Ein verdrossenes Schweigen war. Der Prinz hatte trüb, aufmerksam und ohne einzugreifen zugehört. Er bat den Marschall um seine Meinung. »Wenn die Zeit bis zum Generalsturm«, begann Tiber Alexander, »uns lange werden soll, warum wollen wir sie nicht auch unsern Gegnern lang machen?« Erwartungsvoll, verständnislos sahen ihm die Herren auf den dünnen Mund. »Wir haben«, fuhr er mit seiner leisen, höflichen Stimme fort, »zuverlässige Nachrichten und sehen es mit unseren eigenen Augen, wie sehr der zunehmende Hunger der Belagerten unser Bundesgenosse ist. Ich schlage vor, Hoheit und meine Herren, uns mehr als bisher auf diesen Bundesgenossen zu stützen. Ich schlage vor, die Blockade schärfer als bisher durchzuführen. Ich schlage vor, zu diesem Zweck eine Blokkademauer um die Stadt zu errichten, daß keine Maus mehr hinein und keine mehr hinaus kann.
  Das wäre das eine. Das zweite wäre dies. Wir haben bisher jeden Tag stolz die Ziffern derjenigen bekanntgegeben, die trotz der Maßnahmen der Belagerten zu uns überlaufen. Wir haben diese Herrschaften sehr gut behandelt. Ich glaube, das macht unserm Herzen mehr Ehre als unserm Verstand. Ich sehe nicht ein, warum wir die Herren in Jerusalem von der Sorge für die Ernährung eines so ansehnlichen Teils der Bevölkerung befreien sollen. Kann man uns zumuten, nachzuprüfen, ob diejenigen, die jetzt zu uns übergehen, wirklich Zivilisten sind oder ob sie die Waffen gegen uns getragen haben? Ich schlage vor, Hoheit und meine Herren, in Zukunft diese Überläufer ausnahmslos als kriegsgefangene Rebellen zu behandeln und alles, was wir an Holz erübrigen können, zur Kreuzigung dieser gefangenen Rebellen zu verwenden. Das wird, hoffe ich, die innerhalb der Mauern veranlassen, auch in Zukunft hübsch innerhalb der Mauern zu bleiben. Schon sitzt ein großer Teil der Belagerten vor leeren Tischen. Ich hoffe, daß dann bald alle, auch die Truppen der Belagerten, vor leeren Tischen sitzen werden.« Der Marschall sprach leise, sehr verbindlich. »Je härter wir in diesen Wochen sind, um so humaner können wir in Zukunft sein. Ich schlage vor, Hoheit und meine Herren, den Hauptmann Lukian, den Chef der Profose, anzuweisen, bei der Kreuzigung der Rebellen nicht milde vorzugehen.«
  Der Marschall hatte ohne Nachdruck gesprochen wie bei einer Tischunterhaltung. Aber es war lautlos still, während er sprach. Der Prinz war Soldat. Immerhin schaute er angefremdet auf den Juden, der mit so leichter Rede so harte Maßnahmen gegen Juden vorschlug. Niemand im Rat hatte einen Einwand gegen Tiber Alexander. Es wurde beschlossen, die Blockademauer zu bauen und die Überläufer fortan zu kreuzigen.


Vom Fort Phasael aus sahen die Führer Simon Bar Giora und Johann von Gischala, wie die Blockademauer hochstieg. Johann schätzte ihre Länge auf sieben Kilometer und zeigte mit geübtem Blick dem Simon dreizehn Punkte, wo offenbar Türme angelegt werden sollten. »Ein etwas schäbiges Mittel, mein Bruder Simon, meinen Sie nicht?« fragte er und grinste ein wenig fatal. »Dem alten Fuchs hätte ich das ohne weiteres zugetraut, aber der Junge mit seinem Geprotz von Mannhaftigkeit und soldatischer Tugend sollte eigentlich vornehmere Mittel anwenden. Nun ja. Jetzt sind wir aufs Johannisbrot gekommen oder eigentlich schon darunter.«
  Die Blockademauer wurde vollendet, und die Straßen und Höhen um Jerusalem säumten sich mit Kreuzen. Die Profose waren erfinderisch im Ausdenken neuer Stellungen. Sie nagelten die zu Exekutierenden so an, daß die Füße oben hingen, oder sie banden sie quer übers Kreuz, ihnen die Glieder raffiniert verrenkend. Zuerst bewirkten die Maßnahmen der Römer, daß die Zahl der Überläufer sich verringerte. Aber dann stieg der Hunger und der Terror in der Stadt. Viele sahen sich verloren. Was war klüger? In der Stadt zu bleiben, die Verbrechen der Makkabi-Leute gegen Gott und Menschen ständig vor Augen, und Hungers zu sterben? Oder zu den Römern überzulaufen und von ihnen ans Kreuz gehängt zu werden? Verloren war man innerhalb der Mauern, verloren außerhalb. Wenn der Stein auf den Krug fällt, wehe dem Krug. Wenn der Krug auf den Stein fällt, wehe dem Krug. Immer, immer wehe dem Krug.
  Es mehrten sich diejenigen, die das Sterben am Kreuz dem Sterben in Jerusalem vorzogen. Selten verging ein Tag, an dem nicht mehrere hundert Überläufer eingebracht wurden. Bald


gab es keinen Raum mehr für die Kreuze und keine Kreuze für die Menschenleiber.


Der Glasbläser Nachum Ben Nachum lag die meiste Zeit über auf dem Dach des Hauses in der Salbenmachergasse. Dort lagen auch das Weib des Alexas und die beiden Kinder, denn unter freiem Himmel spürte man den Hunger weniger. Auch wenn man sich das Kleid oder den Gürtel sehr eng um den Leib zog, linderte das den Hunger ein wenig; doch nur auf kurze Zeit.
  Nachum Ben Nachum war sehr vom Fleisch gefallen, sein dichter Bart war nicht mehr gepflegt, auch nicht mehr recht viereckig, und viele graue Haare durchzogen ihn. Manchmal quälte ihn die Ruhe im Haus, denn die Erschöpften hatten nicht viel Lust zu reden. Dann ging Nachum über die schmale Brücke, die von der Oberstadt zum Tempel führte, und besuchte seinen Verwandten, den Doktor Nittai. Die Achte Priesterreihe, die Reihe Abija, war ausgelost worden, und Doktor Nittai schlief und wohnte jetzt im Tempel. Seine wilden Augen waren eingetrocknet, der überkommene Singsang kam nur mit Mühe von seinen geschwächten Lippen. Es war ein Wunder, daß der ausgedörrte Mann sich aufrecht halten konnte, aber er hielt sich aufrecht. Ja, er war weniger wortkarg als sonst, er hatte keine Furcht wegen seines babylonischen Akzents, er war glücklich. Die ganze Welt ist Netz und Falle, nur im Tempel ist Sicherheit. Auch Nachums Herz erhob es, wie trotz des Elends ringsum der Tempeldienst weiterging wie immer mit seinen tausend großartigen, umständlichen Zeremonien, mit Morgenopfer und Abendopfer. Die ganze Stadt verkam, aber Jahves Haus und Tisch blieb herrlich bestellt wie seit Jahrhunderten.
  Vom Tempel aus ging der Glasbläser Nachum oftmals zur Börse, zur Kippa. Eine ganze Reihe von Bürgern kam dort zusammen, aus alter Gewohnheit, trotz des Hungers. Worum man jetzt feilschte, das waren freilich nicht mehr Karawanen mit Gewürz oder Flotten mit Holz, sondern winzige Mengen Nahrungsmittel. Ein oder zwei Pfund verdorbenen Mehls, eine Handvoll getrockneter Heuschrecken, ein Fäßchen Fischsauce. Zu Anfang Juni hatte man das Gewicht des Brotes mit dem gleichen Gewicht in Glas aufwiegen müssen, dann mit dem gleichen Gewicht in Kupfer, dann in Silber. Am 23. Juni zahlte man für einen Scheffel Weizen, das waren 8,75 Liter, vierzig Mene, noch vor dem Juli ein ganzes Talent.
  Freilich mußte dieser Handel geheimgehalten werden; denn längst hatten die militärischen Machthaber alle Lebensmittel für die Truppen requiriert. Die Soldaten durchforschten die Häuser bis in den letzten Winkel. Mit ihren Dolchen und Säbeln kitzelten sie unter derben Witzen die letzte Unze Eßbares heraus.
  Nachum segnete seinen Sohn Alexas. Wo wäre man hingekommen ohne ihn? Er nährte das ganze Haus in der Salbenmachergasse, und der Vater bekam den größten Anteil. Nachum wußte nicht, wo Alexas seine Vorräte verborgen hielt, wollte es auch nicht wissen. Einmal kam Alexas nach Haus, verstört, blutend aus einer schweren Wunde. Wahrscheinlich war er von streifenden Soldaten betroffen worden, als er aus einem seiner Verstecke etwas von seinen Vorräten holen wollte.
  Bis in die Nieren voll von Angst und Grimm saß der Glasbläser Nachum neben dem Lager seines Ältesten, der, grau von Gesicht, geschwächt und ohne Bewußtsein dalag. Ach und oj, warum war er seinem Sohne Alexas nicht früher gefolgt? Sein Sohn Alexas ist der Klügste der Menschen, und er, der eigene Vater, hat nicht gewagt, sich zu ihm zu bekennen, einfach weil die Spitzel der Machthaber umgingen. Aber jetzt wird auch er den Mund nicht mehr verschließen. Wenn sein Sohn Alexas wieder aufsteht, dann wird er mit ihm zu dem Gelbgesichtigen gehen. Denn trotz allen Terrors tauchten aus dem wirren System unterirdischer Gänge und Höhlen unter Jerusalem immer neue Propheten auf, predigten Frieden und Unterwerfung und verschwanden wieder in der Unterwelt, bevor die Makkabi-Leute sie fassen konnten. Nachum war überzeugt, sein Sohn Alexas war vertraut mit dem Führer dieser Propheten, eben jenem Dunkeln, Geheimnisvollen, den alle nur den Gelbgesichtigen nannten.
