VIERTES BUCH

Der Nationalist





     cheu drückten sich die besiegten Juden in dem Land herum, das ihr Gott Jahve ihnen gegeben hatte, gerade
     noch geduldet auf dem Stück Erde, auf dem sie noch vor einem halben Menschenalter die Herren gewesen waren. Ein großer Teil von ihnen war getötet oder in die Leibeigenschaft überführt und ihr Besitz zum Eigentum des Kaisers erklärt worden. Noch immer wurde der und jener verdächtigt, am Aufstand teilgenommen zu haben, und auf jedem lastete die Sorge, der böswillige Konkurrent oder Nachbar könnte ihn unter solche Anklage stellen. Viele wanderten aus. Die Siedlungen der Juden wurden spärlicher, verkümmerten, das Land bevölkerte sich immer dichter mit Syrern, Griechen, Römern. Die heidnischen Städte Flavisch Neapel und Emmaus wurden die ersten des Landes, und während Jerusalem verödet lag, strotzte die neue Hauptstadt, Cäsarea am Meer, von Prunkbauten, Heiligtümern der fremden Götter, Regierungspalästen, Bädern, Stadien, Theatern; Juden aber durften weder das zerstörte Jerusalem noch die neue Hauptstadt ohne Sondererlaubnis betreten.
  An Stelle der Aristokraten und der Tempelpriester von Jerusalem, von denen im Krieg die meisten umgekommen waren, hatten die Schriftgelehrten die Führung übernommen, die Juristen und Doktoren. Der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai hatte, um die Einheit der Nation zu erhalten, den schlauen und kühnen Plan ersonnen, den Staat durch die Lehre zu ersetzen; sein Nachfolger, Gamaliel, führte diesen Plan mit Kraft und Umsicht zum Ziel. Das von ihm und seinem Kollegium in Jabne bis ins kleinste ausgetiftelte Zeremonialgesetz hielt die Juden fester zusammen als früher der Staat.
  Allein dieses System zwang die Doktoren, die Lehre immer mehr einzuengen und ein bestes Teil von ihr preiszugeben: ihren Universalismus. »Der Fremde soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer, und du sollst ihn lieben wie dich selber«, hatte, durch den Mund des Moses, Jahve befohlen, und, durch den Mund Jesajas: »Es ist ein Geringes, daß du die Stämme Jakobs aufrichtest; vielmehr habe ich dich auch zum Licht der Heiden bestimmt.« Auf diese kosmopolitische Sendung, bisher Jahrhunderte hindurch treulich erfüllt, begannen die Juden jetzt zu verzichten. Nicht mehr der ganzen Erde verkündeten sie ihre Botschaft, sondern viele hielten dafür, nach der Zerstörung des Tempels sei das Volk Israel Jahves Haus, und allein diesem Volke gehöre er. Der Druck der Römer, das Beschneidungsverbot vor allem, machte, daß immer mehr Mitglieder des Doktorenkollegiums dieser fremdenfeindlichen Auffassung zufielen. Sie glitten hinweg über die Stellen, in denen die Schrift die Juden an ihre Weltmission mahnte, und ihr Mund war voll von jenen Sätzen, in denen sie das Bündnis Jahves mit Israel als mit seinem Lieblingsvolk feierte. Mit Hilfe des Zeremonialgesetzes nationalisierten sie das Leben der Juden. Sie verboten ihnen, die Sprache der Heiden zu erlernen, ihre Bücher zu lesen, ihr Zeugnis vor Gericht anzuerkennen, Geschenke von ihnen anzunehmen, sich mit ihnen durch Beischlaf zu mischen. Der Wein war unrein, den eine nichtjüdische Hand berührte, die Milch, die eine nichtjüdische Hand molk. In strengem, blindem Hochmut schieden sie durch immer höhere Mauern das Volk Jahves von den andern Völkern der Erde. So hielten es fast alle Führer der Juden, auch ihre Sektierer, die Essäer, die Ebioniten, die Minäer oder Christen. Jenem Manne zum Beispiel, den diese Minäer als ihren Messias priesen, dem Jesus von Nazareth, legte einer seiner Schüler, ein gewisser Matthäus, die Worte in den Mund: »Geht nicht auf der Straße der Heiden und zieht nicht in die Städte der Samariter, sondern geht nur hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel.«
  Binnen kurzer Frist wurden die Juden, die als die ersten auf der bewohnten Erde verkündet hatten, ihr Gott gehöre nicht ihnen allein, sondern der ganzen Welt, zu den fanatischsten partikularisten. Die Doktoren zentralisierten die Lehre immer strenger, verboten immer unduldsamer jeden Widerspruch. Viele freilich sträubten sich. Die Juden waren von jeher eigenwillig gewesen, keine einheitliche Masse, sondern ein Volk von vielen Individuen und vielen Meinungen. Es gab unter ihnen Traditionalisten und Neuerer, Pharisäer, Sadduzäer, Essäer, Tolerante und Intolerante, Anhänger Hillels und Anhänger Schammais, Priestergläubige und Prophetengläubige. Manche Sekten waren mit dem Staat und dem Tempel verschwunden, aber die Spaltung innerhalb des jüdischen Volkes hatte nicht aufgehört.
  Von jeher hatte es Juden gegeben, die, gierig auf die Erkenntnisse der andern, in der Wissenschaft der fremden Völker geforscht hatten. Sie wollten sich das jetzt nicht nehmen lassen. Führer der Juden, der große Denker Philo an ihrer Spitze, hatten sich seit Jahrhunderten bemüht, griechische Bildung organisch mit ihrer eigenen Lehre zu verbinden, »die Schönheit Jaffets in den Zelten Jakobs wohnen zu machen«. Wie, und auf einmal sollte das ein Verbrechen sein? Und viele fügten sich nicht, anerkannten nicht die Autorität der Doktoren, nahmen den Bann auf sich, verließen das Land, ehe sie ihr griechisches Teil an Erkenntnis preisgaben.
  Die Doktoren hielten fest an ihrem Plan. Sollten die Juden nicht in den andern Völkern aufgehen, dann mußte ihre Lehre klar sein, einheitlich bis ins Letzte. Ein Brauch und eine Sitte mußte sein, an der man die Juden von den andern unterschied. Das ganze Leben mußte unter das Gesetz gestellt, keine Abweichung durfte geduldet werden.
  Bis jetzt hatte es über den Messias viele Meinungen gegeben. Die einen glaubten, er werde das Schwert, die andern, er werde die Palme des Friedens bringen. Viele hatten in vielen den Messias gesehen, man hatte sie gewähren lassen. Jetzt schrieben die Doktoren den Glauben an einen einzigen Messias vor, der da in Bälde erscheinen, die Römer aus dem Land werfen, Jerusalem wieder aufrichten und alle Völker zwingen werde, den Gott Israels anzuerkennen.
  Da gab es aber Leute, die Minäer, die »Gläubigen«, auch Christen genannt, die da erklärten, der Messias sei bereits erschienen; seine Sendung sei freilich nicht von dieser Welt gewesen, vielmehr sei er gekommen, um allem Volk den Weg der Gnade zu zeigen, so daß nicht nur die Doktoren, sondern ein jeder, auch der Einfältige im Geiste, fähig sei, Jahve zu erkennen. Man habe aber dem Messias nicht geglaubt, sondern ihn verleugnet und schließlich umgebracht.
  Schon vor dem Fall des Tempels hatten einige das verkündet, aber sie hatten wenig Anhänger gefunden. Jetzt sagten sie: »Seht ihr, weil die Priester und Doktoren den Messias getötet haben, darum ist Jerusalem zerstört worden«, und viele begannen zu sinnieren: Haben sie nicht recht? Waren nicht die Priester und Doktoren wirklich voll Wissensdünkel und Übermut? Es war schwer, einzusehen, warum sonst Jahve seinen Tempel sollte zerstört und sein Volk in die Gewalt der Heiden gegeben haben.
  Auch was die Minäer weiter lehrten, ging den Leuten leicht in Sinn und Herz. Die Doktoren stellten das Leben unter das Gesetz, sie verordneten sechshundertdreizehn Hauptgebote und Hauptverbote, von denen ein jedes in zahllose kleinere Vorschriften zerfiel, sie regelten den Ablauf des Tages vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein mit tausend kleinen, strengen Zeremonien und Gebeten und bedrohten jeden Verstoß mit Strafen in dieser und in jener Welt. Die Minäer hingegen lehrten, gut sei das Leben nach dem Gesetz; aber es genüge, an den lieben Messias zu glauben, der die Menschen entsühnt habe, um für die Entbehrungen dieser Erde durch ein süßes Jenseits entschädigt zu werden. Und sehr viele gaben sich der neuen, weicheren Lehre hin.
  Die Doktoren hatten gegen diese alle zu kämpfen, gegen die griechischen, kosmopolitischen Neigungen der Gebildeten, gegen den linden Erlöserglauben der Armen im Geiste. Sie kämpften zäh und geschmeidig, bald mit Sanftheit, bald mit Gewalt, immer das Ziel vor Augen: die Einheit des Gesetzes.
  Sie kämpften mit Erfolg. Die weitaus meisten unter den Juden vertrauten ihnen, unterwarfen sich ihrer Führung. Stellten das ganze Leben unter ihre Zeremonien und Vorschriften, vom ersten Erwachen bis in den Schlaf. Aßen und fasteten, beteten und verfluchten, feierten und arbeiteten, wann sie es ihnen befahlen. Verzichteten auf geliebte Träume und Meinungen, schlossen sich ab von den Nichtjuden, mit denen sie bisher Freundschaft gehalten. Freund wich vom Freund, wenn der Nichtjude war. Nachbar vom Nachbarn, Geliebter von der Geliebten. Sie nahmen auf sich das Joch jener sechshundertdreizehn Gebote und Verbote, machten ihr Leben eng und kahl, hielten sich aufrecht durch den Gedanken, daß sie das eine, auserwählte Volk Jahves seien, und durch die inbrünstige Hoffnung, daß bald der Messias in seiner Glorie erscheinen und die blinden Völker dem sehenden Volke unterwerfen werde. Sie starrten nach dem zerstörten Jerusalem, und das Jerusalem, das nicht mehr war, band die Juden, die im Lande Israel und die Verstreuten über die ganze Welt, enger zusammen als jenes Jerusalem, das einstmals weiß und golden und allen sichtbar den Tempel Jahves beherbergt hatte.

Schon lange vor Tag drängten sich die Juden auf dem Vorderdeck der »Gloria« zusammen; man hatte ihnen gesagt, an diesem Morgen würden sie die Küste Judäas auftauchen sehen. Gespannt schauten sie in den dämmernden Osten. Die meisten hatten den schwarzgestreiften, viereckigen Gebetmantel umgeworfen mit den kostbaren, purpurblauen Fäden und um Stirn und Arme die Gebetriemen geschlungen. Lange sahen sie nichts als wolkigen Dunst. Dann tauchten zarte, violette Umrisse hoch: ja, das war das violette Gebirge Judäas. Und jetzt auch unterschied man den grünen Gipfel des Berges Karmel. Sie atmeten stärker, ihr Herz ging schneller. Die Luft, die von ihrem Land herüberwehte, war anders als sonstwo immer, leichter, tiefer, reiner, sie machte das Hirn rascher, die Augen glänzender. Inbrünstig beteten sie den Segensspruch: »Gelobt seist du, Jahve, unser Gott, der du uns hast erreichen, erlangen, erleben lassen diesen Tag.«
  Der Schauspieler Demetrius Liban hatte schwere Wochen hinter sich. Die meiste Zeit war er seekrank, grünblaß, in Krämpfen in seiner Kajüte gelegen, sich sehnend nach Tod. Aber nun er das Ziel vor sich sah, spürte er, er hatte die Wallfahrt zum Lande Jahves nicht zu teuer bezahlt.
  Josef hielt sich abseits von den andern, doch ohne Prätention. Aber er schaute mit nicht weniger brennenden Augen hinüber nach dem blassen, violetten Glanz, sog nicht weniger gierig die leichte, erregende Luft ein. O ihr zarten Linien der Berge, o du höchst klares Licht, holde Küste, grüner Berg Karmel, o du mein Land, berückendes, zauberhaftes, Israels Land, Gottes Land.
  Auch die Römer und Griechen an Bord, hohe Beamte und Offiziere, reiche Kaufleute, hatten sich allmählich versammelt, um die Küste näher kommen zu sehen. Lächelnd, hochmütig schauten sie auf die Gruppe der erregt gestikulierenden Juden, auf die »Eingeborenen«.
  Als die »Gloria« endlich im Hafen von Cäsarea ankerte, kam Polizei an Bord und sonderte die Römer und Griechen von den Juden. Jene konnten sich unbehelligt ausschiffen, die Juden mußten warten und viele umständliche Formalitäten über sich ergehen lassen. Nur unter scharfer Bewachung durften sie an Land, ihre Namen wurden notiert, den meisten wurde nicht erlaubt, länger als eine Nacht in Cäsarea zu bleiben.
  Josef und Demetrius Liban hatten Pässe, die die Behörden zu besonderer Rücksicht aufforderten. Trotzdem durften auch sie das Gebäude der Hafenpolizei zunächst nicht verlassen, und für ihre Beschwerden hatte man nur grobe Worte. Josef war auf dieser Reise einfach gekleidet, und mit dem Bart, den er sich wieder hatte stehenlassen und der nicht, wie früher, geknüpft und gekräuselt war, sah er sehr jüdisch aus.
  Endlich erschien der Adjutant des Gouverneurs, um sich ihrer anzunehmen. Er war überaus höflich und verwies den Hafenbeamten ihre Barschheit. Die murrten, als er sich entfernt hatte, und schikanierten die zurückbleibenden Juden um so mehr.

Des Abends, bei Tische, es waren noch eine Reihe höherer Beamter und Offiziere da, gab sich der Gouverneur jovial und lärmend wie immer. Er hatte in den letzten Monaten für sein Buch über die Juden die Werke des Philo von Alexandrien studiert, des großen jüdischen Philosophen. »Er war sehr human, euer Philo, das muß man ihm lassen«, meinte er, »noch humaner als unsere Stoiker. Haben Sie schon gemerkt, daß immer diejenigen am lautesten von Humanität schreien, die im Verlieren sind?« Er lachte auf seine offene Art und klopfte dem Josef auf die Schulter. »Er führt alle eure Lehren auf eine einzige goldene Regel zurück, euer Philo: ›Tu nicht einem andern, was du nicht willst, daß man dir tue.‹ Klingt gut. Aber wohin, glauben Sie, käme ich mit solchen Grundsätzen? Wenn ich euch nicht täte, was ich mir von euch aufs strengste verbitten müßte, glauben Sie nicht, wir hätten morgen einen zweiten Aufstand, und einen siegreichen? Vielleicht wird sich einmal derjenige, der in hundert Jahren als mein Nachfolger hier in diesem Hause sitzt, erlauben dürfen, human zu sein. Wenn ich human wäre, dann gäbe es in hundert Jahren keinen Nachfolger von mir. Übrigens ist da ein Punkt, in dem ich mich euch gegenüber so human gezeigt habe, daß ich es schwer vor dem Palatin verantworten kann. Es sitzen hier im Lande noch immer Leute, von denen erst jetzt herauskommt, daß sie am Aufstand teilgenommen haben. Die greifen wir uns natürlich und konfiszieren ihren Besitz. Wissen Sie, daß die Doktoren von Jabne Order gegeben haben, die Auktionen zu boykottieren, auf denen wir diese konfiszierten Terrains versteigern? Sie anerkennen unsere Konfiskationen nicht als zu Recht. Finden Sie nicht, daß das ein Verstoß gegen die Staatsautorität ist? Aber ich dulde ihn stillschweigend.« Er lächelte listig, vertraulich. »Das Land ist billig hier für meine Römer und Griechen infolge des Boykotts der Juden. Ich an Stelle Ihrer Doktoren hätte den Boykott nicht angeordnet. Wie immer, über mangelnde Humanität können sie sich in diesem Falle nicht beschweren.«

  Später sagte er: »Vielleicht haben wir manchmal fest zugepackt. Aber es ist etwas dabei herausgekommen, wir haben allerhand aus Ihrem Judäa gemacht, mein Flavius Josephus. Ich bin neugierig, was Sie als Sachverständiger dazu sagen Werden. Sie, mein Demetrius«, wandte er sich an den Schauspieler, »müssen sich vor allem das alte Sichem anschauen. Das heißt jetzt Flavisch Neapel, und in zwei Monaten wird dort das Theater fertig; im September weihen wir es ein. Die Festspiele, die ich geben will, müssen den ganzen Osten auf den Kopf stellen, wir müssen Antiochien ausstechen. Es wäre großartig, mein Demetrius, wenn Sie sich entschließen könnten, dort zu spielen. Wir sind nicht der Palatin, aber über das Honorar«, lockte er plump und schamlos den Schauspieler, »würden Sie sich nicht zu beklagen haben. Und das Publikum, das Sie bei uns finden, ist mindestens so empfänglich wie das römische. Wir sind dankbar. Wir sind mächtig ausgehungert. Nicht wahr, meine Herren?« forderte er die Zustimmung seiner Beamten.
  Demetrius gab eine ausweichende Antwort, doch der Gouverneur ließ nicht locker. »Sie müssen mich beide einmal nach Flavisch Neapel begleiten«, drängte er, »und mir erlau ben, Ihnen meine Stadt persönlich zu zeigen. Flavisch Neapel, das kann ich Ihnen heute schon sagen, wird das kulturelle Zentrum nicht nur Judäas, sondern ganz Syriens werden.« Stürmisch liebenswürdig rang er um die Anerkennung der beiden Männer.
  Josef hatte seit jeher voll widerwilliger Bewunderung wahrgenommen, mit welcher Sicherheit die Römer es verstanden, von einer Sache Besitz zu ergreifen, und dieser erste Tag in Cäsarea hatte ihm einen neuen Beweis geliefert. Flavius Silva, er gestand es sich knirschend zu, war der rechte Mann, die Provinz zu romanisieren. In den anderthalb Jahrtausenden ihrer Herrschaft hatten die Juden nicht so viel getan, das Land zu ihrem eigenen zu machen, wie Silva in den acht Jahren seiner Regierung.

Josef begann zu wandern und zu sehen. Er mied fürs erste die Striche, die vornehmlich von Juden besiedelt waren, er zog durch das von Syrern bewohnte Samaria gegen Nordost, durch das Zehnstädteland bis an die Grenze der Auranitis. Hier hatte Hiob gelebt. Mechanisch, nachdenklich klaubte Josef einige jener runden, violetten Steinchen auf, welche die gläubige Einfalt der Eingeborenen für die versteinerten Würmer hielt, die aus den Schwären Hiobs zur Erde gefallen waren. »Ja, Mann«, sagte sein Eseltreiber, »sammle sie nur auf, Mann. Nimm sie dir als Andenken mit. Und mögen sie dich lehren, im Glücke Jahves nicht zu vergessen und nicht im Unglück mit ihm zu hadern.« Und wenn Josef am frühen Morgen über gebirgiges Ödland zog, dann fand er wohl den Boden bedeckt von jenen süßen, körnigen Flechten, die weiter unten im Süden viele für das Manna hielten.
  Er wandte sich wieder zurück nach Westen, durchzog das Herrschaftsgebiet des Königs Agrippa, betrat endlich jüdischen Boden: Galiläa. In dieser Gegend hatte er seinen höchsten Aufschwung und seine tiefste Erniedrigung erlebt. Wieder wie damals, da er zum erstenmal hierhergekommen war, als Kommissar der Jerusalemer Regierung, ergriff ihn bis ins Innerste die Schönheit des galiläischen Landes. Reich und fruchtbar lag es in der Mannigfaltigkeit seiner Täler, Hügel, Berge, mit seinem See Genezareth, mit seinen zweihundert Städten, ein wahrer Garten Gottes in seiner zauberisch hellen Luft.
  Die Juden freilich waren hier sehr viel weniger geworden. »Gau der Heiden« bedeutete der Name des Landes, denn es war spät unter jüdische Botmäßigkeit gekommen, und Flavius Silva hatte das Seine dazu getan, diesem Namen wieder Inhalt zu geben. Das Land war romanisiert. Ein dichtes Netz ausgezeichneter Straßen verband seine vielen Siedlungen untereinander, römische Straßen, gesäumt von Standbildern, die dem Merkur geweiht waren, dem Gotte des Verkehrs. Noch immer arbeitete man am Ausbau dieser Straßen, und man verwandte für dieses saure Werk vornehmlich jüdische Zwangsarbeiter, Restbestände aus der Kriegsbeute. Der Gouverneur, wie der Oberingenieur dem Josef auseinandersetzte, erwartete, die jüdischen Gemeinden würden sich noch eifriger bemühen, die Gelder für den Freikauf dieser Leibeigenen aufzubringen, wenn sie sahen, daß man sie nicht verhätschelte. Die Lösegelder deckten denn auch reichlich die Kosten, die Bau und Erhaltung der Straßen verursachten.
  Josef zog also auf diesen guten Straßen im Land herum, auf gemieteten Pferden oder Eseln. Er verschwieg seinen Namen; der hatte keinen guten Klang hier. Durch diese Gegend war er vor dreizehn Jahren geritten, auf dem Pferde Pfeil, vor ihm die Standarte mit der Losung der Aufständischen »Makkabi«. Hier hatte er seinen herrlichen und sinnlosen Krieg gemacht. Jetzt war alles vorbei, seine Glorie und sein Fall, keine Spuren des Krieges mehr waren zu sehen. Die zerstörten Städte und Festungen hatte man schöner wieder aufgebaut, ein kluges Bewässerungssystem machte das Land noch fruchtbarer als vor dem Krieg. Sonst hatte Josef nicht viel Auge für die Schönheit einer Landschaft, doch diese bezauberte ihn immer von neuem. Es war der Gau der Heiden, Galiläa, aber trotzdem jüdisches Land, sein Land, Heimat, leuchtende, süße, duftende. Gierig genoß er die reine Luft, das milde, klare Licht.
  Mit zwiespältigem Gefühl, mit Grimm und Befriedigung, sah er, wie gut das Land verwaltet war. Die Methoden der Romanisierung waren listig und simpel, und die römischen Beamten, die er aufsuchte, machten kein Hehl daraus: die Regierung verlieh einfach den Städten mit griechischrömischer Majorität Kolonialrecht. Durch die damit verbundenen Steuerermäßigungen und andere Privilegien erlangten diese Gemeinden schnell größere Prosperität als die jüdischen Siedlungen, und die Juden wurden so zu Bürgern zweiten Ranges in ihrem eigenen Land.
  Gleichwohl ging es den Juden Galiläas nach der Niederlage wirtschaftlich besser als vorher. Die Römer waren gute Organisatoren. Waren die Juden also zufriedener? Wenn Josef Doktoren und Gemeindevorsteher aufsuchte, bekam er selten Bescheid; die meisten von ihnen hielten die sieben Schritte Abstand und weigerten sich, mit ihm zu reden. Aber kleine Leute, mit denen er sich in Unterhaltungen einließ, Zufallsbekannte, Herbergswirte, sagten gern ihre Meinung geschwätzig und ohne Rückhalt heraus. Sie gaben zu, daß die Römer das Land nicht schlecht verwalteten, aber sie haßten sie trotzdem. Die Fremden blieben ihnen unverständlich. Die Leute, die sich hier neu ansiedelten, Veteranen zumeist, denen man das Land umsonst anwies, oder syrische Kapitalisten, die die Terrains billig erwarben, hatten keinen Gott und liebten es nicht, sich über göttliche Dinge zu unterhalten. Sie hatten Technik, aber sie hatten keine Seele. Josef dachte mit Hohn und Triumph an die Statistiken des Johann von Gischala. Die neuen Herren verschafften den Juden Galiläas Preise, die sie mehr befriedigten; dennoch zogen sie ihre früheren, eigenen, habgierigen Herren den besseren von heute vor.
  Hatten sie freilich Vertrauen gefaßt, und ließen sie sich gehen, dann stöhnten sie über die Härte ihrer geistigen Machthaber von heute, der Doktoren von Jabne. Ihr Gesetz war streng, ihre Gerichte ahndeten peinlich jeden Verstoß. Man will an dem Glauben der Väter festhalten, aber die Herren in Jabne machen es einem höllisch hart. Sie erschweren einem Wirtschaft und Leben. Dazu sind sie hochmütig, sehen herab auf den gemeinen Mann, lassen ihn nicht teilhaben an der Lehre.
  Josef nahm wahr, daß die patriotische Strenge und der Gelehrtendünkel der Doktoren ziemlich viele unter den Galiläern dem Glauben der Minäer, der sogenannten Christen, zutrieb.
  Er zog hin und her im Land und suchte sich, Historiker, der er war, Auskunft über den Mann zu verschaffen, den diese Minäer als ihren Messias verehrten. Er glaubte Kunde zu haben von denen, die man im Lauf des Jahrhunderts als falsche Propheten vor Gericht gezogen hatte; doch von dem Jesus der Minäer hatte er nichts gehört. Dieser Jesus sollte unter dem Gouverneur Pontius Pilatus gekreuzigt worden sein. Aber wenn er gekreuzigt worden war, konnte kein jüdischer Gerichtshof ihn verurteilt haben; die Kreuzigung war eine Strafe, die nur die Römer verhängten. Wäre er von den Juden als falscher Messias verurteilt worden, dann hätten diese die Exekution selber vorgenommen, und zwar durch Steinigung; so war es das Gesetz. Pontius Pilatus, das war richtig, hatte einen Samariter kreuzigen lassen, der sich für einen Abkömmling Moses, des Gesetzgebers, und für den Messias ausgegeben und erklärt hatte, ihm eigneten uralte, heilige Gefäße, die sein Stammvater auf dem heiligen Berge Garizin vergraben habe. Vielleicht, daß die Minäer Züge von andern Messiassen auf diesen Mann übertrugen.
  Auf alle Fälle benützte Josef, der Historiker, seinen Aufenthalt in Galiläa, um nach Spuren jenes Jesus der Minäer zu suchen. Er fragte hier und dort. Er fragte in Nazareth, wo der Mann geboren sein sollte, er fragte am See Genezareth. Aber in Nazareth und am See Genezareth sagten sie: »Hier ist nichts bekannt«, und in Magdala sagten sie: »Hier ist nichts bekannt«, und »Hier ist nichts bekannt«, sagten sie in Tiberias und in Kapernaum.

