Josef selber steht inmitten dieser Ehrungen in bescheidener, würdiger Haltung. Hinter seiner hohen, gebuckelten Stirn aber wirren sich die Gedanken. Dies ist ein gesegneter Tag, der Tag der Erfüllung, lang ersehnt. Dies ist der Eingang Israels durch eine erste Pforte in die Ehrenhalle der Völker. Aber ist es nicht eine erschlichene Ehre? Da steht seine Büste; blaß und edel unter dem dunkelgrünen Kranz schimmert die Bronze. Er selber aber ist aus schlechtem Stoff. Wie kümmerlich ist sein Buch, vergleicht er es mit dem, was zu machen er berufen ist. Und selbst dieses ärmliche Buch hat er nur vollenden können mit Hilfe des Phineas. Die Zeiten sind vorbei, da er, wie damals nach Vollendung seines Makkabäer-Buches, stolz auf sein Griechisch war. Jetzt weiß er, daß er überall der Stützen und Krücken bedarf. Nicht einmal seinen Sohn Paulus kann er für seine Idee gewinnen: wie soll er die Welt gewinnen? Er verliert sich, er ist ganz angefüllt von der Bewußtheit seines Nichts. Er hört den festlichen, ehrenvollen Lärm; durch den Lärm hindurch aber, leise und ihn trotzdem mühelos übertönend, hört er wiederum die bittere, verächtliche Stimme, die Stimme des Freundfeindes, abschließend, jeden Widerspruch von vornherein vernichtend: »Ihr Doktor Josef ist ein Lump.« Er schaut in die Gesichter ringsum: erkennen sie denn nicht, wie erbärmlich er ist? Das Gefühl seiner Ohnmacht droht ihn zu ersticken, gleich wird er zusammenbrechen. Er schaut ringsum nach Hilfe. Da ist niemand, der ihm helfen könnte. Nicht einmal Alexas ist da, der Glasfabrikant. Wenn er wenigstens die Hand auf den Scheitel seines jüdischen Sohnes legen könnte, Simeon-Janikis. Aber niemand ist da.
  Sein blasser, knochiger Kopf indes hält immer das gleiche, bescheidene und stolze Lächeln fest. Höchstens um einen Schatten bleicher ist er geworden. Man findet, er ist ein Mann, der sein Glück gut zu tragen weiß, wert seines Erfolges.






ZWEITES BUCH

Der Mann





       ach der qualvollen Hitze der letzten Wochen hatte sich heute, am siebenundzwanzigsten August, ein guter
       Wind aufgemacht, und Josef, in seiner Sänfte, auf dem Weg zum Palatin, genoß mit allen Sinnen die leichte, frische Luft. Er fühlte sich glücklich. Es war ein Triumph für ihn, daß Titus sogar jetzt, während der Feuersbrunst, nach ihm verlangte. Denn heute, am vierten Tag, war der Brand noch immer nicht gelöscht, es war der größte seit den Zeiten des Nero. Vielleicht war das Unglück diesmal noch schlimmer. Denn damals hatte das Feuer die engen, häßlichen Innenviertel zerstört, diesmal aber hatte es die schönsten Stadtteile erreicht, das Marsfeld, den Palatin. Das Pantheon war ausgebrannt, die Bäder des Agrippa, die Tempel der Isis und des Neptun, das Balbus-Theater, das Pompejus-Theater, die Volkshalle, das Amt für militärische Finanzen, viele Hunderte der schönsten Privathäuser. Vor allem aber war das Capitol ein zweites Mal zerstört, das kaum neu vollendete, das Zentrum der römischen Weltherrschaft.
  War das ein Zeichen der Götter gegen den Walfisch? Das feindselige Geraun gegen ihn verstärkte sich. Die Juden vor allem waren in Bewegung. Sie waren selber vom Brande betroffen, ihre schönste Synagoge, die des linken Tiberufers, die Veliasynagoge, war zerstört. Trotzdem sahen sie das Feuer geradezu mit Genugtuung. Es war ihr Geld, das für Jahves Tempel bestimmte, mit dem der übermütige Sieger das neue Haus der Capitolinischen Trinität gebaut hatte. Und jetzt also, nach so kurzem Bestand, war es ein zweites Mal vernichtet worden, das Capitol, dessen Anblick ihnen soviel Grimm und Herzeleid gebracht hatte. Jahves Hand, triumphierten sie, Jahves Hand trifft den Mann, der seinen Tempel eingeäschert und sein Volk erniedrigt hat. Überall in ihren Vierteln sammelten sich Straßenprediger, verkündeten den Untergang der Welt, verteilten Traktate über den Messias, den Rächer, der das Schwert bringt.
  Josef selber allerdings sah die Dinge anders. Er war angefüllt mit Zufriedenheit. Titus, obgleich er sofort, mit einer in der letzten Zeit ungewohnten Tatkraft, eingegriffen hatte, überallhin Lösch- und Aufräumekommandos entsendend, Plünderungsversuche im Keim erstickend, den Obdachlosen Unterkunft schaffend, fand trotzdem Zeit, ihn, Josef, vor sein Angesicht zu berufen. Leichtgeschaukelt in der Sänfte, in angenehmen Gedanken, atmete Josef den guten Wind. Alles fügte sich ihm. Dorion hat sich seit der Aufstellung der Büste gewandelt, sie ist eins mit ihm wie in ihrer ersten, besten Zeit in Alexandrien. Er freut sich, daß er ihre Wünsche oder vielmehr – warum das verschönernde Wort? – ihre Launen befriedigen kann. Leicht fällt es ihm nicht. Er hat die Voranschläge für die Villa überprüft. Trotz des unerwartet hohen Geschenks, das der Kaiser ihm gemacht hat, wird er Geld aufnehmen müssen, wenn er für die Synagoge, die seinen Namen tragen soll, eine halbwegs anständige Stiftung machen und gleichzeitig Dorions Villa bauen will. Claudius Regin, sein Verleger, wird ihm die notwendigen Summen nicht verweigern, aber es wird ihm eine willkommene Gelegenheit sein, unangenehme Anmerkungen zu machen. Allein gerade daß Dorions Launen ihn Opfer kosten, ist das Reizvolle. Heute nacht hat er ihr die Villa versprochen. Er lächelt, wenn er daran denkt, wie listig sie ihm die Zusage abgeschmeichelt hat. Es wird jetzt nach dem Brande, hat sie ihm sachlich auseinandergesetzt, eine neue, große Bautätigkeit einsetzen. Viele, die bisher im Zentrum wohnten, werden in der Umgebung bauen, die Terrains bei Albanum und die Baukosten werden anziehen. Aber sie, klug, wie sie ist, hat sich schon mit dem Architekten Grovius ins Benehmen gesetzt. Er bleibt ihr im Wort, er reserviert ihr das Terrain, er hält seinen Voranschlag ein.
  Josef kennt die Welt, er weiß, daß der Architekt den Voranschlag natürlich trotzdem überschreiten wird, er weiß, daß er sein Versprechen teuer wird bezahlen müssen. Aber er denkt an sie, wie sie neben ihm lag, den Kopf auf seiner Brust, und mit ihrer dünnen Kinderstimme auf ihn einsprach, und er bereut auch jetzt, im hellen Tageslicht, seine Zusage nicht. Er darf es sich leisten, großzügig zu sein. Ein genügsamer Mann ist er nicht, nein, das kann man nicht sagen. Er war niemals genügsam, er war immer gierig nach mehr Leben, nach mehr Erfolg, Leistung, Genuß, Liebe, Weisheit, Gott. Jetzt aber ist er im Zug, jetzt schaufelt er ein.
  Titus kam ihm mit raschen Schritten entgegen, herzlich. Seitdem der Kaiser den Grund kennt, der Berenikes Ankunft hinauszögert, seitdem er weiß, daß dieser Grund nicht in ihm liegt, ist er beschwingt, aufgetan, seine Schlaffheit ist weg. Die Feuersbrunst kann seiner Sicherheit nichts anhaben. Daß man Glück mit Opfern bezahlen muß, dieser Gedanke war ihm geläufig. Hat die kluge Berenike das nicht freiwillig getan, im vorhinein? Obendrein gibt ihm der Brand Gelegenheit, seine eigene Freigebigkeit im Gegensatz zu der Enge seines Vaters zu manifestieren. Eigentlich, versichert er dem Josef, sich ganz vor ihm gehenlassend, sei ihm der Brand sogar willkommen. Immer habe es in seiner Absicht gelegen, zu bauen. Der Untergang des alten Rom sei ihm nur eine Bestätigung, daß der Himmel sein Vorhaben billige. Beflissen, angeregt erzählt er Josef von dem neuen Rom, dessen Bild er in seiner Seele trage, wieviel großartiger er das Capitol aufbauen, wieviel herrliches Neues er an Stelle des schlechten Alten setzen werde.
  Mehr aber als der Neubau Roms, mehr als alles andere beschäftigt ihn nach wie vor Berenike. Vertraulich, nicht zum erstenmal, befragt er den Juden Josef, seinen Freund, ob es ihm wohl glücken werde, niederzureißen, was zwischen ihm und ihr steht. »Du selber, mein Josef«, redet er auf ihn ein, »hast die Ägypterin geheiratet. Ich weiß, daß viele dir das als Sünde anrechnen. Auch meine Römer sehen es nicht gern, wenn ich die Fremde heirate. Sag mir aufrichtig, was haltet ihr Juden von der Ehe mit einer Fremden? Ist es eine Sünde vor eurem Gott?« Dem Josef tat es wohl, daß der Kaiser sich so vor ihm aufschloß. Geduldig, wie schon mehrmals, setzte er ihm auseinander: »Josef, unser Heros, dessen Namen ich trage, hat eine Ägypterin zur Frau genommen, unser Gesetzgeber Moses eine Midianitin. König Salomo hat mit vielen fremden Weibern als mit seinen Frauen geschlafen. Und wir Juden preisen mit höchstem Preis Esther, die Gattin des Perserkönigs Ahasver.« – »Das klingt tröstlich«, erwiderte nachdenklich Titus. »Ich muß es dir sagen, mein Josef«, fügte er hinzu, nahe an ihm, den Arm um seine Schulter, lächelnd, knabenhaft verlegen, »ich bin vor ihr immer wie ein kleiner Junge. Sie ist fremd und hoch über mir, selbst wenn ich sie nehme. Ich will, daß sie eins mit mir wird, ich will mich mischen mit ihr. Aber sie bleibt mir versperrt, selbst wenn sie sich mir gibt. Ihr Juden habt dieses infernalisch gescheite Wort für den Akt: ein Mann erkennt eine Frau. Ich habe sie bis jetzt nicht erkannt. Aber wenn sie nun kommen wird, dann, des bin ich sicher, wird sie sich mir auftun. Ich habe nämlich den Grund gefunden, warum ich ihr bisher nicht näherkam. Ich war gehemmt durch einen Rest läppischer Konvention, mein Römerdünkel war wie ein Panzer zwischen mir und ihr. Aber ich bin weiser geworden in diesen letzten Wochen. Ich weiß jetzt, daß das Reich mehr ist als ein vergrößertes Italien. Vielleicht war diese Katastrophe eine Mahnung eures Gottes. Es brauchte diese Mahnung kaum mehr. Ich war lässig, ich gebe es zu, meine Hände waren träg, das zu tun, was mein Herz und mein Hirn mich hießen. Ich werde nicht länger träg sein. Dieser Flavius Silva wird seine Vorlage über die Beschneidung nicht im Senat einbringen. Die Weißbeschuhten in Alexandrien werden in ihre Schranken zurückgewiesen werden. Sag es deinen Juden. Sie sollen an mich glauben. Schon in den nächsten Tagen werde ich es mit Claudius Regin bis in alle Einzelheiten überdenken.«
  Eigentlich hatte Josef nach der Audienz zurück in sein Haus wollen. Aber er hatte von Anfang an ein kindisches Gelüst verspürt, sich Mara und dem jungen Simeon im Galakleid zu zeigen. Jetzt, nach der Huld des Titus, konnte er dieses Gelüst nicht länger bezähmen. Er begab sich zu dem Glasfabrikanten Alexas.
  Die Dinge fügen sich ihm, innen und außen. Fort ist jenes Gefühl drückender Unzulänglichkeit, das ihn damals im Augenblick seines höchsten äußeren Triumphs überfallen hat. Schön, sein Leben ist kompliziert, die Sache mit Dorion ist kompliziert, die Sache mit Mara nicht einfach. Aber er hat die Methode. Die Frau, die er liebt und die sein Herz und seine Sinne nicht entbehren können, weigert ihm den Sohn. So nimmt er eben den Sohn der andern, die er nicht liebt, die ihm aber nichts weigert.
  Es ist mit dem jungen Simeon in Rom nicht so glatt gegangen, wie Mara es sich vorgestellt hat. In der orthodoxen Schule auf dem rechten Tiberufer, in die sie den Jungen zunächst schickte, bekam er, der Bastard, der Sohn des geächteten Josef, allerlei Unangenehmes zu hören. Mara nahm ihn weg, schickte ihn auf Rat des Glasfabrikanten Alexas, der sich in den geweckten Jungen vergafft hatte, in eine liberale Schule. Dort fühlt sich Simeon wohl, man stößt sich nicht daran, daß er der Sohn des Josef ist. Seine Mutter aber, die ängstlich an den alten Bräuchen festhält, ist unzufrieden. Ihr Simeon-Janiki lernt in der vornehmen Schule bedenkliche Dinge. Niemand verwehrt ihm, selbst am Sabbat nicht, mit den heidnischen Jungens auf der Straße seine wilden Spiele zu treiben. Vor allem ist da der kleine Constans, der Sohn des pensionierten Hauptmanns Lucrio. Die beiden Jungen haben Isispriester verulkt, es hat Krach gegeben, sogar die Polizei hat sich eingemischt. Auch in dem Restaurant »Zum großen Olivenstall« sind die beiden einmal gesehen worden. Ob Simeon dort verbotene Dinge gegessen hat, ist aus ihm nicht herauszubekommen, er schweigt eisern auf Maras Fragen: aber was soll aus ihm werden, wenn er dort etwa Schinken gekostet haben sollte, den das Schild des Restaurants als Spezialität anpreist?
  Josef findet diese Streiche nicht so schlimm. Er hat den kleinen Constans gesehen, den Kameraden seines Sohnes, einen wilden, schmutzigen Burschen. Die beiden prügeln sich, aber sie hängen aneinander, ja, der kleine Constans verehrt Simeon, seitdem dieser einmal dem pensionierten Hauptmann, seinem Vater, eines seiner Geschützmodelle vorgeführt und der Hauptmann gebrummt hat: »Nicht übel. Für einen Judenjungen allerhand.« Aber ideal ist die Erziehung Simeons wirklich nicht, das muß man Mara zugeben, und es wäre Zeit, daß er in die rechten Hände kommt. Nun ja. Maras Wünsche sind leichter zu erfüllen als die Dorions, und sie gehen mehr in der Richtung seiner eigenen. Er hat sich also entschlossen. Er überläßt Dorion Paulus, aber er selber kümmert sich um die Erziehung Simeons, vielleicht sogar, wenn er sich bewährt, nimmt er ihn später ins Haus. Das scheint ihm eine glückliche Lösung, die alle befriedigt. Selbst die Juden der Hauptstadt werden sich mit seinem griechischen Sohn abfinden, wenn er ihnen seinen jüdischen Sohn vorweist. Mit Dorion hat er noch nicht über sein Vorhaben gesprochen. Aber was wohl sollte sie dagegen einzuwenden haben? Er lächelt rechenhaft, mit gutmütigem Zynismus. Er hat ihr die Villa geschenkt, sie ist ihm einen Gegendienst schuldig. So trägt Großzügigkeit ihren Lohn in sich.
  Anmaßlich, in seinem glänzenden Festgewand, erscheint er vor Mara. Sie ist eitel Bewunderung; selbst Simeon, bei all seiner Kritik, konstatiert mit sachlicher Anerkennung, wie gut Josef aussieht.
  Eigentlich hat Josef vor, sich zuerst mit Dorion über sein Projekt auseinanderzusetzen. Aber er ist gut gelaunt und will Freude um sich verbreiten. Mara mag endgültig in Rom bleiben, verkündet er gnädig, den Jungen wird er bei hochgestellten Freunden unterbringen, später vielleicht sogar zu sich ins Haus nehmen.
  Gewöhnlich dauert es lange, ehe Mara begreift; aber diesmal, da es sich um ihren Jungen handelt, sieht sie sogleich, welch tiefen Einschnitt in ihr Leben Josefs Entscheid bedeutet. Wenn der Knabe bei Freunden Josefs oder gar in seinem eigenen Hause erzogen wird, dann heißt das, daß sie sich von Simeon trennen muß. Sicherlich dann wird sie ihren Jungen selten zu sehen bekommen. Ihr Herr und Gebieter Josef ist sehr weise. Aber weiß nicht sie, die Mutter, manches um den Jungen, was Josef nicht weiß? Und wird Simeon nicht viele von den guten alten Bräuchen verlernen? Trotzdem ist sie glücklich. Ihr Simeon-Janiki hat das Herz des Vaters gewonnen, er wird ein großer Mann werden wie dieser, wenn auch nicht ein Doktor und Herr und Weiser in Israel. Sie küßt Josefs Hand, sie heißt den Jungen seine Hand küssen, sie ist demütig, stolz, glücklich.
  Josef, an diesem großen Tag, beschließt, nun er den Bau der Villa genehmigt hat, auch die Stiftung der Synagoge endgültig zu regeln. Er teilt dem Doktor Licin mit, daß er sich am Bau der neuen Synagoge beteiligen wolle. Licin ist ehrlich erfreut. Auf geschickte Art, die den andern nicht demütigt, schneidet er die Finanzfrage an. Die Josef-Synagoge soll kein allzu prunkvolles Bethaus werden. Provisorisch, unverbindlich veranschlagt er die Kosten des Baus auf eine Million siebenhunderttausend Sesterzien. Josef erschrickt. Mehr als zweihunderttausend kann er unter keinen Umständen auf die Stiftung verwenden, und darf er es bei so geringer Leistung annehmen, daß man die Synagoge nach ihm benennt? Doktor Licin aber, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, spricht weiter. Er denke es sich so, daß er und Josef sich in die Kosten teilen. Josef solle die siebzig kostbaren Thorarollen zusteuern, die er aus der Zerstörung Jerusalems gerettet habe und die er, Licin, mit etwa siebenhunderttausend Sesterzien in Anschlag bringe; Josef hätte dann in bar noch etwa hundertfünfzigtausend zuzuschießen. Diese Thorarollen seien ja der wesentlichste Bestandteil des neuen Gotteshauses. Sollte das Äußere, der Bau, wider Erwarten höher zu stehen kommen als nach dem Voranschlag, dann sei es Sache Licins und seiner Leute, für den Mehraufwand einzustehen.
  Das ist ein großmütiges Angebot der jungen Herrn, das ist ein glücklicher Tag. Josef kann seine Freude kaum verbergen: sichtbar vor den Augen der Römer steht seine Bildsäule im Friedenstempel, und vor den Augen der Juden wird er durch die Josef-Synagoge ausgesöhnt sein mit seinem unsichtbaren Gott.


Stolz, mit vielen Worten, erzählte die Dame Dorion ihrem Vater, dem Hofmaler Fabuli, daß Josef ihr nun endgültig den Bau ihrer Villa bei Albanum zugesagt habe. Der massige Herr saß in strenger Haltung da, besonders sorgfältig angezogen, wie das seine Art war; weil er als Maler von Beruf gesellschaftlich nicht voll genommen wurde, legte er es mit doppeltem Eifer darauf an, sich korrekt und römisch zu geben. Als seinerzeit Dorion, an der er leidenschaftlich hing, des Juden Frau geworden war, hatte ihn das bis ins Mark getroffen. Seither war er noch strenger, wortkarger.
  Dorion also, lebhaft, glücklich, mit ihrer dünnen, kindlichen Stimme, brüstete sich, wie geschickt sie alles arrangiert habe. Vor Jahren schon hat sie mit dem Architekten Grovius einen erstaunlich billigen Preis für das Terrain und für den Bau vereinbart. Es war nicht leicht, Grovius die ganze Zeit hinzuhalten. Sie hat es erreicht. Auch jetzt, nach dem Brand, trotzdem die Preise geradezu stündlich anziehen, bleibt ihr der Architekt im Wort.
  Fabull hörte versperrten Gesichtes zu. Im Anfang, unmittelbar nach Dorions Heirat, hatte er für diesen Juden, den Lumpen, den Hund, an den sein Kind sich weggeworfen, nichts gehabt als Haß und Verachtung. Daß Josef gar noch Schriftsteller war, hatte diesen Haß gesteigert; er wollte von Literatur nichts wissen, er war erbittert, daß Rom die Literaten gelten ließ, nicht aber die Künstler. Allein er war ein großer Porträtist, gewohnt, in den Gesichtern der Menschen zu lesen, er hatte dem Gesicht des Josef viel von seinem Schicksal und seinem Wesen abgelesen, er konnte sich der Bedeutung des Mannes nicht verschließen, und es war im Lauf der Jahre etwas wie eine Aussöhnung zustande gekommen. Ja, allmählich wuchs in dem Maler Fabull eine Art haßvoller Bewunderung. Dieser Mann Josef beschrieb in seinem Buch Menschen, Landschaften, Vorgänge überaus bildhaft, mit dem Aug des Malers; dabei verabscheute er alle Bildnerei. Er wurde Fabull schließlich geradezu unheimlich. Der Mann besaß magische Kräfte. Nicht nur sein Kind hat er behext, auch den alten Kaiser und den jungen. Ihm hat man die gesellschaftliche Geltung, die er, Fabull, so schmerzlich vermißt, geradezu nachgeworfen. Verschärft noch wurde der Groll des Fabull durch den Bericht des Bildhauers Basil, daß Josef es abgelehnt habe, die Ehrensäule für die Bibliothek von ihm bemalen zu lassen. Seinem künstlerischen Ansehen konnte diese Weigerung nichts anhaben, er galt als der erste Maler der Zeit; aber sein ganzer, unvernünftiger Zorn gegen den Schwiegersohn war ihm bei dem Bericht wieder hochgestiegen.
  Wie ihm die Tochter von Josefs neuem Glück erzählte, und daß sein Reichtum ihm jetzt erlaube, ihr die lang erträumte Villa zu schenken, packte den Maler zwiefacher Grimm. Er selber war wohlhabend, auch keineswegs geizig, er hätte gern seiner Tochter, die er liebte, ihr Landhaus geschenkt; wenn er es sich versagte, dann nur, um ihr zu zeigen, daß dem Josef trotz seines großen, scheinbaren Glanzes ein Wesentliches fehlte. Es war ihm eine Genugtuung, daß sie ihre Liebe zu diesem Josef wenigstens mit Entbehrungen bezahlen mußte.
  Mit gewohnter Stummheit hörte er zu, während sie lange und glücklich sprach. Er dachte daran, daß seine Dorion dem Menschen eines wenigstens abgeschlagen hatte: ihren Sohn Paulus hatte sie nicht zum Juden machen lassen. Das war sein Trost. Sein Enkel wurde, was er selber war, rechtlos, aber von Gehabe und Anschauungen römisch-streng und erfüllt von griechischer Bildung. Doch dieser Gedanke milderte seinen Grimm nur wenig. Als Dorion schließlich seinen gravitätischen Kopf in ihre Hände nahm, mit den Worten: »Ich freue mich ja so, Väterchen, daß du jetzt ›Die versäumten Gelegenheiten‹ für mich malst«, da machte sich der alternde Mann behutsam, doch entschieden von ihren lieben Händen los, und wortkarg, mit seiner sehr männlichen Stimme, erwiderte er: »Es tut mir leid, Dorion, ich werde dem Juden das Bild nicht machen.«
  Dorion, gekränkt, empört, staunte: »Was heißt das? Du hast es mir doch versprochen. Es war nicht leicht, Josef dahin zu bringen.« – »Das kann ich mir denken«, sagte haßvoll der Alte. »Das ist der Grund, warum ich es nicht tue. Der Kaiser ist nicht so heikel wie dein Jude«, fuhr er fort. »Der Kaiser hat mich beauftragt, die Große Halle der Neuen Bäder auszumalen. ›Die versäumten Gelegenheiten‹ werden dort vielleicht kompetentere und auf alle Fälle freundlichere Beschauer finden als im Landhaus des Flavius Josephus.« – »Du machst mich lächerlich vor ihm«, erzürnte sich Dorion, »nachdem ich mich so lange vor ihm abgezappelt habe. Du hast noch nie dein Wort gebrochen«, bat sie. »Die Situation hat sich geändert«, gab Fabuli zurück. »Flavius Josephus hat es ausdrücklich abgelehnt, von mir arbeiten zu lassen. Er hat mich abgelehnt, als der Bildhauer Basil mich vorschlug.«
  Dorion schwieg, betreten, denn davon hatte sie nichts gewußt. Ihr Vater aber sprach weiter. »Du lächerlich vor ihm«, sagte er, höhnisch. »Er hat sich lächerlich gemacht vor aller Welt, unzählige Male. Hat sich auspeitschen lassen, ist mit der Kette des Leibeigenen herumgelaufen. Und wenn sie auch sein Bild in die Bibliothek gestellt haben, er bleibt lächerlich, er bleibt bemakelt. Der Jude, der Hund, der Wegwurf.«
  Niemals hatte Dorion aus dem Mund ihres Vaters so maßlose Worte gehört. Für einen Augenblick war sie geneigt gewesen, ihm recht zu geben; jetzt, da dies aus ihm herausquoll, änderten sich ihre Gefühle. Damals, als sie ihm ihren Entschluß mitteilte, mit dem Juden zu leben, hatte sie harte, höhnische Worte von ihm erwartet, aber er hatte nichts gesagt, er hatte den Mund zugepreßt, daß er ganz dünn wurde, seine Augen waren beängstigend rund aus seinem Gesicht herausgetreten, es war schlimm gewesen, und sie war schnell aus dem Hause gegangen, zu Josef. Er hatte geschwiegen, damals, er hatte auch seither geschwiegen, und sie war aufs tiefste erstaunt, daß er jetzt, nach zehn Jahren, auf einmal sprach.
  Zuerst fehlten ihr, der sonst so Wortgewandten, vor Erstaunen die Worte. Dann aber sah sie vor sich die Büste im Ehrensaal, ihren blassen, hohen Schimmer, das rätselhafte Leuchten um Josefs Kopf, sie hörte den festlichen Lärm, der ihn feierte, und ihr Staunen wandelte sich in Empörung. »Ich lasse ihn nicht beschimpfen«, brach sie los. »Auch von dir nicht. Er ein Hund? Er Wegwurf? Er hat Macht wie einer der Totenrichter«, fuhr sie fort mit ihrer dünnen Stimme, es klang etwas läppisch, sie selber hatte darüber gelacht, als Josef sich dessen rühmte, aber ihre Augen waren hell, wild, ekstatisch, als sie es ihm jetzt nachsprach. »Er hält Gericht über Lebende und Tote. Ihm ist die Macht gegeben. Er ist der Hermes mit dem Vogelkopf, der den Spruch verzeichnet auf seiner Schreibtafel.« Fast war sie froh, daß der Vorwurf des Vaters, der so lang verschwiegene, aufgestapelte, nun endlich Wort geworden war, daß sie sich dagegen wehren konnte.
  Er sprach weiter, schimpfte weiter, hart, grob, wie ein Rollkutscher. Es war ihm leid, während er sich so gehenließ. Er liebte seine Tochter, liebte sie um ihrer ägyptischen Mutter willen, um ihres Kunstverstandes willen, um ihres Sohnes willen, den sie in seinem Sinne großzog. Er wußte, daß er sie mit jedem Wort weiter von sich wegstieß, und er selber litt unter seinen Worten, es paßte nicht zu ihm, harte, grobe Reden zu führen. Aber wenn er an den Menschen dachte, an den Juden, den Lumpen, den Hund, dann verließ ihn seine Zucht, es riß ihn hin, und er sagte mehr, als er sagen wollte. Alles, was er so lange stumm in sich herumgetragen hatte, brach aus ihm heraus, schmutzig, niedrig, gemein.
  Dorion erblaßte, um die Lippen zuerst, wie es ihre Art war, dann über das ganze Gesicht. War das ihr Vater, der da hin und her ging und so gemein schimpfte und fluchte, der größte Künstler der Zeit, und an dem sie hing? Einmal hatte sie wählen müssen zwischen ihm und Josef, da hatte sie den Mann gewählt. Aber dann war alles gut geworden, sie hatte den Mann und den Vater, und sie hatte sich so darauf gefreut, daß jetzt in dem Haus, das der Mann ihr schenkte, das Werk des Vaters um sie sein sollte, dieses halb rührende, halb spöttische, sein bestes, »Die versäumten Gelegenheiten«. Und nun also endete alles in wüstem, grobem Geschimpfe. Aber es war nicht zu ändern, auch sie konnte sich nicht zähmen. »Geh«, unterbrach sie ihn plötzlich mit ihrer dünnen, schrillen Stimme, sie war jetzt vollkommen erblaßt, häßlich, verzerrt. »Geh«, sagte sie noch einmal, »und mal dein Bild, für wen du willst, für den Kaiser oder für den Pöbel von Rom.«
  Fabull saß da wie damals, als sie ihm zum erstenmal von ihrer Verbindung mit dem Juden gesprochen hatte, die Lippen ganz dünn, die Augen weit aus dem Kopf heraus. Er schwieg wie damals. Sie wünschte sehr, er spräche ein einziges Wort, das wie ein Widerruf klang oder eine Entschuldigung. Aber er sagte nichts, er nahm nichts zurück, er saß einfach da, vielleicht schaukelte er ein ganz klein wenig, unmerklich. Sein Schweigen legte sich um sie und engte sie hart ein, so daß ihr ganzer Rumpf schmerzte. Allein auch sie nahm nichts zurück, und als er schließlich aufstand, hielt sie ihn nicht. Da ging er denn, ein wenig schwankend, den Rücken nicht ganz so aufrecht wie sonst.

