf die
sachliche Art, die er sich von seiner juristischen Betätigung her
angewöhnt hatte. »Gesindel hat sich zusammengetan, Deserteure,
entlaufene Leibeigene zumeist, wenn wir meinen neuen Einfall
bringen wollen. Sie haben ihren ersten Handstreich gemacht, ihr
erstes Schiff gekapert und sind jetzt in einer versteckten Bucht
eingelaufen, um in Ruhe die Beute zu teilen. Sie sind vergnügt, sie
malen sich aus, wie sie diesen ersten Verdienst aus ihrem
Räuberdasein verwenden wollen. Die meisten tragen das ›E‹
eingebrannt, das die zur Zwangsarbeit bestimmten Leibeigenen
kennzeichnet.«
»Ich sehe schon«, sagte
Demetrius. »Ausgezeichnet. Und jetzt lassen wir einen Hausierer
auftreten, von dem die Kerle zunächst ein großes Quantum der Salbe
des Scribon Larg kaufen, um dieses Zeichen verschwinden zu machen.«
– »Ja«, sagte Marull. »Dabei haben sie natürlich gar kein Zutrauen
zu der Salbe. Sie fürchten, der Mann hängt ihnen Schwindelware auf,
wie immer heutzutage.« Der Sekretär stenographierte eifrig mit.
»Finden Sie nicht«, fragte Marull, »daß wir durch diese Geschichte
mit den Leibeigenen gewinnen? Merken Sie, worauf ich
hinauswill?«
Und ob Liban es merkte. Das war
der Nagel, das war die Lösung. Auf diese Art endlich hatte man die
so heiß ersehnte Aktualität. Wenn irgend etwas aktuell war, dann
das Leibeigenenproblem. Seit Jahrzehnten gingen die Bestrebungen
der modernen Philosophen und Juristen dahin, die Existenz der
Leibeigenen zu erleichtern. Niemand selbstverständlich, sei es
Grieche oder Römer, sei es Jude, Ägypter oder Christ, sei es
Ideolog oder praktischer Politiker, denkt daran, die
Leibeigenschaft ganz aufzuheben. Es ist klar, daß dann jede
geregelte Produktion, daß Zivilisation und gesellschaftliche
Ordnung dann aufhören müßten. Immerhin verkünden eine ganze Anzahl
moderner Schriftsteller und Politiker unablässig, es sei
vernünftiger und entspreche mehr den heutigen humanen Anschauungen,
die Abhängigkeit der Leibeigenen zu mildern. Sie haben auch in den
letzten Jahrzehnten einige Erfolge erzielt. Schon ist es zum
Beispiel zum Ärger der Konservativen und der Gruppe der »Echt
Römischen Männer« durch Edikt verboten, Leibeigene ohne
Richterspruch zu töten; die Liberalen haben sogar einen
Senatsbeschluß erwirkt, dem zufolge man nicht einmal mehr einen
Leibeigenen ohne weiteres an ein Bordell verkaufen darf. Dieser
unser Marull ist noch weiter gegangen; er hat, als er noch im Senat
saß, ein Gesetz eingebracht, dem zufolge es verboten sein sollte,
ausgediente, nicht mehr verwertbare Leibeigene auf die Straße zu
werfen und verhungern zu lassen; vielmehr sollten Besitzer von
senilen, nicht mehr brauchbaren Leibeigenen, falls man ihnen diese
nicht für die Spiele in der Arena abnahm, gehalten sein, ihnen
täglich ein Stück Brot und zweimal im Monat etwas Knoblauch und
Zwiebel zu liefern. Selbstverständlich ist er mit so radikalem
Liberalismus nicht durchgedrungen. Aber es ist eine großartige
Idee, und niemand weiß sie besser zu schätzen als Liban, wenn
Marull jetzt von der Bühne her, bei Gelegenheit des »Laureol«,
dieses Problem von neuem anschneiden will.
»Ja«, erwiderte also Liban, »das
ist die Lösung. Jetzt haben Sie es geschafft, Senator Marull.
Weiter, bitte. Sagen Sie, wie denken Sie sich die Handlung weiter?«
Marull war in Schwung gekommen, er improvisierte, improvisierte mit
Glück. »Unsere Seeräuber trinken. Sie trinken viel. Unter dem
Einfluß des Weins schwatzen sie von ihrer Vergangenheit. Sie zählen
die Mühen und Mißhandlungen ihres früheren Leibeigenendaseins auf;
keiner will dem andern an Fülle des durchgemachten Elends
nachstehen. Sie streiten, sie werden immer heftiger. ›Wer hat am
meisten zu leiden gehabt?‹ schreien sie sich an. ›Du? Mit deinem
bißchen glühender Zange? Das soll auch was sein?‹ Und sie gehen mit
Fäusten, Rudern, Enterhaken aufeinander los.« – »Ich sehe«, sagte
enthusiastisch Demetrius, »ich verstehe, ich bin im Bilde.« Und mit
rascher Bühnenphantasie führte er die Idee des Marull aus: »Sie
singen ein Couplet. So etwa: ›Ich kenn die Peitsche, / Ich kenn das
Eisen, / Ich kenn das Feuer, / Die Nackenkette, / Und ich, ich hing
schon einen Tag am Kreuz.‹« Er pfiff und sang das Couplet vor sich
hin. »Ja«, sagte Marull. »Fein. In dieser Art etwa. Und dann kommen
Sie, Laureol, und schlagen die wildesten unter den Räubern kurz und
klein.« – »Und dann spiele ich mich in den Vordergrund«, arbeitete
Demetrius beflissen weiter. »Ich erzähle, was ich selber erlitten
habe, wie man mich erst auf die Galeere geworfen hat, dann in die
Bergwerke, dann in die Steinbrüche, wie man mich dann an die
Wasserpumpe der Bäder gestellt hat, dann an die Tretmühle.« – »Ja«,
fiel ihm Marull ins Wort. »Aber Sie, Liban-Laureol, machen
natürlich kein Wesens daraus. Sie haben das alles gut und ohne
sonderliches Mißbehagen überstanden und geben glatt zu, daß jeder
von Ihren Kollegen mehr gelitten hat als Sie.« – »Großartig«, sagte
Demetrius und sah sich schon mit vernichtender Schlichtheit diese
Erklärung abgeben. »Da müssen sie mich dann natürlich zu ihrem
Hauptmann machen«, freute er sich.
»Und nun wollen wir sehen«,
überlegte Marull, »ob wir uns im weiteren Ablauf durch diese Idee
mit den Leibeigenen nichts gefährden.« Und, wieder auf seine
umsichtige Art, rekapitulierte er, während der Sekretär
stenographierte, den Fortgang des Stückes: wie der berühmte
Seeräuber, alt, fett und bürgerlich geworden, sich unter falschem
Namen zur Ruhe gesetzt hat und wie er jetzt, behaglich verheiratet,
die Ehrenämter seines Dorfes bekleidet. Da kommt ein Bettler, ein
entlaufener Leibeigener, und erzählt, um sich mit Romantik zu
umgeben und dadurch bessere Geschäfte zu machen, heimlich den
Frauen, er sei der große, verschollene Räuber Laureol, nach dem die
Polizei noch immer vergeblich sucht. Sogleich auch ist Geraun,
Furcht und Bewunderung um ihn. Das hält der wirkliche Laureol nicht
aus. Er flüstert seinen Freunden, seinen Kollegen im Magistrat zu,
wer er ist. Aber jedermann hält es für einen guten Spaß, niemand
glaubt ihm, nicht einmal die eigene Frau. Man lacht ihn einfach
aus. Der fette Mann, immer mehr erbittert, besteht darauf, der
große Seeräuber zu sein, er schäumt. Und da er keinen Glauben
findet, bringt er schließlich die Beweise. Er trommelt seine alten
Kumpane zusammen, die Leibeigenen, er liefert sich selber der
Polizei, dem Gericht. Er endet am Kreuz, aber er hat bewiesen, daß
er er ist. Und wenn die andern ihr Couplet singen: »Ich kenn die
Peitsche, / Ich kenn das Eisen, / Ich kenn das Feuer, / Die
Nakkenkette«, dann kann er mit Recht vom Kreuz her
erwidern:
»Und ich, ich häng den ganzen Tag am
Kreuz.«
Das Gesicht fast töricht vor
Aufmerksamkeit, hörte Demetrius zu, wie Marull den Inhalt des
Stückes zusammenfaßte. Ja, nun war es endlich da. Das war das
Stück, von dem er geträumt hatte, sein Stück. Jetzt war aus der
sentimental pathetischen Gestalt des alten Seeräubers das geworden,
was er darstellen wollte, ein Symbol des Rom von heute. »Ja«,
atmete er tief auf, als Marull geendet, »das ist es, jetzt haben
wir es. Jetzt haben Sie es«, korrigierte er sich höflich. »Dafür
kann ich Ihnen mein ganzes Leben lang nicht genug danken«, fügte er
voll tiefer Freude hinzu.
»Wissen Sie«, fragte Marull
zurück und klopfte nachdenklich mit seinem eleganten Bettelstab den
Boden, »wem Sie in Wahrheit zu danken haben? Unserem Freund Johann
von Gischala. Ich weiß, Sie mögen ihn nicht. Aber denken Sie nach,
und sagen Sie selbst, ob wir ohne ihn auf diesen Laureol gekommen
wären.«
Aber Demetrius Liban, ganz
erfüllt von innerer Freude, dachte keineswegs an die Parallelen,
die das Schicksal dieses Laureol, wenigstens in seinem ersten Teil,
mit der Geschichte des Nationalhelden Johann von Gischala aufwies.