In Kapernaum kam Josef an einer Schenke vorbei, einem vernachlässigten Haus, an dem eine Fahne herausgesteckt war, das Zeichen, daß neuer Wein eingetroffen sei. Josef erinnerte sich, vor Zeiten einmal in dieser Schenke gewesen zu sein und damals mit Galiläern von dem Messias gesprochen zu haben. Er trat ein.
  Es war der gleiche, niedrige Raum wie damals, schlecht gelüftet, und wie damals saßen Leute an dem großen Tisch. Der Wirt war ein anderer, und die Leute waren andere, aber sie diskutierten wie damals.
  Sie sprachen schwerfällig, in plumpem Aramäisch, die Sätze kamen langsam aus ihrem Mund, doch sie schienen erregt. Einer – »Käsesohn« nannten ihn die andern, das war offenbar ein Spitzname – hatte berichtet, es sei bei dem Gemeindevorsteher eine neue, strenge Weisung der Doktoren aus Jabne eingetroffen, am Sabbat werde sie verlesen werden. Die in Jabne wollen jetzt in aller Form verbieten, daß man Geflügel in Milch zubereite, das Fest- und Lieblingsgericht Galiläas.
  Die Männer schimpften. Seit Jahrhunderten ist Streit darüber, ob das Verbot, Fleisch in Milch zu kochen, auch für Geflügel gelte oder ob Geflügel gleich Fischen eine Nahrungsart für sich sei. Immer wieder hatte Jerusalem den Galiläern ihr Huhn in Sahnensauce verbieten wollen; aber so streng die galiläischen Bauern alle andern Riten einhielten, in diesem Punkt blieben sie starrköpfig. Es war ein altes Privileg, sie ließen es sich nicht nehmen, mochte man sie deshalb noch so oft als dumme Bauerntölpel beschimpfen. Was Jerusalem ihnen nicht hat abtrotzen können, sollen sie sich das jetzt von Jabne verbieten lassen? Die Doktoren wollen keine Vernunft annehmen. Seitdem kein Tempel und keine Staatsgewalt hinter ihnen steht, verlangen sie immer mehr. Der Käsesohn gab dem Wirt Auftrag, jetzt für ihn gerade erst recht ein Huhn mit Sahne zuzubereiten. »Zwei Hühner«, verbesserte er sich. »Der Herr ist auch eingeladen«, und er wandte sich mit ungeschlachter Gastfreundlichkeit an Josef. »Oder ist der Herr etwa aus Jabne?« fragte er drohend. »Hält er zu den Doktoren? Verachtet er uns Bauerntölpel aus Galiläa?« Josef beeilte sich zu erwidern, wie geehrt er durch die Einladung sei, und setzte sich zu den Männern.
  Diese ereiferten sich weiter über die Doktoren. »Das mit dem Verbot der Sahnensauce zum Geflügel«, meinten sie, »ist erst ein Anfang. Sie werden immer mehr verbieten. Es wird noch so weit kommen, daß sie uns überhaupt verbieten, von den göttlichen Dingen zu reden. Einem immer mehr und immer schwerere Riten auflegen, das können sie; aber sie wollen nicht, daß der gemeine Mann über Jahve sinniert. Sie sind eifersüchtig auf ihren Jahve, die Herren in Jabne, sie wollen ein Monopol auf ihn, sie umgeben ihn mit lauter Geheimnis und schließen einen von seinem Angesicht ab. Sie drücken sich so aus, daß man sie nicht versteht. Wer zum Beispiel kann es begreifen, wenn sie einem den Untergang Jerusalems erklären? Da gibt es andere, die deuten einem das viel besser aus. Nicht wahr, Tachlifa?« wandte er sich an einen still dasitzenden jungen Menschen mit langem, strähnigem Haar.
  Josef sah den jungen Mann interessiert an. Das war offenbar einer von den Minäern, den Christen. Er war ein kräftiger, sehniger, magerer Mensch von gutmütigem Aussehen; über einem mächtigen Adamsapfel und einem sanften Kinn stand ein breiter Mund mit schadhaften Zähnen halb offen. »Sagen Sie mir also, bitte, Herr Tachlifa«, wandte sich Josef höflich an ihn, »warum ist Jerusalem zerstört worden?« Der junge Mensch drehte dem fremden Herrn freundlich sein Gesicht zu und erwiderte: »Es ist zerstört worden, weil es den Propheten des Herrn tötete und verstockt war gegen den Gesalbten.« Er wollte weitersprechen. Aber der, den sie den Käsesohn nannten, schlug Josef klobig auf die Schulter und redete auf ihn ein: »Ja, fremder Herr, wenn Sie etwas wissen wollen, halten Sie sich nur an unsern Tachlifa. Es ist gut, wenn einem einmal unsereiner Gott und die göttlichen Dinge erklärt und nicht immer nur die Doktoren. Die sind so eingebildet, daß sie jeden Furz, den sie lassen, für heilig und für einen Weisheitsspruch halten. Oder ist es nicht so?« fragte er Josef und schwang seine mächtigen Hände. »Können Sie schlau werden aus dem, was man in Jabne sagt?«, und er brachte sein weindunstendes Gesicht nah an Josef. Der hütete sich, zurückzuweichen, und erwiderte maßvoll: »Manchmal glaube ich es zu verstehen, manchmal verstehe ich es nicht.«
  Der Trunkene beruhigte sich. Josef bat Tachlifa, in seiner Erklärung fortzufahren. »Unsere Väter«, setzte sachlich Tachlifa auseinander, »haben den Messias nicht erkannt. Er tat Zeichen und Wunder. Die Doktoren aber wollten nicht sehen, weil sie geizig waren mit ihrem Jahve, und wollten es nicht dulden, daß einer ihn aller Welt verkündete. Sie wollten Jahve einschließen wie ein Wucherer seine Denare und Verschreibungen. Sie achteten das sichtbare Haus Jahves mehr als den Unsichtbaren, dem es gehörte. Darum ließ Jahve den Messias ausgehen aus sich. Die Doktoren aber wollten noch immer nicht sehen. Da zerstörte Jahve den Tempel, der leer geworden war und ohne Sinn wie das Gehäuse einer Puppe, aus der der Schmetterling ausgegangen ist, auf daß alle sehen sollten. Und darum bekennen wir: der Messias ist erschienen. Er hat sich töten lassen, um uns die Sünde abzunehmen, die von Adam her auf uns lastet, und ist wieder auferstanden. Sein Name aber ist Jesus von Nazareth.«
  Der Käsesohn mischte sich wieder ein. »Ist das eine Erklärung oder nicht?« lärmte er herausfordernd. »Das ist einfach. Das muß jeder verstehen, auch Sie, fremder Herr. Die Doktoren haben Würmer im Hirn. Sie sagen, sie glauben an die Auferstehung. Warum soll dann der Messias nicht auferstanden sein? Bitte?« fragte er händelsüchtig den Josef und war wieder sehr nahe an ihm. »Laß den Herrn in Ruhe, Käsesohn«, hielten ihn die andern zurück. »Er hat ja nichts gegen dich gesagt.«
  »Wann war das, daß er getötet wurde?« fragte Josef den Minäer. »Sie sagen, vor sieben mal sieben Jahren«, erwiderte Tachlifa. »Er soll«, wandte Josef ein, »hier in Galiläa seine Jugend verbracht haben. Es müßte wohl der eine oder andere noch leben, der ihn gekannt hat. Ich habe aber keinen gefunden.« – »Wann je weiß man etwas von einem Propheten in seinem Vaterland?« meinte der Minäer. »Auch war der Krieg dazwischen, und viele, die ihn kannten, mögen umgekommen oder außer Landes sein.«
  »Er war ein Galiläer«, sagte einer von den Männern, »darauf können wir stolz sein. Aber die Doktoren mögen ihn nicht, weil er ein Galiläer war. Sie mögen nichts, was aus Galiläa kommt.« – »Darum verbieten sie uns auch das Geflügel mit Sahnensauce«, sagte zornig ein anderer. Und ein älterer Mann sagte: »Die Doktoren wollen es nicht wahrhaben, daß einer einem die Sünden abnimmt. Sie wollen einem immer nur neue Lasten und Verbote auflegen.« Der Käsesohn aber, jetzt auf der andern Seite des Tisches, lehnte sich grimmig querüber und zitierte dem Josef ins Gesicht drohend das Sprichwort: »Aber wenn die Last zu schwer wird, dann steht das Kamel nicht mehr auf.«
  »Paß auf, Tachlifa«, sagte einer zu dem Minäer, »bald werden sie uns verbieten, mit dir zusammenzusitzen. Immer schon eifern sie, wir sollen nicht mehr mit euch über euern Messias und eure Lehren diskutieren.« Der Minäer zuckte die Achseln. »Es wäre mir sehr leid, meine Brüder und Herren«, sagte er auf seine sanfte Art, »wenn ich nicht mehr mit euch zusammensitzen dürfte.« – »Was?« rückte ihm der Käsesohn auf den Leib. »Du willst nicht mehr mit uns verkehren, du Jammerlappen?« – »Wenn hier das Wort des Gesalbten steht«, antwortete bescheiden, doch fest der Minäer, »und dort das Wort der Doktoren, dann folge ich dem Gesalbten.« – »Ich will dir zeigen, wem du zu folgen hast«, wollte der Käsesohn auf ihn los, aber die andern hielten ihn zurück.
  »Bitte, sagen Sie mir, Herr Tachlifa«, fragte wiederum Josef, »worin unterscheidet sich Ihre Lehre von denen dieser hier?« – »Ich glaube«, erwiderte Tachlifa, »daß der Messias durch seinen Tod uns allen die Sünde abnahm. So hat er das Himmelreich leichter gemacht auch für die, die nicht gelehrt wie die Doktoren sind, sondern arm im Geiste und ohne umständliches Wissen vom Gesetz.« – »Aber Sie halten weiter das Gesetz?« erkundigte sich Josef. »Jesus, unser Gesalbter«, antwortete Tachlifa, »hat nicht das Gesetz aufgehoben, er kam, es zu erfüllen. Wir halten streng das Gesetz.« – »Heißt das«, fragte der Käsesohn und war schon wieder nahe an ihm, »daß du von meinem Sahnengeflügel nichts essen willst, du Hund, falls ich dir etwas anbiete?« – »Ich will dir kein Ärgernis geben«, sagte nach einem kurzen Schweigen spaßhaft gutmütig der junge Mensch, und alle lachten.
  Die Männer tranken langsam von dem schwarzen, gepichten Wein. Von der Herdstelle kam schwer der Rauch des Feuers, das der Wirt angezündet hatte, um die Hühner zu kochen, und füllte den ganzen, dumpfen Raum. »Wir wollen alle die Einheit der Lehre«, sagte ein älterer Mann zu Josef. »Aber wenn die in Jabne uns das Leben weiter so erschweren, dann gehe ich wahrhaftig auch noch unter die Minäer. Das Gesetz ist gut, aber man hat nur zwei Schultern, um zu tragen, und der Glaube der Minäer ist leicht. Es ist nicht nur wegen der Sahnensauce. Schlimmer ist, daß sie uns nicht erlauben wollen, auf den römischen Auktionen Land zu kaufen. Wie sollen wir gegen die Syrer aufkommen, wenn die Terrains immer billiger werden und wir dürfen sie nicht kaufen?«
  Josef dachte unbehaglich an die Ziffern und Statistiken des Johann von Gischala. Aber bevor er weiter fragen konnte, wurden die Hühner ans Feuer gestellt, und die Männer hörten auf, von den Doktoren und vom Messias zu reden, traten zum Herd, schnupperten, schmatzten und gaben dem Wirt Ratschläge.

Als er nach Gischala kam, hörte Josef die Leute mit Erbitterung von Johann sprechen. Der Freigelassene Junius Johannes hatte sich nicht um den Boykott der Auktionen geschert, den die Doktoren angeordnet, sondern hatte aus der Masse des von den Römern konfiszierten Terrains skrupellos gekauft. Die Galiläer empfanden es als zynische Herausforderung, daß der Mann, der seinerzeit diese ganze Gegend in den Krieg getrieben, jetzt, als römischer Freigelassener, den Römern Kriegsbeute abnahm.
  Josef hatte gewußt, daß sein alter Feind ins Land zurückgekehrt war. Es lockte ihn, ihn aufzusuchen. Er zögerte. Schließlich tat er es.
  Johann schmunzelte, als er ihn sah. Er führte ihn durch sein Besitztum. Es wäre vorteilhafter gewesen, Land im Süden zu kaufen, im eigentlichen Judäa, wo auch Josefs Güter lagen. Doch Johann hat eine alte Anhänglichkeit gerade an sein Gischala. Es sind weite Liegenschaften, die er gekauft hat. Noch ist sein großes Besitztum verwahrlost, aber es ist fruchtbar, Korn wächst, Öl, Obst, Wein. Er freut sich darauf, wie das in drei Jahren aussehen wird. Dabei war es unerhört billig. Die Leute hier sind Narren, daß sie die guten Terrains der Regierung nicht schon lange abgenommen haben. Der Boykott der Terrainauktionen ist läppisch. Er bewirkt nur, daß das Land immer mehr überfremdet wird. Wenn es so weitergeht, werden die Syrer und Römer noch den ganzen Boden Judäas für ein trockenes Johannisbrot erwerben. Er, Johann, macht da nicht mit. Er hat zugegriffen. Ein Skandal, daß die andern ihm nicht nachtun. Er muß in den nächsten Wochen nach Jabne fahren und den Doktoren ins Gewissen reden. Die Herren sind weltfremde Ideologen. Sie verstehen nichts von Ziffern. Er lächelte Josef von der Seite an.
  »Was haben sie schon davon«, meinte er später, »wenn sie die Massen immer weiter gegen die Römer aufstacheln? Ihr Groll bleibt rein akademisch. Es wäre klüger, die Römer durch kluge Konkurrenz zu bekämpfen, wirtschaftlich, nicht politisch. Wir schneiden uns nur ins eigene Fleisch, wenn wir uns mit ihnen nicht vertragen. Das ganze Land ist nun doch einmal mit ihnen durchsetzt, und jeder ist auf seinen römischen, syrischen oder griechischen Nachbarn angewiesen.
  Da ist zum Beispiel die Sache mit den Ochsen. Die Doktoren verbieten die Kastrierung der Stiere. Aber wenn man auf die Kühe allein angewiesen ist und sonst kein Zugvieh hat, wie soll man da auskommen? Bis jetzt hat man sich an seinen syrischen oder römischen Nachbarn gehalten und ihn ersucht, er soll einem den Stier stehlen und als Ochsen wieder zustellen. Die Syrer taten einem gern die Gefälligkeit, und die Geschichte war gemacht. Aber jetzt. Unter vierzig Sesterzien stiehlt einem jetzt keiner mehr den Stier, und dann macht das Pack gelegentlich noch den Spaß, einem den Stier als Stier wieder zuzustellen. Was soll man tun? Nicht einmal klagen kann man. Das Geschäft verstößt gegen die guten Sitten.«
  Josef hörte zu. Natürlich hatte Johann recht. Aber wenn er selber, ohne je im Ausland gewesen zu sein, als einer der Doktoren im Kollegium von Jabne säße, er machte es wahrscheinlich ebenso wie die andern. Da man die Lehre abzäunen mußte, wo sollte man den Zaun ziehen? Schon einmal war das ganze Land hellenisiert worden, und das Judentum war ernstlich Gefahr gelaufen, im Griechentum aufzugehen.

Er zog südwärts, kam nach dem eigentlichen Judäa. Nun er Land betrat, das zumeist von Juden bewohnt wurde, war er doppelt zurückhaltend. In der schönen Stadt Thamna zum Beispiel, im Gebirge Ephraim, hauste er bescheiden bei einem Ölhändler, zu dem der Verwalter seiner Besitzungen geschäftliche Beziehungen unterhielt. Josef hatte diesen seinen Gastfreund gebeten, seinen Namen nicht zu nennen. Bald aber hatte der und jener ihn erkannt, und am vierten Tag erschien bei Josef der Präsident der jüdischen Gemeinde mit zwei Vorständen, und sie hatten ein Anliegen an ihn.

  Es war dies. Zwischen dem griechischen Bürgermeister der Stadt Thamna und der großen jüdischen Majorität des Magistrats war von jeher Feindschaft gewesen. Als nun der griechische Bürgermeister das Dokument, in dem der Senat der Stadt Thamna das Gesetz des Antist über das Verbot der Beschneidung mitteilte, vor der Verlesung vorschriftsgemäß den einzelnen Magistratsräten zum Kuß und zur Ehrenbezeigung überreichte, hatte der jähzornige Stadtrat Akawja geglaubt, der Bürgermeister lächle höhnisch, er hatte die Beherrschung verloren, das Schriftstück, statt es zu küssen, angespien und es in Stücke zerfetzt. Man hatte den Stadtrat als Majestätsverbrecher nach Cäsarea eingeliefert, und die römischen Richter unter dem Vorsitz des Gouverneurs hatten ihn zur Kreuzigung verurteilt. Akawja aber hatte als römischer Bürger von seinem Recht Gebrauch gemacht, an die Kronjuristen in Rom zu appellieren. Jetzt wartete er darauf, nach Rom gebracht zu werden. Die Juden von Thamna mittlerweile schickten Deputationen an Flavius Silva, erklärten, Akawja habe in einem Anfall plötzlichen Wahnsinns gehandelt, versuchten, bei dem Gouverneur seine Begnadigung zu erwirken.
  Jetzt also waren sie bei Josef und forderten ihn auf, seinen Einfluß in Cäsärea für ihren Mitbürger einzusetzen. Die Herren waren befangen und anmaßend zugleich. Sie baten und sie verlangten. Josef hörte aus ihrer Rede heraus, daß sie nach allem Leid, das er der Gesamtheit zugefügt habe, ihn für verpflichtet hielten, jedem Juden zu helfen.
  Er hatte während seiner Reise an Demut zugenommen. Daß sie sich an ihn wandten, kitzelte nicht seine Eitelkeit, und die Art, wie sie von ihm forderten, kränkte ihn nicht. Er sagte einfach: »Ich will versuchen, ob ich etwas für Ihren Mitbürger tun kann.«
  »Sie haben eine kurze Antwort für uns, Doktor Josef«, sagte feindselig einer aus der Deputation. »Sie behandeln uns wie lästige Bittsteller. Ich sehe, Sie haben nichts vergessen. Ich habe von Anfang an gefürchtet, daß wir Ihnen lästig fallen, und
habe abgeraten, zu Ihnen zu gehen.«
  Ein Jahr vorher hätte Josef hochmütig erwidert. Jetzt schwieg er. Er lächelte nicht einmal über den simpeln Verdacht des Mannes, der glaubte, ein Flavius Josephus werde seinen Zorn über die feindselige Haltung der gesamten Judenheit an diesem einen Akawja auslassen. Er sagte nur: »Ich habe viele Menschen am Kreuz gesehen. Ich möchte Ihrem Akawja helfen. Aber ich möchte auch vielen andern helfen, und meine Kraft ist gering.« Der Präsident sagte: »Wir haben Ihnen auseinandergesetzt, wie der Fall liegt. Es geht wohl nicht nur um Akawja, es geht um alle Juden der Stadt Thamna, einer der noch jüdischen Städte dieses Landes, die aber vielleicht nicht mehr lange jüdisch sein wird. Tun Sie, was Sie für gut halten, Doktor Josef. Ich war es, der geraten hat, zu Ihnen zu gehen, und ich glaube auch jetzt, daß das kein schlechter Vorschlag war.«

Endlich, nach mehr als einem Monat, entschloß sich Josef, seine Güter aufzusuchen. Es waren drei große Besitzungen in der Gegend zwischen den Städten Gazara und Emmaus. Sie umfaßten Bergland mit der Esche, Hügelland mit der Sykomore, Tiefebene mit der Palme.
  Der Verwalter Theodor Bar Theodor, ein ruhiger, listiger, älterer Mann, empfing Josef erfreut. Er ließ ein besonders fettes Schaf schlachten und setzte seinem Herrn das beste Stück vor, das Schwanzstück. Sein stilles, schlaues Gehabe erinnerte Josef ein wenig an Johann von Gischala.
  Er ritt, den Verwalter an der Seite, seine Besitzungen auf und ab, durch Öl- und Weinterrassen, zwischen Dattelpalmen, durch Weizenfelder, zwischen Granaten, Nüssen, Mandeln, Feigen. Oben lag uralt und trotzig die Stadt Gazara mit ihren von den Römern erneuerten Forts. Die Güter schienen musterhaft bewirtschaftet, zweihundertsiebzig Leibeigene waren beschäftigt, viele Schwarze unter ihnen, sie sahen gepflegt aus, ihre Arbeit war klug organisiert. Schade, daß soviel Mühe und Geschicklichkeit aus den fruchtbaren Besitzungen keine größere Rente herauswirtschaften konnte.
  Theodor Bar Theodor setzte seinem Herrn auseinander,
woran es lag. Die Güter waren nach der Stadt Gazara zuständig, die kein Kolonialrecht hatte, so daß Steuern und Abgaben sehr hoch waren. Die Stadt Emmaus, die, fast ausschließlich von römischen Veteranen des Feldzugs bewohnt, die Privilegien einer Kolonialstadt genoß, weigerte sich, Josefs Güter einzugemeinden. Die Gründe waren unsachlich. Hauptmann Pedan zum Beispiel, Josefs Gutsnachbar, hatte, als er seinen Abschied nahm, sich Besitz anweisen lassen, der überall in Josefs Gebiet einzackte und zum großen Teil der Stadt Gazara näher lag als der Stadt Emmaus. Trotzdem war das ganze Besitztum des Hauptmanns nach Emmaus zuständig, so daß es, obwohl es kleiner und schlechter bewirtschaftet war als Josefs Güter, infolge der niedrigeren Besteuerung eine größere Rente abwarf. Hauptmann Pedan konnte seine Erzeugnisse steuerfrei in Emmaus absetzen, Theodor Bar Theodor war auf die Städte Gazara oder Lud angewiesen, wo er riesige Abgaben zu zahlen hatte. Zudem weigerte sich die Majorität der jüdischen Bevölkerung, Erzeugnisse zu kaufen, die von den Gütern des Josef stammten, weil er von Jerusalem geächtet worden war, und die Griechen und Römer von Lud und Gazara nützten diese Zwangslage aus. Geteilten Gefühls sah Josef seinen fruchtbaren Boden, dessen Fett, Öl und Wein den fremden Eroberer des Landes nährte.
  Der Verwalter, während Josef langsam auf seinem vorsichtig schreitenden Esel neben ihm herritt, erzählte weiter von den vielen Schwierigkeiten, die die Nachbarschaft des Hauptmanns Pedan bereitete. Da war zum Beispiel die Sache mit der Wasserleitung. Es wäre für beide Teile vorteilhaft, wenn man den ausgezeichneten Aquädukt von Emmaus nach Gazara weiterführte. Die Gemeinde Emmaus würde eine Menge Geld sparen, und man selber noch mehr. Aber die Stadtverwaltung von Emmaus sträubte sich. Schuld daran sei der Hauptmann Pedan. Der, als Träger des Graskranzes und Liebling der Armee, sei allmächtig in Emmaus. Seine Gründe gegen die Durchführung des Projektes seien offenbar rein persönlich; denn er, als Großabnehmer der Wasserleitung, würde selber den reichsten Gewinn daraus ziehen.
  Josef meinte, er werde einmal zu Hauptmann Pedan hinüberreiten. Es war im Grunde nicht wegen des Geschäftes, von dem ihm der Verwalter sprach, vielmehr lockte es ihn, den Mann zu sehen, dessen Hand den Feuerbrand in den Tempel geschleudert hatte und dessen Name von ihm in seinem Buch nicht genannt worden war; denn sein Name sollte vergessen sein.

Erst am dritten Tag seines Aufenthalts besuchte Josef das Vorwerk »Brunnen der Jalta«, wo Mara lebte. Das Vorwerk sei verwildert, hatte der Verwalter Josef erzählt, aber Mara habe ihren Ehrgeiz darein gesetzt, es hochzubringen.
  Josef traf Mara im Weinberg, in Arbeitskleidung, mit nackten, erdbeschmutzten Füßen und einem großen Hut gegen die Sonne. Er hatte sich nicht angemeldet und wußte nicht, ob sie von seiner Ankunft gehört hatte. Sie hockte auf der Erde, Gießränder für die Weinstöcke grabend, wie es schien. Als sie ihn erblickte, blieb sie hocken, sie lehnte den Kopf zurück, ihr rundes Gesicht wurde blaß unter seiner Bräune, ihre Augen weit, und, die Stimme gepreßt von Zorn und Schreck, rief sie ihm zu: »Kommst du, Schlächter des Herrn? Wagst du dich zu mir? Was willst du von mir? Bleib fern von mir, Geschlagener.«
  Er stand hilflos. Was konnte er ihr erwidern? Vor dem gemeinen Menschenverstand hatte er recht. Er konnte sagen: Wie soll man einen elfjährigen Jungen hüten? Kann man ihn immer am Gängelband halten? Auch wenn du in Rom geblieben wärst, hättest du nichts verhindern können. Aber wenn er ihr das sagte, was sollte es nützen? Er wagte ja nicht einmal, sich selber solche Dinge weiszumachen. Er wußte, daß der Tod Simeons seine Schuld war. Nicht, daß ein Richter ihn schuldig gesprochen hätte, wenn seine Sache in Rom anhängig gemacht worden wäre oder in der Quadernhalle des Tempels von Jerusalem. Trotzdem war er schuld. Er wußte es gut. Und als sie ihn anschrie, verändert, mit einer Heftigkeit, die er nie an ihr wahrgenommen, die bräunlichen Augen verwildert: »Du hast mich zu einem dürren Ast gemacht. Ich habe bei ihm bleiben wollen, du aber hast mich von ihm gerissen und hast ihn ausgelöscht«, da konnte er nichts darauf sagen.
  Schließlich sprach er trotzdem. Er stand in der hellen Sonne. Er arbeitete sich ab und redete ihr gut zu, aber er sah, daß er nur die Luft erschütterte. Sie erwiderte nichts mehr. Da drehte er sieh um und ging.
  Als er sich vor der Wegbiegung nach ihr zurückwandte, sah er, daß sie ihm nachschaute. Ihr Gesicht hatte sich jetzt verwandelt. Es war nicht mehr Schreck und Wut darin, sondern nur mehr eine große Trauer.

Unter den Leibeigenen des Josef war ein Minäer, der, wie der Verwalter erzählte, die Lehren dieser Sekte gut auszudeuten verstand, so daß er manche seiner Hörer für seinen Glauben gewonnen hatte. Josef versuchte, mit diesem Leibeigenen in ein Gespräch zu kommen. Doch das war nicht leicht. Trotzdem Josef sich vorhielt, er sei doch selber einmal Leibeigener gewesen, konnte er mit diesem Entrechteten nicht frei vom Herzen sprechen; gegen seinen Willen kam in seinen Ton etwas Herablassendes. Der Rechtssatz der Doktoren, daß Leibeigene wie Immobilien anzusehen seien, stak ihm im Blut.
  Im Gespräch mit diesem samaritanischen Leibeigenen indes verlor sich seine Steifheit schnell. Wie der Mann ursprünglich geheißen hatte, wußte Josef nicht; der Verwalter hatte ihm einen der üblichen Leibeigenennamen gegeben, Samua, »der Gehorsame«, und ließ ihn wie alle anderen Leibeigenen die Schelle tragen, die ihn als Hörigen, dem Vieh Gleichen, charakterisierte. Trotzdem und bei aller Dienstwilligkeit hatte dieser Samua den Anstand und das Gehabe eines freien Mannes. Wenn man ihm glauben wollte, dann war er, als die samaritanische Stadt Esdraela beim Anfang des Aufstands ihre Juden totschlug, für diese eingetreten, dafür von seinen Mitbürgern den Römern als Teilnehmer an dem Aufstand denunziert, von diesen festgenommen und in die Leibeigenschaft verkauft worden. Es war möglich, daß es so war, aber es war unbehaglich, es zu glauben. Auf alle Fälle beschloß Josef, den Verwalter anzuweisen, den Gehorsamen in Zukunft gleich einem jüdischen Leibeigenen zu behandeln, ihn also in Kleidung und Wohnung dem Herrn völlig gleichzustellen, gemäß der Vorschrift: »Daß du nicht etwa äßest weißes Brot und dein Leibei gener schwarzes, tränkest alten Wein und er jungen, schliefest auf Matratzen und er auf Stroh, wohntest auf dem Lande und er in der Stadt, oder du in der Stadt und er auf dem Lande.« Der Verwalter wird darüber zwar nicht gerade erfreut sein.
  Vorläufig unterhielt sich Josef mit dem Gehorsamen über die Lehren der Christen, und es ergab sich sogleich, daß dieser Samariter besser Bescheid wußte als jener Tachlifa in der Schenke von Kapernaum. Ja, wenn man ihn auch nicht gerade im Sinne der Doktoren gelehrt nennen konnte, so war er doch beschlagen in der Schrift und in ihrer mündlich überlieferten Ergänzung. Josef also fragte ihn: »Da du, Gehorsamer, wie ich sehe, dich gut auskennst in den Lehrmeinungen der Doktoren, sage mir, was hat dich dazu geführt, dich mit diesen Meinungen nicht zu begnügen, sondern über sie hinaus die Lehre der Minäer anzunehmen?« Der Gehorsame erwiderte: »Die Doktoren sind habsüchtig im Geiste. Sie haben das Wort der alten Propheten vergessen, Jahve sei der Gott aller Welt. Sie glauben, sie allein hätten das Recht gepachtet, sich mit seiner Lehre abzugeben und sie zu studieren. Darum auch waren sie eifersüchtig, als Jesus von Nazareth sich den Propheten Gottes nannte, und darum haben sie den Gesalbten getötet. Aber nun hat es sich ja erwiesen, daß Jahve nicht der Gott der Priester und der Doktoren ist. Warum sonst hätte er Jerusalem zerstört, ihren Sitz und sein früheres Haus? Darauf wissen sie keine Antwort. Sie sprechen viel von anderer Schuld und erklären, Jahve werde Jerusalem wieder aufbauen. Aber das ist eine Hoffnung, keine Antwort.«
  Da war es wieder, dieses Argument, das Josef schon in Galiläa gehört hatte und das die Christen offenbar für ihr wirksamstes hielten. Dieser Minäer führte es noch deutlicher aus. »Jahve«, sagte er, »hat das Gefäß zerbrochen, in das bisher die Lehre gegossen war, Jerusalem und den Tempel. Unmöglich kann man eine andere Folgerung daraus ziehen als die, daß er die Lehre ausgegossen wissen will über die ganze Welt, über Laien wie über Gelehrte, über Heiden wie über Juden. Er wollte zeigen, daß er überall wohnt, wo der Glaube an ihn ist.« Der Gehorsame sprach mit tiefer Stimme, leise, doch deutlich und entschieden. Er war ein kräftiger Mann, gebräunt von der Sonne. Wenn er sich bewegte, klingelte die Schelle seiner Leibeigenschaft.
  Josef fragte ihn weiter aus. Was den Gehorsamen an der Lehre Jesus des Nazareners vor allem anzog, war die Verachtung des Reichtums und die Hochschätzung der Armut, die schlichte Lebensführung, die Brüderlichkeit. »›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹, heißt es in der Schrift«, sagte er, »und die Doktoren verkünden als goldene Regel: ›Was du nicht willst, daß man dir tue, das tue auch keinem andern.‹ Wir stellen an uns höhere Forderungen. Wir lehren, man soll nicht nur den Nächsten, sondern auch den Feind lieben wie sich selber, ja, man soll die andere Wange hinhalten, wenn man auf die eine geschlagen wird.« Und, gutmütig lächelnd, fügte er hinzu: »Es kann, glaube ich, mein Doktor und Herr, den Besitzern von Leibeigenen nur angenehm sein, wenn ihre Leibeigenen Christen werden. Denn die christliche Lehre hebt jene Weisung auf, die Kanaan, das Urland der heidnischen Leibeigenen, diesen mitgegeben hat: ›Liebet euch gegenseitig und hasset eure Herren, liebet den Diebstahl, liebet die Schwelgerei und hasset die Wahrheit.‹«
  Josef meinte, diese Moralprinzipien, Brüderlichkeit und Verachtung des Reichtums, seien ihm aus der Zeit seiner essäischen Studien und Moralübungen vertraut. Sie wichen im Grunde nicht ab von den Sätzen der Doktoren. »Was also ist es«, fragte er, »worin die Lehre der Minäer abweicht von der der andern?«
  »Soweit ich, ein ungelehrter Mann, es überblicken kann«, erwiderte bescheiden der Gehorsame, »sind es zwei Grundsätze. Wir glauben, der Messias ist bereits erschienen, und es ist nicht gut, noch weiter zu hoffen, Jerusalem werde in Stein und äußerem Glanz wieder auferstehen. Und ferner halten wir dafür: Wissen und Werke sind gut, aber besser ist der Glaube. Und der Glaube ist jedem erreichbar, nicht nur dem Gelehrten, sondern auch dem Armen an Geist und Bildung wie hier dem Gehorsamen, deinem Knecht.«
  Josef fragte: »Kannst du mir nichts Näheres sagen, Gehorsamer, über die Taten und Aussprüche deines Jesus von Nazareth?«
  »Es ist einer in der Nähe der Stadt Lud«, erwiderte der Gehorsame, »in dem Dorfe Sekanja, ein gewisser Jakob. Der hat ein kleines Buch, darin sind die Lehren und Gleichnisreden unseres Gesalbten aufgezeichnet, desgleichen sein Leben und sein Wandel durch die Länder Galiläa und Juda. Dieser Jakob, trotzdem er drei große Güter hatte, gab sie auf und gehört zu uns, den Armen. Er ist ein Wundertäter, er heilt Kranke und macht Besessene frei. Erst eiferte Doktor Ben Ismael gegen ihn. Aber nach einigen Gesprächen änderte er seine Meinung. Jetzt sucht Doktor Ben Ismael die Gesellschaft des Jakob aus Sekanja und sitzt oft im Kreise der Gläubigen, trotzdem seine Kollegen in Jabne das nicht gerne sehen.«
  Josef beschloß, diesen Jakob aus dem Dorfe Sekanja aufzusuchen.