So also sah es um Dorion aus, als Josef zu ihr kam, um ihr mitzuteilen, was er mit seinem Sohne Simeon vorhatte. Er wählte leichte, beiläufige Worte. Im Grunde war er stolz auf seinen Einfall und kam nicht auf den Gedanken, Dorion könnte ernsthafte Einwände machen.
  Ihr blaßbraunes Gesicht blieb unbewegt, während er sprach. Durch ihre Freunde wußte sie von der Anwesenheit der ersten Frau des Josef, man lächelte über diese Frau aus der Provinz, es war ein Jugendabenteuer, Dorion selber hatte gelächelt und die Geschichte schnell wieder vergessen. Jetzt, während Josef sprach, nahm die Angelegenheit für sie ein anderes Gesicht an. Sie hatte für diesen Mann ungeheure Opfer gebracht, er hatte sie als etwas Natürliches hingenommen und ihr immer neue Demütigungen zugefügt. Und nun gar wollte er den Bastard dieser Kleinbürgerin aus der Provinz ihrem Paulus gleichstellen, ihn ihr ins Haus bringen. War er so stumpf, daß er nicht merkte, was er ihr zumutete? Oder waren es vielleicht trotz allem tiefere Bindungen, die ihn mit diesem judäischen Weib verknüpften? Man hatte ihr gesagt, die Frau sei eine dumme, dickliche, kleine Jüdin, ein Nichts: aber wer weiß, was diesen merkwürdigen Josef an sie fesselte. Jude bleibt Jude, Jude geht zur Jüdin wie Wolf zur Wölfin und Hund zur Hündin. Sie hatte ihn erst gestern noch so heiß gegen ihren Vater verteidigt, mit Nägeln und Zähnen, hatte ihren Vater, den einzigen Menschen, an dem sie hing, seinethalb aus dem Hause gewiesen. Das also war der Ersatz, den er ihr für ihren Vater bot: sein Bankert. Aber sie bezähmte sich, sie ließ von dem Bösen, Bitteren, das in ihr hochstieg, nichts laut werden, sie sagte nur hart und dünn: »Nein. Ich bin nicht damit einverstanden, daß du diesen Jungen unserm Paulus gleichstellst.«
  Josef ließ sich durch ihren kühlen Ton täuschen. Es war nicht weiter verwunderlich, daß es einiges Hin und Her kostete, ehe sie ihre Zustimmung gab. In großer Ruhe also sprach er weiter. »Unserm Paulus?« fragte er zurück. »Das ist es ja eben, daß Paulus leider nur dein Paulus ist, nicht unser Paulus. Du mußt es doch begreifen, daß ich endlich einen richtigen, jüdischen Sohn haben will. Überlege dir, bitte, in Ruhe, Dorion, meine kluge, liebenswerte, ob ich Unbilliges von dir fordere.«
  Dorion gab sich weiter unzugänglich. »Nicht ich bin es«, sagte sie bösartig, doch beherrscht, »die dir den Jungen verweigert. Er selber verweigert sich dir. Er tut recht daran; denn er ist nun einmal kein Jude. Du hast es geschafft, du hast dich aus dem niedrigen Volk herausgehoben. Warum soll mein Junge zu deinen Juden hinuntersteigen? Es ist guter Instinkt, wenn er nicht will. Sieh ihn dir an, sprich mit ihm: er will nicht. Versuch es. Hol ihn dir, wenn du kannst.«
  Ihr ruhiger Hohn brachte ihn auf. Hatte nicht sie verhindert, daß der Junge mit jüdischen Lehren und jüdischen Menschen in Berührung kam? Hatte nicht sie ihm diesen Phineas in den Nacken gesetzt? Und nun wagte sie es, ihn zu verspotten, weil der Junge nicht jüdischer war? Er stellte sich Paulus vor, er verglich ihn mit Simeon. Paulus war schlank, edel gewachsen, er hatte die stillen, gefälligen Manieren des Phineas, es war keine Frage, daß, wenn man Simeon und ihn gegenüberstellte, der laute, hemmungslose Judenjunge nicht gut abschnitt. Aber hatte sie das Recht, ihn zu verlachen, weil er nicht Paulus zu seinem jüdischen Sohn hatte machen können? Ich selber bin schuld, daß sie jetzt so dreist ist, sagte er sich. Pherizus, Emanzipation, das ist die böseste Eigenschaft, die eine Frau haben kann, lehren die Doktoren, und vor keiner Gattung Weib warnen sie heftiger als vor der Emanzipierten. Verse der Bibel stiegen in ihm hoch. »Bitterer als den Tod empfand ich das Weib; sie gleicht einem Netz, ihr Herz einer Schlinge, ihre Hände Fangstricken. Wem Gott wohlwill, entrinnt ihr, aber der Sünder fängt sich in ihr.« Leise, unhörbar fast, wie als Junge, da er die Verse memoriert hatte, sprach er sie vor sich hin. »Sagtest du was?« fragte Dorion. Aber er hatte sich schon wieder in der Gewalt. Er muß Geduld mit ihr haben. Frauen haben keine Logik. Gott hat ihnen aufbauenden Verstand versagt. Selbst eine Jüdin ist der Logik kaum zugänglich: wie sollte es diese sein, die Griechin? »Du solltest das nicht sagen, Dorion«, meinte er also, ruhig. »Hast du nicht selber alles getan, ihn zum Griechen zu machen, und dich widersetzt, wenn ich ihm nur mit einem bißchen Judentum kommen wollte? Ich sage das nicht, um es dir vorzuwerfen, aber sei nun auch du, bitte, vernünftig, und stell dich mir nicht entgegen, wenn ich einen jüdischen Sohn haben will.«
  Allein sie beharrte. Ihr Junge war Grieche, jede Faser an ihm war griechisch. Judentum aufzupfropfen wäre Verbrechen. Ja, sie habe es durchgesetzt, nicht ohne Mühe, daß Paulus seine eigenen Gaben durch die Bildung und die Sitten des Phineas veredle. Darauf sei sie stolz; denn das sei das Wenigste, was eine gute Mutter für einen solchen Sohn tun könne.
  Ihn reizte ihre Zähigkeit. »Und was«, fragte er spöttisch, »ist das Höchste, was du mit den Methoden deines Phineas errei chen kannst? Daß Paulus, wenn er erwachsen ist, beliebt sein wird bei aller Welt und ein Flachkopf wie dein Annius und die andern um dich herum.« Schon während er dies sagte, bereute er es. Aber es war zu spät. Sie stand auf, stand ihm gegenüber, dünn, schlank, blaß. Zunächst freilich gelang es ihr, an sich zu halten. »Du verstehst ihn nicht, den Jungen«, sagte sie. »Er ist nun einmal Grieche, und du bleibst Jude, und wenn du dir den Bart noch so sorgfältig abrasierst.« Dann aber, als käme ihr, was er gesagt hatte, jetzt erst zum vollen Bewußtsein, packte sie die weiße Wut. Er wage es, brach sie los, ihr den Annius vorzuwerfen, er, der so blind und wahllos sei in seiner Geilheit. Wer sei sie denn, diese Frau, um deren Jungen er so heftig kämpfe? Oh, sie wisse gut, wer sie sei, man habe es ihr gesagt. Eine Kleinbürgerin aus der Provinz, ein schmutziges Nichts, eine dicke, dumme Jüdin, an der selbst der alte Vespasian nach einer Nacht genug gehabt habe. Und deren Frucht wolle er jetzt ihrem behüteten, gepflegten Paulus gleichstellen. Und darum beschimpfe er sie. Woher er denn überhaupt wisse, daß dieser Straßenjunge sein Sohn sei und nicht der des Vespasian?
  Während sie so gegen ihn keifte, schrill, dünn, gemein, war sie sich bitter und reuevoll bewußt, wie heiß sie ihn gestern hier an der gleichen Stelle gerühmt hatte. Sie liebte ihn doch. Sie hatte doch gezeigt, daß sie bereit war, auf ihn einzugehen, ihm gefügig zu sein, auch wenn sie ihn nicht verstand. Warum war er so gar nicht bereit zur geringsten Rücksicht? Warum verlangte er so viel und gab so wenig? Warum zwang er sie, widerlich und niedrig gegen ihn loszuschimpfen? Sie war sehr blaß, während sie schimpfte, ihr Zorn konnte sich nur schwer halten vor ihrer großen Liebe.
  Josefs nacktes Gesicht, während ihre Worte auf ihn einpeitschten, rötete sich. Es drängte ihn, sich auf sie zu stürzen, auf sie einzuschlagen, auf diesen dünnen, frechen, gebrechlichen Körper, mit Fäusten, mit seinem Schreibzeug. Hinter ihrem Gesicht sah er das höfliche, höhnische des Phineas, hinter ihrer dünnen Stimme hörte er des Phineas wohlklingende, elegante. Aber in all seinem Zorn war er sich bewußt, daß es die erduldete Kränkung vieler Jahre war, die jetzt aus ihr losschrie. Er dachte daran, was alles sie ihm gegeben hatte, es war, als drängen durch ihre Worte hindurch ihre verschwiegenen Gedanken zu ihm. Er sah sie vor sich, wie sie sich hatte wegschicken lassen, schweigend, den Sohn nicht einmal erwähnend, diesen Sohn Paulus, den sie mit Recht den ihren nannte; denn es war ihr Sohn, nicht der seine. War es denn nicht seine Schuld, daß sie sich so verändert hatte? Er darf nicht zu genau wägen, was sie sagt. Sie ist verstört. Ihre Schimpfworte sind Worte des Augenblicks, in der nächsten Stunde schon wird sie bereuen. Er wußte nicht, daß sie bereute, schon während, ja bevor sie sie sprach.
  Er ging zu ihr, setzte sich, zog sie zu sich herunter, machte seine Stimme sanft, redete auf sie ein. Sie habe recht. Er sei nun einmal Jude und sie Griechin, und nur in ihren besten, glücklichsten Momenten könnten sie ganz eins werden. So habe der Himmel das gefügt. Aber das gerade sei ja der Grund seines Vorschlags. Sie möge bedenken, daß dieser Vorschlag auch für ihn ein Opfer einschließe: den Verzicht auf Paulus. Es sei nicht so, daß er immer nur nehmen wolle und niemals geben. Daß er sie die Villa bauen lasse, auch das zum Beispiel, lege ihm allerhand Lasten auf.
  Dieses Letzte hätte er nicht sagen sollen. Sie sprang auf, legte Raum zwischen ihn und sich. Hart, kalt, mit einer Stimme, deren Ruhe ihn mehr aufbrachte und erschreckte als ihr Zorn, erklärte sie, sie kenne eine ganze Reihe Männer, die ihr eine solche Villa und eine bessere mit Freuden schenkten, und ohne ihr das Geschenk hinterher vorzuwerfen. Was übrigens das Fresko »Die versäumten Gelegenheiten« anlange, so sei seine Überwindung überflüssig geworden. Ihr Vater weigere sich, es für ihn zu malen, er male es für den Kaiser.
  Josefs Augen waren fast töricht vor Verwunderung. Er begriff die Gründe nicht, nicht die Zusammenhänge, er verstand diese Menschen nicht. Er schwieg. Sie aber, weitergetrieben wahrscheinlich durch die Erinnerung an ihren Vater, wurde heftiger, zügelloser. »Schick das Weib weg«, verlangte sie plötzlich, ohne Übergang, hart, herrisch, »das Weib und den Bastard.«
  Josef schaute auf sie, überrascht in seinem Herzen. Seine Erwägungen waren falsch gewesen, das sah er jetzt. Er kannte sie gut, aber doch nicht bis ans Ende. Er hatte in der Vergangenheit so viel von ihr verlangt, daß jetzt offenbar selbst eine gerechte Forderung sie in Wut brachte. »Schick das Weib weg«, beharrte sie, immer mit den gleichen, wilden, hellen Augen. Sie hatte alle Herrschaft über sich verloren.
  Josef, wie immer, wenn etwas ganz Überraschendes, Unheilvolles ihn traf, wurde eiskalt, drückte seine Gefühle nieder, rief seine Vernunft zu Hilfe. »Überleg dir meinen Vorschlag in Ruhe, Dorion«, bat er, und seine Stimme klang gleichmütig. »Beschlafe ihn zwei, drei Nächte. Und was den Bau anlangt, so laß dich nicht hinhalten und verlange jede Beschleunigung. Ich habe zwei Raten bezahlt. Überleg dir alles gut, Dorion.« Er nahm ihren langen, dünnen Kopf zwischen seine beiden Hände, ihre Haut war zart und sehr kühl, er küßte sie, sie ließ es sich ohne Regung gefallen, und er ging.


Josef verlangte von Claudius Regin einen Vorschuß auf seine künftigen Arbeiten, hundertfünfzigtausend Sesterzien. Es wurde, wie Josef vorgesehen hatte, eine unangenehme Unterredung. Regin zahlte zwar, aber er hatte eine unbehagliche Art, die Überreichung einer Anweisung mit mürrischen und ironischen Bemerkungen allgemeiner Natur zu begleiten. Heute war er besonders unwirsch. Seit dem Tode Vespasians, erklärte er dem Josef, ist eine Zeit der Verschwendung angebrochen. Der Alte, wenn er sähe, mit wie leichter Hand Titus das Kapital vertut, das er mit soviel Mühe zusammengekratzt hat, sein Finger wüchse drohend aus dem Grab. »Vespasian«, raunzte er, »hätte Ihnen für die Neufassung des ›Jüdischen Kriegs‹ keine solche Summe hingeschmissen. Die Dame Dorion muß ihre Villa haben, natürlich. Muß man allen Launen der Damen nachgeben? Ich sehe es nicht gern, daß Sie jetzt bauen. Alle Welt muß jetzt bauen. Unser Titus steckt weitere zwölfeinhalb Millionen in sein Amphitheater. Hundert Tage müssen die Spiele dauern, mit denen es eingeweiht wird. Jeder Tag kostet nahe an eine halbe Million. Dem Alten bliebe der Speichel weg. Er hat mit Jupiters und meiner Hilfe ein paar Milliarden hinterlassen. Wenn wir so weitermachen, werden wir bald am Rande sein.

  Es ist mir nicht um die einmalige Summe. Sie drückt, aber sie läßt sich schaffen. Es ist der Standard. Nach den Bädern und nach dem Amphitheater werden unsere lieben Römer noch eine Wandelhalle wollen, nach der Wandelhalle einen Tempel, und in den Bädern will man baden, und hunderttägige Spiele kann man nicht alle Jahre machen. Sie werden es erleben, Doktor Josef. An sich selber. Ihre Dame Dorion wird für die Villa ein Dutzend neue Leibeigene brauchen und Pferde und einen Wagen. Wir haben die Preise gesenkt, stimmt. Der Scheffel Weizen kostet nur mehr fünf Sesterzien, und schon für vierzehn kriegen Sie ein paar gute Schuhe. Der Schneider verlangt nur mehr sieben Sesterzien Tagelohn, und der Schreiber ist mit dreieinhalb für je hundert Zeilen zufrieden. Das sind Beträge, die Sie nicht umwerfen, das können Sie sich leisten. Aber Sie werden Augen machen, wie Ihr Budget anzieht, wenn erst die Dame Dorion in ihrer Villa sitzt. Schauen Sie mich an. Dieses Oberkleid ist vier Jahre alt, diese Schuhe drei. Ich könnte mir neue spendieren, aber ich halte es nicht für weise, meinen Standard ins Blaue hinein zu erhöhen.
  Ich sehe es nicht gern, Doktor Josef, daß Sie sich den Kopf mit Finanzsorgen vernebeln, statt ihn für Ihre ›Jüdische Geschichte‹ frei zu halten. Ich habe allerhand in Sie hineingesteckt, Doktor Josef. Ich habe in Sie, lassen Sie mich mal rechnen, etwa zweitausend Prozent mehr hineingesteckt als in Ihren Kollegen Justus von Tiberias, und das Leben in Rom ist nur um siebenunddreißig Prozent teurer als das Leben in Alexandrien.«
  »Na ja«, seufzte er und stellte Josef die Anweisung aus.

»Nicht ich bin es«, hatte Dorion gesagt, »die dir Paulus verweigert. Er selber verweigert sich dir. Versuch es. Hol ihn dir, wenn du kannst.« Diese Worte fraßen an Josef. Denn Dorion hatte recht, es war immer eine Fremdheit zwischen ihm und Paulus gewesen. Aber woran lag das? Zugegeben, Kinder interessierten ihn nicht, es fiel ihm schwer, sich in sie einzufühlen. Er war selber ein altkluges Kind gewesen, schnell erwachsen, und dachte nicht gern an seine frühe Jugend. Freier, glücklicher hatte er sich erst mit zunehmenden Jahren gefühlt, da hatte er das Gefühl des Wachsens, des Reifens genossen. Aber trotzdem, wenn er ernstlich wollte, verstand er Menschen zu nehmen, auch sehr junge; freilich war er hochfahrend und wollte selten. Seinen Sohn Paulus hätte er gerne für sich gewonnen, denn er liebte ihn. Warum versagte er gerade vor ihm und vermochte seine Liebe nicht zu äußern? Wenn er es scharf überprüfte, dann war der Knabe der einzige Mensch, vor dem er befangen war. Immer war er vor Paulus unsicher gewesen, auch jetzt wird er seine Fremdheit nicht überwinden können. Dorion hatte recht.

  Dabei sah er mit Bitterkeit und Freude, daß Paulus ein Sohn war, den man wohl lieben und dessen man stolz sein durfte. Die Glieder des Neunjährigen waren zart und dennoch kräftig, seine Bewegungen leicht und sicher. Auf einem langen Hals saß dünn und braun der Kopf, der Kopf der Mutter, aber die heftigen Augen waren die des Vaters, sie glühten herrisch in dem schmalen, feinen Gesicht.
  In der Schule des Nikias, die er besuchte, hatte er unter seinen Kameraden wenig Freunde. Es war nicht nur, weil ihm das Kleid des römischen Bürgerknaben versagt war – unter den achtzig Schülern des Nikias waren zwei Dutzend ohne den Bürgerstreifen –, aber er galt als hochfahrend. Wenn man mit ihm spielte, wenn er sich an den Hahnenkämpfen seiner Kameraden beteiligte und seine eigenen Hähne ins Spiel brachte, dann endete das häufig nicht nur mit Prügeln – das wäre nicht weiter unangenehm gewesen –, sondern es setzte auch scharfe, bösartige Worte, die man einander lange nachtrug. Dabei hatten die andern Achtung vor Paulus, er war tapfer, das bestritt keiner, selbst sein Hochmut gefiel ihnen, und wenn er mit seinem Ziegengespann, dem schönsten seiner Straße, vor der Schule des Nikias anfuhr, dann waren sie geradezu stolz auf ihn. Das hinderte nicht, daß sie sich über den Ziegengestank lustig machten, der ständig um ihn war; wer ein gutes Gespann haben wollte, durfte die Pflege der Tiere nicht Leibeigenen überlassen, er mußte sich selbst darum kümmern. Von dem Ziegengestank aber war kein weiter Weg zu herzkränkenden Schimpfworten über Judengestank und ähnliches. Paulus wußte, daß es nur der Neid war, der seine Kameraden zu solchen Beschimpfungen trieb, der Neid auf seine Ziegen und auf seinen Vater, doch der Hohn traf ihn darum nicht weniger tief. Er ließ es sich nicht merken, ein römischer Junge mußte seinen Ärger verbeißen. Er preßte die Lippen zusammen und blickte hochfahrend über die andern weg. Er war etwas Besonderes, das hob ihn und das fraß an ihm.
  Im Grunde hätte er leidenschaftlich gern mit den andern gespielt. Wenn sie an ihren Tierpuppen aus Wachs und Ton herumkneteten, an primitiven Karikaturen von Lehrern, Kameraden, Bekannten, dann hätte er gerne mitgetan, aber er war jähzornig, er wußte, es kam leicht zum Streit, und er konnte es nicht verwinden, wenn sie ihn als Juden beschimpften. Wenn sie mit diesem besonderen Schimpf anrückten, dann wußte er nichts zu erwidern. So wurde er, gegen seinen Willen, mehr und mehr zu den Erwachsenen getrieben. Er verbrachte viel Zeit in der Gesellschaft seiner Mutter, bewunderte den alten, steifen, ungeheuer vornehmen Valer, verehrte scheu aus der Ferne die weiße, strenge Tullia, suchte Gespräch mit dem lärmenden, sicheren Obersten Annius, mit dem man sogleich vertraut war, schloß sich immer enger an seinen Lehrer Phineas an. Wenn er mit dem zusammen sein konnte oder wenn er sich mit seinen Ziegen abgab, das war seine beste Zeit.
  Es ging ihm gut. Er lernte leicht; im Griechischen, in der Geschichte glänzte er mühelos über seine Kameraden. Als einziger Sohn eines wohlhabenden Hauses hatte er reichliche Mittel zur Verfügung, war gut angezogen, hatte die besten Manieren und das beste Ziegengespann. Es muß gesagt werden, daß er oft heimlich die weiten Ärmel seines Kleides voll von Wachs und Kitt hatte, um Tierfiguren zu kneten, und daß die Sauberkeit seines Anzuges unter dieser Angewohnheit ein wenig litt. Dennoch gehörte er unbestritten zu den vornehmsten und schicksten Jungen in der Schule des Nikias. Was ihm all diesen Glanz vergällte, das war, ohne daß er es sich recht eingestand, das Judentum seines Vaters. Sein Vater war römischer Ritter, ein großer Schriftsteller und ein Freund des Kaisers, er liebte ihn und war stolz auf ihn: aber er war ein Jude. Was das eigentlich war, konnte einem keiner recht sagen. Es mußte etwas Gutes sein, denn sonst wäre sein Vater kein Jude, aber es mußte gleichzeitig etwas sehr Übles sein, sonst würde seine Mutter es zulassen, daß auch er Jude wurde und damit ein junger adliger Römer. Wenn er darüber Fragen stellte, vertröstete man ihn, man werde ihm das alles erklären, wenn er älter sei; aber er gäbe sein Ziegengespann darum, wenn er aus seiner verzwickten Lage heraus wäre.
  Oft, wenn er mit dem Vater zusammen war, betrachtete er ihn scheu, bemüht, näher an ihn heranzukommen. Beschaute seine Hände, die nackte Haut seiner Beine, das alles war fremd und war doch sein Vater, er streichelte wohl auch neugierig und zärtlich diese Haut; sein Vater bemerkte es kaum oder entzog sich ihm bald, ein wenig verwundert. Am meisten an seinem Vater hatte den Jungen der Bart beschäftigt, dieser kunstvoll geknüpfte, scharf dreieckige, schwarze Bart. Als kleines Kind hatte er oft versucht, damit zu spielen, daran herumzudröseln. Später sagte man ihn, daß nur östliche Menschen solche Bärte trügen. Als in allerletzter Zeit der Bart verschwand, war ihm das nackte Gesicht seines Vaters noch fremdartiger vorgekommen als das bärtige, und manchmal sehnte er sich nach dem strengen, kunstvollen Bart.
  Es kam vor, daß der Vater ihm Geschichten aus der jüdischen Legende erzählte, oder er beschrieb ihm die Pracht des Tempels. Aber so gut Josef solche Dinge in seinen Büchern gestaltete, seinem Jungen konnte er sie nicht mundgerecht machen. Die Geschichten der griechischen Welt, die Phineas ihm beibrachte, waren schöner, feiner. Auch war das Griechisch des Vaters fehlerhaft, voll von Akzenten und Betonungen, die Phineas ihm selber streng verbot. Paulus hörte höflich zu, aber er war froh, wenn der Vater zu Ende war.
  Einmal fragte er den Onkel Annius geradezu, wie es denn um die Juden stehe, und ob sie Barbaren seien. Einen kleinen Moment schien Onkel Annius betreten, dann aber sagte er dem Jungen auf seine laute, herzhaft offene Art Bescheid. Im Krieg haben sich die Juden als tapfere Soldaten erwiesen, keine Frage. Daß sie, wie allgemein behauptet werde, in ihrem Tempel einen Esel verehrt oder Griechenknaben geschlachtet hätten, halte er für unwahrscheinlich. Im übrigen steckten sie voll von Aberglauben. Dieser Aberglaube verleite sie zum Beispiel dazu, jeden siebenten Tag, also den siebenten Teil ihres Lebens, zu verfaulenzen. Dabei sei das nicht einfacher Müßiggang. Er habe selber erlebt, wie sich welche an diesem siebenten Tag aus ihrem Aberglauben heraus wehrlos hinschlachten ließen. Man müsse sich mit ihnen abfinden, wie sie nun einmal seien. Ein richtiger Römer könne mit jedem Lebewesen der bewohnten Welt fertig werden. Barbaren? Ja, in einem gewissen Sinn wohl, aber sie gehörten zu der feineren, der höheren Spezies. Mit den Deutschen etwa oder den Briten dürfe man sie nicht auf eine Stufe steilen.
  Über dieses Gespräch dachte Paulus oft und lange nach, am liebsten, wenn er in seinem Ziegenstall mit der Zurichtung des Futters beschäftigt war. Die Beschaffung und richtige Mischung des Futters für die Ziegen war keine leichte Arbeit. Sie waren wählerisch, vor allem Paniscus, der schöne, kastrierte Bock, auf den er stolz war. Sie brauchten trockene, gute Kräuter, ihre sorgfältig abgemessenen kleinen Portionen Salz und sehr viel frisches Grün, das in der Stadt nicht immer leicht zu beschaffen war. Paulus schnitt und mischte, die Ziegen drängten sich an ihn heran, rupften, kauten geräuschvoll, und er dachte. Da, einmal, kam ihm die Erleuchtung. Wenn die Juden Barbaren waren und wenn sein Vater ein Jude war, dann war es eben ein Gutes, ein Barbar zu sein, und dann war er stolz darauf, von einem Barbaren zu stammen. Er war mit seiner Arbeit fertig, aber er verließ den Stall nicht. Er kauerte in seiner Ecke. Das Geräusch der fressenden Ziegen war um ihn, und er dachte weiter an seinem Gedanken. »Ja, so ist es, mein Paniscus«, sagte er befriedigt und kraulte das eifrig kauende Tier hinter dem spitzen, kleinen Ohr.
  Josef sagte sich natürlich, daß sein Junge über seine eigene Zugehörigkeit zu den Juden allerlei Ärgerliches zu hören bekomme, aber wie sehr das an ihm zehrte, davon wußte er nichts, und Paulus sagte ihm nichts. Selbst in diesen Tagen, da Dorions Worte hart in ihm nachklangen, ahnte er nichts von dem Hin und Her im Herzen seines Sohnes.
  Einmal in dieser Zeit traf er Paulus unvermutet auf dem Marsfeld. Der Junge kutschierte sein Ziegengespann. Josef freute sich der Gelegenheit. Er selber war in seiner Sänfte, er schlug Paulus einen Wettlauf vor, wer eher zu Hause sei, der mit seinen Ziegen oder er mit seinen geübten kappadokischen Sänftenträgern, und er war fast ebenso stolz wie Paulus, als dieser einen kleinen Vorsprung hatte.
  Er forderte seinen Sohn auf, mit in sein Arbeitszimmer zu kommen. Das tat er selten, und es war eine große Ehrung für den Jungen. Vater und Sohn schwatzten. In guter Haltung saß der anmutige, kräftige Knabe seinem Vater gegenüber, beglänzt von einem Streif der starken, schräg einfallenden Sommernachmittagssonne. Wieder verglich Josef im Geiste den Sohn der Mara mit dem Sohn der Dorion, und sein jüdischer Sohn erschien ihm plump.
  Er fragte und erfuhr, daß Paulus jetzt die Odyssee las, in der Schule sowohl wie mit Phineas, und zwar den fünfzehnten Gesang. Josef selber hatte in Rom mit heißem Bemühen seinen Homer studiert. Gutmütig jetzt, ungewohnt täppisch und gleichzeitig stolz zitierte er Paulus ein paar Verse. Der Junge hörte höflich zu. Ungefüg kamen die edlen griechischen Laute aus dem Munde des Vaters. Sie waren Barbaren, die Juden, sie verhunzten das Griechische durch ihren Akzent; gewiß, wenn sein Vater ein Barbar war, dann durfte man stolz darauf sein, zu den Barbaren zu gehören, aber Paulus konnte trotzdem, als sein Vater zu Ende war, der Versuchung nicht widerstehen, seinesteils ein paar Verse zu zitieren in der einwandfreien Aussprache und in dem elegant modischen Tonfall, halb Prosa, halb Gesang, wie er ihn von Phineas erlernt hatte. Josef, keineswegs gekränkt, hörte erfreut, wie wohllautend die schönen Zeilen aus dem Munde seines Jungen kamen. Sein Griechisch kann er, dieser Phineas. Wie stolz war er selber auf sein Griechisch gewesen, damals, als er an dem MakkabäerBuch schrieb. Jetzt weiß er, wie erbärmlich es war. Phineas müßte den Kosmopolitischen Psalm übersetzen. Schade, daß er so tückisch ist.
  Der Junge sprach seine Verse weiter: »Siehe, so mußte auch ich das Land meiner Väter verlassen, und so ward ich ein Fremder und Flüchtling unter den Menschen.« Paulus war zu Ende, die Verse standen noch im Raum, Josef hatte nur ihren Klang gehört, jetzt überdachte er ihren Sinn, und sie schmeckten ihm bitter.
  »Mein griechischer Akzent ist nicht gut«, sagte er plötzlich, scheinbar ohne Zusammenhang, es klang wie eine Bitte und eine Entschuldigung. Er fragte sich, welchen Homer-Kommentar Phineas wohl benütze; es gab vier oder fünf sehr gute Kommentare, einer davon war voll von antisemitischen Ausfällen, es war der des Apion. Wenn er den des Apion benützt, dachte Josef, dann schmeiße ich ihn hinaus. Aber er wagte nicht, seinen Sohn zu fragen.
  Der, mittlerweile, mechanisch, formte in der Verborgenheit seines weiten Ärmels an dem Kitt, den er dort mit sich trug. »Was kramst du da?« fragte Josef. Der Junge hatte sich soeben im Stolz seines herrlichen Griechisch dem Vater überlegen gefühlt, jetzt errötete er tief. Josef lachte gutmütig, er lachte selten. In seinem Innern aber dachte er: Alles bringen sie ihm bei, wovon sie wissen, daß es mir verboten und verhaßt ist. Wenn er den Kommentar des Apion benützt, schmeiß ich ihn hinaus.

Wenige Tage darauf ging er in das Zimmer des Paulus zur Zeit, da Phineas ihn unterrichtete. Er setzte sich still hin und hörte zu. Phineas ging gründlich vor, zergliederte die Verse, ging keiner Schwierigkeit aus dem Weg und machte doch gleichzeitig alles dem Kinde schmackhaft und verständlich. Josef war interessiert; Homer war den Griechen, was den Juden die Bibel war. Homer, das waren lauter hübsch gefärbte Lügen und Phantasien, aber man konnte viel Scharfsinn daran knüpfen, diese Phantasien zu kommentieren. Es war eine andere Methode, aber sie war eine gute Schulung. Es wäre amüsant, den Homer einmal kritisch zu beklopfen mit den Auslegungsmethoden, die man auf den jüdischen Hochschulen zur Kommentierung der Bibel anwandte. So hätte er dem Paulus den Homer beizubringen versucht. Schade, daß das nicht ging.
  Josef kramte in den Manuskripten, die auf dem Tisch lagen, lächelnd, mit dem Interesse eines Erwachsenen für eine kindliche Spielerei. Plötzlich, mitten in der nachlässigen Lektüre eines aufgeschlagenen Buches – es war einer jener modischen Papyrusbände zum Umblättern, wie sie Josef nicht leiden konnte, nicht eine der alten, soliden Pergamentrollen – setzten ihm Herz und Gedanken aus. War das nicht ...? Er blätterte nach vorn. Ja, das war der Kommentar des Apion.
  Ruhig bleiben, sagte sich Josef. Nicht durchgehen, vor dem Jungen keinen Zorn zeigen. Ich muß ihn hinausschmeißen. Nachdem er dies wagt, kann ich ihn nicht mehr schonen; es wäre Irrsinn. Aber gespannt bin ich, ob er sich erfrecht, das Buch dieses Hundes in meiner Gegenwart dem Jungen vorzusetzen. Josef konnte den Worten des Phineas nur noch mit Mühe folgen, seine heftigen Augen waren verschleiert vor Wut, er atmete mühsam. Aber er war gewiß, bis jetzt hatte Phineas den Apion noch nicht zitiert. Er sprach nichts, hörte zu, wartete.
  Der kluge Phineas hatte längst gemerkt, worum es ging. Seit seiner letzten Arbeit mit Josef rechnete er damit, daß der ihm einmal, bald, Dienst und Brot aufsagen werde. Es kümmerte ihn wenig; er war bedürfnislos, und das Gesetz zwang Josef, seinem Freigelassenen das Existenzminimum zu geben. Leid freilich wäre es dem Phineas, wenn man ihn des Einflusses auf den Knaben beraubte, den er liebgewonnen hat. Aber er denkt nicht daran, aus solchen Gründen sein Griechentum und seine griechische Wahrheit zu verleugnen.
  Gleichmütig also, es mochte eine kleine halbe Stunde sein, seitdem Josef im Zimmer war, sagte er: »Apion meint dazu«, und er greift nach dem Buch und beginnt daraus zu zitieren. Josef unterbricht ihn. »Wollen Sie wirklich dem Jungen diesen Kommentar beibringen?« fragt er. »Meinem Jungen?« Seine Stimme ist heiser, er preßt sie, um nicht heftig zu werden, er spricht leise, aber eine Welt von Empörung liegt in diesem »meinen«. »Finden Sie den Homer-Kommentar des Apion nicht gut?« fragte gelassen Phineas zurück, während Paulus neugierig, erstaunt, von einem zum andern schaut. »Aber darüber brauche ich mit dem Schriftsteller Flavius Josephus nicht zu diskutieren«, fährt er verbindlich fort. »Wissen Sie einen zweiten, der so gute Worte gefunden hätte zum Lob des Schriftstellers wie dieser Apion? Ist Ihnen aufgefallen, daß der Senator Marull in der Lobrede vor Ihrer Büste unversehens auf Worte des Apion zurückgriff? Ich glaube, es gibt schwerlich ein besseres Mittel, unserem Paulus« – er betonte ganz leise das »unserem« – »beizubringen, wie hoch und edel der Beruf seines Vaters ist.«
  Er hatte das Buch wieder auf den Tisch gelegt. Josef, unwillkürlich, packte es; er pflegte sorgsam mit Geschriebenem umzugehen, doch er konnte sich nicht zähmen, er packte es so heftig, daß es beschädigt wurde. Aber immer noch preßte er die Stimme und wurde nicht laut. »Und Sie geben wirklich«, sagte er, »dem Jungen den schmutzigen Unsinn zu lesen, den dieser Ägypter über das Volk seines Vaters auskübelt?« Während er das sagte, dachte er: Jetzt ist es soweit, jetzt schmeiße ich ihn hinaus. Aber ich muß es ruhig tun, ohne Heftigkeit. Dabei ist es ein Jammer, daß er nicht den Kosmopolitischen Psalm übersetzt. Ein guter Lehrer ist er auch. Schade, daß er so tückisch ist. Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und ich bin einer von ihnen. Aber das Ohr meines Jungen habe ich nicht. Er hat es. Und er vergiftet meinen Jungen, er stiehlt ihn mir für immer, er macht ihn mir schmutzig mit dem Dreck dieses aussätzigen, ägyptischen Hundes. Und ich schmeiß ihn hinaus.
  Der sehr große, blasse Kopf des Phineas war noch blutloser geworden. Aber seine Stimme blieb gelassen, elegant und kalt wie immer, als er erwiderte: »Ich weiß nicht, ob ich die judenfeindlichen Sätze in dem Homer-Kommentar überschlagen hätte, sie sind nicht wichtig. Aber das muß ich sagen: ich hatte die Absicht, in zwei oder in drei Jahren mit unserem Paulus die Schrift des Apion ›Gegen die Juden‹ zu lesen und auch die ›Ägyptische Geschichte‹ des Priesters Manetho.« Dies waren die erbittertsten judenfeindlichen Schriften, die die Epoche kannte.
  Ruhig bleiben, sagte sich Josef. »Lest ihr in der Schule auch den Kommentar des Apion?« wandte er sich an Paulus. Seine Stimme klang beherrscht. Trotzdem war ein solcher Grimm in ihr, daß Paulus aufstand und sich – war es eine Flucht oder ein Bekenntnis? – neben Phineas stellte. »Ja«, antwortete, da er schwieg, für ihn Phineas, »auch in der Schule des Nikias lesen sie den Kommentar des Apion. Mit Recht. Ich hielte es für verfehlt«, fügte er hinzu, und seine grauen, klaren Augen schauten furchtlos wie die eines Naturforschers das nackte, heftige Gesicht des Josef auf und ab, »dem Jungen die Bücher des Manetho und Apion vorzuenthalten. Was diese Autoren über die Juden sagen, mag zu einem kleinen Teil richtig sein und zum größeren falsch – ich zum Beispiel halte es natürlich für unsinnig, zu unterstellen, daß Sie etwa jemals an der Schlachtung eines griechischen Knaben teilgenommen hätten –, aber es ist eine von vielen angenommene Meinung großer Männer, und man kann sie nicht einfach verschweigen. Es ist nicht meine Absicht, unsern Paulus so zu erziehen, daß er, wenn er einmal an das Studium des ›Jüdischen Kriegs‹ herankann, das Werk ohne Kritik liest. Er wird seine Vorzüge vielleicht doppelt schätzen, wenn er auch die Meinungen anderer kennt.«
  Vor diesem kühlen, höflichen Hohn zerbrach die mühsame Gelassenheit des Josef. »Sie haben mein Vertrauen tückisch mißbraucht, Phineas«, sagte er, »Sie sind ein Lump, Freigelassener Phineas«, und er legte das Buch des Apion zurück auf den Tisch, auffallend behutsam. Auch seine Stimme blieb leise, aber er konnte nicht verhindern, daß diese seine leise Stimme voll war von einem unendlichen Haß und daß sein Gesicht sich verzerrte. Was für einen Unsinn mache ich, dachte er. Wie kann ich in Gegenwart des Jungen solchen Unsinn machen? Sie sind ein Lump, habe ich gesagt. Es ist einfach verrückt, und hat nicht einmal einer in meiner Gegenwart von mir gesagt, daß ich ein Lump bin? Und schaut nicht Paulus zu? Ja, Paulus schaut mir ins Gesicht, Paulus hört meine Stimme, Paulus hat gelernt, daß ein Mann sich beherrschen muß und daß einer verächtlich ist, ein Barbar, wenn er sich nicht beherrscht. Ich bin verächtlich für Paulus, ich bin ein Barbar für Paulus. Jetzt habe ich selber eine Mauer zwischen mich und Paulus gestellt, eine riesige. Ich bin ein Narr. Und Phineas ist zwar ein Lump, aber der einzige, von dem Paulus seinen Homer annimmt, und der einzige, der den Psalm übersetzen könnte. Und wie stand er da im Friedenstempel, nach dem Vortrag des Dio, als er zu den Senatoren sprach. Ich bin ein Narr. Ich hätte mich nicht auf einen Streit mit ihm einlassen dürfen.
  Der Knabe hatte sich dicht neben seinen Lehrer gestellt; mit der einen Hand im Ärmel, nervös, knetete er heftig an einem Stückchen Kitt herum, mit der andern hatte er die des Phineas ergriffen. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute er blaß auf seinen Vater, der so alle Herrschaft über sich verloren hatte. »Sie waren mein Herr, Flavius Josephus«, sagte Phineas, »ich bin Ihr Freigelassener, ich bin Ihnen Gehorsam und Achtung schuldig nach dem Gesetz. Außerdem steht Zorn dem Manne schlecht an, das versuchte ich von jeher unserm Paulus beizubringen, und ich will nicht einer sein, der gegen seine eigenen Lehren handelt. Was soll ich Ihnen erwidern, Flavius Josephus? Ich glaube nicht, daß ich irgend jemandes Vertrauen mißbraucht habe. Leider haben Sie selber niemals mit mir über Paulus gesprochen, aber die Dame Dorion gab mir oft Gelegenheit, mich mit ihr über meine Lehrmethoden zu unterhalten. Sie billigt sie.«
  Auf dieses letzte, höllische Argument des Griechen wußte Josef nichts zu erwidern. Nein, er war dem Phineas nicht gewachsen. Sein Bild stand im Friedenstempel in korinthischem Erz, er hat ein Buch geschrieben, das Ost und West priesen, aber er wurde seines Freigelassenen nicht Herr, er war lächerlich und ein Narr in seinem eigenen Hause, es war ihm nicht gegeben, den Sohn, den er liebte, aus den Irrlehren des Griechen zu befreien. »Ich billige Ihre Lehrmethoden nicht, Phineas«, sagte er schließlich, trocken, es war ein verhältnismäßig guter Rückzug, seine Stimme verriet nichts von seinen bitteren, hilflosen Gedanken. »Ich wünsche Ihre Dienste nicht länger, weder als Erzieher meines Sohnes noch als Sekretär.« Er strich mehrmals glättend über das Buch des Apion, lächelte Paulus zu, der blaß dastand, sehr nah an seinem Lehrer, und ging.