  Er war so voll Grimm gegen die Makkabi-Leute, daß er den Hunger kaum mehr spürte; heftige Erregung vertrieb den Hunger. Vor allem gegen seinen Sohn Ephraim richtete sich seine Wut. Zwar gab der Knabe Ephraim aus der reichlichen Ration, die er als Soldat erhielt, Nahrungsmittel an Vater und Geschwister ab; aber tief in seinem Innern fürchtete Nachum, Ephraim könne es gewesen sein, der jetzt die Soldaten auf die Spuren des Alexas gehetzt habe. Dieser Verdacht, Ohnmacht und Grimm machten den Glasbläser Nachum fast verrückt.
  Alexas genas. Aber der Hunger wurde immer bitterer, die spärliche Nahrung war stets die gleiche, der Sommer war heiß. Das jüngste Söhnlein des Alexas starb, der Zweijährige, und wenige Tage später auch der ältere, der Vierjährige. Den Zweijährigen konnte man noch bestatten. Aber als der Vierjährige starb, waren der Leichen zuviel und der Kraft zuwenig geworden, man mußte sich begnügen, die Toten in die Schluchten hinunterzustürzen, die die Stadt umgaben. Nachum, seine Söhne und seine Schwiegertochter brachten die kleine Leiche an das Südosttor, daß der Hauptmann Mannäus Bar Lazarus, dem der Totendienst unterstand, sie in die Schlucht hinunterwerfen lasse. Nachum wollte die Leichenrede halten, aber da er sehr schwach war, verwirrten sich ihm die Worte, und statt über den kleinen Jannai Bar Alexas zu sprechen, sagte er, der Hauptmann Mannäus habe nun bereits siebenundvierzigtausendzweihundertdrei Leichen erledigt und somit siebenundvierzigtausendzweihundertdrei Sesterzien erhalten, dafür könne er auf der Börse beinahe zwei Scheffel Weizen kaufen.
  Alexas hockte auf der Erde und hielt die sieben Tage der Trauer. Er wiegte den Kopf, streichelte den schmutzigen Bart. Er hatte einiges bezahlt für die Liebe zu seinem Vater und zu seinen Brüdern.
  Als er sich zum erstenmal wieder durch die Stadt schleppte, war er erstaunt. Er hatte geglaubt, das Elend könne nicht größer werden, aber es war größer geworden. Früher war Jerusalem berühmt gewesen wegen seiner Reinlichkeit, jetzt lag über der ganzen Stadt ein wüster Gestank. In einzelnen Stadtquartieren sammelte man die Toten in öffentlichen Gebäuden, und wenn sie voll waren, dann sperrte man diese Gebäude zu. Noch beängstigender aber als der Gestank war die große Stille der sonst so lebendigen Stadt; denn jetzt hatten auch die Betriebsamsten die Lust zu sprechen verloren. Schweigend und stinkend, erfüllt von dicken Schwärmen Ungeziefers, lag die weiße Stadt in der Sommersonne.
  Auf den Dächern, in den Gassen sielten sich die Erschöpften herum mit trockenen Augen und weitgeöffneten Mündern. Viele waren krankhaft angeschwollen, andere zu Gerippen ausgedörrt. Die Fußtritte der Soldaten vermochten sie nicht mehr von der Stelle zu bewegen. Sie lagen, die Verhungernden, herum, starrten nach dem Tempel, der drüben auf seinem Hügel weiß und golden in dem blauen Licht hing, warteten auf den Tod. Alexas sah eine Frau im Abfall wühlen, zusammen mit Hunden nach irgend etwas Genießbarem. Er kannte die Frau. Es war die alte Channa, die Witwe des Erzpriesters Anan. Einst mußten Teppiche vor ihr gebreitet werden, wenn sie auf die Straße ging; denn ihr Fuß war zu vornehm, den Staub des Weges zu treten.
  Und dann kam ein Tag, da saß auch Alexas, der Klügste der Menschen, stur und ohne Rat. Er hatte sein Versteck in der Unterwelt leer gefunden, andere hatten den Rest seiner Vorräte entdeckt.
  Als Nachum diese Unglücksbotschaft mühevoll aus seinem Sohn herausgequetscht hatte, saß er lange und dachte nach. Es war ein Verdienst, einen Toten zu bestatten; es war ein letztes Verdienst vor Jahve, sich selber zu bestatten, wenn das kein anderer besorgte. Nachum Ben Nachum beschloß, sich dieses letzte Verdienst zu erwerben. Wenn einer so ausschaute, als ob er nicht länger als höchstens noch einen oder zwei Tage zu leben hätte, dann ließen die Wachsoldaten ihn vor das Tor. Ihn werden sie passieren lassen. Er legte seine Hand auf den Scheitel seines Sohnes Alexas, der dumpf auf sein verlöschendes Weib stierte, und segnete ihn. Dann nahm er einen Spaten, das Geschäftsbuch, den Schlüssel der alten Glasbläserei, auch einige Myrtenreiser und Weihrauch und schleppte sich zum Südtor.
  Vor dem Südtor lag eine große Gebeinhöhle. Nach einer Ruhe nämlich von ungefähr einem Jahr, wenn der Leichnam bis auf die Knochen verwest war, pflegte man die Gebeine in sehr kleinen Steinsärgen zu sammeln und diese Särge in den Wänden von Höhlen übereinander und nebeneinander zu schichten. Auch über die Beinhöhle vor dem Südtor war nun freilich die Belagerung hinweggegangen und hatte sie zerstört, so daß sie nicht mehr sehr würdig herschaute, ein Haufen von zertrümmerten Steinplatten und Gebein. Aber immer noch blieb sie ein jüdischer Totenacker.
  Auf die gelblichweiße, besonnte Erde dieses Totenackers also hockte Nachum sich nieder. Um ihn her lagen andere Verhungernde, starrten nach dem Tempel. Manchmal sprachen sie: Höre, Israel, eins und ewig ist unser Gott Jahve. Manchmal dachten sie an die Soldaten, an die im Tempel, die Brot und Fischkonserven hatten, an die im römischen Lager, die Fett und Fleisch hatten, und dann vertrieb der Zorn auf eine ach nur sehr kurze Zeit den Hunger.
  Nachum war sehr matt, aber es war keine unangenehme Mattigkeit. Er freute sich an der heißen Sonne. Anfangs, als er noch Lehrling war, hatte es furchtbar weh getan, wenn er sich an der heißen Masse verbrannte. Jetzt war seine Haut daran gewöhnt. Es war unrecht von seinem Sohne Alexas, daß er die Arbeit mit der Hand ganz durch die Glasbläserpfeife ersetzt hat. Überhaupt war sein Sohn Alexas zu hochfahrend. Weil sein Sohn Alexas so überheblich war, darum waren ihm auch die Kinder gestorben und die Frau, und seine Vorräte waren ihm gestohlen worden. Wie heißt es im Buche Hiob? »Die Güter, die er verschlungen hat, muß er wieder ausspeien. Das Getreide in seinem Haus wird weggeführt werden.« Wer ist nun eigentlich der Hiob, er oder sein Sohn Alexas? Das ist sehr schwierig. Er hat zwar einen Spaten mit, aber kratzt er etwa seinen Grind? Er kratzt ihn nicht, folglich ist sein Sohn Alexas der Hiob.
  Wer einem Toten Ehre erweist, erwirbt sich Verdienst, besonders wenn man selber der Tote ist. Aber vorher muß er in seinem Geschäftsbuch nachschauen, ob die letzten Einträge stimmen; er will ein ordentliches Rechnungsbuch im Grab haben. Er hat da eine Geschichte gehört von einer gewissen Maria Beth Ezob. Die Soldaten der Makkabi-Leute waren, angelockt durch Bratengeruch, in das Haus dieser Maria eingedrungen und hatten auch gebratenes Fleisch vorgefunden. Es stammte von dem Kind dieser Maria, und sie wollte mit den Soldaten einen Vertrag abschließen: da sie das Kind geboren habe, sollte die Hälfte des Fleisches ihr gehören, die Hälfte wollte sie den Soldaten lassen. Das war eine ordentliche Frau. Eigentlich müßte allerdings ein solcher Vertrag schriftlich gemacht und auf dem Rathaus deponiert werden. Aber das ist jetzt schwierig. Die Beamten sind nie da. Sie sagen, sie haben Hunger, und das geht doch nicht, daß man einfach wegbleibt, bloß weil man Hunger hat. Einige sind allerdings gestorben infolge Hungers, besser der Tag des Todes als der Tag der Geburt, und die sind gewissermaßen entschuldigt.
  Da sitzt sein Sohn Alexas, der Siebenkluge, der Gescheiteste der Menschen, und hat bei all seiner Gescheitheit doch nichts zu essen. Er hat plötzlich ein ungeheures Mitleid mit seinem Sohne Alexas. Natürlich ist der der Hiob. Der Bart des Alexas ist viel grauer als sein eigener, obwohl er jünger ist als er. Freilich, sein, Nachums, Bart ist jetzt auch nicht mehr viereckig, und wenn eine schwangere Frau ihn sähe, würde ihr Kind davon nicht schöner.
  Trotzdem ist es ärgerlich, daß man ihm, Nachum Ben Nachum, dem Glasbläser, dem Großhändler, nicht die gebührende Ehre erweist. Daß er allein sein ganzes Totengeleite ist, das ist eine harte Prüfung von Jahve, und er versteht Hiob, und jetzt ist es ganz klar: nicht sein Sohn Alexas ist der Hiob, er ist es. »Denn den Zerfall heiße ich meinen Vater, und die Würmer meine Mutter und meine Schwester.« Und jetzt komm, mein Spaten, grab, mein Spaten.