Die Hochschule der Stadt Lud hatte vor dem Krieg großes Ansehen genossen. Jetzt aber hatte sie ihre Privilegien verloren, die Regelung des jüdischen Ritus und die jüdische Gerichtsbarkeit lag ausschließlich in den Händen der Doktoren von Jabne; denn nur die dortige Hochschule war von den Römern anerkannt. Doch infolge der Strenge des neuen Großdoktors Gamaliel zogen sich manche der Doktoren grollend nach Lud zurück, und es sammelten sich Schüler um sie, trotzdem sie nicht graduiert werden konnten. Die Stadt Lud wurde allmählich zum Zentrum aller jener, die hellenistischen oder minäischen Lehrmeinungen anhingen.
  Derjenige unter diesen rebellierenden Doktoren, von dem man am meisten sprach, war der junge Jannai, genannt der Acher, »der Andere«, »der Abtrünnige«. Einziger Sohn einer reichen Familie aus altem Priesteradel, sehr begabt, hatte er schon als Student die Aufmerksamkeit des Kollegiums auf sich gelenkt und seine Prüfung mit höchster Auszeichnung bestanden. Sehr bald darauf aber hatte der Fünfundzwanzigjährige sich von der Lehre der Doktoren losgesagt, die Laufbahn aufgegeben, die breit und sicher vor ihm lag, und jetzt sah man ihn mit einigen Genossen, älteren und jüngeren, in Lud herumgehen, die Bräuche und Gebote der Doktoren durch Wort und Tat verhöhnend. Sein vielfältiges Wissen, seine elegante Beredsamkeit, das Hell und Dunkle seiner Gottesanschauung blendete viele. Er hatte in griechischer Sprache eine Dichtung über das Jüngste Gericht geschrieben, er hatte sie nur in wenigen Exemplaren veröffentlicht, aber diejenigen, die sie kannten, waren von den aufregenden, vieldeutigen Versen tief angerührt. Sie zitierten mit Ehrfurcht, Grauen und Bewunderung vor allem jene dunklen, ketzerischen Strophen, in denen die Weltangst vor dem Jüngsten Gericht geschildert war und die in den Zweifel mündeten: »Wenn der Messias wirklich kommt, wer weiß, ob nach soviel Qualen das Menschengeschlecht noch die Kraft haben wird, ihn zu empfangen?« Jabne lud den jungen Doktor vor das geistliche Gericht, er erschien nicht. Man verbot seine Dichtung und tat ihn selber in Bann. Der Großdoktor Gamaliel strich mit eigener Hand seinen Namen von der Tafel der Doktoren, der er ihn vor kurzem beigefügt hatte, und belegte ihn mit einem neuen Namen, eben dem Namen Acher, »der Andere«, »der Ketzer«. Allein Jannai nannte fortan sich selber und ließ sich von den andern mit Stolz bei diesem Namen nennen, und nach wie vor flogen die Herzen der Jugend ihm zu.
  Josef wußte von dem Acher, daß dieser die Einfachheit der Gläubigen, die strenge Methode der Doktoren und die Schönheit griechischer Bildung zu vereinigen suchte. Er hatte eine der wenigen Abschriften seiner Dichtung gelesen, und sosehr er aller Mystik abhold war, dem dunkeln Glanz dieser Verse konnte er sich nicht entziehen. Unter den Doktoren der Stadt Lud war der Acher der erste, den Josef aufsuchte.
  Doktor Jannai empfing ihn erfreut, interessiert, ein wenig spöttisch. Er sprach griechisch, langsam, aber gewählt, offenkundig erstaunt über Josefs schlechten Akzent. Er war etwas zu füllig für seine Jahre, die Stirn baute sich breit und massig über kleinen Augen. Er hatte über einem fleischigen Mund eine platte Nase; aber er hatte rasche, ja hitzige Bewegungen, er konnte nicht stillsitzen und gestikulierte viel mit auffallend schmalen Händen.
  Josef sah bald, daß der junge, leidenschaftliche, beredte Mensch in Alexandrien oder in Rom auch unter den Juden viele Gleichgesinnte gefunden hätte, die ihn gern als ihren Führer anerkannt hätten. Er fragte ihn geradezu, warum er denn in der kleinen Provinzstadt bleibe, in dem besiegten Land, verachtet von den Siegern, geächtet von den Besiegten. Der Acher zerdehnte das massige Gesicht zu einem langsamen Lächeln. »Ich will es mir nicht leicht machen, Doktor Josef«, sagte er. »Unter Römern und Griechen ein Weltbürger zu sein, scheint mir kein großes Verdienst: ich möchte als Jude unter Juden ein Weltbürger bleiben. Das haben die Leute nicht gern, das verzeihen sie einem nicht. Aber sehen Sie, Doktor Josef, erst wenn ich das aushalte, dann erst, finde ich, habe ich mich bewährt.«
  Später sprach er von der Aufnahme der Bücher Hoheslied und Kohelet in den Kanon der Heiligen Schrift; seit zehn Jahren konnte sich das Doktorenkollegium in Jabne darüber nicht schlüssig werden. Es ergab sich, daß der Acher gleich Josef unter allen Büchern der Schrift den Kohelet am meisten liebte. Er sprach davon, wie die Siebzig in ihrer griechischen Übersetzung die edeln Verse des Originals banalisiert hätten, und sagte die oder jene Stelle in seinem eigenen Griechisch her. Während sie redeten, schlenderte faul und ungeniert eine junge, sehr schöne, dunkelbraune Frau herein, eine seiner Freigelassenen, wie der Acher erklärte. Sie beschaute neugierig, ohne Verlegenheit, den Fremden, hockte nieder, lässig, üppig. »Sie stört uns nicht«, meinte der Acher. »Wenn man nicht von sehr platten Dingen spricht, versteht sie nichts. Sie hockt dann einfach da und ist erfreulich anzuschauen. Natürlich tadelt man mich und belegt mich mit allen Flüchen, weil ich meine frühere Leibeigene halte, als wäre sie meine Frau. Aber warum soll ich es nicht? Sie gefällt mir besser als die meisten Frauen, die zu ehelichen niemand mir verübelte. Ich kann schärfer und besser denken, wenn sie da ist und wenn ich sie anschaue.«
  Er ließ Wein und Konfekt bringen. Sein Haus war schön, das schönste in Lud, mit kostspieliger Einfachheit; Bildwerk lief die Wände entlang. Die Braune hockte auf ihrem Ruhelager. Der Acher sprach weiter von den Büchern Hoheslied und Kohelet. »Ich verstehe nicht«, spottete er, »warum die Herren in Jabne so lange zögern, diese Bücher endgültig aus der Heiligen Schrift auszuschließen. Was verstehen sie vom Hohen lied, wenn sie es mir als Sünde anrechnen, daß ich in Gegenwart dieser meiner braunen Tabita in der Schrift lese? Was verstehen sie vom Kohelet, wenn sie es mir verbieten, mich auf meine Art mit dem Satan und dem Jüngsten Gericht auseinanderzusetzen? Schon in ihrer jetzigen Gestalt macht es die Schrift den Doktoren schwer genug, sie mit den hausbackenen Regeln ihrer nationalistischen Moral in Einklang zu bringen.«
  »Und doch«, fragte Josef, »haben Sie Ihre ganze Jugend auf das Studium der Doktoren und ihrer Lehre verwendet?« Das fleischige Antlitz des jungen Menschen, das keine seiner Regungen verbarg, füllte sich mit grimmiger Trauer. »Es fehlte nicht viel«, erwiderte er, »und ich hätte heute noch nicht mit ihnen Schluß gemacht. Mein Lehrer war Doktor Ben Ismael. Er suchte mich mit guten Gründen zu halten. Es war ihm schmerzlich, daß ich mich von Jabne abkehrte. Dabei geschah es um seinetwillen. Sie kennen Doktor Ben Ismael?« unterbrach er sich. Und da Josef verneinte, sagte er stürmisch: »Ein großer Mann. Sie müssen ihn sehen. Sie müssen ihn hören. Er ist das einzige, was in diesem Lande noch etwas taugt.« Er sprang auf, lief hin und her.
  »Man erzählt mir«, sagte vorsichtig Josef, »Doktor Ben Ismael habe keinen leichten Stand vor dem Großdoktor Gamaliel, trotzdem er seine Schwester zur Frau hat.« – »Sagt man Ihnen das?« fragte höhnisch der Acher zurück, grinsend über sein massiges Gesicht. »Hörst du es, Tabita?«, und er rührte, leicht tätschelnd, die Schulter der Braunen. »Man sagt diesem Herrn, Doktor Ben Ismael habe keinen leichten Stand vor Gamaliel.« Die Braune lutschte Konfekt, schaute lächelnd zu ihm auf. Der Acher ließ von ihr ab. »Man hat Sie richtig informiert, mein Doktor und Herr«, wandte er sich wieder mit ironisch trockener Sachlichkeit an Josef. »Er hat keinen leichten Stand.«
  »Ich habe von einem Zwist gehört«, tastete Josef sich weiter, »zwischen ihm und dem Großdoktor, am letzten Versöhnungstag.«
  »Ja«, höhnte der Acher, »man kann es auch einen Zwist nennen.« Seine kleinen Augen unter der breiten Stirn starrten heftig auf Josef. »Ben Ismael ist ein weiser Mann«, sagte er, »der gelehrteste in Jabne. Und der Großdoktor ist ein Politiker.« Es war erstaunlich, wieviel Haß und Spott der Acher in dieses Wort »Politiker« zu legen vermochte. »Es konnte nicht ausbleiben, daß es zwischen dem Weisen und dem Politiker zum ›Zwist‹ kam.«
  Er setzte sich wieder, er wollte sich sichtlich zur Gelassenheit zwingen, er erzählte. »Seitdem Großdoktor Gamaliel im Amt ist, gab es zwischen ihm und dem Kollegium immer wieder Differenzen, wem die Fixierung des Kalenders und der Festtage zustehe, dem Großdoktor allein oder dem gesamten Kollegium. Dieses Jahr, zu Beginn des Monats Tischri, kam es zum offenen Konflikt. Die Mehrheit des Rats, Ben Ismael an der Spitze, erklärte die Mondzeugen des Großdoktors für unzuverlässig. Der Großdoktor beharrte, setzte den ersten Tischri, das Neujahrs-, Versöhnungs- und Hüttenfest gemäß der Aussage seiner umstrittenen Zeugen fest und ließ sie so als verbindlich durch das Land verkünden. Ben Ismael ist kein Kämpfer. Er fügte sich und hielt die Riten des Jahresersten an dem von dem Großdoktor festgesetzten Tag. Freilich auch an dem von ihm selber bestimmten. Aber Gamaliel wollte keinen Kompromiß, er wollte die Sache ein für allemal bereinigen. Es genügte ihm nicht, daß Ben Ismael bereit war, das Versöhnungsfest an seinem, des Gamaliel, zehnten Tischri zu feiern. Er wollte darüber hinaus, daß Ben Ismael den Tag, den er und seine Freunde als den zehnten Tischri und ihren Sabbat der Sabbate festgesetzt hatten, daß Ben Ismael diesen seinen Versöhnungstag entweihe. Er legte ihm auf, an diesem Tag ein Stück Weges zu Fuß zu gehen, in Wanderkleidung, und mit Stab, Ranzen und Geldbeutel vor ihm zu erscheinen. Der Großdoktor wollte, daß Ben Ismael dadurch vor allem Volk bekunde, daß sein Versöhnungstag, dieser angebliche zehnte Tischri, in Wahrheit ein gemeiner Werktag sei, gemäß der Verfügung des Großdoktors. Das ganze Kollegium bestürmte Gamaliel, abzulassen. Er gab nicht nach. Er berief sich natürlich, wie immer, auf die ›Einheit der Lehre‹. Es müsse Israel gezeigt werden, beharrte er frech und eisern im Kollegium, daß es nur eine gottbefugte Ausdeutung der Lehre gebe: die seine. Ben Ismael wurde mit Ausschluß und Bann bedroht,
wenn er sich nicht füge.«
  Es hielt den Acher nicht länger auf seinem Sitz. Er sprang auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn, lief wieder hin und her. »Wir alle«, erzählte er weiter, »redeten auf Ben Ismael ein, seine Frau voran, die eigene Schwester des Großdoktors. Wir durften mit Recht hoffen, daß, wenn Ben Ismael sich weigerte, ein großer Teil des Rates ihm zufiel. Vielleicht konnte man Gamaliel absetzen. Vielleicht, wenn sich Ben Ismael und seine Freunde von dem Kollegium trennten, konnte man die unheilvolle, nationalistische Diktatur des Großdoktors brechen. Ben Ismael stöhnte. Alles in ihm bäumte sich. Wir hetzten ihn, wir ließen ihm keine Ruhe. Aber dieses höllische Wort von der Einheit der Lehre hatte es ihm angetan. Er riskierte nicht die Spaltung. Er fügte sich.«
  Der Acher stand jetzt vor Josef, er schnaufte stark, sein massiges Gesicht war finster, traurig. »Ich sehe ihn noch«, erzählte er, »wie er in Jabne ankam, bestaubt, der ganze, rüstige Mann eine Mühsal, als wäre der leichte Ranzen zentnerschwer. Die Leute von Jabne hatten ihre Häuser verlassen und standen an seinem Weg, niemand sagte ein Wort, alle standen bedrückt, und Ben Ismael schleppte sich die Stufen der Lehrhalle hinauf, wo der Großdoktor ihn erwartete. Ich habe, als Fünfzehnjähriger, gesehen, wie Jerusalem brannte und fiel. Aber eher werde ich das vergessen als den Anblick des gehetzten, traurigen Mannes mit dem Stab und dem Ranzen. Er hatte die Todsünde auf sich genommen um jener verfluchten Einheit der Lehre willen, er war der Bock, der die Sünde aller trägt, man sah, wie ihn die Last zusammenpreßte und ihm den Atem benahm. Aber er schleppte und trug. Das habe ich gesehen. Da sagte ich den Doktoren ab und ging fort von Jabne.« Den Acher genierte offenbar das Pathos seiner Erzählung. »Gib mir das Konfekt herüber, Tabita«, bat er und nahm von dem Konfekt. »Die Herren in Jabne hätten mich gern gehalten«, ergänzte er seinen Bericht. »Sie wären so weit gegangen, mir ausnahmsweise privatim meinen Philo und meinen Aristoteles zu erlauben. Sie sind bereit zu solchen Konzessionen: nur still muß man sich halten, und wenn man eine eigene Wahrheit findet, dann muß sie die eigene bleiben und darf beileibe nicht wei tergesagt werden.« Er spuckte das Konfekt aus. »Die Einheit der Lehre. Ein Gott, eine Nation, eine Auslegung. Die Doktoren erlauben nicht, daß man über die Bücher der Griechen diskutiert, über die Emanationen Gottes, über den Satan, den Heiligen Geist. Mit lauter Zentralisierung und Nationalisierung bringen sie die Lehre um ihren Sinn. Mit ihrer einen Auslegung deuten sie die Welt aus der Schrift hinaus und ein albernes, größenwahnsinniges Natiönchen in sie hinein. Wenn Jahve nicht der Gott der ganzen Welt ist, was ist er dann? Ein Gott unter vielen, ein nationaler Gott. Sie verkünden die Enge, die Herren in Jabne, sie wollen die Nation, und sie verbannen Gott. Sie berufen sich auf Jochanan Ben Sakkai. Aber ich wette diese meine Tabita hier gegen ein Johannisbrot, Jochanan hätte das Judentum lieber preisgegeben als es so verstümmelt und verknöchert. Jochanan wollte die Welt mit jüdischem Geist füllen, Gamaliel vertreibt den Geist aus den Juden. Die Massen verstehen nicht, worum es geht, aber das merken sie, daß es mit Jahve und den Doktoren nicht stimmt. Sie spüren, daß das Jerusalem im Geist, an dem die Doktoren bauen, noch enger, hochmütiger ist, als das steinerne, zerstörte war. Darum fallen so viele den Minäern zu.«
  Der junge Mensch rief sich zurück. »Ich lasse mich gehen«, entschuldigte er sich. »Sicher denken Sie: Lauter Ressentiments. Wie der Junge übertreibt, weil man ihn ausgeschlossen und verbannt hat. Vielleicht übertreibe ich, aber ich glaube, nicht sehr. Genug davon. Essen Sie, bitte, trinken Sie, schauen Sie sich meine Tabita an. Ich bin ein schlechter Wirt. Es ist mir lieber, Sie halten mich für ein Schwein aus der Herde des Epikur als für einen pathetischen Esel.« Er verzog sein fleischiges Gesicht zu einem Lachen. Allein Josef konnte sich die Trauer von diesem Gesicht nicht mehr wegdenken, auch wenn es lachte.
  Es war bei dem Acher, wo Josef den Minäer Jakob aus dem Dorfe Sekanja traf, den Wundertäter, von dem sein Leibeigener, der Gehorsame, ihm gesprochen hatte. Der Minäer Jakob war anders, als Josef ihn sich vorgestellt, ohne Aufmachung und Gewese, ein bartloser, einfacher, höflicher Herr; in Rom hätte man ihn für einen Bankier oder Rechtsberater gehalten. Der Minäer Jakob hatte sich bereit erklärt, dem Acher und seinen Freunden eine Biographie und eine Sammlung von Aussprüchen des Jesus von Nazareth vorzulesen, die einer seiner Glaubensbrüder niedergeschrieben hatte.
  Die Freunde, die der Acher noch geladen, waren Doktor Ben Ismael und dessen Frau, Channah. Ben Ismael, ein langer Herr mit milden, fanatischen Augen unter einer mächtigen, kahlen Stirn, sprach ruhig und wenig, doch mit einer tiefen, den Raum groß füllenden Stimme; trotz der Kraft seiner Erscheinung ging von ihm eine unendliche Müdigkeit aus. Um so lebendiger wirkte Channah; sie war jung, schön, heftig und führte die Sache ihres Mannes stürmisch und beredt.
  Der Minäer Jakob begann bald zu lesen. »Es handelt sich«, sagte er einführend, »um die Geschichte und um Aussprüche des Jesus von Nazareth, des Menschensohnes, wie sie ein Freund von mir nach dem Bericht eines gewissen JohannesMarkus, eines geborenen Judäers, für unsere kleine Gemeinde in Rom aufgezeichnet hat.« Und er las vor, ein wenig im Singsang, wie er an den jüdischen Schulen üblich war, und mit stark aramäisch gefärbtem Griechisch, eine kurze Erzählung vom Leben des Jesus, eines Zimmermanns aus Galiläa, begnadet mit der Kraft eines Wundertäters. Er heilt Sieche, gibt Blinden das Augenlicht zurück, treibt aus Besessenen die bösen Geister. Auf solche Weise erwirbt er sich das Vertrauen des gemeinen Volkes. Er nimmt den Kampf mit den hochmütigen Doktoren auf und erregt durch absichtliche Verletzung der Sabbat- und der Speisegesetze ihr Ärgernis. Dann zieht er nach Jerusalem und streitet wider die Sadduzäer, die da halten, es sei keine Auferstehung, und gegen die »Rächer Israels«, denen er sagt, man solle dem Kaiser geben, was des Kaisers sei. Bald ist es so weit, daß er vor Gericht zitiert wird. Der Große Rat verurteilt ihn zum Tode und überstellt ihn dem Gouverneur Pilatus. Widerwillig nur, bedrängt von den Juden, befiehlt der Römer die Exekution des Menschensohnes. Der stirbt am Kreuz, wird von einem Josef von Arimathia begraben, ersteht auf und begabt seine Jünger mit der Kraft, Wunder zu tun und seine Offenbarung aller Kreatur zu predigen. In diese Erzählung eingestreut waren Sentenzen, Lobpreisungen der
Armut, Gleichnisreden.
  Josef hörte gut zu. Der Mann mit seinem Alltagsgesicht und seiner Alltagsstimme war sichtlich selber ergriffen von dem, was er vorlas. Merkwürdig eigentlich; denn was war das im Grunde anderes als Wundergeschichten, wie Josef sie oft gehört hatte, agitatorische Angriffe auf die Doktoren, hundertfach erzählte und widerlegte Berichte über solche, die sich für den Messias ausgegeben. Die Lehre der Minäer schien Josef wirklich nur für Leute geeignet, die sehr einfachen Geistes waren. Erstaunt nahm er wahr, daß die andern nicht seiner Ansicht schienen, daß sie vielmehr bewegt zuhörten, mit etwas leeren, aber hingegebenen Gesichtern, wie man wohl guter Musik zuhört. »Dies ist die Botschaft, wie sie mein Freund den Minäerbrüdern in Rom verkündet«, sagte schließlich Jakob aus Sekanja, rollte das Büchlein zusammen und steckte es zurück in den Behälter.
  Alle schwiegen lange. Man hörte nur das starke Atmen des Acher. Josef schien es, als erwarte man, daß er, der Fremde, zuerst spreche. »Vieles scheint mir sehr schön«, sagte er endlich, und obwohl der Minäer Jakob ohne Deklamation gelesen hatte, klang ihm seine eigene Stimme jetzt auffallend hart und nüchtern. »Aber was ist Neues an diesen Lehren und Botschaften? Stammen sie nicht fast alle aus der Schrift oder aus den Reden der Doktoren?« Der Minäer Jakob wandte ihm ruhig sein glattrasiertes Gesicht zu, und Josef glaubte unbehaglich, auf diesem Gesicht ein ganz kleines Mitleid mit solcher Krittelei zu entdecken. Aber Jakob aus Sekanja erwiderte ihm nicht. Vielmehr sprach an seiner Statt der Acher. »Sehr neu ist die Botschaft nicht«, gab er zu. »Aber klingt nicht alles einfacher, gelöster, weicher, als wir es früher hörten? Spüren Sie nicht, welch erregende Süßigkeit ausgeht von dieser Lehre vom Nichttun? Nicht mehr kämpfen gegen die Römer und gegen die Welt, die Macht im Diesseits aufgeben, aufgehen in Gott, einfach glauben.«
  Josef ahnte, was den Acher an der Botschaft dieses Markus anzog; aber er selber spürte es nicht. Streitsüchtig, da es ihn verdroß, daß die andern ihn vielleicht für stumpf hielten, fuhr er fort: »Und sind nicht manche Widersprüche in der Lebens beschreibung? Wenn Jesus von den Juden wegen Lästerung des Namens verurteilt wird, warum wird er da nicht gesteinigt? Wenn aber die Römer ihn als König der Juden verurteilen, also doch wohl wegen Aufruhrs und Majestätsverbrechens, wozu dann erst das Gericht der Juden? Und wenn Tausende ihm entgegenziehen und Hosianna rufen, wenn also alles Volk ihn kennt, wozu brauchen dann der Erzpriester und seine Leute den Verrat des Judas? Sicherlich sind diese Einwände sehr nüchtern, wenn Sie das Ganze als Dichtung nehmen. Aber wollen Sie nicht, daß es Wahrheit ist?«
  »Ich behaupte nicht, und niemand von uns behauptet«, sagte gelassen der Minäer Jakob, »daß der Bericht jenes Markus, wie mein Freund ihn aufzeichnete, Wahrheit im Sinn juristischer Akten enthält. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, daß ich nur dann die Kraft habe, Heilungen zu vollbringen, wenn meine Seele ein einziger Glaube ist an diesen Menschensohn Jesus von Nazareth.« Er sprach so einfach, als ob er sagte: Für diesen Golddariken kann ich Ihnen sechshundertzwölf Sesterzien, ein As und zwei Unzen geben.
  »Wenn der Bericht trotz seiner Unwahrscheinlichkeit wahr klingt«, versuchte der Acher Josef zu erklären, »dann wohl deshalb, weil ein Prinzip und eine Wahrheit nicht genügen, um die Welt zu begreifen. Es mögen die Taten und Meinungen vieler Messiasse sein, von denen dieser Johannes-Markus berichtet, wie sie in einem einzigen zusammengeflossen sind. Es wäre dann vielleicht falsch, von historischer Wahrheit, aber es wäre ebenso falsch, von Dichtung zu sprechen. Es ist beides in einem größeren Dritten.«
  Doktor Ben Ismael mit seiner milden, tiefen Stimme fragte: »Bitte, deuten Sie mir aus, warum ist Ihr Jesus von Nazareth gestorben?« – »Es geschah«, gab sachlich Jakob aus Sekanja Auskunft, »um die Menschen von der Sünde Adams, von der Erbsünde, zu erlösen. Denn es steht geschrieben: ›Das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an‹, und: ›Siehe, in der Sünde bin ich geboren worden, und in der Schuld empfing mich meine Mutter‹.«
  »So viel mag richtig sein«, sinnierte Ben Ismael, »daß der Bock, den wir in die Wüste schickten, und die fleckenlos reine rote Kuh, die wir opferten, eine zu bequeme Lösung war.« – »Eine Doktorenlösung«, warf höhnisch der Acher ein. Und Ben Ismael vollendete: »Es muß wohl wirklich ein lebendiger Mensch sein.« Und alle, auch Josef, dachten an jenen Versöhnungstag, da er sich mit Stab und Ranzen die Stufen des Lehrhauses hinaufgeschleppt hatte.
  Der Minäer Jakob, ohne die Stimme zu heben, doch entschieden, berichtigte: »Jesus von Nazareth hat die Sünde der ganzen Welt auf sich genommen, nicht nur eines Volkes.«
  »Es ist eine gefährliche Lehre«, überlegte Channah, »sie legt alles dem Heiligen auf die Knie. Sie stellt vieles frei. Predigt sie nicht den Heiligen auf Kosten des Gerechten? Und ist es nicht oft schwerer, gerecht zu leben als heilig zu sterben?«
  »Es scheint«, erwiderte trocken Jakob, und man mußte scharf aufmerken, um den Spott herauszuhören, »daß ihr mit eurer Gerechtigkeit nicht weit gekommen seid. War es nicht aus Gerechtigkeit, daß ihr den Heiligen getötet habt? Und hat nicht diese Gerechtigkeit dahin geführt, daß ihr habt zusehen müssen, wie Jerusalem zerstört wurde?«
  Josef dachte ärgerlich: Wo immer Minäer sind, sprechen sie vom zerstörten Jerusalem. Ohne das zerstörte Jerusalem gäbe es sie nicht.

Jakob entfernte sich bald, er wollte zurück in sein Dorf Sekanja. Josef, nachdem er gegangen war, fragte Ben Ismael: »Was ist es, mein Doktor und Herr, das Sie an der Lehre der Minäer anzieht? Denn was dieser Mann las, ist ärmlich, und dennoch hörten Sie mit Hingabe zu.«
  Ben Ismael erwiderte: »Ich glaube, Doktor Josef, wir sind zu überheblich; ich schäme mich des Dünkels auf unser Wissen. Diese suchen Gott einfältigen Sinnes und auf geradem Weg. Manchmal ist mir, als kämen sie Jahve näher als wir mit unserer verschlungenen Gelehrsamkeit. Und dann halten diese die Tür zu Jahve offen für alle Welt, während unsere Riten den Zugang zu ihm immer enger und schwieriger machen.«
  »Ich glaube, ich sehe, was Sie meinen«, überlegte Josef. »Aber wie wirklich soll man es in Jabne halten, nachdem die Römer die Beschneidung verboten haben? Was soll man anfan gen mit einem Heiden, der zu uns herüber will? Soll man ihm raten, die Beschneidung zu unterlassen und Todsünde zu begehen? Oder soll man ihn beschneiden und heraufbeschwören, daß die Römer Bekehrer und Bekehrten töten? Liegt es nicht an dem Zwang von außen, wenn die Riten immer enger und nationalistischer werden?«
  »Es gibt Leute«, sagte der Acher, »denen das Verbot der Beschneidung sehr gelegen kam. Der Großdoktor, glaube ich, sah es nicht ungern. Es war ihm ein guter Vorwand, die Lehre zu verengern.«
  »Ich bin überzeugt«, eiferte die heftige Channah, »am liebsten hätte er selber die Römer gebeten, dieses Verbot zu erlassen. Er hat Furcht vor den Proselyten. Er möchte sie fernhalten. Er hat Furcht vor allem Neuen, das in die Lehre einströmen könnte. Ehe er Neues hineinnimmt, interpretiert er hinaus, was noch an Tiefe und Reichtum in der Lehre ist. Kahl und arm will er sie haben, übersichtlich. Ihre Gläubigen sollen eine einzige, große Herde sein, bequem zu hüten, einer brav wie der andere, einer wie der andere gestutzt, geglättet und gestriegelt. Und er ist der Hirt, und das Kollegium ist der Hund, und wer nicht pariert, wird geschlachtet.«
  Ben Ismael strich mit der langen Hand über die kahle Stirn, zupfte mit mechanischer Bewegung an seinen Brauen, sie glättend. »Schilt nicht ins Blaue, liebe Channah«, bat er. »Das Amt des Großdoktors ist schwer. Wir haben die Neigung, uns zu vergießen über die ganze Erde. Es muß einer dasein, der uns zusammenhält.«
  »Da hören Sie ihn, Doktor Josef«, klagte Channah. »Er verteidigt noch den, der ihn schlägt. Ja, die Einheit der Lehre ist da, der eiserne Rahmen ist da, der das Gesetz zusammenhält, aber er ist so eisern und eng, daß er alles totpreßt, was an der Lehre lebendig ist. Sie wissen von jenem Versöhnungstag, Doktor Josef? Da hat Ben Ismael den eisernen Rahmen zu spüren bekommen.«
  »Bleib vernünftig, Channah«, mahnte die tiefe Stimme Ben Ismaels. »Es gibt kein Mittel, das Judentum zusammenzuhalten, außer der strengen Gemeinsamkeit der Bräuche und Werke. Man muß jeden einzelnen immerzu daran erinnern, vom Morgen bis zum Abend, daß jetzt mit ihm zusammen fünf Millionen andere den gleichen Gott anbeten. Er muß spüren, immerzu, daß er ein Teil dieser fünf Millionen und ihres Geistes ist. Wenn nicht, dann zerfällt das Volk und verschwindet.« – »Und jetzt ist über den Bräuchen und Werken der Sinn und der Glaube verschwunden«, konstatierte bitter der Acher.
  »Vergeßt nicht«, beschwichtigte Ben Ismael, »daß Gamaliel bisher keine einzige Äußerung gegen die Minäer getan hat. Sie feiern die Feste mit uns, sie gehen in die Synagogen, nichts und niemand wird unrein durch ihre Berührung. Sooft die Kollegen Helbo oder Jesus oder Simon der Weber im Rat die Frage anschneiden, wer alles unter den Begriff ›Leugner des Prinzips‹ fällt, niemals äußert Gamaliel ein Wort, sie zu unterstützen. Wenn heute die Lehre der Christen bloß als ›Abweichung‹ gilt und nicht als ›Leugnung des Prinzips‹, dann ist es allein ihm zu danken; denn jeder weiß, daß die Reden der Herren Kollegen nur auf die Minäer hinzielen. Aber er läßt sie reden und zieht keine Folgerungen daraus. Gamaliel liebt die Christen nicht, aber, das muß man ihm lassen, in dogmatischen Fragen denkt er liberal, liberaler vielleicht als ich.« – »Weil er nichts davon versteht«, konstatierte der Acher.
  Channah aber richtete sich hoch. »Ich will euch genau sagen, wie es kommen wird«, erklärte sie, »Ihnen, Doktor Jannai, und dir, mein Ben Ismael, und ich rufe diesen Doktor Josef zum Zeugen an, daß er meine Worte bestätige, wenn sie eingetroffen sind. Die Herren Helbo und Jesus und Simon der Weber werden noch oftmals im Kollegium darüber diskutieren, wo die ›Leugnung des Prinzips‹ beginnt und wo sie aufhört, und alle werden wissen, daß diese Reden auf die Minäer gemünzt sind, und niemand wird sie ernst nehmen und Folgerungen daraus ziehen. Aber wenn erst Gamaliel mit seinem Rahmen um das Gesetz fertig ist, dann wird er darangehen, mit diesem Rahmen auch die Lehrmeinungen totzuschlagen, die ihm nicht passen. Und dann werden auf einmal die Diskussionen über die ›Leugnung des Prinzips‹ mehr sein als theoretisches Geschwätz. Ich kenne meinen Bruder. Ich kenne ihn besser als ihr. Ich kenne ihn aus der Zeit, da er ein kleiner Junge war, und ich habe es erlebt, wie er auf jeden einschlug, der ihm nicht seinen Willen tat. Er liebt die Minäer nicht. Ich weiß nicht, auf welche Art er gegen sie vorgehen wird. Aber daß er es tun wird, das weiß ich, und sicher sehr anders, als es irgend jemand erwartet.« Channah sprach nicht laut, aber sie betonte jede Silbe.
  »Alle meine Freunde«, erwiderte, jetzt etwas heftiger, Ben Ismael, »sind froh, daß die Minäer in der Welt sind. Es ist gut, daß Jahve den Doktoren nicht allein gehört, und es ist gut, daß Jahve den Juden nicht allein gehört. Und daß diese Erkenntnis in der Welt bleibe, dafür ist die Lehre der Christen gut. Niemals werden wir erlauben, daß ein Antrag gegen sie durchgeht.«
  »Natürlich werdet ihr euch sträuben, mein Lieber«, erwiderte mit grimmiger Ruhe Channah, »sehr heftig und mit triftigen Argumenten werdet ihr euch sträuben. Aber dann wird Gamaliel wieder von der Einheit der Lehre zu reden anfangen, und am Schluß wirst du einen zweiten Versöhnungstag feiern.«
  »Niemals«, sagte Ben Ismael. Seine schönen, milden Augen waren fanatisch geworden, und sein tiefes Niemals füllte lange den Raum.
  »Wenn man seine Stimme hört«, grollte Channah, aber durch ihren Groll hörte Josef ihre Bewunderung und ihre Neigung, »dann glaubt man, er bleibe unerschütterlich. Aber am Ende kommt doch alles, wie Gamaliel es will. Dieser da«, wandte sie sich an Josef, auf den Acher weisend, »ist zu hitzig, und dieser mein Mann weiß zuviel, und zuviel Wissen macht unfähig zum Widerstand. Mein Bruder versteht nichts, aber er weiß, was er will, und steckt sie alle mit dem Finger einer Hand in die Ärmel seines Kleides.«
  »Noch nicht zwanzig von den zweiundsiebzig Mitgliedern des Kollegiums würden einen Antrag gegen die Minäer unterstützen«, sagte ruhig Ben Ismael. »Weil der Großdoktor ihn noch nicht unterstützt«, eiferte Channah, »weil er neutral bleibt. Laßt ihn erst sein Gesicht zeigen, und ihr werdet sehen.«
  Josef schaute von der kahlen, mächtigen Stirn des Ben Ismael auf Channahs bewegtes Antlitz. Noch hatte er das tiefe Niemals Ben Ismaels im Ohr. Dennoch schien ihm, als sehe die Erbitterung Channahs weiter als die milde Zuversicht ihres Gatten.
  Channah wandte sich jetzt an ihn. »Es gibt ein Mittel«, sagte sie, »den Sinn und die Vielfalt der Lehre zu erhalten und sie vor übler Nationalisierung zu schützen. Sie können uns helfen, Doktor Josef. Helfen Sie.«
  Josef wandte ihr ein höfliches Gesicht zu, aber in seinem Herzen war Unbehagen. Wie sollte er diesen helfen? Was wollte man von ihm?
  Channah sprach weiter: »Die Römer dulden unsere Schulen hier in Lud, aber sie anerkennen nicht die Autorität unserer Lehren und Beschlüsse. Jabne kann von einem Tag zum andern unsere Anstalten sperren. Sie haben Einfluß beim Gouverneur, Doktor Josef. Erwirken Sie, daß Rom der Schule von Lud in religiösen Fragen die gleiche Autorität zuerkennt wie der Universität Jabne. Dann ist die Despotie meines Bruders gebrochen, und für die Gebildeten unter den Juden ist griechische Dichtung und Weisheit, für die Massen die Lehre der Minäer gerettet.«
  Josefs erstes Unbehagen verwandelte sich in eine große Betretenheit, fast in Schreck. Wieder schob man ihm Entschlüsse zu, Verantwortung. Er war gekommen, sich in Judäa neue Kraft zu holen für sein Wirken in der Fremde. Jetzt verlangte Judäa Kraft von ihm, dem Versagenden.
  Man war lange zusammen gewesen, schon machte Dämmerung die Wände verschwimmen und die Gesichter undeutlich. »Es wäre schön«, kam durch diese Dämmerung die Stimme des Acher, »hier in Lud eine Hochschule zu gründen, auf der nicht über Gesetze und Bräuche disputiert wird, sondern über Gott und die Lehren. Wo nicht der Priester und Jurist herrscht, sondern der Prophet, wo man nicht formalistisch argumentiert, sondern sich bemüht, Schauen und Denken zu vereinen, wo man forscht, was wohl die alten Riten bedeuten, und nicht um ihre Äußerlichkeiten hadert. Wo man den hellen Philo ergänzt durch den dunkeln Kohelet und den dunkeln Hiob. Ich könnte mir vorstellen, daß man von hier aus wirklich jüdischen Geist in die Welt sendet und ihn erweitert, statt ihn zu verengen. Es müßte eine Hochschule sein, die Jahve nicht als Erbteil Israels, sondern als Gott der ganzen Welt verkündet und die Judentum, Minäertum, Griechentum dreieinig verbindet.«
  Man sah wenig mehr von dem fleischigen, traurigen Gesicht des Acher, und in seinen Worten war nichts von jener spielerischen Ironie, hinter welcher er sein inneres Pathos zu verstecken pflegte. Josef dachte an die Verse, die er gelesen, an diese geheimnisvollen, bitteren Prophezeiungen vom Jüngsten Gericht. Dieser Prophet, dieser Dichter und Besessene, war anders, als sonst Propheten waren. Er trug nicht groben Filz und nährte sich nicht von Beeren und Heuschrecken, vielmehr nährte er seinen fetten Körper mit erlesenen Speisen, pflegte ihn mit Bädern und Essenzen und hielt sich eine schöne, dunkelbraune Frau für sein Bett. Aber was aus ihm sprach, war darum nicht minder wild und inbrünstig als die Stimme derjenigen, die in der Wüste schrien. Josef spürte, wie heiß der junge Mensch um ihn warb, wie sehr er seine Zustimmung für die Hochschule von Lud ersehnte. Er spürte, wie begierig Ben Ismael auf seine Antwort wartete. Es wäre herrlich, mit Männern wie diesen zusammenzuarbeiten. Es wäre gut, in die eigene, helle Nüchternheit etwas von der erregenden Dunkelheit dieses jungen Menschen, von der milden Weisheit dieses älteren zu gießen. Sehr drängte es ihn, zu sagen: Ja, wir wollen hier eine Universität gründen von Juden, Griechen und Römern, eine Lehrschule für Weltbürger. Ich selber will hier bleiben. Laßt mich mit euch arbeiten.
  Aber er war nicht mehr jung genug. Die Zweifel ringsum, die Müdigkeit, die Trauer des besiegten Landes waren ihm kein Ansporn, sie zu vertreiben, sie steckten ihn an und drückten ihn nieder. Wäre er dem Acher oder dem Ben Ismael wenige Jahre früher begegnet, er hätte wohl ja gesagt. Jetzt schwieg er.
  Es war kein langes Schweigen. Doch auf eine so dringliche Werbung war nur ein schnelles, heißes Ja möglich, jedes Zögern war ein Nein. Die großen, träumenden Worte des Acher waren denn auch noch im Raum, als alle bereits spürten, daß Josef sich versagte.
  Es war Ben Ismael, der ihn einer Antwort enthob und die Peinlichkeit seines Schweigens endete. »Kommen Sie zurück in die Wirklichkeit, mein Jannai«, mahnte er den Acher. Und dann brachte man Licht und sprach von Dingen des Alltags.