Er atmete vielmehr tief auf, mehrmals. Eine große Last fiel von ihm
ab. Es war dies: Jahve hat sein Antlitz von ihm abgewandt, und daß
die Arbeit der letzten Wochen so schwunglos geblieben war, hatte
ihm bestätigt, daß Gott ihm noch immer zürnte. Denn noch immer
nicht war die Rechnung zwischen ihm und Jahve ausgeglichen. Ganz
abgesehen von der Sache damals mit dem »Juden Apella«, war er,
solange der Tempel stand, niemals seiner Verpflichtung
nachgekommen, nach Jerusalem zu wallfahrten. Seine Absicht zwar war
es immer gewesen, und er hatte Entschuldigungsgründe. Wirkte er
nicht hier in Rom auf seine Art zur größeren Glorie der Juden und
somit zur Ehre Jahves? Verwandte er nicht seinen Einfluß und einen
Teil seines Einkommens für jüdische Zwecke? Zudem litt er unter der
Seekrankheit und hatte sogar aus diesem Grund lokkende Gastspiele
nach dem verhältnismäßig nahen Griechenland abgelehnt. War er es
nicht seiner Kunst schuldig, Leib und Geist frisch zu erhalten? Das
waren gewiß triftige Gründe. Ob sie aber vor Jahve verfingen, daran
zweifelte er im stillen. Denn hätte Jahve sie gelten lassen, dann
hätte er ihn wohl kaum mit so vielen Heimsuchungen geschlagen.
Jetzt aber sah er die Wolken verfliegen. Jahve wandte ihm
sichtbarlich sein Antlitz wieder zu. Liban dankte seinem Gott mit
all seinen Gebeinen, daß er dem Marull diese herrliche Idee mit den
Leibeigenen gesandt hatte.
Laß es gelingen, betete er in
seinem Herzen, führ es gut hinaus. Und ich will, gleich nachdem ich
den Laureol gespielt habe, ich will nach Judäa fahren. Glaub es
mir, Adonai, ich will. Bestimmt werde ich hinfahren, auch wenn dein
Tempel nicht mehr steht. Nimm es an. Laß es nicht zu spät sein. So
eifrig dachte er, daß er, der sonst so Beherrschte, die Lippen
bewegte und Marull ihn mit amüsiertem Erstaunen ansah.
Sehr viele und sehr verschiedene Menschen der
Stadt Rom trafen ihre Vorbereitungen für die bevorstehende Ankunft
der Prinzessin Berenike.
Quintilian, einer der am meisten
geschätzten Redner und Anwälte, Inhaber des Goldenen Rings des
Zweiten Adels, arbeitete Tag und Nacht an der Ausfeilung der beiden
Plädoyers, die er seinerzeit als Anwalt der Prinzessin vor dem
Senat gehalten hatte. Es war kein unmittelbarer prozessualer Anlaß,
der ihn genötigt hätte, die beiden Reden auszuarbeiten. Sie hatten
ihre Wirkung längst getan, die eine war vor drei, die andere vor
vier Jahren gehalten worden. Aber Quintilian war in stilistischen
Fragen sehr delikat, und die Stenographen hatten damals hinter
seinem Rücken seine Reden für die Fürstin Berenike in einer Fassung
publiziert, die von Hör- und Schreibfehlern strotzte. Ihn, dem ein
nachlässiges Übergangswörtchen, ein falsches Komma den Schlaf
raubte, hatte es krank gemacht, daß Reden in so übler Form unter
seinem Namen in der Welt verbreitet waren. Nun die jüdische Fürstin
kam, wollte er ihr die beiden Plädoyers in einer Fassung
überreichen, für deren winzigste Details er einstehen
konnte.
Auch in das Leben und in den
Tageslauf des Hauptmanns Kattwald griff die bevorstehende Ankunft
der Prinzessin ein. Kattwald, oder wie er sich jetzt nannte, Julius
Claudius Cha tualdus, der Sohn eines deutschen Stammeshäuptlings,
war in zartem Alter als Geisel an den Hof des Kaisers Claudius,
gekommen. Der deutsche Prinz war, auch als die Differenzen zwischen
seinem Stamm und dem Reich beigelegt waren, in Rom geblieben. Er
hatte am Leben der Stadt Gefallen gefunden, man hatte ihn erprobt
und ihm ein Detachement der deutschen Leibgarde des Kaisers
unterstellt. Titus nun hatte Order gegeben, daß das Detachement des
Chatualdus der Fürstin Berenike während ihres Aufenthalts in Rom
als Ehrengarde dienen sollte; die deutschen Soldaten galten als
ebenso zuverlässig wie stur. Sie verstanden die Landessprache
nicht, sie waren Wilde und hielten infolgedessen Disziplin. Aber,
das wußte der Hauptmann Chatualdus, es gab eine Sorte Menschen, die ihnen auf die Nerven
gingen: die Juden. In den Wäldern und Morästen der Deutschen
erzählte man wüste Märchen von den östlichen Völkern, von den Juden
im besonderen, wie feind sie allen blonden Menschen seien und daß
sie gern blonde Menschen ihrem eselköpfigen Gott als Schlachtopfer
darbrächten. Diese Erzählungen wirkten in den in Rom stationierten
deutschen Truppen nach, öfter schon, wenn sie mit östlichen
Menschen zu tun hatten, waren sie von Panik befallen worden. Als
zum Beispiel August, der Begründer der Monarchie, dem Judenkönig
Herodes eine deutsche Leibwache als Ehrengabe nach Jerusalem
sandte, hatte der König diese Soldaten bald unter einem höflichen
Vorwand zurückschicken müssen. Darum also war jetzt der Hauptmann
Julius Claudius Chatualdus voll Sorgen und Zweifel und verfluchte
die Schicksalsgöttinnen, die er abwechselnd als Parzen und als
Nornen bezeichnete, daß man gerade seinem Detachement diese
zweideutige Aufgabe zuwies.
Unter den Juden selbst herrschte Jubel und
Zuversicht. Dies äußerte sich auf die verschiedenste Weise. Da
waren etwa die Herren, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, für
den Freikauf der staatlichen Leibeigenen aus dem jüdischen Krieg
Gelder zu sammeln. Sonst flossen, gerade wenn Spiele bevorstanden,
die Spenden zu diesem Zweck sehr reichlich. Jetzt aber hatten es
die Sammler schwer. Immer wieder bekamen sie zu hören, es sei doch
äußerst unwahrscheinlich, daß man bei Spielen zu Ehren einer
jüdischen Prinzessin jüdisches Material für die Arena verwenden
werde, und sie wurden beinahe überall abgewiesen.
Andernteils änderte sich, nun der
Walfisch Ernst machte und die Jüdin offenbar wirklich auf den Thron
heben wollte, auch die Haltung der Römer. Viele, die bisher die
Juden als minderwertig betrachtet hatten, fanden jetzt, sie seien,
wenn man sich näher mit ihnen abgebe, nur wenig von einem selber
unterschieden. Viele, die bisher den Verkehr mit ihren jüdischen
Nachbarn gescheut hatten, begannen sich an sie heranzumachen. Die
Juden bekamen es zu spüren, daß Jahve sich nach so vielen
Heimsuchungen anschickte, seinem Volke sein Antlitz wieder
zuzukehren und ihm eine neue Esther zu senden.
Manche von ihnen, und zwar gerade
diejenigen, die vorher die größte Angst und Servilität gezeigt
hatten, fanden sich nur zu rasch in die neue Situation und wurden
überheblich. Die Doktoren, besorgt um dieser Überheblichkeit
willen, ordneten an, daß man in allen Synagogen des Reichs an drei
Sabbaten hintereinander jenes strenge Kapitel des Propheten Arnos
verlese, das mit den Worten beginnt: »Wehe den Sorglosen in Zion«,
und das denjenigen, die »auf Betten von Elfenbein liegen und die
feisten Lämmer und Mastkälber fressen«, die furchtbarsten Strafen
androht. Der Präsident der Agrippenser-Synagoge übrigens, der
Möbelfabrikant Cajus Barzaarone, war ein wenig verärgert, daß man
gerade das Kapitel mit den »Betten aus Elfenbein« gewählt
hatte.
Berenike, während das Schiff sich dem Hafen
Ostia näherte, stand auf dem Vorderdeck. Aufrecht stand sie, ihre
goldbraunen Augen suchten den näher kommenden Hafen voll gewollter
Zuversicht. Jahve war gnädig, er hatte die Seuche gesandt und ihr
dadurch nochmals Aufschub gewährt. Sicher hatten ihre Ärzte und
ihre Energie das Übel wirklich bewältigt, alle sagten es ihr. Sie
konnten doch nicht alle lügen.
Eine riesige Menschenmenge
empfing sie, als sie mit ihrem Bruder Agrippa den Landungssteg
überschritt. Vieltausendstimmig grüßte man sie, den rechten Arm mit
der flachen Hand ausgestreckt; der Senat hatte eine starke
Delegation abgesandt, Triumphbogen waren errichtet. Sie
durchschritt die Reihen der spalierbildenden Truppen, der Hauptmann
Chatualdus stellte ihr die deutsche Leibwache vor, die zu ihrem
persönlichen Schutz bestimmt war. Im Triumph fuhr sie nach Rom, zum
Palatin.