  Mit sehr großer Mühe richtete er sich hoch, leicht ächzend. Es ist sehr schwer, zum Graben muß man sehen. Es sind diese scheußlichen Fliegen, die auf seinem Gesicht sitzen und die ihm alles verdunkeln. Sehr langsam geht sein Blick über die graugelbe Erde hin, über die Knochen, die Reste der Steinsärge. Da, ganz in seiner Nähe, sieht er etwas Schillerndes, Opalfarbenes, es ist ein Wunder, daß er es nicht längst gesehen hat, es ist ein Stück murrinisches Glas. Ist es echt? Wenn es nicht echt ist, dann muß es ein besonders kunstrei ches Verfahren sein, durch das man solches Glas herstellt. Wo hat man ein so kunstreiches Verfahren? Wo machen sie solches Glas? In Tyrus? In Carmanien? Er muß wissen, wo man so künstliches Glas macht und wie man es macht. Sein Sohn Alexas wird es wissen. Wozu wäre er der Klügste der Menschen? Er wird seinen Sohn Alexas fragen.
  Er kriecht hin, er holt sich das Stück Glas, verwahrt es sorgfältig in seiner Gürteltasche. Es mag von einem Parfümfläschchen stammen, das man einem Toten in den Steinsarg mitgegeben hat. Er hat das Glas. Es ist nicht echt, aber täuschend nachgeahmt, nur der Fachmann kann die Fälschung erkennen. Er denkt nicht mehr daran, sich ins Grab zu legen, nichts ist mehr in ihm als der Wunsch, seinen Sohn Alexas nach diesem Wunderglas zu fragen. Er steht auf, wirklich, er erhebt sich, er setzt den rechten Fuß vor, den linken, er schleift, er stolpert ein wenig über Knochen und Steine, aber er geht. Er kommt zurück zum Tor, es mögen acht Minuten Weges sein, und siehe, er braucht nur kurze Zeit, nicht einmal eine Stunde braucht er, und dann ist er am Tor. Die jüdischen Wachen sind gerade gutgelaunt, sie öffnen das Ausfallspförtchen, sie fragen: »Hast du etwas zu beißen gefunden, du Toter? Dann mußt du es mit uns teilen.« Er zeigt stolz sein Stückchen Glas. Sie lachen, sie lassen ihn passieren, er geht zurück in die Salbenmachergasse, in das Haus seines Sohnes Alexas.

Die Römer führten vier neue Wälle gegen die Stadt heran. Die Soldaten, die dabei nicht beschäftigt waren, versahen den vorgeschriebenen Lagerdienst, exerzierten, flackten untätig herum, schauten auf die stille, weiße, stinkende Stadt, warteten.
  Die Offiziere, um die zermürbende Langeweile zu vertreiben, veranstalteten Jagden auf die vielen Tiere, die sich, gelockt von dem Aasgeruch, um die Stadt versammelten. Denn es zeigte sich interessantes Getier, wie man es seit vielen Geschlechtern in dieser Gegend nicht mehr gesehen hatte. Vom Libanon stiegen Wölfe nieder, aus dem Jordangebiet kamen Löwen, aus Gilead und Basan Panther. Die Füchse wurden fett, ohne daß sie viel List anwenden mußten, auch den Hyänen, den heulenden Rudeln der Schakale ging es gut. Auf den Kreuzen, die alle Straßen säumten, hockten dick die Raben, auf den Berghöhen saßen lauernd die Geier.
  Die Bogenschützen machten sich manchmal den Spaß, die im Raum der Begräbnisstätten hockenden, verhungernden Juden als Ziele zu verwenden. Andere römische Mannschaften begaben sich einzeln oder in Trupps vor die Mauern, außer Schußweite, doch in Sehweite, zeigten denen auf der Mauer den Überfluß ihrer Ration, fraßen, schlangen, riefen: Hep, Hep, Hierosolyma est perdita.
  Sieben Wochen waren nun vergangen seit Beginn der Belagerung. Die Juden feierten ihr Pfingstfest, ein klägliches Pfingstfest, und nichts änderte sich. Der ganze Monat Juli verging, nichts änderte sich. Die Juden machten Ausfälle gegen die neuen Wälle, ohne Glück. Trotzdem zerrte dieser Feldzug an den Nerven der römischen Legionäre schlimmer als gefährlichere und härtere Feldzüge. Es bemächtigte sich der Belagerer angesichts der stillen und stinkenden Stadt allmählich eine ohnmächtige Wut. Gelang es den Juden, die vier neuen Wälle zu vernichten, dann gab es keine Möglichkeit mehr, andere Belagerungswerke zu bauen; das Holz war am Ende. Es blieb dann nichts übrig, als abzuwarten, bis die da drinnen verhungerten. Grimmig schauten die Soldaten auf den Tempel, der immer gleich, unberührt, weiß und golden dort drüben auf seinem Hügel stand. Sie nannten ihn nicht den Tempel, sie nannten ihn nur voll Scheu, Wut, Ekel: das da oder das Bewußte. Soll man ewig vor dieser weißen, unheimlichen Festung liegen? Das römische Lager war voll von finsterer, verzweifelter Spannung. Keine andre Stadt hätte Bürgerzwist, Hunger, Krieg so lange ausgehalten. Wird man diese Wahnsinnigen, diese verhungerten Lumpen niemals zur Räson bringen können? Es war Essig mit der Rückkehr nach Rom zur Opferung des Oktoberrosses. Von den Generälen der Legionen bis zum letzten Trainsoldaten der bundesgenössischen Kontingente war jeder einzelne randvoll von Zorn auf diesen Gott Jahve, der verhinderte, daß römische Kriegskunst über den Fanatismus jüdischer Barbaren siegte.
An einem der letzten Julitage forderte Titus den Josef auf, ihn auf einem Rundgang zu begleiten. Die beiden Männer, der Feldherr ohne Abzeichen seiner Würde, Josef ohne Waffen, gingen schweigend durch die große Stille. Gleichmäßig kam der Anruf der Wachen, gleichmäßig gaben sie die Parole: Rom voran. Die Umgebung Jerusalems lag jetzt in einem Umkreis von zwanzig Kilometern öd und kahl, und erfüllt hatte sich das Wort der Schrift: »Der Zorn und Grimm Jahves ist ausgeschüttet über diesen Ort, über Mensch und Vieh und Bäume des Feldes und Früchte des Landes.«
  Sie kamen an eine Schlucht, in welche die aus der Stadt ihre Leichen hinabzuwerfen pflegten. Scharfer Gestank stieg auf, beizend, atemnehmend; die Körper lagen hochgeschichtet in einer ekeln Jauche der Verwesung. Titus blieb stehen. Auch Josef machte gehorsam halt. Titus schaute seinen Begleiter von der Seite an, wie er geduldig in dem scheußlichen Brodem verharrte. Der Prinz hatte erst heute wieder vertrauliche Mitteilung bekommen, Josef treibe Spionage, stehe mit den Belagerten in heimlichem Einverständnis. Titus glaubte kein Wort. Er wußte genau, wie schwierig die Stellung des Josef war, daß sowohl die Juden ihn für einen Verräter hielten wie die römischen Soldaten. Er mochte den Mann gern leiden, hielt ihn für einen ehrlichen Freund. Aber es gab Stunden, wo er ihm ebenso fremd und unheimlich war wie seinen Soldaten. Er spähte hier an dieser Leichenschlucht nach einem Zeichen des Widerwillens und der Trauer in Josefs Mienen. Aber Josef hielt sein Gesicht versperrt, und den Prinzen wehte es kalt und fremd an: wie konnte der Jude das ertragen?
  Es war so, daß den Josef ein quälender Drang an die Orte trieb, wo die Greuel der Belagerung auf besonders scheußliche Art sichtbar wurden. Er war hierhergeschickt, um das Auge zu sein, das all dieses Grauen sieht. Sich rühren, das war leicht. Stille stehen und betrachten müssen, das war viel schwerer. Oft packte ihn ein scharfer, ätzender Schmerz, daß er hier außerhalb der Mauern stand, eine sinnlose Sehnsucht, sich unter die in der Stadt zu mischen. Die hatten es gut. Kämpfen dürfen, leiden dürfen zusammen mit einer Million anderer, das war gut.
  Er hat einen Brief bekommen aus der Stadt auf dunkelm Weg und ohne Absender: »Sie stören. Sie haben zu verschwinden.« Er weiß, daß Justus diesen Brief geschrieben hat. Wieder hat dieser Justus recht gegen ihn. Seine Vermittlungsversuche sind hoffnungslos, seine Person stört jede Vermittlung.
  Es ist ein sehr bitterer Sommer für den Mann Josephus, dieser Sommer vor den Mauern Jerusalems. Die vernarbende Wunde am rechten Arm ist nicht schwer, aber sie schmerzt, und sie macht ihm das Schreiben unmöglich. Manchmal fragt Titus ihn scherzhaft, ob er ihm nicht diktieren wolle; er sei der beste Stenograph im Lager. Aber vielleicht ist es gut, daß Josef jetzt nicht schreiben kann. Er will nicht Kunst, Beredsamkeit, Gefühl. Sein ganzer Körper soll Auge sein, sonst nichts.