Auf dem Gut des Pedan hatte man Josef gesagt, der Hauptmann sei zur Jahresmesse nach Emmaus gefahren. Josef wollte seinen Besuch nicht länger hinausschieben und ritt hin.
  Er hatte Emmaus als einen hübschen, kleinen Kurort in Erinnerung; er fand eine ansehnliche, lärmende Stadt. Hier hatte Flavius Silva das Gros jener Frontsoldaten angesiedelt, die nach Beendigung des Krieges, den Dienst quittierend, im Lande hatten bleiben wollen. Die Heilquellen hatte man mit einer modernen griechischen Badeanstalt umgeben, die Stadthalle und ihr Platz, das Zentrum der Messe, hätte ebensogut irgendwo in Griechenland liegen können wie in Judäa. Josef suchte die berühmte Säule, die an den Sieg erinnerte, den Juda Makkabi hier errungen hatte. Aber er fand die Säule nicht; sie war verdeckt von der Bude eines Schaustellers, der ein Kamel auf einem Schaffe tanzen ließ.
  Josef ließ sich bei Pedan melden. Er hörte ihn quäken und sich lärmend mit dem Leibeigenen unterhalten, ob er den Juden nicht lieber hinausschmeißen solle. Schließlich wurde Josef in ein großes, unordentliches Zimmer geführt. Der Hauptmann, halbnackt, musterte ihn interessiert aus dem blinzelnden, blauen und dem toten Glasaug über der frechen, weitnüstrigen Nase. »Flavius Josephus«, quäkte er, »der Herr Nachbar persönlich. Bisher habe ich nur das Vergnügen mit Ihrem Herrn Verwalter gehabt. Ein unausstehlicher Herr, Ihr Herr Verwalter. Liegt mir immer in den Ohren mit seiner verdammten Wasserleitung. Freut mich, einmal auch Sie kennenzulernen. Das heißt, eigentlich kennen wir uns ja vom Sehen, aus dem Krieg her. Erinnern sich aber wohl nicht gerne daran. Man hat mir gesagt, daß Sie in Ihrem Buch, um das sie soviel Lärm machen, den Hauptmann Pedan mit keiner Silbe erwähnen. Werden schon wissen, warum. Ich und der Walfisch, wir können’s uns auch denken. Ich kann es verschmerzen. War nie ein großer Freund von Büchern. Am Wort läßt sich drehen und deuteln. Auf die Tat kommt es an, nicht wahr? Die bleibt.
  Kommen mir, offen gestanden, im Augenblick nicht sehr gelegen. Man hat seine Sechzig auf dem Buckel, wer weiß, wie lange man es noch treibt. Bei so einer Messe will man sein Teil mitnehmen. Man will ausprobieren, Weine, Mädchen. Habe mir da eine Leibeigene reservieren lassen, unverschämt teuer, aber ich glaube, ich werde sie doch kaufen. Ich sage Ihnen, ein Rücken, erstklassig. Übrigens eine Landsmännin von Ihnen.
  Setzen Sie sich. Lassen Sie sich anschauen. Haben sich nicht viel verändert, soweit ich mich an Ihr Gesicht erinnere. Wir haben es beide inzwischen zu allerhand gebracht. Ich wenigstens lebe hier angesehen und bequem. Man ist Herr im Land, und es tut wohl, zu wissen, daß man selber sein gut Teil zu dieser Herrenhaftigkeit beigetragen hat. Aber jetzt erzählen Sie, Flavius Josephus. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie sich das da wieder einmal anschauen?«
  »Das da«, sagte der Mann. Konnte man sich frecheren Hohn vorstellen? Das da hatten die Soldaten den Tempel genannt, das Weiß und Goldene, das sich so lange stolz und unerreichbar vor ihnen gehoben hatte. Die Gier, das da herunterzureißen und unter ihre Stiefel zu treten, hatte sie halbverrückt gemacht, und schließlich hatte die rote, plumpe Hand dieses Hauptmanns Pedan das da wirklich heruntergerissen.
  Josef sah auf die Hand. Sie war breit, bläulichrot, mit vielen weißlichblonden Härchen, häßlich, ungeschlacht. Aber lebendig war sie, die Hand; sicher verstand sie auch heute noch, gut zu packen und gut zuzuschlagen. Josef betrachtete den Mann, der zu der Hand gehörte. Der Mann ging vor ihm auf und ab, breit, sich wiegend, vierschrötig, mit nacktem, rotem Gesicht, das Haar blond, stark angegraut.
  Er trug nur das Unterkleid, vielleicht kam er gerade aus einer Umarmung. Pedan, der Träger des Graskranzes, der höchsten Auszeichnung, die ein Soldat erringen konnte, durfte es sich leisten, ihn so zu empfangen; er hätte wohl den Gouverneur selber so empfangen. Er hielt sich für den ersten Mann der Provinz, vielleicht war er es auch. Die geheimnisvolle Furchtbarkeit, die seit dem Krieg um ihn war, zeichnete ihn noch mehr aus als der Graskranz; denn trotz des Freispruchs vor dem Kriegsgericht wußte alle Welt, daß er es war, der die
Brandfackel in den Tempel geworfen hatte.
  So also ging Pedan seit zehn Jahren hier im Land herum und sonnte sich frech in jenem Feuer. Wie ertrugen die Juden in Emmaus, Gazara, Lud den Anblick dieser Hand, dieses nackten Gesichts, das Gequäk dieses Mundes? Wie konnte er selber, Josef, es ertragen?
  »Soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, Hauptmann Pedan«, sagte er und bemühte sich, kalt zu sprechen, »scheint mir hier die Gegend fruchtbar und das Klima gut. Unsere Besitzungen, die Ihren und die meinen, scheinen zu gedeihen. Sie könnten freilich, sagt mir mein Verwalter, noch besser gedeihen, wenn endlich die Frage der Wasserleitung vernünftig geregelt würde.«
  Der berühmte Zenturio der Fünften lachte hell, schallend. »Da hat Ihr Herr Verwalter wahrscheinlich recht, Flavius Josephus«, sagte er gemütlich. »Aber sehen Sie, ich will nicht, daß die Frage der Wasserleitung vernünftig geregelt wird. Ich hätte dabei zu gewinnen, stimmt. Aber Ihr famoser Herr Verwalter hätte noch mehr zu gewinnen. Und, denken Sie an, das paßt mir nicht.« Er blinzelte Josef aus seinem lebendigen, blauen Auge zu, groß und drohend starrte das gläserne; Kritias hatte es angefertigt, der beste jener Spezialisten, die den Statuen Augen einpaßten. »Man hat mir gesagt«, fuhr er fort, »Sie verstünden einiges vom römischen Kriegswesen, mein Flavius Josephus: aber den Hauptmann Pedan scheinen Sie nicht zu verstehen. Der alte Kaiser Vespasian und der Walfisch haben mich mehrmals dringlich eingeladen, nach Italien zu kommen. Die Stadt Verona, in der ich geboren bin, ist eine schöne Stadt, und wenn sich der Träger des Graskranzes mit seinem guten Stück Geld dort niederließe, beim Herkules, er hätte ein höllisch angenehmes Leben. Warum, mein Flavius Josephus, sachverständiger Schilderer der römischen Armee, zieht er es vor, hier in Ihrem lausigen Judäa zu bleiben und sich mit Ihrem Herrn Verwalter herumzustreiten, den er nicht einmal auf gut römisch mit seinem Rebstock über den Kopf hauen kann? Da stehen Sie, sehr gelehrter Herr, und wissen keine Antwort.«
  Er trat an Josef heran und brachte sein nacktes, rosiges Gesicht so nahe an ihn, daß Josef seinen Atem roch, die Ausdünstung seines fleischigen Körpers. »Ich bin hier«, sagte er, »weil zwar das da im Staube liegt, weil aber immer noch viel zuviel von euch steht. Sie haben seit einiger Zeit ein neues Wort in Rom, das heißt ›Humanität‹. Das ist ein dummes Wort, ich mag es nicht, man kommt nicht weiter damit. Vor allem nicht, wenn man es mit euch zu tun hat. Euch hätte man zertrampeln müssen, damals. Aber in Rom haben sie es mit ihrer verdammten Humanität und sagen nein und quasseln, man müsse unterscheiden zwischen Staat und Religion, und die Religion sei erlaubt. Das habt ihr ihnen eingegiftet, ihr Bande. Ihr seid höllisch schlau. Habt ihr Triumph geheult, wie eure Berenike in Rom erschien, um den Walfisch zu angeln? Das haben euch ja nun die Götter glücklich versalzen. Aber ihr seid so zäh wie schlau, und mit euch kann man nicht vorsichtig genug sein. Und, sehen Sie, darum bin ich hier. Ich bin nämlich nicht für Humanität. Ich bin dafür, daß man das, was man nicht mag, ausreißt, ausrottet, austilgt, zertrampelt. Wenn ihr uns nicht gleich wieder über den Kopf wachsen sollt, muß ein Mann wie ich dasein. Schauen Sie sich unser Emmaus an. Es sind eine Menge Kameraden hier, Leute aus der Fünften, Offiziere und Mannschaften, Kerls, die sich sehen lassen können. Aber mit so listigen, leisen Burschen wie euch werden sie hier nicht fertig. Wenn ich nicht wäre, dann hätten sie sich vielleicht von euch breitschlagen lassen und hätten die gemeinsame Wasserleitung gelegt, weil es auf der Hand liegt, daß da für uns eine halbe Million Ersparnis im Jahr herausspringt. Aber daß für euch anderthalb Millionen herausspringen und daß ihr uns auf diese Art in zehn Jahren wieder unten habt, das sehen meine gutmütigen Fünfer nicht von allein, da muß man ihnen erst den Kopf darauf stoßen. Und dazu, mein verehrter Flavius Josephus, sitze ich in diesem lausigen Emmaus statt in meinem schönen Verona. Verstanden? Ich mag euch nicht, und ich hoffe, der Tag wird kommen, an dem man euch zertrampelt, und ich will dabeisein.«
  Der Hauptmann schnaufte. Er hatte eine lange Rede gehalten, eine gute Rede, fand er, und es hatte ihn erfrischt, sie gerade diesem schweigsamen Burschen in sein hageres, bärtiges Judengesicht hinein zu halten. Von unten herauf kam der Lärm der Meßgäste. Fernher irgendwo stieg das berühmte Lied der Fünften Legion in die Luft: »Wozu ist unsre Fünfte gut? / Der Legionär macht alles: / Kriege führt er, Wäsche wäscht er, / Throne stürzt er, Suppe kocht er ... / Unsre Fünfte, die macht alles.«
  Josef hatte immer gewußt, daß in diesem Manne aller Haß Esaus gegen Jakob sich gesammelt hatte. Was hatte dem Pedan das Wasser getan, das seine Bäume und Felder wässern sollte? Aber er haßte es, nur weil es auch die Bäume und Felder des Juden zu wässern bestimmt war. Es war nicht angenehm, soviel schmutzigen Triumph aus diesem frechen Maul quäken zu hören. Aber man sah, was für ein weiter Weg es war, ehe man sich mit denen verständigen konnte, zu denen dieser Pedan gehörte, und das zu sehen war nützlich. »Es scheint«, sagte Josef, und es war nicht einmal Ironie in seinen Worten, »daß es noch eine Weile dauern wird, ehe man sich über die Frage der Wasserleitung verständigt.« – »Es scheint so«, sagte grinsend der Hauptmann Pedan.

Der römische Wachtposten auf dem Hügel Schönblick im Norden der Stätte, wo vor zehn Jahren Jerusalem gestanden, hörte plötzlich zu gähnen auf, schaute schärfer. Wahrhaftig, der Mann ritt weiter, kam heran. Dabei sah man jetzt deutlich, wie jüdisch sein Gesicht ausschaute. Vielleicht gab es einen Spaß, vielleicht, wenn er nicht gute Ausweise bei sich trug, konnte man ihn körperlich untersuchen, ob er noch seine Vorhaut habe. Denn, wie die Inschrift hier nebenan lateinisch, griechisch, aramäisch besagte, Juden durften das Gebiet der früheren Stadt Jerusalem nicht betreten, und hier weiterzugehen war ihnen bei Todesstrafe verboten. Manchmal hatten sich die Soldaten den Witz geleistet, Leute, hinter denen sie Juden vermuteten, weitergehen zu lassen und sie dann erst zu untersuchen. Zweimal in den zehn Jahren hatte sich herausgestellt, daß wirklich Juden in das verbotene Gebiet eingedrungen waren.
  Der Reiter war inzwischen näher gekommen, ein Mann in den Vierzig, von stark jüdischem Aussehen, einfach gekleidet. Er ritt geradewegs auf den Wachsoldaten los. War er ein Narr? Jetzt hielt er an und gab den Gruß. Der Soldat war gutmütig aufgelegt. »Hau ab, Mensch«, sagte er, mit dem Kopf auf die steinerne Inschrift weisend.
  Die andern waren inzwischen aus der Wachbaracke herausgekommen. Der Mann zog ein Papier aus der Tasche und hielt es dem Soldaten hin. »Rufen Sie Ihren Hauptmann«, sagte er. Da das Papier das Siegel des Gouverneurs trug, rief man den Hauptmann. Der, nachdem er das Papier gelesen hatte, machte die Ehrenbezeigung. »Darf ich Sie zum Obersten begleiten, mein Flavius Josephus?« fragte er. Die Soldaten schauten sich an. Sie kannten den Namen. Es war, seitdem sie hier Quartier bezogen hatten, das erstemal, daß ein Jude die Stätte betrat.
  Das Schreiben des Gouverneurs gab Order, Josef, wo immer er sich auf dem Gebiet des früheren Jerusalem ergehen wolle, passieren zu lassen und ihm in jeder Weise behilflich zu sein. Der Lagerkommandant, Oberst Gellius, nicht recht wissend, was er mit seinem vornehmen und unbequemen Gast anfangen sollte, bot ihm die Begleitung eines Offiziers an; aber Josef lehnte höflich ab.
  Er strich durch die Hitze und Ödnis, allein. Als er vor zehn Jahren hatte mit ansehen müssen, wie über einen Teil der halbzerstörten Stadt dem Brauch gemäß der Pflug geführt wurde, war ihm gewesen, als ginge der Pflug über ihn selber. Doch die Ödnis und Verlorenheit, die er heute sah, schien ihm schlimmer. Was damals geschah, hatte einen hochgeschleudert und wieder in die Tiefe geworfen: die Stätte, wie sie heute war, schien einen einschlingen zu wollen in ihre Wüstheit und Leere, und niemals wird, wer sie sah, sich wieder befreien können von der lähmenden Traurigkeit ihres Anblicks.
  Josef wanderte, den Schritt immer schleppender, hügelauf, hügelab. Von der ganzen, großen Stadt standen nur mehr die Türme Phasael, Mariamne und Hippikus und ein Teil der Westmauer; das hatte Titus seinerzeit stehenlassen zum Zeichen, wie herrlich befestigt dieses Jerusalem gewesen war, das seinem Glück hatte erliegen müssen. Alles sonst war mit Kunst und Energie dem Erdboden im Wortsinn gleichgemacht. Hacken, Spaten, Maschinen der Römer hatten sicher harte Arbeit gehabt, ehe sie die Riesenquadern des Tempels und der vielen Paläste so für die Ewigkeit hatten kaputtschlagen können. Ganz und gründlich hatten sie ihr Werk getan, das mußte man ihnen lassen. Fußhoch lag der graue, gelbliche Schutt; der feine Staub drang durch die Kleider in die Haut, füllte Mund, Nase und Ohren, Schutt überall, und darüber die flirrende, grelle, heiße Luft. Josefs Aug und sein Fuß suchten nach Erde, nach ein wenig guter, nackter Erde. Aber er fand nichts als den gelblichgrauen, gelblichweißen Staub. Selten einmal, daß dazwischen grasiges Unkraut sich hervorwagte oder daß aus dem zertrümmerten Stein ein kleiner, frecher Feigenbaum herausknorrte.
  Mit Mühe, gedrückt, Fuß vor Fuß unsicher ins Geröll setzend, suchte Josef seinen Weg. Wenn einer, dann kannte er sein Jerusalem: aber nicht einmal mehr die Straßenzeilen waren zu erkennen; er konnte sich nur an den Hügeln und Tälern orientieren und an den spärlichen Wasserstätten, die die Soldaten nicht hatten verschütten können, weil sie sie brauchten.
  Er klomm hinauf in den Tempelbezirk, über viele Unebenheiten, stolpernd, den Kopf zum Boden gesenkt. Oben hockte er nieder. Hier hatten zuerst Statthalter der Pharaonen gesessen, dann Häuptlinge der Jebusiter, dann hatte König David Burg und Stadt erobert. Mehrmals waren die Mauern geschleift worden, zuletzt hatte Babel sie zerstört, aber niemals seit Tausenden von Jahren war die Stätte so trostlos wüst gelegen wie jetzt. Erschütternd nackt ragte der Fels heraus, auf dem einst Abraham den Isaak hatte opfern sollen, der Nabel der Welt, von dem aus sie gegründet wurde, das Allerheiligste, das, Hunderte von Jahren hindurch, niemand hatte betreten dürfen, nur der Erzpriester am Versöhnungstag. Jetzt war der Fels wieder nackt, wie er vor zwei- oder dreitausend Jahren gewesen sein mochte, nichts darüber als der leere, blaue Himmel, nichts ringsum als Schutt und die römischen Soldaten, die diese Ödnis zu bewachen hatten, auf daß sie öd bleibe für die Ewigkeit.
  Es war brütend heiß, die Luft flirrte, Mücken summten. Ein häßlicher Hund, er gehörte wohl einem der Soldaten, lief über den Schutt, dem Allerheiligsten zu, und bekläffte bösartig den einsamen Mann. Der kauerte da, den Mund halb offen, die Glieder schwer, über und über bestaubt. In ihm waren die maßlosen Klageverse des Jeremias. »Ach und weh, wie hockt verlassen die Stadt, die volkreiche, einer Witwe gleich, die Herrin über die Völker. Sie heult in der Nacht, ihre Tränen bleiben auf ihren Wangen, niemand tröstet sie von allen ihren Freunden. Weicht aus, unrein, ruft man vor ihr, weicht aus, rührt sie nicht an. Es reißen ihren Mund auf über sie alle ihre Feinde, pfeifen, zeigen hohnjubelnd ihre Zähne: der haben wir’s gegeben, die ist hin. Ach und weh. Jahve brach wie ein Dieb in sein eigenes Haus und zertrat seinen Festplatz.« Nicht jedermann ist es gegeben, daß ihm alte Verse Bilder und eigenes Gut werden. Dem Josef aber in dieser Stunde wurde die verschollene Klage Bild und ewiger Besitz, nicht mehr trennbar von seinem Wesen.
  Staubig inmitten des mißfarbenen Schuttes sank er immer kleiner in sich zusammen, immer tiefer drang die Wüstheit des Ortes in ihn ein. Ein bohrendes Fragen war in ihm: warum? Warum brach Jahve ein wie ein Dieb in sein eigenes Haus? Josef kennt die Zusammenhänge. Er weiß genau, wie Titus die Zerstörung des Tempels gewollt und doch nicht gewollt hat. Es war klar, Titus war nur ein Werkzeug. Und es war lächerlich, zu glauben, daß dieser Hauptmann Pedan, die scheußliche Hand, die den Feuerbrand geworfen, mehr war als ein Werkzeug. Warum also? Die Antwort der Römer taugt nichts, und nichts die Antwort der Doktoren, und nichts die Antwort der Minäer. Schuld war da, soviel war gewiß, in Rom und in Judäa, unter den Doktoren und unter dem Volk, und Schuld, ungeheure, war in ihm selber. »Ja und ja, ich habe gesündigt, ja und ja, ich habe gefrevelt, ja und ja, ich habe gefehlt.« Aber wo begann die Schuld, und wo endete sie?
  Ein scharfes Schmettern riß ihn hoch. Einen winzigen Augenblick lang dachte er, es sei die Magrepha, die hunderttonige Schaufelpfeife, die früher von hier aus mit ihrem Gedröhn den Beginn des Tempeldienstes verkündet hatte, hörbar bis Jericho. Aber dann sah er, daß es die Hörner und Trompeten waren, die das Ende des militärischen Tages ankündigten. Sie schmetterten über die Wüstenei, einiges Gelärm war, Aufziehen und Ablösen von Wachen, Kommandorufe. Dann dämmerte es. Josef machte sich auf den Heimweg, zerschlagen.
  Oberst Gellius und seine Soldaten waren froh, als sie den sonderbaren Gast fortreiten sahen.
  Jetzt endlich, nachdem er soviel vom Lande gesehen, entschloß sich Josef, Jabne aufzusuchen, die Stadt, die nach dem Fall Jerusalems den Juden als ihre Hauptstadt galt; denn hier war der Sitz der jüdischen Universität und des Großen Rats.
  Josefs Ankunft erregte die Doktoren und die Bevölkerung. Was sollte man tun? War der Bann noch wirksam, den einstmals Jerusalem gegen ihn ausgesprochen hatte? Man wußte natürlich, daß er in der Stadt Lud mit Ben Ismael, mit dem Acher und mit dem Minäer Jakob freundschaftlichen Verkehr gepflogen hatte. Er hatte vieles getan, dessenthalb man ihn vor das Gericht der Doktoren hätte zitieren und aus dem Judentum ausschließen können. Wenn man Doktor Jannai zum Acher, zum Ketzer gestempelt hatte, dann war dieser Josef Ben Matthias der Erzketzer. Andernteils war er in Rom mehrmals und mit Erfolg für die Gesamtheit der Juden, auch für die Universität eingetreten. Seine Gegenwart in Jabne war erregend, unbehaglich.
  Der Großdoktor löste das Problem rasch und entschieden. Er lud Josef auf ungewöhnlich höfliche und herzliche Art zur Mahlzeit.
  Josef war voll unruhig gespannter Erwartung, als was für eine Art Mann sich dieser Gamaliel erweisen werde, den die Juden zu ihrem Führer gewählt und den die Römer als solchen anerkannt hatten. Des Großdoktors Vater war Vizekanzler jener nationalen Jerusalemer Regierung gewesen, die vergeblich versucht hatte, den Josef abzuberufen, als er Kommissar in Galiläa war. Später dann war dieser gewalttätige Doktor Simon auf grausige Art umgekommen; der fanatisierte Pöbel, dem er noch immer nicht patriotisch genug gewesen, hatte ihn auf wüste Art zu Tode mißhandelt. Gamaliel war damals fast noch ein Knabe gewesen, er hatte soeben erst die geheimnisvollen Weihen des zum Erzpriester Bestimmten erhalten; denn als Sprößling eines uralten Adelsgeschlechts und als Nach fahr Hillels, des größten der Doktoren, wurde er von früh auf zum Herrschen erzogen. Jochanan Ben Sakkai hatte damals mit List und Energie bei den Römern freies Geleit für ihn erwirkt und ihn aus der belagerten Stadt gerettet. Es war natürlich, daß man nach dem Tod Jochanan Ben Sakkais ihm das Präsidium des Kollegiums von Jabne übertrug. Was Josef über die Amtsführung des neuen Großdoktors gehört hatte, war widerspruchsvoll. Viele haßten, wenige liebten, fast alle achteten ihn.
  Gamaliel kam Josef mit schnellem Schritt entgegen, begrüßte ihn respektvoll, umarmte ihn, küßte ihn, nannte ihn »Mein Doktor und Herr«. »Es war Feindschaft zwischen meinem Vater und Ihnen«, sagte er. »Ich habe mit Befriedigung gelesen, mit welch ritterlicher Sachlichkeit Sie in Ihrem Buch von meinem Vater sprechen. Ich danke Ihnen.« Josef freute sich, daß er sich nicht hatte hinreißen lassen, heftiger über den gewalttätigen Doktor Simon zu schreiben.
  Gamaliel war wenig über Dreißig. Josef wunderte sich, wie außerordentlich jung er aussah. Stattlich, von angenehmen, beherrschten Bewegungen, hatte er ein offenes, dunkelhäutiges Gesicht mit lebhaften, sehr gewölbten, braunen Augen; ein kurzer, rotbrauner Bart, viereckig, kantig geschnitten, zeigte mehr, als daß er es versteckte, das starke Kinn und den fleischigen Mund mit den großen, etwas auseinanderstehenden Zähnen.
  Der Vorhang, der den Speiseraum abschloß, wurde hochgezogen, man ging zu Tisch. Die Räume waren weit, die Möbel, die Zurichtung der Tafel fürstlich; an den Wänden, auf dem Mosaik des Fußbodens, auf den Platten und Schüsseln war das Emblem Israels, die Weintraube. Der Großdoktor und seine Umgebung paßten zueinander; Josef sagte sich, daß Gamaliel auch im Senat von Rom gute Figur machen würde.
  »Ich höre«, wandte sich Gamaliel jetzt mit scherzhafter Offenheit an Josef, dem er den Ehrenplatz auf dem mittleren Speisesofa angewiesen hatte, »daß meine Doktoren Ihnen bei Ihrer Ankunft allerhand Schwierigkeiten gemacht haben. Man hat es nicht immer leicht mit meinen Doktoren«, seufzte er lächelnd, unbekümmert darum, daß einige der Herren da waren. »Das weiß niemand besser als der Mann, der ihnen zu präsidieren hat. Sie haben für alles und in jeder Situation Argumente an der Hand. ›Sie dienen mir mit triftigen Beweisen‹«, zitierte er griechisch den Aristophanes, »›daß füglich und mit Recht der Sohn den Vater prügeln darf.‹«
  »Belehren Sie, bitte«, sagte höflich Josef, »einen Mann, der durch zehnjährige Abwesenheit seinem Vaterland fremd geworden ist, wie es kommt, daß Sie griechische Schriften verbieten und selber griechische Verse zitieren.«
  »Mein verehrter Flavius Josephus«, erwiderte in geläufigem Griechisch der Großdoktor, »die Politik zwingt uns, immerzu mit Griechen und Römern zu verkehren. Wir erlauben also nicht nur unsern Politikern, sondern wir machen es ihnen zur Pflicht, Griechisch zu studieren. Es ist freilich nicht immer leicht, abzugrenzen, wer diese Erlaubnis haben soll. Aber wir sind da nicht kleinlich. Wir haben es zum Beispiel auch gerne gesehen, daß Ihr Freund Jannai, genannt der Acher, sich mit griechischer Bildung befaßte. Höchstwahrscheinlich muß ich mit einigen meiner Herren in absehbarer Zeit selber nach Rom, um bei Hofe gewisse dringliche Geschäfte der Universität zu betreiben. Ich glaube, es wäre da nicht förderlich, wenn wir nur aramäisch sprächen. Übrigens jammern mir schon jetzt einige meiner Doktoren die Ohren voll über die Todsünde, am Sabbat auf See zu sein. Aber ich denke, die Wiederaufrichtung Judäas ist zwei oder drei Sabbate auf See wert.«
  Als Josef sich nach der Mahlzeit mit den andern entfernen wollte, hielt ihn der Großdoktor mit höflicher Dringlichkeit zurück. Josef blieb. »Sagen Sie, mein Doktor Josef«, bat ihn Gamaliel mit der Vertraulichkeit, mit der ein großer Herr den Gleichgestellten fragt, »hat man Ihnen viel über mein despotisches Regiment vorgejammert? Bin ich ein jüdischer Caligula, ein jüdischer Nero?« – »Viele sprechen von Ihrer Tyrannei«, sagte behutsam Josef. »Würden Sie«, sagte der Großdoktor, »nach den andern auch mir erlauben, mich über meine despotischen Prinzipien zu äußern? Mir liegt daran, gerade Ihnen nicht in falschem Licht zu erscheinen. Ich weiß, ich darf Sie eigentlich nicht mehr zu den Unsern rechnen; ich müßte Sie, ginge ich nach dem Buchstaben, als Ketzer vor mein Gericht ziehen. Aber ich bin kein Narr, ich sehe die Menschen, wie sie sind, und ich möchte mit jenem Griechenkönig zu Ihnen sagen: ›Da du bist, wie du bist, möchte ich, du wärest einer der Unsern.‹«
  Er war aufgestanden, bat aber den Josef, liegenzubleiben, lehnte an einem Türpfeiler, hielt eine Rede. Doch sprach er so schlicht, daß, was er sagte, nicht rednerisch wirkte, sondern als Erklärung von einem Mann zum andern. »Meine Gegner werfen mir vor«, begann er, »daß ich auf den Universalismus verzichte, den die Lehre vorschreibt. Ich verzichte nicht. Aber ich weiß, daß es zur Zeit unmöglich ist, diesen Universalismus in Wirklichkeit umzusetzen. Es sind in der Lehre Vorschriften, die jedes Zeitalter erfüllen kann, und Vorschriften so idealer Art, daß sie erst erfüllt werden können, wenn der Messias erschienen ist und der Wolf neben dem Lamme weidet. Ich habe mir den Wolf genau angeschaut: er bezeigt vorläufig wenig Neigung dazu. Das Lamm tut also gut, sich vorzusehen.
  Ich kenne meinen Philo und weiß, das letzte Ziel bleibt, die Welt mit jüdischem Geist zu erfüllen. Aber bevor man das kann, muß man erst einmal zusehen, den jüdischen Geist vor dem Verschwinden zu bewahren; denn er ist sehr gefährdet. Zu Jesajas hat Jahve gesagt: ›Es ist ein Geringes, daß du die Stämme Jakobs aufrichtest und mir die Bewahrten Israels erhältst. Vielmehr habe ich dich auch zum Licht der Heiden bestimmt, daß du mein Heil verbreitest über alle Erde.‹ Ich bin kein Jesajas. Ich begnüge mich mit dem ›Geringen‹. Für mich ist es kein Geringes, für mich ist es sehr schwer. ›Richtet einen Zaun auf um das Gesetz‹, hat Jochanan Ben Sakkai gelehrt, und das ist mein Amt, und den Zaun will ich aufrichten, und über den Zaun sehe ich nicht hinaus und will es auch nicht. Ich bin nicht hierhergestellt, um Weltgeschichte zu machen. Ich kann nicht auf die nächsten fünf Jahrtausende hinausdenken. Ich bin froh, wenn ich die Judenheit über die nächsten dreißig Jahre hinwegbringe. Mein Amt ist es, daß die fünf Millionen Juden der Erde Jahve weiter verehren dürfen wie bisher, daß das Volk Israel erhalten bleibt, daß die mündliche Lehre unverfälscht an die Späteren weitergegeben wird, wie sie mir überliefert wurde. Aber nicht mein Amt ist es, dafür zu sorgen, daß Jahve in der Welt herrscht. Das ist seine eigene Sache.« Josef hörte zu. Er bemühte sich, das weise und traurige Gesicht Ben Ismaels im Geist vor sich hinzustellen, die große, kahle Stirn, die milden, fanatischen Augen. Aber es wurde zugedeckt von dem dunkelbraunen, tatkräftigen Antlitz des Großdoktors, und es gelang Josef auch nicht, die tiefe Stimme Ben Ismaels mit seinem innern Ohr zu hören. Vielmehr hörte er nur die klare Stimme Gamaliels, die ihn an die Stimme des Titus erinnerte, wenn der von militärischen Dingen sprach.
  »Ich bin Politiker«, fuhr diese Stimme fort, »das wirft man mir vor. Ja, ich bin es. Ich gebe ohne weiteres zu, mich interessiert die Organisation des Kollegiums mehr als die Frage, ob ein Ei, das am Sabbat gelegt wurde, gegessen werden darf oder nicht. Worauf es mir ankommt, ist, daß darüber nicht sechs oder auch nur zwei Meinungen Gesetzeskraft haben, sondern eine. Ich möchte, daß das Ei entweder überall gegessen werden darf, in Rom und in Alexandrien und in Jabne, oder nirgends; aber nicht, daß Doktor Perachja es verbietet und Doktor Ben Ismael es erlaubt. Leider ist diese Einheit bei der Art unserer Doktoren nur durch Despotie zu erzielen. Wenn der Hirte lahm ist, sagt das Sprichwort, laufen die Ziegen auseinander. Ich lasse meine Ziegen nicht auseinanderlaufen.
  Ich habe Ben Ismael gesagt: Ich denke nicht daran, dir deinen Glauben vorzuschreiben. Träume dir Jahve zurecht, wie du willst, glaube an Satan oder glaube an den Allguten. Aber das Zeremonialgesetz muß eindeutig sein, hier dulde ich keine Vieldeutigkeit. Die Lehre ist der Wein, und die Riten sind das Gefäß, und wenn das Gefäß einen Sprung bekommt oder gar ein Loch, dann rinnt die Lehre aus und verströmt. Ich dulde keine Durchlöcherung des Gefäßes. Ich bin nicht der Narr, jemandem seinen Glauben vorschreiben zu wollen: aber das Verhalten schreibe ich vor.
  Regeln Sie das Verhalten der Menschen, ihre Meinungen regeln sich dann von selbst.
  Ich bin überzeugt, die Gemeinschaft kann nur gewahrt werden durch gemeinsames Verhalten, durch ein strenges Zeremonialgesetz. Die Juden in der Diaspora würden sogleich absplittern, wenn sie da keine Autorität spürten. Ich muß mir die Befugnis wahren, das Zeremonialgesetz autoritativ zu regeln. Über Jahve mag jeder seine individuelle Meinung haben, aber wer seinen eigenen Ritus haben will, den dulde ich nicht in der Gemeinschaft.« Sein Gesicht hatte sich gespannt, es war keine Höflichkeit mehr darin, es war stark, hart, solche Gesichter hatte Josef gesehen, wenn manchmal in der Hauptstadt Freunde von ihm sich unversehens aus verbindlichen, liberalen Herren in Römer verwandelten. »Ich führe nur die Sendung Jochanan Ben Sakkais aus«, fuhr der Großdoktor fort, »nichts weiter. Ich ersetze den verlorenen Staat durch die Lehre. Man sagt, mein Zeremonialgesetz sei nationalistisch. Wie sollte es sonst sein? Wenn der Staat durch Jahve ersetzt werden soll, dann muß Jahve sich gefallen lassen, daß ich ihn mit den Mitteln des Staates verteidige, mit politischen, daß ich ihn nationalisiere.
  Meine Herren sagen mir, man könne dem einzelnen nicht befehlen, gerade zwei Stunden vor Sonnenuntergang die Allgüte Gottes zu empfinden, und überdies in einem vorgeschriebenen Text. Mag sein, daß das letzte, innigste Gebet nur individuell sein kann, an keine Zeit gebunden und an keine Form. Trotzdem schreibe ich vor, daß die fünf Millionen Juden zu einer Stunde beten und mit den gleichen Worten. Immer mehr unter ihnen werden die Worte nicht nur sprechen, sondern auch denken, und in allen wird das Gefühl sein, daß sie das Volk eines Gottes sind, gemacht nach einer Art, erfüllt von einem Leben und schreitend einen Weg.«
  Der Großdoktor rief sich zurück, verlor seine Strenge, wurde wieder der höfliche, weltmännische Herr von früher. Er ging ganz nahe an Josef heran, legte ihm die Hand auf die Schulter, lächelte, daß die großen, auseinanderstehenden Zähne inmitten des rotbraunen, viereckigen Bartes sichtbar wurden. »Entschuldigen Sie, mein Doktor Josef«, bat er, »ich habe Ihnen eine Rede gehalten, als wären Sie mein Schwager Ben Ismael. Glauben Sie mir übrigens«, beeilte er sich hinzuzufügen, »wenn einer, dann liebe und verehre ich diesen Ben Ismael. Es hat mein Herz nicht weniger bedrückt als das seine, als ich ihm auflegen mußte, seinen Versöhnungstag zu entweihen. Ich hätte das an seiner Statt nicht über mich gebracht, ich gebe es offen zu. Er ist größer als ich. Schade, daß er ein Ideolog ist.« Und als Josef im Begriff war, sich zu verabschieden, versicherte er nochmals: »Sicher ist unter denen, die heute die Lehre auslegen, Ben Ismael der tiefste und gelehrteste. Sie müssen oft mit ihm zusammenkommen, mein Doktor Josef. Niemand hat seinen Philo besser studiert und besser begriffen als er. Nicht einmal der Acher, und ich schon gar nicht. Aber ein Satz steht im Philo, den habe ich besser verstanden als die beiden Herren.« Er lachte herzhaft, vertraulich, und zitierte den Satz: »›Was nicht der Vernunft gemäß ist, ist häßlich.‹«