Titus stand in dem großen Portal.
Berenike schritt die Stufen hinauf, den Bruder an ihrer Seite,
lächelnd. Jetzt galt es, jetzt, sich zu bewähren. Für diese Minute
hatte sie Jahre hindurch gelebt, die letzten Monate hindurch
unsägliche Schmerzen ertragen. Die Stufen waren hoch. Schritt sie
nicht zu schnell? Zu langsam? Sie spürte ihren Fuß, sie darf ihn
nicht spüren, sie darf nicht daran denken.
Oben auf der Treppe stand der
Mann, angetan mit den Insignien der Macht. Sie kannte sein Gesicht,
das runde, offene Knabengesicht, das sie liebte, mit dem scharf
dreieckig einzakkenden Kinn und den kurzen, in die Stirn frisierten
Locken. Sie kannte jeden kleinsten Schatten darin, wußte, wie diese
Augen hart, eng und trüb waren, wenn er zornig wurde, wie schnell
und schlaff diese Lippe herabsinken konnte, war er enttäuscht.
Nein, sie sinkt nicht herab. Die Augen freilich sind trüb. Aber
wann je waren sie ganz klar? Sicher sind sie erfüllt von ihr,
befriedigt. Und nun kommt er ihr ja auch entgegen, nun ist ihre
Anstrengung zu Ende, sie hat gesiegt, sicher hat sie gesiegt,
sicher hat ihr Leben Sinn gehabt. Die Pein, die sie auf sich
genommen, die unsägliche Pein ihrer Seele und ihres Leibes, muß
doch Sinn gehabt haben.
Ja, Titus kam ihr entgegen.
Zuerst, wie der Brauch es erforderte, umarmte und küßte er den
Agrippa, dann sie. Er sprach ein paar Scherzworte zu ihr, wie lang
ihr Haar schon wieder geworden sei, er gab sich jungenhaft, froh.
Flüsterte ihr Liebesnamen ins Ohr, in seinem mühsamen Aramäisch aus
ihrer ersten Zeit: »Nikion, meine Wildtaube, mein Glanz.« Brachte
sie in ihre Zimmer. Während die Deutschen klirrend Wache bezogen,
fragte er, ob sie in einer Stunde von den Anstrengungen der Reise
so weit erholt sein werde, daß er sie besuchen dürfe, und
verabschiedete sich.
Berenike, während dieser Stunde,
badete, ließ sich salben. Richtete all ihre Gedanken auf Toilette
und Schmuck. Sie wollte nichts anderes denken. Sie prüfte dieses
Schmuckstück, jenes, dann ließ sie den ganzen Schmuck wieder
abnehmen und behielt eine einzige Perle. Sie verwandte ihr
kostbarstes Parfüm, jenen Opobalsam, von dem jetzt nur mehr dieses
letzte Fläschchen in der bewohnten Welt existierte.
Titus, während dieser Stunde,
hörte Bericht. Man hielt ihm Vortrag über den Fortgang der Bauten,
der Neuen Bäder vor allem, die der Vollendung nahe waren, über die
Vorbereitungen der Spiele. Er hörte sich alles an, doch nur sein
Ohr hörte, er sagte zerstreut: »Lassen wir es auf später. Später
werde ich mich entscheiden.«
Was war das gewesen? Er hatte
sich doch alle Jahre hindurch ohne Maß darauf gefreut, die Frau die
Stufen hinaufschreiten zu sehen, zahllose Male hatte seine
Phantasie die leeren Stufen geschmückt mit der heraufschreitenden
Berenike, und nun war sie gekommen, und warum jetzt war alles so
matt und leer? Wo war der Zauber hin, der von ihr ausging? War sie
anders geworden? War er anders geworden? Es war wohl das Schicksal
eines jeden Menschen, daß auch die schönste Erfüllung den
Ungeheuern Raum nicht füllen kann, den die Erwartung aushöhlt. Oder
vielleicht auch ist der Mensch ein zu schwaches Gefäß und kann eine
übergroße Freude nicht aufnehmen. Oder vielleicht auch hat er zu
lange warten müssen, und es ist wie mit ganz altem, edlem Wein, den
man nicht mehr trinken kann.
Dann war die Stunde vorbei, und
er war wieder mit Berenike zusammen. Es war die gleiche Berenike,
es war die Frau, die er so wütend begehrt hatte, die ferne,
östliche, überlegene, aus uraltem Königsblut, es war eine dunkle,
erregende, leicht heisere Stimme, es waren ihre Augen. Aber es war
doch nicht Berenike, der Glanz von früher war ein für allemal weg,
es war eine schöne, gescheite, liebenswerte Frau; doch schöner,
gescheiter, liebenswerter Frauen gab es viele. Er sagte sich vor,
was alles ihm diese Frau bedeutet hatte, aber es nützte nichts.
Seine Freude rann aus ihm, er fühlte eine ungeheure Leere und
Zerschlagenheit.
Er aß mit beiden Geschwistern zu
Abend, mühte sich, froh zu erscheinen. Agrippa war klug und heiter
wie stets, Berenike war schön und strahlend, sie war die
begehrteste Frau der Welt. Er aber begehrte sie nicht.
Er trank, um seine Begierde
anzustacheln.
Wie er dann wieder allein mit ihr
war, fand er denn auch verliebt stammelnde Worte wie früher, aber
während er sie sprach, war ein quälendes Wissen in ihm, daß es
abgeleierte, routinierte Worte waren. Er schlief mit ihr. Er
verspürte Lust. Doch er wußte, daß auch andere Frauen ihm die
gleiche Lust hätten verschaffen können.
Es war seltsam, daß die sonst so
geistesschnelle Berenike während der ganzen langen Mahlzeit nicht
gemerkt hatte, wie es um Titus stand. Ihr Bruder hatte es sogleich
erkannt; aber er hatte es nicht über sich gebracht, sie aus ihrer
Täuschung zu reißen. So mußte sie erst im Laufe der Nacht und von
allein auf die Wahrheit kommen. Es dauerte sehr lange, bis sie
daraufkam. Sie wollte sich nicht eingestehen, was war, und als sie
es sich eingestehen mußte, machte sie eine neue Erfahrung: daß es
nämlich Schmerzen gab, die bitterer waren als die ihrer letzten
Monate.
Als Titus sie noch vor
Mitternacht verließ, mit freundlichen, leicht verliebten Worten,
wußten beide, daß es zwischen ihnen für immer zu Ende
war.
Den Rest der Nacht lag Berenike
leer, ausgehöhlt. Nun die Anspannung ihrer letzten Monate von ihr
abfiel, überkam sie Erschöpfung, alle Glieder taten ihr weh, sie
glaubte, sie werde sich niemals mehr von dieser schmerzhaften
Erschöpfung befreien können. Eine Lampe brannte. Sie dachte: Diese
korinthischen Lampen hat man jetzt Jahrzehnte hindurch gesehen, man
hat sich müde daran gesehen, sie sind banal, die karthagischen sind
viel besser, man müßte es Titus sagen, er darf die korinthischen
nicht mehr verwenden. Dieses dachte sie mehrmals. Dann wieder
überkam sie das Gefühl ihrer lastenden Müdigkeit, ihr Fuß schmerzte
unerträglich. Sie wollte ein Schlafmittel nehmen, aber sie scheute
die Anstrengung, ihre Kammerfrau zu rufen. Endlich schlief sie
ein.
Andern Morgens, ziemlich früh
schon, war ihr Bruder bei ihr. Er fand sie gefaßt. Nichts mehr war
an ihr von der kramp figen Intensität, mit der sie sich bisher
zusammengerafft hatte. Vielmehr war sie voll von einer großen Ruhe.
Aber der Glanz war fort, jener Zauber, den selbst ihre Gegner nicht
geleugnet hatten.
Agrippa blieb zum Frühstück.
Berenike aß mit gutem Appetit. Sie teilte dem Bruder ihre
Entschlüsse mit. Sie wolle so bald wie möglich nach Judäa
zurückkehren, um den Winter auf ihren dortigen Besitzungen zu
verbringen. Sie denke, der Kaiser werde noch eine Abschiedsfeier
für sie veranstalten. Es war das erstemal an diesem Tag, daß sie
Titus erwähnte, und es tat Agrippa in der Seele weh, wie er sagen
hörte: »der Kaiser«. Im übrigen, fuhr sie fort, wolle sie hier nur
mehr mit zwei Leuten zusammenkommen, mit ihrem Rechtsvertreter
Quintilian und ihrem Chronisten Josef Ben Matthias. Sie sprach mit
solcher Entschiedenheit, daß es sinnlos gewesen wäre, mit ihr zu
debattieren. »Willst du, daß ich dich begleite, Nikion?« fragte
Agrippa. Berenike hatte offenbar auch diese Frage schon
vorbereitet. »Das wäre natürlich schön«, erwiderte sie. »Aber es
scheint mir aus vielen Gründen ratsam für uns beide, daß du zur
Eröffnung des Amphitheaters in Rom bleibst.«
Agrippa war ein weiser,
weltkluger Herr. Er hatte viel Schicksale sich wenden und vollenden
sehen, ungeheure Umschwünge einzelner Männer und ganzer Völker, er
glaubte sich auf Menschen zu verstehen, und mit Berenike war er
seit ihrer Geburt aufs innigste verknüpft. Er war auf vieles gefaßt
gewesen, aber nicht auf diese kühlen, ruhigen Erwägungen. War das
Nikion, seine Schwester?