  So steht er mit Titus inmitten der kahlen Landschaft, die einst einer der schönsten Teile der Erde war und seine Heimat. Jetzt ist sie wüst und leer wie vor der Schöpfung. Auf der letzten Mauer der Stadt, der schon erschütterten, weiß er seine Landsleute, verwahrlost, verwildert, überzeugt, daß sie untergehen müssen, und sie hassen ihn mehr als irgendeinen andern Menschen. Sie haben einen Preis auf seinen Kopf gesetzt, einen Ungeheuern, den höchsten, den sie kennen, einen ganzen Scheffel Weizen. Er steht da, schweigend, den Blick vor sich. Hinter ihm, vor ihm, neben ihm sind die Kreuze, an denen Menschen seines Stammes hängen, zu seinen Füßen ist die Schlucht, in der Menschen seines Stammes verwesen, die Luft, das ganze kahle Land ist voll Getier, das auf den Fraß wartet.
  Titus macht den Mund auf. Er spricht leise, aber in der Ödnis ringsum klingt es laut: »Findest du es grausam, mein Josef, daß ich dich zwinge, hier zu sein?« Josef, noch leiser als der Prinz, langsam, die Worte abgewogen, erwidert: »Es war mein Wille, Prinz Titus.«
  Titus legt ihm die Hand auf die Schulter: »Du hältst dich gut, mein Josef. Kann ich dir einen Wunsch erfüllen?« Josef, immer ohne ihn anzusehen, mit der gleichen, gemessenen Stimme erwiderte: »Lassen Sie den Tempel stehen, Prinz Titus.« – »Das ist mein Wille nicht weniger als deiner«, sagte Titus. »Ich möchte, daß du etwas für dich erbittest.«
  Endlich wandte sich Josef dem Prinzen zu. Er sah, daß sein Gesicht neugierig war, forschend, doch nicht ohne Güte. »Geben Sie mir«, sagte er langsam, behutsam, »wenn die Stadt fällt, aus der Beute ...« Er verstummte. »Was soll ich dir geben, mein Jude?« fragte Titus. »Geben Sie mir«, bat Josef, »sieben Schriftrollen und sieben Menschen.«
  Die beiden standen groß und allein in der kahlen Landschaft. Titus lächelte: »Du sollst siebzig Rollen haben, mein Josef, und siebzig Menschen.«

Die Priester der diensttuenden Reihe versammelten sich alltäglich in der Quadernhalle, um auszulosen, wer die einzelnen Verrichtungen des Opfers vornehmen sollte. Am Morgen des 5. August, des 17. Tammus jüdischer Rechnung, traten unter die also Versammelten die Führer der Armee Simon Bar Giora und Johann von Gischala, gerüstet beide, mit ihnen ihr Sekretär Amram sowie viele Bewaffnete. Der Chef des Tempeldienstes, der die Auslosung leitete, fragte, seine Fassung krampfig festhaltend: »Was wollen Sie?« – »Sie brauchen heute die Losung nicht vorzunehmen, mein Doktor und Herr«, sagte Johann von Gischala. »Sie brauchen sie auch in Zukunft nicht mehr vorzunehmen. Sie können nach Hause gehen, meine Herren, alle, Priester, Leviten, Laien. Der Tempeldienst hat aufgehört.«
  Verschreckt standen die Priester. Der Hunger hatte ihre Gesichter welk gemacht, weiß wie ihre Gewänder, sie waren sehr geschwächt. Manche unter ihnen hielt ähnlich wie den Doktor Nittai allein die Ehrung des Dienstes noch aufrecht. Sie waren zu schwach zum Schreien, es war mehr ein sonderbar dünnes Gegurgel und Gestöhn, das nach den Worten Johanns losbrach.
  »Wieviel Opferlämmer sind noch in der Lämmerhalle?« fragte barsch Simon Bar Giora. »Sechs«, antwortete mit mühevoller Festigkeit der Chef des Tempeldienstes. »Sie irren, mein Doktor und Herr«, korrigierte sanft der Sekretär Amram, und ein höfliches, bösartiges Lächeln legte seine Zähne bloß. »Es sind neun.« – »Geben Sie die neun Lämmer heraus«, sagte fast gemütlich Johann von Gischala. »In dieser Stadt ist seit langem Jahve der einzige, der Fleisch ißt. Die Lämmer sollen nicht verbrannt werden. Jahve hat auf seinem Brandopferaltar genug süßen Geruch gehabt. Die für das Heiligtum kämpfen, sollen auch von dem Heiligtum leben. Geben Sie die neun Lämmer heraus, meine Doktoren und Herren.«
  Der Chef des Tempeldienstes schluckte beschwerlich, suchte eine Erwiderung. Allein bevor er sprach, trat Doktor Nittai aus der Reihe vor. Die trockenen, wilden Augen richtete er glühend auf Johann von Gischala. »Überall ist Netz und Falle«, gurgelte er in seinem harten, babylonischen Akzent, »nur im Tempel ist Sicherheit. Wollen Sie jetzt auch im Tempel Ihre Fallen aufstellen? Sie werden zuschanden werden.« – »Das wird sich zeigen, mein Doktor und Herr«, erwiderte gelassen Johann von Gischala. »Vielleicht haben Sie bemerkt, daß das Fort Antonia gefallen ist. Der Krieg ist bis zum Tempel herangekrochen. Der Tempel ist nicht mehr Jahves Wohnung, er ist Jahves Festung.« Aber Doktor Nittai grollte gurgelnd weiter: »Sie wollen den Altar Jahves berauben? Wer Jahve sein Brot und sein Fleisch stiehlt, der stiehlt ganz Israel den Rückhalt.« – »Schweigen Sie«, herrschte Simon ihn finster an. »Der Tempeldienst hat aufgehört.« Der Sekretär Amram aber ging auf Doktor Nittai zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte verträglich, mit gelben Zähnen lächelnd: »Geben Sie sich zufrieden, Herr Kollege. Wie heißt es im Jeremias? ›So spricht Jahve: Schmeißt eure Brandopfer zu euern Speiseopfern und fresset sie; denn nichts habe ich euern Vätern geboten, als ich sie aus Ägypten führte, weder von Brandopfern noch von Speiseopfern.‹»
  Johann von Gischala ließ seine grauen Augen rundum gehen durch die Reihen der Verstörten. Er sah den irren, harten Schädel des Doktor Nittai. Vermittelnd, verbindlich sagte er: »Wenn Sie weiter Dienst tun wollen, meine Herren, singen, Ihre Instrumente spielen, den Segen sprechen, es sei Ihnen unbenommen. Aber was an Brot, Wein, Öl und Fleisch da ist, ist requiriert.«
  Der Erzpriester Phanias kam, man hatte ihn benachrichtigt. Als die Losung des Johann von Gischala ihn zum höchsten Amt in Stadt und Tempel berief, hatte der dumpfe, vierschrötige Mann diese Schickung Gottes mit schwerer Beklemmung angenommen. Er ist sich seiner Einfalt bewußt, er hat nichts gelernt, nicht die Geheimlehre, nicht einmal die einfachsten Ausdeutungen der Heiligen Schrift, er hat nur gelernt, Mörtel zu bereiten, Steine zu schleppen und sie aufeinanderzuschichten. Jetzt hat Jahve ihn mit dem heiligen Ornat bekleidet, dessen acht Teile von den acht schwersten Sünden reinigen. So arm an Verstand und Gelehrsamkeit er ist, es ist Heiligkeit in ihm. Aber diese Heiligkeit ist schwer zu tragen. Da befehlen also diese Soldaten, der Tempeldienst habe aufgehört. Das geht nicht. Aber was soll er tun? Alle schauen auf ihn, wartend, daß er etwas sagen soll. Oh, wenn er seinen Ornat angezogen hätte, dann gäbe ihm Jahve bestimmt die rechten Worte. Jetzt kommt er sich nackt vor, steht herum, hilflos. Endlich tut er den Mund auf. »Sie können«, redet er Johann von Gischala zu, »mit den neun Lämmern Ihre Armee nicht speisen. Wir können damit den Dienst vier heilige Tage weiterführen.« Die Priester finden, was der Erzpriester Phanias gesagt hat, das ist die fromme, billige Vernunft des Volkes, und sogleich springt der Chef des Tempeldienstes ihm bei. »Wenn diese Männer noch leben«, sagt er und weist auf die Priester um ihn herum, »dann ist es nur durch den Willen, Jahves Dienst gemäß der Schrift zu verrichten.«
  Aber Simon Bar Giora sagte nur: »Die Tore des Tempels haben lange genug zugeschaut, wie ihr euch den Bauch von Jahves Opfern gefüllt habt«, und seine Bewaffneten drangen in die Lämmerhalle. Sie nahmen die Lämmer. Sie drangen in die Weinhalle, nahmen den Wein und das Öl. Sie drangen in den Heiligen Raum. Niemals seit Bestehen des Tempels hatten Nichtpriester den Fuß hierhergesetzt. Jetzt tappten die Soldaten schwerfällig, verlegen grinsend, durch die kühle, strenge, dämmerige Halle. Der siebenarmige Leuchter stand da, das Räucherfaß, der Tisch mit den zwölf goldenen Broten und den Broten aus Mehl. Niemand kümmerte sich um das Gold, aber auf die duftenden Weizenbrote wies Simon, und: »Nehmt!« befahl er, er sprach besonders barsch, um seine Unsicherheit zu verstecken. Die Soldaten gingen auf den Schaubrottisch zu, behutsam, auf scheuen Sohlen. Dann, mit schnellen Bewegungen, bemächtigten sie sich der Brote. Sie trugen sie ungelenk, als wären die Brote kleine Kinder, mit denen man vorsichtig umgehen muß.
  Der Erzpriester Phanias war täppisch hinter den Soldaten hergestapft, unglücklich, krank vor Zweifel, was er beginnen solle. Ängstlich starrte er auf den Vorhang zum Allerheiligsten, der Wohnung Jahves, die nur er betreten durfte am Versöhnungstag. Aber Simon und Johann rührten nicht an den Vorhang, sie kehrten um. Eine ungeheure Last fiel ab von dem Erzpriester Phanias.