Am andern Tag erschien eine Zofe der Dorion und fragte förmlich im Auftrag ihrer Herrin, ob Josef die Dame Dorion empfangen wolle. Josef erwiderte: »Ja, natürlich«, aber er fühlte sich unbehaglich, unsicher.
  Und dann, sogleich, kam Dorion, kühl, höflich. Josef liebte es nicht, wenn sie die hauchdünnen Kleider trug, die sie fürs Haus bevorzugte. Dennoch hätte er sie heute lieber in einem solchen Kleid gesehen als in der Besuchstracht, die sie angelegt hatte. Sie ging ohne Umschweife auf ihre Sache los. Der Ausbruch des Josef, die Art, wie er sich vor ihrem lieben Sohn habe gehenlassen, habe ihre Geduld ausgeschöpft. Phineas sei der ideale Erzieher des Jungen, ein Erzieher, den Paulus dringlich benötige. Sie wolle nicht länger mit einem Manne zusammen leben, der ihren Sohn des Erziehers beraube. Sie wisse, daß ein solches Argument dem Sittengericht nicht für die Scheidung genüge, wohl aber, darüber hätten ihre Freunde sie unterrichtet, sei die Tatsache, daß Josef seine frühere Konkubine mit ihrem Sohn habe nach Rom kommen lassen, für dieses Gericht ein zureichender Scheidungsgrund. Sie bitte ihn also, ihr binnen drei Tagen mitzuteilen, ob er gütlich in die Scheidung willige oder ob er sie zu einem Prozeß zwingen wolle.
  Josef war hilflos erbittert. Er wußte, Dorions Ansinnen war nicht ernst gemeint, sie wollte ihn durch die Drohung mit der Scheidung lediglich nötigen, den Phineas zurückzurufen. Aber niemals bisher hatte sie so grobe Mittel angewandt. Überdies hatte sie ihren Freunden von der Sache erzählt, ihn durch die leidige Geschichte vor diesen Burschen bloßgestellt, vor dem unausstehlichen Annius, dem läppischen, senilen Valer, vor der ganzen widerwärtigen Clique. Dabei hatte sie doch selber ihn in die Sache mit Phineas hineingehetzt. Hat nicht sie ihn höhnisch aufgefordert, sich Paulus zurückzuholen? Finster jetzt, ohne sie zu unterbrechen, hörte er sie an, und als sie zu Ende war, nach einem kleinen Schweigen, sagte er trocken: »Schön, ich werde es mir überlegen.«
  Noch ehe es Nacht war, bereute er. Überlegen. Unsinn. Er dachte doch nicht daran, sie aufzugeben. Was? Soll er sich von Dorion und Paulus trennen, weil ein Phineas den Apion und Manetho für gute Schriftsteller hält? Das war ihm doch längst bekannt. Und daß Phineas dem Paulus nicht die Bibel und die Propheten beibringt, sondern den Homer und den Apion, das hatte er sich doch auch von jeher an den Fingern abzählen können. Er wird zu bequem, er läßt sich immer mehr von seinem Trieb leiten statt von seiner Vernunft. Er muß kältere Bäder nehmen, dann wird er sich nicht mehr so leicht hinreißen lassen. Er hat sich unwürdig benommen. Sein in den Prinzipien der Stoa, der Selbstbeherrschung, erzogener Sohn wird ihm das nicht so leicht vergessen.
  Er muß die ganze Geschichte einrenken.
  Ohne sich lange zu besinnen, ohne sich melden zu lassen, geht er hinüber zu Dorion, klinkt die Tür auf. Er findet sie auf dem Ruhebett, ungeschminkt, aufgelöst in Wut und Tränen. Ihre Augen haben nichts mehr von ihrer hellen Wildheit, es sind trübe, schmollende Kinderaugen. Er setzt sich zu ihr, faßt sie um die Schulter, redet ihr gut zu.
  Zwischen zwei Umarmungen treffen sie ein Abkommen. Es wird alles beim alten bleiben. Er nimmt die Verabschiedung des Phineas zurück. Sie redet nicht mehr von der Austreibung der Mara und sagt dem Phineas, er möge ihren Sohn mit der Lektüre des Apion und Manetho verschonen.


Die Prinzessin Berenike hatte in der kleinen Badehalle ihres Palais in Athen geschwommen, jetzt ließ sie sich von ihrem Masseur unter Aufsicht des Leibarztes salben und kneten. Wenn sie den Kopf zurücklegte, dann war die Haut ihres Halses glatt und edel; richtete sie aber den Kopf hoch, dann sah man trotz aller Schönheitspflege Fältchen.
  Während Leibarzt, Masseur und Kammerfrau sich um sie beschäftigten, schwatzte sie mit ihrem Bruder, dem jüdischen Titularkönig Agrippa. Es war von frühester Jugend an zwischen den Geschwistern große Vertrautheit gewesen, vor ihm gab sie sich rückhaltlos, sie schämte sich nicht ihrer Nacktheit, sie befragte ihn sachlich, ob sie nicht schlaff und ältlich aussehe. Grünlich wässeriges Licht füllte das kellerartige Gewölbe des Schwimmbads und der Turnhalle, es war angenehm kühl. »Man sollte das Schwimmbad vergrößern lassen«, meinte Berenike, aber es klang zerstreut. »Warum nicht«, erwiderte ebenso zerstreut Agrippa. Die Geschwister, die reichsten Fürsten des Ostens, waren in der ganzen Welt um ihrer Bauleidenschaft willen bekannt; allein heute stand weder ihr noch ihm der Sinn nach baulichen Projekten.
  »Fester, knete mich fester«, forderte Berenike den makedonischen Masseur auf, der jetzt an ihrem Fuß arbeitete. »Nicht zu fest, Hoheit«, mahnte der Arzt. »Sie machen es dadurch nur schlechter und haben die Schmerzen.« Berenikes Gesicht war wirklich leicht verzerrt. Aber alle hier im Raum wußten, daß sie zehnmal mehr Schmerz auf sich genommen hätte, wenn das die Heilung ihres Fußes auch nur um ein Winziges beschleunigte.
  »Hat man wirklich nichts gemerkt?« erkundigte sie sich ängstlich, schon zum drittenmal, bei ihrem Bruder. »Ich würde es dir doch sagen, Nikion«, begütigte sie Agrippa. »Habe ich es dir irgendwann unterschlagen? Bestätigen Sie es ihr, Doktor«, wandte er sich an den Arzt. »Sind wir nicht übereingekommen, Nikion unter keinen Umständen etwas vorzumachen? Sie soll alles genau wissen, jedes Detail.« – »Sie haben mir heute morgen so wenig Ursache gegeben, Hoheit«, erklärte der Arzt, »mich um Sie zu kümmern, daß ich wirklich Muße hatte, die Gesichter zu studieren, die auf der Tribüne und die auf der Straße. Es ist niemand auch nur auf die Vermutung gekommen, es könnte mit Ihrem Fuß etwas nicht in Ordnung sein.« – »Wenn ich lange Kleider anhabe«, überlegte Berenike, »wird es jetzt wahrscheinlich wirklich selten erkennbar. Aber wie ist es, wenn man den Fuß sieht?« – »Ich habe herumgehorcht«, mischte sich die Kammerfrau ein. »In Griechenland so gut wie in Syrien und in Ägypten glaubt jedermann, daß die Prinzessin nur wegen ihres Haares und des Gelübdes zögert, nach Rom zu gehen.«
  Berenike war tapfer, gewohnt, ihre Angelegenheiten mit sich allein auszumachen. Aber es drängte sie, sich immer von neuem bestätigen zu lassen, daß ihr Fuß völlig verheilen werde. Sie verlangte nach immer neuen Beruhigungen. Heute morgen hatte man ihr hier in der Stadt Athen einen Ehrenbogen errichtet, die Zeremonie, von der sie zurückkam, war lang und ermüdend gewesen, der Gouverneur der Provinz hatte gesprochen, der Bürgermeister von Athen, der Präsident der Akademie, sie selber hatte erwidert, und während dieser ganzen Zeit hatte sie stehen müssen. Sie fühlte sich müde, aber sie hatte das Gefühl, sie habe gut durchgehalten. »Fester, knete mich fester«, forderte sie nochmals. Trotz allem, was der Arzt sagte, glaubte sie, durch noch energischeres Training, durch noch mehr Schmerz könne sie eine raschere Genesung erzwingen.
  Sie hat die Stadt wahrhaftig königlich beschenkt, hat ihr eine große Wandelhalle gestiftet, ein glanzvolles Bade-Etablissement. Heute abend wird der Bürgermeister ein zweites Mal bei ihr vorsprechen. Sie weiß, warum. Griechenland rühmt ihre leidenschaftliche Neigung für griechische Kultur. Sie ist die einzige Frau, der die Stadt einen Ehrenbogen errichtet hat. Jetzt, hofft man, wird sie bei Titus der Stadt und der Provinz die Rechte und Privilegien neu erwirken, die Kaiser Nero erteilt und Vespasian annulliert hat. Berenike ist geneigt, sich für diese Wünsche einzusetzen, sie freut sich, daß man mit solcher Sicherheit in ihr die künftige Kaiserin sieht; aber nicht ohne Sorge denkt sie daran, daß sie sich bei der Audienz heute abend ein zweites Mal wird zusammenraffen und repräsentieren müssen. Sie kann zwar die Reden der Herren sitzend anhören, aber dann, wenn sie erwidert, muß sie aufstehen und eine geraume Zeit stehen bleiben. Disziplin. Damals, unmittelbar bevor Titus nach Jerusalem aufbrach, bei dem großen Abschiedsbankett in Alexandrien, hatte Titus von römischer Disziplin gesprochen; es waren Worte, die ihm tief aus dem Innern kamen, und sie hat ihn sehr geliebt für diese Worte. Nun hat sie Gelegenheit, Disziplin zu zeigen. Bis jetzt, glaubt sie, hat sie sich nicht schlecht gehalten.
  Drei Wochen noch, das ist das Äußerste, länger kann sie die Reise nach Rom nicht hinauszögern. »Werden wir es schaffen, Strato«, wendet sie sich an den Arzt, zum fünfzigstenmal, »in drei Wochen?« Und »Ja, Hoheit«, erklärt zum fünfzigstenmal der Arzt. »Sie werden es schaffen, auch mit der Hälfte Ihrer Energie.«
  Man ist zu Ende mit der Massage. Der Arzt Strato mit Hilfe der Kammerfrau umwickelt das geschwollene, verdickte, zerbrochene Bein mit Kräutern und Verbänden, dann läßt er Berenike und ihren Bruder allein. Sie liegt auf dem Ruhebett in dem grünlichen, von Wasserdunst erfüllten Raum, sie liegt nackt, sie bewegt den kranken Fuß mechanisch auf und ab, sie hat sich gewöhnt, zu trainieren, immerzu, allen Abmahnungen zum Trotz.
  Aber nun, nach der ungeheuren Anspannung, die die Zeremonie von ihr verlangte, und vor der neuen Anspannung, die die Audienz von ihr verlangen wird, überkommt sie trotz allem eine große Schlaffheit. Vor ihrem Bruder darf sie sich gehenlassen, sich ausschütten, klagen. Kraftlos liegt sie, schließt die Augen, violett verfälteln sich unter den dünn rasierten Brauen die Lider. Sie sieht ihren Bruder nicht, aber sie spürt, wie er auf sie schaut, still, eins mit ihr, der Mensch, der sie am meisten auf der Erde liebt. Und ganz leise, im Aramäisch ihrer frühen Jahre, spricht sie zu ihm, zusammenhanglos, aber sie weiß, er kennt die Zusammenhänge, sie muß es heraussagen, das endlos oft Gedachte, sie muß jammern, klagen, Gott und die Welt anklagen, wie sinnlos man mit ihr umgesprungen ist. »O Agrippa, o mein Bruder«, jammert sie, »warum mußte der Gouverneur diese Jagd für mich veranstalten? Wenn einer mein Freund ist, dann doch dieser Tiber Alexander. Und warum mußte er mir dieses verdammte Pferd Saxo geben? Warum mußte mir dieser läppische Unfall zustoßen? Sag es mir, mein Bruder, erklär es mir. Ich werde verrückt darüber. Als der Alte starb, da war ich so sicher, ich werde die zweite Esther sein. Du selber hast mich nicht mehr Nikion genannt, sondern immer nur Esther. Jetzt hast du mich lange nicht mehr Esther genannt.
  Ja, ich weiß schon, es war Glück im Unglück, und alle haben getan, was sie vermochten. Es war ein Glück, daß ich auf der Jagd den Schmerz verbeißen konnte. Es ist ein Glück, daß nur neun Leute um den Unfall wissen und daß sie zuverlässig sind, alle neun. Tiber Alexander wird nichts verraten, es ist nicht in seinem Interesse, und die andern sind von uns abhängig, ich weiß es, und du hast ihnen klargemacht, daß sie Freiheit haben werden und Reichtum, wenn sie bis zum Ende mitspielen, und daß sie dir nicht entgehen können und erledigt werden, wenn sie das nicht tun. Auch die Idee mit dem Gelübde war eine gesegnete Idee von dir. Du bist mein kluger Bruder, und du kennst die Welt. Ja, ja, es wird gut hinausgehen, es muß gut hinausgehen, sag es mir noch einmal, sag es mir oft.
  Aber wenn du es mir noch so oft sagst und wenn ich selber es mir sage, der Wurm bleibt doch und bohrt in mir. Es wird nicht gut hinausgehen. Es ist eine Strafe, und man kann sich ihr nicht entziehen. Wir wollten Griechen sein, und wir wollten Juden sein, und das geht nicht. Jahve erlaubt es nicht. Wir wollten zuviel, wir waren zu hochmütig. Es ist eine einzige Sünde, die die griechischen Götter genauso strafen wie Jahve, das ist der Hochmut, die Hybris, und wir haben sie begangen, und das ist die Strafe.
  Ja, Titus hat mich geliebt, und er liebt mich noch. Aber selbst wenn es mir glückt, selbst wenn ich jede äußere Spur verwischen kann und nicht hinke, wird nicht jenes Unaussprechliche weg sein, um dessentwillen sie meinen Gang rühmten? Ja, sag es mir noch einmal, sag es mir hundertmal, es ist nicht wegen meines Ganges, daß Titus mich liebt. Aber, frag dich selbst, ist es nicht immer eine läppische Kleinigkeit, die einen Mann anzieht, und wenn sie nicht mehr da ist, selbst wenn er es nicht merkt, ist dann nicht der ganze Zauber fort? O Agrippa, o mein Bruder, es ist vergebens. Alles, was wir tun, und wenn du es noch so klug ausgesonnen hast, ist vergeblich. Es ist unser Hochmut, und es ist die Strafe.«
  Drei Stunden später aber, als sie Bürgermeister und Magistrat der Stadt Athen empfing, war sie strahlend und königlich wie je. Und die Stadt Athen freute sich, daß die künftige Kaiserin ihren Delegierten soviel Huld erwies.

Der Prinz Domitian zeigte seinem Freund Marull den Fortgang der Bauten, die er auf der Domäne von Albanum aufführte. Die Villa mit ihren zahlreichen Nebengebäuden, das Theater, die in den See vorgeschobenen Pavillons. Die Architekten Grovius und Rabirius führten, großes Gefolge war da, der Intendant des Prinzen, der Obergärtner, dazu Silen, ein dicker, behaarter Zwerg, den der Prinz um seines grotesken, erschreckenden Aussehens willen für teures Geld gekauft hatte und der mit hoher Fistelstimme bösartige Witze vorbrachte.
  Seitdem Bübchen die Erfahrung gemacht hatte, daß er von Titus Geld in jeder Menge haben konnte, setzte er seiner verschwenderischen Laune keine Grenzen mehr. Was er baute, sollte den Staatsbauten seines Bruders nicht nachstehen. Hier die Villa gar war für Lucia bestimmt, und was war kostbar genug, für Lucia den rechten Rahmen zu bilden? Der Spleen des Prinzen trieb seine Architekten und Ingenieure dazu an, immer neue Überraschungen zu ersinnen, barocke Maschinen, um nach Belieben die Wände eines Saales zurückweichen, die Decke verschwinden zu lassen, auf daß alles ringsum sich jeder wechselnden Laune Lucias anpasse. In den Wüsten Afrikas, in den Steppen und Dschungeln Asiens jagte man, um seine Gärten, Lucias Gärten, mit merkwürdigem, schauerlichem und groteskem Getier anzufüllen.
  Es war heiß, der Rundgang war ermüdend. Marull war froh, als man zu Ende war und in einem kleinen, dämmerigen Saal Eisgetränke serviert bekam. Domitian bat seinen Freund um ein ehrliches Urteil. Der hielt auch nicht zurück und wog Lob und Tadel gemessen ab. Er hatte Verständnis für den finstern, großartigen Humor des Prinzen, so plump sich dessen Launen manchmal auswirkten. Er hatte sich ursprünglich aus äußeren Gründen dem Domitian genähert: er wollte, nachdem Vespasian ihn aus dem Senat ausgestoßen hatte, sich an dem Kaiser dadurch rächen, daß er sich seinem unlieben Sohn befreundete. Allmählich aber, so scharf Marull alle Mängel des Prinzen sah, war aus dieser äußeren Verknüpfung beinahe etwas wie wahre Freundschaft geworden.
  Als Bübchen ihm seine neuen Bauten mit soviel Beflissenheit vorführte, hatte Marull gleich geahnt, daß der Prinz mehr von ihm wollte als bloße Begutachtung. Bald zeigte sich, daß seine Vermutung richtig war. Domitian brauchte seine Hilfe zur Ausführung einer originellen Idee. Er wollte nämlich zur Eröffnung des zur Villa gehörigen Theaters eine Posse spielen, in der die Eroberung einer östlichen, barbarischen Provinz durch die Makedonier gezeigt werden sollte. »Und?« fragte aufmerksam Marull, den Prinzen aus seinen scharfen, hellblauen Augen durch den blickschärfenden Smaragd musternd. Domitians Gesicht rötete sich leicht, die aufgeworfene Oberlippe dehnte sich zu einem bösartigen Lächeln. »Es soll natürlich«, sagte er, »kein verstaubtes, historisches Theater sein, sondern die aktuellen Beziehungen sollen, auch ohne starke Unterstreichung, sofort jedermann deutlich werden. Wenn Sie mir zum Beispiel, lieber Marull, Ihren Adjutanten Johann von Gischala für die Aufführung ausborgen wollten, dann würde mein Brüderchen ohne weiteres merken, worum es geht.«
  Marull klopfte nachdenklich mit seinem eleganten Bettelstab den Boden. Er hatte alles durchkostet, was der verwöhnteste Mann der Epoche ausschmecken kann, er war ausgekältet. Sensationen mußten, wenn sie ihm Spaß machen sollten, sehr abgelegen sein. Vielleicht war der einzige Mensch, an dem ihm wirklich lag, eben jener Johann von Gischala, sein Leibeigener. Dieser Johann war im judäischen Krieg Feldherr gewesen, neben dem Kommandanten Simon Bar Giora die bedeutendste jüdische Figur des Krieges; er hatte die Bauern Galiläas in den Krieg getrieben, sie angeführt. Den Simon Bar Giora hatte man ans Kreuz geschlagen, den Johann von Gischala hatte er, Marull, um sehr viel Geld und mit Aufbietung all seiner Beziehungen aus der Beute erworben. Er verwendete ihn jetzt als ständigen Begleiter; Johann hatte, gestützt auf sein ausgezeichnetes Gedächtnis, ihm die Namen und Eigenschaften der Begegnenden zuzuflüstern, deren sich Marull selber nicht entsinnen konnte. Aber es war nicht um seines Gedächtnisses willen, daß Marull an dem Manne hing. Er wollte, der Stoiker, in ihm ein Symbol des Schicksals um sich haben, des mächtigen, unentrinnbaren, mit höchster Einsicht begabten und unverständlichen, ein Symbol menschlicher Größe und menschlichen Sturzes, eine stete, ironische Mahnung.
  Wie jetzt der Prinz ihn aufforderte, ihm den Johann für seine Aufführung auszuborgen, zögerte er. Er hatte, was ihm an menschlicher Wärme geblieben war, an diesen Johann gehängt. Zuerst hatte er sich nur einen Spaß mit Bedeutung machen wollen, er hatte erwartet, Johann werde nach soviel hartem und großem Erleben finster und pathetisch sein, erfüllt von dunkler Menschenverachtung. Aber nichts dergleichen. Johann legte trotz seines ausgezeichneten Gedächtnisses eine merkwürdige Fähigkeit an den Tag, seine eigene Vergangenheit restlos zu verdauen. Er hatte alle seine Intensität in den jüdischen Feldzug gesteckt, hatte Zehntausende in den Tod geschickt, sein eigenes Leben unzählige Male aufs Spiel gesetzt, hatte Schicksal ausgeteilt und Schicksal erlitten. War neben Simon Bar Giora im Triumphzug aufgeführt, gegeißelt, in die Gewalt des Marull überstellt worden. Damit war für ihn der jüdische Feldzug aus, sein Pathos vorbei. Das Unternehmen war mißglückt, er hatte seine Folgen auf sich genommen, hatte es liquidiert. Die Geschehnisse waren abgetan, Schluß damit, es beginnt eine neue Existenz.
  Nur diesen einfachen, dürren Bestand, nichts anderes, Interessanteres konnte Marull aus Johann herausholen, wenn er ihn auf noch so kluge und behutsame Art auszuforschen suchte. Zuerst hatte Marull geglaubt, der Mann wolle ihn auf irgendeine verschmitzte Art hereinlegen. Aber immer deutlicher zeigte sich, daß die Haltung des Johann aufrichtig war. So pathetisch den Römern die Motive des Krieges schienen, dieser Hauptanstifter hatte ihn wirklich nicht aus pathetischen Gründen angezettelt. Johann von Gischala war ein kleiner, galiläischer Landedelmann gewesen. Er hing an seinem Gut, er hatte den starken Erwerbsinn des Bauern, er wollte sein Öl mit gutem Gewinn verkaufen, sein Terrain vergrößern und fand es unerträglich, daß diese Römer übers Meer herkamen und sich in seine Geschäfte mischten. Dagegen mußte etwas geschehen, dagegen mußte man aufbegehren, dagegen mußte man, wenn es nötig war, Krieg anfangen. Man hatte Krieg angefangen, Johann war gegen seinen Willen ins Pathetische hineingerissen worden, hatte, wie er selber glaubte und hunderttausend andere glauben machte, Krieg geführt für Jahve gegen Jupiter. Nun war der Krieg mißglückt, und im Grunde war der verstandesklare Mensch froh, seines Pathos wieder ledig zu sein. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß der Krieg nicht das rechte Mittel war, die Dinge ins Gleis zu bringen. Folglich muß man eine andere Methode suchen. Seine nächste Aufgabe jedenfalls war, wieder zu Terrain und zu gut verkäuflichem Öl zu kommen.
  Diese Haltung, dem Marull vollkommen fremd, gefiel ihm gerade wegen dieser Fremdheit. Er gewann den Mann auf seine Art lieb. Oft spielte er mit dem Gedanken, ihn freizulassen, aber er fürchtete, der sehr gewandte Johann werde dann Mittel finden, nach seinem Galiläa zurückzukehren, und ihm für immer entschwinden. Johann war dem Marull mehr geworden als eine snobistische Attrappe, er sah geradezu einen Freund in ihm und wollte ihn ungern verlieren.
  Wie jetzt Domitian mit seinem Ansinnen herausrückte, bewegte den Marull Zwiespältiges. Den Feldherrn eines Krieges in einer Parodie auf diesen Krieg auftreten zu lassen, das konnte an sich ein guter Spaß sein, aber der Parodierte mußte der Sieger sein, nicht der Besiegte. Der jüdische Krieg war in Wahrheit alles eher als ein Spaß gewesen, es war wohlfeil, ihn zehn Jahre nach erfochtenem Sieg zu verulken. Marull hatte nichts dawider, wenn einer den Menschen ihre Schwächen auf bissige, kränkende Art vorhielt. Aber die Juden hatten sich tapfer gehalten, man traf sie nicht, wenn man ihren Krieg lächerlich machte. Seine jüdischen Freunde, Flavius Josephus, Demetrius Liban, Johann von Gischala selber, mochten den Witz mit Recht als frostig empfinden, das ganze Unternehmen als platt, einfältig.
  Er machte also höfliche Ausflüchte. Gewiß war die Idee des Prinzen ausgezeichnet, aber war sie würdig der großen Gelegenheit? Roch sie nicht ein bißchen nach Atelierscherz?
  Gerade das Zögern des Marull reizte den Domitian. Er ersah daraus nur, daß sein Projekt sehr verwegen war. Auch lockte es ihn, den Marull zu etwas zu zwingen, was der nicht wollte. Selber oft gedemütigt, hatte er Freude daran, andere zu demütigen. Marull war von ihm abhängig. Der Gegner des Vespasian, sein Freund, war notwendig auch der Feind des Titus, und somit war seine wichtigste Stütze er, Domitian. Der Prinz also, verbindlich und bösartig, bestand auf seinem Willen. Sein Theater in Albanum sollte Lucias würdig sein, sollte alle andern Theater des Reichs schlagen. Wenn sein Projekt etwas vom Atelierscherz an sich habe, wie sein guter und kritischer Freund Marull scharf, doch vielleicht nicht mit Unrecht anzumerken beliebe, so schade das nichts. Das Theater soll kein Haus für die große Masse werden. Ihm, Domitian, liege daran, das Lachen der Lucia zu hören. Dazu brauche er den Johann von Gischala.
  Er ließ nicht locker. Es blieb dem Marull nach einigem Hin und Her nichts übrig, als zuzustimmen. Einen Vorbehalt freilich machte er. Johann von Gischala sei hintergründig. Man könne einen Menschen zwingen, zu sterben, aber nicht, eine Rolle zu spielen.