Er nahm ihre Hand, er streichelte
sie, sie ließ es geschehen. Nein, das war nicht Nikion, die große
Leidenschaftliche, der das höchste Ziel nicht hoch genug war. Das
war nicht die Frau, die, es ist erst wenige Wochen her, nackt vor
ihm gelegen war, ihren ungeheuren Jammer und ihre noch größere
Hoffnung vor ihn hinschüttend. Das war eine fremde Frau: Berenike,
Prinzessin von Judäa, Fürstin von Chalkis, von Kilikien, eine der
ersten Damen des Reichs, klug, vernünftig und sehr fernab den
heißen Träumen, an denen sie ihn hatte teilnehmen lassen.
Stattlich saß der Anwalt da, seine braunen,
gewölbten Augen schauten von Berenike zu Agrippa. Er war ein
Abkömmling jener spanischen Familien, die, zu Beginn der Monarchie
in Rom eingewandert, sich hier schnell gesellschaftliches und
literarisches Ansehen erworben hatten. Er hatte es in der kurzen
Zeit geschafft: jene Reden, die er damals im Prozeß der Fürstin
gehalten hatte, waren jetzt bis ins Letzte ausgefeilt, würdig, der
Zeit als Beispiele großer Prosa zu dienen. Seine Tätigkeit, meinte
er höflich, während er Berenike die beiden Bändchen überreichte,
bedeutete ja nun keine Dienstleistung mehr für sie; denn mit ihrer
Ankunft in Rom sei der Prozeß wohl endgültig entschieden. So bleibe
ihm nur übrig, ihr zu danken, daß sie ihm Gelegenheit gegeben habe,
so vielen Menschen zu zeigen, was gutes Latein sei.
Er sei im Irrtum, erwiderte
Berenike, gerade jetzt brauche sie seine Hilfe mehr denn je. Sie
werde nämlich schon in den nächsten Tagen Rom wieder
verlassen.
Es gelang dem stattlichen und
würdigen Mann nur schwer, seine Bestürzung zu verbergen. Er hatte
die Vertretung der Fürstin, der »hebräischen Venus«, wie er sie im
Freundeskreis nannte, wirklich nur deshalb übernommen, weil er hier
eine lockende Möglichkeit sah, große Redekunst zu entfalten.
Berenikes Rechtsansprüche hatten eine umständliche Vorgeschichte.
Gerade das hatte ihn gereizt; er war berühmt wegen seiner
Fähigkeit, schwer Durchsichtiges lucid zu machen, die Logik der
lateinischen Sprache erlaubte es, auch die verwikkeltsten Dinge
klar darzustellen, und die lateinische Sprache und die Wahrung
ihrer edlen Tradition war ihm Herzenssache. An dem Prozeß selber
lag ihm wenig; ja, daß das Ende dieses Prozesses eigentlich von
vornherein feststand, war die unausgesprochene Voraussetzung
gewesen, unter der er das Mandat angenommen hatte.
Es ging um die Frage, wieweit mit
den Herrschaftstiteln der Berenike in Chalkis und Kilikien
faktischer Besitz, Steuersouveränität vor allem, verbunden war. An
sich bestand der Anspruch der Fürstin zu Recht. Gewiß hatte einmal,
vor Jahrzehnten, einer ihrer Vorgänger in der Herrschaft Handlungen
begangen, die ein römisches Gericht als Aufruhr hätte deuten und
mit der Annullierung der Steuersouveränität hätte bestrafen können.
Da Senat und Volk von Rom das aber damals unterlassen hatten, war
der Anspruch des Reichs verjährt, Berenike genoß ihre Privilegien
zu Recht. Andernteils ging es um hohe Werte, und die
Rechtsbestimmungen waren dehnbar.
Die ganze Stadt nahm an, daß, da
die Gunst des Titus hinter der »hebräischen Venus« stand, der
umständliche Prozeß eine reine Formsache war und mit einem sicheren
Sieg Berenikes enden müsse. Wenn sich die Angelegenheit so in die
Länge zog, dann nur deshalb, weil der knauserige Vespasian sich den
formalen Verzicht auf so hochwertige Rechte nicht abringen konnte,
trotzdem er faktisch längst vollzogen war; denn die Steuern waren
die ganze Zeit über in Berenikes Kassen geflossen. Nun Titus an der
Macht war, bestand kein Zweifel mehr, daß Rom in kürzester Frist
Berenike im Besitz ihrer Rechte bestätigen werde.
So war die Situation gewesen, als
Quintilian die Fürstin begrüßte. Jetzt, mit dem kurzen Satz der
Berenike, hatte sie sich erschreckend verändert. Im Lauf einer
Viertelminute war der Prozeß aus einer literarischen Angelegenheit
eine bedrohliche, politische geworden. In dem Augenblick, da Titus
nicht mehr hinter der Besitzerin der Herrschaften stand, wurde es
sehr zweifelhaft, ob Rom die große und leichte Beute werde
fahrenlassen.
Quintilian, während er sich
bemühte, gelassen dazusitzen und auf eine so unerwartete Mitteilung
die rechte Antwort zu finden, erwog in rasender Eile, was für
Folgen die Ungnade der Berenike haben könne. Eine Menge Probleme
taten sich vor ihm auf. Wird man nicht von Regierungsseite an ihn
herantreten mit der Lockung, seine Klientin zu verraten? Wird nicht
vielleicht andererseits der Kaiser, gerade weil er ihre Beziehungen
zerreißt, sie entschädigen wollen? Da war er hergekommen in der
Meinung, es gelte, einer guten Kennerin ein paar Seiten
ausgezeichneter Prosa zu überreichen. Statt dessen sah er sich
plötzlich vor lebenswichtigen Entscheidungen. Die Vertretung einer
solchen Mandantin war bedenklich, vielleicht gefährlich. War es
nicht das klügste, zu erklären, es sei seit langem sein Plan
gewesen, sich ausschließlich seinen litera rischen Arbeiten zu
widmen, was übrigens stimmte, und da nun durch die überstürzte
Abreise der Fürstin der Prozeß sich von neuem zu verwickeln drohe,
müsse er die Vertretung mit Bedauern niederlegen?
Quintilian hatte die Juden nie
geliebt, und der Einfluß der »hebräischen Venus« auf die römische
Politik war ihm immer unbehaglich gewesen. Sich jetzt von ihr
loszusagen war eine große Versuchung, aber Quintilian war ein
leidenschaftlicher Stilist. Darzutun, daß das Lateinische dem
Griechischen in nichts nachstehe und es in vielem übertreffe, war
der Sinn seines Lebens. Er war in erster Linie Lateiner, erst in
zweiter Römer. Er war überzeugt, daß ein Mann und sein Stil
identisch seien, daß Unanständigkeit sich notwendig auch im Stil
auswirke und daß, wenn er sich in dieser Prüfung nicht würdig
benehme, sein Latein leiden werde. Er beschloß, fair zu
sein.
Berenike, während Quintilian
zweifelte und sich entschied, legte ihre Ansprüche und ihre
Argumente dar. Sie sprach mit erstaunlicher Logik, ohne Affekt. Sie
bedurfte der Logik und der Vernunft. Berenike, in der Gunst des
Titus, die Kaiserin, hätte Konzessionen machen können. Berenike,
von Titus verlassen, Fürstin von Chalkis und Kilikien, dachte nicht
daran, auch nur auf ein Titelchen ihres Anspruchs zu verzichten.
Sie stammte ab von großen Königen, die, eingekeilt zwischen den
stärksten Mächten der Welt, immer wieder ein außerordentliches Maß
von Staatsklugheit und rascher Entschlußkraft benötigt hatten. Sie
war in Wahrheit Enkelin dieser Könige. Es ist ein neues Feld, auf
dem sie sich zu bewähren hat, aber sie wird sich bewähren. Sie wird
Titus zwingen, noch manchmal an sie zu denken. Sie wußte so gut wie
Quintilian, daß die letzte Entscheidung beim Kaiser lag. Sie wird
ihn zwingen, sein Gesicht zu zeigen.
