VIERTES
BUCH
Der Nationalist
cheu drückten
sich die besiegten Juden in dem Land herum, das ihr Gott Jahve
ihnen gegeben hatte, gerade
noch geduldet
auf dem Stück Erde, auf dem sie noch vor einem halben Menschenalter
die Herren gewesen waren. Ein großer Teil von ihnen war getötet
oder in die Leibeigenschaft überführt und ihr Besitz zum Eigentum
des Kaisers erklärt worden. Noch immer wurde der und jener
verdächtigt, am Aufstand teilgenommen zu haben, und auf jedem
lastete die Sorge, der böswillige Konkurrent oder Nachbar könnte
ihn unter solche Anklage stellen. Viele wanderten aus. Die
Siedlungen der Juden wurden spärlicher, verkümmerten, das Land
bevölkerte sich immer dichter mit Syrern, Griechen, Römern. Die
heidnischen Städte Flavisch Neapel und Emmaus wurden die ersten des
Landes, und während Jerusalem verödet lag, strotzte die neue
Hauptstadt, Cäsarea am Meer, von Prunkbauten, Heiligtümern der
fremden Götter, Regierungspalästen, Bädern, Stadien, Theatern;
Juden aber durften weder das zerstörte Jerusalem noch die neue
Hauptstadt ohne Sondererlaubnis betreten.
An Stelle der Aristokraten und
der Tempelpriester von Jerusalem, von denen im Krieg die meisten
umgekommen waren, hatten die Schriftgelehrten die Führung
übernommen, die Juristen und Doktoren. Der Großdoktor Jochanan Ben
Sakkai hatte, um die Einheit der Nation zu erhalten, den schlauen
und kühnen Plan ersonnen, den Staat durch die Lehre zu ersetzen;
sein Nachfolger, Gamaliel, führte diesen Plan mit Kraft und Umsicht
zum Ziel. Das von ihm und seinem Kollegium in Jabne bis ins
kleinste ausgetiftelte Zeremonialgesetz hielt die Juden fester
zusammen als früher der Staat.
Allein dieses System zwang die
Doktoren, die Lehre immer mehr einzuengen und ein bestes Teil von
ihr preiszugeben: ihren Universalismus. »Der Fremde soll bei euch
wohnen wie ein Einheimischer, und du sollst ihn lieben wie dich
selber«, hatte, durch den Mund des Moses, Jahve befohlen, und,
durch den Mund Jesajas: »Es ist ein Geringes, daß du die Stämme
Jakobs aufrichtest; vielmehr habe ich dich auch zum Licht der
Heiden bestimmt.« Auf diese kosmopolitische Sendung, bisher
Jahrhunderte hindurch treulich erfüllt, begannen die Juden jetzt zu
verzichten. Nicht mehr der ganzen Erde verkündeten sie ihre
Botschaft, sondern viele hielten dafür, nach der Zerstörung des
Tempels sei das Volk Israel Jahves Haus, und allein diesem Volke
gehöre er. Der Druck der Römer, das Beschneidungsverbot vor allem,
machte, daß immer mehr Mitglieder des Doktorenkollegiums dieser
fremdenfeindlichen Auffassung zufielen. Sie glitten hinweg über die
Stellen, in denen die Schrift die Juden an ihre Weltmission mahnte,
und ihr Mund war voll von jenen Sätzen, in denen sie das Bündnis
Jahves mit Israel als mit seinem Lieblingsvolk feierte. Mit Hilfe
des Zeremonialgesetzes nationalisierten sie das Leben der Juden.
Sie verboten ihnen, die Sprache der Heiden zu erlernen, ihre Bücher
zu lesen, ihr Zeugnis vor Gericht anzuerkennen, Geschenke von ihnen
anzunehmen, sich mit ihnen durch Beischlaf zu mischen. Der Wein war
unrein, den eine nichtjüdische Hand berührte, die Milch, die eine
nichtjüdische Hand molk. In strengem, blindem Hochmut schieden sie
durch immer höhere Mauern das Volk Jahves von den andern Völkern
der Erde. So hielten es fast alle Führer der Juden, auch ihre
Sektierer, die Essäer, die Ebioniten, die Minäer oder Christen.
Jenem Manne zum Beispiel, den diese Minäer als ihren Messias
priesen, dem Jesus von Nazareth, legte einer seiner Schüler, ein
gewisser Matthäus, die Worte in den Mund: »Geht nicht auf der
Straße der Heiden und zieht nicht in die Städte der Samariter,
sondern geht nur hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause
Israel.«
Binnen kurzer Frist wurden die
Juden, die als die ersten auf der bewohnten Erde verkündet hatten,
ihr Gott gehöre nicht ihnen allein, sondern der ganzen Welt, zu den
fanatischsten partikularisten. Die Doktoren zentralisierten die
Lehre immer strenger, verboten immer unduldsamer jeden Widerspruch.
Viele freilich sträubten sich. Die Juden waren von jeher
eigenwillig gewesen, keine einheitliche Masse, sondern ein Volk von
vielen Individuen und vielen Meinungen. Es gab unter ihnen
Traditionalisten und Neuerer, Pharisäer, Sadduzäer, Essäer,
Tolerante und Intolerante, Anhänger Hillels und Anhänger Schammais,
Priestergläubige und Prophetengläubige. Manche Sekten waren mit dem
Staat und dem Tempel verschwunden, aber die Spaltung innerhalb des
jüdischen Volkes hatte nicht aufgehört.
Von jeher hatte es Juden gegeben,
die, gierig auf die Erkenntnisse der andern, in der Wissenschaft
der fremden Völker geforscht hatten. Sie wollten sich das jetzt
nicht nehmen lassen. Führer der Juden, der große Denker Philo an
ihrer Spitze, hatten sich seit Jahrhunderten bemüht, griechische
Bildung organisch mit ihrer eigenen Lehre zu verbinden, »die
Schönheit Jaffets in den Zelten Jakobs wohnen zu machen«. Wie, und
auf einmal sollte das ein Verbrechen sein? Und viele fügten sich
nicht, anerkannten nicht die Autorität der Doktoren, nahmen den
Bann auf sich, verließen das Land, ehe sie ihr griechisches Teil an
Erkenntnis preisgaben.
Die Doktoren hielten fest an
ihrem Plan. Sollten die Juden nicht in den andern Völkern aufgehen,
dann mußte ihre Lehre klar sein, einheitlich bis ins Letzte.
Ein Brauch und eine
Sitte mußte sein, an der man die Juden von den andern unterschied.
Das ganze Leben mußte unter das Gesetz gestellt, keine Abweichung
durfte geduldet werden.
Bis jetzt hatte es über den
Messias viele Meinungen gegeben. Die einen glaubten, er werde das
Schwert, die andern, er werde die Palme des Friedens bringen. Viele
hatten in vielen den Messias gesehen, man hatte sie gewähren
lassen. Jetzt schrieben die Doktoren den Glauben an einen einzigen
Messias vor, der da in Bälde erscheinen, die Römer aus dem Land
werfen, Jerusalem wieder aufrichten und alle Völker zwingen werde,
den Gott Israels anzuerkennen.
Da gab es aber Leute, die Minäer,
die »Gläubigen«, auch Christen genannt, die da erklärten, der
Messias sei bereits erschienen; seine Sendung sei freilich nicht
von dieser Welt gewesen, vielmehr sei er gekommen, um allem Volk
den Weg der Gnade zu zeigen, so daß nicht nur die Doktoren, sondern
ein jeder, auch der Einfältige im Geiste, fähig sei, Jahve zu
erkennen. Man habe aber dem Messias nicht geglaubt, sondern ihn
verleugnet und schließlich umgebracht.
Schon vor dem Fall des Tempels
hatten einige das verkündet, aber sie hatten wenig Anhänger
gefunden. Jetzt sagten sie: »Seht ihr, weil die Priester und
Doktoren den Messias getötet haben, darum ist Jerusalem zerstört
worden«, und viele begannen zu sinnieren: Haben sie nicht recht?
Waren nicht die Priester und Doktoren wirklich voll Wissensdünkel
und Übermut? Es war schwer, einzusehen, warum sonst Jahve seinen
Tempel sollte zerstört und sein Volk in die Gewalt der Heiden
gegeben haben.
Auch was die Minäer weiter
lehrten, ging den Leuten leicht in Sinn und Herz. Die Doktoren
stellten das Leben unter das Gesetz, sie verordneten
sechshundertdreizehn Hauptgebote und Hauptverbote, von denen ein
jedes in zahllose kleinere Vorschriften zerfiel, sie regelten den
Ablauf des Tages vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein mit
tausend kleinen, strengen Zeremonien und Gebeten und bedrohten
jeden Verstoß mit Strafen in dieser und in jener Welt. Die Minäer
hingegen lehrten, gut sei das Leben nach dem Gesetz; aber es
genüge, an den lieben Messias zu glauben, der die Menschen entsühnt
habe, um für die Entbehrungen dieser Erde durch ein süßes Jenseits
entschädigt zu werden. Und sehr viele gaben sich der neuen,
weicheren Lehre hin.
Die Doktoren hatten gegen diese
alle zu kämpfen, gegen die griechischen, kosmopolitischen Neigungen
der Gebildeten, gegen den linden Erlöserglauben der Armen im
Geiste. Sie kämpften zäh und geschmeidig, bald mit Sanftheit, bald
mit Gewalt, immer das Ziel vor Augen: die Einheit des
Gesetzes.
Sie kämpften mit Erfolg. Die
weitaus meisten unter den Juden vertrauten ihnen, unterwarfen sich
ihrer Führung. Stellten das ganze Leben unter ihre Zeremonien und
Vorschriften, vom ersten Erwachen bis in den Schlaf. Aßen und
fasteten, beteten und verfluchten, feierten und arbeiteten, wann
sie es ihnen befahlen. Verzichteten auf geliebte Träume und
Meinungen, schlossen sich ab von den Nichtjuden, mit denen sie
bisher Freundschaft gehalten. Freund wich vom Freund, wenn der
Nichtjude war. Nachbar vom Nachbarn, Geliebter von der Geliebten.
Sie nahmen auf sich das Joch jener sechshundertdreizehn Gebote und
Verbote, machten ihr Leben eng und kahl, hielten sich aufrecht
durch den Gedanken, daß sie das eine,
auserwählte Volk Jahves seien, und durch die inbrünstige Hoffnung,
daß bald der Messias in seiner Glorie erscheinen und die blinden
Völker dem sehenden Volke unterwerfen werde. Sie starrten nach dem
zerstörten Jerusalem, und das Jerusalem, das nicht mehr war, band
die Juden, die im Lande Israel und die Verstreuten über die ganze
Welt, enger zusammen als jenes Jerusalem, das einstmals weiß und
golden und allen sichtbar den Tempel Jahves beherbergt
hatte.
Schon lange vor Tag drängten sich die Juden
auf dem Vorderdeck der »Gloria« zusammen; man hatte ihnen gesagt,
an diesem Morgen würden sie die Küste Judäas auftauchen sehen.
Gespannt schauten sie in den dämmernden Osten. Die meisten hatten
den schwarzgestreiften, viereckigen Gebetmantel umgeworfen mit den
kostbaren, purpurblauen Fäden und um Stirn und Arme die Gebetriemen
geschlungen. Lange sahen sie nichts als wolkigen Dunst. Dann
tauchten zarte, violette Umrisse hoch: ja, das war das violette
Gebirge Judäas. Und jetzt auch unterschied man den grünen Gipfel
des Berges Karmel. Sie atmeten stärker, ihr Herz ging schneller.
Die Luft, die von ihrem Land herüberwehte, war anders als sonstwo
immer, leichter, tiefer, reiner, sie machte das Hirn rascher, die
Augen glänzender. Inbrünstig beteten sie den Segensspruch: »Gelobt
seist du, Jahve, unser Gott, der du uns hast erreichen, erlangen,
erleben lassen diesen Tag.«
Der Schauspieler Demetrius Liban
hatte schwere Wochen hinter sich. Die meiste Zeit war er seekrank,
grünblaß, in Krämpfen in seiner Kajüte gelegen, sich sehnend nach
Tod. Aber nun er das Ziel vor sich sah, spürte er, er hatte die
Wallfahrt zum Lande Jahves nicht zu teuer bezahlt.
Josef hielt sich abseits von den
andern, doch ohne Prätention. Aber er schaute mit nicht weniger
brennenden Augen hinüber nach dem blassen, violetten Glanz, sog
nicht weniger gierig die leichte, erregende Luft ein. O ihr zarten
Linien der Berge, o du höchst klares Licht, holde Küste, grüner
Berg Karmel, o du mein Land, berückendes, zauberhaftes, Israels
Land, Gottes Land.
Auch die Römer und Griechen an
Bord, hohe Beamte und Offiziere, reiche Kaufleute, hatten sich
allmählich versammelt, um die Küste näher kommen zu sehen.
Lächelnd, hochmütig schauten sie auf die Gruppe der erregt
gestikulierenden Juden, auf die »Eingeborenen«.
Als die »Gloria« endlich im Hafen
von Cäsarea ankerte, kam Polizei an Bord und sonderte die Römer und
Griechen von den Juden. Jene konnten sich unbehelligt ausschiffen,
die Juden mußten warten und viele umständliche Formalitäten über
sich ergehen lassen. Nur unter scharfer Bewachung durften sie an
Land, ihre Namen wurden notiert, den meisten wurde nicht erlaubt,
länger als eine Nacht in Cäsarea zu bleiben.
Josef und Demetrius Liban hatten
Pässe, die die Behörden zu besonderer Rücksicht aufforderten.
Trotzdem durften auch sie das Gebäude der Hafenpolizei zunächst
nicht verlassen, und für ihre Beschwerden hatte man nur grobe
Worte. Josef war auf dieser Reise einfach gekleidet, und mit dem
Bart, den er sich wieder hatte stehenlassen und der nicht, wie
früher, geknüpft und gekräuselt war, sah er sehr jüdisch
aus.
Endlich erschien der Adjutant des
Gouverneurs, um sich ihrer anzunehmen. Er war überaus höflich und
verwies den Hafenbeamten ihre Barschheit. Die murrten, als er sich
entfernt hatte, und schikanierten die zurückbleibenden Juden um so
mehr.
Des Abends, bei Tische, es waren noch eine
Reihe höherer Beamter und Offiziere da, gab sich der Gouverneur
jovial und lärmend wie immer. Er hatte in den letzten Monaten für
sein Buch über die Juden die Werke des Philo von Alexandrien
studiert, des großen jüdischen Philosophen. »Er war sehr human,
euer Philo, das muß man ihm lassen«, meinte er, »noch humaner als
unsere Stoiker. Haben Sie schon gemerkt, daß immer diejenigen am
lautesten von Humanität schreien, die im Verlieren sind?« Er lachte
auf seine offene Art und klopfte dem Josef auf die Schulter. »Er
führt alle eure Lehren auf eine einzige goldene Regel zurück, euer
Philo: ›Tu nicht einem andern, was du nicht willst, daß man dir
tue.‹ Klingt gut. Aber wohin, glauben Sie, käme ich mit solchen Grundsätzen? Wenn ich euch nicht
täte, was ich mir von euch aufs strengste verbitten müßte, glauben
Sie nicht, wir hätten morgen einen zweiten Aufstand, und einen
siegreichen? Vielleicht wird sich einmal derjenige, der in hundert
Jahren als mein Nachfolger hier in diesem Hause sitzt, erlauben
dürfen, human zu sein. Wenn ich human wäre,
dann gäbe es in hundert Jahren keinen Nachfolger von mir. Übrigens
ist da ein Punkt, in dem ich mich euch gegenüber so human gezeigt
habe, daß ich es schwer vor dem Palatin verantworten kann. Es
sitzen hier im Lande noch immer Leute, von denen erst jetzt
herauskommt, daß sie am Aufstand teilgenommen haben. Die greifen
wir uns natürlich und konfiszieren ihren Besitz. Wissen Sie, daß
die Doktoren von Jabne Order gegeben haben, die Auktionen zu
boykottieren, auf denen wir diese konfiszierten Terrains
versteigern? Sie anerkennen unsere Konfiskationen nicht als zu
Recht. Finden Sie nicht, daß das ein Verstoß gegen die
Staatsautorität ist? Aber ich dulde ihn stillschweigend.« Er
lächelte listig, vertraulich. »Das Land ist billig hier für meine
Römer und Griechen infolge des Boykotts der Juden. Ich an Stelle
Ihrer Doktoren hätte den Boykott nicht angeordnet. Wie immer, über
mangelnde Humanität können sie sich in diesem Falle nicht
beschweren.«
Später sagte er: »Vielleicht
haben wir manchmal fest zugepackt. Aber es ist etwas dabei
herausgekommen, wir haben allerhand aus Ihrem Judäa gemacht, mein
Flavius Josephus. Ich bin neugierig, was Sie als Sachverständiger
dazu sagen Werden. Sie, mein Demetrius«, wandte er sich an den
Schauspieler, »müssen sich vor allem das alte Sichem anschauen. Das
heißt jetzt Flavisch Neapel, und in zwei Monaten wird dort das
Theater fertig; im September weihen wir es ein. Die Festspiele, die
ich geben will, müssen den ganzen Osten auf den Kopf stellen, wir
müssen Antiochien ausstechen. Es wäre großartig, mein Demetrius,
wenn Sie sich entschließen könnten, dort zu spielen. Wir sind nicht
der Palatin, aber über das Honorar«, lockte er plump und schamlos
den Schauspieler, »würden Sie sich nicht zu beklagen haben. Und das
Publikum, das Sie bei uns finden, ist mindestens so empfänglich wie
das römische. Wir sind dankbar. Wir sind mächtig ausgehungert.
Nicht wahr, meine Herren?« forderte er die Zustimmung seiner
Beamten.
Demetrius gab eine ausweichende
Antwort, doch der Gouverneur ließ nicht locker. »Sie müssen mich
beide einmal nach Flavisch Neapel begleiten«, drängte er, »und mir
erlau ben, Ihnen meine Stadt persönlich zu zeigen. Flavisch Neapel,
das kann ich Ihnen heute schon sagen, wird das kulturelle Zentrum
nicht nur Judäas, sondern ganz Syriens werden.« Stürmisch
liebenswürdig rang er um die Anerkennung der beiden
Männer.
Josef hatte seit jeher voll
widerwilliger Bewunderung wahrgenommen, mit welcher Sicherheit die
Römer es verstanden, von einer Sache Besitz zu ergreifen, und
dieser erste Tag in Cäsarea hatte ihm einen neuen Beweis geliefert.
Flavius Silva, er gestand es sich knirschend zu, war der rechte
Mann, die Provinz zu romanisieren. In den anderthalb Jahrtausenden
ihrer Herrschaft hatten die Juden nicht so viel getan, das Land zu
ihrem eigenen zu machen, wie Silva in den acht Jahren seiner
Regierung.
Josef begann zu wandern und zu sehen. Er mied
fürs erste die Striche, die vornehmlich von Juden besiedelt waren,
er zog durch das von Syrern bewohnte Samaria gegen Nordost, durch
das Zehnstädteland bis an die Grenze der Auranitis. Hier hatte Hiob
gelebt. Mechanisch, nachdenklich klaubte Josef einige jener runden,
violetten Steinchen auf, welche die gläubige Einfalt der
Eingeborenen für die versteinerten Würmer hielt, die aus den
Schwären Hiobs zur Erde gefallen waren. »Ja, Mann«, sagte sein
Eseltreiber, »sammle sie nur auf, Mann. Nimm sie dir als Andenken
mit. Und mögen sie dich lehren, im Glücke Jahves nicht zu vergessen
und nicht im Unglück mit ihm zu hadern.« Und wenn Josef am frühen
Morgen über gebirgiges Ödland zog, dann fand er wohl den Boden
bedeckt von jenen süßen, körnigen Flechten, die weiter unten im
Süden viele für das Manna hielten.
Er wandte sich wieder zurück nach
Westen, durchzog das Herrschaftsgebiet des Königs Agrippa, betrat
endlich jüdischen Boden: Galiläa. In dieser Gegend hatte er seinen
höchsten Aufschwung und seine tiefste Erniedrigung erlebt. Wieder
wie damals, da er zum erstenmal hierhergekommen war, als Kommissar
der Jerusalemer Regierung, ergriff ihn bis ins Innerste die
Schönheit des galiläischen Landes. Reich und fruchtbar lag es in
der Mannigfaltigkeit seiner Täler, Hügel, Berge, mit seinem See
Genezareth, mit seinen zweihundert Städten, ein wahrer Garten
Gottes in seiner zauberisch hellen Luft.
Die Juden freilich waren hier
sehr viel weniger geworden. »Gau der Heiden« bedeutete der Name des
Landes, denn es war spät unter jüdische Botmäßigkeit gekommen, und
Flavius Silva hatte das Seine dazu getan, diesem Namen wieder
Inhalt zu geben. Das Land war romanisiert. Ein dichtes Netz
ausgezeichneter Straßen verband seine vielen Siedlungen
untereinander, römische Straßen, gesäumt von Standbildern, die dem
Merkur geweiht waren, dem Gotte des Verkehrs. Noch immer arbeitete
man am Ausbau dieser Straßen, und man verwandte für dieses saure
Werk vornehmlich jüdische Zwangsarbeiter, Restbestände aus der
Kriegsbeute. Der Gouverneur, wie der Oberingenieur dem Josef
auseinandersetzte, erwartete, die jüdischen Gemeinden würden sich
noch eifriger bemühen, die Gelder für den Freikauf dieser
Leibeigenen aufzubringen, wenn sie sahen, daß man sie nicht
verhätschelte. Die Lösegelder deckten denn auch reichlich die
Kosten, die Bau und Erhaltung der Straßen verursachten.
Josef zog also auf diesen guten
Straßen im Land herum, auf gemieteten Pferden oder Eseln. Er
verschwieg seinen Namen; der hatte keinen guten Klang hier. Durch
diese Gegend war er vor dreizehn Jahren geritten, auf dem Pferde
Pfeil, vor ihm die Standarte mit der Losung der Aufständischen
»Makkabi«. Hier hatte er seinen herrlichen und sinnlosen Krieg
gemacht. Jetzt war alles vorbei, seine Glorie und sein Fall, keine
Spuren des Krieges mehr waren zu sehen. Die zerstörten Städte und
Festungen hatte man schöner wieder aufgebaut, ein kluges
Bewässerungssystem machte das Land noch fruchtbarer als vor dem
Krieg. Sonst hatte Josef nicht viel Auge für die Schönheit einer
Landschaft, doch diese bezauberte ihn immer von neuem. Es war der
Gau der Heiden, Galiläa, aber trotzdem jüdisches Land, sein Land,
Heimat, leuchtende, süße, duftende. Gierig genoß er die reine Luft,
das milde, klare Licht.
Mit zwiespältigem Gefühl, mit
Grimm und Befriedigung, sah er, wie gut das Land verwaltet war. Die
Methoden der Romanisierung waren listig und simpel, und die
römischen Beamten, die er aufsuchte, machten kein Hehl daraus: die
Regierung verlieh einfach den Städten mit griechischrömischer
Majorität Kolonialrecht. Durch die damit verbundenen
Steuerermäßigungen und andere Privilegien erlangten diese Gemeinden
schnell größere Prosperität als die jüdischen Siedlungen, und die
Juden wurden so zu Bürgern zweiten Ranges in ihrem eigenen
Land.
Gleichwohl ging es den Juden
Galiläas nach der Niederlage wirtschaftlich besser als vorher. Die
Römer waren gute Organisatoren. Waren die Juden also zufriedener?
Wenn Josef Doktoren und Gemeindevorsteher aufsuchte, bekam er
selten Bescheid; die meisten von ihnen hielten die sieben Schritte
Abstand und weigerten sich, mit ihm zu reden. Aber kleine Leute,
mit denen er sich in Unterhaltungen einließ, Zufallsbekannte,
Herbergswirte, sagten gern ihre Meinung geschwätzig und ohne
Rückhalt heraus. Sie gaben zu, daß die Römer das Land nicht
schlecht verwalteten, aber sie haßten sie trotzdem. Die Fremden
blieben ihnen unverständlich. Die Leute, die sich hier neu
ansiedelten, Veteranen zumeist, denen man das Land umsonst anwies,
oder syrische Kapitalisten, die die Terrains billig erwarben,
hatten keinen Gott und liebten es nicht, sich über göttliche Dinge
zu unterhalten. Sie hatten Technik, aber sie hatten keine Seele.
Josef dachte mit Hohn und Triumph an die Statistiken des Johann von
Gischala. Die neuen Herren verschafften den Juden Galiläas Preise,
die sie mehr befriedigten; dennoch zogen sie ihre früheren,
eigenen, habgierigen Herren den besseren von heute vor.
Hatten sie freilich Vertrauen
gefaßt, und ließen sie sich gehen, dann stöhnten sie über die Härte
ihrer geistigen Machthaber von heute, der Doktoren von Jabne. Ihr
Gesetz war streng, ihre Gerichte ahndeten peinlich jeden Verstoß.
Man will an dem Glauben der Väter festhalten, aber die Herren in
Jabne machen es einem höllisch hart. Sie erschweren einem
Wirtschaft und Leben. Dazu sind sie hochmütig, sehen herab auf den
gemeinen Mann, lassen ihn nicht teilhaben an der Lehre.
Josef nahm wahr, daß die
patriotische Strenge und der Gelehrtendünkel der Doktoren ziemlich
viele unter den Galiläern dem Glauben der Minäer, der sogenannten
Christen, zutrieb.
Er zog hin und her im Land und
suchte sich, Historiker, der er war, Auskunft über den Mann zu
verschaffen, den diese Minäer als ihren Messias verehrten. Er
glaubte Kunde zu haben von denen, die man im Lauf des Jahrhunderts
als falsche Propheten vor Gericht gezogen hatte; doch von dem Jesus
der Minäer hatte er nichts gehört. Dieser Jesus sollte unter dem
Gouverneur Pontius Pilatus gekreuzigt worden sein. Aber wenn er
gekreuzigt worden war, konnte kein jüdischer Gerichtshof ihn
verurteilt haben; die Kreuzigung war eine Strafe, die nur die Römer
verhängten. Wäre er von den Juden als falscher Messias verurteilt
worden, dann hätten diese die Exekution selber vorgenommen, und
zwar durch Steinigung; so war es das Gesetz. Pontius Pilatus, das
war richtig, hatte einen Samariter kreuzigen lassen, der sich für
einen Abkömmling Moses, des Gesetzgebers, und für den Messias
ausgegeben und erklärt hatte, ihm eigneten uralte, heilige Gefäße,
die sein Stammvater auf dem heiligen Berge Garizin vergraben habe.
Vielleicht, daß die Minäer Züge von andern Messiassen auf diesen
Mann übertrugen.
Auf alle Fälle benützte Josef,
der Historiker, seinen Aufenthalt in Galiläa, um nach Spuren jenes
Jesus der Minäer zu suchen. Er fragte hier und dort. Er fragte in
Nazareth, wo der Mann geboren sein sollte, er fragte am See
Genezareth. Aber in Nazareth und am See Genezareth sagten sie:
»Hier ist nichts bekannt«, und in Magdala sagten sie: »Hier ist
nichts bekannt«, und »Hier ist nichts bekannt«, sagten sie in
Tiberias und in Kapernaum.
In Kapernaum kam Josef an einer Schenke
vorbei, einem vernachlässigten Haus, an dem eine Fahne
herausgesteckt war, das Zeichen, daß neuer Wein eingetroffen sei.
Josef erinnerte sich, vor Zeiten einmal in dieser Schenke gewesen
zu sein und damals mit Galiläern von dem Messias gesprochen zu
haben. Er trat ein.
Es war der gleiche, niedrige Raum
wie damals, schlecht gelüftet, und wie damals saßen Leute an dem
großen Tisch. Der Wirt war ein anderer, und die Leute waren andere,
aber sie diskutierten wie damals.
Sie sprachen schwerfällig, in
plumpem Aramäisch, die Sätze kamen langsam aus ihrem Mund, doch sie
schienen erregt. Einer – »Käsesohn« nannten ihn die andern, das war
offenbar ein Spitzname – hatte berichtet, es sei bei dem
Gemeindevorsteher eine neue, strenge Weisung der Doktoren aus Jabne
eingetroffen, am Sabbat werde sie verlesen werden. Die in Jabne
wollen jetzt in aller Form verbieten, daß man Geflügel in Milch
zubereite, das Fest- und Lieblingsgericht Galiläas.
Die Männer schimpften. Seit
Jahrhunderten ist Streit darüber, ob das Verbot, Fleisch in Milch
zu kochen, auch für Geflügel gelte oder ob Geflügel gleich Fischen
eine Nahrungsart für sich sei. Immer wieder hatte Jerusalem den
Galiläern ihr Huhn in Sahnensauce verbieten wollen; aber so streng
die galiläischen Bauern alle andern Riten einhielten, in diesem
Punkt blieben sie starrköpfig. Es war ein altes Privileg, sie
ließen es sich nicht nehmen, mochte man sie deshalb noch so oft als
dumme Bauerntölpel beschimpfen. Was Jerusalem ihnen nicht hat
abtrotzen können, sollen sie sich das jetzt von Jabne verbieten
lassen? Die Doktoren wollen keine Vernunft annehmen. Seitdem kein
Tempel und keine Staatsgewalt hinter ihnen steht, verlangen sie
immer mehr. Der Käsesohn gab dem Wirt Auftrag, jetzt für ihn gerade
erst recht ein Huhn mit Sahne zuzubereiten. »Zwei Hühner«,
verbesserte er sich. »Der Herr ist auch eingeladen«, und er wandte
sich mit ungeschlachter Gastfreundlichkeit an Josef. »Oder ist der
Herr etwa aus Jabne?« fragte er drohend. »Hält er zu den Doktoren?
Verachtet er uns Bauerntölpel aus Galiläa?« Josef beeilte sich zu
erwidern, wie geehrt er durch die Einladung sei, und setzte sich zu
den Männern.
Diese ereiferten sich weiter über
die Doktoren. »Das mit dem Verbot der Sahnensauce zum Geflügel«,
meinten sie, »ist erst ein Anfang. Sie werden immer mehr verbieten.
Es wird noch so weit kommen, daß sie uns überhaupt verbieten, von
den göttlichen Dingen zu reden. Einem immer mehr und immer
schwerere Riten auflegen, das können sie; aber sie wollen nicht,
daß der gemeine Mann über Jahve sinniert. Sie sind eifersüchtig auf
ihren Jahve, die Herren in Jabne, sie wollen ein Monopol auf ihn,
sie umgeben ihn mit lauter Geheimnis und schließen einen von seinem
Angesicht ab. Sie drücken sich so aus, daß man sie nicht versteht.
Wer zum Beispiel kann es begreifen, wenn sie einem den Untergang
Jerusalems erklären? Da gibt es andere, die deuten einem das viel
besser aus. Nicht wahr, Tachlifa?« wandte er sich an einen still
dasitzenden jungen Menschen mit langem, strähnigem Haar.
Josef sah den jungen Mann
interessiert an. Das war offenbar einer von den Minäern, den
Christen. Er war ein kräftiger, sehniger, magerer Mensch von
gutmütigem Aussehen; über einem mächtigen Adamsapfel und einem
sanften Kinn stand ein breiter Mund mit schadhaften Zähnen halb
offen. »Sagen Sie mir also, bitte, Herr Tachlifa«, wandte sich
Josef höflich an ihn, »warum ist Jerusalem zerstört worden?« Der
junge Mensch drehte dem fremden Herrn freundlich sein Gesicht zu
und erwiderte: »Es ist zerstört worden, weil es den Propheten des
Herrn tötete und verstockt war gegen den Gesalbten.« Er wollte
weitersprechen. Aber der, den sie den Käsesohn nannten, schlug
Josef klobig auf die Schulter und redete auf ihn ein: »Ja, fremder
Herr, wenn Sie etwas wissen wollen, halten Sie sich nur an unsern
Tachlifa. Es ist gut, wenn einem einmal unsereiner Gott und die
göttlichen Dinge erklärt und nicht immer nur die Doktoren. Die sind
so eingebildet, daß sie jeden Furz, den sie lassen, für heilig und
für einen Weisheitsspruch halten. Oder ist es nicht so?« fragte er
Josef und schwang seine mächtigen Hände. »Können Sie schlau werden
aus dem, was man in Jabne sagt?«, und er brachte sein
weindunstendes Gesicht nah an Josef. Der hütete sich,
zurückzuweichen, und erwiderte maßvoll: »Manchmal glaube ich es zu
verstehen, manchmal verstehe ich es nicht.«
Der Trunkene beruhigte sich.