Als Josef ein zweites Mal bei dem Großdoktor zum Mahle erschien, traf er zu seiner Überraschung Johann von Gischala. Johann war also wirklich nach Jabne gekommen, »um den weltfremden Ideologen ins Gewissen zu reden«.
  Der Großdoktor lächelte. »Ich weiß, meine Herren«, sagte er, »daß Sie beide damals in Galiläa nicht gut miteinander auskamen. Aber mittlerweile ist viel Wasser den Jordan hinuntergeflossen, und Doktor Josef hat sich wohl inzwischen mit Ihnen wieder vertragen gelernt. Sprechen Sie, bitte, offen in seiner Gegenwart. Ich glaube zu wissen, worüber Sie sprechen wollen, und kann nur wünschen, Doktor Josef möge, wenn er wieder nach Cäsarea kommt, dem Gouverneur über diese Aussprache berichten. Ich bin nicht für diplomatische Heimlichkeit.«
  Johann von Gischala ging denn auch schlankwegs auf sein Ziel los. Der von den Doktoren vorgeschlagene Boykott der römischen Güterauktionen, führte er aus, sei sinnlos. Der Boykott sei als Protest und Rechtsverwahrung gedacht, weil die Regierung vier Jahre nach Beendigung des Krieges erklärt habe, der Aufstand sei liquidiert und das Land befriedet, trotzdem aber noch heute fortfahre, Juden wegen der Teilnahme am Aufstand unter Anklage zu stellen und ihre Güter zu konfiszieren. Diese Argumentation der Doktoren höre sich gut an. Aber die Römer hätten nun einmal die Macht, und wenn die Doktoren die Konfiskationen nicht anerkennten, so laufe das in der Praxis auf eine kindische, ohnmächtige Zorneskundgebung hinaus, deren Folgen sich nur gegen die Juden selber kehrten. Die Doktoren könnten ebensogut erklären, sie anerkennten nicht die Zerstörung des Tempels. Daß die Juden die Güterauktionen boykottierten, bewirke nur, daß Syrer und Griechen die Terrains zu noch niedrigeren Preisen einsteigerten. Der Großdoktor erwürbe sich zu seinen vielen Verdiensten um das Land ein neues, wenn er das Kollegium bestimmte, sich endlich auf den Boden der Tatsachen zu stellen, statt in theoretischem Nationalismus zu schwelgen.
  »Sie haben sicher recht, mein Herr Johann«, erwiderte der Großdoktor, stand auf, bat die Herren, sitzen zu bleiben, und ging auf und ab, wie es seine Gewohnheit war. »Aber Sie kennen ja die Mentalität meiner Doktoren. Sie sind störrisch wie Ziegenböcke. Sie anerkennen die Zerstörung des Tempels wirklich nicht. In jeder zweiten Sitzung führt einer in einer langen Rede aus, der Verlust der Souveränität sei nur ein Zwischenstadium, und es sei verfehlt, diesen temporären Zustand, das heißt die römische Herrschaft, durch Bestimmungen des Religionsgesetzes zu legalisieren. In jeder dritten Sitzung wird mit Aufwand von ungeheuer viel Geisteskraft darüber diskutiert, ob und wie der Opferdienst im Tempel von Jerusalem zu regeln sei, obwohl doch dieser Opferdienst nicht mehr existiert. In jeder vierten entstehen heftige Kontroversen über die Modalitäten der Exekution durch Steinigung, trotzdem wir doch keine Kapitalgerichtsbarkeit mehr haben. Meine Doktoren finden nun einmal, wir anerkennten die Konfiskation der Güter als zu Recht, wenn wir die Teilnahme an den Auktionen gestatteten: ein solches Verhalten aber wäre Verrat an Jahve und am jüdischen Staat. Wenn ich mir manchmal erlaube, die Herren sanft darauf hinzuweisen, daß dieser Staat doch de facto nicht existiert, errege ich Unwillen. Für sie genügt es, wenn er de jure existiert.«
  »Aber die Syrer und Griechen«, ereiferte sich Johann, »lachen und stecken unsere Güter für ein trockenes Johannisbrot in den Ärmel. Ich rede nicht für mich selber. Ich persönlich habe nur Vorteile von der bisherigen Regelung; denn ich habe an den verbotenen Auktionen teilgenommen und werde weiter daran teilnehmen.«
  »Um Gottes willen«, unterbrach ihn der Großdoktor und lachte mit all seinen großen Zähnen, »lassen Sie mich das nicht hören. Es ist mir natürlich bekannt. Immer wieder laufen Klagen bei mir ein und Anträge, Sie in Bann zu tun. Aber da stelle ich mich auf den De-jure-Standpunkt meiner Doktoren und nehme das Faktum nicht zur Kenntnis. Wenn die Herren davon anfangen, werde ich taub, ich höre einfach nicht, und solange ich nicht höre, existiert das Faktum de jure nicht.« Groß, stattlich, lachend stand der junge Herr, an den Türpfeiler gelehnt, vor seinen beiden Gästen. »Ich bin eben ein Despot«, scherzte er.
  »Seien Sie Despot genug«, sprach Johann von Gischala auf ihn ein, »um das Land vor weiterer Verwüstung durch die Ideologie der Doktoren zu retten.«
  »Ich freue mich«, erwiderte ernsthafter der Großdoktor, »daß Sie gekommen sind, um mir die Lage mit kräftigen Worten auseinanderzusetzen. Ich habe Ihr Memorandum noch nicht ganz durchgearbeitet; Sie bringen viele Ziffern und Statistiken, die ernstlich überdacht sein wollen. Aber ich danke Ihnen von Herzen, daß Sie mir soviel beweiskräftiges Material an die Hand geben. Es wird freilich lange dauern, fürchte ich, ehe ich jene Bestimmung aus der Welt schaffen kann. Sie wissen, wie umständlich mein Kollegium arbeitet. Jeder will seinen Standpunkt zehnmal darlegen und sich vor sich selber, vor ganz Israel und vor Gott salvieren. Wenn wir Glück haben, kann ich die Abschaffung der Bestimmung in einem Jahr durchsetzen.«
  Allein der Großdoktor hatte zu schwarz prophezeit. Ein unvorhergesehenes Ereignis ermöglichte ihm, das Gesetz, das er für so verderblich hielt, viel rascher zu annullieren.
  Es hatte sich nämlich herumgesprochen, zu welchem Zweck der Bauernführer Johann von Gischala in Jabne erschienen war. Auch ein gewisser Ephraim hatte davon gehört, ein Galiläer, der im Krieg ein Unterführer des Johann gewesen war. Er war, verwundet, in Gefangenschaft der Römer geraten, alexandrinische Juden hatten ihn aus einem Depot, das Material für die Fechterspiele enthielt, freigekauft. Dieser Ephraim hatte von den Ideen der »Rächer Israels« niemals abgelassen. Er war nicht gewillt, die Herrschaft der Römer hinzunehmen. Die Verräterei des Johann, die Abkehr von den Ideen, die er gepredigt, erfüllten ihn mit Zorn. Er folgte dem Johann nach Jabne, und einmal, kurze Zeit nach der Audienz bei dem Großdoktor, überfiel er ihn auf nächtlichem Heimweg aus dem Hinterhalt und versetzte ihm zwei Dolchstiche in die Schulter. Passanten retteten den Johann, bevor Ephraim sein Werk zu Ende führen konnte.
  Das Attentat rief große Erregung hervor. Bis jetzt hatte Flavius Silva den Boykott-Erlaß des Kollegiums schmunzelnd hingenommen; denn, wie er Josef angedeutet hatte, der Boykott diente ja nur dazu, das Land in nichtjüdische Hände zu überführen und seine Romanisierungspläne zu fördern. Jetzt aber wird er wohl nicht umhinkönnen, den Boykott zur Kenntnis zu nehmen und gegen die Verletzung der römischen Souveränität vorzugehen. Der Zorn also über das Attentat und die Furcht vor den Römern ermöglichten dem Großdoktor, die Aufhebung des Gesetzes in einer schnellen, stürmischen Sitzung schon zwei Wochen nach jener Unterredung mit Johann durchzudrücken.
  Gamaliel selber besuchte Johann auf seinem Krankenlager, um ihm dieses Ergebnis mitzuteilen. Der Galiläer war schwach und konnte nur mit Mühe sprechen, doch eine große Freude erfüllte ihn. Er spaßte über jenen Ephraim, der ihn verwundet hatte. Da hätten die Römer Geld und Mühe daran gewandt, den Kerl zu einem Fechter auszubilden, und jetzt bei dem Attentat habe sich gezeigt, daß sein Arm so wenig tauge wie sein Hirn. »Wieder einmal«, schloß Johann philosophisch, »offenbart sich, daß eine Vorsehung und ein allweises Schicksal existiert. Denn ohne die blöde Tat dieses Ephraim wäre das blöde Gesetz nicht so schnell abgeschafft worden. Somit ist erwiesen, daß die höchst unvernünftige Handlung im Sinn einer höheren Vernunft begangen worden ist.«
  Und während er so sprach, dachte der Freigelassene Junius Johannes daran, daß er dem Marull schreiben müsse und daß der an einem solchen Gedankengang seine Freude haben werde.
Die Doktoren Helbo Bar Nachum, Jesus von Gophna und Simon mit dem Beinamen der Weber hatten im Kollegium wieder einmal die Frage angeschnitten, welche Lehrmeinungen unter die Kategorie »Ableugnung des Gottesprinzips« fielen. »Leugnung des Prinzips« aber, Mord und Blutschande galten dem Judentum unter allen Verbrechen als die drei übelsten, und »Leugnung des Prinzips« war schlimmer als die beiden andern. Die Lehre der Minäer wurde bisher als Schittuf angesehen, als bloße »Abweichung«, das Kollegium scheute sich, darüber hinauszugehen, und Diskussionen über die heikle Frage, wie weit man den Begriff »Leugnung des Prinzips« ausdehnen solle, waren nicht beliebt. Nur diese drei, Helbo, Jesus und Simon der Weber, stocherten immer von neuem an dem Problem herum. Auch diesmal ließen die andern Herren des Kollegiums die drei reden, es kam zu keiner rechten Debatte, kein Antrag wurde gestellt, kein Beschluß gefaßt.
  Josef, sich des Gespräches in Lud erinnernd, nahm den Vorstoß der drei Doktoren zum Anlaß, Gamaliel über seine Haltung gegen die Minäer zu befragen. »Die Lehrmeinungen der Minäer«, sagte der Großdoktor, »haben nichts mit meiner Politik zu tun, ich nehme sie nicht zur Kenntnis. Diese Leute glauben, wir Doktoren ließen ihnen kein genügend großes Teil von Jahve, und möchten sich auf eigene Faust ein größeres Teil herausschneiden. Warum soll ich ihnen diesen Spaß nicht lassen? Es sind überdies fast nur einflußlose Leute, die den Minäern anhangen, kleine Bauern, Leibeigene, und sie tasten das Privileg der Doktoren nicht an, das Gesetz autoritativ zu kommentieren und die Riten festzulegen. Sie befassen sich mit dogmatischen Dingen, die nicht ins Leben eingreifen, mit Träumen. Es ist eine Religion für Frauen und Leibeigene«, schloß er wegwerfend.
  Josef hörte überrascht und zweifelnd zu. »Sie lassen diesen Leuten ruhig ihren Messiasglauben?« fragte er. »Sie unternehmen nichts gegen ihre Propaganda?«
  »Warum sollte ich?« fragte der Großdoktor zurück. »Einer meiner Herren hat einmal ein großes Projekt der Gegenpropaganda ausgearbeitet. Überall, wo Minäer ihre Lehre verkünden, sollten ihnen Wanderprediger von uns mit Argumenten der Vernunft entgegentreten. Er versprach sich besonders viel von dem Nachweis, daß der Prophet der Minäer, Jesus der Nazarener, überhaupt nicht existiert habe.« – »Und?« fragte gespannt Josef. Der Großdoktor lachte: »Ich habe selbstverständlich den naiven Herrn mit seinem Projekt nach Hause geschickt. Einer Volksversammlung, einer Versammlung von Gläubigen und Glaubenshungrigen, kann man doch nicht mit Argumenten der Vernunft kommen. Was die Minäer behaupten, hat nichts mit Vernunft zu tun, es ist jenseits der Vernunft, es ist mit logischen Argumenten weder beweisbar noch widerlegbar. Es interessiert diese Christen nicht, ob es aktenmäßige Beweise für die Existenz ihres Christus gibt. Da sie entschlossen sind, an ihn zu glauben, brauchen sie sie nicht. Schauen Sie sich den Mann an, der jetzt in Syrien aufgestanden ist und erklärt hat, er sei der tote Kaiser Nero. Seine Anhänger wollen glauben, Nero lebe: und siehe, er ist nicht tot. Zehntausende fallen ihm zu, der Gouverneur hat schon eine ganze Legion aufbieten müssen, um ihn zu bekämpfen.«
  »Es ist merkwürdig«, überlegte Josef, »daß so viele sich weigern, das anzunehmen, was man ihnen sichtbar machen kann, aber blindlings glauben, was offenkundig nicht existiert hat.«
  »Sie können nicht einmal so glatt behaupten, Doktor Josef«, meinte nachdenklich Gamaliel, »daß jener Jesus von Nazareth nicht existiert habe.« Und da Josef überrascht hochsah, fuhr er zögernd fort: »Erinnern Sie sich an den Prozeß, den damals der Erzpriester Anan gegen jenen falschen Messias Jakob und seine Genossen führte?« – »Gewiß«, erwiderte Josef. »Der Fall an sich war nicht weiter interessant. Ich glaube auch, es ging dem Erzpriester damals nicht um diesen falschen Messias; er wollte nur das Interregnum zwischen dem Tod des Festus und der Ernennung des neuen Gouverneurs benutzen, um die autonome religiöse Gerichtsbarkeit wiederherzustellen.«
  »Es wäre besser gewesen«, sagte der Großdoktor, »er hätte diesen Versuch nicht unternommen.« – »Ja«, meinte Josef, »er ist gründlich mißglückt, und der Erzpriester hat ihn teuer bezahlen müssen.«
  »Das meine ich nicht«, sagte langsam, ungewohnt zögernd, der Großdoktor. »Aber je länger ich es überdenke, um so mehr bin ich überzeugt: ohne diesen Prozeß existierte der Messias der Minäer nicht.«
  »Sie müssen noch ein Knabe gewesen sein«, überlegte Josef, »als jener Prozeß geführt wurde.« – »Ja«, erwiderte der Großdoktor, er sprach immer noch ungewohnt langsam, »aber ich kenne die Akten. Als mich der Erzpriester in das Geheimnis des Gottesnamens einweihte, ließ er mich auch in die Protokolle dieses Prozesses Einsicht nehmen.« – »Wollen Sie mir nicht mehr darüber sagen?« bat Josef. Sein Historiker-Interesse war wach geworden, und das Zögern des sonst so sichern und lebhaften Gamaliel schürte es noch mehr.
  Der Großdoktor schwankte. »Ich habe noch mit keinem Menschen darüber gesprochen«, sagte er bedenklich. »Hat es Sinn, nach der Entstehung des Minäerglaubens zu forschen? Es führt nicht weiter.« Und halb scherzend, halb ernsthaft zitierte er die Schlußverse des Kohelet: »›Laß dich warnen, mein Sohn. Des vielen Büchermachens ist kein Ende, und vieles Studieren reibt den Menschen auf.‹« Josef, sehr neugierig jetzt, doch beklommen durch die Bedenklichkeit des Großdoktors, drängte weiter in ihn: »Warum halten Sie mir diese Verse vor? Sie wissen doch, daß sie gefälscht sind. Und denken Sie so gering von der Wissenschaft?« – »Ich wollte Sie nicht kränken«, begütigte der Großdoktor. »Aber wir täten wahrscheinlich besser, diesen unseligen Prozeß zu vergessen.« – »Jetzt haben Sie einmal davon begonnen«, drängte Josef weiter, mit steigender Neugier und steigender Beklommenheit.
  »Ich denke«, entschloß sich endlich Gamaliel, »der Fall des Tempels hat die Pflicht des Geheimnisses gelöst, und ich darf Sie hineinschauen lassen in das, was damals geschah.
  Jener Jakob«, begann er zu berichten, »war also mit seinen Genossen – ob ein Jesus darunter war, kann ich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen – in den Tempel eingedrungen und hatte die Kaufleute behelligt, die dort mit Opfergegenständen handelten. Er berief sich darauf, daß, gemäß dem Spruch der Propheten, zur Zeit des Messias kein Opferhändler mehr sein solle im Hause Jahves; er aber sei der Messias. Und des zum Zeichen rief er vor allem Volke Jahve bei seinem geheimnisvollen Namen, den zu nennen nur dem Erzpriester erlaubt ist am Versöhnungstag. Und als er unversehrt blieb und kein Feuer vom Himmel kam, liefen viele davon, und viele glaubten ihm.«
  »Soweit erinnere ich mich«, sagte Josef, da der Großdoktor verstummte, »und daß dann der Erzpriester Anan ihn verhaften ließ und vor sein Gericht stellte. Mehr aber weiß ich nicht. Denn da es ein Prozeß um die Lästerung des Namens war und der Name somit von den Zeugen genannt werden mußte, wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Ich weiß nur mehr das Ende, daß das Priestergericht diesen Jakob und seine Genossen zum Tod verurteilte und steinigen ließ.« Er wartete, sonderbar erregt, auf das, was der Großdoktor weiter berichten werde.
  Der, zögernd, unbehaglich, als ob er trotz allem Bedenken trüge, seine Kenntnis weiterzusagen, erzählte: »Nach den Akten war es so. Als der Erzpriester Anan den Jakob befragte: ›Bist du, wie du behauptest, der Messias, Gottes eingeborener Sohn?‹, da rief, statt aller Antwort, der Angeklagte von neuem den Gottesnamen, und ihm ins Gesicht. Dies aber war eine Antwort; denn der Name Bedeutet, wie Sie wissen, ›Ich bin es‹. Und die Priester und die Richter erschraken in ihrem Herzen, und sie standen auf, wie es Vorschrift ist bei solcher Lästerung des Namens, und alle zerrissen ihre Kleider. Der Zeugen bedurfte es nicht erst. Der Prophet hatte die Lästerung den Richtern ins Gesicht wiederholt.«
  Gamaliel ließ dem Josef Zeit, über seinen Bericht nachzudenken. Josef dachte an das, was der Minäer aus dem Dorfe Sekanja im Hause des Acher vorgelesen hatte. Es war also nicht ganz müßiges Gerede, es schien Wahres und Erdichtetes wirr ineinandergefügt.
  »Dies war der letzte Prozeß gegen einen falschen Messias«, fuhr der Großdoktor fort, er sprach jetzt leichter, müheloser. »Es war seit Jahrzehnten der einzige Prozeß dieser Art, und es wäre besser, auch er wäre nicht gewesen. Und nun überlegen Sie, bitte«, forderte er Josef auf. »Es ist Tatsache, daß einer, der sich für den Messias hielt, von dem Gouverneur Pilatus als König der Juden gekreuzigt worden ist, und es ist Tatsache, daß ein anderer solcher Christus von uns hingerichtet wurde. Hat es unter diesen Umständen Sinn, mit den Minäern darüber zu rechten, wie weit ihr Bericht vom Leben und Leiden ihres Messias in den Einzelheiten stimmt? Daß er nicht so exakt ist wie der Report eines römischen Generals, wissen Sie selber. Aber ich glaube, es kommt Ihnen nicht darauf an.« Und, sachlich, faßte er zusammen: »Mögen diese Christgläubigen glauben, was sie wollen. Ich lasse jedem seine individuelle Meinung über Jahve und den Messias, solange er nicht gegen das Zeremonialgesetz verstößt. Die Minäer befolgen die Riten; ich weiß keinen einzigen Fall, daß sie sich dagegen aufgelehnt hätten. Beruhigen Sie Ihre Freunde«, schloß er lächelnd. »Ich sehe keinen Anlaß, gegen die Christen vorzugehen. Solange sie mein Zeremonialgesetz nicht antasten, taste ich sie nicht an.«