Auf dem Weg nach Rom ärgerte er sich, daß er sich von Domitian das Versprechen hatte abringen lassen. Ist die Demütigung der ohnmächtigen Juden, wie Bübchen sie plant, nicht viel witzloser als etwa jener Ringkampf mit der Spartanerin, dessenthalb Vespasian ihn aus dem Senat gestoßen hat? Diese Bauern, die Flavier, sind in Wahrheit Parvenüs, Domitian nicht weniger als der Alte. Dem Alten hat er widerstanden, er hat keine Furcht, aber er spürt jetzt, daß der Junge gefährlicher ist. Er hätte sich nicht so tief mit ihm einlassen sollen.
  Doch nun ist es einmal soweit, er kann nicht zurück. Angenehm wird die Unterredung mit Johann von Gischala nicht werden.
  Marull drückt denn auch lange herum, bevor er zur Sache kommt. Er spricht auf die übliche, mokante Art über Angelegenheiten des römischen Terrainmarkts. Die Preise, infolge des großen Brandes, ziehen weiter an. Johann hat für alles, was mit Fragen des Terrains zu tun hat, ungewöhnliches Verständnis, er hat einen Riecher dafür, welche Gegend man im Rom der Zukunft als Wohnviertel bevorzugen wird: den Norden nämlich. Ruhig sitzt er da, streicht seinen Knebelbart und belegt diese seine Meinung mit vielen guten Gründen. Aber er hat Witterung nicht nur für die Terrainverhältnisse, sondern er merkt auch, daß dem Marull heute andere Dinge am Herzen liegen. Er beschaut ihn aus seinen kleinen, listigen Augen, ist auf der Hut.
  Endlich bricht Marull das Gespräch über die Terrains ab und setzt ihm in nüchternen Worten auseinander, was der Prinz von ihm will. Er selber finde den Spaß nicht sehr tief, schließt er, und er finde es eine starke Zumutung des Prinzen an ihn, den Marull. Johann wisse nun aber, wie Bübchen sei, und kenne seine eigene, des Marull, Lage. Es sei sehr wohl denkbar, daß andere Freiheitsführer in der Situation des Johann es vorzögen, sich oder den Prinzen umzubringen. Wobei wahrscheinlich nur das erstere gelänge. Johann indes sei klug und frei von unvernünftigem Pathos. Darum habe er ihm die Sache ohne Umschweife mitgeteilt. »Wir kennen uns, mein Johann«, schloß er, »du weißt, daß du mir mehr bist als ein guter Adjutant. Ob du ein guter Schauspieler bist, daran zweifle ich. Ich halte es für einen blöden Witz, dich dazu verwenden zu wollen. Ich brauche dir nicht zu sagen, wie zuwider mir das Ganze ist.«
  Johann hat, während Marull spricht, alles, was er damals im Kriege erlebt hat, vor sich gesehen, mit seinen listigen, unbestechlichen Bauernaugen. Die Kämpfe in Galiläa. Die Scheußlichkeiten des belagerten Jerusalem, dieser wüsten, stinkenden Kloake, die wenige Monate zuvor die schönste Stadt der Welt gewesen war. Die üble Nebenbuhlerschaft mit Simon Bar Giora. Wie sie sich herumgestritten hatten, er und Simon, gleich Hähnen, die, mit den Füßen aneinandergebunden, zum Abschlachten geführt werden und immer noch einer nach dem andern krallen und mit dem Schnabel hauen. Jenes Abendmahl, da er die letzten zum Opferdienst bestimmten Lämmer genommen und gegessen und den Priester gezwungen hat, die Knochen abzunagen. Und jetzt also soll er das alles und sich selber verulken, in einer Posse, den Römern zum Spaß.
  Aufmerksam schaut er dem Marull auf den dünnen Mund, läßt ihn ganz zu Ende reden. Dann, ohne Zögern, sagt er: »Schön, ich mache es. Aber ich stelle eine Bedingung. Sie geben mir endlich die Freiheit, und Sie geben mir hunderttausend Sesterzien für die Erwerbung von Terrains im Norden. Die Rolle ist nicht leicht«, fügt er hinzu, und jetzt lächelt er sogar. »Demetrius Liban hätte mindestens zweihunderttausend verlangt.«
  Denn als er sich die Bilder des belagerten Jerusalem ins Gedächtnis zurückrief, hat er das nicht etwa mit Erhebung getan oder mit Grimm, sondern mit Genugtuung. Ja, Genugtuung füllte ihn an, immer steigende, darüber, daß er all dieses Scheußliche nicht umsonst durchgemacht hat, daß es ihm vielmehr jetzt das Mittel neuen Aufstiegs sein soll. Und noch während Marull sprach, hat er schon anderes gesehen, sich selber nämlich als Freigelassenen in einem Büro in Rom, wo er Grundstücksgeschäfte tätigt und Geld verdient, um sich in Galiläa neues Öl und neues Terrain zu erwerben. Denn als Bauer ist er geboren, und sein Leben wäre gut, wenn er seinen Rest als Bauer verbringen und als Bauer in Galiläa sterben könnte.
  Marull war überrascht, wie Johann so schnell zustimmte. Er hat ihn wahrhaftig unterschätzt, diesen Johann. Er hat geglaubt, er sei nichts weiter als ein Nationalheld: und nun erweist er sich als ein vernünftiger Mann. »Schön«, sagt er, »einverstanden. Aber fünfzigtausend genügen auch für den Anfang.«


Domitian, den Brief in der Hand, in dem ihm Marull die Zustimmung Johanns mitteilte, lief zu Lucia. Sie war dabei, Toilette zu machen. Friseur und Zofen bemühten sich, ihre Haare in zahllosen Locken zu einem kunstvollen Turm aufzubauen. Domitian war froh erregt. Das hübsche Gesicht gerötet, stellte er sich groß vor der geliebten Frau auf, den einen Arm eckig nach hinten, in der andern den Brief. Sein dicker, behaarter Zwerg Silen war grotesk hinter ihm einhergewatschelt, er bemühte sich, den Arm eckig hinter seinem Buckel zu halten, seinen Herrn nachahmend. Der Prinz sprach schnell und wichtig, er achtete nicht darauf, daß seine Stimme sich überschlug, auch die zahlreichen Leibeigenen kümmerten ihn nicht, sie waren Hunde für ihn. Er dachte, die lustige Lucia werde an seinem Plan so viel Spaß haben wie er selber, er wartete auf ihr lautes, fröhliches Lachen. In seinem Innern hoffte er, nachdem er sich ihr zu Gefallen so erfinderisch angestrengt habe, werde sie ihn endlich einmal wieder die Narbe unter ihrer linken Brust küssen lassen. »Und dieser Jude wird es machen«, schloß er triumphierend. »Soeben schreibt mir Marull, daß er es machen wird. Der Walfisch muß kommen zu der Einweihung. Er kann nicht anders, ohne dich und mich auf den Tod zu kränken. Stell dir sein Gesicht vor, wenn er das sehen wird.« Und er lachte sein hohes, sich überschlagendes Lachen, in das die Fistelstimme des Zwerges stürmisch meckernd einstimmte.

  Lucia hatte sich ihm zugewandt. Erst hatten Friseur und Zofen an ihrem Lockenturm weitergearbeitet, aber sehr bald merkten sie, daß die harmlose Morgenvisite sich in eine böse Auseinandersetzung zu verwandeln drohte, und zogen sich ängstlich mit ihren Utensilien in die Ecke zurück. Lucia hatte ihr heftiges Gesicht mit jähem Ruck dem Prinzen ganz zugewandt, so daß das halb vollendete Gebäu ihrer Frisur einstürzte. Nein, ihr mißfiel die Idee Bübchens aufs äußerste. »Bist du verrückt geworden?« fuhr sie ihn schroff an. »Ich verstehe nicht, wie Marull sich zu einer so plumpen, läppischen Sache hergeben kann.« Sie dachte an den Juden Josef, und was sie bei diesem über Johann gelesen hatte. Ihre großen, weit auseinanderstehenden Augen schauten zornig, abschätzig auf ihren Gatten.
  Domitian begriff nicht, was sie an seinem Projekt mißbilligte. Für einen kleinen Moment kam ihm das Zögern des Marull ins Gedächtnis. Der hatte von einem Atelierspaß gesprochen. War das nur ein freundlicheres Wort gewesen für »Geschmacklosigkeit« oder »Plumpheit«? Nein, seine Idee war gut, Lucia war einfach schlechter Laune. Alle hatten sich wieder einmal zusammengetan, um ihm die Freude zu verderben. Der Zwerg Silen war nach vorn gekommen, das groteske Gesicht voll von blöder Hoffart, den stolzen Zorn Lucias parodierend. Mit einem Fußtritt stieß ihn der Prinz in die Ecke. Aber dann, sogleich wieder, fand er zu seiner gewohnten Höflichkeit zurück. Stark gerötet, doch mit verbindlichem, fast zustimmendem Lächeln sagte er: »Sie sind heute ungnädig, Prinzessin. Vielleicht haben Sie nur halb hingehört auf das, was ich Ihnen erzählte. Es scheint auch, daß Ihre Leibeigenen ungeschickt mit Ihrer Frisur umgingen. Sie sollten sie vielleicht strenger halten. Jetzt wollen wir von anderem sprechen, und Sie erlauben, daß ich Ihnen meine Idee später einmal in Ruhe auseinandersetze.« Aber Lucia, heftig und gerade, wie sie war, trug keinen Anstand, ihn vor den Leibeigenen weiter zu demütigen. »Gib dir keine Mühe, Bübchen«, sagte sie schroff. »Pökle dir deine abgeschmackte Idee ein, bis du jemanden findest, dem sie gefällt. Ich werde nicht nach Albanum kommen, wenn dort irgend etwas von dem gespielt wird, was du da erwähnt hast.«
  Domitian schwitzte. Er dachte nicht daran, seinen Plan aufzugeben, aber er hielt es für klug, Lucia zu nehmen, wie sie nun einmal war. Er setzte sich, er schwatzte höflich und beflissen Belangloses. Rief sogar den Zwerg aus seiner Ecke und wies ihn an, sich weiter zu betätigen. Lucia aber blieb einsilbig und sagte ihm schließlich kurzerhand, sie sei heute nicht in der Laune für ihn und wäre ihm verbunden, wenn er sie und ihre Leute ihre Toilette in Ruhe beenden ließe. Domitian nahm das wohl oder übel für einen Scherz und zog höflich und in guter Haltung ab.
  Lucia aber wußte, daß er nicht so leicht von einer Sache abzubringen war, die er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. Sie war gutmütig, und sie mochte ihr Bübchen gerne leiden. Sie nahm sich vor, ihn auch gegen seinen Willen vor der Blamage zu bewahren.
  Schon wenige Tage später, am vierten September, bei der Eröffnung der großen vierzehntägigen Spiele im Theater des zweiten Bezirks, fand sie Gelegenheit, ihren Vorsatz auszuführen. Sie war in der kaiserlichen Loge. Titus schien frisch und besonders gut gelaunt. Er hatte nicht mehr den trüben, verschwommenen Blick der früheren Wochen, vielmehr sah er sie an mit Augen, die sahen, und wenn er sprach, dann war in seiner Stimme jenes leise Schmettern seiner besten Zeit. Sie hatte des Domitian Treibereien gegen Titus nie gebilligt; sie war lebenslustig, glanzsüchtig, aber aus viel zu großer Familie, um ehrgeizig zu sein. Auch spürte sie aus den Beziehungen des Titus zu Berenike die echte Leidenschaft, und die Zähigkeit dieser Neigung imponierte ihr. Es war das erstemal, daß sie ihren Schwager seit seiner Veränderung traf, er gefiel ihr, es war wahrhaftig nichts mehr vom Walfisch an ihm, und sie beschloß, das geschmacklose, tückische Projekt des Domitian jetzt schon in der Wurzel zunichte zu machen.
  Es war, als ob Titus ihre Gedanken erraten hätte. Denn in der Pause fragte er sie, wie es denn nun mit ihrer Villa in Albanum voranginge und ob man bald mit der Eröffnung ihres Theaters rechnen könne. Sie schaute aus ihren großen, weit auseinanderstehenden Augen gerade in seine trüberen, harten, engen und sagte, es liege nicht am Bau, wenn man das Theater nicht so bald eröffne, vielmehr bestünden noch Meinungsdifferenzen zwischen ihr und Bübchen, was man da eigentlich spielen solle. Und sie erzählte unbekümmert Bübchens Projekt.
  Titus schaute sie aufmerksam an, meinte, das sei interessant, dankte ihr, lächelte. Sie gefiel ihm, sie war in Wahrheit die Tochter des Feldmarschalls Corbulo, der so groß und froh zu leben und so groß und furchtlos zu sterben gewußt hatte. Er wunderte sich, daß Bübchen sie hatte gewinnen können und sie halten konnte, er beneidete ihn. Er beneidete sie um die Selbstverständlichkeit ihrer Handlungen, um ihre Kraft, um ihr strotzendes Römertum.
  Auf der Bühne ging das Spiel weiter. Titus schaute Lucia, seine Nachbarin, von der Seite an. Diese und ihr Geschlecht sind nicht wie er und die Seinen durch tausend Wenn und Aber gehemmt. Sie sind ihre eigenen Richter, die Meinung der Welt ist ihnen gleichgültig. Sie lieben das Leben, sie fürchten nicht den Tod, und gerade darum können sie es genießen. Sie hatte die Unterredung mit ihm offenbar wieder vergessen, mit ganzer Anteilnahme folgte sie dem Spiel der Bühne. Wäre nicht Berenike, diese Frau wäre noch die einzige, die ihn reizte. Die Ärzte hatten ihm gesagt, er habe ein für allemal die Fähigkeit verloren, einen Sohn zu zeugen. Er versank in sich, grübelte, träumte. Er sah die Wange der Frau, den Arm mit der Hand, in die sie die Wange gestützt hatte. Eine leise, wahnsinnige Hoffnung stieg in ihm hoch, diese Frau könnte ihm vielleicht trotz des Spruches der Ärzte einen Sohn gebären.

Zwei Tage darauf ließ sich zu seiner Überraschung Domitian bei ihm melden. Bübchen gab sich höflich, geradezu unterwürfig. Es war wohl, nahm Titus an, das verunglückte Theaterprojekt und die Mißbilligung der Lucia, die den sonst so ungebärdigen Bruder heute so klein machten. Er selber, Titus, strahlte, er fühlte sich frisch, in guter Form, die Ankunft Berenikes stand bevor, und daß jetzt der Bruder so gedemütigt zu ihm kam, hob ihn noch mehr.

  Freilich zeigte sich bald, daß der Prinz nicht etwa nur aus Schuldbewußtsein gekommen war. Behutsam nämlich, aber dem Titus deutlich erkennbar, steuerte er auf ein bestimmtes Ziel los. Immer wieder lenkte er das Gespräch auf ein Gesetz, das der Kaiser vor wenigen Tagen im Senat hatte beschließen lassen und das die Strafen gegen die falschen Anzeigen wegen Majestätsbeleidigung erheblich verschärfte. Offensichtlich machte sich der Prinz Sorgen über die Anwendung und Auswirkung dieses Gesetzes. Wieso aber, das blieb Titus fürs erste unklar.
  Er selber hatte das Gesetz erlassen, weil in Rom die Stimmen nicht zum Schweigen kamen, die in dem Brand ein Zeichen sahen, wie sehr der Himmel seine Verbindung mit Berenike mißbillige. Es galt so, den Massen zu beweisen, wie fromm und mild er war. Das neue Gesetz war ein gutes Mittel. Die Verfahren wegen Majestätsbeleidigung waren verhaßt, die Ankläger verachtet. Indem Titus die Strafandrohungen gegen falsche Denunzianten verschärfte, schmeichelte er den Massen und ehrte die Götter.
  Sehr ernst freilich nahmen weder der Hof noch die Gerichte diese Verschärfung der Gesetze. Die Strafen für Majestätsverbrechen waren außerordentlich hart, Tod, Verbannung, in jedem Falle aber Vermögenskonfiskation. Um diese Vermögenskonfiskation ging es; denn die im Verlauf solcher Verfahren konfiszierten Gelder und Güter bildeten einen wesentlichen Teil der Einnahmen der staatlichen und der kaiserlichen Kassen. Wer eine Anzeige erstattete, die zur Verurteilung des Angeschuldigten führte, erhielt einen hohen Anteil der konfiszierten Güter. Titus und seine Minister rechneten damit, daß infolge dieser hohen Belohnungen trotz der scharfen Strafandrohungen nach wie vor viele Anzeigen erfolgen würden.
  Er spielte mit Bübchen, gab ihm auf seine Anmerkungen zu dem Gesetz nur beiläufige Antworten, lenkte ab, schwatzte munter über dies und jenes. Bübchen aber kam gewandt auf vielen Wegen immer wieder auf das Edikt gegen die Denunzianten zurück, so daß Titus sich immer gespannter fragte, was er denn eigentlich wolle.
  Endlich nannte Domitian einen Namen, den Namen Junius Marull. Er nannte ihn behutsam, obenhin. Allein sowie dieser Name einmal gefallen war, sah Titus mit einemmal klar. Er lächelte still, grimmig, befriedigt. Da hatte er sich, und noch dazu ohne daß er es beabsichtigte, eine brauchbare Waffe gegen Bübchens Anmaßung geschaffen.
  Dem Senator Marull nämlich war seine Ausstoßung aus dem Senat geschäftlich gut bekommen, er hatte sich für den sozialen Abstieg durch einen Ungeheuern wirtschaftlichen Aufschwung entschädigt. Solange er Senator war, war es ihm verboten gewesen, Anzeigen zu erstatten. Nach seinem Ausschluß konnte er es sich erlauben, den und jenen seiner früheren Kollegen des Majestätsverbrechens zu zeihen. Er war ein gewiegter Jurist, ein ausgezeichneter Redner, er stillte seinen unersättlichen wirtschaftlichen Appetit. Neun Anzeigen hatte er erstattet; saftige Anzeigen. Der um die Mehrung des Staatsschatzes und seines eigenen stets besorgte Vespasian war ihm nicht in den Arm gefallen, und die Prozesse hatten zur Vergrößerung des wirtschaftlichen Ansehens sowohl Vespasians wie seines Gegners Marull viel beigetragen. In einem einzigen Fall, einem geringfügigen, hatte Vespasian, um das Prestige zu wahren, den Beschuldigten freisprechen lassen; aber unter dem ökonomischen Kaiser waren die Strafen gegen falsche Denunzianten mild gewesen, Marull war mit einer Geldbuße davongekommen.
  Als jetzt das neue Edikt so scharfe Strafen gegen die Anzeiger festsetzte, hatte Marull, spürsinnig, wie er war, sogleich bedacht, daß der Kaiser bei einigem schlechten Willen, ohne eine neue Vorlage im Senat einzubringen, dem Gesetz Rückwirkung verleihen und es gegen ihn ausdeuten lassen konnte. Wie er das dem Domitian mitteilte, beiläufig übrigens, wie es sich für einen Stoiker schickte, elegant und sorglos, festigte sich in dem immer finsteren und mißtrauischen Prinzen sogleich die Überzeugung, des Titus einziger Zweck bei der Einbringung des Gesetzes sei gewesen, den Marull zu treffen, seinen Freund Marull.
  Er war dem Marull ehrlich freund, wenn er es auch nicht lassen konnte, ihn manchmal zu quälen. Gerade jetzt, beim Scheitern des Theaterprojekts, war ihm wieder bewußt geworden, daß es auf der ganzen Welt nur drei Menschen gab, an denen er hing. Lucia, Annius, Marull. Hätte ein anderer ihn auf so brüske Art verraten wie jetzt Lucia, er hätte ihn in den Tod gehaßt und verfolgt: sie liebte er für ihren Verrat nur um so mehr. Hätte ein anderer sein Projekt verblümt als plump gescholten und einen feineren Geschmack zu zeigen gewagt als er selber, er hätte das diesem andern niemals verziehen: Marull liebte er darum um so mehr.
  Wie jetzt Marull ihm von der Gefahr sprach, in die das neue Gesetz ihn brachte, hatte er sogleich beschlossen, den freund vor den Intrigen des Bruders zu retten. Ohne Marull etwas davon zu sagen, war er zum Walfisch gegangen.
  Der hatte mit keinem leisesten Gedanken daran gedacht, das Gesetz gegen Marull anzuwenden. Wie er aber jetzt Bübchens Ängste merkte, war er schlau genug, ihn nicht zu beruhigen. Mit keinem Wort sprach er von Marull. Wohl aber erwähnte er beiläufig, seine Berater seien sich noch nicht schlüssig geworden, ob man nicht vielleicht das Gesetz gegen die falschen Anzeiger auch auf die Vergangenheit ausdehnen solle. Domitian meinte, das sei nicht ratsam, man müßte dann wohl gegen einige sehr angesehene Männer vorgehen, denen die staatlichen und die kaiserlichen Kassen viel verdankten; man tue nicht gut daran, diese alten, dem Ansehen der Dynastie nicht förderlichen Geschichten aufzuwärmen. Das war ein etwas laues Argument. Bübchen wußte das selber, und als Titus leichthin erwiderte, es sei freundlich von ihm, daß er sich soviel Sorgen um die Minderung seiner Popularität mache, wußte er nichts mehr zu erwidern und zog verstimmt ab, die gewohnte Höflichkeit mühsam wahrend.

Senator Marull stand vor dem schweren Problem, ob er den Johann von Gischala wirklich aus der Leibeigenschaft freilassen sollte, wie er es ihm anläßlich des peinlichen Theaterprojekts Bübchens in Aussicht gestellt hatte. Niemand natürlich konnte ihn zwingen, sein Versprechen zu halten, und der kluge Galiläer war auch beherrscht genug, ihn nicht daran zu erinnern. Aber Johann war dem Marull nicht ein Leibeigener im gemeinen Sinn, und wenn die menschliche Bindung zwischen ihnen beiden nicht reißen sollte, konnte er ihn nicht auf immer in diesem unwürdigen Stand belassen. Dazu kam ein anderes. Wenn auch Marull an eine unmittelbare Gefahr nicht glaubte, so konnte immerhin bei den seltsamen Beziehungen zwischen Titus und Domitian den Walfisch plötzlich einmal die Laune ankommen, ihn mit Hilfe des Gesetzes gegen die Denunzianten zu verschlucken, und es wäre ärgerlich, wenn dann Johann in die Hand eines Irgendwer fiele. Marull beschloß also, seinen Johann freizulassen.

  Vorher aber wollte er sich mit seiner Hilfe noch einen Spaß machen. Marull, in letzter Zeit an den Zähnen und infolgedessen an zunehmender Menschenfeindschaft leidend, fand, Josephus wiege sich seit seiner großen Ehrung in besonders satter Selbstzufriedenheit, und Liban war ihm von jeher wichtigmacherisch erschienen. Er beschloß, seinen beiden hochmütigen Freunden einmal eine Lehre zu erteilen, und da er wußte, daß sie annahmen, sie selber und ihre Tätigkeit in Rom seien der Anlaß des jüdischen Krieges gewesen, hielt er seinen in die tiefsten Tiefen gefallenen Leibeigenen für den rechten Mann, dieses Geschäft zu besorgen.
  Er bat also Josef und Liban zusammen mit Claudius Regin und einigen andern zu Gast. Der Schauspieler machte ihm sein Vorhaben leicht. Kaum nämlich hatte Marull, nach dem Essen, vom jüdischen Krieg und seinen Ursachen zu sprechen angefangen, da begann Demetrius auf seine gewohnte, unterstrichen schlichte und darum um so bedeutungsvollere Manier, sich in Meditationen zu ergehen, wie seltsam Jahve und das Schicksal mit den Menschen spiele; man könnte mit dem Dichter sagen, »gleichwie der Wind mit Tropfen Wassers spielt auf breiten Blättern«. Damals, als er den »Juden Apella« aufführte, hatte er da nicht geglaubt, der gesamten Judenheit einen Dienst zu erweisen, und hatte er nicht, wie der hier anwesende Doktor Josef bezeugen könne, gerade dadurch die Entscheidung in der Frage von Cäsarea und somit den Ausbruch des Krieges herbeigeführt? Josef schwieg. Es war ihm nicht lieb, an jene Episode erinnert zu werden. Allein Marull forderte ihn auf: »Legen Sie Zeugnis ab, mein Josef, wie unser Demetrius will. Waren wirklich Sie und er die Ursache des Krieges?« – »Der unmittelbare Anlaß wohl«, zuckte Josef die Achseln, ein wenig verärgert.
  »Und was meinst du, mein Johann?« wandte sich plötzlich Marull an den Galiläer, der bescheiden unter den Aufwartenden in einer Ecke stand. Demetrius und Josef sahen unmutig hoch. Marull wußte doch, daß seit Beginn des jüdischen Krieges zwischen Johann und Josef bittere Feindschaft war, und was den Schauspieler anlangte, so war dem der Galiläer von jeher unsympathisch gewesen. Ein Nationalheld hatte pathetisch auszuschauen, romantisch, interessant. Es war ihm, dem großen Schauspieler, vorbehalten, daraus mit Hilfe eines witzigen Denkspiels das Gegenteil zu machen. Und nun erdreistete sich dieser Johann, das zu sein, was er selber, Demetrius, allenfalls zu spielen vorhatte. Es war eine derbe Unhöflichkeit von Marull, einen solchen Mann, einen Leibeigenen obendrein, als Zeugen wider einen Josef und einen Demetrius aufzurufen.
  Johann näherte sich auf bescheidene Art. »Was soll ich?« fragte er höflich. »Du hast gehört«, sagte Marull, »was unsere Freunde Flavius Josephus und Demetrius Liban über den Ursprung des jüdischen Krieges denken. Du warst an diesem Krieg nicht unbeteiligt, mein Johann. Willst du uns nicht sagen, was du dazu meinst?«
  »Wenn hier der große Schauspieler Demetrius Liban erklärt«, meinte sachlich Johann, »der Streit um einige Sitze im Magistrat von Cäsarea sei die Ursache des Krieges gewesen, so behaupten die Doktoren von Jabne, die Sünden Israels trügen die Schuld, und die jüdischen Nationalisten sagen, die Übergriffe der römischen Gouverneure. Die ›Gläubigen‹ wieder, die sogenannten Minäer oder Christen, sind der Ansicht, schuld am Kriege und seinem Ausgang sei ein Prozeß gegen einen gewissen falschen Messias. Sie sehen, meine Herren, die Meinungen sind geteilt.« Er verstummte, strich nachdenklich seinen kurzen Knebelbart und schaute wieder bescheiden aus seinen grauen, verschmitzten Augen der Reihe nach über die Gesichter seiner Hörer. »Auch unser Flavius Josephus«, sagte liebenswürdig Marull, »führt in seinem berühmten Buch eine ganze Reihe patriotischer und religiöser Motive an. Aber«, munterte er den Bescheidenen auf, »was meinst du, mein Johann?« – »Ich meine«, sagte Johann und schaute dem Josef gerade und voll ins Gesicht, »im Grunde sind die Ursachen des Krieges viel einfachere und viel tiefere.«
  Josef hatte beschlossen, sich an dieser unwürdigen Debatte mit seinem alten Feind Johann nicht zu beteiligen; dennoch, wider seinen Willen, riß es ihm jetzt den Mund auf. »Was sind denn das für geheimnisvolle Ursachen?« fragte er hochmütig, bösartig.
  »Das will ich Ihnen sagen, Doktor Josef«, erwiderte friedfertig Johann, »freilich lieber aramäisch. Wir beide sprechen ja das Aramäische besser und haben uns oft auf gut aramäisch unterhalten. Aber wir wären dann wohl unhöflich gegen die andern Herren, meine ich. Also, schlecht und lateinisch. Ich selber habe zu Anfang des Krieges seine Ursachen nicht besser gekannt als Sie, vielleicht auch habe ich sie nicht kennen wollen. Jedenfalls habe ich meinen Bauern, als ich sie in den Krieg hetzte, um sie in Stimmung zu bringen, genauso wie Sie tausendmal vorgeredet, daß es ein Krieg Jahves gegen Jupiter sei, und ich habe es auch geglaubt. Ich war, wie Sie schreiben, einer der Anstifter und Führer, ich habe den ganzen Krieg mitgemacht, ich war oft und abermals nahe daran, umzukommen. Dann wäre ich sonderbarerweise verreckt, ohne recht zu wissen, worum eigentlich dieser Krieg ging.«
  »Und jetzt wissen Sie es?« fragte immer mit der gleichen bösartigen Kälte Josef.
  »Ja«, erwiderte ruhig, fast freundlich Johann von Gischala. »Nach dem Krieg, im Dienst dieses milden Senators Marull, hatte ich Zeit, es mir zu überlegen. Und ich habe es auch herausbekommen.« – »Los endlich«, ermunterte ihn Marull. »Es ging damals«, fuhr Johann fort, »nicht um Jahve und nicht um Jupiter: es ging um den Preis des Öls, des Weins, des Korns und der Feigen. Hätte eure Tempelaristokratie in Jerusalem«, wandte er sich mit freundlicher Belehrung an Josef, »nicht so gemeine Steuern auf unsere mageren Produkte gelegt, und hätte Ihre Regierung in Rom«, wandte er sich ebenso freundlich-sachlich an Marull, »uns nicht so niederträchtige Zölle und Abgaben aufgebrummt, dann wären Jahve und Jupiter noch lange ausgezeichnet miteinander ausgekommen. Hier in Rom konnte der Liter Falernerwein für fünfeinhalb Sesterzien verkauft werden, wir mußten unseren Wein für dreiviertel Sesterzien verschleudern und davon fast noch einen halben Sesterz Steuern abgeben. Wenn man sich das nicht klarmacht und wenn man nicht unsere Vorkriegspreise für Korn mit denen hier in Italien vergleicht, dann weiß man von den Ursachen des Kriegs, auf gut galiläisch, einen Dreck. Ich habe Ihr Buch sehr aufmerksam gelesen, Doktor Josef: Preise und Wirtschaftsziffern habe ich keine darin gefunden. Lassen Sie mich, einen einfachen Bauern, Ihnen sagen: Ihr Buch mag ein Kunstwerk sein, aber wenn man es gelesen hat, weiß man über das Warum und Wieso des Krieges keinen Deut mehr als vorher. Das Wichtigste haben Sie nämlich leider ausgelassen.«
  Regin hatte sich erhoben; seinen Becher in der Hand – er trank den Wein wegen seines schlechten Magens gewärmt –, ging er auf und ab, manchmal einen unartikulierten Brummlaut ausstoßend, der nach Zustimmung klang. Josef, um seine Gleichgültigkeit zu zeigen, kaute unhöflich an einem Stück Konfekt. Liban hatte eine hochmütig ironische Miene aufgesetzt, Marull eine ergötzte. Niemand sprach, alle warteten sie gespannt, was Johann weiter sagen werde.
  »Ich halte Judäa«, fuhr der scheinbar ohne Zusammenhang fort, »für ein gutes, gesundes Land und seine Lehre für etwas Großes, Herrliches, wohl wert, daß man sie verteidige. Ich meine nicht den unsichtbaren Gott und die großen Reden der Propheten. Das ist sicher etwas Erhabenes, aber doch mehr eine Sache für unseren Doktor Josef. Für mich sind das Beste an der Lehre die Agrargesetze, vor allem die über die Brachlegung der Äcker in jedem siebenten Jahr. Das sind eminent gescheite Vorschriften, und es ist nur schade, daß sie von der Habsucht der Jerusalemer Aristokratie so oft sabotiert wurden«, meinte er anzüglich, gegen Josef gewandt.
  »Ich glaube«, wandte er sich wieder an die andern, »dieses unser Siebenjahr wird sein gut Teil dazu beitragen, Rom kleinzukriegen. Sie erlauben mir, Senator Marull, daß ich meine bäurische Meinung gerade heraussage. ›Die Besiegten dik tieren den Siegern ihre Gesetze‹, immer wieder zitiert ihr entrüstet diesen Spruch eures Seneca. Unser Doktor Josef will das durch den Geist bewerkstelligen, höre ich. Das sind Wolkenschlösser. Aber mittels der Konkurrenz unserer Landwirtschaft, scheint mir, werden wir euch in nicht allzu ferner Zeit wirklich Gesetze diktieren können, und recht spürbare. Die Landwirtschaft Italiens ist nämlich auf dem Hund, Senator Marull. Ihr importiert und stapelt aus politischen Gründen, um das Getreide unentgeltlich oder zu sehr billigen Preisen an die Bevölkerung zu liefern, so viel Korn in Rom, daß ihr die Getreidewirtschaft Italiens ein für allemal unrentabel gemacht habt. Dafür habt ihr euch auf hochwertige Weine spezialisiert. Ursprünglich war diese Planwirtschaft nicht übel, sie war sogar großartig. Jetzt aber ist der Markt für eure Weine längst zu klein geworden. Afrika hat Überproduktion an Wein, Spanien deckt jetzt schon achtzig Prozent seines Bedarfs aus eigenen Erzeugnissen, Gallien vierzig, halb Asien beliefern wir Juden, bald werden wir es ganz beliefern. Glauben Sie, ihr könnt von dem Weinbedarf Englands und der beiden deutschen Provinzen leben? Überall sonst habt ihr kräftig zugegriffen. Aber an dieses Problem wagt ihr euch seit hundert Jahren nicht heran. Jetzt ist es zu spät, die Landwirtschaft Italiens umzustellen, und lebensfähig halten könnt ihr sie auch nicht länger. Nicht am griechischen Geist und nicht am jüdischen und nicht an den Barbaren wird Rom kaputtgehen, sondern am Zusammenbruch seiner Landwirtschaft. Das sage ich Ihnen, Senator Marull, Johann von Gischala, Bauer aus Galiläa. Denn von der Terrainspekulation und der Weltherrschaft allein kann man auf die Dauer nicht leben. Es geht nicht ohne eine vernünftig organisierte Landwirtschaft. Womit ich gegen den Kunstwert Ihres Buches nichts gesagt haben möchte«, schloß er trocken, sich höflich an Josef wendend.
  »Sind Ihre Gesichtspunkte nicht ein bißchen sehr agrarisch?« fragte Demetrius, da Josef schwieg. Es war nur ein ganz leiser Hohn in seiner Stimme, aber er hatte während der Rede Johanns Zeit gehabt, diesen Hohn gut zu präparieren, so daß aus ihm die ganze Verachtung des Idealisten für den rohen Materialismus des Erdenmenschen herausklang. »Wir Galiläer«, erklärte friedfertig Johann, »sind überzeugte Bauern. Die klugen Herren in Jerusalem«, lächelte er, »ersetzten denn auch das Wort Dummkopf durch das Wort Bauernvolk oder Galiläer.«
  Alle schauten auf Josef, was der wohl erwidern werde. Aber Josef blieb seinem Vorsatz treu und erwiderte nichts. Die Einwände des Johann waren lächerlich, wirkliche Bauerneinwände, die Einwände einer Schildkröte gegen einen Adler. Getreidepreise, Weinpreise, Ölpreise. Davon soll Politik abhängen, davon sollen Kriege herrühren? Oh, er hätte dem Johann schon herausgeben können. Wollen Sie vielleicht auch, hätte er ihm sagen können, den Auszug aus Ägypten, die Wanderung durch die Wüste, die Errichtung der Reiche Juda und Israel, die Kämpfe mit Babel, Assur und Hellas aus den Brot- und Weinpreisen erklären? Aber er bezwang sich und schwieg. Er hatte bessere Gelegenheit, seine Meinung darzutun. In seiner »Jüdischen Universalgeschichte« wird es darum gehen, immer wieder Ursachen und Folgen aufzuzeigen, und gerade da wird er erweisen, daß, was die Schicksale der Nationen geformt hat, immer Gedanken waren, religiöse Ideen, Geistiges. Preise, Statistiken, dachte er. Ich habe die Entstehung des Krieges aus der Entwicklung eines ganzen Jahrhunderts erklärt, nicht aus ein paar zufälligen Ziffern. Sind Preise und Statistiken in den historischen Büchern der Bibel? Sind Preise und Statistiken bei Homer? Der Narr der, der Bauerntölpel, der Galiläer. Was will er denn? Jahve hat doch längst gegen ihn entschieden. Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und ich bin einer von ihnen. Wessen Ohr aber hat der da? Marull will sich einen Spaß machen, darum läßt er ihn mit seinen Ziffern gegen mich los. Ich denke nicht daran, dem Römer darauf hereinzufallen.
  Leise bohrend aber, gegen seinen Willen, stieg in ihm die Erinnerung hoch, daß Justus von Tiberias in den wenigen, schmalen Bänden seiner Geschichtswerke Preise und Statistiken genannt hatte.
  Demetrius Liban mittlerweile ärgerte sich, daß die Aufmerksamkeit so ganz von ihm abgeglitten war. Nicht dazu hat er sich bezichtigt, an der Zerstörung des Tempels schuld zu sein, um dem Johann Gelegenheit zu einem langen, agrarökonomischen Vortrag zu geben. Was glaubt dieser Mensch? Will er sein Galiläa hierherverpflanzen? Hier hat man Gott sei Dank noch immer Sinn für Kunst, und die Betonung eines Wortes durch den Schauspieler Demetrius Liban interessiert die Römer immer noch mehr als die Ölpreise sämtlicher Provinzen.
  Da Josef schwieg und auch Liban nichts zu sagen wußte, meinte schließlich nachdenklich mit seiner hellen, fetten Stimme Claudius Regin: »Schade, daß Sie kein Schriftsteller sind, Johann von Gischala. Mit diesen Ihren Ansichten ließe sich ein höchst lesenswertes Buch schreiben.«
  Zwei Wochen später erschienen Senator Marull, Claudius Regin und der Leibeigene Johann von Gischala in der großen Julischen Halle, vor einer der Kammern des Hundertmännergerichts. Die Lanze war aufgepflanzt, das Zeichen der Besitzergreifung, denn diese Gerichtshöfe entschieden ausschließlich über Zivilstreitigkeiten.
  Die Formen der Verhandlung waren sehr feierlich, der Präsident des Gerichtshofes selber amtierte, einer der achtzehn Großrichter des Reichs, und die Liktoren walteten in voller Amtstracht, ausgestattet mit Beilen und Rutenbündeln. Aber in seltsamem Gegensatz zu dieser Feierlichkeit stand die Fülle der gleichzeitig verhandelten Prozesse. Acht Kammern tagten in der einen großen Halle, nur durch Vorhänge voneinander getrennt, so daß man da und dort die verschiedenen Verhandlungen gleichzeitig hörte.
  Sehr bald wurden die Parteien des Scheinprozesses »Claudius Regin gegen Junius Marull« aufgerufen.
  Regin rührte mit der verlängerten Hand, das heißt mit einem kleinen Stab, die Schulter des Johann und sagte die Formel: »Ich nehme diesen Mann als Freien in Anspruch.«
  Der Richter fragte den Marull: »Haben Sie dagegen etwas einzuwenden?« Marull schwieg.
  Daraufhin rührte der Liktor mit der verlängerten Hand die Schulter des Johann und sagte: »Man nimmt diesen Mann als einen Freien in Anspruch. Hat jemand dagegen etwas einzuwenden?« Und Marull schwieg abermals. Daraufhin erklärte der Richter: »So trete ich dem Freiheitsanspruch bei und erkläre diesen Mann für einen Freien nach Römischem Recht.«
  Nachdem dieser Akt vollzogen war, sagte Marull mit etwas fatalem Grinsen zu Johann: »So, mein Johann, und jetzt gebe ich dir fünfzigtausend Sesterzien, und wenn es fünfhunderttausend sind, dann kannst du meinethalb nach Judäa gehen.« Johann sagte: »Geben Sie mir zehntausend, und lassen Sie mich gehen, wenn es hunderttausend sind.«
  Claudius Regin hörte aufmerksam zu.
  Marull sagte sich, es sei vielleicht nicht klug gewesen, daß er dieses Gespräch in Gegenwart des Verlegers begonnen hatte. Aber nun blieb ihm nichts übrig, als ja zu sagen.