Josef bat Tachlifa, in seiner Erklärung fortzufahren. »Unsere
Väter«, setzte sachlich Tachlifa auseinander, »haben den Messias
nicht erkannt. Er tat Zeichen und Wunder. Die Doktoren aber wollten
nicht sehen, weil sie geizig waren mit ihrem Jahve, und wollten es
nicht dulden, daß einer ihn aller Welt verkündete. Sie wollten
Jahve einschließen wie ein Wucherer seine Denare und
Verschreibungen. Sie achteten das sichtbare Haus Jahves mehr als
den Unsichtbaren, dem es gehörte. Darum ließ Jahve den Messias
ausgehen aus sich. Die Doktoren aber wollten noch immer nicht
sehen. Da zerstörte Jahve den Tempel, der leer geworden war und
ohne Sinn wie das Gehäuse einer Puppe, aus der der Schmetterling
ausgegangen ist, auf daß alle sehen sollten. Und darum bekennen
wir: der Messias ist erschienen. Er hat sich töten lassen, um uns
die Sünde abzunehmen, die von Adam her auf uns lastet, und ist
wieder auferstanden. Sein Name aber ist Jesus von
Nazareth.«
Der Käsesohn mischte sich wieder
ein. »Ist das eine Erklärung oder nicht?« lärmte er herausfordernd.
»Das ist einfach. Das muß jeder verstehen, auch Sie, fremder Herr.
Die Doktoren haben Würmer im Hirn. Sie sagen, sie glauben an die
Auferstehung. Warum soll dann der Messias nicht auferstanden sein?
Bitte?« fragte er händelsüchtig den Josef und war wieder sehr nahe
an ihm. »Laß den Herrn in Ruhe, Käsesohn«, hielten ihn die andern
zurück. »Er hat ja nichts gegen dich gesagt.«
»Wann war das, daß er getötet
wurde?« fragte Josef den Minäer. »Sie sagen, vor sieben mal sieben
Jahren«, erwiderte Tachlifa. »Er soll«, wandte Josef ein, »hier in
Galiläa seine Jugend verbracht haben. Es müßte wohl der eine oder
andere noch leben, der ihn gekannt hat. Ich habe aber keinen
gefunden.« – »Wann je weiß man etwas von einem Propheten in seinem
Vaterland?« meinte der Minäer. »Auch war der Krieg dazwischen, und
viele, die ihn kannten, mögen umgekommen oder außer Landes
sein.«
»Er war ein Galiläer«, sagte
einer von den Männern, »darauf können wir stolz sein. Aber die
Doktoren mögen ihn nicht, weil er ein Galiläer war. Sie mögen
nichts, was aus Galiläa kommt.« – »Darum verbieten sie uns auch das
Geflügel mit Sahnensauce«, sagte zornig ein anderer. Und ein
älterer Mann sagte: »Die Doktoren wollen es nicht wahrhaben, daß
einer einem die Sünden abnimmt. Sie wollen einem immer nur neue
Lasten und Verbote auflegen.« Der Käsesohn aber, jetzt auf der
andern Seite des Tisches, lehnte sich grimmig querüber und zitierte
dem Josef ins Gesicht drohend das Sprichwort: »Aber wenn die Last
zu schwer wird, dann steht das Kamel nicht mehr auf.«
»Paß auf, Tachlifa«, sagte einer
zu dem Minäer, »bald werden sie uns verbieten, mit dir
zusammenzusitzen. Immer schon eifern sie, wir sollen nicht mehr mit
euch über euern Messias und eure Lehren diskutieren.« Der Minäer
zuckte die Achseln. »Es wäre mir sehr leid, meine Brüder und
Herren«, sagte er auf seine sanfte Art, »wenn ich nicht mehr mit
euch zusammensitzen dürfte.« – »Was?« rückte ihm der Käsesohn auf
den Leib. »Du willst nicht mehr mit uns verkehren, du
Jammerlappen?« – »Wenn hier das Wort des Gesalbten steht«,
antwortete bescheiden, doch fest der Minäer, »und dort das Wort der
Doktoren, dann folge ich dem Gesalbten.« – »Ich will dir zeigen,
wem du zu folgen hast«, wollte der Käsesohn auf ihn los, aber die
andern hielten ihn zurück.
»Bitte, sagen Sie mir, Herr
Tachlifa«, fragte wiederum Josef, »worin unterscheidet sich Ihre
Lehre von denen dieser hier?« – »Ich glaube«, erwiderte Tachlifa,
»daß der Messias durch seinen Tod uns allen die Sünde abnahm. So
hat er das Himmelreich leichter gemacht auch für die, die nicht
gelehrt wie die Doktoren sind, sondern arm im Geiste und ohne
umständliches Wissen vom Gesetz.« – »Aber Sie halten weiter das
Gesetz?« erkundigte sich Josef. »Jesus, unser Gesalbter«,
antwortete Tachlifa, »hat nicht das Gesetz aufgehoben, er kam, es
zu erfüllen. Wir halten streng das Gesetz.« – »Heißt das«, fragte
der Käsesohn und war schon wieder nahe an ihm, »daß du von meinem
Sahnengeflügel nichts essen willst, du Hund, falls ich dir etwas
anbiete?« – »Ich will dir kein Ärgernis geben«, sagte nach einem
kurzen Schweigen spaßhaft gutmütig der junge Mensch, und alle
lachten.
Die Männer tranken langsam von
dem schwarzen, gepichten Wein. Von der Herdstelle kam schwer der
Rauch des Feuers, das der Wirt angezündet hatte, um die Hühner zu
kochen, und füllte den ganzen, dumpfen Raum. »Wir wollen alle die
Einheit der Lehre«, sagte ein älterer Mann zu Josef. »Aber wenn die
in Jabne uns das Leben weiter so erschweren, dann gehe ich
wahrhaftig auch noch unter die Minäer. Das Gesetz ist gut, aber man
hat nur zwei Schultern, um zu tragen, und der Glaube der Minäer ist
leicht. Es ist nicht nur wegen der Sahnensauce. Schlimmer ist, daß
sie uns nicht erlauben wollen, auf den römischen Auktionen Land zu
kaufen. Wie sollen wir gegen die Syrer aufkommen, wenn die Terrains
immer billiger werden und wir dürfen sie nicht kaufen?«
Josef dachte unbehaglich an die
Ziffern und Statistiken des Johann von Gischala. Aber bevor er
weiter fragen konnte, wurden die Hühner ans Feuer gestellt, und die
Männer hörten auf, von den Doktoren und vom Messias zu reden,
traten zum Herd, schnupperten, schmatzten und gaben dem Wirt
Ratschläge.
Als er nach Gischala kam, hörte Josef die
Leute mit Erbitterung von Johann sprechen. Der Freigelassene Junius
Johannes hatte sich nicht um den Boykott der Auktionen geschert,
den die Doktoren angeordnet, sondern hatte aus der Masse des von
den Römern konfiszierten Terrains skrupellos gekauft. Die Galiläer
empfanden es als zynische Herausforderung, daß der Mann, der
seinerzeit diese ganze Gegend in den Krieg getrieben, jetzt, als
römischer Freigelassener, den Römern Kriegsbeute abnahm.
Josef hatte gewußt, daß sein
alter Feind ins Land zurückgekehrt war. Es lockte ihn, ihn
aufzusuchen. Er zögerte. Schließlich tat er es.
Johann schmunzelte, als er ihn
sah. Er führte ihn durch sein Besitztum. Es wäre vorteilhafter
gewesen, Land im Süden zu kaufen, im eigentlichen Judäa, wo auch
Josefs Güter lagen. Doch Johann hat eine alte Anhänglichkeit gerade
an sein Gischala. Es sind weite Liegenschaften, die er gekauft hat.
Noch ist sein großes Besitztum verwahrlost, aber es ist fruchtbar,
Korn wächst, Öl, Obst, Wein. Er freut sich darauf, wie das in drei
Jahren aussehen wird. Dabei war es unerhört billig. Die Leute hier
sind Narren, daß sie die guten Terrains der Regierung nicht schon
lange abgenommen haben. Der Boykott der Terrainauktionen ist
läppisch. Er bewirkt nur, daß das Land immer mehr überfremdet wird.
Wenn es so weitergeht, werden die Syrer und Römer noch den ganzen
Boden Judäas für ein trockenes Johannisbrot erwerben. Er, Johann,
macht da nicht mit. Er hat zugegriffen. Ein Skandal, daß die andern
ihm nicht nachtun. Er muß in den nächsten Wochen nach Jabne fahren
und den Doktoren ins Gewissen reden. Die Herren sind weltfremde
Ideologen. Sie verstehen nichts von Ziffern. Er lächelte Josef von
der Seite an.
»Was haben sie schon davon«,
meinte er später, »wenn sie die Massen immer weiter gegen die Römer
aufstacheln? Ihr Groll bleibt rein akademisch. Es wäre klüger, die
Römer durch kluge Konkurrenz zu bekämpfen, wirtschaftlich, nicht
politisch. Wir schneiden uns nur ins eigene Fleisch, wenn wir uns
mit ihnen nicht vertragen. Das ganze Land ist nun doch einmal mit
ihnen durchsetzt, und jeder ist auf seinen römischen, syrischen
oder griechischen Nachbarn angewiesen.
Da ist zum Beispiel die Sache mit
den Ochsen. Die Doktoren verbieten die Kastrierung der Stiere. Aber
wenn man auf die Kühe allein angewiesen ist und sonst kein Zugvieh
hat, wie soll man da auskommen? Bis jetzt hat man sich an seinen
syrischen oder römischen Nachbarn gehalten und ihn ersucht, er soll
einem den Stier stehlen und als Ochsen wieder zustellen. Die Syrer
taten einem gern die Gefälligkeit, und die Geschichte war gemacht.
Aber jetzt. Unter vierzig Sesterzien stiehlt einem jetzt keiner
mehr den Stier, und dann macht das Pack gelegentlich noch den Spaß,
einem den Stier als Stier wieder zuzustellen. Was soll man tun?
Nicht einmal klagen kann man. Das Geschäft verstößt gegen die guten
Sitten.«
Josef hörte zu. Natürlich hatte
Johann recht. Aber wenn er selber, ohne je im Ausland gewesen zu
sein, als einer der Doktoren im Kollegium von Jabne säße, er machte
es wahrscheinlich ebenso wie die andern. Da man die Lehre abzäunen
mußte, wo sollte man den Zaun ziehen? Schon einmal war das ganze
Land hellenisiert worden, und das Judentum war ernstlich Gefahr
gelaufen, im Griechentum aufzugehen.
Er zog südwärts, kam nach dem eigentlichen
Judäa. Nun er Land betrat, das zumeist von Juden bewohnt wurde, war
er doppelt zurückhaltend. In der schönen Stadt Thamna zum Beispiel,
im Gebirge Ephraim, hauste er bescheiden bei einem Ölhändler, zu
dem der Verwalter seiner Besitzungen geschäftliche Beziehungen
unterhielt. Josef hatte diesen seinen Gastfreund gebeten, seinen
Namen nicht zu nennen. Bald aber hatte der und jener ihn erkannt,
und am vierten Tag erschien bei Josef der Präsident der jüdischen
Gemeinde mit zwei Vorständen, und sie hatten ein Anliegen an
ihn.
Es war dies. Zwischen dem
griechischen Bürgermeister der Stadt Thamna und der großen
jüdischen Majorität des Magistrats war von jeher Feindschaft
gewesen. Als nun der griechische Bürgermeister das Dokument, in dem
der Senat der Stadt Thamna das Gesetz des Antist über das Verbot
der Beschneidung mitteilte, vor der Verlesung vorschriftsgemäß den
einzelnen Magistratsräten zum Kuß und zur Ehrenbezeigung
überreichte, hatte der jähzornige Stadtrat Akawja geglaubt, der
Bürgermeister lächle höhnisch, er hatte die Beherrschung verloren,
das Schriftstück, statt es zu küssen, angespien und es in Stücke
zerfetzt. Man hatte den Stadtrat als Majestätsverbrecher nach
Cäsarea eingeliefert, und die römischen Richter unter dem Vorsitz
des Gouverneurs hatten ihn zur Kreuzigung verurteilt. Akawja aber
hatte als römischer Bürger von seinem Recht Gebrauch gemacht, an
die Kronjuristen in Rom zu appellieren. Jetzt wartete er darauf,
nach Rom gebracht zu werden. Die Juden von Thamna mittlerweile
schickten Deputationen an Flavius Silva, erklärten, Akawja habe in
einem Anfall plötzlichen Wahnsinns gehandelt, versuchten, bei dem
Gouverneur seine Begnadigung zu erwirken.
Jetzt also waren sie bei Josef
und forderten ihn auf, seinen Einfluß in Cäsärea für ihren
Mitbürger einzusetzen. Die Herren waren befangen und anmaßend
zugleich. Sie baten und sie verlangten. Josef hörte aus ihrer Rede
heraus, daß sie nach allem Leid, das er der Gesamtheit zugefügt
habe, ihn für verpflichtet hielten, jedem Juden zu
helfen.
Er hatte während seiner Reise an
Demut zugenommen. Daß sie sich an ihn wandten, kitzelte nicht seine
Eitelkeit, und die Art, wie sie von ihm forderten, kränkte ihn
nicht. Er sagte einfach: »Ich will versuchen, ob ich etwas für
Ihren Mitbürger tun kann.«
»Sie haben eine kurze Antwort für
uns, Doktor Josef«, sagte feindselig einer aus der Deputation. »Sie
behandeln uns wie lästige Bittsteller. Ich sehe, Sie haben nichts
vergessen. Ich habe von Anfang an gefürchtet, daß wir Ihnen lästig
fallen, und
habe abgeraten, zu Ihnen zu gehen.«
Ein Jahr vorher hätte Josef
hochmütig erwidert. Jetzt schwieg er. Er lächelte nicht einmal über
den simpeln Verdacht des Mannes, der glaubte, ein Flavius Josephus
werde seinen Zorn über die feindselige Haltung der gesamten
Judenheit an diesem einen Akawja auslassen. Er sagte nur: »Ich habe
viele Menschen am Kreuz gesehen. Ich möchte Ihrem Akawja helfen.
Aber ich möchte auch vielen andern helfen, und meine Kraft ist
gering.« Der Präsident sagte: »Wir haben Ihnen auseinandergesetzt,
wie der Fall liegt. Es geht wohl nicht nur um Akawja, es geht um
alle Juden der Stadt Thamna, einer der noch jüdischen Städte dieses
Landes, die aber vielleicht nicht mehr lange jüdisch sein wird. Tun
Sie, was Sie für gut halten, Doktor Josef. Ich war es, der geraten
hat, zu Ihnen zu gehen, und ich glaube auch jetzt, daß das kein
schlechter Vorschlag war.«
Endlich, nach mehr als einem Monat, entschloß
sich Josef, seine Güter aufzusuchen. Es waren drei große
Besitzungen in der Gegend zwischen den Städten Gazara und Emmaus.
Sie umfaßten Bergland mit der Esche, Hügelland mit der Sykomore,
Tiefebene mit der Palme.
Der Verwalter Theodor Bar
Theodor, ein ruhiger, listiger, älterer Mann, empfing Josef
erfreut. Er ließ ein besonders fettes Schaf schlachten und setzte
seinem Herrn das beste Stück vor, das Schwanzstück. Sein stilles,
schlaues Gehabe erinnerte Josef ein wenig an Johann von
Gischala.
Er ritt, den Verwalter an der
Seite, seine Besitzungen auf und ab, durch Öl- und Weinterrassen,
zwischen Dattelpalmen, durch Weizenfelder, zwischen Granaten,
Nüssen, Mandeln, Feigen. Oben lag uralt und trotzig die Stadt
Gazara mit ihren von den Römern erneuerten Forts. Die Güter
schienen musterhaft bewirtschaftet, zweihundertsiebzig Leibeigene
waren beschäftigt, viele Schwarze unter ihnen, sie sahen gepflegt
aus, ihre Arbeit war klug organisiert. Schade, daß soviel Mühe und
Geschicklichkeit aus den fruchtbaren Besitzungen keine größere
Rente herauswirtschaften konnte.
Theodor Bar Theodor setzte seinem
Herrn auseinander,
woran es lag. Die Güter waren nach der Stadt
Gazara zuständig, die kein Kolonialrecht hatte, so daß Steuern und
Abgaben sehr hoch waren. Die Stadt Emmaus, die, fast ausschließlich
von römischen Veteranen des Feldzugs bewohnt, die Privilegien einer
Kolonialstadt genoß, weigerte sich, Josefs Güter einzugemeinden.
Die Gründe waren unsachlich. Hauptmann Pedan zum Beispiel, Josefs
Gutsnachbar, hatte, als er seinen Abschied nahm, sich Besitz
anweisen lassen, der überall in Josefs Gebiet einzackte und zum
großen Teil der Stadt Gazara näher lag als der Stadt Emmaus.
Trotzdem war das ganze Besitztum des Hauptmanns nach Emmaus
zuständig, so daß es, obwohl es kleiner und schlechter
bewirtschaftet war als Josefs Güter, infolge der niedrigeren
Besteuerung eine größere Rente abwarf. Hauptmann Pedan konnte seine
Erzeugnisse steuerfrei in Emmaus absetzen, Theodor Bar Theodor war
auf die Städte Gazara oder Lud angewiesen, wo er riesige Abgaben zu
zahlen hatte. Zudem weigerte sich die Majorität der jüdischen
Bevölkerung, Erzeugnisse zu kaufen, die von den Gütern des Josef
stammten, weil er von Jerusalem geächtet worden war, und die
Griechen und Römer von Lud und Gazara nützten diese Zwangslage aus.
Geteilten Gefühls sah Josef seinen fruchtbaren Boden, dessen Fett,
Öl und Wein den fremden Eroberer des Landes nährte.
Der Verwalter, während Josef
langsam auf seinem vorsichtig schreitenden Esel neben ihm herritt,
erzählte weiter von den vielen Schwierigkeiten, die die
Nachbarschaft des Hauptmanns Pedan bereitete. Da war zum Beispiel
die Sache mit der Wasserleitung. Es wäre für beide Teile
vorteilhaft, wenn man den ausgezeichneten Aquädukt von Emmaus nach
Gazara weiterführte. Die Gemeinde Emmaus würde eine Menge Geld
sparen, und man selber noch mehr. Aber die Stadtverwaltung von
Emmaus sträubte sich. Schuld daran sei der Hauptmann Pedan. Der,
als Träger des Graskranzes und Liebling der Armee, sei allmächtig
in Emmaus. Seine Gründe gegen die Durchführung des Projektes seien
offenbar rein persönlich; denn er, als Großabnehmer der
Wasserleitung, würde selber den reichsten Gewinn daraus
ziehen.
Josef meinte, er werde einmal zu
Hauptmann Pedan hinüberreiten. Es war im Grunde nicht wegen des
Geschäftes, von dem ihm der Verwalter sprach, vielmehr lockte es
ihn, den Mann zu sehen, dessen Hand den Feuerbrand in den Tempel
geschleudert hatte und dessen Name von ihm in seinem Buch nicht
genannt worden war; denn sein Name sollte vergessen sein.
Erst am dritten Tag seines Aufenthalts
besuchte Josef das Vorwerk »Brunnen der Jalta«, wo Mara lebte. Das
Vorwerk sei verwildert, hatte der Verwalter Josef erzählt, aber
Mara habe ihren Ehrgeiz darein gesetzt, es hochzubringen.
Josef traf Mara im Weinberg, in
Arbeitskleidung, mit nackten, erdbeschmutzten Füßen und einem
großen Hut gegen die Sonne. Er hatte sich nicht angemeldet und
wußte nicht, ob sie von seiner Ankunft gehört hatte. Sie hockte auf
der Erde, Gießränder für die Weinstöcke grabend, wie es schien. Als
sie ihn erblickte, blieb sie hocken, sie lehnte den Kopf zurück,
ihr rundes Gesicht wurde blaß unter seiner Bräune, ihre Augen weit,
und, die Stimme gepreßt von Zorn und Schreck, rief sie ihm zu:
»Kommst du, Schlächter des Herrn? Wagst du dich zu mir? Was willst
du von mir? Bleib fern von mir, Geschlagener.«
Er stand hilflos. Was konnte er
ihr erwidern? Vor dem gemeinen Menschenverstand hatte er recht. Er
konnte sagen: Wie soll man einen elfjährigen Jungen hüten? Kann man
ihn immer am Gängelband halten? Auch wenn du in Rom geblieben
wärst, hättest du nichts verhindern können. Aber wenn er ihr das
sagte, was sollte es nützen? Er wagte ja nicht einmal, sich selber
solche Dinge weiszumachen. Er wußte, daß der Tod Simeons seine
Schuld war. Nicht, daß ein Richter ihn schuldig gesprochen hätte,
wenn seine Sache in Rom anhängig gemacht worden wäre oder in der
Quadernhalle des Tempels von Jerusalem. Trotzdem war er schuld. Er
wußte es gut. Und als sie ihn anschrie, verändert, mit einer
Heftigkeit, die er nie an ihr wahrgenommen, die bräunlichen Augen
verwildert: »Du hast mich zu einem dürren Ast gemacht. Ich habe bei
ihm bleiben wollen, du aber hast mich von ihm gerissen und hast ihn
ausgelöscht«, da konnte er nichts darauf sagen.
Schließlich sprach er trotzdem.
Er stand in der hellen Sonne. Er arbeitete sich ab und redete ihr
gut zu, aber er sah, daß er nur die Luft erschütterte. Sie
erwiderte nichts mehr. Da drehte er sieh um und ging.
Als er sich vor der Wegbiegung
nach ihr zurückwandte, sah er, daß sie ihm nachschaute. Ihr Gesicht
hatte sich jetzt verwandelt. Es war nicht mehr Schreck und Wut
darin, sondern nur mehr eine große Trauer.
Unter den Leibeigenen des Josef war ein
Minäer, der, wie der Verwalter erzählte, die Lehren dieser Sekte
gut auszudeuten verstand, so daß er manche seiner Hörer für seinen
Glauben gewonnen hatte. Josef versuchte, mit diesem Leibeigenen in
ein Gespräch zu kommen. Doch das war nicht leicht. Trotzdem Josef
sich vorhielt, er sei doch selber einmal Leibeigener gewesen,
konnte er mit diesem Entrechteten nicht frei vom Herzen sprechen;
gegen seinen Willen kam in seinen Ton etwas Herablassendes. Der
Rechtssatz der Doktoren, daß Leibeigene wie Immobilien anzusehen
seien, stak ihm im Blut.
Im Gespräch mit diesem
samaritanischen Leibeigenen indes verlor sich seine Steifheit
schnell. Wie der Mann ursprünglich geheißen hatte, wußte Josef
nicht; der Verwalter hatte ihm einen der üblichen Leibeigenennamen
gegeben, Samua, »der Gehorsame«, und ließ ihn wie alle anderen
Leibeigenen die Schelle tragen, die ihn als Hörigen, dem Vieh
Gleichen, charakterisierte. Trotzdem und bei aller Dienstwilligkeit
hatte dieser Samua den Anstand und das Gehabe eines freien Mannes.
Wenn man ihm glauben wollte, dann war er, als die samaritanische
Stadt Esdraela beim Anfang des Aufstands ihre Juden totschlug, für
diese eingetreten, dafür von seinen Mitbürgern den Römern als
Teilnehmer an dem Aufstand denunziert, von diesen festgenommen und
in die Leibeigenschaft verkauft worden. Es war möglich, daß es so
war, aber es war unbehaglich, es zu glauben. Auf alle Fälle
beschloß Josef, den Verwalter anzuweisen, den Gehorsamen in Zukunft
gleich einem jüdischen Leibeigenen zu behandeln, ihn also in
Kleidung und Wohnung dem Herrn völlig gleichzustellen, gemäß der
Vorschrift: »Daß du nicht etwa äßest weißes Brot und dein Leibei
gener schwarzes, tränkest alten Wein und er jungen, schliefest auf
Matratzen und er auf Stroh, wohntest auf dem Lande und er in der
Stadt, oder du in der Stadt und er auf dem Lande.« Der Verwalter
wird darüber zwar nicht gerade erfreut sein.
Vorläufig unterhielt sich Josef
mit dem Gehorsamen über die Lehren der Christen, und es ergab sich
sogleich, daß dieser Samariter besser Bescheid wußte als jener
Tachlifa in der Schenke von Kapernaum. Ja, wenn man ihn auch nicht
gerade im Sinne der Doktoren gelehrt nennen konnte, so war er doch
beschlagen in der Schrift und in ihrer mündlich überlieferten
Ergänzung. Josef also fragte ihn: »Da du, Gehorsamer, wie ich sehe,
dich gut auskennst in den Lehrmeinungen der Doktoren, sage mir, was
hat dich dazu geführt, dich mit diesen Meinungen nicht zu begnügen,
sondern über sie hinaus die Lehre der Minäer anzunehmen?« Der
Gehorsame erwiderte: »Die Doktoren sind habsüchtig im Geiste. Sie
haben das Wort der alten Propheten vergessen, Jahve sei der Gott
aller Welt. Sie glauben, sie allein hätten das Recht gepachtet,
sich mit seiner Lehre abzugeben und sie zu studieren. Darum auch
waren sie eifersüchtig, als Jesus von Nazareth sich den Propheten
Gottes nannte, und darum haben sie den Gesalbten getötet. Aber nun
hat es sich ja erwiesen, daß Jahve nicht der Gott der Priester und
der Doktoren ist. Warum sonst hätte er Jerusalem zerstört, ihren
Sitz und sein früheres Haus? Darauf wissen sie keine Antwort. Sie
sprechen viel von anderer Schuld und erklären, Jahve werde
Jerusalem wieder aufbauen. Aber das ist eine Hoffnung, keine
Antwort.«
Da war es wieder, dieses
Argument, das Josef schon in Galiläa gehört hatte und das die
Christen offenbar für ihr wirksamstes hielten. Dieser Minäer führte
es noch deutlicher aus. »Jahve«, sagte er, »hat das Gefäß
zerbrochen, in das bisher die Lehre gegossen war, Jerusalem und den
Tempel. Unmöglich kann man eine andere Folgerung daraus ziehen als
die, daß er die Lehre ausgegossen wissen will über die ganze Welt,
über Laien wie über Gelehrte, über Heiden wie über Juden. Er wollte
zeigen, daß er überall wohnt, wo der Glaube an ihn ist.« Der
Gehorsame sprach mit tiefer Stimme, leise, doch deutlich und
entschieden. Er war ein kräftiger Mann, gebräunt von der Sonne.
Wenn er sich bewegte, klingelte die Schelle seiner
Leibeigenschaft.
Josef fragte ihn weiter aus. Was
den Gehorsamen an der Lehre Jesus des Nazareners vor allem anzog,
war die Verachtung des Reichtums und die Hochschätzung der Armut,
die schlichte Lebensführung, die Brüderlichkeit. »›Liebe deinen
Nächsten wie dich selbst‹, heißt es in der Schrift«, sagte er, »und
die Doktoren verkünden als goldene Regel: ›Was du nicht willst, daß
man dir tue, das tue auch keinem andern.‹ Wir stellen an uns höhere
Forderungen. Wir lehren, man soll nicht nur den Nächsten, sondern
auch den Feind lieben wie sich selber, ja, man soll die andere
Wange hinhalten, wenn man auf die eine geschlagen wird.« Und,
gutmütig lächelnd, fügte er hinzu: »Es kann, glaube ich, mein
Doktor und Herr, den Besitzern von Leibeigenen nur angenehm sein,
wenn ihre Leibeigenen Christen werden. Denn die christliche Lehre
hebt jene Weisung auf, die Kanaan, das Urland der heidnischen
Leibeigenen, diesen mitgegeben hat: ›Liebet euch gegenseitig und
hasset eure Herren, liebet den Diebstahl, liebet die Schwelgerei
und hasset die Wahrheit.‹«
Josef meinte, diese
Moralprinzipien, Brüderlichkeit und Verachtung des Reichtums, seien
ihm aus der Zeit seiner essäischen Studien und Moralübungen
vertraut. Sie wichen im Grunde nicht ab von den Sätzen der
Doktoren. »Was also ist es«, fragte er, »worin die Lehre der Minäer
abweicht von der der andern?«
»Soweit ich, ein ungelehrter
Mann, es überblicken kann«, erwiderte bescheiden der Gehorsame,
»sind es zwei Grundsätze. Wir glauben, der Messias ist bereits
erschienen, und es ist nicht gut, noch weiter zu hoffen, Jerusalem
werde in Stein und äußerem Glanz wieder auferstehen. Und ferner
halten wir dafür: Wissen und Werke sind gut, aber besser ist der
Glaube. Und der Glaube ist jedem erreichbar, nicht nur dem
Gelehrten, sondern auch dem Armen an Geist und Bildung wie hier dem
Gehorsamen, deinem Knecht.«
Josef fragte: »Kannst du mir
nichts Näheres sagen, Gehorsamer, über die Taten und Aussprüche
deines Jesus von Nazareth?«
»Es ist einer in der Nähe der
Stadt Lud«, erwiderte der Gehorsame, »in dem Dorfe Sekanja, ein
gewisser Jakob. Der hat ein kleines Buch, darin sind die Lehren und
Gleichnisreden unseres Gesalbten aufgezeichnet, desgleichen sein
Leben und sein Wandel durch die Länder Galiläa und Juda. Dieser
Jakob, trotzdem er drei große Güter hatte, gab sie auf und gehört
zu uns, den Armen. Er ist ein Wundertäter, er heilt Kranke und
macht Besessene frei. Erst eiferte Doktor Ben Ismael gegen ihn.
Aber nach einigen Gesprächen änderte er seine Meinung. Jetzt sucht
Doktor Ben Ismael die Gesellschaft des Jakob aus Sekanja und sitzt
oft im Kreise der Gläubigen, trotzdem seine Kollegen in Jabne das
nicht gerne sehen.«
Josef beschloß, diesen Jakob aus
dem Dorfe Sekanja aufzusuchen.
Die Hochschule der Stadt Lud hatte vor dem
Krieg großes Ansehen genossen. Jetzt aber hatte sie ihre
Privilegien verloren, die Regelung des jüdischen Ritus und die
jüdische Gerichtsbarkeit lag ausschließlich in den Händen der
Doktoren von Jabne; denn nur die dortige Hochschule war von den
Römern anerkannt. Doch infolge der Strenge des neuen Großdoktors
Gamaliel zogen sich manche der Doktoren grollend nach Lud zurück,
und es sammelten sich Schüler um sie, trotzdem sie nicht graduiert
werden konnten. Die Stadt Lud wurde allmählich zum Zentrum aller
jener, die hellenistischen oder minäischen Lehrmeinungen
anhingen.
Derjenige unter diesen
rebellierenden Doktoren, von dem man am meisten sprach, war der
junge Jannai, genannt der Acher, »der Andere«, »der Abtrünnige«.
Einziger Sohn einer reichen Familie aus altem Priesteradel, sehr
begabt, hatte er schon als Student die Aufmerksamkeit des
Kollegiums auf sich gelenkt und seine Prüfung mit höchster
Auszeichnung bestanden. Sehr bald darauf aber hatte der
Fünfundzwanzigjährige sich von der Lehre der Doktoren losgesagt,
die Laufbahn aufgegeben, die breit und sicher vor ihm lag, und
jetzt sah man ihn mit einigen Genossen, älteren und jüngeren, in
Lud herumgehen, die Bräuche und Gebote der Doktoren durch Wort und
Tat verhöhnend. Sein vielfältiges Wissen, seine elegante
Beredsamkeit, das Hell und Dunkle seiner Gottesanschauung blendete
viele. Er hatte in griechischer Sprache eine Dichtung über das
Jüngste Gericht geschrieben, er hatte sie nur in wenigen Exemplaren
veröffentlicht, aber diejenigen, die sie kannten, waren von den
aufregenden, vieldeutigen Versen tief angerührt. Sie zitierten mit
Ehrfurcht, Grauen und Bewunderung vor allem jene dunklen,
ketzerischen Strophen, in denen die Weltangst vor dem Jüngsten
Gericht geschildert war und die in den Zweifel mündeten: »Wenn der
Messias wirklich kommt, wer weiß, ob nach soviel Qualen das
Menschengeschlecht noch die Kraft haben wird, ihn zu empfangen?«
Jabne lud den jungen Doktor vor das geistliche Gericht, er erschien
nicht. Man verbot seine Dichtung und tat ihn selber in Bann. Der
Großdoktor Gamaliel strich mit eigener Hand seinen Namen von der
Tafel der Doktoren, der er ihn vor kurzem beigefügt hatte, und
belegte ihn mit einem neuen Namen, eben dem Namen Acher, »der
Andere«, »der Ketzer«. Allein Jannai nannte fortan sich selber und
ließ sich von den andern mit Stolz bei diesem Namen nennen, und
nach wie vor flogen die Herzen der Jugend ihm zu.