  Die Soldaten atmeten auf, als sie die verbotenen Räume verließen. Sie waren heil, kein Feuer war vom Himmel niedergefahren. Sie trugen die Brote. Es waren erlesen weiße Brote, aber nur eben Brote, es geschah einem nichts, wenn man sie berührte.

Simon und Johann luden für diesen Abend die Herren ihres Stabs zum Abendmahl, dazu den Sekretär Amram. Sie alle hatten seit Wochen kein Fleisch gegessen, nun schnupperten sie gierig den Geruch des Gebratenen. Auch war viel und edler Wein da, Wein von Eschkol, und es lag Brot auf dem Tisch, reichlich, nicht nur zum Essen, sondern auch, die Männer lachten, um das Fleisch vom Teller zu nehmen. Sie hatten gebadet, sich mit dem Öl des Tempels gesalbt, Haar und Bart schneiden und glätten lassen. Erstaunt sahen sie einander an: in was für stattliche, elegante Herren hatten die Verwilderten sich verwandelt.
  »Legen Sie sich bequem hin und essen Sie«, forderte Johann von Gischala auf. »Es ist wohl das letztemal, daß wir es tun können, und wir haben es verdient.« Ihre Soldaten wuschen ihnen die Hände, Simon Bar Giora sagte den Segensspruch und brach das Brot, es war ein reichliches Mahl, und sie gaben auch den Soldaten ab.
  Die beiden Führer waren guter, milder Laune. Sie dachten ihrer Heimat Galiläa. »Ich denke an die Johannisbrotbäume deiner Stadt Gerasa, mein Bruder Simon«, sagte Johann. »Es ist eine schöne Stadt.« – »Ich denke an die Feigen und das Öl deiner Stadt Gischala, mein Bruder Johann«, sagte Simon. »Du kamst vom Norden nach Jerusalem, ich vom Süden. Wir hätten uns zusammentun sollen, als wir kamen.« – »Ja«, lächelte Johann, »wir waren Narren. Wir waren die Hähne. Der Knecht trägt sie an den Füßen in den Hof, um sie zu schlachten, und sie, hängend und schaukelnd, hauen einander mit den Schnäbeln.«
  »Gib mir das Bruststück, das du auf deinem Teller hast, mein Bruder Johann«, sagte Simon, »und laß mich dir die Keule geben. Sie ist fetter und saftiger. Ich liebe und bewundere dich sehr, mein Bruder Johann.« – »Ich danke dir, mein Bruder Simon«, sagte Johann. »Ich habe nie gewußt, was für ein schöner und stattlicher Mann du bist. Ich sehe es erst jetzt, wo es zu sterben geht.«
  Sie tauschten das Fleisch, und sie tauschten den Wein. Johann stimmte das Lied an, das den Simon feierte, wie er die Maschinen und die Artillerie der Römer verbrannte, und Simon stimmte das Lied an, das den Johann rühmte, wie er hinter der ersten Mauer des Forts Antonia eine zweite errichtet hatte. »Wenn wir soviel Glück hätten wie Mut«, lächelte Johann, »die Römer wären längst nicht mehr da.« Sie sangen Sauf- und Hurenlieder und Lieder von der Schönheit des Landes Galiläa. Sie gedachten der Städte Sepphoris und Tiberias und der Stadt Magdala mit ihren achtzig Weberwerkstätten, die die Römer zerstört hatten. »Weithin ist der See rot von Blut in der Nähe von Magdala«, sangen sie, »weithin ist der Strand voll Leichen in der Nähe von Magdala.« Sie schrieben ihre Namen auf ihre Feldbinden mit den Initialen Makkabi, und sie tauschten die Binden aus.
  Von außen, in gleichmäßigem Abstand, kamen dumpfe Stöße gegen die Grundmauern. Das war der »Harte Julius«, der berühmte Rammbock der Zehnten Legion. »Laßt ihn stoßen«, lachten die Offiziere, »morgen verbrennen wir ihn.« Sie lagen, sie aßen, sie spaßten, sie tranken. Es war ein gutes Mahl, und es war das letzte.
  Die Nacht rückte vor. Sie wurden nachdenklicher, eine wilde, umschattete Heiterkeit lag über der großen Halle. Sie gedachten der Toten. »Wir haben nicht Linsen noch Eier«, sagte Johann von Gischala, »aber die zehn Becher der Trauer wollen wir trinken, und die Polster wollen wir umstürzen.« – »Es sind sehr viele Tote«, sagte Simon Bar Giora, »und es geziemte sich zu ihren Ehren ein besseres Mahl. Ich gedenke der toten Offiziere.« Es waren siebenundachtzig Offiziere gewesen, die römische Kriegskunst erlernt hatten, davon waren zweiundsiebzig gefallen. »Ihr Andenken sei gesegnet«, und sie tranken. »Ich gedenke des Erzpriesters Anan«, sagte Johann von Gischala. »Was er für die Mauer getan hat, war gut.« – »Er war ein Schuft«, sagte heftig Simon Bar Giora, »wir mußten ihn umbringen.« – »Wir mußten ihn umbringen«, gab Johann verträglich zu, »aber er war ein guter Mann. Sein Andenken sei zum Segen.« Und sie tranken.
  »Ich gedenke eines andern Toten«, sagte verbissen der Sekretär Amram. »Er war mein Jugendfreund und ein Hund. Er erlernte mit mir in einem Raum die Geheimnisse der Lehre. Sein Name ist Josef Ben Matthias. Sein Andenken sei nicht zum Frieden.«
  Er hatte einen Einfall, von dem er sich besonderen Spaß versprach. Zwinkernd verständigte er sich mit Simon und Johann, und sie ließen aus den Kerkern des Forts Phasael den Doktor und Herrn Matthias kommen, den Vater des Josef.
  Der alte, dürre Herr hatte lange, scheußliche Tage im Gestank eines dunkeln Verlieses gesessen, er war furchtbar erschöpft, aber er nahm sich zusammen. Er hatte Angst vor diesen wüsten Soldatenkerlen. Sie hatten so viele totgeschlagen, es war ein Wunder, daß sie ihn am Leben gelassen hatten, man mußte ihnen nach dem Mund reden. Er führte die schlotternde Hand an die Stirn, grüßte. »Was wollen Sie, meine Herren«, stammelte er, »von einem alten, wehrlosen Mann?«, und er blinzelte ins Licht und schnupperte wider seinen Willen nach den Speisen. »Es steht nicht gut, mein Doktor und Herr Matthias«, sagte Johann. »Wo wir jetzt sind, werden bald die Römer sein. Was wir mit Ihnen anfangen sollen, alter Herr, darüber sind wir uns noch nicht schlüssig. Ob wir Sie den Römern überlassen oder vorher totschlagen sollen.« Der Greis stand gekrümmt, stumm, zitternd.
  »Hören Sie«, sagte der Sekretär Amram, »die Lebensmittel sind knapp in der Stadt, wie Ihnen vielleicht bekannt ist. Wir haben kein Fleisch mehr, wir sind aufs Johannisbrot gekom men. Was Sie hier sehen, sind die Knochen der neun letzten Lämmer für den Brandopferaltar Jahves. Wir haben sie gegessen. Schauen Sie nicht so starr. Es hat uns geschmeckt. Sehen Sie ein Menetekel an der Wand? Ich nicht. Beim Beginn unseres Unternehmens stand Ihr Herr Sohn an unserer Seite. Er ist inzwischen abgeschwenkt. Es ziemt sich, daß am Ende Sie an unserer Seite stehen. Wir sind Leute von Lebensart. Wir laden Sie ein, an unserm letzten Mahl teilzunehmen. Es sind noch reichlich viele Knochen da, wie Sie sehen. Auch das Brot, mit dem wir das Fleisch von den Tellern genommen haben, steht zu Ihrer Verfügung.«
  »Ihr Herr Sohn ist ein Unflat gewesen«, sagte Johann von Gischala, und seine schlauen, grauen Augen waren zornig, »ein Wegwurf. Sie haben ein Stück Kot in die Welt gesetzt, mein Doktor und Herr Matthias, Priester der Ersten Reihe. Die Knochen und das Brot gebühren unsern Soldaten eher als Ihnen. Aber wir stehen zum Wort unseres Doktor Amram, wir laden Sie ein.« Simon Bar Giora war weniger höflich. Er bedrohte den Greis mit seinen finstern, engen Augen und herrschte ihn an: »Essen!«
  Der Alte zitterte stark. Er war unbändig stolz gewesen auf den Aufstieg seines Sohnes. Er selber hatte sich nie weit vorgewagt. Er begriff, ach, er begriff gut, daß Joseph später zu den Römern gegangen war. Aber diese Menschen begriffen es nicht, sie haßten seinen Sohn auf den Tod. Jetzt also soll er essen. Vielleicht soll das eine Probe sein, und wenn er jetzt aß, werden sie triumphieren und ihn verhöhnen und totschlagen, weil er seinen Rest Leben durch solchen Frevel zu bewahren sucht. Er war nach dem Moder und Gestank des lichtlosen Kerkers fast irr vor Hunger und Erschöpfung. Er sah die Knochen, es waren saftige Knochen, gefüllt mit Mark, von einjährigen, ausgesuchten Tieren, sicher konnte man die ganzen Knochen zerkauen und essen. Dazu das Brot, das herrlich duftende, das überdies vom Saft und der Tunke des Fleisches angenommen hatte. Der Alte befahl sich, nicht zu gehen, aber seine Füße folgten ihm nicht. Es zog ihn vorwärts, er ging, widerwilligen Schrittes. Griff nach den Knochen, gierig, mit seinen schmutzigen Händen. Biß zu, schlang, der Saft troff ihm in seinen ver wahrlosten weißen Bart. Er hatte keinen Segensspruch gesagt, das wäre wohl auch doppelte Lästerung gewesen. Er wußte, das war Fleisch vom Altar Jahves und Brot von seinem Tisch, und was er tat, war zehnfache Todsünde. Er schloß sich und seine Nachfahren vom Heil aus für alle Zeiten. Aber er hockte sich auf den Boden, die Knochen in beiden Händen, seine alten, schlechten Zähne rissen an den Knochen, bissen sie durch, er kaute, malmte, war glücklich.