Titus, nach den Mühen, die die Regierungsübernahme und die große Brandkatastrophe ihm gebracht hatten, fuhr, nur in Begleitung seines Arztes Valens, nach seinem Landgut bei Cosa, um sich eine kurze Rast zu gönnen.
  Die Rast wurde kürzer, als er beabsichtigt hatte. Schon nach den ersten Tagen traf aus der Stadt neue Unglücksbotschaft ein. Die Epidemie, die in Ägypten und in Sizilien so viele Opfer gefordert, hatte nun, gerade noch am Ende des Sommers, die Stadt Rom erreicht. Für den gestrigen Tag meldete der Gesundheitsdienst einhundertachtzehn Todesfälle. »Müssen wir nicht zurück nach Rom, mein Valens?« fragte Titus seinen Arzt und Vertrauten.
  Valens verneinte. Er führte viele Gründe an. Die Epidemie kam ihm nicht gelegen. Er ist ein großer Diagnostiker, aber für die Seuche braucht man keinen Diagnostiker, sie tritt so auf, daß jedes Kind die Symptome im ersten Augenblick erkennt. Nein, in Rom ist jetzt nicht viel Ansehen für ihn zu holen. Die Stadt ist sowieso geneigt, ägyptische, jüdische und griechische Ärzte vorzuziehen. Daß die Griechen und Ägypter auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung mehr Erfahrungen haben als er, ist unbestreitbar.
  Der Leibarzt Valens ist ein kalter, müder Mann, ein Realist. Er hat erreicht, was er erreichen kann, hat zahllose Anhänger, hat eine neue Schule gegründet. Leicht hat man ihm seine Karriere nicht gemacht. Er wäre trotz seiner neuen Methoden nicht hochgekommen, wenn er nicht ein paar Damen der Aristokratie in einigen kritischen Fällen mit Erfolg zum Abort verholfen hätte. Auch dann war es nicht ganz einfach gewesen. Wohl hatte er die höchsten Honorare in Rom erzielt, aber noch Jahre hindurch nahm man ihn nicht für voll, und gewisse hochnäsige jüdische und griechische Kollegen behandelten ihn ganz offen als Scharlatan. Erst als Titus ihn zu seinem Leibarzt machte, hatte das Gerede aufgehört. Jetzt hatte er Geld und Ruhm und war überdies der Vertraute des Titus. Mitregent in einem gewissen Sinn. Er war auf dem Gipfel.
  Wer aber einmal so hoch geklettert ist, hat es schwer, sich zu halten. Ist nicht schon ein kleiner Abstieg da? Es war mit Titus in den letzten Wochen eine Veränderung vorgegangen die für den Arzt Valens einen Erfolg, für den Menschen Valens aber eine Gefahr bedeutete. Titus war frischer, selbständiger geworden, drohte ihm zu entgleiten. Jetzt kam noch diese Seuche hinzu, die gewisse andere sicher zum Anlaß benutzten, sich in den Vordergrund zu drängen.
  Schon am nächsten Tag mußte Valens erfahren, daß seine Befürchtungen nicht grundlos waren. Als nämlich Claudius Regin eintraf, beriet der Kaiser lange mit ihm, ohne Valens zuzuziehen. Es wurden aber an diesem Tage dreihundertdreiundvierzig Tote gemeldet, den Tag darauf über vierhundert. Es war eine andere Art von Seuche als die bisher beobachtete, sie trat nicht mit schwarzen Beulen auf, sondern mit starken Durchfällen und einer erschreckenden Durchkältung der Haut sowie des ganzen Körpers. Die jüdischen und griechischen Ärzte rühmten sich, in einigen Fällen Heilung erzielt zu haben. Auch wandten sie neue Präventivmethoden an, anscheinend mit Erfolg. Valens war erbittert.
  Viele der Wohlhabenden, trotzdem sie jetzt, zu Ende des Sommers, gerade erst von ihren Landgütern zurückgekehrt waren, verließen die Stadt aufs neue. Titus, gegen den Rat der Ärzte, kehrte in die Stadt zurück. Claudius Regin hatte ihm vorgestellt, daß er, nachdem seine Gegner das Auftreten der Seuche als ein neues Zeichen der Götter gegen ihn ausbeuteten, jetzt erst recht zeigen müsse, ein wie guter Vater er seinen Römern sei.
  In der Stadt erreichte ihn ein Schreiben der Berenike. Sie fand, es sei nicht gut, ihre Wiedervereinigung zu feiern, solange die Epidemie in Rom wüte. Sie hoffe, daß die Seuche schon in zwei oder drei Wochen derart eingedämmt sein werde, daß sie kommen könne. Des Titus erster Gedanke, als ihn die Nachricht vom Auftreten der Epidemie erreichte, war gewesen, daß er nun noch länger auf Berenike werde zu warten haben. Jetzt fragte er sich, ob er ihr nicht nach Griechenland entgegenfahren solle. Allein schon im nächsten Augenblick verwarf er diesen Plan. Er war seiner sicher, er war Berenikes sicher, er wollte vor seinen Römern nicht feig erscheinen. Die Seuche war ein gutes Omen, sie gab ihm Gelegenheit, sich zu bewähren.
  Es erwies sich auch, daß die Römer ihm diesmal sein Verhalten hoch anrechneten; ja, sie fanden, daß seit der Ankunft des Walfischs die Seuche abnahm.

Dorion hatte, sowie das erste Geflüster über die Seuche sie erreichte, dem Josef vorgeschlagen, die Stadt zu verlassen; denn trotz der Anwesenheit des Kaisers flüchtete jetzt, wer immer es sich leisten konnte. Die Villa bei Albanum war nicht fertig, aber zur Not konnte man dort hausen, und man wird ja ohnedies die meiste Zeit im Freien verbringen. Josef fand es vernünftig, daß sie mit dem Jungen aus dem verseuchten Rom fortwollte. Aber er haßte die Villa bei Albanum, er schlug vor, nach Campanien zu gehen. Sie beharrte, es kam zu heftigen Worten, und es zeigte sich, daß ihre Versöhnung Flickwerk gewesen war. Schließlich erklärte er, er fühle sich sicher in der Hand seines Gottes, und blieb in Rom, während sie mit Paulus und Phineas nach Albanum ging.
  Es lag schwer auf Dorion, daß sie mit ihrem Vater in Unfrieden war. Sie liebte ihren Mann Josef heißer, aber die Bindung mit ihrem Vater war gleichmäßiger; mit ihm verstand sie sich, mit Josef verstand sie sich nicht. Sie dachte daran, Fabull trotz des Zerwürfnisses aufzusuchen, ihn nochmals kindlich zu bitten, ihren Lieblingswunsch zu erfüllen, das Haus bei Albanum auszumalen. Hier in dem verseuchten Rom konnte er jetzt doch nicht bleiben.
  Schon hatte sie Weisung gegeben, die Sänfte bereitzustellen, da klangen ihr die gemeinen, niedrigen Worte von neuem hoch, die er gegen Josef gesagt hatte. Nein, sie konnte nicht zu ihm gehen. Sie selber durfte Josef beschimpfen, sie durfte ihn auch vor Dritten lästern, sie, aber niemand sonst, auch ihr Vater nicht. Sie versuchte gleichwohl, sich zu überwinden. Sie liebte doch ihren Vater, und zwischen ihr und Josef wurde es immer schlimmer: wie soll sie leben, ohne mit ihrem Vater ausgesöhnt zu sein? Sie befahl ihren Füßen, zu gehen, aber sie gingen nicht. Sie fuhr nach Albanum, ohne ihren Vater gesehen zu haben.
  Es war schön in Albanum. Die Berge schwangen sich in edlen Linien, das Meer lag weit und groß, und lieblich der See, die Luft atmete sich leicht. Auch der Bau ging gut voran, und sie gab mit Lust immer neue Weisungen. Aber die Wände blieben leer, sie brachte es nicht über sich, einem andern den Auftrag zu geben, sie zu bemalen, so gute Leute der Architekt Grovius ihr vorschlug. Sie sah die leeren Wände, und es nagte an ihr, daß sie leer waren.
  Josef blieb in Rom. Was er gesagt hatte, war wahr. Er war wirklich ganz angefüllt mit hochfahrender, fatalistischer Sicherheit. Die Seuche konnte ihm nichts anhaben. Verschwunden aber war jene Zuversicht, daß es zwischen ihm und Dorion wieder gut werde. Dorion gleitet fort von ihm, alle seine Macht über sie ist fort. Er hat sich vor ihr gedemütigt, hat auf seinen Sohn Paulus verzichtet, hat sie ihre Villa in Albanum bauen lassen. Aber es nützt nichts, er kommt so nicht weiter, sie will alles oder nichts. Er kann sie nur halten, wenn er sich vollends ihrem Willen fügt und sich selber aufgibt.
  Er ging in diesen Tagen oft in die Subura, zu Mara, zu seinem Sohne Simeon. Er hatte sie aufgefordert, Rom zu verlassen, aber sie war von Galiläa her gewohnt, Epidemien fatalistisch hinzunehmen. Sie wollte bleiben, wo Josef war; heimlich freute sie sich, daß sie infolge der Seuche Gelegenheit hatte, Josef öfter zu sehen. Fast immer jetzt trug sie ihre geflochtenen, parfümierten Sandalen; sie wollte in feiertäglicher Bereitschaft für ihn sein.
  Josef saß in dem behaglichen Raum, den der Glasfabrikant Alexas ihr überlassen hatte. Selbst jetzt, während der Seuche, war die Subura so voll von Verkehr, daß der Lärm bis in das Zimmer drang. Josef las oder schwatzte ein weniges mit Mara, oder er beschäftigte sich mit Simeon-Janiki, seinem jüdischen Sohn. Infolge der Seuche konnte sich Simeon nicht auf den Straßen herumtreiben wie sonst; hatte Mara nicht Grund, die Seuche wirklich für ein Geschenk des Himmels zu halten? Er war vielmehr, um Ansteckung zu vermeiden, gezwungen, sich zu Hause zu halten, und er befaßte sich wohl oder übel mehr mit Büchern. Josef brachte ihm den »Jüdischen Krieg«. Es war die aramäische Version, die ursprüngliche, die weniger Kompromisse machte als die griechische. Den Simeon interessierte das Buch, er war ein geweckter Junge, und den Josef rührte Reue und Bitterkeit, wenn er merkte, wie sein kleiner Sohn sich immer wieder den Kopf zerbrach über Stellen, die Josef aus politischen Gründen lückenhaft und undurchsichtig gefaßt hatte. In seinem Innern übrigens haderte er bei solchen Anlässen oft mit Johann von Gischala und Justus von Tiberias und verspottete sie wegen ihrer Wirtschaftsziffern und Statistiken.
  Mara saß still und zufrieden dabei, wenn ihr Herr Josef mit dem Knaben, den sie ihm geboren hatte, über sein Buch redete. Der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai war ein heiliger Mann gewesen, Jahve hat aus ihm gesprochen.
  Was Simeon-Janiki im »Jüdischen Krieg« am brennendsten interessierte, war die Beschreibung von militärischen Dingen, insbesondere von Kriegswerkzeugen. Die Artillerie, die Belagerungsmachinen, die Geschütze, die Widder, die Katapulte und Ballisten, davon konnte er nicht genug hören. Stämmig saß er dem Vater gegenüber, aufmerksam aus dem eirunden Gesicht schauten seine schnellen Augen, unermüdlich fragte er nach jedem Detail. Sehr bald wußte er genau den Unterschied zwischen einem Oxybol und einem Petrobol, zwischen einem Geradspanner, einem Euthyton, und einem Winkelspanner, einem Palyton. Er wußte, wie ein Geschütz konstruiert wird, dessen Spanner nur einmal zwischen den Spannbolzen hinläuft, und eines, dessen Nerv nach dem ersten Umlauf wieder denselben Weg zwischen den Spannbolzen zurücklegt. So interessiert war er an diesen Dingen, daß er, seine Schreibfaulheit überwindend, sich das Wichtigste notierte und der Mutter mehrmals laut vorlas, um es ja zu behalten. Und Mara freute sich ihres klugen Sohnes.
  In dem Müßiggang dieser Seuchenwochen entstand im Kopf des Knaben Simeon ein verschmitzter Plan. Josef hatte ihm von einem sehr wirksamen Geschütz der Juden erzählt, einem Katapult, genannt »Die Große Deborah«. Es war offenbar ein genial konstruiertes Geschütz gewesen; der Erfinder hatte den verblüffenden Einfall gehabt, die waagrechte Welle am hintern Ende der Geschoßführung durch einen Flaschenzug mit der Bogensehne zu verbinden. Die Geschoßlänge dieser Kriegsmaschine betrug 1,36, ihr Geschoßdurchmesser 0,148, ihre Tragweite 458,20 Meter. Simeon wollte nun die erzwungene Muße der langweiligen Wochen, die ihn ans Haus fesselten, dazu benutzen, ein Modell dieser »Großen Deborah« anzufertigen, obendrein mit einer Verbesserung: eine Art Handspeiche sollte es ermöglichen, die Bogensehne mühelos und sehr schnell bis zum Abzug zurückzuwinden. Mit diesem Modell wollte er seinen Vater überraschen.
  Als er aber an die Ausführung ging, mußte er erkennen, daß er mit zwei Händen nicht auskam, daß zumindest vier Hände notwendig waren. Er vertraute sich seiner Mutter an, sie half ihm nach Kräften, aber ihre Beflissenheit nützte wenig; Frauen waren eben für so männliche Angelegenheiten nicht zu brauchen. Seinen Freund hätte er dahaben müssen, seinen Kameraden Constans.
  Der aber hatte sich seit dem Ausbruch der Epidemie nicht mehr sehen lassen. Da man dem Simeon eingeschärft hatte, wegen der Ansteckungsgefahr so wenig wie möglich mit andern zusammenzukommen, hatte wohl sein Freund Constans ähnliche Weisung erhalten. Allein jetzt, da es um die »Große Deborah« ging, fand Simeon diese Ängstlichkeit übertrieben und machte sich auf den Weg, seinen Kameraden zu besuchen. Der Mutter, die ihn zurückhalten wollte, sagte er, er müsse sich Schnitzholz für sein Modell besorgen.
  Doch im Haus des Freundes hatte er ein böses Erlebnis. Des Constans Vater nämlich, der Hauptmann Lucrio, hatte während seiner Dienstzeit in der Armee ein paar unangenehme Epidemien miterlebt, seine Leute waren gestorben wie Fliegen an kalten Tagen, er war, als jetzt die Seuche in Rom ausbrach, nervös geworden. Seine Mittel erlaubten ihm nicht, die Stadt zu verlassen; aber in seiner Wohnung wenigstens traf er alle Vorsichtsmaßnahmen. Er opferte zweimal täglich auf dem kleinen Hausaltar, hielt ständig ein mit Essig getränktes Tuch vor die Nase, verbrannte Sandelholz, um durch den Rauch die Ansteckungskeime zu vertreiben, vermied alles, was die Götter reizen könnte, und hatte seinem Sohn Constans den Verkehr mit Simeon streng untersagt, damit der sich nicht durch den Umgang mit einem Juden, einem Gottlosen, beflecke. Voll Schrecken und Zorn also wich der Hauptmann, sowie er den Simeon kommen sah, vor dem erstaunten Knaben zurück und überschüttete ihn mit wüsten Schimpfreden. Er solle sich scheren, er verpeste mit seinem Atem die Luft und mache jeden aussätzig, der in seine Nähe komme. Seine alte Judensau – er meinte Berenike, aber das begriff Simeon nicht – sei schuld an der ganzen Seuche, und wenn er sich nicht verziehe, und das mit der Schnelligkeit eines gehetzten Hasen, dann werde er, der Hauptmann Lucrio, ihn kunstgerecht zu Ragout verarbeiten. Simeon zog ab, seine Verblüffung war fast noch größer als seine Scham und sein Zorn.
  Weder dem Vater noch der Mutter sprach er von dem seltsamen Benehmen des Hauptmanns. Das war eine Sache zwischen ihm und diesem. Aber um so beflissener dachte er über den Hauptmann nach, seine Wut und seine Worte. Lucrio war ein barscher Herr, das wußte er, er hatte auch früher schon gelegentlich judenfeindliche Äußerungen getan. Allein Simeon war nicht nachträgerisch, er selber pflegte viel und heftig zu schimpfen. Zudem stellte er als kluger, welterfahrener Junge in Rechnung, daß Lucrio wohl infolge der Seuche nervös war. Immerhin, einen gewissen Stolz hat man, und niemand läßt sich gerne sagen, er verpeste die Luft und verbreite Aussatz. Simeon entschloß sich, den Hauptmann nach den Gründen zu fragen, die ihn zu so ehrenrührigen Reden veranlaßten. Freilich wird er das erst dann tun, wenn die Seuche vorbei und der Hauptmann wieder trätabel ist.
  Übrigens führte sein Besuch im Hause des Freundes trotz des soldatischen Zornausbruchs des Lucrio zum Ziel. Kamerad Constans nämlich als anständiger Bursche und guter Freund schämte sich der Haltung seines Vaters. Schon während der Alte auf Simeon eingeschimpft, hatte er ihm, rot und hilflos danebenstehend, hinter dem Rücken des Vaters beschwichtigende Gesten gemacht. Nach zwei Tagen bewerkstelligte er es, sich verstohlen bei Simeon einzufinden. Mara verfügte nicht über den kräftigen Wortschatz des Hauptmanns Lucrio, aber sie war, als Constans auftauchte, nicht minder entsetzt als der Hauptmann beim Erscheinen des Simeon. Simeon indes, als die Mutter den ersehnten Freund, nun er endlich da war, hinausweisen wollte, schimpfte und fluchte dermaßen, daß es Hauptmann Lucrio nicht hätte besser können. Vor allem gebrauchte er mehrmals das Fluchwort »Beim Herkel«, eine von ihm selber erfundene Abkürzung der Beteuerungsformel »Beim Herkules«. Er wußte, daß er die Mutter durch die Anrufung des monströsen, heidnischen Gottes auf das äußerste erschrecken werde, und sie verstummte denn auch sogleich und zog sich zurück.
  Constans, als sie endlich allein waren, drückte herum, versuchte, seinen Vater zu entschuldigen, ihn zu rechtfertigen. Simeon fand es nicht an der Zeit, Constans etwas von den Gedanken mitzuteilen, die er sich über den Hauptmann Lucrio in diesen zwei Tagen gemacht hatte, er war froh, den Freund dazuhaben, und ihm ging es jetzt vor allem um die »Große Deborah«. So schnitt er denn die Reden des Constans kurz ab und erzählte ihm von seinem Plan. Constans, froh, daß Simeon ihn die Haltung seines Vaters nicht entgelten ließ, machte sich mit Feuer ans Werk, und sie kamen flott voran.
  Constans stellte sich bald ein zweites Mal ein. Von da an saßen die beiden Knaben zum Entsetzen der Mara immer häufiger zusammen, angespornt von der Schwierigkeit und der Heimlichkeit ihres Unternehmens, und während sich ringsum die Stadt in Angst wegen der Seuche und in Gebeten verzehrte, bastelten sie an ihrer »Großen Deborah«.
  Mara wurde gequält von Zweifeln, ob sie Josef nichts von diesen Besuchen mitteilen solle. Aber sie konnte das ihrem Janiki nicht antun. Auch hob es ihr Herz, daß sie gewissermaßen eine Mitverschworene ihres Sohnes war. Still saß sie dabei, wenn Simeon den Vater auf vorsichtige, umwegige Art über die Konstruktion der »Großen Deborah« ausholte, und sie konnte sich nur schwer beherrschen, dem Sohne nicht manchmal einverständnisvoll zuzublinzeln.
  Josef merkte nichts von der Heimlichkeit der beiden. Er kam oft in die Subura, und ihm gefiel sein jüdischer Sohn. Der war ein netter, geweckter Junge, freilich sehr gebunden ans Sinnlich-Materielle. Aber Josef wendete nicht allzuviel Gedanken an ihn. Immer wieder, während er mit ihm schwatzte, stellte er sich seinen Sohn Paulus vor, wie der auf den Hügeln bei Albanum einherfuhr, auf seinem Ziegengespann, schlank, blaßbraun, hochmütig. Er beantwortete geduldig die Fragen seines Sohnes Simeon, er beschaute das runde, klare, zufriedene Gesicht der Mara, und er liebte seinen Sohn Paulus sehr.

Der Maler Fabull sah sich infolge des Brandes und der gesteigerten Bautätigkeit mit Aufträgen überschüttet. Er arbeitete. Wenn er nicht arbeitete, wartete er auf seine Tochter, stellte sich vor, wie sie kommen und ihm Abbitte leisten werde, und dieses Warten zehrte an dem verschlossenen, hochmütigen Mann. Sie wußte, wie sehr er sie liebte, sie liebte ihn, sie wird kommen. Er wartete. Arbeitete immer wilder, um nicht warten zu müssen.
  Die Seuche kümmerte ihn nicht. Es schien ihm undenkbar, daß sie ihn erreichen könnte, ehe er sein großes Bild gemalt und sich mit seinem lieben Kinde ausgesöhnt hätte. Er arbeitete. Er zog sich peinlich korrekt an wie stets, er malte nur im Galakleid. Er malte oder er wartete auf seine Tochter. So vergingen ihm die Tage und die Nächte. Noch ging die Sonne früh auf und spät unter, er konnte lange malen.
  Jetzt war auch der Riesenbau der Neuen Bäder so weit gefördert, daß er mit seinem großen Fresko beginnen könnte, mit den »Versäumten Gelegenheiten«. Jahre hindurch hatte er sich mit diesem Gemälde beschäftigt. Er hatte davon geträumt, es für sein Kind zu malen, und es verdroß ihn tief, daß das nun nicht sein sollte. Aber der Künstler in ihm verhehlte sich nicht, daß die Proportionen der Halle, die es jetzt auszumalen galt, günstiger waren, als irgendein Privatbau sie ihm bieten konnte. Mit verbissenem Eifer machte er sich an die Aufgabe. »Die versäumten Gelegenheiten« werden ein gutes Bild sein, man wird ihn nicht nur den Ersten Maler der Flavier, man wird ihn den Ersten Maler aller Kaiser nennen. Man hat die schönsten Gemälde aus sechs oder sieben Jahrhunderten nach Rom geschleppt, aber der wird Rom nicht gesehen haben, der nicht sein Bild gesehen hat.
  Er hatte kaum sein Gerüst aufschlagen lassen und die ersten Pinselstriche getan, als ihn die Seuche anfiel. Sie warf ihn aufs Bett, sie zwang dem peinlich saubern und korrekten Herrn Durchfälle und Erbrechen auf, die Ärzte erkannten nach wenigen Stunden, daß er verloren war. Hohläugig lag er, den fleischigen Kopf eingefallen, spitznasig, Gesicht und Hände bläulich, die Haut kalt wie die eines Leichnams. Rings um ihn war Räucherwerk angezündet, um die Ansteckungsgefahr zu vermindern und den Gestank zu übertäuben, der von ihm ausging. Seine Waden krampften sich, sein Bewußtsein blieb klar, aber die Ohren sausten ihm, Schwindel überkam ihn, er suchte sich sein Bild vorzustellen, aber es wurde ihm dick und schwarz vor den Augen. Entsetzlicher Durst quälte ihn, er sah und wußte, was um ihn vorging. Er wußte, daß er jeden Trunk mit Erbrechen, Schmerzen, Schwäche zu bezahlen haben werde, und für die Ärzte, die seine geradezu spleenige Sauberkeit und Korrektheit kannten, war es das Erschrekkendste, daß er trotzdem zu trinken verlangte, immer wieder zu trinken. Die Dinge um ihn wurden ihm gleichgültig, zuerst seine Freunde, dann seine Bilder, zuletzt sein Kind. Auch sein bevorstehender Tod wurde ihm gleichgültig, nur eines verlangte er: Wasser, Wasser.
  Als man am Abend des dritten Tages dem Bildhauer Basil mitteilte, daß sein Freund Fabull gestorben war, sagte er zu seinem Gehilfen Kritias: »Siehst du, mein Kritias, was hat man nun davon? Er hat seine ›Versäumten Gelegenheiten‹ malen wollen, daran ist er gestorben. Man schuftet sich ab, man rechnet, man nimmt noch einen Auftrag an und noch einen. Man weiß, man kann auskommen mit dem Geld, das man gemacht hat. Und man hat das Beste geschaffen, was man schaffen kann. Aber man will noch mehr Geld, man will noch Besseres machen, man will noch mehr Ruhm, man will, daß der Umsatz der Fabrik im nächsten Jahr zweihundertdreißigtausend Büsten beträgt statt zweihundertzehntausend. Wir sind Fetthirne, mein Kritias. Ich sollte mir ein nettes, kleines Gut am Jonischen Meer kaufen, nur dann arbeiten, wenn ich Lust habe, alle vier oder fünf Tage, und niemanden vor mich lassen als ein paar nette Frauen. Und vielleicht dich, wenn du nicht gerade zu widerborstig bist. Man sollte in der Sonne liegen und Wein trinken und ab und zu ein gutes Buch lesen. Und vor allem sollte man mit vier Pferden fort aus dieser verfluchten Stadt. Ich habe durchaus nicht den Ehrgeiz, in den Sielen zu sterben wie dieser lächerliche und großartige Fabuli. So, und wie hast du mir für morgen den Tag eingeteilt?«
  Dorion, als sie den Tod ihres Vaters erfuhr, fiel ohnmächtig um. Sie hatte, seitdem sie ihn aus ihrem Hause gewiesen, nichts mehr von ihm gehört, sie hatte angenommen, er habe die verseuchte Stadt geflohen. Als man ihr sagte, er sei an der Epidemie gestorben, spürte sie geradezu körperlich, wie Schuldgefühl sich auf sie senkte, sich um sie legte, pressend, vernichtend: sie hat ihn umgebracht.
  Als sie aus langer Ohnmacht erwachte, war sie bestürzend verändert, blutlos, das Gesicht fleckig. Den Bemühungen ihrer Zofe, des Paulus, des Phineas blieb sie unzugänglich. Sie gab Weisung, sie in die Stadt zurückzubringen. Als man ihr vorstellte, die Leiche sei bestimmt gleich nach dem Tode verbrannt worden, erwiderte sie nichts, beharrte, fuhr zurück in die Stadt.
  Sie fuhr nicht erst nach Hause. Wie sie war, in dem Kleid, in dem sie die Nachricht erhalten hatte, ungewaschen, unfrisiert, ging sie in das Atelier ihres Vaters, zu seinen Ärzten. Sie wollte seine Asche haben. Man machte Ausflüchte. Man hatte ihn der Vorschrift gemäß zusammen mit andern Leichen verbrannt, aber das wagte man ihr nicht zu sagen. Vielmehr erklärte man ihr vielwortig, die Asche könne nur ausgefolgt werden, wenn eine spezielle Erlaubnis der obersten Gesundheitsbehörde vorliege. Sie ging zu den leitenden Ärzten, drang bis zu Valens vor. Die Asche wenigstens wollte sie haben. Schließlich gab man ihr eine aschengefüllte Urne.
  Vielleicht ahnte sie in ihrem Innersten, daß das irgendwelche Asche war, aber sie wollte es nicht wissen. Es war die Asche ihres Vaters, des von ihr getöteten, den man ruchloserweise verbrannt hatte, so daß nun auch seine Seele, sein »Ka«, für immer vernichtet war, und sie hatte es geschehen lassen.
  Mit dem Häufchen Asche in der billigen, kümmerlichen Urne ging sie zurück in das Haus des Fabull. Man wollte sie wegbringen, da man das Haus trotz der Desinfektion für ansteckungsgefährlich hielt. Aber sie widersetzte sich. Mit der Urne hockte sie in dem Atelier des Fabull, wo halbvollendete Bilder herumstanden und lehnten, Zeichnungen zu den »Versäumten Gelegenheiten« und anderes. Sie kauerte auf dem Boden, sprach zu der Urne.
  Die Dame Dorion war aufgeklärt, sie hatte offenen Sinn für die Wirklichkeit; aber was Tod und Jenseits anlangte, so hatte ihre Mutter sie von frühester Kindheit an angefüllt mit den uralten, dunklen Vorstellungen des Nillandes. Die Mutter selber war dem strengen, alten Ritus gemäß einbalsamiert worden, ihr für die Ewigkeit konservierter Leib lag wohlversorgt in dem kleinen Wohnhaus, das ihr Fabull auf dem Totenhof von Alexandrien errichtet hatte. Ihr Vater Fabull aber war nicht nur durch ihre Schuld umgekommen, sondern auch infolge ihrer grauenvollen Fahrlässigkeit für immer vernichtet. Sie hatte es zugelassen, daß sein heiliger Leib auf barbarische Art verbrannt wurde, so daß er sein Wohnhaus für die Ewigkeit nicht betreten, das Schiff nicht besteigen konnte, das darauf wartete, ihn nach den Ländern der Seligen zu bringen.
  Sie hockte auf der Erde, mager, verschmutzt, die meerfarbenen Augen verwildert, mit den dünnen Händen preßte sie die Urne. Sie hatte eines jener Totenbücher im Atelier gefunden, wie man sie den Einbalsamierten mitgab, ein Buch mit den Beschwörungen und Zauberformeln, die Fährnisse abzuwenden, die den Wanderer im Jenseits bedrohten. Sinnlos vor sich hin, mit scheppernder Stimme, sprach sie die uralten ägyptischen Formeln.
  Plötzlich hielt sie ein, verstummte, stierte voll Furcht und Haß vor sich hin. Sie war an das Kapitel über das Totengericht gekommen. Da klangen ihr mit einemmal Schrecken erregend die geheimnisvollen Worte des Josef auf, die hochfahrenden, daß er Macht habe, den Spruch über die Toten aufzuzeichnen. Seine Reden bekamen jählings einen überraschenden, haßvollen Sinn. Er war es, seine Rachsucht war es, die ihren Vater für immer vernichtet hatte.
  Am dritten Tag kam er. Sie sprang auf, mit einem kleinen Schrei. Wich mit solchem Entsetzen vor ihm zurück, wies ihn, fauchend, mit solchem Haß von sich, daß er nicht zu bleiben wagte.
  Er schickte ihr Ärzte, Pfleger. Erst nach Tagen kehrte sie in ihr Haus zurück.
  Als er sie dann, wieder nach Tagen, in ihren Räumen aufsuchte, erschien sie noch schmaler und zarter als sonst, aber sie war sorgfältig gekleidet und gepflegt wie immer, ja, sie trug jene hauchdünnen Gewänder, die sie liebte, und ihr Kater Chronos war um sie. Sie hatte sich zusammengerafft, sie hatte Pläne. Es blieben ihr nur mehr zwei Dinge zu tun. Das erste war, ihren Sohn im Sinn seines Großvaters zu erziehen, das zweite, dem Juden heimzuzahlen, was er ihr und ihm angetan hatte. Beides erfordert Ruhe und List, Eigenschaften, die sie nicht gut meistert. Aber es geht um den Sinn ihres Lebens, sie wird ruhig und listig sein.
  Still und höflich erklärte sie ihm, sie werde nach Alexandrien gehen. Die Seele, das »Ka«, ihres Vaters sei vernichtet, aber sie wolle trotzdem die Asche in dem für Fabuli bestimmten Totenhaus in Alexandrien beisetzen. Ihren Paulus werde sie mitnehmen, um ihn in Alexandrien erziehen zu lassen. Wenn Josef ihr gestatte, den Phineas mitzunehmen, so wäre sie ihm dankbar. Für ihn bedeute es eine finanzielle Entlastung, und sie drücke es nicht; denn infolge des Todes ihres Vaters habe sie ja Mittel.
  Josef hatte längst eingesehen, daß er Dorion nicht werde halten, daß er nicht länger mit ihr werde zusammen leben können. Aber was sein Verstand erkannte, wollte sein Gefühl nicht wahrhaben. Er bat sie, beschwor sie, in Rom zu bleiben. Er stellte ihr vor, daß ihr Vater selber den Jungen als Römer habe erzogen wissen wollen, nicht als Alexandriner. Er versprach ihr feierlich, ihr in die Erziehung ihres Sohnes nicht mehr einzureden. Aber bleiben solle sie.
  Sie hatte damit gerechnet, daß er so sprechen werde. Mit stiller Genugtuung bestätigte sie sich, daß sie seine Worte kalt anhören konnte, daß nichts mehr an ihm, nicht seine Stimme nicht seine Augen an ihr Gefühl rührten. Sie wird ihren Plan ohne Furcht vor der Überrumpelung durch ihre alte Neigung zu Ende führen können.
  Sie war von Anfang an entschlossen gewesen, in Rom zu bleiben; aber sie wollte sich diese ihre Bereitschaft abkaufen, ihn dafür zahlen lassen. Langsam, schrittweise, mit kluger Taktik, gab sie nach. Sie wird in Rom bleiben, aber sie stellte Bedingungen. Sie kam auf ihre alte Forderung zurück. Die dünne Stimme gezügelt, die hellen, wilden Augen sehr kalt, erklärte sie, sie bestehe darauf, daß er das Weib, jene Jüdin, aus der Provinz, aus Rom wegweise.
  Josef dachte an die Geschichte Abrahams. »Da sprach Sara zu Abraham: Treibe aus diese Magd Hagar mit ihrem Sohne: denn nicht erben soll der Sohn dieser Magd mit meinem Sohne, mit Isaak. Und leid war die Sache sehr in den Augen Abrahams. Aber er machte sich auf am Morgen und nahm Brot und einen Schlauch Wasser und gab es der Hagar, legte es auf ihre Schulter samt dem Kinde und schickte sie fort. Und sie ging.«
  Josef sagte Dorion zu, er werde Mara aus Rom wegweisen.