Josef wußte von dem Acher, daß
dieser die Einfachheit der Gläubigen, die strenge Methode der
Doktoren und die Schönheit griechischer Bildung zu vereinigen
suchte. Er hatte eine der wenigen Abschriften seiner Dichtung
gelesen, und sosehr er aller Mystik abhold war, dem dunkeln Glanz
dieser Verse konnte er sich nicht entziehen. Unter den Doktoren der
Stadt Lud war der Acher der erste, den Josef aufsuchte.
Doktor Jannai empfing ihn
erfreut, interessiert, ein wenig spöttisch. Er sprach griechisch,
langsam, aber gewählt, offenkundig erstaunt über Josefs schlechten
Akzent. Er war etwas zu füllig für seine Jahre, die Stirn baute
sich breit und massig über kleinen Augen. Er hatte über einem
fleischigen Mund eine platte Nase; aber er hatte rasche, ja hitzige
Bewegungen, er konnte nicht stillsitzen und gestikulierte viel mit
auffallend schmalen Händen.
Josef sah bald, daß der junge,
leidenschaftliche, beredte Mensch in Alexandrien oder in Rom auch
unter den Juden viele Gleichgesinnte gefunden hätte, die ihn gern
als ihren Führer anerkannt hätten. Er fragte ihn geradezu, warum er
denn in der kleinen Provinzstadt bleibe, in dem besiegten Land,
verachtet von den Siegern, geächtet von den Besiegten. Der Acher
zerdehnte das massige Gesicht zu einem langsamen Lächeln. »Ich will
es mir nicht leicht machen, Doktor Josef«, sagte er. »Unter Römern
und Griechen ein Weltbürger zu sein, scheint mir kein großes
Verdienst: ich möchte als Jude unter Juden ein Weltbürger bleiben.
Das haben die Leute nicht gern, das verzeihen sie einem nicht. Aber
sehen Sie, Doktor Josef, erst wenn ich das aushalte, dann erst,
finde ich, habe ich mich bewährt.«
Später sprach er von der Aufnahme
der Bücher Hoheslied und Kohelet in den Kanon der Heiligen Schrift;
seit zehn Jahren konnte sich das Doktorenkollegium in Jabne darüber
nicht schlüssig werden. Es ergab sich, daß der Acher gleich Josef
unter allen Büchern der Schrift den Kohelet am meisten liebte. Er
sprach davon, wie die Siebzig in ihrer griechischen Übersetzung die
edeln Verse des Originals banalisiert hätten, und sagte die oder
jene Stelle in seinem eigenen Griechisch her. Während sie redeten,
schlenderte faul und ungeniert eine junge, sehr schöne,
dunkelbraune Frau herein, eine seiner Freigelassenen, wie der Acher
erklärte. Sie beschaute neugierig, ohne Verlegenheit, den Fremden,
hockte nieder, lässig, üppig. »Sie stört uns nicht«, meinte der
Acher. »Wenn man nicht von sehr platten Dingen spricht, versteht
sie nichts. Sie hockt dann einfach da und ist erfreulich
anzuschauen. Natürlich tadelt man mich und belegt mich mit allen
Flüchen, weil ich meine frühere Leibeigene halte, als wäre sie
meine Frau. Aber warum soll ich es nicht? Sie gefällt mir besser
als die meisten Frauen, die zu ehelichen niemand mir verübelte. Ich
kann schärfer und besser denken, wenn sie da ist und wenn ich sie
anschaue.«
Er ließ Wein und Konfekt bringen.
Sein Haus war schön, das schönste in Lud, mit kostspieliger
Einfachheit; Bildwerk lief die Wände entlang. Die Braune hockte auf
ihrem Ruhelager. Der Acher sprach weiter von den Büchern Hoheslied
und Kohelet. »Ich verstehe nicht«, spottete er, »warum die Herren
in Jabne so lange zögern, diese Bücher endgültig aus der Heiligen
Schrift auszuschließen. Was verstehen sie vom Hohen lied, wenn sie
es mir als Sünde anrechnen, daß ich in Gegenwart dieser meiner
braunen Tabita in der Schrift lese? Was verstehen sie vom Kohelet,
wenn sie es mir verbieten, mich auf meine Art mit dem Satan und dem
Jüngsten Gericht auseinanderzusetzen? Schon in ihrer jetzigen
Gestalt macht es die Schrift den Doktoren schwer genug, sie mit den
hausbackenen Regeln ihrer nationalistischen Moral in Einklang zu
bringen.«
»Und doch«, fragte Josef, »haben
Sie Ihre ganze Jugend auf das Studium der Doktoren und ihrer Lehre
verwendet?« Das fleischige Antlitz des jungen Menschen, das keine
seiner Regungen verbarg, füllte sich mit grimmiger Trauer. »Es
fehlte nicht viel«, erwiderte er, »und ich hätte heute noch nicht
mit ihnen Schluß gemacht. Mein Lehrer war Doktor Ben Ismael. Er
suchte mich mit guten Gründen zu halten. Es war ihm schmerzlich,
daß ich mich von Jabne abkehrte. Dabei geschah es um seinetwillen.
Sie kennen Doktor Ben Ismael?« unterbrach er sich. Und da Josef
verneinte, sagte er stürmisch: »Ein großer Mann. Sie müssen ihn
sehen. Sie müssen ihn hören. Er ist das einzige, was in diesem
Lande noch etwas taugt.« Er sprang auf, lief hin und her.
»Man erzählt mir«, sagte
vorsichtig Josef, »Doktor Ben Ismael habe keinen leichten Stand vor
dem Großdoktor Gamaliel, trotzdem er seine Schwester zur Frau hat.«
– »Sagt man Ihnen das?« fragte höhnisch der Acher zurück, grinsend
über sein massiges Gesicht. »Hörst du es, Tabita?«, und er rührte,
leicht tätschelnd, die Schulter der Braunen. »Man sagt diesem
Herrn, Doktor Ben Ismael habe keinen leichten Stand vor Gamaliel.«
Die Braune lutschte Konfekt, schaute lächelnd zu ihm auf. Der Acher
ließ von ihr ab. »Man hat Sie richtig informiert, mein Doktor und
Herr«, wandte er sich wieder mit ironisch trockener Sachlichkeit an
Josef. »Er hat keinen leichten Stand.«
»Ich habe von einem Zwist
gehört«, tastete Josef sich weiter, »zwischen ihm und dem
Großdoktor, am letzten Versöhnungstag.«
»Ja«, höhnte der Acher, »man kann
es auch einen Zwist nennen.« Seine kleinen Augen unter der breiten
Stirn starrten heftig auf Josef. »Ben Ismael ist ein weiser Mann«,
sagte er, »der gelehrteste in Jabne. Und der Großdoktor ist ein
Politiker.« Es war erstaunlich, wieviel Haß und Spott der Acher in
dieses Wort »Politiker« zu legen vermochte. »Es konnte nicht
ausbleiben, daß es zwischen dem Weisen und dem Politiker zum
›Zwist‹ kam.«
Er setzte sich wieder, er wollte
sich sichtlich zur Gelassenheit zwingen, er erzählte. »Seitdem
Großdoktor Gamaliel im Amt ist, gab es zwischen ihm und dem
Kollegium immer wieder Differenzen, wem die Fixierung des Kalenders
und der Festtage zustehe, dem Großdoktor allein oder dem gesamten
Kollegium. Dieses Jahr, zu Beginn des Monats Tischri, kam es zum
offenen Konflikt. Die Mehrheit des Rats, Ben Ismael an der Spitze,
erklärte die Mondzeugen des Großdoktors für unzuverlässig. Der
Großdoktor beharrte, setzte den ersten Tischri, das Neujahrs-,
Versöhnungs- und Hüttenfest gemäß der Aussage seiner umstrittenen
Zeugen fest und ließ sie so als verbindlich durch das Land
verkünden. Ben Ismael ist kein Kämpfer. Er fügte sich und hielt die
Riten des Jahresersten an dem von dem Großdoktor festgesetzten Tag.
Freilich auch an dem von ihm selber bestimmten. Aber Gamaliel
wollte keinen Kompromiß, er wollte die Sache ein für allemal
bereinigen. Es genügte ihm nicht, daß Ben Ismael bereit war, das
Versöhnungsfest an seinem, des Gamaliel, zehnten Tischri zu feiern.
Er wollte darüber hinaus, daß Ben Ismael den Tag, den er und seine
Freunde als den zehnten Tischri und ihren Sabbat der Sabbate
festgesetzt hatten, daß Ben Ismael diesen seinen Versöhnungstag
entweihe. Er legte ihm auf, an diesem Tag
ein Stück Weges zu Fuß zu gehen, in Wanderkleidung, und mit Stab,
Ranzen und Geldbeutel vor ihm zu erscheinen. Der Großdoktor wollte,
daß Ben Ismael dadurch vor allem Volk bekunde, daß sein
Versöhnungstag, dieser angebliche zehnte Tischri, in Wahrheit ein
gemeiner Werktag sei, gemäß der Verfügung des Großdoktors. Das
ganze Kollegium bestürmte Gamaliel, abzulassen. Er gab nicht nach.
Er berief sich natürlich, wie immer, auf die ›Einheit der Lehre‹.
Es müsse Israel gezeigt werden, beharrte er frech und eisern im
Kollegium, daß es nur eine gottbefugte
Ausdeutung der Lehre gebe: die seine. Ben Ismael wurde mit
Ausschluß und Bann bedroht,
wenn er sich nicht füge.«
Es hielt den Acher nicht länger
auf seinem Sitz. Er sprang auf, wischte sich den Schweiß von der
Stirn, lief wieder hin und her. »Wir alle«, erzählte er weiter,
»redeten auf Ben Ismael ein, seine Frau voran, die eigene Schwester
des Großdoktors. Wir durften mit Recht hoffen, daß, wenn Ben Ismael
sich weigerte, ein großer Teil des Rates ihm zufiel. Vielleicht
konnte man Gamaliel absetzen. Vielleicht, wenn sich Ben Ismael und
seine Freunde von dem Kollegium trennten, konnte man die
unheilvolle, nationalistische Diktatur des Großdoktors brechen. Ben
Ismael stöhnte. Alles in ihm bäumte sich. Wir hetzten ihn, wir
ließen ihm keine Ruhe. Aber dieses höllische Wort von der Einheit
der Lehre hatte es ihm angetan. Er riskierte nicht die Spaltung. Er
fügte sich.«
Der Acher stand jetzt vor Josef,
er schnaufte stark, sein massiges Gesicht war finster, traurig.
»Ich sehe ihn noch«, erzählte er, »wie er in Jabne ankam, bestaubt,
der ganze, rüstige Mann eine Mühsal, als
wäre der leichte Ranzen zentnerschwer. Die Leute von Jabne hatten
ihre Häuser verlassen und standen an seinem Weg, niemand sagte ein
Wort, alle standen bedrückt, und Ben Ismael schleppte sich die
Stufen der Lehrhalle hinauf, wo der Großdoktor ihn erwartete. Ich
habe, als Fünfzehnjähriger, gesehen, wie Jerusalem brannte und
fiel. Aber eher werde ich das vergessen als den Anblick des
gehetzten, traurigen Mannes mit dem Stab und dem Ranzen. Er hatte
die Todsünde auf sich genommen um jener verfluchten Einheit der
Lehre willen, er war der Bock, der die Sünde aller trägt, man sah,
wie ihn die Last zusammenpreßte und ihm den Atem benahm. Aber er
schleppte und trug. Das habe ich gesehen. Da sagte ich den Doktoren
ab und ging fort von Jabne.« Den Acher genierte offenbar das Pathos
seiner Erzählung. »Gib mir das Konfekt herüber, Tabita«, bat er und
nahm von dem Konfekt. »Die Herren in Jabne hätten mich gern
gehalten«, ergänzte er seinen Bericht. »Sie wären so weit gegangen,
mir ausnahmsweise privatim meinen Philo und meinen Aristoteles zu
erlauben. Sie sind bereit zu solchen Konzessionen: nur still muß
man sich halten, und wenn man eine eigene Wahrheit findet, dann muß
sie die eigene bleiben und darf beileibe nicht wei tergesagt
werden.« Er spuckte das Konfekt aus. »Die Einheit der Lehre.
Ein Gott, eine
Nation, eine Auslegung. Die Doktoren
erlauben nicht, daß man über die Bücher der Griechen diskutiert,
über die Emanationen Gottes, über den Satan, den Heiligen Geist.
Mit lauter Zentralisierung und Nationalisierung bringen sie die
Lehre um ihren Sinn. Mit ihrer einen
Auslegung deuten sie die Welt aus der Schrift hinaus und ein
albernes, größenwahnsinniges Natiönchen in sie hinein. Wenn Jahve
nicht der Gott der ganzen Welt ist, was ist er dann? Ein Gott unter
vielen, ein nationaler Gott. Sie verkünden die Enge, die Herren in
Jabne, sie wollen die Nation, und sie verbannen Gott. Sie berufen
sich auf Jochanan Ben Sakkai. Aber ich wette diese meine Tabita
hier gegen ein Johannisbrot, Jochanan hätte das Judentum lieber
preisgegeben als es so verstümmelt und verknöchert. Jochanan wollte
die Welt mit jüdischem Geist füllen, Gamaliel vertreibt den Geist
aus den Juden. Die Massen verstehen nicht, worum es geht, aber das
merken sie, daß es mit Jahve und den Doktoren nicht stimmt. Sie
spüren, daß das Jerusalem im Geist, an dem die Doktoren bauen, noch
enger, hochmütiger ist, als das steinerne, zerstörte war. Darum
fallen so viele den Minäern zu.«
Der junge Mensch rief sich
zurück. »Ich lasse mich gehen«, entschuldigte er sich. »Sicher
denken Sie: Lauter Ressentiments. Wie der Junge übertreibt, weil
man ihn ausgeschlossen und verbannt hat. Vielleicht übertreibe ich,
aber ich glaube, nicht sehr. Genug davon. Essen Sie, bitte, trinken
Sie, schauen Sie sich meine Tabita an. Ich bin ein schlechter Wirt.
Es ist mir lieber, Sie halten mich für ein Schwein aus der Herde
des Epikur als für einen pathetischen Esel.« Er verzog sein
fleischiges Gesicht zu einem Lachen. Allein Josef konnte sich die
Trauer von diesem Gesicht nicht mehr wegdenken, auch wenn es
lachte.
Es war bei dem Acher, wo Josef
den Minäer Jakob aus dem Dorfe Sekanja traf, den Wundertäter, von
dem sein Leibeigener, der Gehorsame, ihm gesprochen hatte. Der
Minäer Jakob war anders, als Josef ihn sich vorgestellt, ohne
Aufmachung und Gewese, ein bartloser, einfacher, höflicher Herr; in
Rom hätte man ihn für einen Bankier oder Rechtsberater gehalten.
Der Minäer Jakob hatte sich bereit erklärt, dem Acher und seinen
Freunden eine Biographie und eine Sammlung von Aussprüchen des
Jesus von Nazareth vorzulesen, die einer seiner Glaubensbrüder
niedergeschrieben hatte.
Die Freunde, die der Acher noch
geladen, waren Doktor Ben Ismael und dessen Frau, Channah. Ben
Ismael, ein langer Herr mit milden, fanatischen Augen unter einer
mächtigen, kahlen Stirn, sprach ruhig und wenig, doch mit einer
tiefen, den Raum groß füllenden Stimme; trotz der Kraft seiner
Erscheinung ging von ihm eine unendliche Müdigkeit aus. Um so
lebendiger wirkte Channah; sie war jung, schön, heftig und führte
die Sache ihres Mannes stürmisch und beredt.
Der Minäer Jakob begann bald zu
lesen. »Es handelt sich«, sagte er einführend, »um die Geschichte
und um Aussprüche des Jesus von Nazareth, des Menschensohnes, wie
sie ein Freund von mir nach dem Bericht eines gewissen
JohannesMarkus, eines geborenen Judäers, für unsere kleine Gemeinde
in Rom aufgezeichnet hat.« Und er las vor, ein wenig im Singsang,
wie er an den jüdischen Schulen üblich war, und mit stark aramäisch
gefärbtem Griechisch, eine kurze Erzählung vom Leben des Jesus,
eines Zimmermanns aus Galiläa, begnadet mit der Kraft eines
Wundertäters. Er heilt Sieche, gibt Blinden das Augenlicht zurück,
treibt aus Besessenen die bösen Geister. Auf solche Weise erwirbt
er sich das Vertrauen des gemeinen Volkes. Er nimmt den Kampf mit
den hochmütigen Doktoren auf und erregt durch absichtliche
Verletzung der Sabbat- und der Speisegesetze ihr Ärgernis. Dann
zieht er nach Jerusalem und streitet wider die Sadduzäer, die da
halten, es sei keine Auferstehung, und gegen die »Rächer Israels«,
denen er sagt, man solle dem Kaiser geben, was des Kaisers sei.
Bald ist es so weit, daß er vor Gericht zitiert wird. Der Große Rat
verurteilt ihn zum Tode und überstellt ihn dem Gouverneur Pilatus.
Widerwillig nur, bedrängt von den Juden, befiehlt der Römer die
Exekution des Menschensohnes. Der stirbt am Kreuz, wird von einem
Josef von Arimathia begraben, ersteht auf und begabt seine Jünger
mit der Kraft, Wunder zu tun und seine Offenbarung aller Kreatur zu
predigen. In diese Erzählung eingestreut waren Sentenzen,
Lobpreisungen der
Armut, Gleichnisreden.
Josef hörte gut zu. Der Mann mit
seinem Alltagsgesicht und seiner Alltagsstimme war sichtlich selber
ergriffen von dem, was er vorlas. Merkwürdig eigentlich; denn was
war das im Grunde anderes als Wundergeschichten, wie Josef sie oft
gehört hatte, agitatorische Angriffe auf die Doktoren, hundertfach
erzählte und widerlegte Berichte über solche, die sich für den
Messias ausgegeben. Die Lehre der Minäer schien Josef wirklich nur
für Leute geeignet, die sehr einfachen Geistes waren. Erstaunt nahm
er wahr, daß die andern nicht seiner Ansicht schienen, daß sie
vielmehr bewegt zuhörten, mit etwas leeren, aber hingegebenen
Gesichtern, wie man wohl guter Musik zuhört. »Dies ist die
Botschaft, wie sie mein Freund den Minäerbrüdern in Rom verkündet«,
sagte schließlich Jakob aus Sekanja, rollte das Büchlein zusammen
und steckte es zurück in den Behälter.
Alle schwiegen lange. Man hörte
nur das starke Atmen des Acher. Josef schien es, als erwarte man,
daß er, der Fremde, zuerst spreche. »Vieles scheint mir sehr
schön«, sagte er endlich, und obwohl der Minäer Jakob ohne
Deklamation gelesen hatte, klang ihm seine eigene Stimme jetzt
auffallend hart und nüchtern. »Aber was ist Neues an diesen Lehren
und Botschaften? Stammen sie nicht fast alle aus der Schrift oder
aus den Reden der Doktoren?« Der Minäer Jakob wandte ihm ruhig sein
glattrasiertes Gesicht zu, und Josef glaubte unbehaglich, auf
diesem Gesicht ein ganz kleines Mitleid mit solcher Krittelei zu
entdecken. Aber Jakob aus Sekanja erwiderte ihm nicht. Vielmehr
sprach an seiner Statt der Acher. »Sehr neu ist die Botschaft
nicht«, gab er zu. »Aber klingt nicht alles einfacher, gelöster,
weicher, als wir es früher hörten? Spüren Sie nicht, welch
erregende Süßigkeit ausgeht von dieser Lehre vom Nichttun? Nicht
mehr kämpfen gegen die Römer und gegen die Welt, die Macht im
Diesseits aufgeben, aufgehen in Gott, einfach glauben.«
Josef ahnte, was den Acher an der
Botschaft dieses Markus anzog; aber er selber spürte es nicht.
Streitsüchtig, da es ihn verdroß, daß die andern ihn vielleicht für
stumpf hielten, fuhr er fort: »Und sind nicht manche Widersprüche
in der Lebens beschreibung? Wenn Jesus von den Juden wegen
Lästerung des Namens verurteilt wird, warum wird er da nicht
gesteinigt? Wenn aber die Römer ihn als König der Juden
verurteilen, also doch wohl wegen Aufruhrs und
Majestätsverbrechens, wozu dann erst das Gericht der Juden? Und
wenn Tausende ihm entgegenziehen und Hosianna rufen, wenn also
alles Volk ihn kennt, wozu brauchen dann der Erzpriester und seine
Leute den Verrat des Judas? Sicherlich sind diese Einwände sehr
nüchtern, wenn Sie das Ganze als Dichtung nehmen. Aber wollen Sie
nicht, daß es Wahrheit ist?«
»Ich behaupte nicht, und niemand
von uns behauptet«, sagte gelassen der Minäer Jakob, »daß der
Bericht jenes Markus, wie mein Freund ihn aufzeichnete, Wahrheit im
Sinn juristischer Akten enthält. Aber ich weiß aus eigener
Erfahrung, daß ich nur dann die Kraft habe, Heilungen zu
vollbringen, wenn meine Seele ein einziger Glaube ist an diesen
Menschensohn Jesus von Nazareth.« Er sprach so einfach, als ob er
sagte: Für diesen Golddariken kann ich Ihnen sechshundertzwölf
Sesterzien, ein As und zwei Unzen geben.
»Wenn der Bericht trotz seiner
Unwahrscheinlichkeit wahr klingt«, versuchte der Acher Josef zu
erklären, »dann wohl deshalb, weil ein
Prinzip und eine Wahrheit nicht
genügen, um die Welt zu begreifen. Es mögen die Taten und Meinungen
vieler Messiasse sein, von denen dieser Johannes-Markus berichtet,
wie sie in einem einzigen zusammengeflossen sind. Es wäre dann
vielleicht falsch, von historischer Wahrheit, aber es wäre ebenso
falsch, von Dichtung zu sprechen. Es ist beides in einem größeren
Dritten.«
Doktor Ben Ismael mit seiner
milden, tiefen Stimme fragte: »Bitte, deuten Sie mir aus, warum ist
Ihr Jesus von Nazareth gestorben?« – »Es geschah«, gab sachlich
Jakob aus Sekanja Auskunft, »um die Menschen von der Sünde Adams,
von der Erbsünde, zu erlösen. Denn es steht geschrieben: ›Das
Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an‹, und:
›Siehe, in der Sünde bin ich geboren worden, und in der Schuld
empfing mich meine Mutter‹.«
»So viel mag richtig sein«,
sinnierte Ben Ismael, »daß der Bock, den wir in die Wüste
schickten, und die fleckenlos reine rote Kuh, die wir opferten,
eine zu bequeme Lösung war.« – »Eine Doktorenlösung«, warf höhnisch
der Acher ein. Und Ben Ismael vollendete: »Es muß wohl wirklich ein
lebendiger Mensch sein.« Und alle, auch Josef, dachten an jenen
Versöhnungstag, da er sich mit Stab und Ranzen die Stufen des
Lehrhauses hinaufgeschleppt hatte.
Der Minäer Jakob, ohne die Stimme
zu heben, doch entschieden, berichtigte: »Jesus von Nazareth hat
die Sünde der ganzen Welt auf sich genommen, nicht nur eines Volkes.«
»Es ist eine gefährliche Lehre«,
überlegte Channah, »sie legt alles dem Heiligen auf die Knie. Sie
stellt vieles frei. Predigt sie nicht den Heiligen auf Kosten des
Gerechten? Und ist es nicht oft schwerer, gerecht zu leben als
heilig zu sterben?«
»Es scheint«, erwiderte trocken
Jakob, und man mußte scharf aufmerken, um den Spott herauszuhören,
»daß ihr mit eurer Gerechtigkeit nicht weit gekommen seid. War es
nicht aus Gerechtigkeit, daß ihr den Heiligen getötet habt? Und hat
nicht diese Gerechtigkeit dahin geführt, daß ihr habt zusehen
müssen, wie Jerusalem zerstört wurde?«
Josef dachte ärgerlich: Wo immer
Minäer sind, sprechen sie vom zerstörten Jerusalem. Ohne das
zerstörte Jerusalem gäbe es sie nicht.
Jakob entfernte sich bald, er wollte zurück
in sein Dorf Sekanja. Josef, nachdem er gegangen war, fragte Ben
Ismael: »Was ist es, mein Doktor und Herr, das Sie an der Lehre der
Minäer anzieht? Denn was dieser Mann las, ist ärmlich, und dennoch
hörten Sie mit Hingabe zu.«
Ben Ismael erwiderte: »Ich
glaube, Doktor Josef, wir sind zu überheblich; ich schäme mich des
Dünkels auf unser Wissen. Diese suchen Gott einfältigen Sinnes und
auf geradem Weg. Manchmal ist mir, als kämen sie Jahve näher als
wir mit unserer verschlungenen Gelehrsamkeit. Und dann halten diese
die Tür zu Jahve offen für alle Welt, während unsere Riten den
Zugang zu ihm immer enger und schwieriger machen.«
»Ich glaube, ich sehe, was Sie
meinen«, überlegte Josef. »Aber wie wirklich soll man es in Jabne
halten, nachdem die Römer die Beschneidung verboten haben? Was soll
man anfan gen mit einem Heiden, der zu uns herüber will? Soll man
ihm raten, die Beschneidung zu unterlassen und Todsünde zu begehen?
Oder soll man ihn beschneiden und heraufbeschwören, daß die Römer
Bekehrer und Bekehrten töten? Liegt es nicht an dem Zwang von
außen, wenn die Riten immer enger und nationalistischer
werden?«
»Es gibt Leute«, sagte der Acher,
»denen das Verbot der Beschneidung sehr gelegen kam. Der
Großdoktor, glaube ich, sah es nicht ungern. Es war ihm ein guter
Vorwand, die Lehre zu verengern.«
»Ich bin überzeugt«, eiferte die
heftige Channah, »am liebsten hätte er selber die Römer gebeten,
dieses Verbot zu erlassen. Er hat Furcht vor den Proselyten. Er
möchte sie fernhalten. Er hat Furcht vor allem Neuen, das in die
Lehre einströmen könnte. Ehe er Neues hineinnimmt, interpretiert er
hinaus, was noch an Tiefe und Reichtum in der Lehre ist. Kahl und
arm will er sie haben, übersichtlich. Ihre Gläubigen sollen eine
einzige, große Herde sein, bequem zu hüten, einer brav wie der
andere, einer wie der andere gestutzt, geglättet und gestriegelt.
Und er ist der Hirt, und das Kollegium ist der Hund, und wer nicht
pariert, wird geschlachtet.«
Ben Ismael strich mit der langen
Hand über die kahle Stirn, zupfte mit mechanischer Bewegung an
seinen Brauen, sie glättend. »Schilt nicht ins Blaue, liebe
Channah«, bat er. »Das Amt des Großdoktors ist schwer. Wir haben
die Neigung, uns zu vergießen über die ganze Erde. Es muß einer
dasein, der uns zusammenhält.«
»Da hören Sie ihn, Doktor Josef«,
klagte Channah. »Er verteidigt noch den, der ihn schlägt. Ja, die
Einheit der Lehre ist da, der eiserne Rahmen ist da, der das Gesetz
zusammenhält, aber er ist so eisern und eng, daß er alles totpreßt,
was an der Lehre lebendig ist. Sie wissen von jenem Versöhnungstag,
Doktor Josef? Da hat Ben Ismael den eisernen Rahmen zu spüren
bekommen.«
»Bleib vernünftig, Channah«,
mahnte die tiefe Stimme Ben Ismaels. »Es gibt kein Mittel, das
Judentum zusammenzuhalten, außer der strengen Gemeinsamkeit der
Bräuche und Werke. Man muß jeden einzelnen immerzu daran erinnern,
vom Morgen bis zum Abend, daß jetzt mit ihm zusammen fünf Millionen
andere den gleichen Gott anbeten. Er muß spüren, immerzu, daß er
ein Teil dieser fünf Millionen und ihres Geistes ist. Wenn nicht,
dann zerfällt das Volk und verschwindet.« – »Und jetzt ist über den
Bräuchen und Werken der Sinn und der Glaube verschwunden«,
konstatierte bitter der Acher.
»Vergeßt nicht«, beschwichtigte
Ben Ismael, »daß Gamaliel bisher keine einzige Äußerung gegen die
Minäer getan hat. Sie feiern die Feste mit uns, sie gehen in die
Synagogen, nichts und niemand wird unrein durch ihre Berührung.
Sooft die Kollegen Helbo oder Jesus oder Simon der Weber im Rat die
Frage anschneiden, wer alles unter den Begriff ›Leugner des
Prinzips‹ fällt, niemals äußert Gamaliel ein Wort, sie zu
unterstützen. Wenn heute die Lehre der Christen bloß als
›Abweichung‹ gilt und nicht als ›Leugnung des Prinzips‹, dann ist
es allein ihm zu danken; denn jeder weiß, daß die Reden der Herren
Kollegen nur auf die Minäer hinzielen. Aber er läßt sie reden und
zieht keine Folgerungen daraus. Gamaliel liebt die Christen nicht,
aber, das muß man ihm lassen, in dogmatischen Fragen denkt er
liberal, liberaler vielleicht als ich.« – »Weil er nichts davon
versteht«, konstatierte der Acher.
Channah aber richtete sich hoch.
»Ich will euch genau sagen, wie es kommen wird«, erklärte sie,
»Ihnen, Doktor Jannai, und dir, mein Ben Ismael, und ich rufe
diesen Doktor Josef zum Zeugen an, daß er meine Worte bestätige,
wenn sie eingetroffen sind. Die Herren Helbo und Jesus und Simon
der Weber werden noch oftmals im Kollegium darüber diskutieren, wo
die ›Leugnung des Prinzips‹ beginnt und wo sie aufhört, und alle
werden wissen, daß diese Reden auf die Minäer gemünzt sind, und
niemand wird sie ernst nehmen und Folgerungen daraus ziehen. Aber
wenn erst Gamaliel mit seinem Rahmen um das Gesetz fertig ist, dann
wird er darangehen, mit diesem Rahmen auch die Lehrmeinungen
totzuschlagen, die ihm nicht passen. Und dann werden auf einmal die
Diskussionen über die ›Leugnung des Prinzips‹ mehr sein als
theoretisches Geschwätz. Ich kenne meinen Bruder. Ich kenne ihn
besser als ihr. Ich kenne ihn aus der Zeit, da er ein kleiner Junge
war, und ich habe es erlebt, wie er auf jeden einschlug, der ihm
nicht seinen Willen tat. Er liebt die Minäer nicht. Ich weiß nicht,
auf welche Art er gegen sie vorgehen wird. Aber daß er es tun wird,
das weiß ich, und sicher sehr anders, als es irgend jemand
erwartet.« Channah sprach nicht laut, aber sie betonte jede
Silbe.
»Alle meine Freunde«, erwiderte,
jetzt etwas heftiger, Ben Ismael, »sind froh, daß die Minäer in der
Welt sind. Es ist gut, daß Jahve den Doktoren nicht allein gehört,
und es ist gut, daß Jahve den Juden nicht allein gehört. Und daß
diese Erkenntnis in der Welt bleibe, dafür ist die Lehre der
Christen gut. Niemals werden wir erlauben, daß ein Antrag gegen sie
durchgeht.«
»Natürlich werdet ihr euch
sträuben, mein Lieber«, erwiderte mit grimmiger Ruhe Channah, »sehr
heftig und mit triftigen Argumenten werdet ihr euch sträuben. Aber
dann wird Gamaliel wieder von der Einheit der Lehre zu reden
anfangen, und am Schluß wirst du einen zweiten Versöhnungstag
feiern.«
»Niemals«, sagte Ben Ismael.
Seine schönen, milden Augen waren fanatisch geworden, und sein
tiefes Niemals füllte lange den Raum.
»Wenn man seine Stimme hört«,
grollte Channah, aber durch ihren Groll hörte Josef ihre
Bewunderung und ihre Neigung, »dann glaubt man, er bleibe
unerschütterlich. Aber am Ende kommt doch alles, wie Gamaliel es
will. Dieser da«, wandte sie sich an Josef, auf den Acher weisend,
»ist zu hitzig, und dieser mein Mann weiß zuviel, und zuviel Wissen
macht unfähig zum Widerstand. Mein Bruder versteht nichts, aber er
weiß, was er will, und steckt sie alle mit dem Finger einer Hand in die Ärmel seines Kleides.«
»Noch nicht zwanzig von den
zweiundsiebzig Mitgliedern des Kollegiums würden einen Antrag gegen
die Minäer unterstützen«, sagte ruhig Ben Ismael. »Weil der
Großdoktor ihn noch nicht unterstützt«, eiferte Channah, »weil er
neutral bleibt. Laßt ihn erst sein Gesicht zeigen, und ihr werdet
sehen.«
Josef schaute von der kahlen,
mächtigen Stirn des Ben Ismael auf Channahs bewegtes Antlitz. Noch
hatte er das tiefe Niemals Ben Ismaels im Ohr. Dennoch schien ihm,
als sehe die Erbitterung Channahs weiter als die milde Zuversicht
ihres Gatten.