Josef berichtete in Lud über sein Gespräch mit dem Großdoktor; auch Jakob aus dem Dorfe Sekanja war da.
  Channah fand die Versicherungen des Großdoktors keineswegs beruhigend. »Ich kenne meinen Bruder«, meinte sie. »Er gehört zu den treuherzigen Heuchlern. Was er sagt, ist immer wahr: aber nur dem Worte nach. Er wählt seine Worte so, daß ihm sein Handeln offenbleibt. ›Wer die Riten nicht antastet, den taste ich nicht an.‹ Und was, wenn er die Riten so verengert, daß man sie antasten muß? Haben wir nicht Beispiele? Er ist großzügig, er läßt Doktoren und Laien Meinungsfreiheit. Aber nur, weil er noch nicht die Macht hat, sie ihnen zu nehmen. Wenn ihm erst die Zeit reif scheint, dann wird er kurzerhand das Zeremonialgesetz für angetastet erklären und die Meinungsfreiheit unterdrücken.«
  Ben Ismael strich sich mit der langen Hand die Brauen unter der mächtigen, kahlen Stirn zurecht. »Ach Channah«, sagte er, »für dich liegen die Dinge immer so einfach. Gamaliel ist kein Heuchler. Ich glaube es nicht. Der Sinn all seiner Handlungen ist Israel, nichts sonst. Er sagt: Jahve ist Israels einziges Erbteil; wenn es ihn verliert, wenn es ihn zu leichtsinnig den andern zeigt und ihn sich rauben läßt, was dann bleibt ihm? Also hütet er eifersüchtig seinen, unsern Jahve. Er verflacht die Lehre, gewiß. Aber er versteht nun einmal seine Sen dung so, und er ist der rechte Mann für seine Sendung.« Der Minäer Jakob sagte: »Ich glaube, Channah hat recht, und finde wie sie die Worte des Großdoktors verdächtig. Wir sind Juden, wir halten gewissenhaft das Zeremonialgesetz, wir halten Gemeinschaft mit den andern und wollen sie weiter halten. Aber wie nun, wenn einer von den Nichtjuden zu uns kommt und sagt: ›Ich will einer der Euern sein‹? Dürfen wir ihm dann den Weg versperren, weil die Römer die Beschneidung verboten haben? Verstoßen wir gegen das Zeremonialgesetz, wenn wir ihm sagen: ›Schiebe die Beschneidung auf, bis die Römer sie erlauben‹? Verlangt der Großdoktor, daß wir einen, der guten Willens ist, von der Heilsbotschaft ausschließen? Die Werke sind wichtig, aber ist nicht der Glaube ebenso wichtig? Ist es nicht besser, die Heiden hereinzulassen auch ohne das Zeremonialgesetz, als sie auszuschließen?« Und da Ben Ismael nicht antwortete, fügte er hinzu: »Selbst die Armen im Geiste spüren, daß es nicht genügt, wenn Jahve der Gott nur einer Nation ist. Darum kommen sie zu uns. Das Volk will nicht Theologie, es will Religion. Das Volk will keine jüdische Kirche, es will Judentum.«
  »So ist es«, sagte Channah.
  »So sei es«, sagte der Acher.
  Ben Ismael aber schwieg, und der Acher verhöhnte ihn: »Von Gamaliel verlangen Sie so wenig, mein Doktor und Herr, und von uns so viel. Wenn der Großdoktor recht hat, warum begnügen wir uns nicht auch, unsern Jahve zu hüten? Warum legen wir uns so heiße und bittere Mühe auf, ihn zum Jahve aller Welt zu machen?«
  »Weil wir«, erwiderte Ben Ismael, »weniger kräftig und weniger schlau sind als Gamaliel, aber vielleicht weiser. Er hat die Mauern aufzurichten, wir die Tore. Er hütet das Gesetz, daß nichts Falsches eindringe, wir haben dafür zu sorgen, daß das Gute nicht eingesperrt bleibt, sondern ausgehen und sich verbreiten kann. Ich kann auf Israel nicht verzichten, und ich kann auf die Welt nicht verzichten. Gott will beides.« Er sprach heftiger, als es sonst seine Art war, geradezu gequält.
  Josef sagte langsam, die Gedanken entstanden in ihm, während er sprach: »Ich verstehe Sie nicht ganz, mein Bruder und Herr. Sie sagen, die Mittel, die der Großdoktor anwendet, um das Judentum zu erhalten, seien die rechten. Wenn aber das Judentum das Gesicht annimmt, das Gamaliel ihm aufprägen will, bekommt es dann nicht ein nur nationalistisches, eigensüchtiges, weltfeindliches Gesicht? Sie sagen, wir haben ein Und. Ich fürchte, wenn Gamaliel recht behält, dann haben wir nur ein Oder: Judäa oder die Welt. Und ehe das Judentum so wird, wie Gamaliel es will, ist es da nicht besser, zur Welt ja und zu Judäa nein zu sagen?« Und kühn dachte er den Gedanken zu Ende, den alle zu denken sich scheuten, und sprach ihn aus: »Ist es da nicht besser, wir geben zugunsten unseres Weltbürgertums unser Judentum auf?«
  Ein bestürztes Schweigen war. Dann sagte zuerst der Acher, heftig: »Nein.« Und, noch heftiger, Channah: »Nein.« Und nein sagte Ben Ismael. Und nein sagte schließlich, zögernd, selbst der Minäer Jakob.
  Josef, nach einer Weile, fragte: »Warum nein?« Ben Ismael erwiderte: »Ich sehe keinen andern Weg zum Übernationalen als das Judentum; denn Israels Gott ist kein nationaler Gott wie die Götter der andern Völker, sondern unsichtbar, der Weltgeist an sich, und sicher wird einmal die Zeit kommen, da dieser Gestaltlose auch keiner Form mehr bedürfen wird, um begriffen zu werden. Vorläufig aber müssen wir ihm, um ihn überhaupt begreifbar zu machen, eine Form geben, vorläufig ist ein Jahve ohne Judentum nicht vorstellbar. Er würde sich, noch bevor eine Generation vergangen ist, ins Nichts verflüchtigen. Ist es nicht besser, wir geben Jahve vorübergehend nationale Embleme, als daß wir seine Idee untergehen ließen? Es ist nicht das erstemal, daß sich die übernationale Idee des Judentums unter einer plumpen, nationalen Maske verstecken muß. Die Mittel zum Beispiel, die Esra und Nehemia anwandten, um das Judentum zu erhalten, waren äußerst bedenklich. Aber ihre Gaukelei war heilig, und ihr Erfolg zeigt, daß Gott sie billigte. Die Heilige Schrift schleppt vieles mit, was nur taktischen Zwecken des Augenblicks diente: doch nur so konnte das Wesentliche, ihre übernationale Idee, gerettet werden. Ich finde, daß selbst manches lächerliche Nationale der Früheren heute geadelt erscheint durch die große, übernationale Idee.«
  »Sie verteidigen Gamaliel«, sagte der Acher, und es war in seinen Worten mehr Trauer als Anklage.
  »Ich muß wohl«, sagte Ben Ismael, »da ihr ihn übers Maß hinaus angreift. Wir dürfen die nationale Tradition nicht abreißen lassen; wir verlören mit dem Körper, der die Idee trägt, die Idee selber. Es klingt widerspruchsvoll, daß der übernationale Geist nur in nationalem Gewand überliefert werden kann: es ist darum nicht minder wahr. Sie als Historiker müssen mich verstehen, Doktor Josef«, wandte er sich dringlich an Josef. »Es wachsen einem jeden von uns aus der Geschichte der Väter neue Kräfte zu, über sein individuelles Leben hinaus, über seine individuellen Meinungen hinaus, und diese Kräfte sind mehr als national; denn die jüdische Geschichte ist die Geschichte des Kampfes, den der Geist immerzu gegen den Ungeist zu führen hat, und wer Anteil hat an der jüdischen Geschichte, hat Anteil am Geist an sich. Wenn wir dreimal am Tag das Bekenntnis zum jüdischen Gott aussprechen, dann bekennen wir uns dreimal am Tag zum Prinzip des Geistigen; denn Jahve ist der Geist an sich.«
  Der Minäer Jakob sagte: »Ich gebe zu, daß auch der reinste Geist sich nicht erhalten kann ohne eine Form. Aber was Sie sagen, Doktor Ben Ismael, bestätigt mich mehr, als daß es mich widerlegt. Ist es nicht gerade nach dem, was Sie sagen, unsere Pflicht, diejenigen aufzunehmen, die teilhaben wollen am Geiste? Dürfen wir sie zurückweisen, bloß weil die Römer die Beschneidung verbieten, weil sie es uns zur Zeit unmöglich machen, dem Geistigen die Form im Fleische zu geben? Ich glaube, gerade Sie, Doktor Ben Ismael, müßten Verständnis haben für den Ausweg, den einer unserer Brüder, ein gewisser Paulus, uns zeigt.«
  »Welches ist der Ausweg dieses Paulus?« fragte Ben Ismael.
  Und der Minäer Jakob erwiderte: »Dieser Paulus lehrt: Für den als Juden Geborenen bleibt die Beschneidung verbindlich. Will aber einer unter den Heiden zu euch, meine Brüder, dann verzichtet auf die Beschneidung.«
  »Eine gefährliche Lehre«, sagte Ben Ismael.
  »Eine gute Lehre«, sagte der Acher.
  »Eine Lehre«, sagte Channah, »aus der der Großdoktor
nicht unterlassen wird gewisse Konsequenzen zu ziehen, falls ihr versucht, sie in die Praxis umzusetzen.«
  Josef aber, der seinen Sohn nicht hatte beschneiden lassen, wußte nicht, ob er zu dieser Lehre ja sagen sollte oder nein. Es war gut, daß ein Gamaliel da war, aber es war auch gut, daß der Minäer Jakob da war und der Acher und, vermittelnd zwischen diesen und dem Großdoktor, Ben Ismael.
  Und Josef verließ die Gegend von Jabne und von Lud, um nach Cäsarea zu gehen, unschlüssig, ob er dort für die Hochschule von Lud eintreten solle oder nicht.

In Cäsarea empfing ihn Flavius Silva mit lärmender Freundschaftlichkeit und fragte ihn lange und bis in alle Einzelheiten aus, welchen Eindruck er von der Provinz Judäa habe. Josef lobte vieles und machte kein Hehl aus seinen Einwänden. Den Flavius Silva schien gerade diese halb widerwillige Anerkennung zu erfreuen.
  Der Gouverneur war gut gelaunt. Sein Kollege in Syrien hatte wachsende Schwierigkeiten mit dem falschen Nero; er brauchte für die Bekämpfung des Unruhstifters Soldaten und Geld, und man begann sich in Rom über die lange Dauer zu wundern, die die Niederwerfung des lächerlichen Prätendenten erforderte. Flavius Silva machte es einem nicht schwer, aus seinem Bedauern über diese leidige Angelegenheit die Freude durchzuspüren, die er an dem Ärger des Kollegen hatte.
  Er nahm seine jüdischen Gäste mit auf eine längst geplante Inspektionsreise nach Samaria. Vor allem lag ihm daran, ihnen seine Stadt Flavisch Neapel zu zeigen.
  Es war wirklich erstaunlich, was er in so wenigen Jahren aus dem früheren samaritischen Städtchen Sichern gemacht hatte. Er sonnte sich in der Anerkennung der jüdischen Herren, war aufgeräumt, sehr zugänglich. Josef erkannte, daß jetzt der rechte Augenblick war, aus ihm allerhand für die Interessen der Juden herauszuschlagen. Jetzt müßte er die Frage der Universität Lud anschneiden.
  Als guter Psycholog war er sich klar darüber, wie er es anpacken müßte. Er könnte dem Gouverneur zum Beispiel vorstellen, welch ein Vorteil es für seine Provinz wäre, eine Universität zu haben, die gleichzeitig griechische und jüdische Disziplinen lehrte. Die Hochschule von Antiochien, bisher die bedeutendste Asiens, kümmerte sich nicht um die Bedürfnisse der Juden und ließ die Neigung des Ostens außer acht, sich mit jüdischer Weltanschauung auseinanderzusetzen. Eine moderne Universität, die diesen Bedürfnissen entgegenkäme, müßte die von Antiochien rasch überflügeln und zum kulturellen Mittelpunkt des gesamten Ostens werden. Sie müßte reiche junge Leute aus aller Welt in Scharen in die Provinz ziehen. Argumente solcher Art könnten ihre Wirkung auf den Gouverneur kaum verfehlen.
  Allein als Josef dem Flavius Silva von der Universität Lud zu sprechen beginnen wollte, sah er im Geist das kräftige, bräunliche Gesicht Gamaliels vor sich mit dem kurzen, vierekkigen Bart und den vorstehenden Zähnen, und sein inneres Ohr hörte die souveränen, zynischen Sätze des Großdoktors über das Zeremonialgesetz, das allein den Bestand des Judentums sichern könne. Und als dann Josef wirklich zu reden anhub, nahm er zu seinem eigenen Erstaunen wahr, daß er nicht für die Stadt Lud sprach und ihre Universität, sondern für die Stadt Thamna und den Stadtrat Akawja.
  Noch während er sprach, ärgerte er sich über sich selber. Er beschimpfte sich, daß er vor der größeren Aufgabe zurückwich und den günstigen Augenblick für eine so geringfügige Sache wie die des Akawja nützte.
  Übrigens sprach er ohne Schwung und machte es dem Gouverneur nicht schwer, seine Bitte abzulehnen. »Wer sich den Luxus leistet«, meinte behaglich Flavius Silva, »seine Gefühle so ostentativ zu zeigen wie Ihr Akawja, der muß auch bereit sein, dafür zu bezahlen. Wenn ich den Kerl laufenließe, würdet ihr mir in einem halben Jahr alle Edikte der Regierung anspeien und in zwei Jahren die Steintafeln zerschlagen, die sie auf den Plätzen verkünden.«
  Doch der sonst so prinzipientreue Gouverneur fiel im Falle des Stadtrats Akawja wider Erwarten schnell um. Ursache seiner Wandlung war der Gaul Vindex. Der hätte nämlich bei der Eröffnung des Stadions von Flavisch Neapel laufen sollen, verunglückte aber, als er in Joppe aus dem Schiff ausgeladen wurde. Den Gouverneur erreichte die Nachricht, jetzt, in Flavisch Neapel, kurz nach der Unterredung mit Josef. Er wütete. Dies Mißgeschick brachte ihn um die beste Attraktion für seine Festspiele. Er gab sogleich Order, die Leibeigenen, die mit dem Transport des Pferdes beauftragt waren, zu kreuzigen; aber das Programm seiner Festspiele wurde dadurch nicht besser. Er mußte, mußte Ersatz für den Gaul Vindex finden. Er kam zurück auf seinen alten Plan, den Demetrius Liban, der bisher seiner dringlichen Aufforderung zähen Widerstand entgegengesetzt hatte, jetzt, koste es, was es wolle, zu einem Auftreten in seiner Provinz zu bewegen. Beim Abendessen, in Gegenwart des Josef, fing er also von neuem von der Angelegenheit des Stadtrats Akawja zu reden an, setzte nochmals auseinander, was alles gegen eine Begnadigung sprach, und ging dann, unvermutet, zum Angriff auf den Schauspieler über. »Aber ich möchte nicht«, schlich er sich an, »daß die Juden mich für ihren Feind halten. Ich möchte vor allem Ihnen, meine Herren, zeigen, wie sehr ich ihr Freund bin. Ich lege es in Ihre Hand, mein Demetrius, diesen Akawja zu retten. Beweisen Sie mir Ihre Freundschaft, und ich beweise Ihnen die meine. Wirken Sie bei meinen Festspielen mit, und ich schenke Ihnen das Leben Ihres Glaubensgenossen.«
  Liban erblaßte. Das Anerbieten des Silva, den Provinzlern hier zu zeigen, was ein wirklicher Schauspieler ist, war ihm von Anfang an eine große Verlockung gewesen, aber er hatte tapfer widerstanden. Er wollte sein Gelübde halten, wollte zu Ehren Jahves seiner Kunst entsagen, und war es nicht ein zehnfaches Verbrechen, im Lande Israel zu spielen, während einer Pilger- und Sühnefahrt? Doch dieser neue Antrag stürzte alle seine Erwägungen um. Jetzt ging es nicht mehr um ihn, jetzt ging es um das Leben eines Menschen, eines jüdischen Bruders, für den, wie es schien, ganz Israel kämpfte. War es ein Wink Jahves, oder war es wieder einmal eine Versuchung des Satans? Auf alle Fälle bedeutete dieser Antrag neuen Kampf für ihn. »Soll ich vielleicht den Juden Apella spielen?« fragte er bitter. Doch nur Josef verstand die Bitterkeit dieser Erwiderung. Der Gouverneur wußte nicht Bescheid in Theaterdin gen, und, sogleich einhakend, lebhaft und ahnungslos, erwiderte er: »Was Sie wollen, mein Demetrius. Spielen Sie, was Sie wollen.«
  Mit dieser Antwort aber kam er seinem Ziele viel näher, als er selber erwartete; denn sie brachte in dem Schauspieler einen ganzen Berg verführerischer Phantasien ins Rollen. Der Gouverneur stellte ihm frei zu spielen, was er wollte. Wie, wenn er es nochmals mit dem Laureol versuchte? Vielleicht konnte er auf dem Umweg über die Provinz dem Stück in Rom zu einem nachträglichen Erfolg verhelfen und so die scheußliche Scharte von Albanum auswetzen. Sicherlich war es der Wille Jahves, daß er im Lande Israel spiele. Hätte Jahve sonst das Leben des Juden Akawja an sein Auftreten geknüpft? Wahrscheinlich wollte Jahve durch ihn den Heiden zeigen, was alles ein Jude vermöge, und ihnen auf solche Art Achtung und größere Milde für die gesamte Judenheit abnötigen. Viele Gedanken und Träume dieser Art bewegten schnell und wirr den Schauspieler, bis er gnädig und großspurig erwiderte: »Es ist schwer, einem so zähen Kunstfreund zu widerstehen wie Ihnen, Herr Gouverneur. Vielleicht werde ich mich entschließen, den Seeräuber Laureol zu spielen. Sie wissen, ich habe ihn für die Majestät und den Prinzen Domitian gespielt bei der Eröffnung des Theaters der Lucia.« Silva wußte natürlich nichts. »Das wäre großartig«, begeisterte er sich. »Ich werde es mir überlegen«, gab Liban sich überwunden.
  Josef aber schämte sich, daß er nicht von der Universität Lud gesprochen hatte, und wagte es nicht einmal vor sich selber, sich über den Schauspieler lustig zu machen.

Kurze Zeit darauf fragte der Gouverneur, was Josef über den Großdoktor denke. Er selber hielt große Stücke auf Gamaliel. Das sei ein Mann, mit dem man klar reden könne, ohne lange Umschweife. Er sei schlau, zielbewußt, bleibe immer sachlich: er verdiente, ein Römer zu sein. Daß er gerade das nicht wolle, sei sein einziger Fehler.
  Und nun stellte sich etwas heraus, was die Bewunderung Josefs vor der Klugheit des Großdoktors noch erhöhte. Der Gouverneur hatte nämlich Gamaliel angeboten, ihn zum römischen Bürger zu machen und ihm den Goldenen Ring des Zweiten Adels zu verschaffen. Gamaliel indes hatte höflich und entschieden abgelehnt und hatte, darüber hinaus, seinen Juden das Anerbieten verheimlicht; sonst hätte Josef durch Ben Ismael oder den Acher sicherlich davon erfahren. Es war klug, daß der Großdoktor sich darauf beschränkte, Jude zu sein, noch klüger, daß er, um die Römer nicht durch öffentliche Ablehnung zu reizen, von seiner Chance, sich römische Ehren zu holen, den Juden nicht einmal sprach. Josef sagte sich, daß er selber an Gamaliels Stelle der Verlockung nicht hätte widerstehen können, den andern wenigstens von seiner Festigkeit zu erzählen.
  Daß Flavius Silva Josefs Meinung über den Großdoktor erfragte, hatte seinen Grund. Gamaliel, eröffnete er ihm, werde bald Gelegenheit haben, seine vielgerühmte Sachlichkeit zu erweisen. Er, der Gouverneur, müsse ihn vor ein schwieriges Problem stellen. Die Hoffnung nämlich, die Juden würden nach dem Beschneidungsverbot endlich Ruhe geben und von ihrer fatalen Proselytenmacherei ablassen, habe sich leider nicht erfüllt. Im Gegenteil, in den letzten Monaten versuche man noch heftiger als früher, Syrer, Griechen und Römer zu den Lehren Jahves zu bekehren, die Wanderprediger nähmen überhand und gäben öffentliches Ärgernis. Bisher habe sich eine juristische Handhabe nicht gefunden, gegen die Burschen einzuschreiten; denn sie hüteten sich wohlweislich, ihre Zuhörer zur Beschneidung aufzufordern, und die jüdische Religion als solche sei ja erlaubt. Nun aber habe man ihm mitgeteilt, diese Bettelpropheten seien gar keine richtigen Juden, sie gehörten vielmehr einer zweifelhaften neuen Sekte an, deren Bekenner Minäer oder Christen genannt würden. Sie selber freilich bestritten das heftig und redeten sich darauf hinaus, Jude bleibe Jude, ob Pharisäer oder Minäer, genauso wie ein maltesischer Spitz nicht weniger ein Hund sei als eine molossische Dogge. Die jüdischen Sachverständigen hätten bisher zu dieser Frage nur langwieriges theologisches Gewäsch beigesteuert, nichts Greifbares, kein Ja und kein Nein. Er, Flavius Silva, habe das satt. Er habe also jetzt den Großdoktor und das Kollegium in Jabne amtlich aufgefordert, sich gutachtlich klipp und klar darüber zu äußern, ob diese Minäer den Juden zuzuzählen seien oder nicht.
  Josef war bestürzt. Jabne hatte bisher den Minäern viel Toleranz gezeigt, trotzdem die meisten der Doktoren ihnen im Grunde abgeneigt waren. Wenn aber jetzt Rom dem Kollegium nahelegte, die Christen zu verleugnen, werden dann die Doktoren nicht dem doppelten Druck nachgeben und die gefährlichen, staatsfeindlichen Mitläufer abschütteln? Sicher werden sie das. Es traf Josef tief, daß Channah so schnell gegen ihren Mann Ben Ismael recht behalten sollte.
  In rasender Eile überlegte er, ob es einen Weg gäbe, die Gefahr von den Minäern abzuwenden. Er sah, noch bevor der Gouverneur zu Ende war, daß es einen einzigen gab. Der Minäerfreunde im Kollegium waren wenige, aber ihre Stimmen hatten Gewicht. Sie konnten sich nur deshalb nicht durchsetzen, weil keine staatliche Autorität hinter ihnen stand. Wie aber, wenn man ihnen diese Autorität verschaffte? Wenn eine von Rom anerkannte Universität in Lud sich für die Minäer ausspricht, dann wird man in Jabne kaum wagen, durch ein Gutachten gegen die Minäer offenkundig zu machen, daß die Spaltung des Judentums selbst seine höchsten Wortführer trennt.
  Die Frage: wenn man das Judentum nur erhalten kann, indem man es nationalisiert und seine kosmopolitische Sendung fahrenläßt, soll man es dann überhaupt erhalten?, diese Frage, noch in Lud ein blasses, fernes, theoretisches Problem, wurde mit einem Schlag eine Drohung von furchtbarer Aktualität. Bekannte man sich zu den Minäern, so forderte man das verärgerte Rom zu Repressalien heraus. Sagte man sich von den Minäern los, dann sonderte sich die jüdische Gemeinschaft noch strenger und hochmütiger von der übrigen Welt ab. Plötzlich bekam die Frage, ob er sich jetzt zum Fürsprecher der Universität Lud machte, ungeheures Gewicht. Er hatte das Ohr des Gouverneurs, die Situation war günstig, seine Argumente mußten einem Manne wie Flavius Silva bestechend klingen.
  Alles, was in Josef an dunkler Sehnsucht nach Religion war, drängte ihn, jetzt für die Minäer zu sprechen, für Ben Ismael, für den Acher. Aber er hörte im Geist die klare Stimme Gamaliels: »Was nicht der Vernunft gemäß ist, ist häßlich.« Das Ziel, das Ben Ismael und dem Acher vorschwebte, war unvernünftig. Wenn es auch vielleicht in tausend Jahren erreichbar sein mochte, heute war es Utopie, der nachzujagen die Existenz des Judentums gefährdete. Wer annahm, der Messias sei bereits erschienen, wer die Hoffnung auf die Wiedererrichtung des Tempels preisgab, gab die ganze jüdische Tradition preis. Wenn Josef jetzt für die Universität Lud sprach, dann nahm er die Zerstörung Jerusalems und des Tempels als ein für immer Gegebenes hin, dann schloß er sich selber aus dem Reich des künftigen Messias aus.
  Er schwieg. Er sprach nicht von der Universität Lud.
  Er wußte nicht, daß es Gamaliel selber gewesen war, der durch Mittelsleute den Gouverneur bewogen hatte, in Jabne das Gutachten über die Minäer einzufordern.