  Die andern schauten ihm zu. »Seht«, sagte der Doktor Amram, »wie er sich um das Heil seiner Seele frißt.« – »Das sind die Leute, die uns soweit gebracht haben, mein Bruder Johann«, sagte Simon. »Das sind die Leute, für die wir sterben, mein Bruder Simon«, sagte Johann. Dann sagten sie nichts mehr. Schweigend schauten sie zu, wie der Doktor und Herr Matthias auf dem Boden der Halle hockte, im Schein der Fakkeln, fressend.

Am Tag darauf, am 6. August, weckte der Doktor Nittai die für diesen Tag ausgelosten Priester der Achten Reihe, der Reihe Abija. An Stelle des ratlosen Chefs hatte Doktor Nittai die Leitung des Tempeldienstes übernommen, und die Priester gehorchten ihm. Sie folgten ihm in die Halle, und Doktor Nittai sagte: »Kommet und loset, wer schlachten soll, wer das Blut sprengen, wer die Opferglieder zum Altar bringen soll, wer das Mehl, wer den Wein.« Sie losten. Dann sagte Doktor Nittai: »Gehe hinaus, du Bestimmter, und halte Ausschau, ob die Zeit zum Schlachten gekommen ist.« Als es soweit war, rief der am Ausschau: »Es tagt. Es wird hell im Osten.« – »Wird es hell bis Hebron?« fragte Doktor Nittai, und der am Ausschau erwiderte: »Ja.« Darauf befahl Doktor Nittai: »Geht hin und holt ein Lamm aus der Lämmerhalle.« Und die dazu ausgelost waren, gingen in die Lämmerhalle. Sie achteten nicht, daß kein Lamm darin war, sie holten das Lamm, das nicht da war, sie tränkten es nach der Vorschrift aus dem goldenen Becher.
  Die das Los getroffen hatte, begaben sich mittlerweile mit zwei riesigen goldenen Schlüsseln zum Heiligen Raum und öffneten das große Tor. In dem Augenblick, da das mächtige Geräusch der Toröffnung an sein Ohr drang, schlachtete der dazu Bestimmte im andern Raum das Opfer, das nicht da war. Dann brachten sie das Tier, das nicht da war, auf den Marmortisch, häuteten und zerteilten es nach der Vorschrift, trugen, ihrer neun, die einzelnen Teile zur Rampe des Altars. Dann losten sie, wer die Opferglieder von der Rampe auf den Altar bringen solle. Es kamen die Beamten des niederen Dienstes und kleideten die dazu Bestimmten neu ein. Dann entzündeten sie das Opferfeuer und räucherten aus goldener Schale mit goldenen Löffeln. Und sie nahmen die große Schaufelpfeife, die hunderttonige, und ließen alle hundert Töne zugleich erklingen. Wenn dieses gewaltige Gedröhn erklang, das jedes Geräusch in Jerusalem übertönte, dann wußten alle, jetzt wird das Opfer dargebracht, und sie warfen sich nieder.
  Man reichte dem Ausgelosten den Wein. Doktor Nittai erstieg das eine Horn des Altars, stand wartend, mit einem Tuch. Die dazu Bestimmten warfen die Teile des Opfers ins Feuer. Sowie sich der Priester zum Ausgießen des Weines bückte, gab Doktor Nittai sein Zeichen, schwenkte das Tuch. Und während die Rauchsäule stieg, stimmten die Leviten auf den Stufen des Heiligen Raumes den Psalm an, und die Priester auf den Rampen des Altars sprachen den Segen über das niedergeworfene Volk.
  So opferten an diesem 6. August die ausgelosten Priester der Achten Reihe, der Reihe Abija, mit allem Prunk und die vielen hundert Vorschriften strenge innehaltend. Diese Erschöpften, darauf gerüstet, heute oder morgen zu sterben, sahen nicht, daß die Lämmerhalle und der Altar des Herrn leer waren. Der Glaube Doktor Nittais war in ihnen. Dieser Glaube machte, daß sie das Lamm sahen. Sie brachten es dar, und dieses Opfer war der Sinn und Gipfel ihres Lebens. Nur dazu holten sie mit soviel Mühe Luft in ihre Lungen und stießen sie wieder aus, nur das noch schied sie vom Tode.

Als man Titus berichtete, daß die Juden ihrem Gott die letzten Lämmer weggefressen hatten, war er überaus betroffen. Das waren Unheimliche, Irrsinnige, von den Göttern Geschlagene. Warum beraubten diese Unbegreiflichen, die doch keinen Schutz hatten außer Jahve, Jahves Altar?

  Wie immer, jetzt waren die Belagerten am Ende. Es war eine große Versuchung, jetzt einen Sturm auf die erschöpfte Stadt anzusetzen. Die Armee, nach der langen, zermürbenden Belagerung, lechzte danach. Es war auch der kürzeste und sicherste Weg zum Triumph. Sein Vater hatte keine Ursache mehr, die Fiktion, es handle sich um eine polizeiliche Maßnahme, aufrechtzuhalten. Er sitzt in Rom fest genug, auch wenn er den Feldzug nicht selber beendet hat. Wenn Titus jetzt die Stadt stürmt, kann ihm Rom den Triumph nicht wohl verweigern.
  Der Prinz hat eine schlechte Nacht, voll von Zweifeln. Ein Triumph ist eine gute Sache. Aber hat er nicht Berenike, hat er nicht sich selber zugeschworen, seinen Zorn gegen die Aufständischen nicht am Tempel auszutoben? Er hat mit der Anwendung von Gewalt bei Berenike keine guten Erfahrungen gemacht. Wenn er das da schont, wenn er wartet, bis das da sich ihm ergibt, hat er dann nicht ausgelöscht, was er an der Frau getan hat?
  Er betraute den Josef damit, nochmals, ein letztes Mal, Verhandlungen anzubahnen. Er gab ihm ein Angebot mit, das weit über alle bisherigen Konzessionen hinausging.
  Josefs Herz schlug töricht hoch. Er neigte sich tief vor Titus, nach jüdischer Sitte, die Hand an der Stirn. Was der Römer gab, war ein großes Geschenk, dargereicht von einer starken Hand, die es wahrlich nicht notwendig hatte zu schenken, die ihren Willen erzwingen konnte. Er muß die in der Stadt dazu bringen, daß sie das erkennen. Jetzt hat es trotz allem Sinn bekommen, daß er hier bei den Römern vor Jerusalem ist und nicht innerhalb der Mauern wie jener Justus.
  Zur festgesetzten Stunde begab er sich unmittelbar vor die Mauer, allein, schlicht angezogen, ohne Waffen, ohne priesterliches Abzeichen. So stand er zwischen den Belagerern und den Belagerten, ein kleiner Mensch auf dem kahlen Boden vor der Ungeheuern Mauer, und vor ihm die Mauer war dichtbesetzt mit Juden, und hinter ihm die Blockademauer war dichtbesetzt mit Römern. Hitze war, Gestank, beklemmendes Schweigen, daß er nur sein Blut hörte. In seinem Rücken spürte er den kalten, spöttischen Blick des Tiber Alexander, vor sich sah er die haßerfüllten Augen des Simon Bar Giora, die wilden seines Jugendkameraden Amram, die verachtungsvollen des Johann. Er war am ganzen Leibe kalt in der heißen Sonne.
  Er begann zu sprechen. Zuerst klangen ihm seine Worte hohl und fremd, aber dann kam es über ihn, und er redete schlicht, heiß und gerade wie nie in seinem Leben. Die Römer, bot er an, werden im Fall der Übergabe die Bewaffneten zwar gefangensetzen, aber keinen am Leben büßen. Die Römer, bot er an, werden noch heute Opfertiere für den Tempel durchlassen, vorausgesetzt, daß man auch das für Jahve bestimmte Opfer des Kaisers, des Volkes und Senats von Rom annimmt und darbringt wie früher.
  Die auf der Mauer hatten Josef düster und voll Trauer kommen sehen. Jetzt schauten selbst unter den Makkabi-Leuten viele begierig auf Simon und Johann. Dies war wirklich ein großes, mildes Angebot, und in ihrem Herzen hofften sie, die Führer würden es annehmen.
  Allein die dachten nicht daran. Wenn sie sich ergeben, was werden sie dann für ein Leben haben, im Triumph aufgeführt zuerst, dann als Leibeigene in irgendein Bergwerk verschickt? Und selbst wenn die Römer sie freilassen, konnten sie unter Juden weiterleben nach allem, was geschehen war? Sie werden, nachdem ihr Krieg mißglückt ist, auf Lebenszeit unter den Juden verfemt sein. Und es waren nicht nur solche Erwägungen; es waren tiefere Gründe. Sie waren so weit gegangen, sie hatten bewirkt, daß jetzt das Land dem Erdboden gleichgemacht war und der Tempel ein Totenacker und eine Blutfestung, sie hatten die Lämmer Jahves gefressen, und nun wollten sie ihren Weg zu Ende gehen.
  Ohne also erst zu wissen, was die Römer anbieten würden, hatten sie ihre Erwiderung vorbereitet. Sie spuckten nicht aus, als Josef mit seiner Rede zu Ende war, schüttelten nicht den Staub von ihren Kleidern und Schuhen, dachten auch gar nicht daran, eine lange Antwort voll Zorn und Verachtung zu geben. Nein, sie öffneten nur die kleine Ausfallpforte neben dem Tor: und heraus kam quiekend und grunzend ein Schwein. Ja, sie hatten den Römern ein paar Schweine abgejagt, und davon eines ließen sie jetzt auf Josef los.