Channah wandte sich jetzt an ihn.
»Es gibt ein Mittel«, sagte sie, »den Sinn
und die Vielfalt der Lehre zu erhalten und sie vor übler
Nationalisierung zu schützen. Sie können uns helfen, Doktor Josef.
Helfen Sie.«
Josef wandte ihr ein höfliches
Gesicht zu, aber in seinem Herzen war Unbehagen. Wie sollte er
diesen helfen? Was wollte man von ihm?
Channah sprach weiter: »Die Römer
dulden unsere Schulen hier in Lud, aber sie anerkennen nicht die
Autorität unserer Lehren und Beschlüsse. Jabne kann von einem Tag
zum andern unsere Anstalten sperren. Sie haben Einfluß beim
Gouverneur, Doktor Josef. Erwirken Sie, daß Rom der Schule von Lud
in religiösen Fragen die gleiche Autorität zuerkennt wie der
Universität Jabne. Dann ist die Despotie meines Bruders gebrochen,
und für die Gebildeten unter den Juden ist griechische Dichtung und
Weisheit, für die Massen die Lehre der Minäer gerettet.«
Josefs erstes Unbehagen
verwandelte sich in eine große Betretenheit, fast in Schreck.
Wieder schob man ihm Entschlüsse zu, Verantwortung. Er war
gekommen, sich in Judäa neue Kraft zu holen für sein Wirken in der
Fremde. Jetzt verlangte Judäa Kraft von ihm, dem
Versagenden.
Man war lange zusammen gewesen,
schon machte Dämmerung die Wände verschwimmen und die Gesichter
undeutlich. »Es wäre schön«, kam durch diese Dämmerung die Stimme
des Acher, »hier in Lud eine Hochschule zu gründen, auf der nicht
über Gesetze und Bräuche disputiert wird, sondern über Gott und die
Lehren. Wo nicht der Priester und Jurist herrscht, sondern der
Prophet, wo man nicht formalistisch argumentiert, sondern sich
bemüht, Schauen und Denken zu vereinen, wo man forscht, was wohl
die alten Riten bedeuten, und nicht um ihre Äußerlichkeiten hadert.
Wo man den hellen Philo ergänzt durch den dunkeln Kohelet und den
dunkeln Hiob. Ich könnte mir vorstellen, daß man von hier aus
wirklich jüdischen Geist in die Welt sendet und ihn erweitert,
statt ihn zu verengen. Es müßte eine Hochschule sein, die Jahve
nicht als Erbteil Israels, sondern als Gott der ganzen Welt
verkündet und die Judentum, Minäertum, Griechentum dreieinig
verbindet.«
Man sah wenig mehr von dem
fleischigen, traurigen Gesicht des Acher, und in seinen Worten war
nichts von jener spielerischen Ironie, hinter welcher er sein
inneres Pathos zu verstecken pflegte. Josef dachte an die Verse,
die er gelesen, an diese geheimnisvollen, bitteren Prophezeiungen
vom Jüngsten Gericht. Dieser Prophet, dieser Dichter und Besessene,
war anders, als sonst Propheten waren. Er trug nicht groben Filz
und nährte sich nicht von Beeren und Heuschrecken, vielmehr nährte
er seinen fetten Körper mit erlesenen Speisen, pflegte ihn mit
Bädern und Essenzen und hielt sich eine schöne, dunkelbraune Frau
für sein Bett. Aber was aus ihm sprach, war darum nicht minder wild
und inbrünstig als die Stimme derjenigen, die in der Wüste schrien.
Josef spürte, wie heiß der junge Mensch um ihn warb, wie sehr er
seine Zustimmung für die Hochschule von Lud ersehnte. Er spürte,
wie begierig Ben Ismael auf seine Antwort wartete. Es wäre
herrlich, mit Männern wie diesen zusammenzuarbeiten. Es wäre gut,
in die eigene, helle Nüchternheit etwas von der erregenden
Dunkelheit dieses jungen Menschen, von der milden Weisheit dieses
älteren zu gießen. Sehr drängte es ihn, zu sagen: Ja, wir wollen
hier eine Universität gründen von Juden, Griechen und Römern, eine
Lehrschule für Weltbürger. Ich selber will hier bleiben. Laßt mich
mit euch arbeiten.
Aber er war nicht mehr jung
genug. Die Zweifel ringsum, die Müdigkeit, die Trauer des besiegten
Landes waren ihm kein Ansporn, sie zu vertreiben, sie steckten ihn
an und drückten ihn nieder. Wäre er dem Acher oder dem Ben Ismael
wenige Jahre früher begegnet, er hätte wohl ja gesagt. Jetzt
schwieg er.
Es war kein langes Schweigen.
Doch auf eine so dringliche Werbung war nur ein schnelles, heißes
Ja möglich, jedes Zögern war ein Nein. Die großen, träumenden Worte
des Acher waren denn auch noch im Raum, als alle bereits spürten,
daß Josef sich versagte.
Es war Ben Ismael, der ihn einer
Antwort enthob und die Peinlichkeit seines Schweigens endete.
»Kommen Sie zurück in die Wirklichkeit, mein Jannai«, mahnte er den
Acher. Und dann brachte man Licht und sprach von Dingen des
Alltags.
Auf dem Gut des Pedan hatte man Josef gesagt,
der Hauptmann sei zur Jahresmesse nach Emmaus gefahren. Josef
wollte seinen Besuch nicht länger hinausschieben und ritt
hin.
Er hatte Emmaus als einen
hübschen, kleinen Kurort in Erinnerung; er fand eine ansehnliche,
lärmende Stadt. Hier hatte Flavius Silva das Gros jener
Frontsoldaten angesiedelt, die nach Beendigung des Krieges, den
Dienst quittierend, im Lande hatten bleiben wollen. Die Heilquellen
hatte man mit einer modernen griechischen Badeanstalt umgeben, die
Stadthalle und ihr Platz, das Zentrum der Messe, hätte ebensogut
irgendwo in Griechenland liegen können wie in Judäa. Josef suchte
die berühmte Säule, die an den Sieg erinnerte, den Juda Makkabi
hier errungen hatte. Aber er fand die Säule nicht; sie war verdeckt
von der Bude eines Schaustellers, der ein Kamel auf einem Schaffe
tanzen ließ.
Josef ließ sich bei Pedan melden.
Er hörte ihn quäken und sich lärmend mit dem Leibeigenen
unterhalten, ob er den Juden nicht lieber hinausschmeißen solle.
Schließlich wurde Josef in ein großes, unordentliches Zimmer
geführt. Der Hauptmann, halbnackt, musterte ihn interessiert aus
dem blinzelnden, blauen und dem toten Glasaug über der frechen,
weitnüstrigen Nase. »Flavius Josephus«, quäkte er, »der Herr
Nachbar persönlich. Bisher habe ich nur das Vergnügen mit Ihrem
Herrn Verwalter gehabt. Ein unausstehlicher Herr, Ihr Herr
Verwalter. Liegt mir immer in den Ohren mit seiner verdammten
Wasserleitung. Freut mich, einmal auch Sie kennenzulernen. Das
heißt, eigentlich kennen wir uns ja vom Sehen, aus dem Krieg her.
Erinnern sich aber wohl nicht gerne daran. Man hat mir gesagt, daß
Sie in Ihrem Buch, um das sie soviel Lärm machen, den Hauptmann
Pedan mit keiner Silbe erwähnen. Werden schon wissen, warum. Ich
und der Walfisch, wir können’s uns auch denken. Ich kann es
verschmerzen. War nie ein großer Freund von Büchern. Am Wort läßt
sich drehen und deuteln. Auf die Tat kommt es an, nicht wahr? Die
bleibt.
Kommen mir, offen gestanden, im
Augenblick nicht sehr gelegen. Man hat seine Sechzig auf dem
Buckel, wer weiß, wie lange man es noch treibt. Bei so einer Messe
will man sein Teil mitnehmen. Man will ausprobieren, Weine,
Mädchen. Habe mir da eine Leibeigene reservieren lassen,
unverschämt teuer, aber ich glaube, ich werde sie doch kaufen. Ich
sage Ihnen, ein Rücken, erstklassig. Übrigens eine Landsmännin von
Ihnen.
Setzen Sie sich. Lassen Sie sich
anschauen. Haben sich nicht viel verändert, soweit ich mich an Ihr
Gesicht erinnere. Wir haben es beide inzwischen zu allerhand
gebracht. Ich wenigstens lebe hier angesehen und bequem. Man ist
Herr im Land, und es tut wohl, zu wissen, daß man selber sein gut
Teil zu dieser Herrenhaftigkeit beigetragen hat. Aber jetzt
erzählen Sie, Flavius Josephus. Wie fühlen
Sie sich, wenn Sie sich das da wieder einmal anschauen?«
»Das da«, sagte der Mann. Konnte
man sich frecheren Hohn vorstellen? Das da hatten die Soldaten den
Tempel genannt, das Weiß und Goldene, das sich so lange stolz und
unerreichbar vor ihnen gehoben hatte. Die Gier, das da
herunterzureißen und unter ihre Stiefel zu treten, hatte sie
halbverrückt gemacht, und schließlich hatte die rote, plumpe Hand
dieses Hauptmanns Pedan das da wirklich heruntergerissen.
Josef sah auf die Hand. Sie war
breit, bläulichrot, mit vielen weißlichblonden Härchen, häßlich,
ungeschlacht. Aber lebendig war sie, die Hand; sicher verstand sie
auch heute noch, gut zu packen und gut zuzuschlagen. Josef
betrachtete den Mann, der zu der Hand gehörte. Der Mann ging vor
ihm auf und ab, breit, sich wiegend, vierschrötig, mit nacktem,
rotem Gesicht, das Haar blond, stark angegraut.
Er trug nur das Unterkleid,
vielleicht kam er gerade aus einer Umarmung. Pedan, der Träger des
Graskranzes, der höchsten Auszeichnung, die ein Soldat erringen
konnte, durfte es sich leisten, ihn so zu empfangen; er hätte wohl
den Gouverneur selber so empfangen. Er hielt sich für den ersten
Mann der Provinz, vielleicht war er es auch. Die geheimnisvolle
Furchtbarkeit, die seit dem Krieg um ihn war, zeichnete ihn noch
mehr aus als der Graskranz; denn trotz des Freispruchs vor dem
Kriegsgericht wußte alle Welt, daß er es war, der die
Brandfackel in den Tempel geworfen
hatte.
So also ging Pedan seit zehn
Jahren hier im Land herum und sonnte sich frech in jenem Feuer. Wie
ertrugen die Juden in Emmaus, Gazara, Lud den Anblick dieser Hand,
dieses nackten Gesichts, das Gequäk dieses Mundes? Wie konnte er
selber, Josef, es ertragen?
»Soweit ich es bis jetzt
beurteilen kann, Hauptmann Pedan«, sagte er und bemühte sich, kalt
zu sprechen, »scheint mir hier die Gegend fruchtbar und das Klima
gut. Unsere Besitzungen, die Ihren und die meinen, scheinen zu
gedeihen. Sie könnten freilich, sagt mir mein Verwalter, noch
besser gedeihen, wenn endlich die Frage der Wasserleitung
vernünftig geregelt würde.«
Der berühmte Zenturio der Fünften
lachte hell, schallend. »Da hat Ihr Herr Verwalter wahrscheinlich
recht, Flavius Josephus«, sagte er gemütlich. »Aber sehen Sie, ich
will nicht, daß die Frage der Wasserleitung vernünftig geregelt
wird. Ich hätte dabei zu gewinnen, stimmt. Aber Ihr famoser Herr
Verwalter hätte noch mehr zu gewinnen. Und, denken Sie an, das paßt
mir nicht.« Er blinzelte Josef aus seinem lebendigen, blauen Auge
zu, groß und drohend starrte das gläserne; Kritias hatte es
angefertigt, der beste jener Spezialisten, die den Statuen Augen
einpaßten. »Man hat mir gesagt«, fuhr er fort, »Sie verstünden
einiges vom römischen Kriegswesen, mein Flavius Josephus: aber den
Hauptmann Pedan scheinen Sie nicht zu verstehen. Der alte Kaiser
Vespasian und der Walfisch haben mich mehrmals dringlich
eingeladen, nach Italien zu kommen. Die Stadt Verona, in der ich
geboren bin, ist eine schöne Stadt, und wenn sich der Träger des
Graskranzes mit seinem guten Stück Geld dort niederließe, beim
Herkules, er hätte ein höllisch angenehmes Leben. Warum, mein
Flavius Josephus, sachverständiger Schilderer der römischen Armee,
zieht er es vor, hier in Ihrem lausigen Judäa zu bleiben und sich
mit Ihrem Herrn Verwalter herumzustreiten, den er nicht einmal auf
gut römisch mit seinem Rebstock über den Kopf hauen kann? Da stehen
Sie, sehr gelehrter Herr, und wissen keine Antwort.«
Er trat an Josef heran und
brachte sein nacktes, rosiges Gesicht so nahe an ihn, daß Josef
seinen Atem roch, die Ausdünstung seines fleischigen Körpers. »Ich
bin hier«, sagte er, »weil zwar das da im Staube liegt, weil aber
immer noch viel zuviel von euch steht. Sie haben seit einiger Zeit
ein neues Wort in Rom, das heißt ›Humanität‹. Das ist ein dummes
Wort, ich mag es nicht, man kommt nicht weiter damit. Vor allem
nicht, wenn man es mit euch zu tun hat. Euch hätte man zertrampeln
müssen, damals. Aber in Rom haben sie es mit ihrer verdammten
Humanität und sagen nein und quasseln, man müsse unterscheiden
zwischen Staat und Religion, und die Religion sei erlaubt. Das habt
ihr ihnen eingegiftet, ihr Bande. Ihr seid höllisch schlau. Habt
ihr Triumph geheult, wie eure Berenike in Rom erschien, um den
Walfisch zu angeln? Das haben euch ja nun die Götter glücklich
versalzen. Aber ihr seid so zäh wie schlau, und mit euch kann man
nicht vorsichtig genug sein. Und, sehen Sie, darum bin ich hier.
Ich bin nämlich nicht für Humanität. Ich bin dafür, daß man das,
was man nicht mag, ausreißt, ausrottet, austilgt, zertrampelt. Wenn
ihr uns nicht gleich wieder über den Kopf wachsen sollt, muß ein
Mann wie ich dasein. Schauen Sie sich unser Emmaus an. Es sind eine
Menge Kameraden hier, Leute aus der Fünften, Offiziere und
Mannschaften, Kerls, die sich sehen lassen können. Aber mit so
listigen, leisen Burschen wie euch werden sie hier nicht fertig.
Wenn ich nicht wäre, dann hätten sie sich vielleicht von euch
breitschlagen lassen und hätten die gemeinsame Wasserleitung
gelegt, weil es auf der Hand liegt, daß da für uns eine halbe
Million Ersparnis im Jahr herausspringt. Aber daß für euch
anderthalb Millionen herausspringen und daß ihr uns auf diese Art
in zehn Jahren wieder unten habt, das sehen meine gutmütigen Fünfer
nicht von allein, da muß man ihnen erst den Kopf darauf stoßen. Und
dazu, mein verehrter Flavius Josephus, sitze ich in diesem lausigen
Emmaus statt in meinem schönen Verona. Verstanden? Ich mag euch
nicht, und ich hoffe, der Tag wird kommen, an dem man euch
zertrampelt, und ich will dabeisein.«
Der Hauptmann schnaufte. Er hatte
eine lange Rede gehalten, eine gute Rede, fand er, und es hatte ihn
erfrischt, sie gerade diesem schweigsamen Burschen in sein hageres,
bärtiges Judengesicht hinein zu halten. Von unten herauf kam der
Lärm der Meßgäste. Fernher irgendwo stieg das berühmte Lied der
Fünften Legion in die Luft: »Wozu ist unsre Fünfte gut? / Der
Legionär macht alles: / Kriege führt er, Wäsche wäscht er, / Throne
stürzt er, Suppe kocht er ... / Unsre Fünfte, die macht
alles.«
Josef hatte immer gewußt, daß in
diesem Manne aller Haß Esaus gegen Jakob sich gesammelt hatte. Was
hatte dem Pedan das Wasser getan, das seine Bäume und Felder
wässern sollte? Aber er haßte es, nur weil es auch die Bäume und
Felder des Juden zu wässern bestimmt war. Es war nicht angenehm,
soviel schmutzigen Triumph aus diesem frechen Maul quäken zu hören.
Aber man sah, was für ein weiter Weg es war, ehe man sich mit denen
verständigen konnte, zu denen dieser Pedan gehörte, und das zu
sehen war nützlich. »Es scheint«, sagte Josef, und es war nicht
einmal Ironie in seinen Worten, »daß es noch eine Weile dauern
wird, ehe man sich über die Frage der Wasserleitung verständigt.« –
»Es scheint so«, sagte grinsend der Hauptmann Pedan.
Der römische Wachtposten auf dem Hügel
Schönblick im Norden der Stätte, wo vor zehn Jahren Jerusalem
gestanden, hörte plötzlich zu gähnen auf, schaute schärfer.
Wahrhaftig, der Mann ritt weiter, kam heran. Dabei sah man jetzt
deutlich, wie jüdisch sein Gesicht ausschaute. Vielleicht gab es
einen Spaß, vielleicht, wenn er nicht gute Ausweise bei sich trug,
konnte man ihn körperlich untersuchen, ob er noch seine Vorhaut
habe. Denn, wie die Inschrift hier nebenan lateinisch, griechisch,
aramäisch besagte, Juden durften das Gebiet der früheren Stadt
Jerusalem nicht betreten, und hier weiterzugehen war ihnen bei
Todesstrafe verboten. Manchmal hatten sich die Soldaten den Witz
geleistet, Leute, hinter denen sie Juden vermuteten, weitergehen zu
lassen und sie dann erst zu untersuchen. Zweimal in den zehn Jahren
hatte sich herausgestellt, daß wirklich Juden in das verbotene
Gebiet eingedrungen waren.
Der Reiter war inzwischen näher
gekommen, ein Mann in den Vierzig, von stark jüdischem Aussehen,
einfach gekleidet. Er ritt geradewegs auf den Wachsoldaten los. War
er ein Narr? Jetzt hielt er an und gab den Gruß. Der Soldat war
gutmütig aufgelegt. »Hau ab, Mensch«, sagte er, mit dem Kopf auf
die steinerne Inschrift weisend.
Die andern waren inzwischen aus
der Wachbaracke herausgekommen. Der Mann zog ein Papier aus der
Tasche und hielt es dem Soldaten hin. »Rufen Sie Ihren Hauptmann«,
sagte er. Da das Papier das Siegel des Gouverneurs trug, rief man
den Hauptmann. Der, nachdem er das Papier gelesen hatte, machte die
Ehrenbezeigung. »Darf ich Sie zum Obersten begleiten, mein Flavius
Josephus?« fragte er. Die Soldaten schauten sich an. Sie kannten
den Namen. Es war, seitdem sie hier Quartier bezogen hatten, das
erstemal, daß ein Jude die Stätte betrat.
Das Schreiben des Gouverneurs gab
Order, Josef, wo immer er sich auf dem Gebiet des früheren
Jerusalem ergehen wolle, passieren zu lassen und ihm in jeder Weise
behilflich zu sein. Der Lagerkommandant, Oberst Gellius, nicht
recht wissend, was er mit seinem vornehmen und unbequemen Gast
anfangen sollte, bot ihm die Begleitung eines Offiziers an; aber
Josef lehnte höflich ab.
Er strich durch die Hitze und
Ödnis, allein. Als er vor zehn Jahren hatte mit ansehen müssen, wie
über einen Teil der halbzerstörten Stadt dem Brauch gemäß der Pflug
geführt wurde, war ihm gewesen, als ginge der Pflug über ihn
selber. Doch die Ödnis und Verlorenheit, die er heute sah, schien
ihm schlimmer. Was damals geschah, hatte einen hochgeschleudert und
wieder in die Tiefe geworfen: die Stätte, wie sie heute war, schien
einen einschlingen zu wollen in ihre Wüstheit und Leere, und
niemals wird, wer sie sah, sich wieder befreien können von der
lähmenden Traurigkeit ihres Anblicks.
Josef wanderte, den Schritt immer
schleppender, hügelauf, hügelab. Von der ganzen, großen Stadt
standen nur mehr die Türme Phasael, Mariamne und Hippikus und ein
Teil der Westmauer; das hatte Titus seinerzeit stehenlassen zum
Zeichen, wie herrlich befestigt dieses Jerusalem gewesen war, das
seinem Glück hatte erliegen müssen. Alles sonst war mit Kunst und
Energie dem Erdboden im Wortsinn gleichgemacht. Hacken, Spaten,
Maschinen der Römer hatten sicher harte Arbeit gehabt, ehe sie die
Riesenquadern des Tempels und der vielen Paläste so für die
Ewigkeit hatten kaputtschlagen können. Ganz und gründlich hatten
sie ihr Werk getan, das mußte man ihnen lassen. Fußhoch lag der
graue, gelbliche Schutt; der feine Staub drang durch die Kleider in
die Haut, füllte Mund, Nase und Ohren, Schutt überall, und darüber
die flirrende, grelle, heiße Luft. Josefs Aug und sein Fuß suchten
nach Erde, nach ein wenig guter, nackter Erde. Aber er fand nichts
als den gelblichgrauen, gelblichweißen Staub. Selten einmal, daß
dazwischen grasiges Unkraut sich hervorwagte oder daß aus dem
zertrümmerten Stein ein kleiner, frecher Feigenbaum
herausknorrte.
Mit Mühe, gedrückt, Fuß vor Fuß
unsicher ins Geröll setzend, suchte Josef seinen Weg. Wenn einer,
dann kannte er sein Jerusalem: aber nicht einmal mehr die
Straßenzeilen waren zu erkennen; er konnte sich nur an den Hügeln
und Tälern orientieren und an den spärlichen Wasserstätten, die die
Soldaten nicht hatten verschütten können, weil sie sie
brauchten.
Er klomm hinauf in den
Tempelbezirk, über viele Unebenheiten, stolpernd, den Kopf zum
Boden gesenkt. Oben hockte er nieder. Hier hatten zuerst
Statthalter der Pharaonen gesessen, dann Häuptlinge der Jebusiter,
dann hatte König David Burg und Stadt erobert. Mehrmals waren die
Mauern geschleift worden, zuletzt hatte Babel sie zerstört, aber
niemals seit Tausenden von Jahren war die Stätte so trostlos wüst
gelegen wie jetzt. Erschütternd nackt ragte der Fels heraus, auf
dem einst Abraham den Isaak hatte opfern sollen, der Nabel der
Welt, von dem aus sie gegründet wurde, das Allerheiligste, das,
Hunderte von Jahren hindurch, niemand hatte betreten dürfen, nur
der Erzpriester am Versöhnungstag. Jetzt war der Fels wieder nackt,
wie er vor zwei- oder dreitausend Jahren gewesen sein mochte,
nichts darüber als der leere, blaue Himmel, nichts ringsum als
Schutt und die römischen Soldaten, die diese Ödnis zu bewachen
hatten, auf daß sie öd bleibe für die Ewigkeit.
Es war brütend heiß, die Luft
flirrte, Mücken summten. Ein häßlicher Hund, er gehörte wohl einem
der Soldaten, lief über den Schutt, dem Allerheiligsten zu, und
bekläffte bösartig den einsamen Mann. Der kauerte da, den Mund halb
offen, die Glieder schwer, über und über bestaubt. In ihm waren die
maßlosen Klageverse des Jeremias. »Ach und weh, wie hockt verlassen
die Stadt, die volkreiche, einer Witwe gleich, die Herrin über die
Völker. Sie heult in der Nacht, ihre Tränen bleiben auf ihren
Wangen, niemand tröstet sie von allen ihren Freunden. Weicht aus,
unrein, ruft man vor ihr, weicht aus, rührt sie nicht an. Es reißen
ihren Mund auf über sie alle ihre Feinde, pfeifen, zeigen
hohnjubelnd ihre Zähne: der haben wir’s gegeben, die ist hin. Ach
und weh. Jahve brach wie ein Dieb in sein eigenes Haus und zertrat
seinen Festplatz.« Nicht jedermann ist es gegeben, daß ihm alte
Verse Bilder und eigenes Gut werden. Dem Josef aber in dieser
Stunde wurde die verschollene Klage Bild und ewiger Besitz, nicht
mehr trennbar von seinem Wesen.
Staubig inmitten des mißfarbenen
Schuttes sank er immer kleiner in sich zusammen, immer tiefer drang
die Wüstheit des Ortes in ihn ein. Ein bohrendes Fragen war in ihm:
warum? Warum brach Jahve ein wie ein Dieb in sein eigenes Haus?
Josef kennt die Zusammenhänge. Er weiß genau, wie Titus die
Zerstörung des Tempels gewollt und doch nicht gewollt hat. Es war
klar, Titus war nur ein Werkzeug. Und es war lächerlich, zu
glauben, daß dieser Hauptmann Pedan, die scheußliche Hand, die den
Feuerbrand geworfen, mehr war als ein Werkzeug. Warum also? Die
Antwort der Römer taugt nichts, und nichts die Antwort der
Doktoren, und nichts die Antwort der Minäer. Schuld war da, soviel
war gewiß, in Rom und in Judäa, unter den Doktoren und unter dem
Volk, und Schuld, ungeheure, war in ihm selber. »Ja und ja, ich
habe gesündigt, ja und ja, ich habe gefrevelt, ja und ja, ich habe
gefehlt.« Aber wo begann die Schuld, und wo endete sie?
Ein scharfes Schmettern riß ihn
hoch. Einen winzigen Augenblick lang dachte er, es sei die
Magrepha, die hunderttonige Schaufelpfeife, die früher von hier aus
mit ihrem Gedröhn den Beginn des Tempeldienstes verkündet hatte,
hörbar bis Jericho. Aber dann sah er, daß es die Hörner und
Trompeten waren, die das Ende des militärischen Tages ankündigten.
Sie schmetterten über die Wüstenei, einiges Gelärm war, Aufziehen
und Ablösen von Wachen, Kommandorufe. Dann dämmerte es. Josef
machte sich auf den Heimweg, zerschlagen.
Oberst Gellius und seine Soldaten
waren froh, als sie den sonderbaren Gast fortreiten
sahen.
Jetzt endlich, nachdem er soviel
vom Lande gesehen, entschloß sich Josef, Jabne aufzusuchen, die
Stadt, die nach dem Fall Jerusalems den Juden als ihre Hauptstadt
galt; denn hier war der Sitz der jüdischen Universität und des
Großen Rats.
Josefs Ankunft erregte die
Doktoren und die Bevölkerung. Was sollte man tun? War der Bann noch
wirksam, den einstmals Jerusalem gegen ihn ausgesprochen hatte? Man
wußte natürlich, daß er in der Stadt Lud mit Ben Ismael, mit dem
Acher und mit dem Minäer Jakob freundschaftlichen Verkehr gepflogen
hatte. Er hatte vieles getan, dessenthalb man ihn vor das Gericht
der Doktoren hätte zitieren und aus dem Judentum ausschließen
können. Wenn man Doktor Jannai zum Acher, zum Ketzer gestempelt
hatte, dann war dieser Josef Ben Matthias der Erzketzer.
Andernteils war er in Rom mehrmals und mit Erfolg für die
Gesamtheit der Juden, auch für die Universität eingetreten. Seine
Gegenwart in Jabne war erregend, unbehaglich.
Der Großdoktor löste das Problem
rasch und entschieden. Er lud Josef auf ungewöhnlich höfliche und
herzliche Art zur Mahlzeit.
Josef war voll unruhig gespannter
Erwartung, als was für eine Art Mann sich dieser Gamaliel erweisen
werde, den die Juden zu ihrem Führer gewählt und den die Römer als
solchen anerkannt hatten. Des Großdoktors Vater war Vizekanzler
jener nationalen Jerusalemer Regierung gewesen, die vergeblich
versucht hatte, den Josef abzuberufen, als er Kommissar in Galiläa
war. Später dann war dieser gewalttätige Doktor Simon auf grausige
Art umgekommen; der fanatisierte Pöbel, dem er noch immer nicht
patriotisch genug gewesen, hatte ihn auf wüste Art zu Tode
mißhandelt. Gamaliel war damals fast noch ein Knabe gewesen, er
hatte soeben erst die geheimnisvollen Weihen des zum Erzpriester
Bestimmten erhalten; denn als Sprößling eines uralten
Adelsgeschlechts und als Nach fahr Hillels, des größten der
Doktoren, wurde er von früh auf zum Herrschen erzogen. Jochanan Ben
Sakkai hatte damals mit List und Energie bei den Römern freies
Geleit für ihn erwirkt und ihn aus der belagerten Stadt gerettet.
Es war natürlich, daß man nach dem Tod Jochanan Ben Sakkais ihm das
Präsidium des Kollegiums von Jabne übertrug. Was Josef über die
Amtsführung des neuen Großdoktors gehört hatte, war
widerspruchsvoll. Viele haßten, wenige liebten, fast alle achteten
ihn.
Gamaliel kam Josef mit schnellem
Schritt entgegen, begrüßte ihn respektvoll, umarmte ihn, küßte ihn,
nannte ihn »Mein Doktor und Herr«. »Es war Feindschaft zwischen
meinem Vater und Ihnen«, sagte er. »Ich habe mit Befriedigung
gelesen, mit welch ritterlicher Sachlichkeit Sie in Ihrem Buch von
meinem Vater sprechen. Ich danke Ihnen.« Josef freute sich, daß er
sich nicht hatte hinreißen lassen, heftiger über den gewalttätigen
Doktor Simon zu schreiben.
Gamaliel war wenig über Dreißig.
Josef wunderte sich, wie außerordentlich jung er aussah. Stattlich,
von angenehmen, beherrschten Bewegungen, hatte er ein offenes,
dunkelhäutiges Gesicht mit lebhaften, sehr gewölbten, braunen
Augen; ein kurzer, rotbrauner Bart, viereckig, kantig geschnitten,
zeigte mehr, als daß er es versteckte, das starke Kinn und den
fleischigen Mund mit den großen, etwas auseinanderstehenden
Zähnen.
Der Vorhang, der den Speiseraum
abschloß, wurde hochgezogen, man ging zu Tisch. Die Räume waren
weit, die Möbel, die Zurichtung der Tafel fürstlich; an den Wänden,
auf dem Mosaik des Fußbodens, auf den Platten und Schüsseln war das
Emblem Israels, die Weintraube. Der Großdoktor und seine Umgebung
paßten zueinander; Josef sagte sich, daß Gamaliel auch im Senat von
Rom gute Figur machen würde.
»Ich höre«, wandte sich Gamaliel
jetzt mit scherzhafter Offenheit an Josef, dem er den Ehrenplatz
auf dem mittleren Speisesofa angewiesen hatte, »daß meine Doktoren
Ihnen bei Ihrer Ankunft allerhand Schwierigkeiten gemacht haben.
Man hat es nicht immer leicht mit meinen Doktoren«, seufzte er
lächelnd, unbekümmert darum, daß einige der Herren da waren. »Das
weiß niemand besser als der Mann, der ihnen zu präsidieren hat. Sie
haben für alles und in jeder Situation Argumente an der Hand. ›Sie
dienen mir mit triftigen Beweisen‹«, zitierte er griechisch den
Aristophanes, »›daß füglich und mit Recht der Sohn den Vater
prügeln darf.‹«
»Belehren Sie, bitte«, sagte
höflich Josef, »einen Mann, der durch zehnjährige Abwesenheit
seinem Vaterland fremd geworden ist, wie es kommt, daß Sie
griechische Schriften verbieten und selber griechische Verse
zitieren.«
»Mein verehrter Flavius
Josephus«, erwiderte in geläufigem Griechisch der Großdoktor, »die
Politik zwingt uns, immerzu mit Griechen und Römern zu verkehren.
Wir erlauben also nicht nur unsern Politikern, sondern wir machen
es ihnen zur Pflicht, Griechisch zu studieren. Es ist freilich
nicht immer leicht, abzugrenzen, wer diese Erlaubnis haben soll.