Quintilian war erstaunt über ihre
Verstandesschärfe. Noch mehr staunte Agrippa. »Was ziehst du vor,
Berenike«, sagte er, nachdem Quintilian gegangen war, er sagte
jetzt Berenike, nicht mehr Nikion, »was ziehst du vor, daß Titus
dir die Privilegien nimmt oder daß er sie dir läßt?«
Berenike sah ihren Bruder ohne
Lächeln an; sie wußte, woran er dachte. »Ich liebe einen guten Haß
mehr«, sagte sie,
»als eine gleichgültige
Gerechtigkeit.«
Wie dann Josef kam, ließ sie sich
ein letztes Mal gehen. Dieser ihr Vetter hatte gesehen, wie ihre
Freundschaft mit Titus begann, hatte selber eingegriffen und
geholfen. Sie wollte, nun sie Rom und ihre Träume endgültig
verließ, vor ihm, dem Geschichtsschreiber der Zeit, so dastehen,
wie sie wünschte, daß die Späteren sie sähen. Aber als er nun da
war, vergaß sie den Zweck, zu dem sie ihn gerufen hatte. Einmal
hatte sie diesen Mann verhöhnt, weil er sich vor dem Römer gekrümmt
hatte, sie hatte die sieben Schritte Abstand vor ihm gehalten wie
vor einem Aussätzigen. Wieviel war sie von ihm unterschieden? Hatte
sie nicht selber während dieses ganzen Jahrzehnts das gleiche getan
wie er, nur mit weniger Erfolg? Die Gedanken und Gefühle ihrer
schmerzhaften letzten Nacht brachen aus ihr hervor, und sie
bekannte und bereute. »Es war falsch«, klagte sie sich an. »Alles,
was wir getan haben, mein Bruder und ich, war falsch. Gewiß, der
Krieg mußte schlimm enden, auch wenn wir geholfen hätten, und es
war gut und richtig, daß wir abgemahnt haben. Aber es war falsch,
daß wir dann, als der Aufstand trotzdem losbrach, uns nicht an die
Spitze stellten. Wir hätten mit den andern umkommen sollen. Wir
haben uns lumpig benommen. Auch Sie haben sich lumpig geführt, mein
Vetter Josef. Aber Sie haben wenigstens Erfolg gehabt. Ich hatte
nicht einmal Erfolg. Wenn wir im Aufstand mitgekämpft hätten«,
fügte sie wild und verbissen hinzu, »dann hätten wir vielleicht
Titus mit in unsern Untergang hineingerissen.«
Josef hörte sie an. Mit ihren
ersten Worten, bei ihrem Anblick schon, war alles, was er seit dem
Tod des Vespasian für sich erträumt hatte, eingestürzt. Er war zu
ihr gegangen, stolz, voll Hoffnung und Triumph, der große
Schriftsteller zu der Kaiserin, die ihm hold war. Und nun war es
nicht die Kaiserin, nun war es eine welkende, enttäuschte Frau, und
er war mehr als sie. Denn es war, wie sie sagte: er hatte
wenigstens seinen Erfolg.
Sie indes klagte weiter: »Es gibt
kein Verständnis zwischen uns und den andern. Sie haben ein kaltes
Herz. Wir spüren, was der andere spürt, ihnen ist es versagt. Aber
vielleicht auch ist das ein Geschenk, daß sie es nicht spüren
können, und die Ursache ihres Erfolgs.«
Noch am gleichen Tage teilte sie
dem Kaiser auf beiläufige, liebenswürdige Art mit, dieses Mal
bekomme ihr das Klima und der feiertägliche Trubel Roms
ungewöhnlich schlecht. Sie fühle sich erschöpft und bitte den
Kaiser, nachdem sie ihm ihre Glückwünsche zum Thronwechsel
überbracht und ihm ihre Ehrerbietung bezeigt habe, wieder in die
Einsamkeit ihrer judäischen Güter zurückkehren zu dürfen.
Oh, wie war Titus betrübt, was
fand er für scharmante und unbeteiligte Worte des Bedauerns. Er war
wirklich ein höflicher Herr, und man mußte ein feines Ohr haben, um
herauszuhören, wie er aufatmete. Übrigens schnitt Berenike,
trotzdem sie es anders beschlossen hatte, noch in der gleichen
Audienz die Frage ihres Prozesses an. Sie meinte, nun sie, und wohl
auf lange Zeit, Rom verlasse, sei es vielleicht geraten, mit ihm
die leidige Frage ihrer Privilegien in Chalkis und Kilikien zu
erörtern. Denn zuletzt werde ja doch er diese Frage zu entscheiden
haben. Schon während sie sprach, bereute sie. Sie hatte ihm die
Probe zu leicht gemacht. Er wird froh sein um ein so bequemes
Mittel, sie zu »entschädigen«. Sie hätte jetzt nicht sprechen
sollen. Aber zu groß war ihre Begier, zu erfahren, wie er darauf
reagieren werde.
Er schien geradezu erfreut, daß
sie von diesem Rechtshandel anfing. Selbstverständlich, erklärte
er, sei es an der Zeit, die läppische Angelegenheit endlich aus der
Welt zu schaffen. Seine Minister und Juristen seien umständliche
Aktenkrämer. Er sei sich längst klar über den Fall, und er danke
ihr, daß sie ihn daran erinnert habe. Gewiß beständen alle ihre
Ansprüche zu Recht, nur sein Vater, der Gott Vespasian, sei, wie
sie wisse, in gewissen Sachen etwas eigenartig und zurückhaltend
gewesen. Er werde Weisung geben, die Sache in kürzester Frist zu
regeln. »In kürzester Frist?« verbesserte er sich mit lärmender
Betriebsamkeit. »Noch heute, sogleich müssen wir das in Ordnung
bringen«, und er klatschte seinen Sekretär herbei und gab
unmißverständliche Order.
Berenike saß lächelnd da, hörte
lächelnd die fröhlichen, geschäftigen Weisungen des Kaisers, die
ihr und ihrem Bruder den so lange umstrittenen Besitz von vielen
Millionen sicherten. Sie hatten, sie und ihr Bruder, die letzten
Hasmonäer, einen großen Teil ihrer Reichtümer dazu verwandt, den
Staatsstreich zu finanzieren, der diesen Mann und seinen Vater auf
den Thron gehoben. Es wurmte sie, daß Titus sich jetzt seiner
Schuld so großzügig entledigte. Sie hat ihn geliebt, und er findet
sie ab.
Drei Tage später veranstaltete
Titus ein offizielles Abschiedsfest für sie. In schöner Rede
feierte er die große, liebenswerte, östliche Fürstin und bedauerte,
daß sie seinem Rom so schnell den Rücken kehre, noch bevor sie ihm
Gelegenheit gegeben habe, ihr sein neues Theater und seine Spiele
zu zeigen. Berenike bemerkte mit einer Art bitterer Genugtuung, daß
er sich für diese Rede stenographische Notizen gemacht hatte, die
er in seinem Ärmel versteckt trug.
Dann fuhr sie fort. Von dem
gleichen Ostia, wo sie angekommen. Agrippa, Claudius Regin,
Quintilian, Cajus Barzaarone, der Hauptmann Chatualdus mit ihrer
deutschen Leibwache begleiteten sie zum Schiff. Zwei römische
Kriegsgaleeren gaben ihrem Fahrzeug das Geleit, bis die Küste außer
Sehweite war. Noch vorher kehrte fröhlich der Hauptmann Chatualdus
mit seinen deutschen Soldaten nach der Stadt zurück. Die Juden
blieben am Ufer, bis das Schiff verschwand und mit ihm ihre
Hoffnungen.
Berenike hatte sich sogleich, als
das Schiff in See stach, in ihre Räume zurückgezogen. Es hatte
übrigens in Rom niemand wahrgenommen, daß sie sich am Fuß verletzt
hatte.
Niemals war ein Gast des Kaisers mit größeren
Ehren entlassen worden. Überdies erschien am Tag ihrer Abreise das
Edikt, das ihr die umstrittenen Herrschaften von Chalkis und
Kilikien und den Titel einer Königin zuerkannte. Nach wie vor hing
groß ihr Porträt im Empfangssaal des Kaisers. Kein Mensch außer
Agrippa und Josef hatte erfahren, was zwischen Titus und ihr
vorgegangen war. Dennoch wußten, und das binnen kürzester Frist,
Stadt und Reich darum. Diejenigen, die sich vor wenigen Wochen mit
Schnelligkeit und Inbrunst von den hervorragenden Qualitäten der
Bewohner des rechten Tiberu fers überzeugt hatten, fanden jetzt mit
noch größerer Schnelligkeit und Inbrunst zu ihrer alten Überzeugung
zurück und ließen die Juden durch doppelt brutale Verhöhnung ihre
Minderwertigkeit fühlen. Die Juden, die eine Woche zuvor
überheblich und sicher einhergegangen waren, wurden wieder klein
und verzweifelt, und die Doktoren ordneten an, daß man in allen
Synagogen des Reichs an drei Sabbaten hintereinander jenes« schöne
Kapitel des Propheten verlese, das mit den Worten beginnt:
»Tröstet, tröstet mein Volk.«
In den Büros, in denen man die
Fechterspiele organisierte, gab es jetzt auf einmal keinen Zweifel
mehr, ob man die Restbestände aus den Gefangenendepots des
jüdischen Kriegs verwenden solle. Die Preise für diejenigen, die
sich freiwillig meldeten, sanken um vierzig Prozent. Niemand mehr
interessierte sich für den jungen Mann aus guter Familie, der sich
hatte anwerben lassen, um die Kosten für die Beerdigung seines
Vaters aufzutreiben.
Selbst in den Depots der
Gefangenen wußte man Bescheid. Man sandte herzzerreißende Bitten an
die jüdischen Gemeinden, zu helfen, einen loszukaufen. Die Herren,
die für diese Zwecke sammelten, hatten denn auch jetzt größere
Erfolge. Trotzdem war für den einzelnen die Chance des Loskaufs
gering, es waren der Gefangenen zu viele, und in den Depots blieb
man finster, hoffnungslos und betriebsam. Man bat den Gegner, einen
nicht zu schonen, so wie man ihn selber nicht schonen werde; denn
wer viele Gegner besiegte, hatte doch vielleicht Chance, mit dem
Leben davonzukommen. Aber man wußte, daß diese Chance nicht groß
war, daß hinter den meisten Namen in der Liste das fatale »P«
stand, und während man trainierte, rüstete man sich zu sterben,
legte Sündenbekenntnisse ab, traf Verfügungen, betete.