Es trieb Josef wieder nach Süden. Zuerst ging er auf sein Gut. Er wollte dort, bevor er seine Freunde in Lud und Jabne aufsuchte, in Ruhe darüber nachdenken, was er ihnen auf die Frage erwidern solle: warum hast du uns im Stich gelassen?
  Er war kaum zwei Tage auf dem Gut, als sich ein überraschender Besucher einstellte: Justus von Tiberias.
  Josef hatte diesen Mann seit sechs Jahren nicht gesehen. Er war ihm mehr verbunden und mehr feind als irgendwem sonst auf der Welt. Er hatte eine ewige Streitsache mit ihm, eine Auseinandersetzung, die vor sechzehn Jahren in Rom, als sie einander das erstemal begegneten, angefangen hatte, ein Gespräch, das nicht beendet und das der Sinn seines Lebens war. Immer in diesem Gespräch war Justus der Angreifer, er verfolgte ihn mit Hohn und Bitterkeit, mit dem Scharfblick des Hasses, und Josef seinesteils haßte den Mann, der seine Schwächen so gut kannte und so erbarmungslos ins Licht stellte; aber er lebte nur, um diesem Manne zu zeigen, wer er war. Daß er Justus zweimal das Leben gerettet hatte, ihn einmal sogar vom Kreuze herunterholend, war keine genügende Antwort gewesen, hatte das Gespräch nicht beendet. Diese Taten hatten denn auch Justus keineswegs zu Konzessionen bewo gen; er hatte vielmehr, während alle Welt den »Jüdischen Krieg« rühmte, das Buch zweideutig gescholten, schillernd, oberflächlich, und sich darangemacht, es durch ein tieferes zu verdrängen. Josef hatte alle die Jahre hindurch auf die Fortführung des Gespräches gewartet. Nun aber der Mann plötzlich vor ihm erschien, erschrak er wie ein kleiner Junge, der, von seinem Lehrer unversehens aufgerufen, keine Antwort weiß.
  Während er den Gast begrüßte, vielwortig, um seine Unruhe zu verbergen, durchforschte er, zuerst scheu, dann immer kühner, das gelbe Gesicht des andern. Justus war dreiundvierzig Jahre alt wie er selber, und als sie sich vor sechzehn Jahren in Rom das erstemal trafen, hatten sie einander verblüffend ähnlich gesehen. Jetzt war wohl keine Ähnlichkeit mehr zwischen ihnen. Das Gesicht des Justus war härter geworden, trocken, zerfurcht, sein Gelb spielte ins Graue. Es war bartlos, sorglich rasiert und saß auf einem erschreckend dürren Hals. Justus war alt, verbraucht; er hielt sich sehr aufrecht, doch man sah, wieviel Mühe ihn das kostete. Damals, nach der Abnahme vom Kreuz, hatte man ihm den linken Arm überm Ellbogen amputieren müssen, und Josef suchte unwillkürlich nach dem Stumpf.
  Während des Essens blieb Justus einsilbig und genoß wenig von den guten Speisen, die Josef auftragen ließ. Er wußte Bescheid über alles, was Josef in der Zwischenzeit getan und erlebt hatte. Bösartig meinte er, Josef sei sich in seiner Inkonsequenz konsequent geblieben und sei seinen Zickzackweg entschlossen weitergegangen. Nicht ohne Erfolg, wie man sehe. Der siegreich beendete Kampf um seinen Sohn Paulus habe ungemeine Ähnlichkeit mit seinem siegreichen Kampf um jene drei Doktoren, die er damals mit Hilfe der Kaiserin Poppäa gerettet habe; auch die Folgen seien einander ähnlich. Der gleiche Charakter erzeuge offenbar immer wieder die gleichen Situationen und das gleiche Schicksal. Und Justus kicherte, eine unangenehme Gewohnheit, die der früher so gehaltene Herr in diesen letzten Jahren angenommen hatte.
  Verachtung dringt selbst durch den Panzer einer Schildkröte, und früher hatte Josef oftmals geglaubt, er könne in der Ver achtung des Justus nicht weiterleben. Doch diesmal nahm er die stacheligen Reden des bitteren Herrn mit Ruhe hin. Er sah, wie Justus trotz aller Mühe und Geschicklichkeit durch den Mangel des linken Arms beim Essen behindert war, so daß seine hurtige Hantierung befremdlich und er selber steif und jämmerlich wirkte. Ein warmes Gefühl für diesen harten, strengen und geschlagenen Mann stieg in Josef hoch, und er spürte kaum mehr die Kränkung seiner Worte.
  Was ihn jetzt anfüllte, war eher Spannung, was der Mann wohl von ihm wolle. Sicher war Justus nach Judäa gekommen, um sich Kraft für sein Buch zu holen, und daß sie beide zur gleichen Zeit und aus dem gleichen Grund den heimatlichen Boden gesucht hatten, war ihm selber eine wichtige Bestätigung; denn Justus galt ihm als der größte Schriftsteller der Zeit, und sein Verhalten war ihm der Maßstab seines eigenen Lebens.
  Doch Justus ließ während des Mahls nichts über den Zweck seines Besuches verlauten, auch hernach nicht, und sie gingen zu Bett, ohne daß Justus gesprochen hätte. Josef schlief schlecht. Die ganze Nacht hindurch stritt er im Geist mit Justus, und er fand treffende Antworten auf Sätze, die der andere leider nicht gesagt hatte. Die Kränkung, die nicht da war, solange Justus körperlich zugegen war, ätzte ihn nachträglich um so schärfer. Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und ich bin einer von ihnen. Aber das Ohr dieses Justus hatte er nicht.
  Am andern Tag konnte er sich nicht mehr bezähmen und fragte geradezu, ob er Justus und womit dienen könne. Justus erklärte, er brauche die Erlaubnis der Regierung, sich vier oder fünf Wochen in Cäsarea aufzuhalten. Josef, der sich durch seine Schriftstellerei die Gunst der Großen gewonnen habe, möge einem weniger glücklichen Kollegen in dieser Angelegenheit behilflich sein.
  Josef sagte sogleich und mit Vergnügen zu. Verwundert fragte er, wie es komme, daß der Sekretär des Königs Agrippa sich um einer so geringfügigen Sache willen an ihn wenden müsse. Es ergab sich, daß Justus nicht mehr Sekretär des Agrippa war. Er hatte seit langem das Gefühl gehabt, er sei dem König um seiner Schärfe und Intransigenz willen unbehaglich, und in der letzten Zeit hatte Agrippa ihn immer weniger beschäftigt. Er aber hatte sein Gehalt nicht umsonst einstreichen wollen, und als Berenike auf der Rückreise von Rom nach Alexandrien gekommen war, hatte er sie aufgesucht, um vielleicht durch ihre Vermittlung dem Agrippa wieder näherzukommen. Berenike hatte ihn auch freundlich aufgenommen. Doch dann war man, Justus wußte nicht mehr, in welchem Zusammenhang, auf das Buch Esther zu sprechen gekommen, und Justus hatte sich ein wenig über Ahasver mokiert, jenen etwas schwachsinnigen Haremskönig, der sich von seiner Favoritin im Bett die Wünsche ihres Clans suggerieren läßt. Es schien, daß Berenike die Charakteristik des Justus auf ihren Titus bezogen und sich darüber merkwürdigerweise geärgert hatte. Jedenfalls war sie sichtlich verstimmt gewesen, und Justus, stolz und verdrossen, hatte gar nicht erst von seinen eigenen Dingen zu reden angefangen, sondern hatte es vorgezogen, Agrippa glattwegs um seine Entlassung zu bitten.
  Josef hörte den Bericht mit viel Bedauern und ein ganz klein wenig Genugtuung. Er begriff gut, daß Agrippa das bösartige Kichern des scharfen Herrn nicht immer um sich haben wollte. Seltsam, daß ein Mann, der theoretisch soviel von Psychologie verstand wie Justus, sowenig praktische Menschenkenntnis besaß. Wie die Dinge lagen, konnte Josef seinen Freund ohne große Mühe überreden, auf dem Gut zu bleiben, bis die Erlaubnis aus Cäsarea eingetroffen sei. Er wartete darauf, daß Justus ihn nach seinen Plänen fragen und von seinem eigenen Werk zu sprechen beginnen werde. Schließlich, da Justus schwieg, fragte er ihn geradezu, ob er um seiner Arbeit willen nach Judäa gekommen sei. Justus bejahte. Josef, erfreut, meinte, auch er selber verspreche sich mancherlei Vorteile für sein Werk von der Luft des Landes, seinen Farben, seinen Menschen, seiner Sprache.
  Doch Justus verzog nur die dünnen Lippen. Er kam nicht aus Stimmungsgründen. Er suche Material, erklärte er trocken, Ziffern, Statistiken. Und Josef war erbittert, daß des Justus Reise nach Judäa eine Bestätigung des Johann von Gischala war, nicht eine Bestätigung seiner selbst.
Josef und Justus hatten eine Unterredung mit Josefs Leibeigenem, dem Gehorsamen, dem Minäer. Die beiden Herren befragten ihn um seine Glaubensgrundsätze, Justus aufreizend hochmütig. Man saß in einem niedrigen Raum, halb Küche, halb Wohnraum, es war Abend und sehr still. Fernher kam das Trappeln und Blöken der heimkehrenden Schafherden, irgendwo sangen Leibeigene eintönig in einer fremden Sprache. Die beiden Herren fragten den Gehorsamen aus wie Forschungsreisende den Angehörigen eines primitiven Stammes. Der Gehorsame ließ es sich nicht verdrießen, den offenbar skeptischen, zuweilen recht bissigen Zuhörern seinen Glauben mit Geduld darzulegen; leise, wenn er sich bewegte, klingelte die Schelle seiner Leibeigenschaft. Justus schien bei aller Überheblichkeit interessiert. Er fragte immer weiter, auch Josef hatte noch viel zu fragen, es wurde Nacht, man brachte Licht, sie fragten noch immer, und der Gehorsame gab unermüdlich Auskunft.
  Als sie ihn endlich entlassen hatten, forderte Josef den Justus auf, mit ihm noch ein wenig spazierenzugehen. Justus war bereit, sie gingen, es war eine angenehme Nacht, und Josef fand seinen schwierigen Freund in ungewöhnlich zugänglicher, gelöster Laune. Er wollte diese Stimmung ausnutzen, um sich mit ihm über die Fragen zu unterhalten, die ihn bedrückten.
  Sie ließen sich am Rand einer Zisterne nieder. Ein undeutlicher Mond in der Sichel des ersten Zunehmens schwamm am dunstigen, bläulichschwarzen Himmel, ab und zu kam ein halber Vogelruf durch die Nacht. Josef öffnete dem Justus sein Herz, zeigte ihm seine Zweifel, seine Wirrnis. Da waren die Ungelehrten, die Armen im Geiste, die auf einmal verlangten, an Jahve und der Lehre ebenso teilzuhaben wie die Gebildeten. Bestand ihr Anspruch zu Recht? Sollte man sie gewähren lassen? Da waren die toleranten Lehren des Ben Ismael und die höhnischen Angriffe des Acher, die ihn nach dieser, die realpolitischen Argumente des Gamaliel, die ihn nach der andern Seite zerrten. Ja, Josef fragte sich jetzt manchmal ganz ernstlich, ob seine ganze Gelehrsamkeit, seine mit soviel Mühen erworbene Methode mehr sei als bloßer Dunst, ob nicht Leute wie der Minäer Jakob oder selbst dieser Gehorsame, einfach durch ihren Glauben und ihre Intuition, eine tiefere Erkenntnis Jahves und der Welt besäßen.
  Justus war sommerlich leicht angezogen; er sah erschrekkend mager aus, und der Armstumpf mit der trockenen, verschrumpften Haut ragte häßlich aus dem ärmellosen Unterkleid. So saß er dünn und hager im unsicheren Licht auf dem Brunnenrand neben Josef. »O mein Josef«, sagte er und kicherte auf seine gewohnte Art, doch war sein Spott diesmal ohne Bitterkeit, »machen Sie sich darüber keine Sorgen. Selbst Ihre Gelehrsamkeit, trotzdem sie mir nicht eben gründlich scheint, taugt noch immer mehr als das aus ›frommer Schau‹ stammende Wissen Ihres Leibeigenen oder Ihres minäischen Wundertäters. Ich habe oft den Versuch gemacht, aus der gerühmten, unverbildeten Seele des Laien irgendeine Erkenntnis herauszuziehen, aber wenn ich noch so objektiv prüfte, die Intuition des Laien hat mich niemals weitergeführt. Wenn es darum geht, einen Tisch zu zimmern, ein Bauernhaus zu bauen, eine Verstopfung zu kurieren, dann mag der gemeine Menschenverstand des Laien zur Not genügen; aber wenn ich einen richtigen Schreibtisch brauche, gehe ich zum gelernten Tischler, und wenn ich ein richtiges Haus haben will, gehe ich zum Architekten, und wenn ich Wundbrand habe, gehe ich zum Chirurgen. Ich sehe nicht ein, warum ich, wenn ich eine tiefere Erkenntnis Jahves haben will, zum Armen im Geiste gehen soll und nicht zum Spezialisten, der Jahves Bücher studiert hat. Ich kann mich nicht mit denjenigen befreunden, die gegen den Intellekt losziehen und nicht Rühmens genug von der Intuition machen können. Nicht mittels Intuition hat Pythagoras herausgefunden, daß die Summe der Quadrate der beiden Katheten dem Quadrat der Hypotenuse gleich sei, und wenn der Ingenieur Sergius Orata sich auf seine Intuition verlassen hätte, dann wäre die Warmwasserheizung nie erfunden worden. Wenn es Rationalismus ist, die Reichen im Geist den Armen vorzuziehen, dann bin ich Rationalist.«
  Er zog mechanisch spielend an der Kette, die das Schöpfrad der Zisterne bewegte. Es gab ein so hartes Knarren, daß er erschreckt davon abließ. Er setzte sich bequemer zurecht und fuhr mit leiser, doch klarer Stimme fort: »Unsere Väter waren nicht viele, sie zogen durch die Wüste, feste Siedlungen waren ihnen unbekannt, sie kämpften mit wilden Tieren, mit den Unbilden eines harten Himmels, sie schlugen sich gegenseitig tot, sie hatten wenig Zeit für Forschung, sie waren auf Intuition angewiesen. Mittlerweile sind wir mehr geworden, wir haben gelernt, in Dörfern und Städten zu wohnen, und wir haben Methoden gefunden, auf logischem Weg unbestreitbare Tatsachen zu erkennen. Wir brauchen jetzt keine Intuition mehr, wir haben Wissenschaft. Ich bin froh, daß wir in einer Epoche der Städte und gesellschaftlichen Bindungen leben, ich sehne mich nicht zurück nach der Zeit der Wüste, der Intuition und der Propheten. Wenn einer sich heute für einen Propheten ausgibt, halte ich ihn für einen Schwindler oder für einen Narren, und wenn einer seine unbeweisbare Intuition gegen meine beweisbaren Fakten ausspielen will, werde ich unangenehm. Ich betrachte Leute, die mir verbieten wollen, meinen Kopf zu gebrauchen, als meine Feinde. Ich sehe nicht ein, warum einer, der Verstand hat, weniger fähig sein sollte, Gott zu erkennen, als einer, der keinen hat.«
  Josefs geistiger Hochmut hatte in diesen letzten Wochen viele Stöße erlitten; es tat ihm gut, die Worte des Justus zu hören, er verlangte nach mehr. Er sagte: »Sie wollen nicht sehen, mein Justus, worum es diesen Leuten geht. Diese Leute glauben, daß man, wenn man sich nur zur Genüge in sich selber versenkt, Gott in sich einatmen könne wie Luft; sie glauben, daß überhebliches Vertrauen in das eigene Wissen sich wie ein Panzer um das Herz legt, so daß es sich zusperrt und Gott nicht mehr empfangen kann, wenn er kommt. Ich kenne sehr gebildete Männer, bewandert in den Methoden logischer Forschung, die es gleichwohl nicht verschmähen, von den Minäern zu lernen.«
  Die Nacht war so still, daß einem das leise Knacken eines brechenden Zweiges laut schien; das bläuliche Dunkel schien noch dunkler durch die vielen, vag leuchtenden Insekten. »Die Melodie, die Sie mir da singen, ist mir sehr vertraut«, kicherte der dünne Justus. »Zurück in die Wüste, fort von der Zivilisation, fort vom Denken, zurück zur reinen Schau: dann findet ihr Gott. Alle diejenigen, denen Gott Urteilskraft versagt hat, predigen das mit Inbrunst. Diejenigen aber, die es predigen, trotzdem sie denken können, werden lediglich aus Feigheit zu Verrätern am Geist: weil sie nämlich Angst haben vor ihren eigenen Erkenntnissen.«
  Josef, nach einer Weile, wagte sich weiter vor. Es drängte ihn sehr, in dem Zwiespalt, der ihn jetzt am meisten bedrückte, das Urteil gerade dieses Justus anzurufen; denn ihn allein anerkannte er als zuständigen Richter. »Vor kurzem«, gestand er, und seine Stimme war auffallend weich und zaghaft, »lag es in meiner Hand, etwas Entscheidendes zugunsten der Minäer zu tun. Ich habe es nicht getan. Manchmal glaube ich, daß das falsch war; manchmal scheint mir, daß ich mich nicht hätte drücken sollen.« Er wartete ängstlich, als hinge alles davon ab, auf die Antwort des Justus.
  Der aber lachte und erwiderte, gutmütig geradezu: »Sie sind ein Narr, mein Josef. Daß Sie sich da gedrückt haben, war die erste vernünftige Tat Ihres Lebens.« Und Josef freute sich, daß dieser ihn freisprach, er war glücklich und ihm sehr freund.
  Justus aber redete weiter. Hochmütig, hart, scharf kam seine Stimme durch die laue Nacht: »Nein, mein Lieber, erwarten Sie sich nichts von der engbrüstigen, kurzatmigen Doktrin der Minäer. Ihre Lehre ist nur auf Schwächlinge berechnet. Es ist leicht, auf ein süßes Jenseits zu hoffen, das man durch bloßen Glauben erlangen kann. Daß einer für alle gelitten hat, so daß die andern dadurch ihr Teil Leidensverpflichtung los sind, diese Lehre ist mir zu wohlfeil. Und so simpel das Dogma der Minäer ist, so verstiegen ist ihre Moral. Schon wir verlangen viel. Daß man seinen Nächsten nicht hassen soll, ist eine harte Forderung; immerhin kann man sich mit viel Willenskraft vielleicht dazu erziehen. Daß man aber die linke Wange hinhalten soll, wenn der andere einen auf die rechte schlägt, das ist übermenschlich, unmenschlich und also verurteilt, ein schönes akademisches Ideal zu bleiben. Nein, mein Josef, kommen Sie mir nicht mit der bequemen Weisheit vom Nichttun und vom Verzicht.«
  »Sie müssen zugeben, mein Justus«, brachte nach einer Weile Josef einen anderen Einwand, »daß unter den Juden, abgesehen von den paar Hellenisten, heute die Minäer die ein zigen sind, die noch an der universalistischen Tendenz der Schrift festhalten.«
  »Das Weltbürgertum dieser Leute«, sagte wegwerfend Justus, »ist ein Massenartikel wie alles, was sie lehren. Sie erkaufen sich ihren Universalismus durch Preisgabe alles dessen, was das Judentum an großer, starker Tradition besitzt, an geistgewordener Geschichte. Weltbürgertum will erworben sein. Man muß Nationalismus gespürt haben, um zu wissen, was Weltbürgertum ist. Wenn ich wählen soll zwischen den Doktoren und den Minäern, dann ziehe ich die Doktoren vor. Ihr spitzfindig enger Nationalismus ist widerlich: aber sie ergeben sich wenigstens nicht, sie kämpfen. Sie verlangen, daß man in der Erwartung eines aktiven, gefährlichen Messias lebe, dessen Erscheinen man überdies selber durch das eigene Verhalten beschleunigt oder verzögert. Die Minäer beschränken sich darauf, einfach zu verzichten. Die Aufgabe ist: sich nicht national zu verkrusten und sich trotzdem nicht in farbloses Gemengsel zu verflüchtigen. Die Doktoren haben diese Aufgabe nicht gelöst, aber die Minäer noch weniger.«
  Er verstummte. Sie standen auf. Schweigend gingen sie durch die Nacht. Als sie fast schon am Hause angelangt waren, fragte Josef, was er den andern schon einmal vor vielen Jahren in Rom gefragt hatte: »Was soll ein jüdischer Schriftsteller heute tun?« Aber der Hagere gab keine Antwort mehr. Er hob nur die Schultern; es sah seltsam aus, wie die linke Schulter ohne Arm sich hob, und Josef wußte nicht, ob es nicht eine Gebärde der Hoffnungslosigkeit war. Unter der Tür aber, sich verabschiedend, vielleicht in Erinnerung an einen Satz, den er bei dem ersten Zusammentreffen mit Josef geäußert, sagte Justus: »Es ist seltsam. Seitdem sein Tempel zerstört ist, ist Gott wieder in Judäa.«
  War das eine Antwort?
  Am andern Tag traf der Paß des Justus für Cäsarea ein, und Justus reiste fort.
  Josef aber, in Erinnerung an das Nachtgespräch an der Zisterne, schrieb an diesem Tage den »Psalm von den drei Gleichnissen«.
Denen ich zugehöre,
Hat Jahve auferlegt,
Das Salz zu sein seiner Erde.
Wie aber sollen wir es anstellen, das Salz zu sein,
Da des Wassers viel ist
Und wir vergehen würden im Wasser,
Für immer uns auflösend ins Nichts,
So daß unser keine Spur bliebe und kein Geschmack
Und unsere Sendung verloren wäre?
Ich will nicht verloren sein.
Ich will nicht das Salz sein.

Oh, der Lust, Feuer zu sein, Das abgeben kann von seiner Kraft
Und doch nicht weniger wird und nicht erlischt. Glückliches Licht, glückliche Flamme.
Aber solche Gabe hat allein der brennende Dornbusch.
Selbst Mose, da er nach der Flamme griff,
Versengte sich den Mund
Und ward schwer von Wort und ein Stammler.
Wie dürfte mir Geringem träumen von solcher Gabe.
Ich kann nicht das Feuer sein.

Sinnlos vielleicht ist der schimmernde Bogen,
Wenn durch den Regen die Sonne bricht,
Vielleicht nur eine Freude der Kinder und Träumer.

Und dennoch war’s dieser Bogen gerade, Den Jahve sich ausersah zum Zeichen
Seines Bundes mit dem vergänglichen Fleisch. Laß mich solch ein Regenbogen sein, Jahve,
Schnell erlöschend, doch neu geboren immer wieder,
Schillernd in vielen Farben und dennoch aus einem Licht,
Eine Brücke von deiner Erde zu deinem Himmel,
Gemisch aus Wasser und Sonne,
Immer da,
Wenn Sonne und Wasser sich mengen.
Ich will nicht das Salz sein.
Ich kann nicht das Feuer sein.
Laß mich Regenbogen sein, Jahve.


Josef begann, sich auf seinem Gut zu Hause zu fühlen. Das Gespräch mit Justus hatte ihm Sänftigung gegeben. Er war viel allein, machte lange, einsame Spaziergänge, aber er schloß sich nicht ab von den Menschen. Er tauschte ruhiges Gespräch mit dem Verwalter Theodor, mit dem Gehorsamen, mit andern seiner Knechte und Mägde.
  Eines Tages in dieser besinnlichen Zeit ging er hinaus nach dem Vorwerk »Brunnen der Jalta«, wo Mara lebte. Mara errötete jäh, als er kam, aber es war nicht die böse, zornige Röte ihres ersten Wiedersehens. »Heil Mara«, begrüßte sie mit der üblichen, aramäischen Formel Josef, und »Friede mit dir, mein Herr«, gab sie ihm die Formel zurück.
  Dann aber fragte sie wie Dorion: »Was haben wir uns noch zu sagen?« Und da er schwieg, fügte sie hinzu: »Ich habe viel Arbeit. Die Weinberge sind verwildert, und die Früchte des Ölbaumes verkommen. Auch ist die hellfarbige, babylonische Eselin trächtig. Ihre Wartung erfordert Sorgfalt, und sie war sehr teuer.«
  »Laß mich hier sitzen und dir zuschauen«, bat er. Und er saß still und schaute ihr zu. Er war nach dem Lande Israel zurückgekommen, um sich Klarheit zu schaffen, aber sein Aufenthalt in Cäsarea und in Galiläa, in Samaria und in Emmaus, in Lud und in Jabne hatte ihm nur tiefere Verwirrung gebracht. Die Ruhe, die Kraft zum Werke, die er brauchte, konnte er nur hier auf seinem Gut finden.
  Er saß auf einer besonnten, kleinen Mauer und schaute Mara zu, wie sie arbeitete, barfuß, in dem breitrandigen Strohhut, der sie vor der Sonne schützte. Er saß still und ließ seine Gedanken treiben.
  Bevor die Winterstürme kommen und die Schiffahrt eingestellt wird, will er zurück in Rom sein; so hat er es sich vorgenommen. Wäre es nicht vielleicht weiser, im Lande zu bleiben und in Ruhe die Geschichte Israels hier zu schreiben? Aber wenn er hier arbeitet, wird nicht gerade das Land selber ihn stören, die übergroße Nähe der Dinge und Menschen, die Wirrnis der noch fließenden Ereignisse ringsum? Braucht man, um Geschichte zu schreiben, nicht Distanz, auch räumliche?
  So mag Boas auf Ruth geschaut haben, wie er jetzt sitzt und auf Mara schaut. Ruth war eine Moabitin, eine Fremde, eine Nichtjüdin, und gerade sie, erzählt die Schrift, wurde zur Stammutter Davids auserwählt. Die Schrift ist nicht eng und nicht nationalistisch. Jahve, erzählt sie ein andermal, zürnte dem Jona und strafte ihn, weil der sein Wort nur Israel weitergeben wollte und sich weigerte, es auch den Nichtjuden zu verkünden, der großen Stadt Ninive. So ist die Schrift. Er, Josef, hat die Nichtjüdin geheiratet, wie Mose die Midianitin. Aber er ist kein Mose, und seine Ehe hat kein gutes Ende genommen.
  Das Levirat ist eine merkwürdige Einrichtung. Wenn ein Mann gestorben ist, ohne seiner Frau einen Sohn zu hinterlassen, dann hat der Bruder des Mannes die Pflicht, die Frau zu ehelichen und ihr Kinder zu machen. Wieviel mehr Verpflichtung hat ein Mann vor einer Frau, deren einziger Sohn durch seine Schuld umgekommen ist. Viele der Doktoren preisen die Wiederverheiratung mit der Geschiedenen als edle, verdienstliche Tat. Wenn jetzt hier in der Sonne um die arbeitende Frau Kinder von ihm spielten, das wäre ein erfreulicher Anblick. Gamaliel ist ein kluger Herr und ihm zugetan; er würde, wenn Josef diese Frau von neuem ehelichte, Mittel und Wege finden, zu erwirken, daß alle diese Ehe als eine vollgültige anerkennen.
  Er saß still bis zum Abend und nötigte seinen Gedanken keine Folgerichtigkeit auf, sondern ließ sie kommen und gehen, wie sie wollten. Als es Abend wurde, rief Mara ihre Knechte und Mägde zum Essen. Er wartete, ob sie ihn nicht zum Bleiben einlade. Sie lud ihn nicht ein. Da grüßte er, ernst, höflich, und ging fort.

In der Stadt Lud wußte man offenbar noch nichts von dem Gutachten über die Minäer, von dem der Gouverneur dem Josef gesprochen hatte. Auch bedrängten ihn weder Channah noch der Acher noch gar Ben Ismael mit unbehaglichen Fragen, ob er bei Flavius Silva wegen ihrer Universität vorstellig geworden sei. Trotzdem war die Vertrautheit fort, die vor seiner Reise zwischen Josef und denen von Lud gewesen war. Er hatte zwar durch das Gespräch mit Justus viel von seiner früheren Sicherheit zurückgewonnen; trotzdem war es ihm leid, daß die in Lud ihn jetzt wie einen Fremden behandelten. Bestimmt hielt, trotz aller äußeren Höflichkeit, die heftige Channah ihn für einen Schwächling.

  Seltsam war die Haltung des Acher. Er bat Josef in sein Haus, sie aßen gemeinsam zu Abend, die beiden Männer und die schöne, braune Tabita. Der Acher war heute nicht so gesprächig wie sonst. Josef, von dieser Schweigsamkeit bedrängt, redete um so mehr, erzählte von dem Gouverneur, von Flavisch Neapel, von Liban, dem Stadtrat Akawja, sogar von Justus. Der Acher wandte ihm langsam sein fleischiges Gesicht zu, blinzelte ihn aus traurigen, wissenden Augen an, sagte unvermittelt: »Sie haben in Ihrem Leben viel getan, viel geredet und viel geschrieben, mehr als die meisten andern Menschen. Sicher waren Sie immer bestrebt, Ihr Reden und Ihr Tun in Einklang zu bringen. Merkwürdig, daß es Ihnen so selten geglückt ist.«
  Josef war überrascht von diesem plötzlichen, robusten Anwurf. Wäre nicht das Gespräch mit Justus gewesen, er hätte wohl heftig erwidert. Nun aber war ihm die bittere Rede des jungen Menschen fast lieber als die Stummheit der andern. Für die Vergangenheit mochte dieser recht haben, für die Zukunft bestimmt nicht. Und er erwiderte nichts.
  Die braune Tabita lag faul auf ihrem Speisesofa, schön und schläfrig. Der Acher sagte: »Ich habe übrigens Ihren Kosmopolitischen Psalm in griechische Verse gebracht.« Josef war voll brennender Spannung, wie seine Strophen im Griechischen des Acher klingen würden; doch er wagte nicht, ihn zu bitten, sie ihm herzusagen. Allein der Acher, nachdem er Josef eine kurze Zeit hatte warten lassen, begann von selbst. »Hören Sie«, sagte er, stellte sich hinter den Tisch, stützte die Hände auf, schaute vor sich hin, die Augen gesenkt, begann, gesammelt zu sprechen, in seinem langsamen, reinen Griechisch.
  Er hatte aber in seine Übertragung jede Schwingung, jeden Anklang der hebräischen Verse des Josef eingefangen. So, genauso, hätte Josef sein Gefühl Gestalt annehmen lassen, wenn er griechisch geboren wäre. Er war hingerissen von der Schönheit der Verse, wie sie jetzt in dem fremden, geliebten, gehaßten, ersehnten Idiom ihm ins Ohr und ins Herz drangen. Er sprang auf, umarmte den Acher, küßte ihn. »Sie müssen mit mir nach Rom kommen, mein Jannai«, bestürmte er ihn. »Wir müssen gemeinsam arbeiten. Wir müssen die ›Universalgeschichte‹ der Juden zusammen schreiben, Sie und ich. Sie dürfen nicht hierbleiben. Es wäre ein Verbrechen an Ihnen selber, an mir, an Israel, an der ganzen Welt.«
  Die Braune war durch die lauten, heftigen Worte Josefs vollends wach geworden, neugierig schaute sie auf ihn. Der Acher sagte, sie freundlich streichelnd: »Schlaf weiter, meine Taube.« Doch zu Josef sagte er, trocken: »Sie vergessen, mein Flavius Josephus, daß ich es dahin bringen will, daß mein Leben zu meinen Worten stimmt. Aber es freut mich, daß meine Übersetzung Ihren Beifall hat.«


Josef war kaum in Jabne angekommen, als ihn der Großdoktor zu sich bat. Gamaliel schien davon zu wissen, daß Josef in Cäsarea nichts für die in Lud unternommen hatte. »Ich kann mir unschwer vorstellen«, sagte er, »daß unsere gemeinsamen Freunde Ihnen mit ihrem alten Anliegen kamen. Es muß für den Autor des Kosmopolitischen Psalms eine große Versuchung gewesen sein, der nationalen Universität Jabne eine übernationale entgegenzustellen.« – »So war es«, sagte Josef aufrichtig. »Ich freue mich«, erwiderte Gamaliel, »daß meine Gründe in Ihrem Gemüt Anklang fanden. Das erleichtert mir die Bitte, die ich an Sie habe.« – »Hier bin ich«, antwortete formelhaft Josef.
  »Sie wissen«, begann, fest zupackend, der Großdoktor, »daß Flavius Silva von mir ein Gutachten über die Minäer verlangt hat?« – »Ja«, erwiderte Josef. »Ich höre«, fuhr Gamaliel fort, »daß der Gouverneur den Stadtrat Akawja begnadigen will. Haben Sie das erwirkt?« – »Ich habe davon gesprochen«, sagte Josef. »Der Gouverneur hat es Demetrius Liban zuliebe getan.«
  Der Großdoktor setzte sich dicht neben Josef, sprach zu ihm wie ein jüngerer Freund zum älteren, herzlich, vertraulich. »Es gibt viele schwebende Fragen zwischen Jabne und der Regierung in Cäsarea. Es wäre gut, wenn wir dort einen ständigen Vertreter hätten. Die Doktoren und das Volk zusammenzuhalten erfordert die ganze Kraft eines Mannes. Es geht über die Kraft eines einzelnen, die Judenheit auch noch vor Rom zu vertreten.« Und, ganz leichthin, als spräche er vom Wetter, bot er ihm an: »Wollen Sie mir die Außenpolitik abnehmen, Doktor Josef? Sie sind in diesen Fragen erfahrener als ich und unter den Juden derjenige, vor dem man in Rom die größte Achtung hat. Ich könnte mir denken, daß, wenn ein so geschickter Mann wie Sie unsere Sache führt, Rom uns in fünf oder sechs Jahren mehr Befugnisse einräumt, so daß allmählich das Kollegium von Jabne aus der religiösen Vertretung der Juden auch wieder zu einer politischen wird. Ich habe immer ohne Rückhalt zu Ihnen gesprochen, Doktor Josef, ich nehme an, Sie halten mich für ehrlich. Teilen Sie die Macht mit mir. Lassen Sie mir die Innenpolitik, und seien Sie unser Gesandter in Cäsarea. Seien Sie unser Repräsentant vor Rom. Sie allein können es.« Und, unvermutet in einen scherzhaften Ton übergehend, schloß er: »Sie müssen es tun, schon um meinen Doktoren neues Gezänk zu ersparen. Wenn Sie ablehnen, dann muß ich über kurz oder lang nach Rom. Bedenken Sie, was es dann für Debatten geben wird, ob ich die Sabbatgesetze übertreten und die Seereise nach Rom unternehmen darf.«
  Josef war ein Mann des Augenblicks, sein hageres Gesicht gab jede Regung wieder, und es kostete Gamaliel nicht viel Mühe, zu sehen, wie sehr sein Antrag ihn bewegte. Viele Gedanken gingen in Josef hin und her. Das Amt, das Gamaliel ihm anbot, war geeignet, seinem Leben Rückgrat zu geben, und ließ ihm trotzdem Muße für seine Bücher. Süß und lieblich ist die Heimat. Als er auf der kleinen Mauer saß, in der Sonne, auf dem Vorwerk »Brunnen der Jalta«, hat er davon geträumt, im Lande zu bleiben, auf dem Boden, der so lange seine Väter getragen, in der Luft, die sie so lange geatmet. Es ist ein ver lockendes Amt, er könnte vermitteln zwischen denen in Lud und denen in Jabne. Mit diesem Gamaliel kann er sich leicht verständigen, und mit denen in Lud ist gut reden. Es wäre ein schönes Leben, das halbe Jahr in Cäsarea, das halbe Jahr auf seinem Gut, mit Mara. Er könnte sich entspannen, könnte aramäisch sprechen, wäre nicht der Fremde wie in Rom. Hier hat er gesehen, was alles ihm in Rom gefehlt hat. Wenn er mit Männern wie diesem Gamaliel, dem Acher, dem Ben Ismael zusammen ist, dann spürt er, daß hier seine Wurzeln sind, und selbst die schwerfälligen Meditationen der galiläischen Bauern und die abstrusen Diskussionen der Doktoren, ihr Singsang, ihre läppischen Streitigkeiten, gehören zu ihm. Es ist gewiß, daß ihm aus alldem Kraft zuwächst. Ist es nicht vermessen, auf diese Kraft zu verzichten, sich auf sich allein zu stellen?
  Aber sein Werk, seine Geschichte? Wenn er sie hier schreibt, wird sie nicht gefärbt werden? Wird sich nicht notwendig der kleine, alberne Alltag der Provinz in sie einschleichen?
  Gamaliel, als hätte er seine Gedanken erraten, fuhr fort: »Es ist Ihnen geglückt, die Geschichte des Krieges so zu schreiben, daß die Juden sie ohne Erbitterung lesen und die Römer mit Freude. Aber ich fürchte«, und er wies auf das Mosaik des Fußbodens, das die Traube darstellte, das Emblem Israels, »es ist noch nicht soweit, daß einer gleichzeitig vom Saft der Traube und von der Milch der Wölfin trinken kann. Gott hat Ihnen viel Kraft mitgegeben; aber man muß wohl vom Wuchs der alten Propheten sein, um beides zeitlebens verdauen zu können. Rom ist groß; wenn einer dort ist, liegt das Land Israel weit dahinten und sieht sehr gering aus. Die Fleischtöpfe Roms quellen über, hier sind Milch und Honig spärlich geworden.« Er erhob sich, aber er ging nicht an den Pfeiler, um eine Rede zu halten, vielmehr blieb er vor Josef stehen und sprach ihm freundschaftlich zu, mit Wärme, ja, er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin jünger als Sie, und vielleicht heißen Sie mich zudringlich. Ich gebe zu, bisher ist es Ihnen geglückt, gleichzeitig Römer und Jude zu sein, und wenn wir alle glaubten, jetzt könnten Sie nicht mehr aus, jetzt müßten Sie sich festlegen, dann fanden Sie noch immer eine Möglichkeit, auf beiden Schultern zu tragen. Aber wenn Sie jetzt zu Schiff gehen, um nach Rom zu fahren, dann, fürchte ich, ist das Ihre letzte Entscheidung, eine endgültige. Ziehen Sie es vor, griechischer Schriftsteller zu sein oder jüdischer? Sollen die Späteren Sie den Geschichtsschreiber des jüdischen Volkes nennen oder den des Palatin?«
  Gamaliel sprach dringlich, werbend, und er hatte den rechten Ton getroffen, Josef war sehr gelockt. Das Land zog ihn an, die Menschen, das Geschäft, das dieser ihm anbot, der Mann selber, seine Jugend, seine Kraft, seine schlaue Gradheit, sein Schweigen, sein Reden. Es war reizvoll, Seite an Seite mit diesem Manne die öffentlichen Dinge der Juden zu ordnen. Aber war es nicht besser, statt im kleinen Geschichte der Juden zu machen, im großen Geschichte der Juden zu schreiben?
  Gamaliel merkte, daß jedes Wort weiter seine Rede nur abschwächen werde. Er drängte nicht auf Antwort. »Überdenken Sie meinen Vorschlag in Ruhe«, schloß er. »Sie haben Zeit, bis der Winter kommt und die Schiffahrt schließt.«