Aber wir sind da nicht kleinlich. Wir haben es zum Beispiel auch
gerne gesehen, daß Ihr Freund Jannai, genannt der Acher, sich mit
griechischer Bildung befaßte. Höchstwahrscheinlich muß ich mit
einigen meiner Herren in absehbarer Zeit selber nach Rom, um bei
Hofe gewisse dringliche Geschäfte der Universität zu betreiben. Ich
glaube, es wäre da nicht förderlich, wenn wir nur aramäisch
sprächen. Übrigens jammern mir schon jetzt einige meiner Doktoren
die Ohren voll über die Todsünde, am Sabbat auf See zu sein. Aber
ich denke, die Wiederaufrichtung Judäas ist zwei oder drei Sabbate
auf See wert.«
Als Josef sich nach der Mahlzeit
mit den andern entfernen wollte, hielt ihn der Großdoktor mit
höflicher Dringlichkeit zurück. Josef blieb. »Sagen Sie, mein
Doktor Josef«, bat ihn Gamaliel mit der Vertraulichkeit, mit der
ein großer Herr den Gleichgestellten fragt, »hat man Ihnen viel
über mein despotisches Regiment vorgejammert? Bin ich ein jüdischer
Caligula, ein jüdischer Nero?« – »Viele sprechen von Ihrer
Tyrannei«, sagte behutsam Josef. »Würden Sie«, sagte der
Großdoktor, »nach den andern auch mir erlauben, mich über meine
despotischen Prinzipien zu äußern? Mir liegt daran, gerade Ihnen
nicht in falschem Licht zu erscheinen. Ich weiß, ich darf Sie
eigentlich nicht mehr zu den Unsern rechnen; ich müßte Sie, ginge
ich nach dem Buchstaben, als Ketzer vor mein Gericht ziehen. Aber
ich bin kein Narr, ich sehe die Menschen, wie sie sind, und ich
möchte mit jenem Griechenkönig zu Ihnen sagen: ›Da du bist, wie du
bist, möchte ich, du wärest einer der Unsern.‹«
Er war aufgestanden, bat aber den
Josef, liegenzubleiben, lehnte an einem Türpfeiler, hielt eine
Rede. Doch sprach er so schlicht, daß, was er sagte, nicht
rednerisch wirkte, sondern als Erklärung von einem Mann zum andern.
»Meine Gegner werfen mir vor«, begann er, »daß ich auf den
Universalismus verzichte, den die Lehre vorschreibt. Ich verzichte
nicht. Aber ich weiß, daß es zur Zeit unmöglich ist, diesen
Universalismus in Wirklichkeit umzusetzen. Es sind in der Lehre
Vorschriften, die jedes Zeitalter erfüllen kann, und Vorschriften
so idealer Art, daß sie erst erfüllt werden können, wenn der
Messias erschienen ist und der Wolf neben dem Lamme weidet. Ich
habe mir den Wolf genau angeschaut: er bezeigt vorläufig wenig
Neigung dazu. Das Lamm tut also gut, sich vorzusehen.
Ich kenne meinen Philo und weiß,
das letzte Ziel bleibt, die Welt mit jüdischem Geist zu erfüllen.
Aber bevor man das kann, muß man erst einmal zusehen, den jüdischen
Geist vor dem Verschwinden zu bewahren; denn er ist sehr gefährdet.
Zu Jesajas hat Jahve gesagt: ›Es ist ein Geringes, daß du die
Stämme Jakobs aufrichtest und mir die Bewahrten Israels erhältst.
Vielmehr habe ich dich auch zum Licht der Heiden bestimmt, daß du
mein Heil verbreitest über alle Erde.‹ Ich bin kein Jesajas. Ich
begnüge mich mit dem ›Geringen‹. Für mich ist es kein Geringes, für
mich ist es sehr schwer. ›Richtet einen Zaun auf um das Gesetz‹,
hat Jochanan Ben Sakkai gelehrt, und das ist mein Amt, und den Zaun
will ich aufrichten, und über den Zaun sehe ich nicht hinaus und
will es auch nicht. Ich bin nicht hierhergestellt, um
Weltgeschichte zu machen. Ich kann nicht auf die nächsten fünf
Jahrtausende hinausdenken. Ich bin froh, wenn ich die Judenheit
über die nächsten dreißig Jahre hinwegbringe. Mein Amt ist es, daß
die fünf Millionen Juden der Erde Jahve weiter verehren dürfen wie
bisher, daß das Volk Israel erhalten bleibt, daß die mündliche
Lehre unverfälscht an die Späteren weitergegeben wird, wie sie mir
überliefert wurde. Aber nicht mein Amt ist es, dafür zu sorgen, daß
Jahve in der Welt herrscht. Das ist seine eigene Sache.« Josef
hörte zu. Er bemühte sich, das weise und traurige Gesicht Ben
Ismaels im Geist vor sich hinzustellen, die große, kahle Stirn, die
milden, fanatischen Augen. Aber es wurde zugedeckt von dem
dunkelbraunen, tatkräftigen Antlitz des Großdoktors, und es gelang
Josef auch nicht, die tiefe Stimme Ben Ismaels mit seinem innern
Ohr zu hören. Vielmehr hörte er nur die klare Stimme Gamaliels, die
ihn an die Stimme des Titus erinnerte, wenn der von militärischen
Dingen sprach.
»Ich bin Politiker«, fuhr diese
Stimme fort, »das wirft man mir vor. Ja, ich bin es. Ich gebe ohne
weiteres zu, mich interessiert die Organisation des Kollegiums mehr
als die Frage, ob ein Ei, das am Sabbat gelegt wurde, gegessen
werden darf oder nicht. Worauf es mir ankommt, ist, daß darüber
nicht sechs oder auch nur zwei Meinungen Gesetzeskraft haben,
sondern eine. Ich möchte, daß das Ei
entweder überall gegessen werden darf, in Rom und in Alexandrien
und in Jabne, oder nirgends; aber nicht, daß Doktor Perachja es
verbietet und Doktor Ben Ismael es erlaubt. Leider ist diese
Einheit bei der Art unserer Doktoren nur durch Despotie zu
erzielen. Wenn der Hirte lahm ist, sagt das Sprichwort, laufen die
Ziegen auseinander. Ich lasse meine Ziegen nicht
auseinanderlaufen.
Ich habe Ben Ismael gesagt: Ich
denke nicht daran, dir deinen Glauben vorzuschreiben. Träume dir
Jahve zurecht, wie du willst, glaube an Satan oder glaube an den
Allguten. Aber das Zeremonialgesetz muß eindeutig sein, hier dulde
ich keine Vieldeutigkeit. Die Lehre ist der Wein, und die Riten
sind das Gefäß, und wenn das Gefäß einen Sprung bekommt oder gar
ein Loch, dann rinnt die Lehre aus und verströmt. Ich dulde keine
Durchlöcherung des Gefäßes. Ich bin nicht der Narr, jemandem seinen
Glauben vorschreiben zu wollen: aber das Verhalten schreibe ich
vor.
Regeln Sie das Verhalten der
Menschen, ihre Meinungen regeln sich dann von selbst.
Ich bin überzeugt, die
Gemeinschaft kann nur gewahrt werden durch gemeinsames Verhalten,
durch ein strenges Zeremonialgesetz. Die Juden in der Diaspora
würden sogleich absplittern, wenn sie da keine Autorität spürten.
Ich muß mir die Befugnis wahren, das Zeremonialgesetz autoritativ
zu regeln. Über Jahve mag jeder seine individuelle Meinung haben,
aber wer seinen eigenen Ritus haben will, den dulde ich nicht in
der Gemeinschaft.« Sein Gesicht hatte sich gespannt, es war keine
Höflichkeit mehr darin, es war stark, hart, solche Gesichter hatte
Josef gesehen, wenn manchmal in der Hauptstadt Freunde von ihm sich
unversehens aus verbindlichen, liberalen Herren in Römer
verwandelten. »Ich führe nur die Sendung Jochanan Ben Sakkais aus«,
fuhr der Großdoktor fort, »nichts weiter. Ich ersetze den
verlorenen Staat durch die Lehre. Man sagt, mein Zeremonialgesetz
sei nationalistisch. Wie sollte es sonst sein? Wenn der Staat durch
Jahve ersetzt werden soll, dann muß Jahve sich gefallen lassen, daß
ich ihn mit den Mitteln des Staates verteidige, mit politischen,
daß ich ihn nationalisiere.
Meine Herren sagen mir, man könne
dem einzelnen nicht befehlen, gerade zwei Stunden vor
Sonnenuntergang die Allgüte Gottes zu empfinden, und überdies in
einem vorgeschriebenen Text. Mag sein, daß das letzte, innigste
Gebet nur individuell sein kann, an keine Zeit gebunden und an
keine Form. Trotzdem schreibe ich vor, daß die fünf Millionen Juden
zu einer Stunde beten und mit den gleichen
Worten. Immer mehr unter ihnen werden die Worte nicht nur sprechen,
sondern auch denken, und in allen wird das Gefühl sein, daß sie das
Volk eines Gottes sind, gemacht nach
einer Art, erfüllt von einem Leben und schreitend einen Weg.«
Der Großdoktor rief sich zurück,
verlor seine Strenge, wurde wieder der höfliche, weltmännische Herr
von früher. Er ging ganz nahe an Josef heran, legte ihm die Hand
auf die Schulter, lächelte, daß die großen, auseinanderstehenden
Zähne inmitten des rotbraunen, viereckigen Bartes sichtbar wurden.
»Entschuldigen Sie, mein Doktor Josef«, bat er, »ich habe Ihnen
eine Rede gehalten, als wären Sie mein Schwager Ben Ismael. Glauben
Sie mir übrigens«, beeilte er sich hinzuzufügen, »wenn einer, dann
liebe und verehre ich diesen Ben Ismael. Es hat mein Herz nicht
weniger bedrückt als das seine, als ich ihm auflegen mußte, seinen
Versöhnungstag zu entweihen. Ich hätte das an seiner Statt nicht
über mich gebracht, ich gebe es offen zu. Er ist größer als ich.
Schade, daß er ein Ideolog ist.« Und als Josef im Begriff war, sich
zu verabschieden, versicherte er nochmals: »Sicher ist unter denen,
die heute die Lehre auslegen, Ben Ismael der tiefste und
gelehrteste. Sie müssen oft mit ihm zusammenkommen, mein Doktor
Josef. Niemand hat seinen Philo besser studiert und besser
begriffen als er. Nicht einmal der Acher, und ich schon gar nicht.
Aber ein Satz steht im Philo, den habe ich
besser verstanden als die beiden Herren.« Er lachte herzhaft,
vertraulich, und zitierte den Satz: »›Was nicht der Vernunft gemäß
ist, ist häßlich.‹«
Als Josef ein zweites Mal bei dem Großdoktor
zum Mahle erschien, traf er zu seiner Überraschung Johann von
Gischala. Johann war also wirklich nach Jabne gekommen, »um den
weltfremden Ideologen ins Gewissen zu reden«.
Der Großdoktor lächelte. »Ich
weiß, meine Herren«, sagte er, »daß Sie beide damals in Galiläa
nicht gut miteinander auskamen. Aber mittlerweile ist viel Wasser
den Jordan hinuntergeflossen, und Doktor Josef hat sich wohl
inzwischen mit Ihnen wieder vertragen gelernt. Sprechen Sie, bitte,
offen in seiner Gegenwart. Ich glaube zu wissen, worüber Sie
sprechen wollen, und kann nur wünschen, Doktor Josef möge, wenn er
wieder nach Cäsarea kommt, dem Gouverneur über diese Aussprache
berichten. Ich bin nicht für diplomatische Heimlichkeit.«
Johann von Gischala ging denn
auch schlankwegs auf sein Ziel los. Der von den Doktoren
vorgeschlagene Boykott der römischen Güterauktionen, führte er aus,
sei sinnlos. Der Boykott sei als Protest und Rechtsverwahrung
gedacht, weil die Regierung vier Jahre nach Beendigung des Krieges
erklärt habe, der Aufstand sei liquidiert und das Land befriedet,
trotzdem aber noch heute fortfahre, Juden wegen der Teilnahme am
Aufstand unter Anklage zu stellen und ihre Güter zu konfiszieren.
Diese Argumentation der Doktoren höre sich gut an. Aber die Römer
hätten nun einmal die Macht, und wenn die Doktoren die
Konfiskationen nicht anerkennten, so laufe das in der Praxis auf
eine kindische, ohnmächtige Zorneskundgebung hinaus, deren Folgen
sich nur gegen die Juden selber kehrten. Die Doktoren könnten
ebensogut erklären, sie anerkennten nicht die Zerstörung des
Tempels. Daß die Juden die Güterauktionen boykottierten, bewirke
nur, daß Syrer und Griechen die Terrains zu noch niedrigeren
Preisen einsteigerten. Der Großdoktor erwürbe sich zu seinen vielen
Verdiensten um das Land ein neues, wenn er das Kollegium bestimmte,
sich endlich auf den Boden der Tatsachen zu stellen, statt in
theoretischem Nationalismus zu schwelgen.
»Sie haben sicher recht, mein
Herr Johann«, erwiderte der Großdoktor, stand auf, bat die Herren,
sitzen zu bleiben, und ging auf und ab, wie es seine Gewohnheit
war. »Aber Sie kennen ja die Mentalität meiner Doktoren. Sie sind
störrisch wie Ziegenböcke. Sie anerkennen die Zerstörung des
Tempels wirklich nicht. In jeder zweiten Sitzung führt einer in
einer langen Rede aus, der Verlust der Souveränität sei nur ein
Zwischenstadium, und es sei verfehlt, diesen temporären Zustand,
das heißt die römische Herrschaft, durch Bestimmungen des
Religionsgesetzes zu legalisieren. In jeder dritten Sitzung wird
mit Aufwand von ungeheuer viel Geisteskraft darüber diskutiert, ob
und wie der Opferdienst im Tempel von Jerusalem zu regeln sei,
obwohl doch dieser Opferdienst nicht mehr existiert. In jeder
vierten entstehen heftige Kontroversen über die Modalitäten der
Exekution durch Steinigung, trotzdem wir doch keine
Kapitalgerichtsbarkeit mehr haben. Meine Doktoren finden nun
einmal, wir anerkennten die Konfiskation der Güter als zu Recht,
wenn wir die Teilnahme an den Auktionen gestatteten: ein solches
Verhalten aber wäre Verrat an Jahve und am jüdischen Staat. Wenn
ich mir manchmal erlaube, die Herren sanft darauf hinzuweisen, daß
dieser Staat doch de facto nicht existiert, errege ich Unwillen.
Für sie genügt es, wenn er de jure existiert.«
»Aber die Syrer und Griechen«,
ereiferte sich Johann, »lachen und stecken unsere Güter für ein
trockenes Johannisbrot in den Ärmel. Ich rede nicht für mich
selber. Ich persönlich habe nur Vorteile von der bisherigen
Regelung; denn ich habe an den verbotenen Auktionen teilgenommen
und werde weiter daran teilnehmen.«
»Um Gottes willen«, unterbrach
ihn der Großdoktor und lachte mit all seinen großen Zähnen, »lassen
Sie mich das nicht hören. Es ist mir natürlich bekannt. Immer
wieder laufen Klagen bei mir ein und Anträge, Sie in Bann zu tun.
Aber da stelle ich mich auf den
De-jure-Standpunkt meiner Doktoren und nehme das Faktum nicht zur
Kenntnis. Wenn die Herren davon anfangen, werde ich taub, ich höre
einfach nicht, und solange ich nicht höre, existiert das Faktum de
jure nicht.« Groß, stattlich, lachend stand der junge Herr, an den
Türpfeiler gelehnt, vor seinen beiden Gästen. »Ich bin eben ein
Despot«, scherzte er.
»Seien Sie Despot genug«, sprach
Johann von Gischala auf ihn ein, »um das Land vor weiterer
Verwüstung durch die Ideologie der Doktoren zu retten.«
»Ich freue mich«, erwiderte
ernsthafter der Großdoktor, »daß Sie gekommen sind, um mir die Lage
mit kräftigen Worten auseinanderzusetzen. Ich habe Ihr Memorandum
noch nicht ganz durchgearbeitet; Sie bringen viele Ziffern und
Statistiken, die ernstlich überdacht sein wollen. Aber ich danke
Ihnen von Herzen, daß Sie mir soviel beweiskräftiges Material an
die Hand geben. Es wird freilich lange dauern, fürchte ich, ehe ich
jene Bestimmung aus der Welt schaffen kann. Sie wissen, wie
umständlich mein Kollegium arbeitet. Jeder will seinen Standpunkt
zehnmal darlegen und sich vor sich selber, vor ganz Israel und vor
Gott salvieren. Wenn wir Glück haben, kann ich die Abschaffung der
Bestimmung in einem Jahr durchsetzen.«
Allein der Großdoktor hatte zu
schwarz prophezeit. Ein unvorhergesehenes Ereignis ermöglichte ihm,
das Gesetz, das er für so verderblich hielt, viel rascher zu
annullieren.
Es hatte sich nämlich
herumgesprochen, zu welchem Zweck der Bauernführer Johann von
Gischala in Jabne erschienen war. Auch ein gewisser Ephraim hatte
davon gehört, ein Galiläer, der im Krieg ein Unterführer des Johann
gewesen war. Er war, verwundet, in Gefangenschaft der Römer
geraten, alexandrinische Juden hatten ihn aus einem Depot, das
Material für die Fechterspiele enthielt, freigekauft. Dieser
Ephraim hatte von den Ideen der »Rächer Israels« niemals
abgelassen. Er war nicht gewillt, die Herrschaft der Römer
hinzunehmen. Die Verräterei des Johann, die Abkehr von den Ideen,
die er gepredigt, erfüllten ihn mit Zorn. Er folgte dem Johann nach
Jabne, und einmal, kurze Zeit nach der Audienz bei dem Großdoktor,
überfiel er ihn auf nächtlichem Heimweg aus dem Hinterhalt und
versetzte ihm zwei Dolchstiche in die Schulter. Passanten retteten
den Johann, bevor Ephraim sein Werk zu Ende führen
konnte.
Das Attentat rief große Erregung
hervor. Bis jetzt hatte Flavius Silva den Boykott-Erlaß des
Kollegiums schmunzelnd hingenommen; denn, wie er Josef angedeutet
hatte, der Boykott diente ja nur dazu, das Land in nichtjüdische
Hände zu überführen und seine Romanisierungspläne zu fördern. Jetzt
aber wird er wohl nicht umhinkönnen, den Boykott zur Kenntnis zu
nehmen und gegen die Verletzung der römischen Souveränität
vorzugehen. Der Zorn also über das Attentat und die Furcht vor den
Römern ermöglichten dem Großdoktor, die Aufhebung des Gesetzes in
einer schnellen, stürmischen Sitzung schon zwei Wochen nach jener
Unterredung mit Johann durchzudrücken.
Gamaliel selber besuchte Johann
auf seinem Krankenlager, um ihm dieses Ergebnis mitzuteilen. Der
Galiläer war schwach und konnte nur mit Mühe sprechen, doch eine
große Freude erfüllte ihn. Er spaßte über jenen Ephraim, der ihn
verwundet hatte. Da hätten die Römer Geld und Mühe daran gewandt,
den Kerl zu einem Fechter auszubilden, und jetzt bei dem Attentat
habe sich gezeigt, daß sein Arm so wenig tauge wie sein Hirn.
»Wieder einmal«, schloß Johann philosophisch, »offenbart sich, daß
eine Vorsehung und ein allweises Schicksal existiert. Denn ohne die
blöde Tat dieses Ephraim wäre das blöde Gesetz nicht so schnell
abgeschafft worden. Somit ist erwiesen, daß die höchst
unvernünftige Handlung im Sinn einer höheren Vernunft begangen
worden ist.«
Und während er so sprach, dachte
der Freigelassene Junius Johannes daran, daß er dem Marull
schreiben müsse und daß der an einem solchen Gedankengang seine
Freude haben werde.
Die Doktoren Helbo Bar Nachum, Jesus von
Gophna und Simon mit dem Beinamen der Weber hatten im Kollegium
wieder einmal die Frage angeschnitten, welche Lehrmeinungen unter
die Kategorie »Ableugnung des Gottesprinzips« fielen. »Leugnung des
Prinzips« aber, Mord und Blutschande galten dem Judentum unter
allen Verbrechen als die drei übelsten, und »Leugnung des Prinzips«
war schlimmer als die beiden andern. Die Lehre der Minäer wurde
bisher als Schittuf angesehen, als bloße »Abweichung«, das
Kollegium scheute sich, darüber hinauszugehen, und Diskussionen
über die heikle Frage, wie weit man den Begriff »Leugnung des
Prinzips« ausdehnen solle, waren nicht beliebt. Nur diese drei,
Helbo, Jesus und Simon der Weber, stocherten immer von neuem an dem
Problem herum. Auch diesmal ließen die andern Herren des Kollegiums
die drei reden, es kam zu keiner rechten Debatte, kein Antrag wurde
gestellt, kein Beschluß gefaßt.
Josef, sich des Gespräches in Lud
erinnernd, nahm den Vorstoß der drei Doktoren zum Anlaß, Gamaliel
über seine Haltung gegen die Minäer zu befragen. »Die Lehrmeinungen
der Minäer«, sagte der Großdoktor, »haben nichts mit meiner Politik
zu tun, ich nehme sie nicht zur Kenntnis. Diese Leute glauben, wir
Doktoren ließen ihnen kein genügend großes Teil von Jahve, und
möchten sich auf eigene Faust ein größeres Teil herausschneiden.
Warum soll ich ihnen diesen Spaß nicht lassen? Es sind überdies
fast nur einflußlose Leute, die den Minäern anhangen, kleine
Bauern, Leibeigene, und sie tasten das Privileg der Doktoren nicht
an, das Gesetz autoritativ zu kommentieren und die Riten
festzulegen. Sie befassen sich mit dogmatischen Dingen, die nicht
ins Leben eingreifen, mit Träumen. Es ist eine Religion für Frauen
und Leibeigene«, schloß er wegwerfend.
Josef hörte überrascht und
zweifelnd zu. »Sie lassen diesen Leuten ruhig ihren
Messiasglauben?« fragte er. »Sie unternehmen nichts gegen ihre
Propaganda?«
»Warum sollte ich?« fragte der
Großdoktor zurück. »Einer meiner Herren hat einmal ein großes
Projekt der Gegenpropaganda ausgearbeitet. Überall, wo Minäer ihre
Lehre verkünden, sollten ihnen Wanderprediger von uns mit
Argumenten der Vernunft entgegentreten. Er versprach sich besonders
viel von dem Nachweis, daß der Prophet der Minäer, Jesus der
Nazarener, überhaupt nicht existiert habe.« – »Und?« fragte
gespannt Josef. Der Großdoktor lachte: »Ich habe selbstverständlich
den naiven Herrn mit seinem Projekt nach Hause geschickt. Einer
Volksversammlung, einer Versammlung von Gläubigen und
Glaubenshungrigen, kann man doch nicht mit Argumenten der Vernunft
kommen. Was die Minäer behaupten, hat nichts mit Vernunft zu tun,
es ist jenseits der Vernunft, es ist mit logischen Argumenten weder
beweisbar noch widerlegbar. Es interessiert diese Christen nicht,
ob es aktenmäßige Beweise für die Existenz ihres Christus gibt. Da
sie entschlossen sind, an ihn zu glauben, brauchen sie sie nicht.
Schauen Sie sich den Mann an, der jetzt in Syrien aufgestanden ist
und erklärt hat, er sei der tote Kaiser Nero. Seine Anhänger wollen
glauben, Nero lebe: und siehe, er ist nicht tot. Zehntausende
fallen ihm zu, der Gouverneur hat schon eine ganze Legion aufbieten
müssen, um ihn zu bekämpfen.«
»Es ist merkwürdig«, überlegte
Josef, »daß so viele sich weigern, das anzunehmen, was man ihnen
sichtbar machen kann, aber blindlings glauben, was offenkundig
nicht existiert hat.«
»Sie können nicht einmal so glatt
behaupten, Doktor Josef«, meinte nachdenklich Gamaliel, »daß jener
Jesus von Nazareth nicht existiert habe.« Und da Josef überrascht
hochsah, fuhr er zögernd fort: »Erinnern Sie sich an den Prozeß,
den damals der Erzpriester Anan gegen jenen falschen Messias Jakob
und seine Genossen führte?« – »Gewiß«, erwiderte Josef. »Der Fall
an sich war nicht weiter interessant. Ich glaube auch, es ging dem
Erzpriester damals nicht um diesen falschen Messias; er wollte nur
das Interregnum zwischen dem Tod des Festus und der Ernennung des
neuen Gouverneurs benutzen, um die autonome religiöse
Gerichtsbarkeit wiederherzustellen.«
»Es wäre besser gewesen«, sagte
der Großdoktor, »er hätte diesen Versuch nicht unternommen.« –
»Ja«, meinte Josef, »er ist gründlich mißglückt, und der
Erzpriester hat ihn teuer bezahlen müssen.«
»Das meine ich nicht«, sagte
langsam, ungewohnt zögernd, der Großdoktor. »Aber je länger ich es
überdenke, um so mehr bin ich überzeugt: ohne diesen Prozeß
existierte der Messias der Minäer nicht.«
»Sie müssen noch ein Knabe
gewesen sein«, überlegte Josef, »als jener Prozeß geführt wurde.« –
»Ja«, erwiderte der Großdoktor, er sprach immer noch ungewohnt
langsam, »aber ich kenne die Akten. Als mich der Erzpriester in das
Geheimnis des Gottesnamens einweihte, ließ er mich auch in die
Protokolle dieses Prozesses Einsicht nehmen.« – »Wollen Sie mir
nicht mehr darüber sagen?« bat Josef. Sein Historiker-Interesse war
wach geworden, und das Zögern des sonst so sichern und lebhaften
Gamaliel schürte es noch mehr.
Der Großdoktor schwankte. »Ich
habe noch mit keinem Menschen darüber gesprochen«, sagte er
bedenklich. »Hat es Sinn, nach der Entstehung des Minäerglaubens zu
forschen? Es führt nicht weiter.« Und halb scherzend, halb
ernsthaft zitierte er die Schlußverse des Kohelet: »›Laß dich
warnen, mein Sohn. Des vielen Büchermachens ist kein Ende, und
vieles Studieren reibt den Menschen auf.‹« Josef, sehr neugierig
jetzt, doch beklommen durch die Bedenklichkeit des Großdoktors,
drängte weiter in ihn: »Warum halten Sie mir diese Verse vor? Sie
wissen doch, daß sie gefälscht sind. Und denken Sie so gering von
der Wissenschaft?« – »Ich wollte Sie nicht kränken«, begütigte der
Großdoktor. »Aber wir täten wahrscheinlich besser, diesen unseligen
Prozeß zu vergessen.« – »Jetzt haben Sie einmal davon begonnen«,
drängte Josef weiter, mit steigender Neugier und steigender
Beklommenheit.
»Ich denke«, entschloß sich
endlich Gamaliel, »der Fall des Tempels hat die Pflicht des
Geheimnisses gelöst, und ich darf Sie hineinschauen lassen in das,
was damals geschah.
Jener Jakob«, begann er zu
berichten, »war also mit seinen Genossen – ob ein Jesus darunter
war, kann ich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen – in den Tempel
eingedrungen und hatte die Kaufleute behelligt, die dort mit
Opfergegenständen handelten. Er berief sich darauf, daß, gemäß dem
Spruch der Propheten, zur Zeit des Messias kein Opferhändler mehr
sein solle im Hause Jahves; er aber sei der Messias. Und des zum
Zeichen rief er vor allem Volke Jahve bei seinem geheimnisvollen
Namen, den zu nennen nur dem Erzpriester erlaubt ist am
Versöhnungstag. Und als er unversehrt blieb und kein Feuer vom
Himmel kam, liefen viele davon, und viele glaubten ihm.«
»Soweit erinnere ich mich«, sagte
Josef, da der Großdoktor verstummte, »und daß dann der Erzpriester
Anan ihn verhaften ließ und vor sein Gericht stellte. Mehr aber
weiß ich nicht. Denn da es ein Prozeß um die Lästerung des Namens
war und der Name somit von den Zeugen genannt werden mußte, wurde
die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Ich weiß nur mehr das Ende, daß
das Priestergericht diesen Jakob und seine Genossen zum Tod
verurteilte und steinigen ließ.« Er wartete, sonderbar erregt, auf
das, was der Großdoktor weiter berichten werde.
Der, zögernd, unbehaglich, als ob
er trotz allem Bedenken trüge, seine Kenntnis weiterzusagen,
erzählte: »Nach den Akten war es so. Als der Erzpriester Anan den
Jakob befragte: ›Bist du, wie du behauptest, der Messias, Gottes
eingeborener Sohn?‹, da rief, statt aller Antwort, der Angeklagte
von neuem den Gottesnamen, und ihm ins Gesicht. Dies aber war eine
Antwort; denn der Name Bedeutet, wie Sie wissen, ›Ich bin es‹. Und
die Priester und die Richter erschraken in ihrem Herzen, und sie
standen auf, wie es Vorschrift ist bei solcher Lästerung des
Namens, und alle zerrissen ihre Kleider. Der Zeugen bedurfte es
nicht erst. Der Prophet hatte die Lästerung den Richtern ins
Gesicht wiederholt.«
Gamaliel ließ dem Josef Zeit,
über seinen Bericht nachzudenken. Josef dachte an das, was der
Minäer aus dem Dorfe Sekanja im Hause des Acher vorgelesen hatte.
Es war also nicht ganz müßiges Gerede, es schien Wahres und
Erdichtetes wirr ineinandergefügt.
»Dies war der letzte Prozeß gegen
einen falschen Messias«, fuhr der Großdoktor fort, er sprach jetzt
leichter, müheloser. »Es war seit Jahrzehnten der einzige Prozeß
dieser Art, und es wäre besser, auch er wäre nicht gewesen. Und nun
überlegen Sie, bitte«, forderte er Josef auf. »Es ist Tatsache, daß
einer, der sich für den Messias hielt, von dem Gouverneur Pilatus
als König der Juden gekreuzigt worden ist, und es ist Tatsache, daß
ein anderer solcher Christus von uns hingerichtet wurde. Hat es
unter diesen Umständen Sinn, mit den Minäern darüber zu rechten,
wie weit ihr Bericht vom Leben und Leiden ihres Messias in den
Einzelheiten stimmt? Daß er nicht so exakt ist wie der Report eines
römischen Generals, wissen Sie selber. Aber ich glaube, es kommt
Ihnen nicht darauf an.« Und, sachlich, faßte er zusammen: »Mögen
diese Christgläubigen glauben, was sie wollen. Ich lasse jedem
seine individuelle Meinung über Jahve und den Messias, solange er
nicht gegen das Zeremonialgesetz verstößt. Die Minäer befolgen die
Riten; ich weiß keinen einzigen Fall, daß sie sich dagegen
aufgelehnt hätten. Beruhigen Sie Ihre Freunde«, schloß er lächelnd.
»Ich sehe keinen Anlaß, gegen die Christen vorzugehen. Solange sie
mein Zeremonialgesetz nicht antasten, taste ich sie nicht
an.«
Josef berichtete in Lud über sein Gespräch
mit dem Großdoktor; auch Jakob aus dem Dorfe Sekanja war
da.
Channah fand die Versicherungen
des Großdoktors keineswegs beruhigend. »Ich kenne meinen Bruder«,
meinte sie. »Er gehört zu den treuherzigen Heuchlern. Was er sagt,
ist immer wahr: aber nur dem Worte nach. Er wählt seine Worte so,
daß ihm sein Handeln offenbleibt. ›Wer die Riten nicht antastet,
den taste ich nicht an.‹ Und was, wenn er die Riten so verengert,
daß man sie antasten muß? Haben wir nicht Beispiele? Er ist
großzügig, er läßt Doktoren und Laien Meinungsfreiheit. Aber nur,
weil er noch nicht die Macht hat, sie ihnen zu nehmen. Wenn ihm
erst die Zeit reif scheint, dann wird er kurzerhand das
Zeremonialgesetz für angetastet erklären und die Meinungsfreiheit
unterdrücken.«
Ben Ismael strich sich mit der
langen Hand die Brauen unter der mächtigen, kahlen Stirn zurecht.