Titus sank, nachdem Berenike fort
war, oft in eine tiefe Zerstreutheit. Er stand vor ihrem Bild und
grübelte. Er konnte nicht begreifen, was eigentlich vorgegangen
war. Berenike war doch die gleiche Frau gewesen wie früher. Das war
das Gesicht, die Brust, die Glieder, die Haltung, das waren Körper
und Seele, die er durch zehn Jahre hindurch geliebt hatte. Wie
konnte ein so starkes Gefühl, das unwiderstehlichste, das er in
seinem Leben gespürt hatte, sich so plötzlich verflüchtigen? War
das eine Strafe dieses Gottes Jahve, der ihm sein höchstes Glück
wegnahm? Vielleicht aber auch war es im Gegenteil ein Gnadenakt des
Capitolinischen Jupiter, der ihm die Augen öffnete und ihn auf
seine rechte Aufgabe verwies. Allein diese zweite, tröstliche
Auffassung vermochte die erste, beängstigende nicht ganz zu
vertreiben.
Wie immer, bei seinen Römern
schaffte dem Walfisch der Bruch mit der Jüdin einen ersten großen
Erfolg. Die Liebe des Volkes, um die er so lange vergeblich
gekämpft hatte, jetzt fiel sie ihm auf einmal von allein zu. Er
genoß sie mit Behagen. Er hatte sich lange genug erlesene
Anwandlungen gestattet, eine esoterische Neigung zum Osten. Er
atmete auf, nun er diese teuer erkauften Gefühle los war.
Breit sonnte er sich in der Liebe
seines Volkes. Wandte immer neue, raffinierte Mittel an, sie zu
steigern. Verschwendete. Erst jetzt hatte er die volle Freude an
seinen Bauten, an den großartigen Vorbereitungen der Spiele. Immer
seltener ließ er den unbequemen Mahner Claudius Regin vor sein
Gesicht. Ohne Begleitung, ohne Maske, ein Privatmann, ging er in
den Straßen spazieren und schlürfte es ein, wie die Massen von ihm
sprachen. Denn wenn sie jetzt den Namen Walfisch gebrauchten, so
geschah es mit Sympathie, mit Zärtlichkeit, und es war nicht mehr
viel Unterschied zwischen dieser Bezeichnung und der, die seine
Hofpoeten und Rhetoren für ihn erfunden hatten: »Die Liebe und
Freude des Menschengeschlechts«.
Gegen den Rat seines Intendanten
feierte er die Vollendung der Neuen Bäder nicht durch ein auf den
Adel beschränktes Einweihungsfest, sondern ließ schon am ersten Tag
die Massen zu. Er selber fand sich an diesem Tag in dem riesigen
herrlichen Etablissement ein, ohne Leibwache, ein beliebiger Mann
unter den vielen tausend Besuchern. Entkleidete sich mitten unter
allen andern, schwamm mit ihnen in dem Bassin mit lauem und in dem
Bassin mit kaltem Wasser, ließ sich mit ihnen zusammen frottieren,
sprach mit seinen Nachbarn, im Dialekt, in einem Gemisch von
Sabinisch und Römisch, sagte ihnen zur Freude »Rauma« statt »Roma«,
scherzte mit ihnen, wieviel man den Bademeistern Trinkgeld geben
solle. Er stand mit den andern in der großen Halle vor dem Fresko,
das nun freilich nicht das Meisterwerk »Die versäumten
Gelegenheiten« war, sondern nur ein ziemlich banaler mythologischer
Schinken »Venus entsteigt dem Schaum«. Wie immer, das Fresko bot
willkommenen Vorwand zu obszönen Witzen. Er selber riß die
obszönsten. Alle erkannten den Kaiser, aber sie gingen von ganzem
Herzen auf das Spiel ein und taten, als erkennten sie ihn
nicht.
Bei alledem überkam ihn manchmal,
plötzlich, eine grübelnde Fremdheit. War das wirklich er, der da
unter schallendem Ruf, den Kopf voran, ins Wasser sprang? War das
er, der mit Behagen Rauma sagte statt Roma und über die Scham der
Venus spaßte? Lärmend trieb er sich in dem großartigen Gebäude
herum, stieß seine Römer vor den Bauch, ließ sich von ihnen auf die
Schulter schlagen und war ungeheuer beliebt. Er fragte schließlich
geradezu, ob sie sich freuten, den Walfisch unter sich zu haben.
Stürmisches Gelächter, ungeheurer Jubel war die Antwort. Aber
während er mitlachte und lärmte, dabei sogar in Gedanken seine
eigenen Worte mitstenographierend, fand er, das sei höchstens der
Walfisch, der da lachte und lärmte, nicht der echte Titus. Der
echte Titus war fernab, nicht in den Neuen Bädern; er schaute einem
Schiff nach, das er nie gesehen hatte und auf dem Berenike war, und
das er auf seinem schnellsten Kriegsschiff nicht erreichen
konnte.
Demetrius Liban brachte dem Intendanten der
Schauspiele das Manuskript des »Seeräubers Laureol«. Liban war sehr
stolz. Der Text der Revue war großartig geworden; das war in
Wahrheit das Stück, von dem er seit seiner Kindheit geträumt hatte,
und es kam im rechten Augenblick. Er war auf dem Gipfel seiner
Kraft, reif, diese Rolle auszufüllen, in der die ganze Epoche
stak.
Voll tiefer Genugtuung erzählte
er dem Intendanten, wie er sich Regie und Darstellung vorstelle.
Aber der sonst so höfliche und schnell begeisterte Herr blieb
diesmal frostig. Er glaubte nicht, sagte er, daß man sich zur
Aufführung einer neuen Revue entschließen werde. Man denke an etwas
Aktuel les, an die Posse vom »Juden Apella« zum Beispiel; man habe
bei Hofe an sehr einflußreicher Stelle den Wunsch geäußert, diese
Posse einmal wiederzusehen, und dem römischen Publikum sei sie
bestimmt gerade jetzt besonders willkommen.
Demetrius Liban riß die
blaßblauen, trüben Augen weit auf, fast dümmlich vor Verwunderung.
Träumte er? War das der Intendant, mit dem er sprach? War man im
Jahr 833 nach Gründung der Stadt? Was faselte der Mann da? Er war
doch gekommen, um den Seeräuber Laureol zu spielen. Hatte der
Mensch nicht etwas gesagt vom Juden Apella? Wie denn? Was denn? War
das ein Witz? Wollte der Mensch ihm die Freude verderben dadurch,
daß er den Alpdruck von vor fünfzehn Jahren wieder aufsteigen ließ,
die Ängste und Skrupel um diese gefährliche Posse, die in dieser
Zeit Pogrome und Unheil heraufbeschwören mußte? »Der Kaiser will
den ›Juden Apella‹ sehen?« stammelte er. Und, was ihm seit dreißig
Jahren nicht mehr passiert war, sein erlesenes Griechisch nahm die
Färbung des Dialekts an, jenes halb aramäischen Dialekts,
dessenthalb man die Bewohner des rechten Tiberufers verspottete.
»Es liegen noch keine bestimmten Weisungen vor«, sagte vorsichtig
der Intendant, »aber ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, daß
man auf den ›Seeräuber Laureol‹ zurückgreifen wird.«
Diesmal hatte Liban deutlich
gehört. Es war kein Traum, es waren Worte, nüchterne,
ernstgemeinte. Sie trafen ihn, ein jedes wie ein Schlag auf den
Kopf, erschütterten ihn bis in die Eingeweide. Schwankend,
verwirrten Blickes, entfernte er sich.
Er schickte die kappadokischen
Läufer und die Sänfte nach Hause; er mußte jetzt gehen, sich
bewegen. Den Palatin herunter zum Forum ging er, taumelnd, vor sich
hin schwatzend. Die Vorübergehenden sahen ihm erstaunt nach. Viele
erkannten ihn. Einige folgten ihm, Müßiggänger, Kinder, immer mehr.
Er sah es nicht. Er fühlte sich plötzlich sterbensmüde, setzte sich
auf die Stufen des Friedenstempels, ächzend. Da hockte er, wiegte
den Oberkörper, wackelte mit dem Kopf, ein alter Jude. Freunde
brachten ihn nach Haus.
Bittere, reuige Gedanken
zernagten ihn. Was ihm geschah, konnte kein Zufall sein. So lange
hatte er auf diese Erfüllung gewartet, und nun sie da war, nun der
Mensch in seinem Innern fertig war, der Text geglückt, der rechte
Rahmen geschaffen, da, im letzten Augenblick, in dem Augenblick
gewissermaßen, da er auf die Szene treten wollte, stürzte ihm diese
Szene vor den Füßen zusammen. Es war die Strafe Jahves.
Seine graublauen, trüben Augen
wurden vollends stumpf, sein blasses, leicht gedunsenes Gesicht
grau, faltig wie ein ungleichmäßig gefüllter Sack. Er zergrübelte
sich, verfiel.
So fand ihn Josef. Der hatte den Umschwung
vielleicht am wenigsten zu spüren bekommen; was er erreichen
konnte, hatte er schon vorher erreicht. Als er jetzt den
Schauspieler dermaßen zerstört vor sich sah, packte ihn der
Gedanke, daß es ihm selber leicht ebenso hätte gehen können. Auch
erinnerte er sich, was alles Demetrius Liban für ihn getan hatte,
als er das erstemal in Rom gewesen war. Josef, trotzdem er in
seinem Buch keine Ziffern gebracht hatte, war ein genauer Rechner.