  Josef erblaßte. Das Schwein kam auf ihn zu, grunzend, schnuffelnd, und die auf der Mauer lachten. Und dann, im Sprechchor und auf lateinisch, es war nicht leicht für die erschöpften Männer, sie mußten es lange geübt haben, riefen sie: »Ist dir eine Vorhaut gewachsen, Flavius Josephus?« Sie lachten, und die Römer, sie konnten sich nicht helfen, lachten mit. Da hatten diese höllischen Juden wirklich einen verdammt guten Spaß gemacht. Josef aber stand allein zwischen den beiden Lagern mit seinem Schwein, im Angesicht des geschändeten, mit Geschützen gespickten Tempels, und schallend verlachten ihn Juden und Römer.
  In diesen Augenblicken, die lang waren wie Jahre, büßte Josef allen Hochmut seines Lebens. »Ihr Doktor Josef ist ein Lump«, hatte einmal einer gesagt mit einem gelben Gesicht, in Meron hatten sie Gras gesät über den Weg, auf dem er gekommen war, andere hatten sieben Schritte Abstand von ihm gehalten wie vor einem Aussätzigen, unter Posaunen war der Bann über ihn ausgesprochen worden, in Alexandrien war er in Stricken gelegen unter der Geißel. Aber was war das alles vor diesen Augenblicken? Er war reinen Herzens gekommen, er wollte die Stadt retten, Männer, Frauen, Kinder und das Haus Jahves. Sie aber schickten ihm ein Schwein. Er wußte wohl, er mußte jetzt gehen, aber er zögerte. Die Mauer hielt ihn fest. Er mußte viel Willen aufbieten, um zu gehen. Er setzte einen Fuß hinter den andern, er ging rückwärts, den Blick immer auf den Mauern. Eine große Kälte fiel ihn an, alles war von ihm abgeblättert, Schmerz und Hochmut. Er gehörte nicht zu den Römern und nicht zu den Juden, die Erde war wüst und leer wie vor der Schöpfung, er war allein, um ihn war nichts als Hohn und Gelächter.
  Titus, als die Juden dem Josef das Schwein zutrieben, lachte nicht. Eigentlich, dachte er, kann ich zufrieden sein. Ich habe mich überwunden. Ich habe gutmachen wollen, was diese Irrsinnigen ihrem Gott angetan haben; jetzt stehe ich besser mit diesem Jahve als meine Feinde. Aber diese Erwägung hielt nicht lange vor. Er schaute hin zu dem Bewußten, zu dem Weiß und Goldenen. Erschreckend überkam ihn plötzlich die Lust, das da unter seine Füße zu treten, das Störende, Verwirrende. Sie selber haben es geschändet, er wird es vollends in den Dreck schmeißen, das da, das Höhnische, Hohe, mit seiner verdammten Reinheit. In seinem Hirn reißt es, wie er es von seinen Soldaten gehört hat, im Takt, wüst, wild: Hep, Hep, und bei jedem Hep kracht ein Schädel ein und stürzt ein Stück Haus.
  Gleich darauf erschrak er. Er wollte das alles nicht gedacht haben. Nein, es war durchaus nicht seine Absicht, mit diesem Jahve anzubinden. Das überließ er den Herren jenseits der Mauer.
  Eine dunkle Trauer packte ihn, eine wütende Sehnsucht nach der Jüdin. Hilflos zornig stand er vor dem Fanatismus der Juden, vor ihrer Verblendung. Berenike ist eine von diesen, unbegreiflich wie sie, niemals wird er sie wirklich besitzen.
  Er ging zu Josef. Der lag auf seinem Bett, zu Tode erschöpft, überdeckt von kaltem Schweiß trotz der Hitze des Sommertags. Er wollte sich erheben. »Liege, liege«, bat Titus, »aber sprich zu mir. Vielleicht macht mich der Zorn über diese Menschen blind. Erkläre du mir, mein Jude: was wollen sie? Ihren Zweck können sie nicht mehr erreichen: warum also wollen sie lieber sterben als leben? Sie können das Haus erhalten, für das sie kämpfen: warum wollen sie, daß es niederbrennt? Verstehst du das, mein Jude?« – »Ich verstehe es«, sagte Josef, unendlich müde, und sein Gesicht hatte den gleichen trauervollen Ausdruck wie die Gesichter derer auf der Mauer. »Bist du unser Feind, mein Jude?« fragte Titus, sehr zart. »Nein, mein Prinz«, sagte Josef. »Gehörst du zu denen jenseits der Mauer?« fragte Titus. Josef zog sich in sich zusammen, peinvoll, schwieg. »Gehörst du zu denen jenseits der Mauer?« wiederholte dringlicher Titus. »Ja, mein Prinz«, sagte Josef. Titus sah ihn an, ohne Haß, aber niemals waren sich die beiden fremder gewesen. Titus ging hinaus, immer das Aug auf dem Juden, kummervoll vor Nachdenken.

In ihrem stillen, schönen Haus in Tiberias, auf der Höhe über dem See, versuchte Berenike ihrem Bruder Agrippa zu erzählen, was sich im Lager ereignet hatte. Agrippa, als er sie zerstört und zerrüttet ankommen sah, hatte nicht gefragt. Jetzt berichtete sie um so offener. Verachtete sie den Titus um seiner Roheit willen? Nein. Das eben war das Schlimme, daß sie gegen seine Barbarei keinen Haß mehr aufbrachte. Durch das hämische, verkniffene Knabenantlitz, das er ihr zuletzt gezeigt hatte, sah sie das starke, zielgewisse Soldatengesicht. Es half nichts, daß sie sich vor ihrem Bruder, vor sich selber lustig machte über seine harte Pedanterie, über sein albernes Stenographieren. In seinem stinkenden Lager, in der zerstampften Ödnis um Jerusalem war Titus ein Mann, der Mann.

  Agrippa verstand gut die mühevollen Erklärungen seiner Schwester. Riß etwa dieser bittere Krieg an seinen eigenen Nerven weniger? Er hatte den Römern sein Kontingent zugeführt, war aber dann sogleich in sein transjordanisches Königreich zurückgekehrt und wollte von den Vorgängen im Lager so wenig hören wie möglich. Sein schönes Palais in Tiberias, seine Bilder, Bücher, Statuen waren ihm vergällt. »Du hast es leichter, Schwester«, sagte er, ein kleines, trübes Lächeln auf dem schönen, etwas zu fleischigen Gesicht. »Hänge du dein Herz an Judäa, an das Land und an seinen Geist, und schlafe mit deinem Römer: und du hast für dich das Problem gelöst. Liebe ihn, Nikion, deinen Titus. Ich beneide ihn, aber ich darf dir nicht abraten. Was aber bleibt mir, Nikion? Ich begreife beide, die Juden und die Römer. Allein wie soll ich beide halten? Wenn ich sein könnte wie die in Jerusalem, wenn ich sein könnte wie die Römer. Ich sehe den Fanatismus der einen, das Barbarische der andern, aber ich komme nicht los, ich kann mich nicht entscheiden.«
  Berenike, in der Stille von Tiberias, lauschte gespannt allen Nachrichten aus dem Lager vor Jerusalem. Zuerst war noch in ihren Augen die Ödnis, in die die schimmernde Umgebung der Stadt sich verwandelt hatte, in ihren Nasenlöchern der Gestank des Lagers, in ihren Ohren das Heulen des Getiers, das auf Aas wartete. Allmählich aber verlor diese Erinnerung ihren Ekel, und die Tollheit des Krieges begann die Frau anzustecken. Krieg, das war Blut und Feuer, ein großes Schauspiel, Krieg roch lieblich, Krieg, das waren wildfromme Männergesichter, brünstig nach einem schnellen, beseligenden Sterben. Immer heftiger aus der nachdenklichen Schönheit von Tiberias sehnte sie sich nach dem großen, pathetischen Getümmel des Lagers. Warum schwieg der Mann? Warum schrieb er ihr nicht? Hatte ihr Leib ihm mißfallen? Alle Wut und Scham richtete sie gegen sich selber, nicht gegen den Mann.
  Als Nachricht kam, es sei nun soweit, die Entscheidung über das Schicksal des Tempels stehe unmittelbar bevor, schon habe sich ein Kabinettsrat des Kaisers damit befaßt, hielt sie sich nicht länger. Jetzt hatte sie Grund genug, ins Lager zurückzukehren.
  In dem Prinzen stieg ein großes Triumphgefühl hoch, als sie sich anmeldete. Seitdem die Frau von ihm geflohen war, hatte er zwei schwer erträgliche Monate verbracht, in dem heißen, stinkenden Sommer mit mühsam gezähmten Nerven auf das Ende der Stadt lauernd. Er hat durch heftige Arbeit seine Unrast zu betäuben gesucht, er ist auch vorangekommen, er hat den Krieg bis unmittelbar an den Tempel herangetragen, und wo ehemals das Fort Antonia stand, steht jetzt sein dreigeteiltes Zelt, Arbeitsraum, Schlafraum, Eßraum. Das Bild der Berenike versagt er sich nicht länger. Beängstigend lebendig, wie alles, was Fabull gemacht hat, steht es in seinem Arbeitszimmer. Oft schaut er in die braungoldenen, langen Augen der Frau. Wie konnte er auf die irrsinnige Idee kommen, sie zu nehmen wie eine spanische Hure? Das ist eine fremde Frau, ja, sehr hoch und fremd. Er brennt nach ihr wie am ersten Tag.
  Er suchte seine Aufzeichnungen vor, Worte von ihr, die er mitstenographiert hatte, verglich sie, wog sie ab. Stand lange Zeit betrachtsam vor dem Bild, voll von Zweifeln. Bezwang sich, unternahm nichts, wartete.