»Ach Channah«, sagte er, »für dich liegen die Dinge immer so
einfach. Gamaliel ist kein Heuchler. Ich glaube es nicht. Der Sinn
all seiner Handlungen ist Israel, nichts sonst. Er sagt: Jahve ist
Israels einziges Erbteil; wenn es ihn verliert, wenn es ihn zu
leichtsinnig den andern zeigt und ihn sich rauben läßt, was dann
bleibt ihm? Also hütet er eifersüchtig seinen, unsern Jahve. Er
verflacht die Lehre, gewiß. Aber er versteht nun einmal seine Sen
dung so, und er ist der rechte Mann für seine Sendung.« Der Minäer
Jakob sagte: »Ich glaube, Channah hat recht, und finde wie sie die
Worte des Großdoktors verdächtig. Wir sind Juden, wir halten
gewissenhaft das Zeremonialgesetz, wir halten Gemeinschaft mit den
andern und wollen sie weiter halten. Aber wie nun, wenn einer von
den Nichtjuden zu uns kommt und sagt: ›Ich will einer der Euern
sein‹? Dürfen wir ihm dann den Weg versperren, weil die Römer die
Beschneidung verboten haben? Verstoßen wir gegen das
Zeremonialgesetz, wenn wir ihm sagen: ›Schiebe die Beschneidung
auf, bis die Römer sie erlauben‹? Verlangt der Großdoktor, daß wir
einen, der guten Willens ist, von der Heilsbotschaft ausschließen?
Die Werke sind wichtig, aber ist nicht der Glaube ebenso wichtig?
Ist es nicht besser, die Heiden hereinzulassen auch ohne das
Zeremonialgesetz, als sie auszuschließen?« Und da Ben Ismael nicht
antwortete, fügte er hinzu: »Selbst die Armen im Geiste spüren, daß
es nicht genügt, wenn Jahve der Gott nur einer Nation ist. Darum kommen sie zu uns. Das Volk
will nicht Theologie, es will Religion. Das Volk will keine
jüdische Kirche, es will Judentum.«
»So ist es«, sagte
Channah.
»So sei es«, sagte der
Acher.
Ben Ismael aber schwieg, und der
Acher verhöhnte ihn: »Von Gamaliel verlangen Sie so wenig, mein
Doktor und Herr, und von uns so viel. Wenn der Großdoktor recht
hat, warum begnügen wir uns nicht auch, unsern Jahve zu hüten?
Warum legen wir uns so heiße und bittere Mühe auf, ihn zum Jahve
aller Welt zu machen?«
»Weil wir«, erwiderte Ben Ismael,
»weniger kräftig und weniger schlau sind als Gamaliel, aber
vielleicht weiser. Er hat die Mauern aufzurichten, wir die Tore. Er
hütet das Gesetz, daß nichts Falsches eindringe, wir haben dafür zu
sorgen, daß das Gute nicht eingesperrt bleibt, sondern ausgehen und
sich verbreiten kann. Ich kann auf Israel nicht verzichten, und ich
kann auf die Welt nicht verzichten. Gott will beides.« Er sprach
heftiger, als es sonst seine Art war, geradezu gequält.
Josef sagte langsam, die Gedanken
entstanden in ihm, während er sprach: »Ich verstehe Sie nicht ganz,
mein Bruder und Herr. Sie sagen, die Mittel, die der Großdoktor
anwendet, um das Judentum zu erhalten, seien die rechten. Wenn aber
das Judentum das Gesicht annimmt, das Gamaliel ihm aufprägen will,
bekommt es dann nicht ein nur nationalistisches, eigensüchtiges,
weltfeindliches Gesicht? Sie sagen, wir haben ein Und. Ich fürchte,
wenn Gamaliel recht behält, dann haben wir nur ein Oder: Judäa
oder die Welt. Und ehe das Judentum so
wird, wie Gamaliel es will, ist es da nicht besser, zur Welt ja und
zu Judäa nein zu sagen?« Und kühn dachte er den Gedanken zu Ende,
den alle zu denken sich scheuten, und sprach ihn aus: »Ist es da
nicht besser, wir geben zugunsten unseres Weltbürgertums unser
Judentum auf?«
Ein bestürztes Schweigen war.
Dann sagte zuerst der Acher, heftig: »Nein.« Und, noch heftiger,
Channah: »Nein.« Und nein sagte Ben Ismael. Und nein sagte
schließlich, zögernd, selbst der Minäer Jakob.
Josef, nach einer Weile, fragte:
»Warum nein?« Ben Ismael erwiderte: »Ich sehe keinen andern Weg zum
Übernationalen als das Judentum; denn Israels Gott ist kein
nationaler Gott wie die Götter der andern Völker, sondern
unsichtbar, der Weltgeist an sich, und sicher wird einmal die Zeit
kommen, da dieser Gestaltlose auch keiner Form mehr bedürfen wird,
um begriffen zu werden. Vorläufig aber müssen wir ihm, um ihn
überhaupt begreifbar zu machen, eine Form geben, vorläufig ist ein
Jahve ohne Judentum nicht vorstellbar. Er würde sich, noch bevor
eine Generation vergangen ist, ins Nichts verflüchtigen. Ist es
nicht besser, wir geben Jahve vorübergehend nationale Embleme, als
daß wir seine Idee untergehen ließen? Es ist nicht das erstemal,
daß sich die übernationale Idee des Judentums unter einer plumpen,
nationalen Maske verstecken muß. Die Mittel zum Beispiel, die Esra
und Nehemia anwandten, um das Judentum zu erhalten, waren äußerst
bedenklich. Aber ihre Gaukelei war heilig, und ihr Erfolg zeigt,
daß Gott sie billigte. Die Heilige Schrift schleppt vieles mit, was
nur taktischen Zwecken des Augenblicks diente: doch nur so konnte
das Wesentliche, ihre übernationale Idee, gerettet werden. Ich
finde, daß selbst manches lächerliche Nationale der Früheren heute
geadelt erscheint durch die große, übernationale Idee.«
»Sie verteidigen Gamaliel«, sagte
der Acher, und es war in seinen Worten mehr Trauer als
Anklage.
»Ich muß wohl«, sagte Ben Ismael,
»da ihr ihn übers Maß hinaus angreift. Wir dürfen die nationale
Tradition nicht abreißen lassen; wir verlören mit dem Körper, der
die Idee trägt, die Idee selber. Es klingt widerspruchsvoll, daß
der übernationale Geist nur in nationalem Gewand überliefert werden
kann: es ist darum nicht minder wahr. Sie als Historiker müssen
mich verstehen, Doktor Josef«, wandte er sich dringlich an Josef.
»Es wachsen einem jeden von uns aus der Geschichte der Väter neue
Kräfte zu, über sein individuelles Leben hinaus, über seine
individuellen Meinungen hinaus, und diese Kräfte sind mehr als
national; denn die jüdische Geschichte ist die Geschichte des
Kampfes, den der Geist immerzu gegen den Ungeist zu führen hat, und
wer Anteil hat an der jüdischen Geschichte, hat Anteil am Geist an
sich. Wenn wir dreimal am Tag das Bekenntnis zum jüdischen Gott
aussprechen, dann bekennen wir uns dreimal am Tag zum Prinzip des
Geistigen; denn Jahve ist der Geist an sich.«
Der Minäer Jakob sagte: »Ich gebe
zu, daß auch der reinste Geist sich nicht erhalten kann ohne eine
Form. Aber was Sie sagen, Doktor Ben Ismael, bestätigt mich mehr,
als daß es mich widerlegt. Ist es nicht gerade nach dem, was Sie
sagen, unsere Pflicht, diejenigen aufzunehmen, die teilhaben wollen
am Geiste? Dürfen wir sie zurückweisen, bloß weil die Römer die
Beschneidung verbieten, weil sie es uns zur Zeit unmöglich machen,
dem Geistigen die Form im Fleische zu geben? Ich glaube, gerade
Sie, Doktor Ben Ismael, müßten Verständnis haben für den Ausweg,
den einer unserer Brüder, ein gewisser Paulus, uns
zeigt.«
»Welches ist der Ausweg dieses
Paulus?« fragte Ben Ismael.
Und der Minäer Jakob erwiderte:
»Dieser Paulus lehrt: Für den als Juden Geborenen bleibt die
Beschneidung verbindlich. Will aber einer unter den Heiden zu euch,
meine Brüder, dann verzichtet auf die Beschneidung.«
»Eine gefährliche Lehre«, sagte
Ben Ismael.
»Eine gute Lehre«, sagte der
Acher.
»Eine Lehre«, sagte Channah, »aus
der der Großdoktor
nicht unterlassen wird gewisse Konsequenzen
zu ziehen, falls ihr versucht, sie in die Praxis
umzusetzen.«
Josef aber, der seinen Sohn nicht
hatte beschneiden lassen, wußte nicht, ob er zu dieser Lehre ja
sagen sollte oder nein. Es war gut, daß ein Gamaliel da war, aber
es war auch gut, daß der Minäer Jakob da war und der Acher und,
vermittelnd zwischen diesen und dem Großdoktor, Ben
Ismael.
Und Josef verließ die Gegend von
Jabne und von Lud, um nach Cäsarea zu gehen, unschlüssig, ob er
dort für die Hochschule von Lud eintreten solle oder
nicht.
In Cäsarea empfing ihn Flavius Silva mit
lärmender Freundschaftlichkeit und fragte ihn lange und bis in alle
Einzelheiten aus, welchen Eindruck er von der Provinz Judäa habe.
Josef lobte vieles und machte kein Hehl aus seinen Einwänden. Den
Flavius Silva schien gerade diese halb widerwillige Anerkennung zu
erfreuen.
Der Gouverneur war gut gelaunt.
Sein Kollege in Syrien hatte wachsende Schwierigkeiten mit dem
falschen Nero; er brauchte für die Bekämpfung des Unruhstifters
Soldaten und Geld, und man begann sich in Rom über die lange Dauer
zu wundern, die die Niederwerfung des lächerlichen Prätendenten
erforderte. Flavius Silva machte es einem nicht schwer, aus seinem
Bedauern über diese leidige Angelegenheit die Freude durchzuspüren,
die er an dem Ärger des Kollegen hatte.
Er nahm seine jüdischen Gäste mit
auf eine längst geplante Inspektionsreise nach Samaria. Vor allem
lag ihm daran, ihnen seine Stadt Flavisch Neapel zu
zeigen.
Es war wirklich erstaunlich, was
er in so wenigen Jahren aus dem früheren samaritischen Städtchen
Sichern gemacht hatte. Er sonnte sich in der Anerkennung der
jüdischen Herren, war aufgeräumt, sehr zugänglich. Josef erkannte,
daß jetzt der rechte Augenblick war, aus ihm allerhand für die
Interessen der Juden herauszuschlagen. Jetzt müßte er die Frage der
Universität Lud anschneiden.
Als guter Psycholog war er sich
klar darüber, wie er es anpacken müßte. Er könnte dem Gouverneur
zum Beispiel vorstellen, welch ein Vorteil es für seine Provinz
wäre, eine Universität zu haben, die gleichzeitig griechische und
jüdische Disziplinen lehrte. Die Hochschule von Antiochien, bisher
die bedeutendste Asiens, kümmerte sich nicht um die Bedürfnisse der
Juden und ließ die Neigung des Ostens außer acht, sich mit
jüdischer Weltanschauung auseinanderzusetzen. Eine moderne
Universität, die diesen Bedürfnissen entgegenkäme, müßte die von
Antiochien rasch überflügeln und zum kulturellen Mittelpunkt des
gesamten Ostens werden. Sie müßte reiche junge Leute aus aller Welt
in Scharen in die Provinz ziehen. Argumente solcher Art könnten
ihre Wirkung auf den Gouverneur kaum verfehlen.
Allein als Josef dem Flavius
Silva von der Universität Lud zu sprechen beginnen wollte, sah er
im Geist das kräftige, bräunliche Gesicht Gamaliels vor sich mit
dem kurzen, vierekkigen Bart und den vorstehenden Zähnen, und sein
inneres Ohr hörte die souveränen, zynischen Sätze des Großdoktors
über das Zeremonialgesetz, das allein den Bestand des Judentums
sichern könne. Und als dann Josef wirklich zu reden anhub, nahm er
zu seinem eigenen Erstaunen wahr, daß er nicht für die Stadt Lud
sprach und ihre Universität, sondern für die Stadt Thamna und den
Stadtrat Akawja.
Noch während er sprach, ärgerte
er sich über sich selber. Er beschimpfte sich, daß er vor der
größeren Aufgabe zurückwich und den günstigen Augenblick für eine
so geringfügige Sache wie die des Akawja nützte.
Übrigens sprach er ohne Schwung
und machte es dem Gouverneur nicht schwer, seine Bitte abzulehnen.
»Wer sich den Luxus leistet«, meinte behaglich Flavius Silva,
»seine Gefühle so ostentativ zu zeigen wie Ihr Akawja, der muß auch
bereit sein, dafür zu bezahlen. Wenn ich den Kerl laufenließe,
würdet ihr mir in einem halben Jahr alle Edikte der Regierung
anspeien und in zwei Jahren die Steintafeln zerschlagen, die sie
auf den Plätzen verkünden.«
Doch der sonst so prinzipientreue
Gouverneur fiel im Falle des Stadtrats Akawja wider Erwarten
schnell um. Ursache seiner Wandlung war der Gaul Vindex. Der hätte
nämlich bei der Eröffnung des Stadions von Flavisch Neapel laufen
sollen, verunglückte aber, als er in Joppe aus dem Schiff
ausgeladen wurde. Den Gouverneur erreichte die Nachricht, jetzt, in
Flavisch Neapel, kurz nach der Unterredung mit Josef. Er wütete.
Dies Mißgeschick brachte ihn um die beste Attraktion für seine
Festspiele. Er gab sogleich Order, die Leibeigenen, die mit dem
Transport des Pferdes beauftragt waren, zu kreuzigen; aber das
Programm seiner Festspiele wurde dadurch nicht besser. Er mußte,
mußte Ersatz für den Gaul Vindex finden. Er kam zurück auf seinen
alten Plan, den Demetrius Liban, der bisher seiner dringlichen
Aufforderung zähen Widerstand entgegengesetzt hatte, jetzt, koste
es, was es wolle, zu einem Auftreten in seiner Provinz zu bewegen.
Beim Abendessen, in Gegenwart des Josef, fing er also von neuem von
der Angelegenheit des Stadtrats Akawja zu reden an, setzte nochmals
auseinander, was alles gegen eine Begnadigung sprach, und ging
dann, unvermutet, zum Angriff auf den Schauspieler über. »Aber ich
möchte nicht«, schlich er sich an, »daß die Juden mich für ihren
Feind halten. Ich möchte vor allem Ihnen, meine Herren, zeigen, wie
sehr ich ihr Freund bin. Ich lege es in Ihre Hand, mein Demetrius,
diesen Akawja zu retten. Beweisen Sie mir Ihre Freundschaft, und
ich beweise Ihnen die meine. Wirken Sie bei meinen Festspielen mit,
und ich schenke Ihnen das Leben Ihres Glaubensgenossen.«
Liban erblaßte. Das Anerbieten
des Silva, den Provinzlern hier zu zeigen, was ein wirklicher
Schauspieler ist, war ihm von Anfang an eine große Verlockung
gewesen, aber er hatte tapfer widerstanden. Er wollte sein Gelübde
halten, wollte zu Ehren Jahves seiner Kunst entsagen, und war es
nicht ein zehnfaches Verbrechen, im Lande Israel zu spielen,
während einer Pilger- und Sühnefahrt? Doch dieser neue Antrag
stürzte alle seine Erwägungen um. Jetzt ging es nicht mehr um ihn,
jetzt ging es um das Leben eines Menschen, eines jüdischen Bruders,
für den, wie es schien, ganz Israel kämpfte. War es ein Wink
Jahves, oder war es wieder einmal eine Versuchung des Satans? Auf
alle Fälle bedeutete dieser Antrag neuen Kampf für ihn. »Soll ich
vielleicht den Juden Apella spielen?« fragte er bitter. Doch nur
Josef verstand die Bitterkeit dieser Erwiderung. Der Gouverneur
wußte nicht Bescheid in Theaterdin gen, und, sogleich einhakend,
lebhaft und ahnungslos, erwiderte er: »Was Sie wollen, mein
Demetrius. Spielen Sie, was Sie wollen.«
Mit dieser Antwort aber kam er
seinem Ziele viel näher, als er selber erwartete; denn sie brachte
in dem Schauspieler einen ganzen Berg verführerischer Phantasien
ins Rollen. Der Gouverneur stellte ihm frei zu spielen, was er
wollte. Wie, wenn er es nochmals mit dem Laureol versuchte?
Vielleicht konnte er auf dem Umweg über die Provinz dem Stück in
Rom zu einem nachträglichen Erfolg verhelfen und so die scheußliche
Scharte von Albanum auswetzen. Sicherlich war es der Wille Jahves,
daß er im Lande Israel spiele. Hätte Jahve sonst das Leben des
Juden Akawja an sein Auftreten geknüpft? Wahrscheinlich wollte
Jahve durch ihn den Heiden zeigen, was alles ein Jude vermöge, und
ihnen auf solche Art Achtung und größere Milde für die gesamte
Judenheit abnötigen. Viele Gedanken und Träume dieser Art bewegten
schnell und wirr den Schauspieler, bis er gnädig und großspurig
erwiderte: »Es ist schwer, einem so zähen Kunstfreund zu
widerstehen wie Ihnen, Herr Gouverneur. Vielleicht werde ich mich
entschließen, den Seeräuber Laureol zu spielen. Sie wissen, ich
habe ihn für die Majestät und den Prinzen Domitian gespielt bei der
Eröffnung des Theaters der Lucia.« Silva wußte natürlich nichts.
»Das wäre großartig«, begeisterte er sich. »Ich werde es mir
überlegen«, gab Liban sich überwunden.
Josef aber schämte sich, daß er
nicht von der Universität Lud gesprochen hatte, und wagte es nicht
einmal vor sich selber, sich über den Schauspieler lustig zu
machen.
Kurze Zeit darauf fragte der Gouverneur, was
Josef über den Großdoktor denke. Er selber hielt große Stücke auf
Gamaliel. Das sei ein Mann, mit dem man klar reden könne, ohne
lange Umschweife. Er sei schlau, zielbewußt, bleibe immer sachlich:
er verdiente, ein Römer zu sein. Daß er gerade das nicht wolle, sei
sein einziger Fehler.
Und nun stellte sich etwas
heraus, was die Bewunderung Josefs vor der Klugheit des Großdoktors
noch erhöhte. Der Gouverneur hatte nämlich Gamaliel angeboten, ihn
zum römischen Bürger zu machen und ihm den Goldenen Ring des
Zweiten Adels zu verschaffen. Gamaliel indes hatte höflich und
entschieden abgelehnt und hatte, darüber hinaus, seinen Juden das
Anerbieten verheimlicht; sonst hätte Josef durch Ben Ismael oder
den Acher sicherlich davon erfahren. Es war klug, daß der
Großdoktor sich darauf beschränkte, Jude zu sein, noch klüger, daß
er, um die Römer nicht durch öffentliche Ablehnung zu reizen, von
seiner Chance, sich römische Ehren zu holen, den Juden nicht einmal
sprach. Josef sagte sich, daß er selber an Gamaliels Stelle der
Verlockung nicht hätte widerstehen können, den andern wenigstens
von seiner Festigkeit zu erzählen.
Daß Flavius Silva Josefs Meinung
über den Großdoktor erfragte, hatte seinen Grund. Gamaliel,
eröffnete er ihm, werde bald Gelegenheit haben, seine vielgerühmte
Sachlichkeit zu erweisen. Er, der Gouverneur, müsse ihn vor ein
schwieriges Problem stellen. Die Hoffnung nämlich, die Juden würden
nach dem Beschneidungsverbot endlich Ruhe geben und von ihrer
fatalen Proselytenmacherei ablassen, habe sich leider nicht
erfüllt. Im Gegenteil, in den letzten Monaten versuche man noch
heftiger als früher, Syrer, Griechen und Römer zu den Lehren Jahves
zu bekehren, die Wanderprediger nähmen überhand und gäben
öffentliches Ärgernis. Bisher habe sich eine juristische Handhabe
nicht gefunden, gegen die Burschen einzuschreiten; denn sie hüteten
sich wohlweislich, ihre Zuhörer zur Beschneidung aufzufordern, und
die jüdische Religion als solche sei ja erlaubt. Nun aber habe man
ihm mitgeteilt, diese Bettelpropheten seien gar keine richtigen
Juden, sie gehörten vielmehr einer zweifelhaften neuen Sekte an,
deren Bekenner Minäer oder Christen genannt würden. Sie selber
freilich bestritten das heftig und redeten sich darauf hinaus, Jude
bleibe Jude, ob Pharisäer oder Minäer, genauso wie ein maltesischer
Spitz nicht weniger ein Hund sei als eine molossische Dogge. Die
jüdischen Sachverständigen hätten bisher zu dieser Frage nur
langwieriges theologisches Gewäsch beigesteuert, nichts Greifbares,
kein Ja und kein Nein. Er, Flavius Silva, habe das satt. Er habe
also jetzt den Großdoktor und das Kollegium in Jabne amtlich
aufgefordert, sich gutachtlich klipp und klar darüber zu äußern, ob
diese Minäer den Juden zuzuzählen seien oder nicht.
Josef war bestürzt. Jabne hatte
bisher den Minäern viel Toleranz gezeigt, trotzdem die meisten der
Doktoren ihnen im Grunde abgeneigt waren. Wenn aber jetzt Rom dem
Kollegium nahelegte, die Christen zu verleugnen, werden dann die
Doktoren nicht dem doppelten Druck nachgeben und die gefährlichen,
staatsfeindlichen Mitläufer abschütteln? Sicher werden sie das. Es
traf Josef tief, daß Channah so schnell gegen ihren Mann Ben Ismael
recht behalten sollte.
In rasender Eile überlegte er, ob
es einen Weg gäbe, die Gefahr von den Minäern abzuwenden. Er sah,
noch bevor der Gouverneur zu Ende war, daß es einen einzigen gab.
Der Minäerfreunde im Kollegium waren wenige, aber ihre Stimmen
hatten Gewicht. Sie konnten sich nur deshalb nicht durchsetzen,
weil keine staatliche Autorität hinter ihnen stand. Wie aber, wenn
man ihnen diese Autorität verschaffte? Wenn eine von Rom anerkannte
Universität in Lud sich für die Minäer ausspricht, dann wird man in
Jabne kaum wagen, durch ein Gutachten gegen die Minäer offenkundig
zu machen, daß die Spaltung des Judentums selbst seine höchsten
Wortführer trennt.
Die Frage: wenn man das Judentum
nur erhalten kann, indem man es nationalisiert und seine
kosmopolitische Sendung fahrenläßt, soll man es dann überhaupt
erhalten?, diese Frage, noch in Lud ein blasses, fernes,
theoretisches Problem, wurde mit einem Schlag eine Drohung von
furchtbarer Aktualität. Bekannte man sich zu den Minäern, so
forderte man das verärgerte Rom zu Repressalien heraus. Sagte man
sich von den Minäern los, dann sonderte sich die jüdische
Gemeinschaft noch strenger und hochmütiger von der übrigen Welt ab.
Plötzlich bekam die Frage, ob er sich jetzt zum Fürsprecher der
Universität Lud machte, ungeheures Gewicht. Er hatte das Ohr des
Gouverneurs, die Situation war günstig, seine Argumente mußten
einem Manne wie Flavius Silva bestechend klingen.
Alles, was in Josef an dunkler
Sehnsucht nach Religion war, drängte ihn, jetzt für die Minäer zu
sprechen, für Ben Ismael, für den Acher. Aber er hörte im Geist die
klare Stimme Gamaliels: »Was nicht der Vernunft gemäß ist, ist
häßlich.« Das Ziel, das Ben Ismael und dem Acher vorschwebte, war
unvernünftig. Wenn es auch vielleicht in tausend Jahren erreichbar
sein mochte, heute war es Utopie, der nachzujagen die Existenz des
Judentums gefährdete. Wer annahm, der Messias sei bereits
erschienen, wer die Hoffnung auf die Wiedererrichtung des Tempels
preisgab, gab die ganze jüdische Tradition preis. Wenn Josef jetzt
für die Universität Lud sprach, dann nahm er die Zerstörung
Jerusalems und des Tempels als ein für immer Gegebenes hin, dann
schloß er sich selber aus dem Reich des künftigen Messias
aus.
Er schwieg. Er sprach nicht von
der Universität Lud.
Er wußte nicht, daß es Gamaliel
selber gewesen war, der durch Mittelsleute den Gouverneur bewogen
hatte, in Jabne das Gutachten über die Minäer
einzufordern.
Es trieb Josef wieder nach Süden. Zuerst ging
er auf sein Gut. Er wollte dort, bevor er seine Freunde in Lud und
Jabne aufsuchte, in Ruhe darüber nachdenken, was er ihnen auf die
Frage erwidern solle: warum hast du uns im Stich
gelassen?
Er war kaum zwei Tage auf dem
Gut, als sich ein überraschender Besucher einstellte: Justus von
Tiberias.
Josef hatte diesen Mann seit
sechs Jahren nicht gesehen. Er war ihm mehr verbunden und mehr
feind als irgendwem sonst auf der Welt. Er hatte eine ewige
Streitsache mit ihm, eine Auseinandersetzung, die vor sechzehn
Jahren in Rom, als sie einander das erstemal begegneten, angefangen
hatte, ein Gespräch, das nicht beendet und das der Sinn seines
Lebens war. Immer in diesem Gespräch war Justus der Angreifer, er
verfolgte ihn mit Hohn und Bitterkeit, mit dem Scharfblick des
Hasses, und Josef seinesteils haßte den Mann, der seine Schwächen
so gut kannte und so erbarmungslos ins Licht stellte; aber er lebte
nur, um diesem Manne zu zeigen, wer er war. Daß er Justus zweimal
das Leben gerettet hatte, ihn einmal sogar vom Kreuze
herunterholend, war keine genügende Antwort gewesen, hatte das
Gespräch nicht beendet. Diese Taten hatten denn auch Justus
keineswegs zu Konzessionen bewo gen; er hatte vielmehr, während
alle Welt den »Jüdischen Krieg« rühmte, das Buch zweideutig
gescholten, schillernd, oberflächlich, und sich darangemacht, es
durch ein tieferes zu verdrängen. Josef hatte alle die Jahre
hindurch auf die Fortführung des Gespräches gewartet. Nun aber der
Mann plötzlich vor ihm erschien, erschrak er wie ein kleiner Junge,
der, von seinem Lehrer unversehens aufgerufen, keine Antwort
weiß.
Während er den Gast begrüßte,
vielwortig, um seine Unruhe zu verbergen, durchforschte er, zuerst
scheu, dann immer kühner, das gelbe Gesicht des andern. Justus war
dreiundvierzig Jahre alt wie er selber, und als sie sich vor
sechzehn Jahren in Rom das erstemal trafen, hatten sie einander
verblüffend ähnlich gesehen. Jetzt war wohl keine Ähnlichkeit mehr
zwischen ihnen. Das Gesicht des Justus war härter geworden,
trocken, zerfurcht, sein Gelb spielte ins Graue. Es war bartlos,
sorglich rasiert und saß auf einem erschreckend dürren Hals. Justus
war alt, verbraucht; er hielt sich sehr aufrecht, doch man sah,
wieviel Mühe ihn das kostete. Damals, nach der Abnahme vom Kreuz,
hatte man ihm den linken Arm überm Ellbogen amputieren müssen, und
Josef suchte unwillkürlich nach dem Stumpf.
Während des Essens blieb Justus
einsilbig und genoß wenig von den guten Speisen, die Josef
auftragen ließ. Er wußte Bescheid über alles, was Josef in der
Zwischenzeit getan und erlebt hatte. Bösartig meinte er, Josef sei
sich in seiner Inkonsequenz konsequent geblieben und sei seinen
Zickzackweg entschlossen weitergegangen. Nicht ohne Erfolg, wie man
sehe. Der siegreich beendete Kampf um seinen Sohn Paulus habe
ungemeine Ähnlichkeit mit seinem siegreichen Kampf um jene drei
Doktoren, die er damals mit Hilfe der Kaiserin Poppäa gerettet
habe; auch die Folgen seien einander ähnlich. Der gleiche Charakter
erzeuge offenbar immer wieder die gleichen Situationen und das
gleiche Schicksal. Und Justus kicherte, eine unangenehme
Gewohnheit, die der früher so gehaltene Herr in diesen letzten
Jahren angenommen hatte.
Verachtung dringt selbst durch
den Panzer einer Schildkröte, und früher hatte Josef oftmals
geglaubt, er könne in der Ver achtung des Justus nicht weiterleben.
Doch diesmal nahm er die stacheligen Reden des bitteren Herrn mit
Ruhe hin. Er sah, wie Justus trotz aller Mühe und Geschicklichkeit
durch den Mangel des linken Arms beim Essen behindert war, so daß
seine hurtige Hantierung befremdlich und er selber steif und
jämmerlich wirkte. Ein warmes Gefühl für diesen harten, strengen
und geschlagenen Mann stieg in Josef hoch, und er spürte kaum mehr
die Kränkung seiner Worte.
Was ihn jetzt anfüllte, war eher
Spannung, was der Mann wohl von ihm wolle. Sicher war Justus nach
Judäa gekommen, um sich Kraft für sein Buch zu holen, und daß sie
beide zur gleichen Zeit und aus dem gleichen Grund den heimatlichen
Boden gesucht hatten, war ihm selber eine wichtige Bestätigung;
denn Justus galt ihm als der größte Schriftsteller der Zeit, und
sein Verhalten war ihm der Maßstab seines eigenen Lebens.
Doch Justus ließ während des
Mahls nichts über den Zweck seines Besuches verlauten, auch hernach
nicht, und sie gingen zu Bett, ohne daß Justus gesprochen hätte.
Josef schlief schlecht. Die ganze Nacht hindurch stritt er im Geist
mit Justus, und er fand treffende Antworten auf Sätze, die der
andere leider nicht gesagt hatte. Die Kränkung, die nicht da war,
solange Justus körperlich zugegen war, ätzte ihn nachträglich um so
schärfer. Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und
ich bin einer von ihnen. Aber das Ohr dieses Justus hatte er
nicht.
Am andern Tag konnte er sich
nicht mehr bezähmen und fragte geradezu, ob er Justus und womit
dienen könne. Justus erklärte, er brauche die Erlaubnis der
Regierung, sich vier oder fünf Wochen in Cäsarea aufzuhalten.
Josef, der sich durch seine Schriftstellerei die Gunst der Großen
gewonnen habe, möge einem weniger glücklichen Kollegen in dieser
Angelegenheit behilflich sein.
Josef sagte sogleich und mit
Vergnügen zu. Verwundert fragte er, wie es komme, daß der Sekretär
des Königs Agrippa sich um einer so geringfügigen Sache willen an
ihn wenden müsse. Es ergab sich, daß Justus nicht mehr Sekretär des
Agrippa war. Er hatte seit langem das Gefühl gehabt, er sei dem
König um seiner Schärfe und Intransigenz willen unbehaglich, und in
der letzten Zeit hatte Agrippa ihn immer weniger beschäftigt. Er
aber hatte sein Gehalt nicht umsonst einstreichen wollen, und als
Berenike auf der Rückreise von Rom nach Alexandrien gekommen war,
hatte er sie aufgesucht, um vielleicht durch ihre Vermittlung dem
Agrippa wieder näherzukommen. Berenike hatte ihn auch freundlich
aufgenommen. Doch dann war man, Justus wußte nicht mehr, in welchem
Zusammenhang, auf das Buch Esther zu sprechen gekommen, und Justus
hatte sich ein wenig über Ahasver mokiert, jenen etwas
schwachsinnigen Haremskönig, der sich von seiner Favoritin im Bett
die Wünsche ihres Clans suggerieren läßt. Es schien, daß Berenike
die Charakteristik des Justus auf ihren Titus bezogen und sich
darüber merkwürdigerweise geärgert hatte. Jedenfalls war sie
sichtlich verstimmt gewesen, und Justus, stolz und verdrossen,
hatte gar nicht erst von seinen eigenen Dingen zu reden angefangen,
sondern hatte es vorgezogen, Agrippa glattwegs um seine Entlassung
zu bitten.
Josef hörte den Bericht mit viel
Bedauern und ein ganz klein wenig Genugtuung. Er begriff gut, daß
Agrippa das bösartige Kichern des scharfen Herrn nicht immer um
sich haben wollte. Seltsam, daß ein Mann, der theoretisch soviel
von Psychologie verstand wie Justus, sowenig praktische
Menschenkenntnis besaß. Wie die Dinge lagen, konnte Josef seinen
Freund ohne große Mühe überreden, auf dem Gut zu bleiben, bis die
Erlaubnis aus Cäsarea eingetroffen sei. Er wartete darauf, daß
Justus ihn nach seinen Plänen fragen und von seinem eigenen Werk zu
sprechen beginnen werde. Schließlich, da Justus schwieg, fragte er
ihn geradezu, ob er um seiner Arbeit willen nach Judäa gekommen
sei. Justus bejahte. Josef, erfreut, meinte, auch er selber
verspreche sich mancherlei Vorteile für sein Werk von der Luft des
Landes, seinen Farben, seinen Menschen, seiner Sprache.