Er vergaß es nicht, wenn einer ihn kränkte, aber er vergaß auch
nicht, was einer Gutes für ihn tat. Als jetzt der Schauspieler so
klein und elend vor ihm saß, als er ihm berichtete, wie man ihm
zugemutet habe, den Juden Apella zu spielen an Stelle des
Seeräubers Laureol, da beschloß Josef, seinem Freunde Genugtuung zu
schaffen. Er faßte einen kühnen Plan, er ging zu Lucia.
Josef verstand sich auf Frauen.
Vom ersten Augenblick an, da er Lucia gesehen hatte, wußte er, wie
sie zu nehmen war. Sie war gierig nach Leben, empfänglich für
starke Leidenschaft, frei von Furcht. Marull hatte ihm erzählt, sie
habe es nicht gebilligt, daß Titus Berenike wegschickte, sosehr das
in ihrem und Domitians Interesse war. Wenn es Josef gelang, ihr
klarzumachen, wie unfair man gegen den Schauspieler handelte, dann,
des war er sicher, wird sie sich seiner annehmen.
Lucia verbarg nicht ihre Freude,
ihn zu sehen. Josef sprach mit ihr offen wie mit einer guten,
verständigen Freundin. Er sprach von Berenike, erzählte ihr aus
ihrer ersten Zeit Dinge, die er noch nie erzählt hatte. Er sprach
warm von Titus, bedauerte, daß er sich von Berenike gelöst hatte,
gab ihm aber gleichwohl recht und sah mit Freuden, daß Lucia sich
gegen diesen seinen Männerstandpunkt leidenschaftlich empörte. Von
da an hatte er leichten Weg. Schnell und ohne daß er selber starke
Worte brauchen mußte, hatte er sie so weit, daß sie das Vorgehen
gegen die Juden der Stadt und gegen den Schauspieler im besonderen
mißbilligte. Es war unfair, diese Leute erst zu verhätscheln und in
tausend Hoffnungen zu wiegen und sie dann mit einem Fußtritt
beiseite zu stoßen. Ja, das war ihre Meinung. Sie wird mit dieser
Meinung nicht zurückhalten, auch vor ihrem Schwager Titus nicht.
Groß, die kühnen Augen über der scharf einschneidenden Nase weit
auseinander, saß sie vor Josef, der hohe Turm ihrer kunstvoll
frisierten Locken zitterte leicht, Josef war überzeugt, daß Titus
ihre Meinung ernstlich bedenken werde.
Titus strahlte, als er Lucia sah.
Er sah sie neu. Wohl hatte er schon in diesen letzten Wochen
wahrgenommen, wie schön und voll Kraft sie war, aber da war er noch
durch die Jüdin verzaubert gewesen. Jetzt erst sah er sie recht,
gewissermaßen zum erstenmal, ihr kühnes, unbekümmertes, sinnliches
Gesicht. Diese wußte zu leben. Er war der Narr, und Bübchen hat
recht gehabt. Hätte er in so jungen Jahren wie Bübchen eine Frau
gefunden, dieser gleich, dann hätte er wohl kaum in allen Erdteilen
so wüst herumgehurt, dann wäre alles gut gegangen, und er hätte
noch die Fähigkeit, Kinder zu zeugen. Dann auch wäre er kaum in den
Bann der Jüdin gefallen, und dieser peinvolle Umweg wäre ihm
erspart geblieben.
Was sagte Lucia da? »Wie Sie es
gemacht haben, Schwager, das war Ihrer nicht würdig. Daß eine Frau
einem nicht mehr gefällt, das kommt vor, das liegt in der Natur der
Sache, dagegen ist nichts zu sagen. Aber ich finde es unfair, daß
Sie diese Änderung Ihres Geschmacks fünf Millionen Menschen
entgelten lassen. Mir sind, abgesehen von wenigen Ausnahmen, Ihre
Juden unsympathisch, wahrscheinlich noch unsympathischer als Ihnen.
Aber wie Sie sie jetzt behandeln, Titus, das geht nicht. Wenn
Bübchen so etwas machte, ich würde ihm den Marsch blasen.« –
»Wissen Sie, Lucia«, sagte Titus geheimnisvoll und wie in einer
plötzlichen Erleuchtung, »dieser Reiz, der von ihr ausging, das war
nichts Natürliches, Gesundes. Es war nur das Fremdländische, dieses
verfluchte Östliche. Erst jetzt habe ich sie mit guten, römischen
Augen gesehen. Sie ist eine alte Jüdin, meine Römer haben recht.
Ich bin gesund geworden, ein bißchen plötzlich, und da haut man
leicht über die Stränge. Wahrscheinlich stimmt das, was Sie sagen.
Ich werde aufpassen, daß man nicht zu weit geht.«
Er sah sie an, und sie sah ihn
an, und er gefiel ihr. Sie liebte Bübchen auf ihre Art, aber Titus
war interessanter. Beim Jupiter, das war kein Walfisch, das war ein
springlebendiger Delphin. Wie reizvoll unberechenbar er war,
militärisch straff jetzt, dann wieder knabenhaft verspielt, dann
wieder grübelnd über seine Sehnsucht nach dem Osten, versinkend.
Heute zeigte er unbekümmert, kindlich, wie froh er an ihr war. Er
fand die rechten Worte, nicht zudringlich, nicht schüchtern. Er war
nicht der Kaiser, war nicht der Bruder ihres Gatten, er war einfach
ein Mann, der ihr gefiel und dem sie gefiel.
Claudius Regin ließ sich melden.
Der Kaiser empfing ihn nicht, bestellte ihn für den andern Tag. Als
Lucia fortwollte, hielt er sie zurück, und als sie endlich
auseinandergingen, spürten sie eine starke, angenehme Neigung einer
für den andern. Jetzt erst, so kam es Titus vor, war er ganz von
der Jüdin genesen, und wieder streifte ihn jene läppische,
abergläubische Hoffnung, diese Lucia vielleicht könne ihm einen
Sohn gebären.
Den Tag darauf gab er Weisung,
das Bild der Berenike wegzuhängen. Nun erinnerte in Rom nichts mehr
an sie als jenes Sternbild in der Nähe des Löwen, jenes ferne,
feine Leuchten, zart wie ein Haarstreif, das ihren Namen
trug.
Der Intendant hatte das Erschrecken und die
Demütigung des Demetrius Liban mit Vergnügen wahrgenommen. Da der
Schauspieler ihn oft durch seine Star-Allüren gereizt hatte, nutzte
er mit Freuden die Gelegenheit, ihm das heimzuzahlen. Sowie er
Titus das nächste Mal Vortrag hielt, versuchte er, ihn zu bewegen,
eine Aufführung der Posse »Der Jude Apella« anzuordnen.
Kaum aber hatte er von dieser
Sache begonnen, so mußte er an der Haltung des Kaisers merken, daß
er seine Zustimmung nicht so glatt erlangen werde, wie er gehofft
hatte. Wen er da vor sich hatte, das war der Walfisch, ein plumpes
Tier, aber gefährlich durch Ungeheuerlichkeit, so daß die Jagd
Listen und Umwege erforderte. Geschickt bog der Intendant denn auch
ab, kam aber später von neuem, diesmal mit viel beiläufigeren,
vageren Worten, auf das Verlangen der Römer zurück, einmal wieder
die Posse vom »Juden Apella« zu sehen. Er kannte die Schwäche des
Walfischs, er wußte, wieviel diesem am Beifall der Massen lag. Er
betonte, daß er selber den »Juden Apella« nicht sehr liebe und daß
der »Laureol« des Marull sehr gut sei. Er halte es aber für seine
Pflicht, dem Kaiser zu berichten, wie sehr die Massen gerade jetzt
eine Aufführung des »Juden Apella« wünschten.
Titus schaute den in demütig
abwartender Haltung dastehenden Herrn aus merkwürdig abwesenden
Augen an. Soll er seinem Volk einen Wunsch abschlagen, den er so
leicht erfüllen kann? Freilich, er hat Lucia ein Versprechen
gegeben. Hat sich verpflichtet, dafür zu sorgen, daß man »nicht zu
weit gehe«. Auch liegt es keineswegs in seiner Absicht, den
Demetrius zu kränken.
Verdrossen saß er da, sinnloses
Zeug auf sein Notiztäfelchen stenographierend. Er ging
Entscheidungen gerne aus dem Weg, er liebte Kompromisse. »Wie wäre
es«, sagte er, »wenn man den Liban seinen Laureol spielen ließe und
einen dritten, den Latin zum Beispiel oder den Favor, den Juden
Apella?«
Der Intendant zuckte die Achseln.