Am andern Morgen ging er in das Haus an der Subura, zu Mara. Sie strahlte, als Josef kam; ihrem klaren, runden Gesicht, das jetzt etwas vollbäckig geworden war, sah man jede Regung sogleich an. Auch der Junge freute sich offensichtlich. Er war mit seinem Modell vorangekommen, bald wird er es dem Vater zeigen können. Mara lief geschäftig ab und zu. Sie machte Josef ein kaltes Fußbad zurecht; sie wußte, daß er, wenn er zu Fuß kam, es liebte, die Füße zu baden. Sie versuchte, es ihm behaglich zu machen, brachte ihm den Schemel, Eisgetränke.
  Josef ließ es sich herrenhaft gefallen. Aber er verwandte keinen Blick von ihr, wie sie ab und zu ging. Sie war ein bißchen dicklich geworden in diesen zehn Jahren. Aber das sah er jetzt nicht, vielmehr sah er sie heute, wie er sie während ihres ganzen Aufenthaltes in Rom nicht gesehen hatte, so nämlich, wie sie damals in Cäsarea gewesen war. Seine Phantasie wischte das Pausbäckige ihres Gesichts fort, er sah ihr Antlitz rein, eirund, die niedrige Stirn schimmernd wie damals, die langen Augen, den üppig vorspringenden Mund, das ganze, demütige, junge, süße, galiläische Gesicht von damals, betont noch in seiner Reinheit durch das dunkelbraune, viereckige Kleid mit den roten Streifen, wie es im Norden Judäas landesüblich war. Verlangen nach ihr stieg ihm auf wie in der ersten Zeit in Cäsarea.
  »Und leid war die Sache sehr in den Augen Abrahams.« Er hat Dorion das Versprechen gegeben. Dorion, wie sie jetzt ist, ist nicht die Frau, ihm etwas zu schenken. Er liebt seinen Sohn Paulus, und er hängt an Dorion. Vielleicht ist es ein Unglück für ihn, daß er an ihr hängt; aber wie immer, er kann nicht los von ihr. Er muß vorwärts jetzt, er muß es Mara sagen.
  Er drückte herum, es fiel ihm schwer, anzufangen, den Frieden dieses Hauses zu stören. Ringsum war die Seuche; aber in dem Zimmer hier war alles gut. Der Junge, Simeon-Janiki, sein jüdischer Sohn, saß da, stämmig, beflissen, und las aus dem »Jüdischen Krieg«, langsam, doch erfolgreich um den Sinn bemüht, Mara hörte still zu, verständnislos und glücklich, und ihm war es auferlegt, das alles zu zerstören.
  Er riß sich zusammen. Mit Ansprung erklärte er, jetzt, nachdem auch sein Schwiegervater Fabuli an der Seuche gestorben sei, halte er es nicht für angebracht, daß Mara mit dem Jungen länger in Rom bleibe. Simeon sah überrascht hoch. Wie denn? fragte er. So lange habe die Seuche ihm nichts anhaben können, er habe keine Furcht vor ihr. In kurzem, überlegte er in seinem Innern, wird es so weit sein, daß er dem Herrn und Vater das Modell wird zeigen können. Die ganze Arbeit dieser letzten Wochen stak in dem Modell. Soll sie vertan sein? Wo wird er einen zweiten so eifrigen Mitarbeiter finden wie seinen Freund Constans?
  Mara war keine kluge Frau, doch wenn es um Josef ging, war sie spürsinnig. Von Anfang an hatte sie heute erkannt, daß Josef ihr etwas zu sagen hatte, und nichts Angenehmes, und jetzt erschrak sie sehr. Sogleich ahnte sie die Zusammenhänge. Sie hatte sich über die Dame Dorion viel erzählen lassen, sie wußte, daß sie ihr ein Dorn im Auge war. Sicher stak die Dame hinter Josefs Vorschlag. So lange hatte Josef sie in Rom geduldet; in diesen letzten Wochen schien es sogar, als sei ihre und des Jungen Anwesenheit ihm eine Stärkung. Woher diese plötzliche Besorgnis, nun doch die Seuche schon im Abklingen war? Sicher war es die Dame, die sie forthaben wollte. Ist sie erst einmal fort, dann wird die Dame zu verhindern wissen, daß sie jemals zurückkommt. Ach, sie verstand das sehr gut. Sie selber an Stelle der Dame hätte wohl auch nicht die Anwesenheit einer zweiten Frau des Josef und ihres Kindes geduldet.
  Dies alles spürte sie in einem Augenblick, und die Freude auf ihrem stillen und fröhlichen Gesicht erlosch sichtbarlich. Aber sie machte nicht erst lange, lahme Widerreden. Sie verwies dem Jungen seinen Widerspruch, und sie selber fügte sich. In ihrem Innersten hatte sie niemals an den Bestand dieses ihres Glückes geglaubt, und gerade als Josef ihr versprach, er werde den Jungen bei Freunden erziehen lassen, hatte sie zu zweifeln begonnen. Wenn Josef, ihr Herr, es wünschte, dann ging sie natürlich. Ja, er wünschte es, er wünschte, daß sie zurück nach Judäa gehe. »Nach Judäa?« fragte finster und widerspenstig Simeon, aber die Mutter gab ihm einen Blick, vorwurfsvoll, traurig und bittend zugleich, und er schwieg.
  Sowie sie indes mit dem Jungen allein war, änderte sie ihre Haltung. Sie begriff die Dame Dorion, sie ehrte und liebte ihren Mann Josef, aber diesmal fügte sie sich nicht ohne weiteres. Wenn es um sie allein ginge, dann wohl: aber es geht um ihren Jungen. Jeder muß sehen, wie der in Rom aufblüht, wie die Stadt sowohl als auch die Gegenwart seines Vaters dazu beiträgt, ihn blühen und gedeihen zu machen. In Judäa verwildert er. Soll sie ihn aus dem Licht zurück in den Schatten bringen? Sie denkt nicht daran.
  Sie eröffnete sich Josef und ihrem Freund, dem Glasfabrikanten Alexas. Der beleibte Herr hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Es war ein vielerprobter Mann, er hatte mehr Leid erfahren als die meisten andern, hatte alle verloren, die ihm lieb gewesen waren. Jetzt waren ihm diese Frau aus Judäa und ihr Junge lieb geworden, durch den netten, geweckten Simeon war neuer, fröhlicher Lärm in sein ödes Haus gekommen, er wollte nicht, daß die beiden fortgingen und sein Haus wieder stumm werde. Er hatte erfahren, wie schnell Freude entschwindet. Er fand es frivol, dieses fröhliche Leben ohne Kampf ziehenzulassen, und begriff nicht, wie Josef die beiden fortschicken konnte.
  Die Nacht über dachte er nach. Den andern Tag glaubte er, einen Ausweg gefunden zu haben. Er wird Mara heiraten. Er wußte natürlich, warum Josef Mara aus Rom forthaben wollte. Aber wenn Mara eines andern Frau ist, kann dann ihre Anwesenheit die Dame Dorion stören?
  Als Josef das nächste Mal in das Haus an der Subura kam, um mit Mara die Einzelheiten ihrer Rückreise zu besprechen, war zu seinem nicht angenehmen Erstaunen auch Alexas da und teilte ihm die Lösung mit, die er gefunden hatte. Josef schien der Plan nicht willkommen. Er wußte leider, daß die Dame Dorion nicht so leicht zu befriedigen war, wie sein Freund Alexas glaubte. Dorion war heftig, sicher nicht war sie mit einer solchen halben Lösung einverstanden. Josef verlor sie, wenn Mara in Rom blieb. Auf der andern Seite wagte er nicht recht, seinem Freunde zu widersprechen. Wenn der Mara heiraten wollte, woher sollte er, Josef, den Anspruch nehmen, ihn zu hindern? Niemand nannte den Namen der Dame Dorion, aber alle wußten, daß es im Grunde nur um sie ging. Man sprach hin und her und kam nicht vom Fleck.
  Mara sah Josefs Zögern. Die Freundschaft des Alexas, sein Antrag waren ihr als ein neuer, unerwarteter Glücksfall erschienen. Nun mußte sie erkennen, daß, wenn sie in Rom blieb, ihre Gegenwart nur den Zorn Josefs, ihres Herrn, erregen, daß sie ihm als Frau des Alexas in Rom ferner sein werde als in Judäa. Aber ging es nicht um den Jungen? War es nicht notwendig, Simeon-Janiki in Rom zu halten unter etwas strafferer Zucht? Sie fand keinen Ausweg.
  Alexas schließlich fand ihn. Wenn sein Freund Josef so sehr um Maras Gesundheit fürchte, so sei es vielleicht das klügste, wenn Mara auf einige Zeit nach Judäa zurückkehre, schon um dort ihre und des Simeon Dinge endgültig zu ordnen. Der Junge aber habe doch wirklich von der Seuche nichts zu befürchten; es ereigne sich äußerst selten, daß so junge Menschen von ihr befallen werden. Er schlage also vor, Mara solle vorläufig allein nach Judäa zurückkehren, Simeon-Janiki aber gewissermaßen als Pfand in seinem Hause zurückbleiben.
  Mara saß stumm und erloschen da. Der Vorschlag des Alexas war gut gemeint, doch auf diese Art verlor sie ihren Mann sowohl wie ihren Sohn. Aber sie begriff, daß es einen andern Ausweg nicht gab, wenn sie nicht den Zorn Josefs erregen wollte. Sie klammerte sich daran, daß diese Regelung nur eine »vorläufige« sein sollte, und fügte sich.
  Josef und der Junge begleiteten sie auf das Schiff. Das war eine Reise von drei Tagen, und sie rechnete dem Josef seine Höflichkeit hoch an, denn er war erkältet und pflegte sich zu verwöhnen.
  Es war merkwürdig, wie sie sich auf dieser Reise in die frühere Mara zurückverwandelte. Sie verlernte vollends ihr bißchen Griechisch und Latein. Sie bewunderte ihren Jungen, der soviel geschickter und erwachsener war als sie. Mit vielen demütigen Worten, immer von neuem, bat sie Josef, sich seiner anzunehmen. Alexas ist ein guter Mann und ihrem lieben Simeon-Janiki zugetan, aber wie soll ein Sohn gedeihen ohne den Segen und die Liebe des Vaters? Zweimal in der Woche oder einmal wenigstens müsse Josef ihn vor sein Antlitz lassen, das müsse er ihr versprechen. Josef versprach es, versprach mehr. Er war gewillt, sein Versprechen zu halten, er hatte seinen jüdischen Sohn gern. Simeon-Janiki war sein Erstgeborener. Der Erstgeborene seines Herzens freilich blieb sein Sohn Paulus.
  Mara, als man den Steg schon weggezogen hatte und das Schiff sich in Bewegung setzte, rief ihm noch zu, er solle ja sofort zurückkehren. Er solle um Gottes willen sogleich nach seiner Rückkehr Kamillen mit Mangold und zerstoßener Kresse, in alten Wein gemischt, zu sich nehmen und richtig schwitzen. Er müsse ihr mit nächster Post schreiben, wie es um seine Erkältung stehe. In ihrem Innern machte sie sich Vorwürfe, daß sie seine Begleitung angenommen hatte; denn sie fürchtete, jetzt sei er der Seuche leichter zugänglich.
  Dann stach das Schiff in See. Sie stand lange auf dem Hinterdeck. Josef und Simeon verschwanden rasch, langsam die Küste Italiens. Sie aber stand noch, als die Küste schon lange verschwunden war.

Simeon-Janiki liebte seine Mutter, er fühlte sich männlich vor ihr, wie ein Erwachsener vor einer Unmündigen. Trotzdem mußte er sich, wenn er ehrlich sein wollte, in den Wochen nach ihrer Abreise eingestehen, daß er froh war, sie jetzt nicht um sich zu haben. Denn es waren sehr ausgefüllte Wochen, und seine Mutter hätte ihn behindert.
  Nachdem nämlich die Seuche ihre Kraft verloren hatte und die Begüterten von ihren Landsitzen zurückkehrten, kündigte jetzt auch der offizielle »Tagesanzeiger« endlich an, daß die Prinzessin Berenike in zwei Wochen in Rom eintreffen werde. Schon hatte auch der Kaiser dem Senat mitgeteilt, er habe beschlossen, die Eröffnung des neuen, von seinem Vater begonnenen Amphitheaters, des größten der Welt, durch Hunderttägige Spiele von niegesehener Pracht zu feiern. Nicht erwähnt in seinem Schreiben war, daß diese Spiele Berenike galten, aber jedermann im Reich wußte es.
  Die Stadt tauchte in ihr altes, fröhliches Leben herauf, die Vorbereitungen der Spiele setzten alles in Bewegung. Die Knaben Simeon und Constans hatten groß zu tun, sie konnten sich nicht vorstellen, daß ohne ihre Mithilfe alles ordentlich vonstatten gehe. Selbst die Arbeit am Modell der »Großen Deborah« blieb liegen.
  Sie trieben sich in den Stallungen der Pferdezüchter herum, der Unternehmer, die für die Wagenrennen das Material lieferten, der »Blauen« und der »Grünen«. Das ganze Reich war geteilt in diese beiden Rennparteien. Denn seit hundert Jahren, seitdem den Römern mit der Möglichkeit der politischen Betätigung auch die politische Leidenschaft verraucht war, galt ihre ganze Passion den Pferderennen, und mit wilder Anteilnahme verfolgte ein jeder die Siege und Niederlagen seiner Rennpartei. Selbst die »Gläubigen«, die Minäer, die »Christen«, wie einige sie nannten, Anhänger einer neuen, mild und strengen, asketischen Sekte, konnten sich dieser allgemeinen Strömung nicht entziehen. Der Terrainhändler Tryphon zum Beispiel, ein Anhänger dieser Sekte, ein Landsmann und Geschäftsfreund des Freigelassenen Johann von Gischala, interessierte sich jetzt mehr für die Chancen der »Blauen« als für die Terrains im Norden oder für die Abweichungen seines Glaubens von den Lehrmeinungen der Doktoren. Als Johann ihn verwundert fragte, ob denn überhaupt die Lehren seiner Sekte ihm erlaubten, den Wagenrennen beizuwohnen, antwortete dieser »Gläubige« unerwartet liberal, man dürfe die Ergötzlichkeiten nicht verschmähen, die Gottes Güte gewährt habe. Und als Johann auch dann noch den Kopf schüttelte, wies der Christ Tryphon auf die Heilige Schrift hin und berief sich auf den Propheten Elias. Da dieser auf einem Wagen gen Himmel gefahren sei, so könne, meinte er, die Kunst des Wagenlenkens vor Gottes Augen nicht mißfällig sein.
  Simeon war »grün«, Constans »blau«. Es war den »Blauen« geglückt, sich den »Vindex« als Hauptpferd für ihr wichtigstes Viergespann zu sichern. Das war ein Ereignis, vor dem selbst die geplante Heirat des Walfischs mit der Jüdin zurücktrat. Der Hauptmann Lucrio zum Beispiel war »blau«, und beinahe vergaß sogar er seine Antipathie gegen die östliche Dame, weil man jetzt das Pferd Vindex für die »Blauen« in Rom rennen sehen sollte.
  Die beiden Knaben, täglich aus den Stallungen hinausgeworfen, ersannen täglich neue Vorwände, sich wieder Zugang zu verschaffen. Constans erlahmte allmählich. Aber Simeon war erfinderisch. Er bestach etwa den Türsteher mit Amuletten, die den eigenen Gespannführern Sieg, den Gegnern Untergang bringen sollten; er fertigte das Zeug selber an, ägyptische Beschwörungsformeln, sonderbar geritzte Alexandermünzen, kleine Zauberglöckchen für die Pferde. Es gelang ihm, mit dem einen oder andern der Gespannführer ins Gespräch zu kommen. Die Beine gegrätscht, fachmännisch stand er da und zitierte, was der Champion Thallus, Tausendsieger, ihm einmal in Cäsarea gesagt habe, kennerhaft beklopfte er die Hälse und Schenkel der Pferde, verglich sie mit dem Pferd Silvan, auf dem er einmal gesessen sei, und Constans stand voll neidischer Bewunderung daneben.
  Nun hatte Constans von einem Kameraden ein graues Eichhörnchen erworben, das sich in die Stadt Rom verirrt hatte, und er versprach dem Simeon dieses Eichhörnchen, falls der ihm erwirke, daß er einmal auf dem Gaul Vindex sitzen dürfe. Simeon, keß, wie er war, traute sich das wohl zu. Es gab aber ein Hindernis. Der Gaul Vindex lief für die »Blauen«, und er, Simeon, war »grün«. Er war »grün« geworden damals, als der Champion Thallus sich ihm gegenüber so anständig benommen hatte, und nicht für den Gaul selber hätte er seine »grüne« Überzeugung verleugnet. Glücklicherweise aber fragte ihn niemand nach seiner Parteizugehörigkeit. Er ging schließlich bei den »Blauen« ebenso ein und aus wie bei den »Grünen«, und er erreichte es, daß der Gespannführer Avil, der beste Mann der »Blauen«, vorläufig ihn selber einmal auf dem Gaul Vindex sitzen ließ. Klein, breit und die Brust fast gesprengt vor Stolz, saß er auf dem fünfjährigen Vollblut. »Beim Herkel«, sagte er, »mit diesem Gaul könnte man glatt Indien erobern.«
  Zunächst aber galt es, das graue Eichhörnchen zu erobern. Allein gerade als er soweit war, dem Avil die Bitte vorzutragen, auch seinen Freund Constans einmal auf dem Vindex reiten zu lassen, ereignete sich ein Unglück, das die ganze Stadt bewegte. Avil war neben Thallus wohl der beste Mann der Rennbahn, auch er war Tausendsieger, tausendundsieben Siege hatte er hinter sich. Er lebte in Gallien und war nach Rom gekommen, um rechtzeitig mit dem Training auf der Großen Rennbahn zu beginnen. Da, zwei Wochen vor seinem Auftreten, gerade noch kurz vor ihrem endgültigen Verlöschen, packte ihn die Seuche, und er starb, bevor er den Constans auf den Vindex gesetzt hatte.
  Der Tod ihres Freundes Avil verleidete den Knaben die Stallungen. Um so häufiger machten sie sich nun in den Kasernen der Fechter zu schaffen. Hier ging es fast noch bewegter zu als bei den Rennern. In die Quartiere der Fechter Zutritt zu erhalten war übrigens leicht. Die Herren, denen die Organisation der Fechterspiele oblag, entfalteten eine wilde Werbetätigkeit, und ihnen war jedes Interesse willkommen. Sie standen nämlich vor schweren Problemen. Das Material, das man für die Hunderttägigen Spiele benötigte, war ungeheuer, etwa fünfzehntausend Menschen; überdies mußte man bei der größeren Hälfte der diesmal auf den Aufführungslisten Bezeichneten von vornherein das schwarze »P« beifügen, den Anfangsbuchstaben des Wortes »Periturus«, »vermutlich verloren«: sie waren bestimmt, im Lauf der Spiele zu krepieren. Nun standen zwar aus der jüdischen Kriegsbeute von vor zehn Jahren noch etwa achttausend Stück Leibeigene zur Verfügung. Aber war es taktvoll, dieses Material bei einer Veranstaltung zu verwenden, die zu Ehren einer jüdischen Prinzessin abgehalten werden sollte, noch dazu der künftigen Kaiserin? Auf alle Fälle tat man gut, wenn man, um notfalls auf dieses Hauptreservoir verzichten zu können, anderes Material in hinreichenden Mengen bereitstellte. In der großen Stadt konnte man immer Menschen auftreiben, die sich, da sie am Verhungern waren, als Fechter für die Arena anwerben ließen. Zwar war die strenge Zucht der Kasernen gefürchtet, und der Eid, den man bei der Anwerbung zu leisten hatte, »sich mit Ruten hauen, mit Feuer brennen, mit Eisen töten zu lassen«, wirkte abschreckend. Andernteils aber war die Verpflegung in den Kasernen berühmt, es war die reine Mast, und die Aussicht, zweimal im Leben, nämlich bei dem großen öffentlichen Festmahl, das man den Fechtern vor ihrem Auftreten gab, und in der Arena selber, angestarrt zu werden wie ein Senator, entschädigte manchen für die Furcht vor dem Tode. Auch galt man als Fechter bei den Frauen; von gewissen Damen der Hocharistokratie war bekannt, daß sie sich mit Vorliebe Fechter als Genossen ihrer Nächte aussuchten, besonders unmittelbar vor ihrem Auftreten, was zwar die Chance, mit dem Leben davonzukommen, minderte, aber doch seinen Reiz hatte. Trotz dieser Lockmittel konnten sich die Organisatoren nur mittels einer ungeheuren Werbetätigkeit die nötige Anzahl von Fechtern verschaffen, und sie zeigten eine erfinderische Phantasie. Simeon und Constans sahen und hörten einmal mit brennendem Interesse mit an, wie ein Direktor der Fechterschulen einem Berichterstatter des »Tagesanzeigers« das neu einge stellte Material vorführte, eine ganze Anzahl Freigeborener. Der Direktor wies vor allem auf einen, übrigens ziemlich mikkerig aussehenden, jungen Menschen hin, der den Namen einer anständigen Familie trug. Dieser Jüngling erklärte, er habe sich deshalb als Fechter verpflichtet, weil er das Handgeld brauche, um die Leiche seines Vaters, der als einer der letzten an der Seuche gestorben war, der Verbrennung zu entziehen und sie, dem Testament zufolge, beerdigen zu lassen; wahrscheinlich war dieser Vater ein sogenannter »Gläubiger« oder Christ gewesen. Der Berichterstatter versprach sich viel von der Wirkung dieser romantischen Geschichte.
  Die Fechter waren übrigens zumeist umgängliche Burschen und ließen sich, wenn sie nicht gerade trainierten, aßen oder schliefen, ohne weiteres mit den beiden Knaben in Gespräche ein. Sachkundig beurteilten Simeon und Constans ihre Technik, betasteten ihre Waffen, befühlten ihre Muskeln, gaben Ratschläge.
  Bisher war das Lieblingsspiel der römischen Jungen »Engländer und Soldaten« gewesen. Die wilden Engländer hatten vom letzten Krieg her in Rom eine nachdrückliche Erinnerung hinterlassen, vor allem durch ihre blaue, barbarische Kriegsbemalung, und zum Ärger ihrer Mütter waren die Jungen nicht davon abzubringen, sich blau anzuschmieren und Engländer zu spielen. Jetzt, und nicht zuletzt auf Betreiben des Simeon, wurde dieses Spiel durch das Fechterspiel ersetzt. Die Jungen stachen und hauten mit Holzwaffen aufeinander ein, und weithin durch die Straßen, schauerlich, im Sprechchor, gellte und heulte ihr Schwur, »sich mit Ruten hauen, mit Feuer brennen, mit Eisen töten zu lassen«. Oh, wie bedauerten sie, daß sie nicht das vorgeschriebene Mindestalter hatten, um diesen Schwur in Wahrheit zu leisten und Fechter zu werden.
  Das Niederträchtigste blieb, daß man, da man noch nicht vierzehn Jahre alt war, nicht einmal Aussicht hatte, in den Zuschauerraum des Amphitheaters einzudringen. Simeon zwar vermaß sich, er werde es erreichen. Wieder versprach ihm Constans das graue Eichhörnchen, wenn er, auf welche Art immer, auch ihn in den Zuschauerraum einschmuggeln könnte. »Beim Herkel«, versicherte Simeon, mit großartiger Beiläufigkeit,
»das werden wir schon deichseln.«
  Aber dieses leichtsinnige Versprechen kostete ihn schlaflose Nächte. Ja, oft auch bei Tage versank er in Nachdenken. Manchmal, im Bewußtsein, daß seine Mutter nicht da war und er also keine langen, lästigen Fragen über den Genuß verbotener Nährmittel zu fürchten habe, kaufte er sich wohl eine mit Honig bestrichene Eselswurst, und dann konnte man ihn klein und breit auf den hohen Stufen irgendeines Tempels sitzen sehen, träumerisch die Wurst verzehrend und Pläne wälzend, wie er sich wohl mit Constans während der Spiele in das Amphitheater einschleichen könnte.