Doch Justus verzog nur die dünnen
Lippen. Er kam nicht aus Stimmungsgründen. Er suche Material,
erklärte er trocken, Ziffern, Statistiken. Und Josef war erbittert,
daß des Justus Reise nach Judäa eine Bestätigung des Johann von
Gischala war, nicht eine Bestätigung seiner selbst.
Josef und Justus hatten eine Unterredung mit
Josefs Leibeigenem, dem Gehorsamen, dem Minäer. Die beiden Herren
befragten ihn um seine Glaubensgrundsätze, Justus aufreizend
hochmütig. Man saß in einem niedrigen Raum, halb Küche, halb
Wohnraum, es war Abend und sehr still. Fernher kam das Trappeln und
Blöken der heimkehrenden Schafherden, irgendwo sangen Leibeigene
eintönig in einer fremden Sprache. Die beiden Herren fragten den
Gehorsamen aus wie Forschungsreisende den Angehörigen eines
primitiven Stammes. Der Gehorsame ließ es sich nicht verdrießen,
den offenbar skeptischen, zuweilen recht bissigen Zuhörern seinen
Glauben mit Geduld darzulegen; leise, wenn er sich bewegte,
klingelte die Schelle seiner Leibeigenschaft. Justus schien bei
aller Überheblichkeit interessiert. Er fragte immer weiter, auch
Josef hatte noch viel zu fragen, es wurde Nacht, man brachte Licht,
sie fragten noch immer, und der Gehorsame gab unermüdlich
Auskunft.
Als sie ihn endlich entlassen
hatten, forderte Josef den Justus auf, mit ihm noch ein wenig
spazierenzugehen. Justus war bereit, sie gingen, es war eine
angenehme Nacht, und Josef fand seinen schwierigen Freund in
ungewöhnlich zugänglicher, gelöster Laune. Er wollte diese Stimmung
ausnutzen, um sich mit ihm über die Fragen zu unterhalten, die ihn
bedrückten.
Sie ließen sich am Rand einer
Zisterne nieder. Ein undeutlicher Mond in der Sichel des ersten
Zunehmens schwamm am dunstigen, bläulichschwarzen Himmel, ab und zu
kam ein halber Vogelruf durch die Nacht. Josef öffnete dem Justus
sein Herz, zeigte ihm seine Zweifel, seine Wirrnis. Da waren die
Ungelehrten, die Armen im Geiste, die auf einmal verlangten, an
Jahve und der Lehre ebenso teilzuhaben wie die Gebildeten. Bestand
ihr Anspruch zu Recht? Sollte man sie gewähren lassen? Da waren die
toleranten Lehren des Ben Ismael und die höhnischen Angriffe des
Acher, die ihn nach dieser, die realpolitischen Argumente des
Gamaliel, die ihn nach der andern Seite zerrten. Ja, Josef fragte
sich jetzt manchmal ganz ernstlich, ob seine ganze Gelehrsamkeit,
seine mit soviel Mühen erworbene Methode mehr sei als bloßer Dunst,
ob nicht Leute wie der Minäer Jakob oder selbst dieser Gehorsame,
einfach durch ihren Glauben und ihre Intuition, eine tiefere
Erkenntnis Jahves und der Welt besäßen.
Justus war sommerlich leicht
angezogen; er sah erschrekkend mager aus, und der Armstumpf mit der
trockenen, verschrumpften Haut ragte häßlich aus dem ärmellosen
Unterkleid. So saß er dünn und hager im unsicheren Licht auf dem
Brunnenrand neben Josef. »O mein Josef«, sagte er und kicherte auf
seine gewohnte Art, doch war sein Spott diesmal ohne Bitterkeit,
»machen Sie sich darüber keine Sorgen. Selbst Ihre Gelehrsamkeit,
trotzdem sie mir nicht eben gründlich scheint, taugt noch immer
mehr als das aus ›frommer Schau‹ stammende Wissen Ihres Leibeigenen
oder Ihres minäischen Wundertäters. Ich habe oft den Versuch
gemacht, aus der gerühmten, unverbildeten Seele des Laien
irgendeine Erkenntnis herauszuziehen, aber wenn ich noch so
objektiv prüfte, die Intuition des Laien hat mich niemals
weitergeführt. Wenn es darum geht, einen Tisch zu zimmern, ein
Bauernhaus zu bauen, eine Verstopfung zu kurieren, dann mag der
gemeine Menschenverstand des Laien zur Not genügen; aber wenn ich
einen richtigen Schreibtisch brauche, gehe ich zum gelernten
Tischler, und wenn ich ein richtiges Haus haben will, gehe ich zum
Architekten, und wenn ich Wundbrand habe, gehe ich zum Chirurgen.
Ich sehe nicht ein, warum ich, wenn ich eine tiefere Erkenntnis
Jahves haben will, zum Armen im Geiste gehen soll und nicht zum
Spezialisten, der Jahves Bücher studiert hat. Ich kann mich nicht
mit denjenigen befreunden, die gegen den Intellekt losziehen und
nicht Rühmens genug von der Intuition machen können. Nicht mittels
Intuition hat Pythagoras herausgefunden, daß die Summe der Quadrate
der beiden Katheten dem Quadrat der Hypotenuse gleich sei, und wenn
der Ingenieur Sergius Orata sich auf seine Intuition verlassen
hätte, dann wäre die Warmwasserheizung nie erfunden worden. Wenn es
Rationalismus ist, die Reichen im Geist den Armen vorzuziehen, dann
bin ich Rationalist.«
Er zog mechanisch spielend an der
Kette, die das Schöpfrad der Zisterne bewegte. Es gab ein so hartes
Knarren, daß er erschreckt davon abließ. Er setzte sich bequemer
zurecht und fuhr mit leiser, doch klarer Stimme fort: »Unsere Väter
waren nicht viele, sie zogen durch die Wüste, feste Siedlungen
waren ihnen unbekannt, sie kämpften mit wilden Tieren, mit den
Unbilden eines harten Himmels, sie schlugen sich gegenseitig tot,
sie hatten wenig Zeit für Forschung, sie waren auf Intuition
angewiesen. Mittlerweile sind wir mehr geworden, wir haben gelernt,
in Dörfern und Städten zu wohnen, und wir haben Methoden gefunden,
auf logischem Weg unbestreitbare Tatsachen zu erkennen. Wir
brauchen jetzt keine Intuition mehr, wir haben Wissenschaft. Ich
bin froh, daß wir in einer Epoche der Städte und gesellschaftlichen
Bindungen leben, ich sehne mich nicht zurück nach der Zeit der
Wüste, der Intuition und der Propheten. Wenn einer sich heute für
einen Propheten ausgibt, halte ich ihn für einen Schwindler oder
für einen Narren, und wenn einer seine unbeweisbare Intuition gegen
meine beweisbaren Fakten ausspielen will, werde ich unangenehm. Ich
betrachte Leute, die mir verbieten wollen, meinen Kopf zu
gebrauchen, als meine Feinde. Ich sehe nicht ein, warum einer, der
Verstand hat, weniger fähig sein sollte, Gott zu erkennen, als
einer, der keinen hat.«
Josefs geistiger Hochmut hatte in
diesen letzten Wochen viele Stöße erlitten; es tat ihm gut, die
Worte des Justus zu hören, er verlangte nach mehr. Er sagte: »Sie
wollen nicht sehen, mein Justus, worum es diesen Leuten geht. Diese
Leute glauben, daß man, wenn man sich nur zur Genüge in sich selber
versenkt, Gott in sich einatmen könne wie Luft; sie glauben, daß
überhebliches Vertrauen in das eigene Wissen sich wie ein Panzer um
das Herz legt, so daß es sich zusperrt und Gott nicht mehr
empfangen kann, wenn er kommt. Ich kenne sehr gebildete Männer,
bewandert in den Methoden logischer Forschung, die es gleichwohl
nicht verschmähen, von den Minäern zu lernen.«
Die Nacht war so still, daß einem
das leise Knacken eines brechenden Zweiges laut schien; das
bläuliche Dunkel schien noch dunkler durch die vielen, vag
leuchtenden Insekten. »Die Melodie, die Sie mir da singen, ist mir
sehr vertraut«, kicherte der dünne Justus. »Zurück in die Wüste,
fort von der Zivilisation, fort vom Denken, zurück zur reinen
Schau: dann findet ihr Gott. Alle diejenigen, denen Gott
Urteilskraft versagt hat, predigen das mit Inbrunst. Diejenigen
aber, die es predigen, trotzdem sie denken können, werden lediglich
aus Feigheit zu Verrätern am Geist: weil sie nämlich Angst haben
vor ihren eigenen Erkenntnissen.«
Josef, nach einer Weile, wagte
sich weiter vor. Es drängte ihn sehr, in dem Zwiespalt, der ihn
jetzt am meisten bedrückte, das Urteil gerade dieses Justus
anzurufen; denn ihn allein anerkannte er als zuständigen Richter.
»Vor kurzem«, gestand er, und seine Stimme war auffallend weich und
zaghaft, »lag es in meiner Hand, etwas Entscheidendes zugunsten der
Minäer zu tun. Ich habe es nicht getan. Manchmal glaube ich, daß
das falsch war; manchmal scheint mir, daß ich mich nicht hätte
drücken sollen.« Er wartete ängstlich, als hinge alles davon ab,
auf die Antwort des Justus.
Der aber lachte und erwiderte,
gutmütig geradezu: »Sie sind ein Narr, mein Josef. Daß Sie sich da
gedrückt haben, war die erste vernünftige Tat Ihres Lebens.« Und
Josef freute sich, daß dieser ihn freisprach, er war glücklich und
ihm sehr freund.
Justus aber redete weiter.
Hochmütig, hart, scharf kam seine Stimme durch die laue Nacht:
»Nein, mein Lieber, erwarten Sie sich nichts von der engbrüstigen,
kurzatmigen Doktrin der Minäer. Ihre Lehre ist nur auf Schwächlinge
berechnet. Es ist leicht, auf ein süßes Jenseits zu hoffen, das man
durch bloßen Glauben erlangen kann. Daß einer für alle gelitten
hat, so daß die andern dadurch ihr Teil Leidensverpflichtung los
sind, diese Lehre ist mir zu wohlfeil. Und so simpel das Dogma der
Minäer ist, so verstiegen ist ihre Moral. Schon wir verlangen viel.
Daß man seinen Nächsten nicht hassen soll, ist eine harte
Forderung; immerhin kann man sich mit viel Willenskraft vielleicht
dazu erziehen. Daß man aber die linke Wange hinhalten soll, wenn
der andere einen auf die rechte schlägt, das ist übermenschlich,
unmenschlich und also verurteilt, ein schönes akademisches Ideal zu
bleiben. Nein, mein Josef, kommen Sie mir nicht mit der bequemen
Weisheit vom Nichttun und vom Verzicht.«
»Sie müssen zugeben, mein
Justus«, brachte nach einer Weile Josef einen anderen Einwand, »daß
unter den Juden, abgesehen von den paar Hellenisten, heute die
Minäer die ein zigen sind, die noch an der universalistischen
Tendenz der Schrift festhalten.«
»Das Weltbürgertum dieser Leute«,
sagte wegwerfend Justus, »ist ein Massenartikel wie alles, was sie
lehren. Sie erkaufen sich ihren Universalismus durch Preisgabe
alles dessen, was das Judentum an großer, starker Tradition
besitzt, an geistgewordener Geschichte. Weltbürgertum will erworben
sein. Man muß Nationalismus gespürt haben, um zu wissen, was
Weltbürgertum ist. Wenn ich wählen soll zwischen den Doktoren und
den Minäern, dann ziehe ich die Doktoren vor. Ihr spitzfindig enger
Nationalismus ist widerlich: aber sie ergeben sich wenigstens
nicht, sie kämpfen. Sie verlangen, daß man in der Erwartung eines
aktiven, gefährlichen Messias lebe, dessen Erscheinen man überdies
selber durch das eigene Verhalten beschleunigt oder verzögert. Die
Minäer beschränken sich darauf, einfach zu verzichten. Die Aufgabe
ist: sich nicht national zu verkrusten und sich trotzdem nicht in
farbloses Gemengsel zu verflüchtigen. Die Doktoren haben diese
Aufgabe nicht gelöst, aber die Minäer noch weniger.«
Er verstummte. Sie standen auf.
Schweigend gingen sie durch die Nacht. Als sie fast schon am Hause
angelangt waren, fragte Josef, was er den andern schon einmal vor
vielen Jahren in Rom gefragt hatte: »Was soll ein jüdischer
Schriftsteller heute tun?« Aber der Hagere gab keine Antwort mehr.
Er hob nur die Schultern; es sah seltsam aus, wie die linke
Schulter ohne Arm sich hob, und Josef wußte nicht, ob es nicht eine
Gebärde der Hoffnungslosigkeit war. Unter der Tür aber, sich
verabschiedend, vielleicht in Erinnerung an einen Satz, den er bei
dem ersten Zusammentreffen mit Josef geäußert, sagte Justus: »Es
ist seltsam. Seitdem sein Tempel zerstört ist, ist Gott wieder in
Judäa.«
War das eine Antwort?
Am andern Tag traf der Paß des
Justus für Cäsarea ein, und Justus reiste fort.
Josef aber, in Erinnerung an das
Nachtgespräch an der Zisterne, schrieb an diesem Tage den »Psalm
von den drei Gleichnissen«.
Denen ich zugehöre,
Hat Jahve auferlegt,
Das Salz zu sein seiner Erde.
Wie aber sollen wir es anstellen, das Salz zu sein,
Da des Wassers viel ist
Und wir vergehen würden im Wasser,
Für immer uns auflösend ins Nichts,
So daß unser keine Spur bliebe und kein Geschmack
Und unsere Sendung verloren wäre?
Ich will nicht verloren sein.
Ich will nicht das Salz sein.
Oh, der Lust, Feuer zu sein, Das abgeben kann
von seiner Kraft
Und doch nicht weniger wird und nicht
erlischt. Glückliches Licht, glückliche Flamme.
Aber solche Gabe hat allein der brennende
Dornbusch.
Selbst Mose, da er nach der Flamme griff,
Versengte sich den Mund
Und ward schwer von Wort und ein Stammler.
Wie dürfte mir Geringem träumen von solcher Gabe.
Ich kann nicht das Feuer sein.
Sinnlos vielleicht ist der schimmernde
Bogen,
Wenn durch den Regen die Sonne bricht,
Vielleicht nur eine Freude der Kinder und Träumer.
Und dennoch war’s dieser Bogen gerade, Den
Jahve sich ausersah zum Zeichen
Seines Bundes mit dem vergänglichen Fleisch.
Laß mich solch ein Regenbogen sein, Jahve,
Schnell erlöschend, doch neu geboren immer
wieder,
Schillernd in vielen Farben und dennoch aus einem Licht,
Eine Brücke von deiner Erde zu deinem Himmel,
Gemisch aus Wasser und Sonne,
Immer da,
Wenn Sonne und Wasser sich mengen.
Ich will nicht das Salz sein.
Ich kann nicht das Feuer sein.
Laß mich Regenbogen sein, Jahve.
Josef begann, sich auf seinem Gut zu Hause zu
fühlen. Das Gespräch mit Justus hatte ihm Sänftigung gegeben. Er
war viel allein, machte lange, einsame Spaziergänge, aber er schloß
sich nicht ab von den Menschen. Er tauschte ruhiges Gespräch mit
dem Verwalter Theodor, mit dem Gehorsamen, mit andern seiner
Knechte und Mägde.
Eines Tages in dieser
besinnlichen Zeit ging er hinaus nach dem Vorwerk »Brunnen der
Jalta«, wo Mara lebte. Mara errötete jäh, als er kam, aber es war
nicht die böse, zornige Röte ihres ersten Wiedersehens. »Heil
Mara«, begrüßte sie mit der üblichen, aramäischen Formel Josef, und
»Friede mit dir, mein Herr«, gab sie ihm die Formel
zurück.
Dann aber fragte sie wie Dorion:
»Was haben wir uns noch zu sagen?« Und da er schwieg, fügte sie
hinzu: »Ich habe viel Arbeit. Die Weinberge sind verwildert, und
die Früchte des Ölbaumes verkommen. Auch ist die hellfarbige,
babylonische Eselin trächtig. Ihre Wartung erfordert Sorgfalt, und
sie war sehr teuer.«
»Laß mich hier sitzen und dir
zuschauen«, bat er. Und er saß still und schaute ihr zu. Er war
nach dem Lande Israel zurückgekommen, um sich Klarheit zu schaffen,
aber sein Aufenthalt in Cäsarea und in Galiläa, in Samaria und in
Emmaus, in Lud und in Jabne hatte ihm nur tiefere Verwirrung
gebracht. Die Ruhe, die Kraft zum Werke, die er brauchte, konnte er
nur hier auf seinem Gut finden.
Er saß auf einer besonnten,
kleinen Mauer und schaute Mara zu, wie sie arbeitete, barfuß, in
dem breitrandigen Strohhut, der sie vor der Sonne schützte. Er saß
still und ließ seine Gedanken treiben.
Bevor die Winterstürme kommen und
die Schiffahrt eingestellt wird, will er zurück in Rom sein; so hat
er es sich vorgenommen. Wäre es nicht vielleicht weiser, im Lande
zu bleiben und in Ruhe die Geschichte Israels hier zu schreiben?
Aber wenn er hier arbeitet, wird nicht gerade das Land selber ihn
stören, die übergroße Nähe der Dinge und Menschen, die Wirrnis der
noch fließenden Ereignisse ringsum? Braucht man, um Geschichte zu
schreiben, nicht Distanz, auch räumliche?
So mag Boas auf Ruth geschaut
haben, wie er jetzt sitzt und auf Mara schaut. Ruth war eine
Moabitin, eine Fremde, eine Nichtjüdin, und gerade sie, erzählt die
Schrift, wurde zur Stammutter Davids auserwählt. Die Schrift ist
nicht eng und nicht nationalistisch. Jahve, erzählt sie ein
andermal, zürnte dem Jona und strafte ihn, weil der sein Wort nur
Israel weitergeben wollte und sich weigerte, es auch den Nichtjuden
zu verkünden, der großen Stadt Ninive. So ist die Schrift. Er,
Josef, hat die Nichtjüdin geheiratet, wie Mose die Midianitin. Aber
er ist kein Mose, und seine Ehe hat kein gutes Ende
genommen.
Das Levirat ist eine merkwürdige
Einrichtung. Wenn ein Mann gestorben ist, ohne seiner Frau einen
Sohn zu hinterlassen, dann hat der Bruder des Mannes die Pflicht,
die Frau zu ehelichen und ihr Kinder zu machen. Wieviel mehr
Verpflichtung hat ein Mann vor einer Frau, deren einziger Sohn
durch seine Schuld umgekommen ist. Viele der Doktoren preisen die
Wiederverheiratung mit der Geschiedenen als edle, verdienstliche
Tat. Wenn jetzt hier in der Sonne um die arbeitende Frau Kinder von
ihm spielten, das wäre ein erfreulicher Anblick. Gamaliel ist ein
kluger Herr und ihm zugetan; er würde, wenn Josef diese Frau von
neuem ehelichte, Mittel und Wege finden, zu erwirken, daß alle
diese Ehe als eine vollgültige anerkennen.
Er saß still bis zum Abend und
nötigte seinen Gedanken keine Folgerichtigkeit auf, sondern ließ
sie kommen und gehen, wie sie wollten. Als es Abend wurde, rief
Mara ihre Knechte und Mägde zum Essen. Er wartete, ob sie ihn nicht
zum Bleiben einlade. Sie lud ihn nicht ein. Da grüßte er, ernst,
höflich, und ging fort.
In der Stadt Lud wußte man offenbar noch nichts
von dem Gutachten über die Minäer, von dem der Gouverneur dem Josef
gesprochen hatte. Auch bedrängten ihn weder Channah noch der Acher
noch gar Ben Ismael mit unbehaglichen Fragen, ob er bei Flavius
Silva wegen ihrer Universität vorstellig geworden sei. Trotzdem war
die Vertrautheit fort, die vor seiner Reise zwischen Josef und
denen von Lud gewesen war. Er hatte zwar durch das Gespräch mit
Justus viel von seiner früheren Sicherheit zurückgewonnen; trotzdem
war es ihm leid, daß die in Lud ihn jetzt wie einen Fremden
behandelten. Bestimmt hielt, trotz aller äußeren Höflichkeit, die
heftige Channah ihn für einen Schwächling.
Seltsam war die Haltung des
Acher. Er bat Josef in sein Haus, sie aßen gemeinsam zu Abend, die
beiden Männer und die schöne, braune Tabita. Der Acher war heute
nicht so gesprächig wie sonst. Josef, von dieser Schweigsamkeit
bedrängt, redete um so mehr, erzählte von dem Gouverneur, von
Flavisch Neapel, von Liban, dem Stadtrat Akawja, sogar von Justus.
Der Acher wandte ihm langsam sein fleischiges Gesicht zu, blinzelte
ihn aus traurigen, wissenden Augen an, sagte unvermittelt: »Sie
haben in Ihrem Leben viel getan, viel geredet und viel geschrieben,
mehr als die meisten andern Menschen. Sicher waren Sie immer
bestrebt, Ihr Reden und Ihr Tun in Einklang zu bringen. Merkwürdig,
daß es Ihnen so selten geglückt ist.«
Josef war überrascht von diesem
plötzlichen, robusten Anwurf. Wäre nicht das Gespräch mit Justus
gewesen, er hätte wohl heftig erwidert. Nun aber war ihm die
bittere Rede des jungen Menschen fast lieber als die Stummheit der
andern. Für die Vergangenheit mochte dieser recht haben, für die
Zukunft bestimmt nicht. Und er erwiderte nichts.
Die braune Tabita lag faul auf
ihrem Speisesofa, schön und schläfrig. Der Acher sagte: »Ich habe
übrigens Ihren Kosmopolitischen Psalm in griechische Verse
gebracht.« Josef war voll brennender Spannung, wie seine Strophen
im Griechischen des Acher klingen würden; doch er wagte nicht, ihn
zu bitten, sie ihm herzusagen. Allein der Acher, nachdem er Josef
eine kurze Zeit hatte warten lassen, begann von selbst. »Hören
Sie«, sagte er, stellte sich hinter den Tisch, stützte die Hände
auf, schaute vor sich hin, die Augen gesenkt, begann, gesammelt zu
sprechen, in seinem langsamen, reinen Griechisch.
Er hatte aber in seine
Übertragung jede Schwingung, jeden Anklang der hebräischen Verse
des Josef eingefangen. So, genauso, hätte Josef sein Gefühl Gestalt
annehmen lassen, wenn er griechisch geboren wäre. Er war
hingerissen von der Schönheit der Verse, wie sie jetzt in dem
fremden, geliebten, gehaßten, ersehnten Idiom ihm ins Ohr und ins
Herz drangen. Er sprang auf, umarmte den Acher, küßte ihn. »Sie
müssen mit mir nach Rom kommen, mein Jannai«, bestürmte er ihn.
»Wir müssen gemeinsam arbeiten. Wir müssen die
›Universalgeschichte‹ der Juden zusammen schreiben, Sie und ich.
Sie dürfen nicht hierbleiben. Es wäre ein Verbrechen an Ihnen
selber, an mir, an Israel, an der ganzen Welt.«
Die Braune war durch die lauten,
heftigen Worte Josefs vollends wach geworden, neugierig schaute sie
auf ihn. Der Acher sagte, sie freundlich streichelnd: »Schlaf
weiter, meine Taube.« Doch zu Josef sagte er, trocken: »Sie
vergessen, mein Flavius Josephus, daß ich es dahin bringen will,
daß mein Leben zu meinen Worten stimmt. Aber es freut mich, daß
meine Übersetzung Ihren Beifall hat.«
Josef war kaum in Jabne angekommen, als ihn
der Großdoktor zu sich bat. Gamaliel schien davon zu wissen, daß
Josef in Cäsarea nichts für die in Lud unternommen hatte. »Ich kann
mir unschwer vorstellen«, sagte er, »daß unsere gemeinsamen Freunde
Ihnen mit ihrem alten Anliegen kamen. Es muß für den Autor des
Kosmopolitischen Psalms eine große Versuchung gewesen sein, der
nationalen Universität Jabne eine übernationale entgegenzustellen.«
– »So war es«, sagte Josef aufrichtig. »Ich freue mich«, erwiderte
Gamaliel, »daß meine Gründe in Ihrem Gemüt Anklang fanden. Das
erleichtert mir die Bitte, die ich an Sie habe.« – »Hier bin ich«,
antwortete formelhaft Josef.
»Sie wissen«, begann, fest
zupackend, der Großdoktor, »daß Flavius Silva von mir ein Gutachten
über die Minäer verlangt hat?« – »Ja«, erwiderte Josef. »Ich höre«,
fuhr Gamaliel fort, »daß der Gouverneur den Stadtrat Akawja
begnadigen will. Haben Sie das erwirkt?« –
»Ich habe davon gesprochen«, sagte Josef. »Der Gouverneur hat es
Demetrius Liban zuliebe getan.«
Der Großdoktor setzte sich dicht
neben Josef, sprach zu ihm wie ein jüngerer Freund zum älteren,
herzlich, vertraulich. »Es gibt viele schwebende Fragen zwischen
Jabne und der Regierung in Cäsarea. Es wäre gut, wenn wir dort
einen ständigen Vertreter hätten. Die Doktoren und das Volk
zusammenzuhalten erfordert die ganze Kraft eines Mannes. Es geht
über die Kraft eines einzelnen, die Judenheit auch noch vor Rom zu
vertreten.« Und, ganz leichthin, als spräche er vom Wetter, bot er
ihm an: »Wollen Sie mir die Außenpolitik abnehmen, Doktor Josef?
Sie sind in diesen Fragen erfahrener als ich und unter den Juden
derjenige, vor dem man in Rom die größte Achtung hat. Ich könnte
mir denken, daß, wenn ein so geschickter Mann wie Sie unsere Sache
führt, Rom uns in fünf oder sechs Jahren mehr Befugnisse einräumt,
so daß allmählich das Kollegium von Jabne aus der religiösen
Vertretung der Juden auch wieder zu einer politischen wird. Ich
habe immer ohne Rückhalt zu Ihnen gesprochen, Doktor Josef, ich
nehme an, Sie halten mich für ehrlich. Teilen Sie die Macht mit
mir. Lassen Sie mir die Innenpolitik, und seien Sie unser Gesandter
in Cäsarea. Seien Sie unser Repräsentant vor Rom. Sie allein können
es.« Und, unvermutet in einen scherzhaften Ton übergehend, schloß
er: »Sie müssen es tun, schon um meinen Doktoren neues Gezänk zu
ersparen. Wenn Sie ablehnen, dann muß ich über kurz oder lang nach
Rom. Bedenken Sie, was es dann für Debatten geben wird, ob ich die
Sabbatgesetze übertreten und die Seereise nach Rom unternehmen
darf.«
Josef war ein Mann des
Augenblicks, sein hageres Gesicht gab jede Regung wieder, und es
kostete Gamaliel nicht viel Mühe, zu sehen, wie sehr sein Antrag
ihn bewegte. Viele Gedanken gingen in Josef hin und her. Das Amt,
das Gamaliel ihm anbot, war geeignet, seinem Leben Rückgrat zu
geben, und ließ ihm trotzdem Muße für seine Bücher. Süß und
lieblich ist die Heimat. Als er auf der kleinen Mauer saß, in der
Sonne, auf dem Vorwerk »Brunnen der Jalta«, hat er davon geträumt,
im Lande zu bleiben, auf dem Boden, der so lange seine Väter
getragen, in der Luft, die sie so lange geatmet. Es ist ein ver
lockendes Amt, er könnte vermitteln zwischen denen in Lud und denen
in Jabne. Mit diesem Gamaliel kann er sich leicht verständigen, und
mit denen in Lud ist gut reden. Es wäre ein schönes Leben, das
halbe Jahr in Cäsarea, das halbe Jahr auf seinem Gut, mit Mara. Er
könnte sich entspannen, könnte aramäisch sprechen, wäre nicht der
Fremde wie in Rom. Hier hat er gesehen, was alles ihm in Rom
gefehlt hat. Wenn er mit Männern wie diesem Gamaliel, dem Acher,
dem Ben Ismael zusammen ist, dann spürt er, daß hier seine Wurzeln
sind, und selbst die schwerfälligen Meditationen der galiläischen
Bauern und die abstrusen Diskussionen der Doktoren, ihr Singsang,
ihre läppischen Streitigkeiten, gehören zu ihm. Es ist gewiß, daß
ihm aus alldem Kraft zuwächst. Ist es nicht vermessen, auf diese
Kraft zu verzichten, sich auf sich allein zu stellen?
Aber sein Werk, seine Geschichte?
Wenn er sie hier schreibt, wird sie nicht gefärbt werden? Wird sich
nicht notwendig der kleine, alberne Alltag der Provinz in sie
einschleichen?
Gamaliel, als hätte er seine
Gedanken erraten, fuhr fort: »Es ist Ihnen geglückt, die Geschichte
des Krieges so zu schreiben, daß die Juden sie ohne Erbitterung
lesen und die Römer mit Freude. Aber ich fürchte«, und er wies auf
das Mosaik des Fußbodens, das die Traube darstellte, das Emblem
Israels, »es ist noch nicht soweit, daß einer gleichzeitig vom Saft
der Traube und von der Milch der Wölfin trinken kann. Gott hat
Ihnen viel Kraft mitgegeben; aber man muß wohl vom Wuchs der alten
Propheten sein, um beides zeitlebens verdauen zu können. Rom ist
groß; wenn einer dort ist, liegt das Land Israel weit dahinten und
sieht sehr gering aus. Die Fleischtöpfe Roms quellen über, hier
sind Milch und Honig spärlich geworden.« Er erhob sich, aber er
ging nicht an den Pfeiler, um eine Rede zu halten, vielmehr blieb
er vor Josef stehen und sprach ihm freundschaftlich zu, mit Wärme,
ja, er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin jünger als
Sie, und vielleicht heißen Sie mich zudringlich. Ich gebe zu,
bisher ist es Ihnen geglückt, gleichzeitig Römer und Jude zu sein,
und wenn wir alle glaubten, jetzt könnten Sie nicht mehr aus, jetzt
müßten Sie sich festlegen, dann fanden Sie noch immer eine
Möglichkeit, auf beiden Schultern zu tragen. Aber wenn Sie jetzt zu
Schiff gehen, um nach Rom zu fahren, dann, fürchte ich, ist das
Ihre letzte Entscheidung, eine endgültige. Ziehen Sie es vor,
griechischer Schriftsteller zu sein oder jüdischer? Sollen die
Späteren Sie den Geschichtsschreiber des jüdischen Volkes nennen
oder den des Palatin?«
Gamaliel sprach dringlich,
werbend, und er hatte den rechten Ton getroffen, Josef war sehr
gelockt. Das Land zog ihn an, die Menschen, das Geschäft, das
dieser ihm anbot, der Mann selber, seine Jugend, seine Kraft, seine
schlaue Gradheit, sein Schweigen, sein Reden. Es war reizvoll,
Seite an Seite mit diesem Manne die öffentlichen Dinge der Juden zu
ordnen. Aber war es nicht besser, statt im kleinen Geschichte der
Juden zu machen, im großen Geschichte der Juden zu
schreiben?
Gamaliel merkte, daß jedes Wort
weiter seine Rede nur abschwächen werde. Er drängte nicht auf
Antwort. »Überdenken Sie meinen Vorschlag in Ruhe«, schloß er. »Sie
haben Zeit, bis der Winter kommt und die Schiffahrt
schließt.«
Bevor der Großdoktor dem Kollegium die
Forderung Roms amtlich mitteilte, berief er jene von den Doktoren
zu sich, die als Freunde der Minäer galten, um mit ihnen zu
beraten.
Bestürzt saßen Ben Ismael und
seine Freunde in Gamaliels Studierzimmer. Sogleich erkannten sie,
worum es ging, daß man, wenn man sich schützend vor die Minäer und
ihre Wanderprediger stellte, neue Bedrückung Israels durch Rom
heraufbeschwor. Sie sahen sich an, sie sahen den Großdoktor an, sie
wußten keinen Rat.