»Ich fürchte«, erwiderte er, »damit verlöre die Aufführung ihren
Reiz. Die Römer würden sich wundern, daß nicht ein Jude den Juden
spielt. Man würde außerdem durch eine solche Lösung den Liban nicht
weniger kränken als das Volk; denn Liban war meisterhaft in der
Rolle.« Da er sah, daß sich der Kaiser noch immer nicht
entschließen konnte, machte er Konzessionen. Daß der Monarch,
meinte er, auf den Schauspieler keinen unziemlichen Druck ausüben
wolle, entspreche durchaus seiner milden Wesensart. Er glaube aber,
es gebe einen Mittelweg. Man könne dem Volk die beliebte und
aktuelle Posse zeigen, ohne den Schauspieler vor den Kopf zu
stoßen. Wie wäre es, wenn man zum Beispiel den Liban bäte, jetzt
während der Spiele den Apella darzustellen, und ihm dafür das
bestimmte Versprechen gäbe, ihn demnächst den Laureol spielen zu
lassen? Titus überlegte. Aber trotzdem er zögerte, sah der
Intendant sogleich, daß er jetzt den Walfisch zur Strecke gebracht
hatte. Und so war es. Wenn Titus zögerte, dann nur, um das Gesicht
zu wahren. In seinem Innern war er glücklich über das Kompromiß,
das der Intendant vorschlug. Auf diese Weise hielt er das
Versprechen, das er Lucia gegeben hatte, und brauchte trotzdem
seine Römer nicht zu verärgern. »Gut«, sagte er.
Liban verfluchte sein Schicksal.
Immer wieder stellte es ihn vor so bittere Alternativen. Als er
damals, nach qualvollem Schwanken, den Juden Apella gespielt hatte,
war das wenigstens eine Angelegenheit gewesen, die die ganze
Judenheit betraf. Daß sie zum Schaden ausgegangen war, daß
schließlich, wenn man es so wollte, Staat und Tempel daran
verdarben, war nicht seine Schuld. Jetzt ging das Problem ihn
allein an, nicht die Gesamtheit, aber es drückte ihn darum nicht
weniger. Wenn er nicht auftrat, wenn er es hinnahm, daß man ihn bei
den Hunderttägigen Spielen überging, dann war er für immer
erledigt. An dem Kaiser wird er von nun an kaum mehr eine
Rückendeckung haben. Bestimmt wollte der sich, vielleicht sogar
ohne daß er es wußte, an allen Juden rächen für die Enttäuschung,
die Berenike ihm bereitet hatte. Wenn er sich jetzt weigerte, den
Juden Apella zu spielen, dann wird das dem Titus ein willkommener
Vorwand sein, ihn für immer unten zu halten. Und er war
einundfünfzig Jahre alt.
Er war zweiundfünfzig Jahre alt,
aber das gestand er sich nicht ein.
Damals, als er das erstemal den
Juden Apella spielte, hatte er ein Gutachten der Doktoren
eingefordert. Das Gutachten war zweideutig ausgefallen, es verbot
im Nachsatz, was es im Vordersatz erlaubte. Diesmal forderte er
kein Gutachten. Er wußte, wenn er jetzt den Juden Apella spielt,
werden das die Doktoren einmütig und unverklausuliert für eine
Todsünde erklären. Die Doktoren waren gelehrt, und er verehrte sie.
Aber in dieser Sache konnten sie ihm nicht raten, ihre Grundsätze
waren zu starr.
Er sprach mit Josef, mit Claudius
Regin. Durfte er es auf sich nehmen, durch Darstellung des Juden
Apella sich über sein Judentum lustig zu machen, wie man ihm
zumutete? Durfte er andernteils, nachdem Jahve ihn mit so
außergewöhnlicher Kunstbegabung begnadet hatte, sich weigern und
sich durch solche Weigerung das Theater für immer verschließen?
Sowohl Josef wie Regin fanden kein Ja und kein Nein, beide waren
schwunglos.
Am Ende entschloß sich Demetrius
Liban, aus dem Depot der für die Spiele bestimmten kriegsgefangenen
Juden fünf mit großen Geldopfern freizukaufen und den Juden Apella
zu spielen.
»Ich bin nicht sentimental, aber die Narbe
unter der linken Brust darfst du nicht küssen«, sagte Lucia zu
Titus, mit großen, gleichmäßigen Zähnen lachend. »Er darf es auch
nicht.« Es war die Nacht vor der Eröffnung des Flavischen
Amphitheaters, die erste Nacht, die sie mit ihm
verbrachte.
»Warum machst du mich
eifersüchtig, Lucia?« fragte Titus zurück. »Warum quälst du
mich?«
Groß, satt, nackt lag sie da.
»Ich habe dir immer gesagt, daß ich ihn liebe«, erwiderte sie.
»Aber was hat das mit dir zu tun? Was hat das mit uns zu tun?
Sprich nicht von ihm. Du bist sehr anders, mein Titus. Es ist gut,
daß die Götter die Männer so verschieden gemacht haben.«
»Ich glaube«, sagte Titus, satt
auch er, flüsternd, geheimnisvoll, glücklich, »ich glaube, jetzt
habe ich mein Blut gereinigt von diesem verfluchten Osten. Durch
dich, Lucia. Jetzt bin ich Römer, Lucia, und ich liebe
dich.«
Er war vollkommen glücklich, als
er am andern Tag das Theater betrat, stürmisch umjubelt, und
wissend diesmal, daß der Jubel nicht von der Polizei arrangiert
war. Es war eine starke Lockung für ihn gewesen, dem Theater seinen
eigenen Namen zu geben, aber er hatte sich bezwungen, er hatte die
Ehre des großartigen Werkes der Familie überlassen, er weihte den
Bau auf den Namen »Flavisches Amphitheater«. Ein Triumph aber war
es für ihn und ein Zeichen von der Huld des Himmels, daß die
Einweihung dieses Hauses ihm vergönnt war, nicht dem Vespasian, der
so lange daran gebaut hatte. Klar und froh schauten seine Augen den
riesigen, von Men schen wimmelnden Raum auf und nieder, er kannte
die Zahl dieser Menschen, siebenundachtzigtausend waren es, die
dreitausend Marmorstatuen verloren sich in der Masse der
Lebendigen.
Die Spiele begannen. Es war früh
am Morgen, und sie dauerten, bis die Sonne sank. Man hatte für
diesen ersten Tag besonders großartige Vorbereitungen getroffen,
und es starben an ihm allein neuntausend wilde Tiere und an
viertausend Menschen. Auch in den Pausen zeigte man den Massen, daß
sie Gäste eines wahrhaft großzügigen Kaisers waren. Nicht nur
erhielten sie Wein, Fleisch und Brot umsonst, es wurden auch Lose
ausgeworfen, die denjenigen, die sie erhaschten, Anspruch auf
Terrains gaben, auf Geld, auf Leibeigene, und noch die geringsten
unter den Losen berechtigten ihren Inhaber zu einer unbezahlten
Liebesstunde mit einer der zahlreichen erlesenen, zu diesem Zweck
bereitgestellten Huren.
Der Tag war herrlich, nicht zu
heiß und nicht zu kalt, und nicht die Jüdin saß in der Loge neben
dem Kaiser, sondern Lucia, Lucia Domitia Longina, die Römerin, die
starke, üppige, lachende; die Massen waren glücklich. Auch auf den
Bänken des Adels, ja in der kaiserlichen Loge selbst freute man
sich, daß die Gefahr der östlichen Herrschaft abgewandt war. »O du
sehr guter, sehr großer Kaiser Titus«, scholl es wieder und wieder
von allen Seiten, »o du Liebe und Freude des Menschengeschlechts«,
und, zärtlich geradezu: »O du unser sehr gutes, sehr großes
Walfischlein.«
Während des langen Ablaufs der
Spiele freilich, und zwar nach dem Mittag, hatte Titus einen jener
Anfälle, wie man sie aus den ersten Wochen seiner Herrschaft
kannte. Er versank in sich, schaute schlaff vor sich hin und begann
plötzlich zu weinen. Niemand wußte, warum, er selber hätte es wohl
kaum sagen können, und sehr viele von den Siebenundachtzigtausend
nahmen es wahr; denn die kaiserliche Loge war von den meisten
Plätzen aus sichtbar.
Es geschah dies übrigens während
eines komischen Zwischenspiels, betitelt »Die Experimente des
Dädalus«. In der Arena wurden mit Flügeln versehene Menschen durch
kunstvolle Maschinen hochgezogen, so daß es aussah, als flögen sie
wirklich. Die Seile waren jedes anders konstruiert, alle aber so,
daß sie bei bestimmten, den Gefangenen nicht bekannten Bewegungen
zerrissen. Wer die ganze Arena überflogen hatte, war gerettet, für
heute zumindest, aber viele Stricke rissen vorher, und die
Flügelwesen stürzten sich zu Tode. Es war possierlich anzusehen,
wie die sonderbaren Menschenvögel, vor allem während des letzten
Teils ihres Flugs, sich bemühten, ans Ziel zu kommen, wie aber
gerade da infolge der gesteigerten Schnelligkeit noch viele sich
zerstürzten. Die Organisatoren hatten sich von dieser Nummer
besonders viel versprochen. Sie wirkte auch. Doch ging ein großer
Teil der Wirkung dadurch verloren, daß die Zuschauer ihre
Aufmerksamkeit zwischen den Flügelwesen und der kaiserlichen Loge
teilten und sich betreten oder zumindest neugierig fragten, was
wohl den Walfisch anwandle.
Die Flugbahn der Menschenvögel
war übrigens so, daß sie während ihres ganzen Weges die kaiserliche
Loge vor Augen hatten. Vielleicht war es für den einen oder andern
von ihnen, bevor er zu Tode stürzte, ein Trost, daß der Mann, der
sie gefangengenommen hatte und jetzt sterben ließ,
weinte.