Bevor der Großdoktor dem Kollegium die Forderung Roms amtlich mitteilte, berief er jene von den Doktoren zu sich, die als Freunde der Minäer galten, um mit ihnen zu beraten.
  Bestürzt saßen Ben Ismael und seine Freunde in Gamaliels Studierzimmer. Sogleich erkannten sie, worum es ging, daß man, wenn man sich schützend vor die Minäer und ihre Wanderprediger stellte, neue Bedrückung Israels durch Rom heraufbeschwor. Sie sahen sich an, sie sahen den Großdoktor an, sie wußten keinen Rat.
  Schließlich mußte Gamaliel selber den Niedergeschlagenen Mut zusprechen. Ihm liege alles daran, erklärte er, eine Spaltung der Judenheit zu vermeiden. Fürs erste müßten natürlich die Christen, um Rom nicht weiter zu reizen, ihre nach dem Beschneidungsverbot doppelt gefährliche Propaganda unter den Nichtjuden aufgeben. Falls sie das täten, sehe er eine schwache Möglichkeit, sie weiter in der Gemeinschaft zu halten. Wenn auch manchmal unter ihnen Ansichten laut würden, die hart an »Leugnung des Prinzips« streiften, so wichen doch die meisten der Minäer nur in geringfügigen Punkten von der Lehre Jahves ab. Ihm scheine es das beste, die Führer der Minäer disputierten öffentlich und in Ruhe mit den Doktoren über die strittigen Fragen. Er hoffe sehr, eine solche Disputation werde dem Kollegium die gutachtliche Erklärung ermöglichen, die Christen gehörten der jüdischen Gemeinschaft an.
  Selbst diejenigen unter den Doktoren, die Gamaliel trotz seiner bisherigen Neutralität für einen stillen Feind der Minäer hielten, mußten zugeben, daß sein Angebot außerordentlich fair war. Die Christen selber gestanden zu, daß in ihren Lehrmeinungen viel Wirrwarr sei. Eine Disputation, wie Gamaliel sie vorschlug, erlaubte den Führern der Minäer, ihre Glaubensgrundsätze, ohne Preisgabe des Wesentlichen, den Dogmen der Doktoren anzupassen. Der Vorschlag des Großdoktors wies den Christen einen Ausweg aus der bedrängten Lage, er legte großmütig die Entscheidung, ob sie künftighin in der Gemeinschaft bleiben wollten, in ihre eigene Hand. Die minäerfreundlichen Doktoren priesen die Weisheit und Milde Gamaliels, stimmten zu.
  Doktor Ben Ismael übernahm es, dem Wundertäter Jakob aus dem Dorfe Sekanja als dem anerkannten Führer der Minäer in den Bezirken Lud und Jabne den Vorschlag des Großdoktors zu übermitteln. Es geschah, was Ben Ismael im geheimen gefürchtet hatte. Jakob lehnte, ohne auch nur eine Minute zu überlegen, das Angebot ab. Sein glattes, sachliches Bankiergesicht rötete sich ein wenig, er blieb ruhig, aber es war eine erkämpfte Ruhe.
  »Wir rufen unsere Wanderprediger nicht zurück«, führte er aus. »Dies wäre für uns das schlimmste Verbrechen, in Wahrheit, ›Leugnung des Prinzips‹. Denn uns bleibt Jahve der Gott nicht nur Israels, sondern der ganzen Welt, und wir lassen es uns nicht nehmen, seine Lehre, wie er es uns aufgetragen, unter den Heiden zu verbreiten, auch wenn die Römer die Beschneidung verboten haben. Wir verkünden unsern Glauben, wir freuen uns, wenn immer mehr Menschen ihn annehmen, denn wir haben an uns selber die Erfahrung gemacht, daß dieser Glaube ein großer Trost und daß, wer in ihm lebt, geborgen ist.
  Auch mit den Doktoren über unsern Glauben zu disputie ren, lehnen wir ab. Wir könnten es nicht, selbst wenn wir wollten. Keiner von uns darf sich erdreisten, für einen andern zu sprechen als für sich selber. Dies eben unterscheidet uns von den Doktoren, daß wir niemand auf eine bestimmte Lehrmeinung festlegen wollen. Wir wiegen nicht logische und theologische Argumente gegeneinander ab, wir versenken uns in die Geschichte unseres Heilands. Aus seinen Worten und aus unserm Herzen holen wir unsern Glauben. Wir erlauben einem jeden von uns, die Worte des Heilands auf seine eigene Weise zu verstehen. Keiner ist gebunden an die Auslegung eines andern. Deshalb nennen viele von uns sich ›Gläubige‹, weil wir vorgeschriebene Meinungen nicht einfach annehmen, sondern weil jeder von uns gehalten ist, sich seinen Glauben aus der eigenen Brust herauszugraben.
  Wir haben keine Grenzen für unsern Glauben, wir wollen keine haben. Wir haben nicht einmal einen gemeinsamen Namen. Bald nennen wir uns Gläubige, bald nennen wir uns Arme, bald nennen wir uns Christen. Wir müssen es den Doktoren überlassen, unsern Glauben zu definieren; sie haben mehr Vertrauen in ihre Weisheit. Wir selber können unser Gemeinsames nicht bei einem Namen nennen, wir wollen es auch nicht, wir sind zu demütig dazu.
  Wir halten uns für Juden. Wir glauben, was die Doktoren glauben, wir halten die Gebräuche, wie die Doktoren sie uns vorschreiben. Aber wir glauben mehr, und wir stellen unser Leben unter strengere Grundsätze. Wir glauben nicht nur an die Priester, wir glauben auch an die Propheten. Wir geben dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber wir glauben nicht, daß ein Verbot des Kaisers uns von der Verpflichtung entbinden kann, die Gebote Jahves zu halten. Und wir glauben, daß wir Kinder nicht nur eines jüdischen Gottes sind, sondern Gottes schlechthin. Wir wollen keinen aus seinen Grenzen herauslokken, der sich in seiner Enge wohl fühlt, aber uns ist aufgegeben, die Weite Jahves zu rühmen. Wir wollen Theologie, aber darüber hinaus wollen wir Religion. Wir wollen eine jüdische Kirche, aber darüber hinaus wollen wir Judentum.
  Sehen Sie nicht, Sie, mein Doktor und Herr Ben Ismael, der es gut mit uns meint und unserm Glauben nicht fern ist, sehen Sie nicht, daß der Großdoktor uns mit seinem Vorschlag nur eine Schlinge legen will? Man wird uns Fragen stellen, auf die wir weder mit Ja noch mit Nein werden antworten können, man wird protokollieren, man wird statt eines Gutachtens das Protokoll den Römern vorlegen, man wird erreichen, daß die Römer unser Christentum für eine unerlaubte Religion erklären. Die Doktoren werden uns nicht ausschließen, sie werden es den Römern überlassen, uns zu bannen, so wie sie seinerzeit die Tötung des Messias den Römern zuschoben, und sie werden sich die Hände in Unschuld waschen.
  Wenn Sie mich fragen, mein Doktor Ben Ismael, was ich glaube, dann forsche ich gern in meinem Herzen und lege vor Sie hin, was ich finde. Wenn einer schlichten und ehrlichen Gemütes zu uns kommt und Erläuterungen haben will, wir ruhen nicht Tag und Nacht, bis wir das rechte, einfache Wort gefunden haben. Aber es käme mir wie Lästerung vor, wenn ich mich im Lehrhaus von Jabne hinstellte und mit den Doktoren um die Einzelheiten meines Glaubens feilschte. Sollen sie uns verbieten oder uns von den Römern verbieten lassen. Ich will mir nicht die Duldung der Doktoren damit erkaufen, daß ich nur die halbe Wahrheit verkünde und die halbe unterschlage. Lieber verkünde ich geächtet und verfolgt die ganze. Wer die halbe Wahrheit sagt, den speit Gott aus seinem Mund. Selig sind, die um der ganzen Wahrheit willen Verfolgung leiden.«

Sehr bald und auf bittere Art sollte Doktor Ben Ismael erfahren, daß Gamaliels Loyalität Verstellung war. Der Angriff kam wuchtig und unvermutet.
  Es gab ein uraltes Gebet, das dreimal täglich zu sprechen alle Juden seit Jahrhunderten verpflichtet waren und das seit der Zerstörung des Tempels als Ersatz des Opfers galt: die Achtzehn Bitten. Einige von diesen Bitten, die sich mit dem Wohl der Gemeinschaft befaßten, hatten durch die Zerstörung des Tempels ihren rechten Sinn verloren und waren widerspruchsvoll geworden. Man hatte sie provisorisch durch einige Bittsprüche aus der Zeit Juda Makkabis ersetzt. Allein auch diese, trotzdem sie aus einer Zeit der Unterdrückung und des zerstörten Tempeldienstes herrührten, wollten nicht recht zu den heutigen Verhältnissen stimmen.
  Unvermittelt nun, bei einer Debatte über die Revision des Lobspruches, der beim Brechen des Brotes zu sagen war, drängte Doktor Helbo Bar Nachum darauf, daß der Text auch der drei nationalen Bitten eine eindeutige, der heutigen politischen Situation angepaßte Fassung erhalte. Vor allem die Bitte um die Wiedererrichtung Jerusalems gebe in ihrer jetzigen vagen Formulierung Anlaß zu vielen Mißdeutungen; er habe mit eigenen Ohren gehört, wie Halbgläubige und sogar ganz Ungläubige dieser Bitte ihren eigenen, ketzerischen Sinn unterlegten. Leute, die verstockt und tückisch behaupteten, der Messias sei längst erschienen und die Zerstörung des steinernen Jerusalem sei verdiente Strafe und ein Segen gewesen, selbst solche Leute sprächen bedenkenlos die große und erschütternde Bitte um die Wiedererrichtung Jerusalems mit und sagten amen, wenn der Vorbeter sie spräche. Sie erklärten frech und einfach, es handle sich lediglich um die Wiederherstellung eines Jerusalem »im Geiste«. Doktor Helbo war ein feister Herr mit mächtigem, fleischigem Kinn und einer tiefen Stimme, deren Grollen den Raum gewaltig erfüllte. »Was meinen die Doktoren und Herren?« schloß er seine Rede und sah sich erwartungsvoll um.
  Das Kollegium pflegte den Debatten über »Leugnung des Prinzips«, wie er und die Doktoren Jesus und Simon der Weber sie immer von neuem anschnitten, ohne Teilnahme zuzuhören. Doktor Helbo wußte, man wollte die Entscheidung der heiklen Frage, ob man die Minäer als Juden gelten lassen solle, so lange wie möglich hinausschieben. Wagen aber die Kollegen auch jetzt noch, nachdem die Regierung das Gutachten eingefordert, der Debatte auszuweichen? Er blickte hinüber zu den Sitzen der Minäerfreunde. Die schauten einander unbehaglich an. Sie wußten nicht recht, worauf eigentlich Doktor Helbo hinauswollte. Sie zogen es vor, zu schweigen.
  Da niemand sich meldete, stand Doktor Jesus aus Gophna auf und sprach. Er war ein ruhiger Herr und pflegte seine Worte zu messen. Auch ihm, führte er aus, komme es wie Gotteslästerung vor, wenn seine Gebete sich im Ohre Jahves mischten mit den Gebeten von »Leugnern des Prinzips«. Das eigene Gebet scheine ihm verschmutzt, wenn der Nebenmann die gleichen Worte aufsteigen lasse, ihren Sinn bösartig ins Gegenteil verrenkend. Man könne nicht aus frommem Herzen amen sagen zu der Bitte um den Wiederaufbau der Stadt, wenn man neben sich ein Amen höre aus dem Munde eines Menschen, der die Zerstörung dieser Stadt für segensreich erkläre, ein verdeuteltes Amen also, eine Ketzerei. Notwendig schleiche sich da auch dem Ruhigsten Grimm über die Heuchler ins Herz, und statt sich durch das Gebet Verdienst zu erwerben, falle man in Sünde.
  Man erwartete, jetzt werde ein Antrag kommen. Aber nein, auch Doktor Jesus begnügte sich mit der Konstatierung. Sollte, fragten sich die Minäerfreunde, auch diese Debatte wieder nur Stimmungsmache sein, oder glaubten es die drei an der Zeit, loszuschlagen?
  Sie schlugen los. Simon der Weber bat ums Wort. Er fragte den Doktor und Herrn Helbo, ob der ein Mittel wisse, den Gottesdienst von dem bösen Gift zu befreien, davon er und der Kollege Jesus gesprochen.
  Doktor Helbo wußte ein Mittel. Bei der flüchtigen Revision des Achtzehngebetes vor zehn Jahren hatte man eine der Bitten einfach getilgt, ohne sie zu ersetzen, und so den Grundrhythmus des Gebetes zerstört. Jetzt also erreichten die Bitten nicht einmal mehr die Achtzehn, die heilige Zahl des Lebens. Man möge endlich, schlug Doktor Helbo vor, diese ursprüngliche Zahl wiederherstellen, und zwar möge man die drei Bitten um Wiedererrichtung des Tempels und der Nation ergänzen durch ein Fluchgebet gegen jene Verderber am Wort, die diese Bitten durch Mißdeutung »ins Geistige« verfälschen wollten. Eine solche Regelung stelle nicht nur die ursprüngliche Ordnung des Gebetes wieder her, sondern sie beseitige auch die Gefahr, von der er und seine Kollegen gesprochen; denn eine solche Bitte könnten die Ketzer schwerlich mitsprechen, zu einer solchen Bitte könnten sie schwerlich amen sagen.
  Jetzt wußten Ben Ismael und seine Freunde, worum es ging. Keiner der drei hatte die Minäer mit Namen genannt, aber es war klar, daß sie die Achtzehn Bitten zur Waffe machen woll ten, die Christen aus den Synagogen und aus der Gemeinschaft zu vertreiben. Die Minäer hielten darauf, am Gottesdienst der Allgemeinheit teilzunehmen. Sie zitierten gern den Propheten: »Gebet ist besser denn Opfer«, die uralten Achtzehn Bitten waren ihnen so teuer wie allen andern Juden. Sie liebten von ganzem Herzen den frommen, kunstlosen Gesang, mit dem die Bitten vorgetragen wurden, in vielen Gemeindehäusern stellten sie die Vorbeter. Wenn jetzt, wie Doktor Helbo vorschlug, mit deutlicher Hinzielung auf die Minäer eine Fluchbitte eingefügt wurde, dann konnten diese nicht, wie es Vorschrift war, dazu amen sagen, sie konnten nicht selber Jahve anflehen, sie auszurotten. Sie mußten aus den Bethäusern weichen.
  Der Antrag war von den dreien klug ausgesonnen. Nahm man ihn an, so zwang man den Minäern nicht nur die Entscheidung auf, der sie bisher ausgewichen waren, sondern man vermied auch das Odium, den Römern durch das Gutachten den Vorwand für eine Verfolgung der Minäer zu liefern. Man konnte dem Flavius Silva schlicht erklären: es gibt ein einfaches Mittel, festzustellen, wer Jude ist, wer nicht. Unsere Lehren sind in den Achtzehn Bitten festgelegt. Wer sie mitspricht, wer zu ihnen amen sagt, ist Jude. Wer das nicht tut, gehört nicht zu unserer Gemeinschaft. Es stand durchaus bei den Minäern, ob sie zu der Fluchbitte gegen die Ketzer amen sagen wollten oder nicht.
  Ben Ismael erkannte rasch die Gefahr, die in dem Antrag Doktor Helbos stak. Durch eine nicht unbillige liturgische Vorschrift um das peinliche Gutachten herumzukommen mußte den meisten der Doktoren als eine gesegnete Lösung erscheinen. Aber statt auf Mittel zu sinnen, wie man den gefährlichen Schlag parieren könne, quälte den Ben Ismael eine einzige Frage: war das bösartige Manöver von den dreien allein ersonnen, oder hatte sein Schwager Gamaliel es ausgedacht? Es hätte ihn in der Seele geschmerzt, Gamaliel im Bunde mit den dreien zu wissen.
  Der Großdoktor überhob ihn rasch aller Zweifel. Er ergriff selber das Wort, meinte kurz und trocken, die Lösung, die Doktor Helbo gefunden, scheine ihm gerecht und weise; er pflichte ihr bei. In Ben Ismaels großem Kopf wirbelten hundert bittere Gedanken, anklägerische, empörte, resignierte. Noch nicht viele Wochen war es her, da hatte er zu Channah gesagt, nie würden seine Freunde einen Antrag gegen die Minäer durchgehen lassen. Jetzt war die Forderung der Römer nach dem Gutachten dazwischengekommen, man konnte keinen mehr tadeln, der dem höllisch schlauen Antrag Helbos zustimmte; im Gegenteil, man mußte als Feind der Gemeinschaft erscheinen, wenn man ihn bekämpfte. Er war so betäubt, daß er nicht Worte fand, den dreien und dem Großdoktor zu erwidern.
  An seiner Statt erwiderte einer seiner Freunde. Das Gebet, führte er aus, sei dazu da, von Gott Gnaden für sich selber zu erbitten, nicht Rache an andern; man müsse es Jahve überlassen, seine Leugner und Lästerer zu bestrafen.
  Doch damit erwirkte er nur, daß Doktor Simon mit dem Beinamen der Weber ein zweites Mal aufstand und jetzt, nach dem Eingreifen des Großdoktors, in der Sicherheit des Sieges, ganz massiv und deutlich wurde. Man müsse, erklärte er, die Ketzer zwingen, ihr Gesicht zu zeigen, jene Zweideutigen, die da behaupteten, Juden zu sein, die aber götzendienerisch vor einem Halbgott knieten, der ihnen angeblich die Last ihrer Sünden abgenommen habe. Der Meinungen seien viele, manche seien gut und manche weniger gut, viele Wohnungen seien in Jahves Haus, aber kein Raum sei für jene, die durch den Glauben an diesen Halbgott verstießen gegen das ein und einzige Bekenntnis der jüdischen Lehre: »Höre, Israel, Jahve unser Gott ist einzig.«
  Wenn der Großdoktor jetzt hätte abstimmen lassen, dann hätten sicher sechzig von den siebzig Herren des Kollegiums für den Antrag Helbo gestimmt. Aber Gamaliel blieb loyal wie stets. Ihm scheine, schloß er die Sitzung, es hätten sich einzelne erzürnt, und er schlage vor, die Abstimmung auf den andern Tag zu verschieben; denn es sei nicht gut, eine so wichtige Entscheidung erregten Gemütes zu treffen.

Ben Ismael schlief nicht in dieser Nacht. Freunde waren um ihn, auch der Minäer Jakob war eilends aus seinem Dorfe Sekanja nach Jabne gekommen. Sie alle saßen um Ben Ismael in Bestürzung und Trauer.

  Der Minäer Jakob sagte: »Ihr wißt, daß wir Juden sind und das Gesetz nicht verletzen wollen. Unser Messias ist gekommen, das Gesetz zu erfüllen. Wir sind friedfertige Leute. Schließt uns nicht aus. Es ist eine alte Lehre und eine neue Lehre. Wir glauben an die neue, aber wir verwerfen nicht die alte. Wenn ihr uns ausschließt, werden immer mehr Heiden zu uns kommen, es wird in unserm Glauben immer mehr von der neuen Lehre sein und immer weniger von der alten. Zwingt uns nicht, um der neuen Lehre willen die alte aufzugeben.«
  Channah saß finster und heftig unter den Männern. Sie beschwor sie, den Antrag abzulehnen und, falls sie überstimmt würden, aus dem Kollegium auszuscheiden. Viele aus dem Volk würden ihnen anhangen, und wenn man mit den Minäern zusammengehe, werde man denen in Jabne die Stirn bieten können.
  Ben Ismael war in großer Not. So viel sah er: wenn der Antrag durchging, dann wurden die Riten unter den Minäern ausgelöscht, und wenn er nicht durchging, kam von den Römern neue Bedrückung über die Seinen. Lieb waren ihm die Minäer, viele ihrer Lehren waren seinem Herzen teuer. Aber teurer war ihm Israel und sein Bestand.
  Er ging zur Sitzung des Kollegiums, ohne einen Entschluß gefaßt zu haben. Um so zielbewußter hatten die Gegner vorgesorgt. Sie drängten darauf, daß zuerst einmal der Inhalt der neuen Bitte klar festgelegt werde, nicht aber ihr Wortlaut. Es wurde bestimmt, daß sie den Fluch Jahves herabflehen solle auf zwei Kategorien von »Leugnern des Prinzips«: auf diejenigen, die nicht an Jahves Einheit glaubten, sondern an einen Messias, der als Mittler zwischen ihm und den Menschen bereits erschienen sei, und auf diejenigen, die da glaubten, sie könnten aus dem eigenen Herzen ohne Hilfe der überlieferten mündlichen Lehre und ihrer gottbefugten Träger das Gesetz ausdeuten.
  Ben Ismael und die Seinen, als man darüber Beschluß faßte, sagten weder ja noch nein. Der Antrag wurde mit großer Mehrheit angenommen. Die Sitzung hatte kurz gedauert; aber Ben Ismael war müde, als hätte er schwere körperliche Arbeit getan. Er sehnte sich nach seiner Stadt Lud. Wahrscheinlich wird er nie mehr nach Jabne zurückkehren. Er wird aus dem Kollegium ausscheiden, ohne Haß, doch müde des vielen, unnützen Redens, wird in Lud dem Studium der Lehre weiterleben, ohne Auflehnung gegen die Doktoren, ohne Schüler, für sich, für Channah, für seinen Freund, den Acher.
  Doch als er und die Seinen schon gehen wollten, nahm Doktor Simon, mit dem Beinamen der Weber, noch einmal das Wort. Ben Ismael, erklärte er, habe geschwiegen und sich der Abstimmung enthalten. So tiefen Respekt er persönlich vor so milder Gesinnung habe, so sei es doch in einer Zeit wie dieser notwendig, auch den Anschein zu vermeiden, als halte es ein Mitglied des Kollegiums mit jenen Frevlern, auf die Gottes Fluch herabzuflehen der Rat soeben beschlossen habe. Wenn gar ein Mann von der Gelehrsamkeit und dem verdienten Ansehen Ben Ismaels in einen derartigen Verdacht komme, so tue das der Autorität Jahves schweren Abbruch. Es komme darauf an, vor allem den Millionen Juden des Auslands darzutun, daß nur eine Lehre gelehrt werde in Jabne. Er bedaure, daß Ben Ismael geschwiegen habe, und bitte das Kollegium, auf Mittel zu sinnen, wie ein solcher Schade gutgemacht werden könne.
  Betretenes Schweigen war. Dann erhob sich Doktor Helbo. Wieder war er es, der das Mittel wußte. Ben Ismael, meinte er, sei von Jahve mehr als die andern mit der Gabe des Wortes begnadet, und den Gebeten, die von ihm stammten, eigne besondere Tiefe und Inbrunst. Man möge also Doktor Ben Ismael mit der Abfassung der neuen Bitte betrauen. Wenn er sie abfasse, dann habe man die Gewähr, daß die rechten Worte gefunden würden, und außerdem werde vor aller Welt die Einheit Jabnes und die Einheit der Lehre dokumentiert.
  Die Rede Helbos war ziemlich lang. Ben Ismael, während er sprach, schaute vor sich hin, sein blasses Gesicht bewegte sich nicht. Erst gegen Ende sah er hoch, aber er sah nicht Helbo an, sondern seinen Schwager, den Großdoktor. Eine ganze Zeit saßen die beiden Männer Auge in Auge, doch ohne Drohung, betrachtsam eher und gespannt. Es war über Ben Ismael, sowie er Helbos Absicht erkannt hatte, eine eisige Ruhe gekommen, aber inmitten dieser eisigen Ruhe bewegten sich in schnellstem Ablauf seine Gedanken. Er zweifelte nicht daran, daß der Antrag Helbos eine mit dem Großdoktor abgemachte Sache war. Aber er spürte nicht wie gestern einen mit Verachtung gemischten Haß. Gamaliel wollte vernichten, was Israel schädigen konnte, und ihn hielt er für einen Schädling. Er war ein einzelner, der nichts von seinem Einzelglauben aufgeben wollte, und die Gemeinschaft hat die Tendenz, den auszutilgen, der an seinem Einzelwesen festhält. Gamaliel ist nicht sein Feind. Er achtet ihn, niemals würde er ihn kränken, wenn er ihm, einzelner dem einzelnen, gegenübersäße. Aber da sitzt er, Verkörperung der Gemeinschaft und also der Gemeinheit, und fühlt sich im Recht.
  Der Bock, den man früher in die Wüste gesandt hat, um die Sünde loszuwerden, hat es nicht geschafft, und der Jesus der Minäer, der der Bock sein wollte, das Lamm, das die Sünde der Welt auf sich nimmt, hat es auch nicht geschafft. Denn warum sonst sollte Jahve ihm auflegen, was er ihm auflegt?
  Wenn einer hier unter diesen Doktoren, dann will er die Minäer schonen, dann hat er Verständnis für die Weite und Milde ihrer Lehre. Jetzt wollen sie, daß gerade er sie verfluchen und aus der Gemeinschaft ausstoßen soll.
  Es ist eine bittere Wahl. Er soll wählen zwischen Judentum und jüdischer Kirche und weiß doch, daß Judentum nicht möglich ist ohne diese Kirche.
  Er kennt genau Gamaliels Beweisführung: wir sind gezwungen, einen Teil der Wahrheit preiszugeben, wenn wir sie nicht ganz preisgeben wollen. Ist aber die Wahrheit noch die Wahrheit, wenn ein Teil von ihr verleugnet wird? Aber hat nicht doch wieder Gamaliel recht: kann die Wahrheit bestehen, wenn nichts da ist, in dem sie sich verkörpert?
  Langsam hebt er die Hand, streicht sich, immer ohne Gamaliel aus dem Aug zu lassen, über die kahle Stirn, zupft mit mechanischer Bewegung an seinen Brauen, sie glättend. Sie haben es höllisch schlau angefangen, Gamaliel und seine Genossen. Wenn er tut, was sie von ihm verlangen, wenn er denen flucht, denen er wohlwill, dann klagen ihn die Minäer mit Recht an, er sei der Mann, der sie ausgestoßen. Und wenn er es nicht tut, dann stoßen die andern ihn aus, und mit Recht; denn dann ist neuer Vorwand da für die Römer, der Lehre zu mißtrauen und sie zu verfolgen. Und ob er es tut oder nicht tut, in jedem Fall ist neue Spaltung in Israel.
  Noch immer sitzt er vollkommen still, ein stattlicher Mann. Aber auf ihm ist eine ungeheure Last, wie damals am Versöhnungstag, als er nach seiner Wanderung mit Stab und Ranzen und Geldbeutel die Stufen des Lehrhauses erstieg, eine Schwere und Müdigkeit, ein unzähmbares Verlangen, nicht weiter zu denken, sich fallen zu lassen, in eine Ohnmacht zu entfliehen. Aber wie damals weiß er auch heute, daß er dieser Sehnsucht nicht nachgeben darf, daß er hier sitzen bleiben muß, den andern zu Ende hören und antworten.
  Doktor Helbo ist mit seiner Rede fertig. Alle jetzt schauen auf Ben Ismael. Nach einem endlosen Schweigen sagt Gamaliel: »Ich bitte den Doktor und Herrn Ben Ismael, sich zu äußern.«
  Ben Ismael steht nicht auf. Er hält sich ruhig, man sieht ihm nicht an, daß er nicht aufstehen kann. Aber sein großer Kopf mit der kahlen Stirn ist überaus blaß. Und seine tiefe Stimme klingt hohl und rostig, als er schließlich erwidert: »Ich werde das Gebet abfassen.«

Josef, bis in seine Grundfesten erbittert über die Brutalität, mit der man den milden Ben Ismael gezwungen hatte, seine eigene Sache zu verraten, ging zu dem Großdoktor. Scharf nagte ihn die Reue, daß er in Cäsarea nicht für die Universität Lud gesprochen hat. Er war entschlossen, Gamaliel ins Gesicht zu sagen, was er über seine Methode dachte, und ihm das angebotene Amt vor die Füße zu werfen. Ihn ekelte vor seiner Politik.
  Der Großdoktor unterbrach seine wilde Anklagerede mit keinem Wort. »Sie sind so jung und ungestüm«, sagte er, als Josef zu Ende war, und in seiner Stimme war Müdigkeit, Ironie und Neid.
  »Sie haben mir erklärt«, beharrte finster Josef, »hier in diesem Raume haben Sie mir erklärt, Sie würden die Minäer nicht antasten, wenn diese nicht das Zeremonialgesetz antasten.«
  »Sie haben es angetastet«, erwiderte der Großdoktor. »Ich habe zuverlässige Berichte, daß sie in Antiochien, in Korinth, in Rom nach dem Vorgang eines gewissen Saulus oder Paulus lehren, an das Gebot der Beschneidung seien nur diejenigen gebunden, die vom Judentum zu ihnen übergingen, nicht aber die Heiden, die sich zu ihnen bekehren.«
  Josef erinnerte sich gewisser Worte Jakobs des Wundertäters. »Selbst wenn einzelne ihrer Prediger das lehren sollten«, wandte er zögernd ein, »ist es nicht nur eine vorläufige Maßnahme, um dem Verbot der Römer auszuweichen?«
  »Das ist mir zu minäisch gedacht«, lehnte scharf der Großdoktor ab, und sein höfliches Gesicht wurde hart, römisch. »Ich kann nicht zugeben, daß die Motive eine Tat verändern. Ich kann nicht zulassen, daß einer in die Gemeinschaft Israels aufgenommen wird und unbeschnitten bleibt. Eine Sekte, die Unbeschnittene zuläßt, kann in unserer Gemeinschaft nicht geduldet werden. Gebrauchen Sie Ihre Vernunft, Doktor Josef«, redete er dem andern zu. »Die Anerkennung eines solchen Lehrsatzes käme der Auflösung des Judentums gleich. Wir sind heute so weit, daß das Zeremonialgesetz die Juden, auch die im Ausland, so fest zusammenhält wie ehemals der Tempel, ja, sie schauen heute noch unverrückbarer nach Jabne als einstmals nach Jerusalem. Lasse ich die Riten ins Wanken kommen, dann stürzt dieser Zusammenhalt, dann stürzt alles.« Und, näher an ihm, vertraulich, listig, geheimnisvoll, fügte er hinzu: »Ich gehe weiter. Daß die Römer die Beschneidung verboten haben, scheint mir ein Wink Jahves. Er will jetzt nicht noch mehr Heiden hereinnehmen in seinen Bund. Er will, daß wir uns zuerst festigen in uns selber. Er hat die Liste zeitweilig geschlossen.«
  Josef, finster, hielt ihm seine alten Einwände entgegen: »Was aber bleibt vom Weltsinn der Lehre, wenn Sie die Heiden der Möglichkeit berauben, Jahves teilhaftig zu werden?«
  »Ich habe die Wahl«, erwiderte der Großdoktor, »den Universalismus der Juden aufs Spiel zu setzen oder ihre Existenz. Soll ich um eines Teiles der Idee willen die ganze Idee gefährden? Ich ziehe es vor, das Judentum für eine Weile national einzuengen, statt es ganz aus der Welt verschwinden zu lassen. Ich muß die Gemeinschaft über die nächsten dreißig Jahre hinwegbringen, die gefährlichsten, seitdem Jahve den Bund mit Abraham schloß. Wenn diese Gefahr vorbei ist, mag sich der jüdische Geist von neuem universalistisch betätigen.«
  »Und war es notwendig«, fragte nach einer Weile bitter Josef, »daß Sie Ben Ismael zum zweitenmal demütigten, und auf so harte Art? Denn Sie wissen, von diesem Schlag erholt der Mann sich nie mehr.«
  »Ich weiß es«, gab Gamaliel zu. »Ich konnte ihn nicht schonen. Da der Schnitt gemacht werden mußte, war es notwendig, ihn wirksam zu machen. Sie wissen, wie besessen Flavius Silva ist von Haß gegen die Proselytenmacher. Er hat bestimmt sehr bösartige Repressalien vorbereitet für den Fall, daß wir uns nicht auf sichtbare Art von den Minäern scheiden. Er hat da allerlei Mittel: er kann uns die Privilegien entziehen, die Gerichtsbarkeit, die Universität Jabne. Ich mußte das Haupt derer treffen, die im Verdacht standen, den Minäern zuzuneigen. Die Demütigung Ben Ismaels sichert die Privilegien Jabnes.«
  Wahrscheinlich hatte Gamaliel recht. Aber Josef dachte an das weiße, lange, schmerzhafte Gesicht Ben Ismaels; Trauer und Zorn schüttelten ihn, daß er die Fäuste vor die Augen preßte wie ein Kind.