»Was meinen Sie, mein Demetrius?« unterbrach plötzlich Marull die Arbeit am Manuskript des »Seeräubers Laureol«. »Wie wäre es, wenn wir die Seeräuber zu entlaufenen Leibeigenen machten?« Der Schauspieler Demetrius Liban sah hoch. »Wie das?« fragte er. Seine Unlust war mit einemmal fort, sein ganzes, gedunsenes Gesicht spannte sich.
  Auch für ihn waren diese Wochen vor den Spielen eine große Zeit. Seit den Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen Kaiser war er nicht mehr öffentlich aufgetreten. Er hatte sich für eine große Gelegenheit aufsparen wollen: nun, mit den Hunderttägigen Spielen, war diese große Gelegenheit da. Seit seiner Kindheit war es sein Lieblingstraum gewesen, den Seeräuber Laureol darzustellen, den beliebtesten Verbrecher des Jahrhunderts, Helden eines alten Volksspiels des Catull. Immer wieder hatte er es sich versagt, diese Rolle zu spielen, weil er sich ihr nicht gewachsen fühlte. Jetzt, nach so vielem Auf und Ab, war er innerlich reif, jetzt konnte er der alten, halbtoten Figur frischen Odem einhauchen, den Odem seiner eigenen Zeit. Allein er war mit der Arbeit nicht so gut vorangekommen, wie er gehofft hatte. Auch Marull, der ihm das Buch schrieb, schien schwunglos. Schon seit drei Wochen plagten sie sich ab; doch das Manuskript, sie fühlten es beide, ohne es sich einzugestehen, blieb lahm. Das war nicht der »Laureol«, von dem sie geträumt hatten.
  Wie nun Marull plötzlich diese neue Idee mit den Leibeigenen in die Debatte warf, hob den Schauspieler neue Hoffnung. »Sie werden sehen, mein Demetrius, es geht«, fuhr Marull angeregt und zuversichtlich fort. »Ich rekapituliere, was wir für das Vorspiel haben«, sagte er auf die sachliche Art, die er sich von seiner juristischen Betätigung her angewöhnt hatte. »Gesindel hat sich zusammengetan, Deserteure, entlaufene Leibeigene zumeist, wenn wir meinen neuen Einfall bringen wollen. Sie haben ihren ersten Handstreich gemacht, ihr erstes Schiff gekapert und sind jetzt in einer versteckten Bucht eingelaufen, um in Ruhe die Beute zu teilen. Sie sind vergnügt, sie malen sich aus, wie sie diesen ersten Verdienst aus ihrem Räuberdasein verwenden wollen. Die meisten tragen das ›E‹ eingebrannt, das die zur Zwangsarbeit bestimmten Leibeigenen kennzeichnet.«
  »Ich sehe schon«, sagte Demetrius. »Ausgezeichnet. Und jetzt lassen wir einen Hausierer auftreten, von dem die Kerle zunächst ein großes Quantum der Salbe des Scribon Larg kaufen, um dieses Zeichen verschwinden zu machen.« – »Ja«, sagte Marull. »Dabei haben sie natürlich gar kein Zutrauen zu der Salbe. Sie fürchten, der Mann hängt ihnen Schwindelware auf, wie immer heutzutage.« Der Sekretär stenographierte eifrig mit. »Finden Sie nicht«, fragte Marull, »daß wir durch diese Geschichte mit den Leibeigenen gewinnen? Merken Sie, worauf ich hinauswill?«
  Und ob Liban es merkte. Das war der Nagel, das war die Lösung. Auf diese Art endlich hatte man die so heiß ersehnte Aktualität. Wenn irgend etwas aktuell war, dann das Leibeigenenproblem. Seit Jahrzehnten gingen die Bestrebungen der modernen Philosophen und Juristen dahin, die Existenz der Leibeigenen zu erleichtern. Niemand selbstverständlich, sei es Grieche oder Römer, sei es Jude, Ägypter oder Christ, sei es Ideolog oder praktischer Politiker, denkt daran, die Leibeigenschaft ganz aufzuheben. Es ist klar, daß dann jede geregelte Produktion, daß Zivilisation und gesellschaftliche Ordnung dann aufhören müßten. Immerhin verkünden eine ganze Anzahl moderner Schriftsteller und Politiker unablässig, es sei vernünftiger und entspreche mehr den heutigen humanen Anschauungen, die Abhängigkeit der Leibeigenen zu mildern. Sie haben auch in den letzten Jahrzehnten einige Erfolge erzielt. Schon ist es zum Beispiel zum Ärger der Konservativen und der Gruppe der »Echt Römischen Männer« durch Edikt verboten, Leibeigene ohne Richterspruch zu töten; die Liberalen haben sogar einen Senatsbeschluß erwirkt, dem zufolge man nicht einmal mehr einen Leibeigenen ohne weiteres an ein Bordell verkaufen darf. Dieser unser Marull ist noch weiter gegangen; er hat, als er noch im Senat saß, ein Gesetz eingebracht, dem zufolge es verboten sein sollte, ausgediente, nicht mehr verwertbare Leibeigene auf die Straße zu werfen und verhungern zu lassen; vielmehr sollten Besitzer von senilen, nicht mehr brauchbaren Leibeigenen, falls man ihnen diese nicht für die Spiele in der Arena abnahm, gehalten sein, ihnen täglich ein Stück Brot und zweimal im Monat etwas Knoblauch und Zwiebel zu liefern. Selbstverständlich ist er mit so radikalem Liberalismus nicht durchgedrungen. Aber es ist eine großartige Idee, und niemand weiß sie besser zu schätzen als Liban, wenn Marull jetzt von der Bühne her, bei Gelegenheit des »Laureol«, dieses Problem von neuem anschneiden will.
  »Ja«, erwiderte also Liban, »das ist die Lösung. Jetzt haben Sie es geschafft, Senator Marull. Weiter, bitte. Sagen Sie, wie denken Sie sich die Handlung weiter?« Marull war in Schwung gekommen, er improvisierte, improvisierte mit Glück. »Unsere Seeräuber trinken. Sie trinken viel. Unter dem Einfluß des Weins schwatzen sie von ihrer Vergangenheit. Sie zählen die Mühen und Mißhandlungen ihres früheren Leibeigenendaseins auf; keiner will dem andern an Fülle des durchgemachten Elends nachstehen. Sie streiten, sie werden immer heftiger. ›Wer hat am meisten zu leiden gehabt?‹ schreien sie sich an. ›Du? Mit deinem bißchen glühender Zange? Das soll auch was sein?‹ Und sie gehen mit Fäusten, Rudern, Enterhaken aufeinander los.« – »Ich sehe«, sagte enthusiastisch Demetrius, »ich verstehe, ich bin im Bilde.« Und mit rascher Bühnenphantasie führte er die Idee des Marull aus: »Sie singen ein Couplet. So etwa: ›Ich kenn die Peitsche, / Ich kenn das Eisen, / Ich kenn das Feuer, / Die Nackenkette, / Und ich, ich hing schon einen Tag am Kreuz.‹« Er pfiff und sang das Couplet vor sich hin. »Ja«, sagte Marull. »Fein. In dieser Art etwa. Und dann kommen Sie, Laureol, und schlagen die wildesten unter den Räubern kurz und klein.« – »Und dann spiele ich mich in den Vordergrund«, arbeitete Demetrius beflissen weiter. »Ich erzähle, was ich selber erlitten habe, wie man mich erst auf die Galeere geworfen hat, dann in die Bergwerke, dann in die Steinbrüche, wie man mich dann an die Wasserpumpe der Bäder gestellt hat, dann an die Tretmühle.« – »Ja«, fiel ihm Marull ins Wort. »Aber Sie, Liban-Laureol, machen natürlich kein Wesens daraus. Sie haben das alles gut und ohne sonderliches Mißbehagen überstanden und geben glatt zu, daß jeder von Ihren Kollegen mehr gelitten hat als Sie.« – »Großartig«, sagte Demetrius und sah sich schon mit vernichtender Schlichtheit diese Erklärung abgeben. »Da müssen sie mich dann natürlich zu ihrem Hauptmann machen«, freute er sich.
  »Und nun wollen wir sehen«, überlegte Marull, »ob wir uns im weiteren Ablauf durch diese Idee mit den Leibeigenen nichts gefährden.« Und, wieder auf seine umsichtige Art, rekapitulierte er, während der Sekretär stenographierte, den Fortgang des Stückes: wie der berühmte Seeräuber, alt, fett und bürgerlich geworden, sich unter falschem Namen zur Ruhe gesetzt hat und wie er jetzt, behaglich verheiratet, die Ehrenämter seines Dorfes bekleidet. Da kommt ein Bettler, ein entlaufener Leibeigener, und erzählt, um sich mit Romantik zu umgeben und dadurch bessere Geschäfte zu machen, heimlich den Frauen, er sei der große, verschollene Räuber Laureol, nach dem die Polizei noch immer vergeblich sucht. Sogleich auch ist Geraun, Furcht und Bewunderung um ihn. Das hält der wirkliche Laureol nicht aus. Er flüstert seinen Freunden, seinen Kollegen im Magistrat zu, wer er ist. Aber jedermann hält es für einen guten Spaß, niemand glaubt ihm, nicht einmal die eigene Frau. Man lacht ihn einfach aus. Der fette Mann, immer mehr erbittert, besteht darauf, der große Seeräuber zu sein, er schäumt. Und da er keinen Glauben findet, bringt er schließlich die Beweise. Er trommelt seine alten Kumpane zusammen, die Leibeigenen, er liefert sich selber der Polizei, dem Gericht. Er endet am Kreuz, aber er hat bewiesen, daß er er ist. Und wenn die andern ihr Couplet singen: »Ich kenn die Peitsche, / Ich kenn das Eisen, / Ich kenn das Feuer, / Die Nakkenkette«, dann kann er mit Recht vom Kreuz her erwidern:
»Und ich, ich häng den ganzen Tag am Kreuz.«
  Das Gesicht fast töricht vor Aufmerksamkeit, hörte Demetrius zu, wie Marull den Inhalt des Stückes zusammenfaßte. Ja, nun war es endlich da. Das war das Stück, von dem er geträumt hatte, sein Stück. Jetzt war aus der sentimental pathetischen Gestalt des alten Seeräubers das geworden, was er darstellen wollte, ein Symbol des Rom von heute. »Ja«, atmete er tief auf, als Marull geendet, »das ist es, jetzt haben wir es. Jetzt haben Sie es«, korrigierte er sich höflich. »Dafür kann ich Ihnen mein ganzes Leben lang nicht genug danken«, fügte er voll tiefer Freude hinzu.
  »Wissen Sie«, fragte Marull zurück und klopfte nachdenklich mit seinem eleganten Bettelstab den Boden, »wem Sie in Wahrheit zu danken haben? Unserem Freund Johann von Gischala. Ich weiß, Sie mögen ihn nicht. Aber denken Sie nach, und sagen Sie selbst, ob wir ohne ihn auf diesen Laureol gekommen wären.«
  Aber Demetrius Liban, ganz erfüllt von innerer Freude, dachte keineswegs an die Parallelen, die das Schicksal dieses Laureol, wenigstens in seinem ersten Teil, mit der Geschichte des Nationalhelden Johann von Gischala aufwies. Er atmete vielmehr tief auf, mehrmals. Eine große Last fiel von ihm ab. Es war dies: Jahve hat sein Antlitz von ihm abgewandt, und daß die Arbeit der letzten Wochen so schwunglos geblieben war, hatte ihm bestätigt, daß Gott ihm noch immer zürnte. Denn noch immer nicht war die Rechnung zwischen ihm und Jahve ausgeglichen. Ganz abgesehen von der Sache damals mit dem »Juden Apella«, war er, solange der Tempel stand, niemals seiner Verpflichtung nachgekommen, nach Jerusalem zu wallfahrten. Seine Absicht zwar war es immer gewesen, und er hatte Entschuldigungsgründe. Wirkte er nicht hier in Rom auf seine Art zur größeren Glorie der Juden und somit zur Ehre Jahves? Verwandte er nicht seinen Einfluß und einen Teil seines Einkommens für jüdische Zwecke? Zudem litt er unter der Seekrankheit und hatte sogar aus diesem Grund lokkende Gastspiele nach dem verhältnismäßig nahen Griechenland abgelehnt. War er es nicht seiner Kunst schuldig, Leib und Geist frisch zu erhalten? Das waren gewiß triftige Gründe. Ob sie aber vor Jahve verfingen, daran zweifelte er im stillen. Denn hätte Jahve sie gelten lassen, dann hätte er ihn wohl kaum mit so vielen Heimsuchungen geschlagen. Jetzt aber sah er die Wolken verfliegen. Jahve wandte ihm sichtbarlich sein Antlitz wieder zu. Liban dankte seinem Gott mit all seinen Gebeinen, daß er dem Marull diese herrliche Idee mit den Leibeigenen gesandt hatte.
  Laß es gelingen, betete er in seinem Herzen, führ es gut hinaus. Und ich will, gleich nachdem ich den Laureol gespielt habe, ich will nach Judäa fahren. Glaub es mir, Adonai, ich will. Bestimmt werde ich hinfahren, auch wenn dein Tempel nicht mehr steht. Nimm es an. Laß es nicht zu spät sein. So eifrig dachte er, daß er, der sonst so Beherrschte, die Lippen bewegte und Marull ihn mit amüsiertem Erstaunen ansah.

Sehr viele und sehr verschiedene Menschen der Stadt Rom trafen ihre Vorbereitungen für die bevorstehende Ankunft der Prinzessin Berenike.
  Quintilian, einer der am meisten geschätzten Redner und Anwälte, Inhaber des Goldenen Rings des Zweiten Adels, arbeitete Tag und Nacht an der Ausfeilung der beiden Plädoyers, die er seinerzeit als Anwalt der Prinzessin vor dem Senat gehalten hatte. Es war kein unmittelbarer prozessualer Anlaß, der ihn genötigt hätte, die beiden Reden auszuarbeiten. Sie hatten ihre Wirkung längst getan, die eine war vor drei, die andere vor vier Jahren gehalten worden. Aber Quintilian war in stilistischen Fragen sehr delikat, und die Stenographen hatten damals hinter seinem Rücken seine Reden für die Fürstin Berenike in einer Fassung publiziert, die von Hör- und Schreibfehlern strotzte. Ihn, dem ein nachlässiges Übergangswörtchen, ein falsches Komma den Schlaf raubte, hatte es krank gemacht, daß Reden in so übler Form unter seinem Namen in der Welt verbreitet waren. Nun die jüdische Fürstin kam, wollte er ihr die beiden Plädoyers in einer Fassung überreichen, für deren winzigste Details er einstehen konnte.
  Auch in das Leben und in den Tageslauf des Hauptmanns Kattwald griff die bevorstehende Ankunft der Prinzessin ein. Kattwald, oder wie er sich jetzt nannte, Julius Claudius Cha tualdus, der Sohn eines deutschen Stammeshäuptlings, war in zartem Alter als Geisel an den Hof des Kaisers Claudius, gekommen. Der deutsche Prinz war, auch als die Differenzen zwischen seinem Stamm und dem Reich beigelegt waren, in Rom geblieben. Er hatte am Leben der Stadt Gefallen gefunden, man hatte ihn erprobt und ihm ein Detachement der deutschen Leibgarde des Kaisers unterstellt. Titus nun hatte Order gegeben, daß das Detachement des Chatualdus der Fürstin Berenike während ihres Aufenthalts in Rom als Ehrengarde dienen sollte; die deutschen Soldaten galten als ebenso zuverlässig wie stur. Sie verstanden die Landessprache nicht, sie waren Wilde und hielten infolgedessen Disziplin. Aber, das wußte der Hauptmann Chatualdus, es gab eine Sorte Menschen, die ihnen auf die Nerven gingen: die Juden. In den Wäldern und Morästen der Deutschen erzählte man wüste Märchen von den östlichen Völkern, von den Juden im besonderen, wie feind sie allen blonden Menschen seien und daß sie gern blonde Menschen ihrem eselköpfigen Gott als Schlachtopfer darbrächten. Diese Erzählungen wirkten in den in Rom stationierten deutschen Truppen nach, öfter schon, wenn sie mit östlichen Menschen zu tun hatten, waren sie von Panik befallen worden. Als zum Beispiel August, der Begründer der Monarchie, dem Judenkönig Herodes eine deutsche Leibwache als Ehrengabe nach Jerusalem sandte, hatte der König diese Soldaten bald unter einem höflichen Vorwand zurückschicken müssen. Darum also war jetzt der Hauptmann Julius Claudius Chatualdus voll Sorgen und Zweifel und verfluchte die Schicksalsgöttinnen, die er abwechselnd als Parzen und als Nornen bezeichnete, daß man gerade seinem Detachement diese zweideutige Aufgabe zuwies.

Unter den Juden selbst herrschte Jubel und Zuversicht. Dies äußerte sich auf die verschiedenste Weise. Da waren etwa die Herren, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, für den Freikauf der staatlichen Leibeigenen aus dem jüdischen Krieg Gelder zu sammeln. Sonst flossen, gerade wenn Spiele bevorstanden, die Spenden zu diesem Zweck sehr reichlich. Jetzt aber hatten es die Sammler schwer. Immer wieder bekamen sie zu hören, es sei doch äußerst unwahrscheinlich, daß man bei Spielen zu Ehren einer jüdischen Prinzessin jüdisches Material für die Arena verwenden werde, und sie wurden beinahe überall abgewiesen.

  Andernteils änderte sich, nun der Walfisch Ernst machte und die Jüdin offenbar wirklich auf den Thron heben wollte, auch die Haltung der Römer. Viele, die bisher die Juden als minderwertig betrachtet hatten, fanden jetzt, sie seien, wenn man sich näher mit ihnen abgebe, nur wenig von einem selber unterschieden. Viele, die bisher den Verkehr mit ihren jüdischen Nachbarn gescheut hatten, begannen sich an sie heranzumachen. Die Juden bekamen es zu spüren, daß Jahve sich nach so vielen Heimsuchungen anschickte, seinem Volke sein Antlitz wieder zuzukehren und ihm eine neue Esther zu senden.
  Manche von ihnen, und zwar gerade diejenigen, die vorher die größte Angst und Servilität gezeigt hatten, fanden sich nur zu rasch in die neue Situation und wurden überheblich. Die Doktoren, besorgt um dieser Überheblichkeit willen, ordneten an, daß man in allen Synagogen des Reichs an drei Sabbaten hintereinander jenes strenge Kapitel des Propheten Arnos verlese, das mit den Worten beginnt: »Wehe den Sorglosen in Zion«, und das denjenigen, die »auf Betten von Elfenbein liegen und die feisten Lämmer und Mastkälber fressen«, die furchtbarsten Strafen androht. Der Präsident der Agrippenser-Synagoge übrigens, der Möbelfabrikant Cajus Barzaarone, war ein wenig verärgert, daß man gerade das Kapitel mit den »Betten aus Elfenbein« gewählt hatte.

Berenike, während das Schiff sich dem Hafen Ostia näherte, stand auf dem Vorderdeck. Aufrecht stand sie, ihre goldbraunen Augen suchten den näher kommenden Hafen voll gewollter Zuversicht. Jahve war gnädig, er hatte die Seuche gesandt und ihr dadurch nochmals Aufschub gewährt. Sicher hatten ihre Ärzte und ihre Energie das Übel wirklich bewältigt, alle sagten es ihr. Sie konnten doch nicht alle lügen.
  Eine riesige Menschenmenge empfing sie, als sie mit ihrem Bruder Agrippa den Landungssteg überschritt. Vieltausendstimmig grüßte man sie, den rechten Arm mit der flachen Hand ausgestreckt; der Senat hatte eine starke Delegation abgesandt, Triumphbogen waren errichtet. Sie durchschritt die Reihen der spalierbildenden Truppen, der Hauptmann Chatualdus stellte ihr die deutsche Leibwache vor, die zu ihrem persönlichen Schutz bestimmt war. Im Triumph fuhr sie nach Rom, zum Palatin.
  Titus stand in dem großen Portal. Berenike schritt die Stufen hinauf, den Bruder an ihrer Seite, lächelnd. Jetzt galt es, jetzt, sich zu bewähren. Für diese Minute hatte sie Jahre hindurch gelebt, die letzten Monate hindurch unsägliche Schmerzen ertragen. Die Stufen waren hoch. Schritt sie nicht zu schnell? Zu langsam? Sie spürte ihren Fuß, sie darf ihn nicht spüren, sie darf nicht daran denken.
  Oben auf der Treppe stand der Mann, angetan mit den Insignien der Macht. Sie kannte sein Gesicht, das runde, offene Knabengesicht, das sie liebte, mit dem scharf dreieckig einzakkenden Kinn und den kurzen, in die Stirn frisierten Locken. Sie kannte jeden kleinsten Schatten darin, wußte, wie diese Augen hart, eng und trüb waren, wenn er zornig wurde, wie schnell und schlaff diese Lippe herabsinken konnte, war er enttäuscht. Nein, sie sinkt nicht herab. Die Augen freilich sind trüb. Aber wann je waren sie ganz klar? Sicher sind sie erfüllt von ihr, befriedigt. Und nun kommt er ihr ja auch entgegen, nun ist ihre Anstrengung zu Ende, sie hat gesiegt, sicher hat sie gesiegt, sicher hat ihr Leben Sinn gehabt. Die Pein, die sie auf sich genommen, die unsägliche Pein ihrer Seele und ihres Leibes, muß doch Sinn gehabt haben.
  Ja, Titus kam ihr entgegen. Zuerst, wie der Brauch es erforderte, umarmte und küßte er den Agrippa, dann sie. Er sprach ein paar Scherzworte zu ihr, wie lang ihr Haar schon wieder geworden sei, er gab sich jungenhaft, froh. Flüsterte ihr Liebesnamen ins Ohr, in seinem mühsamen Aramäisch aus ihrer ersten Zeit: »Nikion, meine Wildtaube, mein Glanz.« Brachte sie in ihre Zimmer. Während die Deutschen klirrend Wache bezogen, fragte er, ob sie in einer Stunde von den Anstrengungen der Reise so weit erholt sein werde, daß er sie besuchen dürfe, und verabschiedete sich.
  Berenike, während dieser Stunde, badete, ließ sich salben. Richtete all ihre Gedanken auf Toilette und Schmuck. Sie wollte nichts anderes denken. Sie prüfte dieses Schmuckstück, jenes, dann ließ sie den ganzen Schmuck wieder abnehmen und behielt eine einzige Perle. Sie verwandte ihr kostbarstes Parfüm, jenen Opobalsam, von dem jetzt nur mehr dieses letzte Fläschchen in der bewohnten Welt existierte.
  Titus, während dieser Stunde, hörte Bericht. Man hielt ihm Vortrag über den Fortgang der Bauten, der Neuen Bäder vor allem, die der Vollendung nahe waren, über die Vorbereitungen der Spiele. Er hörte sich alles an, doch nur sein Ohr hörte, er sagte zerstreut: »Lassen wir es auf später. Später werde ich mich entscheiden.«
  Was war das gewesen? Er hatte sich doch alle Jahre hindurch ohne Maß darauf gefreut, die Frau die Stufen hinaufschreiten zu sehen, zahllose Male hatte seine Phantasie die leeren Stufen geschmückt mit der heraufschreitenden Berenike, und nun war sie gekommen, und warum jetzt war alles so matt und leer? Wo war der Zauber hin, der von ihr ausging? War sie anders geworden? War er anders geworden? Es war wohl das Schicksal eines jeden Menschen, daß auch die schönste Erfüllung den Ungeheuern Raum nicht füllen kann, den die Erwartung aushöhlt. Oder vielleicht auch ist der Mensch ein zu schwaches Gefäß und kann eine übergroße Freude nicht aufnehmen. Oder vielleicht auch hat er zu lange warten müssen, und es ist wie mit ganz altem, edlem Wein, den man nicht mehr trinken kann.
  Dann war die Stunde vorbei, und er war wieder mit Berenike zusammen. Es war die gleiche Berenike, es war die Frau, die er so wütend begehrt hatte, die ferne, östliche, überlegene, aus uraltem Königsblut, es war eine dunkle, erregende, leicht heisere Stimme, es waren ihre Augen. Aber es war doch nicht Berenike, der Glanz von früher war ein für allemal weg, es war eine schöne, gescheite, liebenswerte Frau; doch schöner, gescheiter, liebenswerter Frauen gab es viele. Er sagte sich vor, was alles ihm diese Frau bedeutet hatte, aber es nützte nichts. Seine Freude rann aus ihm, er fühlte eine ungeheure Leere und Zerschlagenheit.
  Er aß mit beiden Geschwistern zu Abend, mühte sich, froh zu erscheinen. Agrippa war klug und heiter wie stets, Berenike war schön und strahlend, sie war die begehrteste Frau der Welt. Er aber begehrte sie nicht.
  Er trank, um seine Begierde anzustacheln.
  Wie er dann wieder allein mit ihr war, fand er denn auch verliebt stammelnde Worte wie früher, aber während er sie sprach, war ein quälendes Wissen in ihm, daß es abgeleierte, routinierte Worte waren. Er schlief mit ihr. Er verspürte Lust. Doch er wußte, daß auch andere Frauen ihm die gleiche Lust hätten verschaffen können.
  Es war seltsam, daß die sonst so geistesschnelle Berenike während der ganzen langen Mahlzeit nicht gemerkt hatte, wie es um Titus stand. Ihr Bruder hatte es sogleich erkannt; aber er hatte es nicht über sich gebracht, sie aus ihrer Täuschung zu reißen. So mußte sie erst im Laufe der Nacht und von allein auf die Wahrheit kommen. Es dauerte sehr lange, bis sie daraufkam. Sie wollte sich nicht eingestehen, was war, und als sie es sich eingestehen mußte, machte sie eine neue Erfahrung: daß es nämlich Schmerzen gab, die bitterer waren als die ihrer letzten Monate.
  Als Titus sie noch vor Mitternacht verließ, mit freundlichen, leicht verliebten Worten, wußten beide, daß es zwischen ihnen für immer zu Ende war.
  Den Rest der Nacht lag Berenike leer, ausgehöhlt. Nun die Anspannung ihrer letzten Monate von ihr abfiel, überkam sie Erschöpfung, alle Glieder taten ihr weh, sie glaubte, sie werde sich niemals mehr von dieser schmerzhaften Erschöpfung befreien können. Eine Lampe brannte. Sie dachte: Diese korinthischen Lampen hat man jetzt Jahrzehnte hindurch gesehen, man hat sich müde daran gesehen, sie sind banal, die karthagischen sind viel besser, man müßte es Titus sagen, er darf die korinthischen nicht mehr verwenden. Dieses dachte sie mehrmals. Dann wieder überkam sie das Gefühl ihrer lastenden Müdigkeit, ihr Fuß schmerzte unerträglich. Sie wollte ein Schlafmittel nehmen, aber sie scheute die Anstrengung, ihre Kammerfrau zu rufen. Endlich schlief sie ein.
  Andern Morgens, ziemlich früh schon, war ihr Bruder bei ihr. Er fand sie gefaßt. Nichts mehr war an ihr von der kramp figen Intensität, mit der sie sich bisher zusammengerafft hatte. Vielmehr war sie voll von einer großen Ruhe. Aber der Glanz war fort, jener Zauber, den selbst ihre Gegner nicht geleugnet hatten.
  Agrippa blieb zum Frühstück. Berenike aß mit gutem Appetit. Sie teilte dem Bruder ihre Entschlüsse mit. Sie wolle so bald wie möglich nach Judäa zurückkehren, um den Winter auf ihren dortigen Besitzungen zu verbringen. Sie denke, der Kaiser werde noch eine Abschiedsfeier für sie veranstalten. Es war das erstemal an diesem Tag, daß sie Titus erwähnte, und es tat Agrippa in der Seele weh, wie er sagen hörte: »der Kaiser«. Im übrigen, fuhr sie fort, wolle sie hier nur mehr mit zwei Leuten zusammenkommen, mit ihrem Rechtsvertreter Quintilian und ihrem Chronisten Josef Ben Matthias. Sie sprach mit solcher Entschiedenheit, daß es sinnlos gewesen wäre, mit ihr zu debattieren. »Willst du, daß ich dich begleite, Nikion?« fragte Agrippa. Berenike hatte offenbar auch diese Frage schon vorbereitet. »Das wäre natürlich schön«, erwiderte sie. »Aber es scheint mir aus vielen Gründen ratsam für uns beide, daß du zur Eröffnung des Amphitheaters in Rom bleibst.«
  Agrippa war ein weiser, weltkluger Herr. Er hatte viel Schicksale sich wenden und vollenden sehen, ungeheure Umschwünge einzelner Männer und ganzer Völker, er glaubte sich auf Menschen zu verstehen, und mit Berenike war er seit ihrer Geburt aufs innigste verknüpft. Er war auf vieles gefaßt gewesen, aber nicht auf diese kühlen, ruhigen Erwägungen. War das Nikion, seine Schwester?
  Er nahm ihre Hand, er streichelte sie, sie ließ es geschehen. Nein, das war nicht Nikion, die große Leidenschaftliche, der das höchste Ziel nicht hoch genug war. Das war nicht die Frau, die, es ist erst wenige Wochen her, nackt vor ihm gelegen war, ihren ungeheuren Jammer und ihre noch größere Hoffnung vor ihn hinschüttend. Das war eine fremde Frau: Berenike, Prinzessin von Judäa, Fürstin von Chalkis, von Kilikien, eine der ersten Damen des Reichs, klug, vernünftig und sehr fernab den heißen Träumen, an denen sie ihn hatte teilnehmen lassen.
Stattlich saß der Anwalt da, seine braunen, gewölbten Augen schauten von Berenike zu Agrippa. Er war ein Abkömmling jener spanischen Familien, die, zu Beginn der Monarchie in Rom eingewandert, sich hier schnell gesellschaftliches und literarisches Ansehen erworben hatten. Er hatte es in der kurzen Zeit geschafft: jene Reden, die er damals im Prozeß der Fürstin gehalten hatte, waren jetzt bis ins Letzte ausgefeilt, würdig, der Zeit als Beispiele großer Prosa zu dienen. Seine Tätigkeit, meinte er höflich, während er Berenike die beiden Bändchen überreichte, bedeutete ja nun keine Dienstleistung mehr für sie; denn mit ihrer Ankunft in Rom sei der Prozeß wohl endgültig entschieden. So bleibe ihm nur übrig, ihr zu danken, daß sie ihm Gelegenheit gegeben habe, so vielen Menschen zu zeigen, was gutes Latein sei.
  Er sei im Irrtum, erwiderte Berenike, gerade jetzt brauche sie seine Hilfe mehr denn je. Sie werde nämlich schon in den nächsten Tagen Rom wieder verlassen.
  Es gelang dem stattlichen und würdigen Mann nur schwer, seine Bestürzung zu verbergen. Er hatte die Vertretung der Fürstin, der »hebräischen Venus«, wie er sie im Freundeskreis nannte, wirklich nur deshalb übernommen, weil er hier eine lockende Möglichkeit sah, große Redekunst zu entfalten. Berenikes Rechtsansprüche hatten eine umständliche Vorgeschichte. Gerade das hatte ihn gereizt; er war berühmt wegen seiner Fähigkeit, schwer Durchsichtiges lucid zu machen, die Logik der lateinischen Sprache erlaubte es, auch die verwikkeltsten Dinge klar darzustellen, und die lateinische Sprache und die Wahrung ihrer edlen Tradition war ihm Herzenssache. An dem Prozeß selber lag ihm wenig; ja, daß das Ende dieses Prozesses eigentlich von vornherein feststand, war die unausgesprochene Voraussetzung gewesen, unter der er das Mandat angenommen hatte.
  Es ging um die Frage, wieweit mit den Herrschaftstiteln der Berenike in Chalkis und Kilikien faktischer Besitz, Steuersouveränität vor allem, verbunden war. An sich bestand der Anspruch der Fürstin zu Recht. Gewiß hatte einmal, vor Jahrzehnten, einer ihrer Vorgänger in der Herrschaft Handlungen begangen, die ein römisches Gericht als Aufruhr hätte deuten und mit der Annullierung der Steuersouveränität hätte bestrafen können. Da Senat und Volk von Rom das aber damals unterlassen hatten, war der Anspruch des Reichs verjährt, Berenike genoß ihre Privilegien zu Recht. Andernteils ging es um hohe Werte, und die Rechtsbestimmungen waren dehnbar.
  Die ganze Stadt nahm an, daß, da die Gunst des Titus hinter der »hebräischen Venus« stand, der umständliche Prozeß eine reine Formsache war und mit einem sicheren Sieg Berenikes enden müsse. Wenn sich die Angelegenheit so in die Länge zog, dann nur deshalb, weil der knauserige Vespasian sich den formalen Verzicht auf so hochwertige Rechte nicht abringen konnte, trotzdem er faktisch längst vollzogen war; denn die Steuern waren die ganze Zeit über in Berenikes Kassen geflossen. Nun Titus an der Macht war, bestand kein Zweifel mehr, daß Rom in kürzester Frist Berenike im Besitz ihrer Rechte bestätigen werde.
  So war die Situation gewesen, als Quintilian die Fürstin begrüßte. Jetzt, mit dem kurzen Satz der Berenike, hatte sie sich erschreckend verändert. Im Lauf einer Viertelminute war der Prozeß aus einer literarischen Angelegenheit eine bedrohliche, politische geworden. In dem Augenblick, da Titus nicht mehr hinter der Besitzerin der Herrschaften stand, wurde es sehr zweifelhaft, ob Rom die große und leichte Beute werde fahrenlassen.
  Quintilian, während er sich bemühte, gelassen dazusitzen und auf eine so unerwartete Mitteilung die rechte Antwort zu finden, erwog in rasender Eile, was für Folgen die Ungnade der Berenike haben könne. Eine Menge Probleme taten sich vor ihm auf. Wird man nicht von Regierungsseite an ihn herantreten mit der Lockung, seine Klientin zu verraten? Wird nicht vielleicht andererseits der Kaiser, gerade weil er ihre Beziehungen zerreißt, sie entschädigen wollen? Da war er hergekommen in der Meinung, es gelte, einer guten Kennerin ein paar Seiten ausgezeichneter Prosa zu überreichen. Statt dessen sah er sich plötzlich vor lebenswichtigen Entscheidungen. Die Vertretung einer solchen Mandantin war bedenklich, vielleicht gefährlich. War es nicht das klügste, zu erklären, es sei seit langem sein Plan gewesen, sich ausschließlich seinen litera rischen Arbeiten zu widmen, was übrigens stimmte, und da nun durch die überstürzte Abreise der Fürstin der Prozeß sich von neuem zu verwickeln drohe, müsse er die Vertretung mit Bedauern niederlegen?
  Quintilian hatte die Juden nie geliebt, und der Einfluß der »hebräischen Venus« auf die römische Politik war ihm immer unbehaglich gewesen. Sich jetzt von ihr loszusagen war eine große Versuchung, aber Quintilian war ein leidenschaftlicher Stilist. Darzutun, daß das Lateinische dem Griechischen in nichts nachstehe und es in vielem übertreffe, war der Sinn seines Lebens. Er war in erster Linie Lateiner, erst in zweiter Römer. Er war überzeugt, daß ein Mann und sein Stil identisch seien, daß Unanständigkeit sich notwendig auch im Stil auswirke und daß, wenn er sich in dieser Prüfung nicht würdig benehme, sein Latein leiden werde. Er beschloß, fair zu sein.
  Berenike, während Quintilian zweifelte und sich entschied, legte ihre Ansprüche und ihre Argumente dar. Sie sprach mit erstaunlicher Logik, ohne Affekt. Sie bedurfte der Logik und der Vernunft. Berenike, in der Gunst des Titus, die Kaiserin, hätte Konzessionen machen können. Berenike, von Titus verlassen, Fürstin von Chalkis und Kilikien, dachte nicht daran, auch nur auf ein Titelchen ihres Anspruchs zu verzichten. Sie stammte ab von großen Königen, die, eingekeilt zwischen den stärksten Mächten der Welt, immer wieder ein außerordentliches Maß von Staatsklugheit und rascher Entschlußkraft benötigt hatten. Sie war in Wahrheit Enkelin dieser Könige. Es ist ein neues Feld, auf dem sie sich zu bewähren hat, aber sie wird sich bewähren. Sie wird Titus zwingen, noch manchmal an sie zu denken. Sie wußte so gut wie Quintilian, daß die letzte Entscheidung beim Kaiser lag. Sie wird ihn zwingen, sein Gesicht zu zeigen.
  Quintilian war erstaunt über ihre Verstandesschärfe. Noch mehr staunte Agrippa. »Was ziehst du vor, Berenike«, sagte er, nachdem Quintilian gegangen war, er sagte jetzt Berenike, nicht mehr Nikion, »was ziehst du vor, daß Titus dir die Privilegien nimmt oder daß er sie dir läßt?«
  Berenike sah ihren Bruder ohne Lächeln an; sie wußte, woran er dachte. »Ich liebe einen guten Haß mehr«, sagte sie,
»als eine gleichgültige Gerechtigkeit.«
  Wie dann Josef kam, ließ sie sich ein letztes Mal gehen. Dieser ihr Vetter hatte gesehen, wie ihre Freundschaft mit Titus begann, hatte selber eingegriffen und geholfen. Sie wollte, nun sie Rom und ihre Träume endgültig verließ, vor ihm, dem Geschichtsschreiber der Zeit, so dastehen, wie sie wünschte, daß die Späteren sie sähen. Aber als er nun da war, vergaß sie den Zweck, zu dem sie ihn gerufen hatte. Einmal hatte sie diesen Mann verhöhnt, weil er sich vor dem Römer gekrümmt hatte, sie hatte die sieben Schritte Abstand vor ihm gehalten wie vor einem Aussätzigen. Wieviel war sie von ihm unterschieden? Hatte sie nicht selber während dieses ganzen Jahrzehnts das gleiche getan wie er, nur mit weniger Erfolg? Die Gedanken und Gefühle ihrer schmerzhaften letzten Nacht brachen aus ihr hervor, und sie bekannte und bereute. »Es war falsch«, klagte sie sich an. »Alles, was wir getan haben, mein Bruder und ich, war falsch. Gewiß, der Krieg mußte schlimm enden, auch wenn wir geholfen hätten, und es war gut und richtig, daß wir abgemahnt haben. Aber es war falsch, daß wir dann, als der Aufstand trotzdem losbrach, uns nicht an die Spitze stellten. Wir hätten mit den andern umkommen sollen. Wir haben uns lumpig benommen. Auch Sie haben sich lumpig geführt, mein Vetter Josef. Aber Sie haben wenigstens Erfolg gehabt. Ich hatte nicht einmal Erfolg. Wenn wir im Aufstand mitgekämpft hätten«, fügte sie wild und verbissen hinzu, »dann hätten wir vielleicht Titus mit in unsern Untergang hineingerissen.«
  Josef hörte sie an. Mit ihren ersten Worten, bei ihrem Anblick schon, war alles, was er seit dem Tod des Vespasian für sich erträumt hatte, eingestürzt. Er war zu ihr gegangen, stolz, voll Hoffnung und Triumph, der große Schriftsteller zu der Kaiserin, die ihm hold war. Und nun war es nicht die Kaiserin, nun war es eine welkende, enttäuschte Frau, und er war mehr als sie. Denn es war, wie sie sagte: er hatte wenigstens seinen Erfolg.
  Sie indes klagte weiter: »Es gibt kein Verständnis zwischen uns und den andern. Sie haben ein kaltes Herz. Wir spüren, was der andere spürt, ihnen ist es versagt. Aber vielleicht auch ist das ein Geschenk, daß sie es nicht spüren können, und die Ursache ihres Erfolgs.«
  Noch am gleichen Tage teilte sie dem Kaiser auf beiläufige, liebenswürdige Art mit, dieses Mal bekomme ihr das Klima und der feiertägliche Trubel Roms ungewöhnlich schlecht. Sie fühle sich erschöpft und bitte den Kaiser, nachdem sie ihm ihre Glückwünsche zum Thronwechsel überbracht und ihm ihre Ehrerbietung bezeigt habe, wieder in die Einsamkeit ihrer judäischen Güter zurückkehren zu dürfen.
  Oh, wie war Titus betrübt, was fand er für scharmante und unbeteiligte Worte des Bedauerns. Er war wirklich ein höflicher Herr, und man mußte ein feines Ohr haben, um herauszuhören, wie er aufatmete. Übrigens schnitt Berenike, trotzdem sie es anders beschlossen hatte, noch in der gleichen Audienz die Frage ihres Prozesses an. Sie meinte, nun sie, und wohl auf lange Zeit, Rom verlasse, sei es vielleicht geraten, mit ihm die leidige Frage ihrer Privilegien in Chalkis und Kilikien zu erörtern. Denn zuletzt werde ja doch er diese Frage zu entscheiden haben. Schon während sie sprach, bereute sie. Sie hatte ihm die Probe zu leicht gemacht. Er wird froh sein um ein so bequemes Mittel, sie zu »entschädigen«. Sie hätte jetzt nicht sprechen sollen. Aber zu groß war ihre Begier, zu erfahren, wie er darauf reagieren werde.
  Er schien geradezu erfreut, daß sie von diesem Rechtshandel anfing. Selbstverständlich, erklärte er, sei es an der Zeit, die läppische Angelegenheit endlich aus der Welt zu schaffen. Seine Minister und Juristen seien umständliche Aktenkrämer. Er sei sich längst klar über den Fall, und er danke ihr, daß sie ihn daran erinnert habe. Gewiß beständen alle ihre Ansprüche zu Recht, nur sein Vater, der Gott Vespasian, sei, wie sie wisse, in gewissen Sachen etwas eigenartig und zurückhaltend gewesen. Er werde Weisung geben, die Sache in kürzester Frist zu regeln. »In kürzester Frist?« verbesserte er sich mit lärmender Betriebsamkeit. »Noch heute, sogleich müssen wir das in Ordnung bringen«, und er klatschte seinen Sekretär herbei und gab unmißverständliche Order.
  Berenike saß lächelnd da, hörte lächelnd die fröhlichen, geschäftigen Weisungen des Kaisers, die ihr und ihrem Bruder den so lange umstrittenen Besitz von vielen Millionen sicherten. Sie hatten, sie und ihr Bruder, die letzten Hasmonäer, einen großen Teil ihrer Reichtümer dazu verwandt, den Staatsstreich zu finanzieren, der diesen Mann und seinen Vater auf den Thron gehoben. Es wurmte sie, daß Titus sich jetzt seiner Schuld so großzügig entledigte. Sie hat ihn geliebt, und er findet sie ab.
  Drei Tage später veranstaltete Titus ein offizielles Abschiedsfest für sie. In schöner Rede feierte er die große, liebenswerte, östliche Fürstin und bedauerte, daß sie seinem Rom so schnell den Rücken kehre, noch bevor sie ihm Gelegenheit gegeben habe, ihr sein neues Theater und seine Spiele zu zeigen. Berenike bemerkte mit einer Art bitterer Genugtuung, daß er sich für diese Rede stenographische Notizen gemacht hatte, die er in seinem Ärmel versteckt trug.
  Dann fuhr sie fort. Von dem gleichen Ostia, wo sie angekommen. Agrippa, Claudius Regin, Quintilian, Cajus Barzaarone, der Hauptmann Chatualdus mit ihrer deutschen Leibwache begleiteten sie zum Schiff. Zwei römische Kriegsgaleeren gaben ihrem Fahrzeug das Geleit, bis die Küste außer Sehweite war. Noch vorher kehrte fröhlich der Hauptmann Chatualdus mit seinen deutschen Soldaten nach der Stadt zurück. Die Juden blieben am Ufer, bis das Schiff verschwand und mit ihm ihre Hoffnungen.
  Berenike hatte sich sogleich, als das Schiff in See stach, in ihre Räume zurückgezogen. Es hatte übrigens in Rom niemand wahrgenommen, daß sie sich am Fuß verletzt hatte.