Schließlich mußte Gamaliel selber
den Niedergeschlagenen Mut zusprechen. Ihm liege alles daran,
erklärte er, eine Spaltung der Judenheit zu vermeiden. Fürs erste
müßten natürlich die Christen, um Rom nicht weiter zu reizen, ihre
nach dem Beschneidungsverbot doppelt gefährliche Propaganda unter
den Nichtjuden aufgeben. Falls sie das täten, sehe er eine schwache
Möglichkeit, sie weiter in der Gemeinschaft zu halten. Wenn auch
manchmal unter ihnen Ansichten laut würden, die hart an »Leugnung
des Prinzips« streiften, so wichen doch die meisten der Minäer nur
in geringfügigen Punkten von der Lehre Jahves ab. Ihm scheine es
das beste, die Führer der Minäer disputierten öffentlich und in
Ruhe mit den Doktoren über die strittigen Fragen. Er hoffe sehr,
eine solche Disputation werde dem Kollegium die gutachtliche
Erklärung ermöglichen, die Christen gehörten der jüdischen
Gemeinschaft an.
Selbst diejenigen unter den
Doktoren, die Gamaliel trotz seiner bisherigen Neutralität für
einen stillen Feind der Minäer hielten, mußten zugeben, daß sein
Angebot außerordentlich fair war. Die Christen selber gestanden zu,
daß in ihren Lehrmeinungen viel Wirrwarr sei. Eine Disputation, wie
Gamaliel sie vorschlug, erlaubte den Führern der Minäer, ihre
Glaubensgrundsätze, ohne Preisgabe des Wesentlichen, den Dogmen der
Doktoren anzupassen. Der Vorschlag des Großdoktors wies den
Christen einen Ausweg aus der bedrängten Lage, er legte großmütig
die Entscheidung, ob sie künftighin in der Gemeinschaft bleiben
wollten, in ihre eigene Hand. Die minäerfreundlichen Doktoren
priesen die Weisheit und Milde Gamaliels, stimmten zu.
Doktor Ben Ismael übernahm es,
dem Wundertäter Jakob aus dem Dorfe Sekanja als dem anerkannten
Führer der Minäer in den Bezirken Lud und Jabne den Vorschlag des
Großdoktors zu übermitteln. Es geschah, was Ben Ismael im geheimen
gefürchtet hatte. Jakob lehnte, ohne auch nur eine Minute zu
überlegen, das Angebot ab. Sein glattes, sachliches Bankiergesicht
rötete sich ein wenig, er blieb ruhig, aber es war eine erkämpfte
Ruhe.
»Wir rufen unsere Wanderprediger
nicht zurück«, führte er aus. »Dies wäre für uns das schlimmste
Verbrechen, in Wahrheit, ›Leugnung des Prinzips‹. Denn uns bleibt
Jahve der Gott nicht nur Israels, sondern der ganzen Welt, und wir
lassen es uns nicht nehmen, seine Lehre, wie er es uns aufgetragen,
unter den Heiden zu verbreiten, auch wenn die Römer die
Beschneidung verboten haben. Wir verkünden unsern Glauben, wir
freuen uns, wenn immer mehr Menschen ihn annehmen, denn wir haben
an uns selber die Erfahrung gemacht, daß dieser Glaube ein großer
Trost und daß, wer in ihm lebt, geborgen ist.
Auch mit den Doktoren über unsern
Glauben zu disputie ren, lehnen wir ab. Wir könnten es nicht,
selbst wenn wir wollten. Keiner von uns darf sich erdreisten, für
einen andern zu sprechen als für sich selber. Dies eben
unterscheidet uns von den Doktoren, daß wir niemand auf eine
bestimmte Lehrmeinung festlegen wollen. Wir wiegen nicht logische
und theologische Argumente gegeneinander ab, wir versenken uns in
die Geschichte unseres Heilands. Aus seinen Worten und aus unserm
Herzen holen wir unsern Glauben. Wir erlauben einem jeden von uns,
die Worte des Heilands auf seine eigene Weise zu verstehen. Keiner
ist gebunden an die Auslegung eines andern. Deshalb nennen viele
von uns sich ›Gläubige‹, weil wir vorgeschriebene Meinungen nicht
einfach annehmen, sondern weil jeder von uns gehalten ist, sich
seinen Glauben aus der eigenen Brust herauszugraben.
Wir haben keine Grenzen für
unsern Glauben, wir wollen keine haben. Wir haben nicht einmal
einen gemeinsamen Namen. Bald nennen wir uns Gläubige, bald nennen
wir uns Arme, bald nennen wir uns Christen. Wir müssen es den
Doktoren überlassen, unsern Glauben zu definieren; sie haben mehr
Vertrauen in ihre Weisheit. Wir selber können unser Gemeinsames
nicht bei einem Namen nennen, wir wollen es auch nicht, wir sind zu
demütig dazu.
Wir halten uns für Juden. Wir
glauben, was die Doktoren glauben, wir halten die Gebräuche, wie
die Doktoren sie uns vorschreiben. Aber wir glauben mehr, und wir
stellen unser Leben unter strengere Grundsätze. Wir glauben nicht
nur an die Priester, wir glauben auch an die Propheten. Wir geben
dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber wir glauben nicht, daß ein
Verbot des Kaisers uns von der Verpflichtung entbinden kann, die
Gebote Jahves zu halten. Und wir glauben, daß wir Kinder nicht nur
eines jüdischen Gottes sind, sondern Gottes schlechthin. Wir wollen
keinen aus seinen Grenzen herauslokken, der sich in seiner Enge
wohl fühlt, aber uns ist aufgegeben, die Weite Jahves zu rühmen.
Wir wollen Theologie, aber darüber hinaus wollen wir Religion. Wir
wollen eine jüdische Kirche, aber darüber hinaus wollen wir
Judentum.
Sehen Sie nicht, Sie, mein Doktor
und Herr Ben Ismael, der es gut mit uns meint und unserm Glauben
nicht fern ist, sehen Sie nicht, daß der Großdoktor uns mit seinem
Vorschlag nur eine Schlinge legen will? Man wird uns Fragen
stellen, auf die wir weder mit Ja noch mit Nein werden antworten
können, man wird protokollieren, man wird statt eines Gutachtens
das Protokoll den Römern vorlegen, man wird erreichen, daß die
Römer unser Christentum für eine unerlaubte Religion erklären. Die
Doktoren werden uns nicht ausschließen, sie werden es den Römern
überlassen, uns zu bannen, so wie sie seinerzeit die Tötung des
Messias den Römern zuschoben, und sie werden sich die Hände in
Unschuld waschen.
Wenn Sie
mich fragen, mein Doktor Ben Ismael, was ich glaube, dann forsche
ich gern in meinem Herzen und lege vor Sie hin, was ich finde. Wenn
einer schlichten und ehrlichen Gemütes zu uns kommt und
Erläuterungen haben will, wir ruhen nicht Tag und Nacht, bis wir
das rechte, einfache Wort gefunden haben. Aber es käme mir wie
Lästerung vor, wenn ich mich im Lehrhaus von Jabne hinstellte und
mit den Doktoren um die Einzelheiten meines Glaubens feilschte.
Sollen sie uns verbieten oder uns von den Römern verbieten lassen.
Ich will mir nicht die Duldung der Doktoren damit erkaufen, daß ich
nur die halbe Wahrheit verkünde und die halbe unterschlage. Lieber
verkünde ich geächtet und verfolgt die ganze. Wer die halbe
Wahrheit sagt, den speit Gott aus seinem Mund. Selig sind, die um
der ganzen Wahrheit willen Verfolgung leiden.«
Sehr bald und auf bittere Art sollte Doktor
Ben Ismael erfahren, daß Gamaliels Loyalität Verstellung war. Der
Angriff kam wuchtig und unvermutet.
Es gab ein uraltes Gebet, das
dreimal täglich zu sprechen alle Juden seit Jahrhunderten
verpflichtet waren und das seit der Zerstörung des Tempels als
Ersatz des Opfers galt: die Achtzehn Bitten. Einige von diesen
Bitten, die sich mit dem Wohl der Gemeinschaft befaßten, hatten
durch die Zerstörung des Tempels ihren rechten Sinn verloren und
waren widerspruchsvoll geworden. Man hatte sie provisorisch durch
einige Bittsprüche aus der Zeit Juda Makkabis ersetzt. Allein auch
diese, trotzdem sie aus einer Zeit der Unterdrückung und des
zerstörten Tempeldienstes herrührten, wollten nicht recht zu den
heutigen Verhältnissen stimmen.
Unvermittelt nun, bei einer
Debatte über die Revision des Lobspruches, der beim Brechen des
Brotes zu sagen war, drängte Doktor Helbo Bar Nachum darauf, daß
der Text auch der drei nationalen Bitten eine eindeutige, der
heutigen politischen Situation angepaßte Fassung erhalte. Vor allem
die Bitte um die Wiedererrichtung Jerusalems gebe in ihrer jetzigen
vagen Formulierung Anlaß zu vielen Mißdeutungen; er habe mit
eigenen Ohren gehört, wie Halbgläubige und sogar ganz Ungläubige
dieser Bitte ihren eigenen, ketzerischen Sinn unterlegten. Leute,
die verstockt und tückisch behaupteten, der Messias sei längst
erschienen und die Zerstörung des steinernen Jerusalem sei
verdiente Strafe und ein Segen gewesen, selbst solche Leute
sprächen bedenkenlos die große und erschütternde Bitte um die
Wiedererrichtung Jerusalems mit und sagten amen, wenn der Vorbeter
sie spräche. Sie erklärten frech und einfach, es handle sich
lediglich um die Wiederherstellung eines Jerusalem »im Geiste«.
Doktor Helbo war ein feister Herr mit mächtigem, fleischigem Kinn
und einer tiefen Stimme, deren Grollen den Raum gewaltig erfüllte.
»Was meinen die Doktoren und Herren?« schloß er seine Rede und sah
sich erwartungsvoll um.
Das Kollegium pflegte den
Debatten über »Leugnung des Prinzips«, wie er und die Doktoren
Jesus und Simon der Weber sie immer von neuem anschnitten, ohne
Teilnahme zuzuhören. Doktor Helbo wußte, man wollte die
Entscheidung der heiklen Frage, ob man die Minäer als Juden gelten
lassen solle, so lange wie möglich hinausschieben. Wagen aber die
Kollegen auch jetzt noch, nachdem die Regierung das Gutachten
eingefordert, der Debatte auszuweichen? Er blickte hinüber zu den
Sitzen der Minäerfreunde. Die schauten einander unbehaglich an. Sie
wußten nicht recht, worauf eigentlich Doktor Helbo hinauswollte.
Sie zogen es vor, zu schweigen.
Da niemand sich meldete, stand
Doktor Jesus aus Gophna auf und sprach. Er war ein ruhiger Herr und
pflegte seine Worte zu messen. Auch ihm, führte er aus, komme es
wie Gotteslästerung vor, wenn seine Gebete sich im Ohre Jahves
mischten mit den Gebeten von »Leugnern des Prinzips«. Das eigene
Gebet scheine ihm verschmutzt, wenn der Nebenmann die gleichen
Worte aufsteigen lasse, ihren Sinn bösartig ins Gegenteil
verrenkend. Man könne nicht aus frommem Herzen amen sagen zu der
Bitte um den Wiederaufbau der Stadt, wenn man neben sich ein Amen
höre aus dem Munde eines Menschen, der die Zerstörung dieser Stadt
für segensreich erkläre, ein verdeuteltes Amen also, eine Ketzerei.
Notwendig schleiche sich da auch dem Ruhigsten Grimm über die
Heuchler ins Herz, und statt sich durch das Gebet Verdienst zu
erwerben, falle man in Sünde.
Man erwartete, jetzt werde ein
Antrag kommen. Aber nein, auch Doktor Jesus begnügte sich mit der
Konstatierung. Sollte, fragten sich die Minäerfreunde, auch diese
Debatte wieder nur Stimmungsmache sein, oder glaubten es die drei
an der Zeit, loszuschlagen?
Sie schlugen los. Simon der Weber
bat ums Wort. Er fragte den Doktor und Herrn Helbo, ob der ein
Mittel wisse, den Gottesdienst von dem bösen Gift zu befreien,
davon er und der Kollege Jesus gesprochen.
Doktor Helbo wußte ein Mittel.
Bei der flüchtigen Revision des Achtzehngebetes vor zehn Jahren
hatte man eine der Bitten einfach getilgt, ohne sie zu ersetzen,
und so den Grundrhythmus des Gebetes zerstört. Jetzt also
erreichten die Bitten nicht einmal mehr die Achtzehn, die heilige
Zahl des Lebens. Man möge endlich, schlug Doktor Helbo vor, diese
ursprüngliche Zahl wiederherstellen, und zwar möge man die drei
Bitten um Wiedererrichtung des Tempels und der Nation ergänzen
durch ein Fluchgebet gegen jene Verderber am Wort, die diese Bitten
durch Mißdeutung »ins Geistige« verfälschen wollten. Eine solche
Regelung stelle nicht nur die ursprüngliche Ordnung des Gebetes
wieder her, sondern sie beseitige auch die Gefahr, von der er und
seine Kollegen gesprochen; denn eine solche Bitte könnten die
Ketzer schwerlich mitsprechen, zu einer solchen Bitte könnten sie
schwerlich amen sagen.
Jetzt wußten Ben Ismael und seine
Freunde, worum es ging. Keiner der drei hatte die Minäer mit Namen
genannt, aber es war klar, daß sie die Achtzehn Bitten zur Waffe
machen woll ten, die Christen aus den Synagogen und aus der
Gemeinschaft zu vertreiben. Die Minäer hielten darauf, am
Gottesdienst der Allgemeinheit teilzunehmen. Sie zitierten gern den
Propheten: »Gebet ist besser denn Opfer«, die uralten Achtzehn
Bitten waren ihnen so teuer wie allen andern Juden. Sie liebten von
ganzem Herzen den frommen, kunstlosen Gesang, mit dem die Bitten
vorgetragen wurden, in vielen Gemeindehäusern stellten sie die
Vorbeter. Wenn jetzt, wie Doktor Helbo vorschlug, mit deutlicher
Hinzielung auf die Minäer eine Fluchbitte eingefügt wurde, dann
konnten diese nicht, wie es Vorschrift war, dazu amen sagen, sie
konnten nicht selber Jahve anflehen, sie auszurotten. Sie mußten
aus den Bethäusern weichen.
Der Antrag war von den dreien
klug ausgesonnen. Nahm man ihn an, so zwang man den Minäern nicht
nur die Entscheidung auf, der sie bisher ausgewichen waren, sondern
man vermied auch das Odium, den Römern durch das Gutachten den
Vorwand für eine Verfolgung der Minäer zu liefern. Man konnte dem
Flavius Silva schlicht erklären: es gibt ein einfaches Mittel,
festzustellen, wer Jude ist, wer nicht. Unsere Lehren sind in den
Achtzehn Bitten festgelegt. Wer sie mitspricht, wer zu ihnen amen
sagt, ist Jude. Wer das nicht tut, gehört nicht zu unserer
Gemeinschaft. Es stand durchaus bei den Minäern, ob sie zu der
Fluchbitte gegen die Ketzer amen sagen wollten oder
nicht.
Ben Ismael erkannte rasch die
Gefahr, die in dem Antrag Doktor Helbos stak. Durch eine nicht
unbillige liturgische Vorschrift um das peinliche Gutachten
herumzukommen mußte den meisten der Doktoren als eine gesegnete
Lösung erscheinen. Aber statt auf Mittel zu sinnen, wie man den
gefährlichen Schlag parieren könne, quälte den Ben Ismael eine
einzige Frage: war das bösartige Manöver von den dreien allein
ersonnen, oder hatte sein Schwager Gamaliel es ausgedacht? Es hätte
ihn in der Seele geschmerzt, Gamaliel im Bunde mit den dreien zu
wissen.
Der Großdoktor überhob ihn rasch
aller Zweifel. Er ergriff selber das Wort, meinte kurz und trocken,
die Lösung, die Doktor Helbo gefunden, scheine ihm gerecht und
weise; er pflichte ihr bei. In Ben Ismaels großem Kopf wirbelten
hundert bittere Gedanken, anklägerische, empörte, resignierte. Noch
nicht viele Wochen war es her, da hatte er zu Channah gesagt, nie
würden seine Freunde einen Antrag gegen die Minäer durchgehen
lassen. Jetzt war die Forderung der Römer nach dem Gutachten
dazwischengekommen, man konnte keinen mehr tadeln, der dem höllisch
schlauen Antrag Helbos zustimmte; im Gegenteil, man mußte als Feind
der Gemeinschaft erscheinen, wenn man ihn bekämpfte. Er war so
betäubt, daß er nicht Worte fand, den dreien und dem Großdoktor zu
erwidern.
An seiner Statt erwiderte einer
seiner Freunde. Das Gebet, führte er aus, sei dazu da, von Gott
Gnaden für sich selber zu erbitten, nicht Rache an andern; man
müsse es Jahve überlassen, seine Leugner und Lästerer zu
bestrafen.
Doch damit erwirkte er nur, daß
Doktor Simon mit dem Beinamen der Weber ein zweites Mal aufstand
und jetzt, nach dem Eingreifen des Großdoktors, in der Sicherheit
des Sieges, ganz massiv und deutlich wurde. Man müsse, erklärte er,
die Ketzer zwingen, ihr Gesicht zu zeigen, jene Zweideutigen, die
da behaupteten, Juden zu sein, die aber götzendienerisch vor einem
Halbgott knieten, der ihnen angeblich die Last ihrer Sünden
abgenommen habe. Der Meinungen seien viele, manche seien gut und
manche weniger gut, viele Wohnungen seien in Jahves Haus, aber kein
Raum sei für jene, die durch den Glauben an diesen Halbgott
verstießen gegen das ein und einzige Bekenntnis der jüdischen
Lehre: »Höre, Israel, Jahve unser Gott ist einzig.«
Wenn der Großdoktor jetzt hätte
abstimmen lassen, dann hätten sicher sechzig von den siebzig Herren
des Kollegiums für den Antrag Helbo gestimmt. Aber Gamaliel blieb
loyal wie stets. Ihm scheine, schloß er die Sitzung, es hätten sich
einzelne erzürnt, und er schlage vor, die Abstimmung auf den andern
Tag zu verschieben; denn es sei nicht gut, eine so wichtige
Entscheidung erregten Gemütes zu treffen.
Ben Ismael schlief nicht in dieser Nacht.
Freunde waren um ihn, auch der Minäer Jakob war eilends aus seinem
Dorfe Sekanja nach Jabne gekommen. Sie alle saßen um Ben Ismael in
Bestürzung und Trauer.
Der Minäer Jakob sagte: »Ihr
wißt, daß wir Juden sind und das Gesetz nicht verletzen wollen.
Unser Messias ist gekommen, das Gesetz zu erfüllen. Wir sind
friedfertige Leute. Schließt uns nicht aus. Es ist eine alte Lehre
und eine neue Lehre. Wir glauben an die neue, aber wir verwerfen
nicht die alte. Wenn ihr uns ausschließt, werden immer mehr Heiden
zu uns kommen, es wird in unserm Glauben immer mehr von der neuen
Lehre sein und immer weniger von der alten. Zwingt uns nicht, um
der neuen Lehre willen die alte aufzugeben.«
Channah saß finster und heftig
unter den Männern. Sie beschwor sie, den Antrag abzulehnen und,
falls sie überstimmt würden, aus dem Kollegium auszuscheiden. Viele
aus dem Volk würden ihnen anhangen, und wenn man mit den Minäern
zusammengehe, werde man denen in Jabne die Stirn bieten
können.
Ben Ismael war in großer Not. So
viel sah er: wenn der Antrag durchging, dann wurden die Riten unter
den Minäern ausgelöscht, und wenn er nicht durchging, kam von den
Römern neue Bedrückung über die Seinen. Lieb waren ihm die Minäer,
viele ihrer Lehren waren seinem Herzen teuer. Aber teurer war ihm
Israel und sein Bestand.
Er ging zur Sitzung des
Kollegiums, ohne einen Entschluß gefaßt zu haben. Um so
zielbewußter hatten die Gegner vorgesorgt. Sie drängten darauf, daß
zuerst einmal der Inhalt der neuen Bitte klar festgelegt werde,
nicht aber ihr Wortlaut. Es wurde bestimmt, daß sie den Fluch
Jahves herabflehen solle auf zwei Kategorien von »Leugnern des
Prinzips«: auf diejenigen, die nicht an Jahves Einheit glaubten,
sondern an einen Messias, der als Mittler zwischen ihm und den
Menschen bereits erschienen sei, und auf diejenigen, die da
glaubten, sie könnten aus dem eigenen Herzen ohne Hilfe der
überlieferten mündlichen Lehre und ihrer gottbefugten Träger das
Gesetz ausdeuten.
Ben Ismael und die Seinen, als
man darüber Beschluß faßte, sagten weder ja noch nein. Der Antrag
wurde mit großer Mehrheit angenommen. Die Sitzung hatte kurz
gedauert; aber Ben Ismael war müde, als hätte er schwere
körperliche Arbeit getan. Er sehnte sich nach seiner Stadt Lud.
Wahrscheinlich wird er nie mehr nach Jabne zurückkehren. Er wird
aus dem Kollegium ausscheiden, ohne Haß, doch müde des vielen,
unnützen Redens, wird in Lud dem Studium der Lehre weiterleben,
ohne Auflehnung gegen die Doktoren, ohne Schüler, für sich, für
Channah, für seinen Freund, den Acher.
Doch als er und die Seinen schon
gehen wollten, nahm Doktor Simon, mit dem Beinamen der Weber, noch
einmal das Wort. Ben Ismael, erklärte er, habe geschwiegen und sich
der Abstimmung enthalten. So tiefen Respekt er persönlich vor so
milder Gesinnung habe, so sei es doch in einer Zeit wie dieser
notwendig, auch den Anschein zu vermeiden, als halte es ein
Mitglied des Kollegiums mit jenen Frevlern, auf die Gottes Fluch
herabzuflehen der Rat soeben beschlossen habe. Wenn gar ein Mann
von der Gelehrsamkeit und dem verdienten Ansehen Ben Ismaels in
einen derartigen Verdacht komme, so tue das der Autorität Jahves
schweren Abbruch. Es komme darauf an, vor allem den Millionen Juden
des Auslands darzutun, daß nur eine Lehre
gelehrt werde in Jabne. Er bedaure, daß Ben Ismael geschwiegen
habe, und bitte das Kollegium, auf Mittel zu sinnen, wie ein
solcher Schade gutgemacht werden könne.
Betretenes Schweigen war. Dann
erhob sich Doktor Helbo. Wieder war er es, der das Mittel wußte.
Ben Ismael, meinte er, sei von Jahve mehr als die andern mit der
Gabe des Wortes begnadet, und den Gebeten, die von ihm stammten,
eigne besondere Tiefe und Inbrunst. Man möge also Doktor Ben Ismael
mit der Abfassung der neuen Bitte betrauen. Wenn er sie abfasse,
dann habe man die Gewähr, daß die rechten Worte gefunden würden,
und außerdem werde vor aller Welt die Einheit Jabnes und die
Einheit der Lehre dokumentiert.
Die Rede Helbos war ziemlich
lang. Ben Ismael, während er sprach, schaute vor sich hin, sein
blasses Gesicht bewegte sich nicht. Erst gegen Ende sah er hoch,
aber er sah nicht Helbo an, sondern seinen Schwager, den
Großdoktor. Eine ganze Zeit saßen die beiden Männer Auge in Auge,
doch ohne Drohung, betrachtsam eher und gespannt. Es war über Ben
Ismael, sowie er Helbos Absicht erkannt hatte, eine eisige Ruhe
gekommen, aber inmitten dieser eisigen Ruhe bewegten sich in
schnellstem Ablauf seine Gedanken. Er zweifelte nicht daran, daß
der Antrag Helbos eine mit dem Großdoktor abgemachte Sache war.
Aber er spürte nicht wie gestern einen mit Verachtung gemischten
Haß. Gamaliel wollte vernichten, was Israel schädigen konnte, und
ihn hielt er für einen Schädling. Er war ein einzelner, der nichts
von seinem Einzelglauben aufgeben wollte, und die Gemeinschaft hat
die Tendenz, den auszutilgen, der an seinem Einzelwesen festhält.
Gamaliel ist nicht sein Feind. Er achtet ihn, niemals würde er ihn
kränken, wenn er ihm, einzelner dem einzelnen, gegenübersäße. Aber
da sitzt er, Verkörperung der Gemeinschaft und also der Gemeinheit,
und fühlt sich im Recht.
Der Bock, den man früher in die
Wüste gesandt hat, um die Sünde loszuwerden, hat es nicht
geschafft, und der Jesus der Minäer, der der Bock sein wollte, das
Lamm, das die Sünde der Welt auf sich nimmt, hat es auch nicht
geschafft. Denn warum sonst sollte Jahve ihm auflegen, was er ihm auflegt?
Wenn einer hier unter diesen
Doktoren, dann will er die Minäer schonen, dann hat er Verständnis
für die Weite und Milde ihrer Lehre. Jetzt wollen sie, daß gerade
er sie verfluchen und aus der Gemeinschaft ausstoßen
soll.
Es ist eine bittere Wahl. Er soll
wählen zwischen Judentum und jüdischer Kirche und weiß doch, daß
Judentum nicht möglich ist ohne diese Kirche.
Er kennt genau Gamaliels
Beweisführung: wir sind gezwungen, einen Teil der Wahrheit
preiszugeben, wenn wir sie nicht ganz preisgeben wollen. Ist aber
die Wahrheit noch die Wahrheit, wenn ein Teil von ihr verleugnet
wird? Aber hat nicht doch wieder Gamaliel recht: kann die Wahrheit
bestehen, wenn nichts da ist, in dem sie sich verkörpert?
Langsam hebt er die Hand,
streicht sich, immer ohne Gamaliel aus dem Aug zu lassen, über die
kahle Stirn, zupft mit mechanischer Bewegung an seinen Brauen, sie
glättend. Sie haben es höllisch schlau angefangen, Gamaliel und
seine Genossen. Wenn er tut, was sie von ihm verlangen, wenn er
denen flucht, denen er wohlwill, dann klagen ihn die Minäer mit
Recht an, er sei der Mann, der sie ausgestoßen. Und wenn er es
nicht tut, dann stoßen die andern ihn aus, und mit Recht; denn dann
ist neuer Vorwand da für die Römer, der Lehre zu mißtrauen und sie
zu verfolgen. Und ob er es tut oder nicht tut, in jedem Fall ist
neue Spaltung in Israel.
Noch immer sitzt er vollkommen
still, ein stattlicher Mann. Aber auf ihm ist eine ungeheure Last,
wie damals am Versöhnungstag, als er nach seiner Wanderung mit Stab
und Ranzen und Geldbeutel die Stufen des Lehrhauses erstieg, eine
Schwere und Müdigkeit, ein unzähmbares Verlangen, nicht weiter zu
denken, sich fallen zu lassen, in eine Ohnmacht zu entfliehen. Aber
wie damals weiß er auch heute, daß er dieser Sehnsucht nicht
nachgeben darf, daß er hier sitzen bleiben muß, den andern zu Ende
hören und antworten.
Doktor Helbo ist mit seiner Rede
fertig. Alle jetzt schauen auf Ben Ismael. Nach einem endlosen
Schweigen sagt Gamaliel: »Ich bitte den Doktor und Herrn Ben
Ismael, sich zu äußern.«
Ben Ismael steht nicht auf. Er
hält sich ruhig, man sieht ihm nicht an, daß er nicht aufstehen
kann. Aber sein großer Kopf mit der kahlen Stirn ist überaus blaß.
Und seine tiefe Stimme klingt hohl und rostig, als er schließlich
erwidert: »Ich werde das Gebet abfassen.«
Josef, bis in seine Grundfesten erbittert
über die Brutalität, mit der man den milden Ben Ismael gezwungen
hatte, seine eigene Sache zu verraten, ging zu dem Großdoktor.
Scharf nagte ihn die Reue, daß er in Cäsarea nicht für die
Universität Lud gesprochen hat. Er war entschlossen, Gamaliel ins
Gesicht zu sagen, was er über seine Methode dachte, und ihm das
angebotene Amt vor die Füße zu werfen. Ihn ekelte vor seiner
Politik.
Der Großdoktor unterbrach seine
wilde Anklagerede mit keinem Wort. »Sie sind so jung und ungestüm«,
sagte er, als Josef zu Ende war, und in seiner Stimme war
Müdigkeit, Ironie und Neid.
»Sie haben mir erklärt«, beharrte
finster Josef, »hier in diesem Raume haben Sie mir erklärt, Sie
würden die Minäer nicht antasten, wenn diese nicht das
Zeremonialgesetz antasten.«
»Sie haben es angetastet«,
erwiderte der Großdoktor. »Ich habe zuverlässige Berichte, daß sie
in Antiochien, in Korinth, in Rom nach dem Vorgang eines gewissen
Saulus oder Paulus lehren, an das Gebot der Beschneidung seien nur
diejenigen gebunden, die vom Judentum zu ihnen übergingen, nicht
aber die Heiden, die sich zu ihnen bekehren.«
Josef erinnerte sich gewisser
Worte Jakobs des Wundertäters. »Selbst wenn einzelne ihrer Prediger
das lehren sollten«, wandte er zögernd ein, »ist es nicht nur eine
vorläufige Maßnahme, um dem Verbot der Römer
auszuweichen?«
»Das ist mir zu minäisch
gedacht«, lehnte scharf der Großdoktor ab, und sein höfliches
Gesicht wurde hart, römisch. »Ich kann nicht zugeben, daß die
Motive eine Tat verändern. Ich kann nicht zulassen, daß einer in
die Gemeinschaft Israels aufgenommen wird und unbeschnitten bleibt.
Eine Sekte, die Unbeschnittene zuläßt, kann in unserer Gemeinschaft
nicht geduldet werden. Gebrauchen Sie Ihre Vernunft, Doktor Josef«,
redete er dem andern zu. »Die Anerkennung eines solchen Lehrsatzes
käme der Auflösung des Judentums gleich. Wir sind heute so weit,
daß das Zeremonialgesetz die Juden, auch die im Ausland, so fest
zusammenhält wie ehemals der Tempel, ja, sie schauen heute noch
unverrückbarer nach Jabne als einstmals nach Jerusalem. Lasse ich
die Riten ins Wanken kommen, dann stürzt dieser Zusammenhalt, dann
stürzt alles.« Und, näher an ihm, vertraulich, listig,
geheimnisvoll, fügte er hinzu: »Ich gehe weiter. Daß die Römer die
Beschneidung verboten haben, scheint mir ein Wink Jahves. Er will
jetzt nicht noch mehr Heiden hereinnehmen in seinen Bund. Er will,
daß wir uns zuerst festigen in uns selber. Er hat die Liste
zeitweilig geschlossen.«
Josef, finster, hielt ihm seine
alten Einwände entgegen: »Was aber bleibt vom Weltsinn der Lehre,
wenn Sie die Heiden der Möglichkeit berauben, Jahves teilhaftig zu
werden?«
»Ich habe die Wahl«, erwiderte
der Großdoktor, »den Universalismus der Juden aufs Spiel zu setzen
oder ihre Existenz. Soll ich um eines Teiles der Idee willen die
ganze Idee gefährden? Ich ziehe es vor, das Judentum für eine Weile
national einzuengen, statt es ganz aus der Welt verschwinden zu
lassen. Ich muß die Gemeinschaft über die nächsten dreißig Jahre
hinwegbringen, die gefährlichsten, seitdem Jahve den Bund mit
Abraham schloß. Wenn diese Gefahr vorbei ist, mag sich der jüdische
Geist von neuem universalistisch betätigen.«
»Und war es notwendig«, fragte
nach einer Weile bitter Josef, »daß Sie Ben Ismael zum zweitenmal
demütigten, und auf so harte Art? Denn Sie wissen, von diesem
Schlag erholt der Mann sich nie mehr.«
»Ich weiß es«, gab Gamaliel zu.
»Ich konnte ihn nicht schonen. Da der Schnitt gemacht werden mußte,
war es notwendig, ihn wirksam zu machen. Sie wissen, wie besessen
Flavius Silva ist von Haß gegen die Proselytenmacher. Er hat
bestimmt sehr bösartige Repressalien vorbereitet für den Fall, daß
wir uns nicht auf sichtbare Art von den Minäern scheiden. Er hat da
allerlei Mittel: er kann uns die Privilegien entziehen, die
Gerichtsbarkeit, die Universität Jabne. Ich mußte das Haupt derer
treffen, die im Verdacht standen, den Minäern zuzuneigen. Die
Demütigung Ben Ismaels sichert die Privilegien Jabnes.«
Wahrscheinlich hatte Gamaliel
recht. Aber Josef dachte an das weiße, lange, schmerzhafte Gesicht
Ben Ismaels; Trauer und Zorn schüttelten ihn, daß er die Fäuste vor
die Augen preßte wie ein Kind.