Niemals war ein Gast des Kaisers mit größeren Ehren entlassen worden. Überdies erschien am Tag ihrer Abreise das Edikt, das ihr die umstrittenen Herrschaften von Chalkis und Kilikien und den Titel einer Königin zuerkannte. Nach wie vor hing groß ihr Porträt im Empfangssaal des Kaisers. Kein Mensch außer Agrippa und Josef hatte erfahren, was zwischen Titus und ihr vorgegangen war. Dennoch wußten, und das binnen kürzester Frist, Stadt und Reich darum. Diejenigen, die sich vor wenigen Wochen mit Schnelligkeit und Inbrunst von den hervorragenden Qualitäten der Bewohner des rechten Tiberu fers überzeugt hatten, fanden jetzt mit noch größerer Schnelligkeit und Inbrunst zu ihrer alten Überzeugung zurück und ließen die Juden durch doppelt brutale Verhöhnung ihre Minderwertigkeit fühlen. Die Juden, die eine Woche zuvor überheblich und sicher einhergegangen waren, wurden wieder klein und verzweifelt, und die Doktoren ordneten an, daß man in allen Synagogen des Reichs an drei Sabbaten hintereinander jenes« schöne Kapitel des Propheten verlese, das mit den Worten beginnt: »Tröstet, tröstet mein Volk.«

  In den Büros, in denen man die Fechterspiele organisierte, gab es jetzt auf einmal keinen Zweifel mehr, ob man die Restbestände aus den Gefangenendepots des jüdischen Kriegs verwenden solle. Die Preise für diejenigen, die sich freiwillig meldeten, sanken um vierzig Prozent. Niemand mehr interessierte sich für den jungen Mann aus guter Familie, der sich hatte anwerben lassen, um die Kosten für die Beerdigung seines Vaters aufzutreiben.
  Selbst in den Depots der Gefangenen wußte man Bescheid. Man sandte herzzerreißende Bitten an die jüdischen Gemeinden, zu helfen, einen loszukaufen. Die Herren, die für diese Zwecke sammelten, hatten denn auch jetzt größere Erfolge. Trotzdem war für den einzelnen die Chance des Loskaufs gering, es waren der Gefangenen zu viele, und in den Depots blieb man finster, hoffnungslos und betriebsam. Man bat den Gegner, einen nicht zu schonen, so wie man ihn selber nicht schonen werde; denn wer viele Gegner besiegte, hatte doch vielleicht Chance, mit dem Leben davonzukommen. Aber man wußte, daß diese Chance nicht groß war, daß hinter den meisten Namen in der Liste das fatale »P« stand, und während man trainierte, rüstete man sich zu sterben, legte Sündenbekenntnisse ab, traf Verfügungen, betete.
  Titus sank, nachdem Berenike fort war, oft in eine tiefe Zerstreutheit. Er stand vor ihrem Bild und grübelte. Er konnte nicht begreifen, was eigentlich vorgegangen war. Berenike war doch die gleiche Frau gewesen wie früher. Das war das Gesicht, die Brust, die Glieder, die Haltung, das waren Körper und Seele, die er durch zehn Jahre hindurch geliebt hatte. Wie konnte ein so starkes Gefühl, das unwiderstehlichste, das er in seinem Leben gespürt hatte, sich so plötzlich verflüchtigen? War das eine Strafe dieses Gottes Jahve, der ihm sein höchstes Glück wegnahm? Vielleicht aber auch war es im Gegenteil ein Gnadenakt des Capitolinischen Jupiter, der ihm die Augen öffnete und ihn auf seine rechte Aufgabe verwies. Allein diese zweite, tröstliche Auffassung vermochte die erste, beängstigende nicht ganz zu vertreiben.
  Wie immer, bei seinen Römern schaffte dem Walfisch der Bruch mit der Jüdin einen ersten großen Erfolg. Die Liebe des Volkes, um die er so lange vergeblich gekämpft hatte, jetzt fiel sie ihm auf einmal von allein zu. Er genoß sie mit Behagen. Er hatte sich lange genug erlesene Anwandlungen gestattet, eine esoterische Neigung zum Osten. Er atmete auf, nun er diese teuer erkauften Gefühle los war.
  Breit sonnte er sich in der Liebe seines Volkes. Wandte immer neue, raffinierte Mittel an, sie zu steigern. Verschwendete. Erst jetzt hatte er die volle Freude an seinen Bauten, an den großartigen Vorbereitungen der Spiele. Immer seltener ließ er den unbequemen Mahner Claudius Regin vor sein Gesicht. Ohne Begleitung, ohne Maske, ein Privatmann, ging er in den Straßen spazieren und schlürfte es ein, wie die Massen von ihm sprachen. Denn wenn sie jetzt den Namen Walfisch gebrauchten, so geschah es mit Sympathie, mit Zärtlichkeit, und es war nicht mehr viel Unterschied zwischen dieser Bezeichnung und der, die seine Hofpoeten und Rhetoren für ihn erfunden hatten: »Die Liebe und Freude des Menschengeschlechts«.
  Gegen den Rat seines Intendanten feierte er die Vollendung der Neuen Bäder nicht durch ein auf den Adel beschränktes Einweihungsfest, sondern ließ schon am ersten Tag die Massen zu. Er selber fand sich an diesem Tag in dem riesigen herrlichen Etablissement ein, ohne Leibwache, ein beliebiger Mann unter den vielen tausend Besuchern. Entkleidete sich mitten unter allen andern, schwamm mit ihnen in dem Bassin mit lauem und in dem Bassin mit kaltem Wasser, ließ sich mit ihnen zusammen frottieren, sprach mit seinen Nachbarn, im Dialekt, in einem Gemisch von Sabinisch und Römisch, sagte ihnen zur Freude »Rauma« statt »Roma«, scherzte mit ihnen, wieviel man den Bademeistern Trinkgeld geben solle. Er stand mit den andern in der großen Halle vor dem Fresko, das nun freilich nicht das Meisterwerk »Die versäumten Gelegenheiten« war, sondern nur ein ziemlich banaler mythologischer Schinken »Venus entsteigt dem Schaum«. Wie immer, das Fresko bot willkommenen Vorwand zu obszönen Witzen. Er selber riß die obszönsten. Alle erkannten den Kaiser, aber sie gingen von ganzem Herzen auf das Spiel ein und taten, als erkennten sie ihn nicht.
  Bei alledem überkam ihn manchmal, plötzlich, eine grübelnde Fremdheit. War das wirklich er, der da unter schallendem Ruf, den Kopf voran, ins Wasser sprang? War das er, der mit Behagen Rauma sagte statt Roma und über die Scham der Venus spaßte? Lärmend trieb er sich in dem großartigen Gebäude herum, stieß seine Römer vor den Bauch, ließ sich von ihnen auf die Schulter schlagen und war ungeheuer beliebt. Er fragte schließlich geradezu, ob sie sich freuten, den Walfisch unter sich zu haben. Stürmisches Gelächter, ungeheurer Jubel war die Antwort. Aber während er mitlachte und lärmte, dabei sogar in Gedanken seine eigenen Worte mitstenographierend, fand er, das sei höchstens der Walfisch, der da lachte und lärmte, nicht der echte Titus. Der echte Titus war fernab, nicht in den Neuen Bädern; er schaute einem Schiff nach, das er nie gesehen hatte und auf dem Berenike war, und das er auf seinem schnellsten Kriegsschiff nicht erreichen konnte.

Demetrius Liban brachte dem Intendanten der Schauspiele das Manuskript des »Seeräubers Laureol«. Liban war sehr stolz. Der Text der Revue war großartig geworden; das war in Wahrheit das Stück, von dem er seit seiner Kindheit geträumt hatte, und es kam im rechten Augenblick. Er war auf dem Gipfel seiner Kraft, reif, diese Rolle auszufüllen, in der die ganze Epoche stak.
  Voll tiefer Genugtuung erzählte er dem Intendanten, wie er sich Regie und Darstellung vorstelle. Aber der sonst so höfliche und schnell begeisterte Herr blieb diesmal frostig. Er glaubte nicht, sagte er, daß man sich zur Aufführung einer neuen Revue entschließen werde. Man denke an etwas Aktuel les, an die Posse vom »Juden Apella« zum Beispiel; man habe bei Hofe an sehr einflußreicher Stelle den Wunsch geäußert, diese Posse einmal wiederzusehen, und dem römischen Publikum sei sie bestimmt gerade jetzt besonders willkommen.
  Demetrius Liban riß die blaßblauen, trüben Augen weit auf, fast dümmlich vor Verwunderung. Träumte er? War das der Intendant, mit dem er sprach? War man im Jahr 833 nach Gründung der Stadt? Was faselte der Mann da? Er war doch gekommen, um den Seeräuber Laureol zu spielen. Hatte der Mensch nicht etwas gesagt vom Juden Apella? Wie denn? Was denn? War das ein Witz? Wollte der Mensch ihm die Freude verderben dadurch, daß er den Alpdruck von vor fünfzehn Jahren wieder aufsteigen ließ, die Ängste und Skrupel um diese gefährliche Posse, die in dieser Zeit Pogrome und Unheil heraufbeschwören mußte? »Der Kaiser will den ›Juden Apella‹ sehen?« stammelte er. Und, was ihm seit dreißig Jahren nicht mehr passiert war, sein erlesenes Griechisch nahm die Färbung des Dialekts an, jenes halb aramäischen Dialekts, dessenthalb man die Bewohner des rechten Tiberufers verspottete. »Es liegen noch keine bestimmten Weisungen vor«, sagte vorsichtig der Intendant, »aber ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, daß man auf den ›Seeräuber Laureol‹ zurückgreifen wird.«
  Diesmal hatte Liban deutlich gehört. Es war kein Traum, es waren Worte, nüchterne, ernstgemeinte. Sie trafen ihn, ein jedes wie ein Schlag auf den Kopf, erschütterten ihn bis in die Eingeweide. Schwankend, verwirrten Blickes, entfernte er sich.
  Er schickte die kappadokischen Läufer und die Sänfte nach Hause; er mußte jetzt gehen, sich bewegen. Den Palatin herunter zum Forum ging er, taumelnd, vor sich hin schwatzend. Die Vorübergehenden sahen ihm erstaunt nach. Viele erkannten ihn. Einige folgten ihm, Müßiggänger, Kinder, immer mehr. Er sah es nicht. Er fühlte sich plötzlich sterbensmüde, setzte sich auf die Stufen des Friedenstempels, ächzend. Da hockte er, wiegte den Oberkörper, wackelte mit dem Kopf, ein alter Jude. Freunde brachten ihn nach Haus.
  Bittere, reuige Gedanken zernagten ihn. Was ihm geschah, konnte kein Zufall sein. So lange hatte er auf diese Erfüllung gewartet, und nun sie da war, nun der Mensch in seinem Innern fertig war, der Text geglückt, der rechte Rahmen geschaffen, da, im letzten Augenblick, in dem Augenblick gewissermaßen, da er auf die Szene treten wollte, stürzte ihm diese Szene vor den Füßen zusammen. Es war die Strafe Jahves.
  Seine graublauen, trüben Augen wurden vollends stumpf, sein blasses, leicht gedunsenes Gesicht grau, faltig wie ein ungleichmäßig gefüllter Sack. Er zergrübelte sich, verfiel.

So fand ihn Josef. Der hatte den Umschwung vielleicht am wenigsten zu spüren bekommen; was er erreichen konnte, hatte er schon vorher erreicht. Als er jetzt den Schauspieler dermaßen zerstört vor sich sah, packte ihn der Gedanke, daß es ihm selber leicht ebenso hätte gehen können. Auch erinnerte er sich, was alles Demetrius Liban für ihn getan hatte, als er das erstemal in Rom gewesen war. Josef, trotzdem er in seinem Buch keine Ziffern gebracht hatte, war ein genauer Rechner. Er vergaß es nicht, wenn einer ihn kränkte, aber er vergaß auch nicht, was einer Gutes für ihn tat. Als jetzt der Schauspieler so klein und elend vor ihm saß, als er ihm berichtete, wie man ihm zugemutet habe, den Juden Apella zu spielen an Stelle des Seeräubers Laureol, da beschloß Josef, seinem Freunde Genugtuung zu schaffen. Er faßte einen kühnen Plan, er ging zu Lucia.
  Josef verstand sich auf Frauen. Vom ersten Augenblick an, da er Lucia gesehen hatte, wußte er, wie sie zu nehmen war. Sie war gierig nach Leben, empfänglich für starke Leidenschaft, frei von Furcht. Marull hatte ihm erzählt, sie habe es nicht gebilligt, daß Titus Berenike wegschickte, sosehr das in ihrem und Domitians Interesse war. Wenn es Josef gelang, ihr klarzumachen, wie unfair man gegen den Schauspieler handelte, dann, des war er sicher, wird sie sich seiner annehmen.
  Lucia verbarg nicht ihre Freude, ihn zu sehen. Josef sprach mit ihr offen wie mit einer guten, verständigen Freundin. Er sprach von Berenike, erzählte ihr aus ihrer ersten Zeit Dinge, die er noch nie erzählt hatte. Er sprach warm von Titus, bedauerte, daß er sich von Berenike gelöst hatte, gab ihm aber gleichwohl recht und sah mit Freuden, daß Lucia sich gegen diesen seinen Männerstandpunkt leidenschaftlich empörte. Von da an hatte er leichten Weg. Schnell und ohne daß er selber starke Worte brauchen mußte, hatte er sie so weit, daß sie das Vorgehen gegen die Juden der Stadt und gegen den Schauspieler im besonderen mißbilligte. Es war unfair, diese Leute erst zu verhätscheln und in tausend Hoffnungen zu wiegen und sie dann mit einem Fußtritt beiseite zu stoßen. Ja, das war ihre Meinung. Sie wird mit dieser Meinung nicht zurückhalten, auch vor ihrem Schwager Titus nicht. Groß, die kühnen Augen über der scharf einschneidenden Nase weit auseinander, saß sie vor Josef, der hohe Turm ihrer kunstvoll frisierten Locken zitterte leicht, Josef war überzeugt, daß Titus ihre Meinung ernstlich bedenken werde.
  Titus strahlte, als er Lucia sah. Er sah sie neu. Wohl hatte er schon in diesen letzten Wochen wahrgenommen, wie schön und voll Kraft sie war, aber da war er noch durch die Jüdin verzaubert gewesen. Jetzt erst sah er sie recht, gewissermaßen zum erstenmal, ihr kühnes, unbekümmertes, sinnliches Gesicht. Diese wußte zu leben. Er war der Narr, und Bübchen hat recht gehabt. Hätte er in so jungen Jahren wie Bübchen eine Frau gefunden, dieser gleich, dann hätte er wohl kaum in allen Erdteilen so wüst herumgehurt, dann wäre alles gut gegangen, und er hätte noch die Fähigkeit, Kinder zu zeugen. Dann auch wäre er kaum in den Bann der Jüdin gefallen, und dieser peinvolle Umweg wäre ihm erspart geblieben.
  Was sagte Lucia da? »Wie Sie es gemacht haben, Schwager, das war Ihrer nicht würdig. Daß eine Frau einem nicht mehr gefällt, das kommt vor, das liegt in der Natur der Sache, dagegen ist nichts zu sagen. Aber ich finde es unfair, daß Sie diese Änderung Ihres Geschmacks fünf Millionen Menschen entgelten lassen. Mir sind, abgesehen von wenigen Ausnahmen, Ihre Juden unsympathisch, wahrscheinlich noch unsympathischer als Ihnen. Aber wie Sie sie jetzt behandeln, Titus, das geht nicht. Wenn Bübchen so etwas machte, ich würde ihm den Marsch blasen.« – »Wissen Sie, Lucia«, sagte Titus geheimnisvoll und wie in einer plötzlichen Erleuchtung, »dieser Reiz, der von ihr ausging, das war nichts Natürliches, Gesundes. Es war nur das Fremdländische, dieses verfluchte Östliche. Erst jetzt habe ich sie mit guten, römischen Augen gesehen. Sie ist eine alte Jüdin, meine Römer haben recht. Ich bin gesund geworden, ein bißchen plötzlich, und da haut man leicht über die Stränge. Wahrscheinlich stimmt das, was Sie sagen. Ich werde aufpassen, daß man nicht zu weit geht.«
  Er sah sie an, und sie sah ihn an, und er gefiel ihr. Sie liebte Bübchen auf ihre Art, aber Titus war interessanter. Beim Jupiter, das war kein Walfisch, das war ein springlebendiger Delphin. Wie reizvoll unberechenbar er war, militärisch straff jetzt, dann wieder knabenhaft verspielt, dann wieder grübelnd über seine Sehnsucht nach dem Osten, versinkend. Heute zeigte er unbekümmert, kindlich, wie froh er an ihr war. Er fand die rechten Worte, nicht zudringlich, nicht schüchtern. Er war nicht der Kaiser, war nicht der Bruder ihres Gatten, er war einfach ein Mann, der ihr gefiel und dem sie gefiel.
  Claudius Regin ließ sich melden. Der Kaiser empfing ihn nicht, bestellte ihn für den andern Tag. Als Lucia fortwollte, hielt er sie zurück, und als sie endlich auseinandergingen, spürten sie eine starke, angenehme Neigung einer für den andern. Jetzt erst, so kam es Titus vor, war er ganz von der Jüdin genesen, und wieder streifte ihn jene läppische, abergläubische Hoffnung, diese Lucia vielleicht könne ihm einen Sohn gebären.
  Den Tag darauf gab er Weisung, das Bild der Berenike wegzuhängen. Nun erinnerte in Rom nichts mehr an sie als jenes Sternbild in der Nähe des Löwen, jenes ferne, feine Leuchten, zart wie ein Haarstreif, das ihren Namen trug.

Der Intendant hatte das Erschrecken und die Demütigung des Demetrius Liban mit Vergnügen wahrgenommen. Da der Schauspieler ihn oft durch seine Star-Allüren gereizt hatte, nutzte er mit Freuden die Gelegenheit, ihm das heimzuzahlen. Sowie er Titus das nächste Mal Vortrag hielt, versuchte er, ihn zu bewegen, eine Aufführung der Posse »Der Jude Apella« anzuordnen.
  Kaum aber hatte er von dieser Sache begonnen, so mußte er an der Haltung des Kaisers merken, daß er seine Zustimmung nicht so glatt erlangen werde, wie er gehofft hatte. Wen er da vor sich hatte, das war der Walfisch, ein plumpes Tier, aber gefährlich durch Ungeheuerlichkeit, so daß die Jagd Listen und Umwege erforderte. Geschickt bog der Intendant denn auch ab, kam aber später von neuem, diesmal mit viel beiläufigeren, vageren Worten, auf das Verlangen der Römer zurück, einmal wieder die Posse vom »Juden Apella« zu sehen. Er kannte die Schwäche des Walfischs, er wußte, wieviel diesem am Beifall der Massen lag. Er betonte, daß er selber den »Juden Apella« nicht sehr liebe und daß der »Laureol« des Marull sehr gut sei. Er halte es aber für seine Pflicht, dem Kaiser zu berichten, wie sehr die Massen gerade jetzt eine Aufführung des »Juden Apella« wünschten.
  Titus schaute den in demütig abwartender Haltung dastehenden Herrn aus merkwürdig abwesenden Augen an. Soll er seinem Volk einen Wunsch abschlagen, den er so leicht erfüllen kann? Freilich, er hat Lucia ein Versprechen gegeben. Hat sich verpflichtet, dafür zu sorgen, daß man »nicht zu weit gehe«. Auch liegt es keineswegs in seiner Absicht, den Demetrius zu kränken.
  Verdrossen saß er da, sinnloses Zeug auf sein Notiztäfelchen stenographierend. Er ging Entscheidungen gerne aus dem Weg, er liebte Kompromisse. »Wie wäre es«, sagte er, »wenn man den Liban seinen Laureol spielen ließe und einen dritten, den Latin zum Beispiel oder den Favor, den Juden Apella?«
  Der Intendant zuckte die Achseln. »Ich fürchte«, erwiderte er, »damit verlöre die Aufführung ihren Reiz. Die Römer würden sich wundern, daß nicht ein Jude den Juden spielt. Man würde außerdem durch eine solche Lösung den Liban nicht weniger kränken als das Volk; denn Liban war meisterhaft in der Rolle.« Da er sah, daß sich der Kaiser noch immer nicht entschließen konnte, machte er Konzessionen. Daß der Monarch, meinte er, auf den Schauspieler keinen unziemlichen Druck ausüben wolle, entspreche durchaus seiner milden Wesensart. Er glaube aber, es gebe einen Mittelweg. Man könne dem Volk die beliebte und aktuelle Posse zeigen, ohne den Schauspieler vor den Kopf zu stoßen. Wie wäre es, wenn man zum Beispiel den Liban bäte, jetzt während der Spiele den Apella darzustellen, und ihm dafür das bestimmte Versprechen gäbe, ihn demnächst den Laureol spielen zu lassen? Titus überlegte. Aber trotzdem er zögerte, sah der Intendant sogleich, daß er jetzt den Walfisch zur Strecke gebracht hatte. Und so war es. Wenn Titus zögerte, dann nur, um das Gesicht zu wahren. In seinem Innern war er glücklich über das Kompromiß, das der Intendant vorschlug. Auf diese Weise hielt er das Versprechen, das er Lucia gegeben hatte, und brauchte trotzdem seine Römer nicht zu verärgern. »Gut«, sagte er.
  Liban verfluchte sein Schicksal. Immer wieder stellte es ihn vor so bittere Alternativen. Als er damals, nach qualvollem Schwanken, den Juden Apella gespielt hatte, war das wenigstens eine Angelegenheit gewesen, die die ganze Judenheit betraf. Daß sie zum Schaden ausgegangen war, daß schließlich, wenn man es so wollte, Staat und Tempel daran verdarben, war nicht seine Schuld. Jetzt ging das Problem ihn allein an, nicht die Gesamtheit, aber es drückte ihn darum nicht weniger. Wenn er nicht auftrat, wenn er es hinnahm, daß man ihn bei den Hunderttägigen Spielen überging, dann war er für immer erledigt. An dem Kaiser wird er von nun an kaum mehr eine Rückendeckung haben. Bestimmt wollte der sich, vielleicht sogar ohne daß er es wußte, an allen Juden rächen für die Enttäuschung, die Berenike ihm bereitet hatte. Wenn er sich jetzt weigerte, den Juden Apella zu spielen, dann wird das dem Titus ein willkommener Vorwand sein, ihn für immer unten zu halten. Und er war einundfünfzig Jahre alt.
  Er war zweiundfünfzig Jahre alt, aber das gestand er sich nicht ein.
  Damals, als er das erstemal den Juden Apella spielte, hatte er ein Gutachten der Doktoren eingefordert. Das Gutachten war zweideutig ausgefallen, es verbot im Nachsatz, was es im Vordersatz erlaubte. Diesmal forderte er kein Gutachten. Er wußte, wenn er jetzt den Juden Apella spielt, werden das die Doktoren einmütig und unverklausuliert für eine Todsünde erklären. Die Doktoren waren gelehrt, und er verehrte sie. Aber in dieser Sache konnten sie ihm nicht raten, ihre Grundsätze waren zu starr.
  Er sprach mit Josef, mit Claudius Regin. Durfte er es auf sich nehmen, durch Darstellung des Juden Apella sich über sein Judentum lustig zu machen, wie man ihm zumutete? Durfte er andernteils, nachdem Jahve ihn mit so außergewöhnlicher Kunstbegabung begnadet hatte, sich weigern und sich durch solche Weigerung das Theater für immer verschließen? Sowohl Josef wie Regin fanden kein Ja und kein Nein, beide waren schwunglos.
  Am Ende entschloß sich Demetrius Liban, aus dem Depot der für die Spiele bestimmten kriegsgefangenen Juden fünf mit großen Geldopfern freizukaufen und den Juden Apella zu spielen.

»Ich bin nicht sentimental, aber die Narbe unter der linken Brust darfst du nicht küssen«, sagte Lucia zu Titus, mit großen, gleichmäßigen Zähnen lachend. »Er darf es auch nicht.« Es war die Nacht vor der Eröffnung des Flavischen Amphitheaters, die erste Nacht, die sie mit ihm verbrachte.
  »Warum machst du mich eifersüchtig, Lucia?« fragte Titus zurück. »Warum quälst du mich?«
  Groß, satt, nackt lag sie da. »Ich habe dir immer gesagt, daß ich ihn liebe«, erwiderte sie. »Aber was hat das mit dir zu tun? Was hat das mit uns zu tun? Sprich nicht von ihm. Du bist sehr anders, mein Titus. Es ist gut, daß die Götter die Männer so verschieden gemacht haben.«
  »Ich glaube«, sagte Titus, satt auch er, flüsternd, geheimnisvoll, glücklich, »ich glaube, jetzt habe ich mein Blut gereinigt von diesem verfluchten Osten. Durch dich, Lucia. Jetzt bin ich Römer, Lucia, und ich liebe dich.«
  Er war vollkommen glücklich, als er am andern Tag das Theater betrat, stürmisch umjubelt, und wissend diesmal, daß der Jubel nicht von der Polizei arrangiert war. Es war eine starke Lockung für ihn gewesen, dem Theater seinen eigenen Namen zu geben, aber er hatte sich bezwungen, er hatte die Ehre des großartigen Werkes der Familie überlassen, er weihte den Bau auf den Namen »Flavisches Amphitheater«. Ein Triumph aber war es für ihn und ein Zeichen von der Huld des Himmels, daß die Einweihung dieses Hauses ihm vergönnt war, nicht dem Vespasian, der so lange daran gebaut hatte. Klar und froh schauten seine Augen den riesigen, von Men schen wimmelnden Raum auf und nieder, er kannte die Zahl dieser Menschen, siebenundachtzigtausend waren es, die dreitausend Marmorstatuen verloren sich in der Masse der Lebendigen.
  Die Spiele begannen. Es war früh am Morgen, und sie dauerten, bis die Sonne sank. Man hatte für diesen ersten Tag besonders großartige Vorbereitungen getroffen, und es starben an ihm allein neuntausend wilde Tiere und an viertausend Menschen. Auch in den Pausen zeigte man den Massen, daß sie Gäste eines wahrhaft großzügigen Kaisers waren. Nicht nur erhielten sie Wein, Fleisch und Brot umsonst, es wurden auch Lose ausgeworfen, die denjenigen, die sie erhaschten, Anspruch auf Terrains gaben, auf Geld, auf Leibeigene, und noch die geringsten unter den Losen berechtigten ihren Inhaber zu einer unbezahlten Liebesstunde mit einer der zahlreichen erlesenen, zu diesem Zweck bereitgestellten Huren.
  Der Tag war herrlich, nicht zu heiß und nicht zu kalt, und nicht die Jüdin saß in der Loge neben dem Kaiser, sondern Lucia, Lucia Domitia Longina, die Römerin, die starke, üppige, lachende; die Massen waren glücklich. Auch auf den Bänken des Adels, ja in der kaiserlichen Loge selbst freute man sich, daß die Gefahr der östlichen Herrschaft abgewandt war. »O du sehr guter, sehr großer Kaiser Titus«, scholl es wieder und wieder von allen Seiten, »o du Liebe und Freude des Menschengeschlechts«, und, zärtlich geradezu: »O du unser sehr gutes, sehr großes Walfischlein.«
  Während des langen Ablaufs der Spiele freilich, und zwar nach dem Mittag, hatte Titus einen jener Anfälle, wie man sie aus den ersten Wochen seiner Herrschaft kannte. Er versank in sich, schaute schlaff vor sich hin und begann plötzlich zu weinen. Niemand wußte, warum, er selber hätte es wohl kaum sagen können, und sehr viele von den Siebenundachtzigtausend nahmen es wahr; denn die kaiserliche Loge war von den meisten Plätzen aus sichtbar.
  Es geschah dies übrigens während eines komischen Zwischenspiels, betitelt »Die Experimente des Dädalus«. In der Arena wurden mit Flügeln versehene Menschen durch kunstvolle Maschinen hochgezogen, so daß es aussah, als flögen sie wirklich. Die Seile waren jedes anders konstruiert, alle aber so, daß sie bei bestimmten, den Gefangenen nicht bekannten Bewegungen zerrissen. Wer die ganze Arena überflogen hatte, war gerettet, für heute zumindest, aber viele Stricke rissen vorher, und die Flügelwesen stürzten sich zu Tode. Es war possierlich anzusehen, wie die sonderbaren Menschenvögel, vor allem während des letzten Teils ihres Flugs, sich bemühten, ans Ziel zu kommen, wie aber gerade da infolge der gesteigerten Schnelligkeit noch viele sich zerstürzten. Die Organisatoren hatten sich von dieser Nummer besonders viel versprochen. Sie wirkte auch. Doch ging ein großer Teil der Wirkung dadurch verloren, daß die Zuschauer ihre Aufmerksamkeit zwischen den Flügelwesen und der kaiserlichen Loge teilten und sich betreten oder zumindest neugierig fragten, was wohl den Walfisch anwandle.
  Die Flugbahn der Menschenvögel war übrigens so, daß sie während ihres ganzen Weges die kaiserliche Loge vor Augen hatten. Vielleicht war es für den einen oder andern von ihnen, bevor er zu Tode stürzte, ein Trost, daß der Mann, der sie gefangengenommen hatte und jetzt sterben ließ, weinte.