  Nun also kam sie von selbst. Er ritt ihr weit vors Lager entgegen. Berenike war sanft, ohne Vorwurf, mädchenhaft. Die fahle Landschaft um Jerusalem, das Volk der Gekreuzigten, die Raubvögel, die verwilderten, gefährlichen Mienen der Soldaten, dieses Ge Hinnom, diese Totenlandschaft schreckte sie nicht. Denn festen Schrittes durch diesen Hades ging der Prinz, der Mann, und da sie an seiner Seite war, zog eine große Ruhe in sie.
  Sie lagen zusammen beim Abendessen. Er erzählte ihr von seinen Jungen, seinen Soldaten. Diese Juden machten es einem verdammt schwer. Sie waren fanatisch, toll wie angeschossene Wildsäue. Sie riskierten ihr Leben um einen Sack mit Weizen. Ersannen immer neue, harte Tricks. Da hatten sie etwa das Dach der Verbindungshalle zwischen dem Fort Antonia und dem Tempelbezirk mit Erdharz, trockenem Holz und Pech gefüllt, die Römer daraufgelockt und sie gebraten wie Fische. Aber auch mit seinen Jungens war nicht zu spaßen. Der Prinz erzählte, als ob es nicht um Verlust oder Gewinn, sondern um guten Sport ginge. Er selber schont sich nicht, wenn es darauf ankommt, er springt mitten ins Getümmel, er ist zweimal verwundet worden, sein Pferd haben sie ihm unterm Leib erstochen, seine Offiziere reden immer auf ihn ein, er, der Feldherr, möge die gemeine Kampfarbeit dem gemeinen Mann überlassen.
  Titus erzählte, beflissen, gut gelaunt, kaum darauf achtend, ob sie zuhöre. Plötzlich gewahrte er, wie sie ihn anschaute. Das waren nicht die Augen des Bildes. Wie sie sich an ihn hängten, wie sie sich verschleierten, das war ihm an Frauen nicht fremd. Leise, während er sprach, mit einer Bewegung, die nahm und doch zart war, schloß er Berenike ein mit beiden Armen. Sie glitt ihm zu, er sprach den angefangenen Satz nicht zu Ende, mitten in seinen Erzählungen sanken sie hin und mischten sich.
  Still dann lag sie, mit geschlossenen Augen, lächelnd. Titus preßte den breiten Bauernkopf, der jetzt frisch und jungenhaft aussah, an ihre Brust, bohrte ihn in ihren Leib. »Ich weiß«, sagte er und machte seine harte Kommandostimme schmiegsam, »ich weiß, du bist nicht um meinetwillen gekommen. Aber laß mich glauben, du seist es. Süße, Herrliche, Königin, Geliebte. Es ist wahrscheinlich um deines Tempels willen, daß du gekommen bist. Gesegnet sei dein Tempel, weil du kamst. Es war fest in meinem Plan, daß er stehenbleiben soll. Süße, und wenn ich zehntausend Männer mehr daransetzen müßte, er wird stehenbleiben. Es ist dein Tempel. Er ist der Rahmen für dich, und zehntausend Mann ist kein Preis dafür. Auch das Haus deiner Mütter werde ich neu aufbauen. Du sollst die Stufen hinaufschreiten, Nikion, mit deinem Schritt, der mich selig macht, und hinter dir soll dein Tempel sein.«
  Berenike lag mit geschlossenen Augen, lächelnd. Sie trank seine Worte ein. Ganz leise sagte sie: »Mann, Kind, Janik, Janiki. Ich bin deinethalb gekommen, Janiki.«

Am 21. August, dem 1. Ab jüdischer Rechnung, begann der »Harte Julius« gegen die äußere Umfassungsmauer des Tempelbezirks zu arbeiten. Er arbeitete sechs Tage ununterbrochen, andere Maschinen wurden angesetzt, am 27. August arbeiteten alle Maschinen gleichzeitig. Ohne Erfolg. Man versuchte es mit der direkten Attacke, legte Leitern an, ließ zwei Kohorten in Schildkrötenform an den Leitern antreten. Die Juden stürzten die mit Bewaffneten dichtbesetzten Leitern von oben her um. Einige Legionäre, der Träger eines Feldzeichens darunter, gelangten bis auf die Mauer, aber hier wurden sie niedergemacht, und die Juden bemächtigten sich des Feldzeichens.
  Titus ließ Feuer an die Tore legen. Die äußeren Kolonnaden, beruhigte er sich und Berenike, seien noch nicht der Tempel. Man legte also Feuer an die Tore, das überall schmelzende Silber öffnete den Flammen den Weg zu dem hölzernen Gebälk. Den ganzen Tag und die folgende Nacht hindurch wütete das Feuer. Dann waren die nördlichen und westlichen Säulenhallen des Tempelbezirks vernichtet, und nun stand man vor dem hohen Tempelhaus selbst.
  Am 28. August, dem 8. Ab jüdischer Rechnung, während die römischen Löschkommandos arbeiteten, um durch Schutt, Asche, Glut und Niederbruch einen Weg unmittelbar bis an das Tempelhaus zu führen, berief Titus einen Kriegsrat ein. Es sollte entschieden werden, wie gegen das Tempelhaus vorzugehen sei.
  An dem Kriegsrat nahmen teil der Marschall Tiber Alexander, dazu die kommandierenden Generäle der vier Legionen, Cerealis von der Fünften, Lepid von der Zehnten, Litern von der Zwölften, Phryg von der Fünfzehnten und Marcanton Julian, der Gouverneur von Judäa. Als Sekretär zog Titus den Josef bei.
  Titus ließ zunächst einen Brief des Kaisers verlesen. Berenike war recht berichtet, der Kaiser hatte eine Kabinettsitzung einberufen, um die Meinung seiner Herren über den Fortbestand des Tempels einzuholen. Einige der Minister waren der Meinung gewesen, man solle das Bollwerk der Meuterei, dieses Zentrum und Symbol aufsässigen jüdischen Nationalstolzes, dem Erdboden gleichmachen. Nur so könne man ein für allemal den Juden ihren Sammelpunkt nehmen. Andere waren der Ansicht, man führe Krieg gegen Menschen, nicht gegen leblose Dinge, und das Kulturprestige Roms verlange, daß ein so hochherrliches Bauwerk geschont werde. Der Kaiser selber, endete der Brief, sei zum Schluß gekommen, dem Feldherrn zu empfehlen, den Bau wenn möglich zu erhalten.
  Die Herren hörten den Brief ernst an, mit gesammelten Gesichtern. Sie wußten, es ging um den Triumph. Wurde der Tempel gestürmt, dann war dies der glorreiche Abschluß eines Feldzugs, dann konnte niemand mehr von Strafexpedition fabeln, dann mußte der Senat den Triumph bewilligen. Lokkend vor ihnen stand der Glanz und Rausch eines solchen Triumphtages, Lebenshöhe für alle, die als Sieger in dem Zug mitschritten. Aber davon durfte nicht gesprochen werden, von den Interessen der Armee durfte hier so wenig gesprochen werden wie im Kronrat des Kaisers.
  Sie konnten sich gut vorstellen, wie dieser Kronrat verlaufen war. Der dicke Junius Thrax mochte mit einigen geruhsamen Worten für die Schonung des Tempels eingetreten sein; auch der fette Claudius Regin mochte ein paar vage, vermittelnde Worte geäußert haben. Um so schärfer sicherlich war der Minister Talaß für die Zerstörung des Tempels eingetreten. Schließlich war dann dieses Kompromiß herausgekommen, dieses »wenn möglich«, dieser Brief, der die Verantwortung für alles, was geschah und nicht geschah, der Armee zuschob. Je nun, die Armee kann die Verantwortung tragen. Die Armee will ihren Triumph, die Stimmung der Truppen, die sich wild danach sehnten, das da, das Bewußte mit den Stiefeln zu zertreten, diese Stimmung hatte sich auch vieler Führer bemächtigt. Hep, Hep, riß es auch an ihnen. »Den Bau wenn möglich zu erhalten«, das war von Rom aus leicht gesagt. Wo beginnt das »möglich«, und wo hört es auf?
  Als erster sprach der Marschall Tiber Alexander. Er weiß, die andern wollen ihren römischen Triumph: er will vernünftige Unterwerfung des Landes. Er sprach kurz und verbindlich wie stets. Die Erhaltung des Bauwerks werde Opfer kosten. Aber zehntausend Soldaten ließen sich ersetzen, der Tempel sei einmalig und lasse sich nicht ersetzen. Mit hunderttausend Mann gegen jetzt etwa fünfzehntausend innerhalb der Mauern müsse man fertig werden. Es sei möglich, das Bauwerk zu schonen.
  Der General Phryg von der Fünfzehnten Legion, unterstützt durch beifällige Zurufe des Generals Litern, widersprach. Gewiß sei es möglich, den Tempel unter Preisgabe von schätzungsweise zehntausend römischen Legionären dem Reich und der Welt zu erhalten. Aber er glaube nicht, daß der Kaiser, ein Soldatenfreund, die Grenzen des Möglichen so weit habe stecken wollen. Schon seien viele Tausende durch die unfaire Kriegführung der Juden jämmerlich umgekommen, zerschunden, geröstet. Man dürfe nicht weitere Tausende daransetzen. Die Soldaten lechzten danach, das da niederzubrennen, sein Gold herauszuholen. Versage man ihnen diese billige Rache, dann werde man in der Armee eine berechtigte Mißstimmung erzeugen.
  Tiber Alexander, während der General Litern lärmend zustimmte, lächelte verbindlich wie stets. Dieser Phryg, das war so recht der Typ des Offiziers, der ihm verhaßt war, stur, kraftprotzig. So was wie dieser General, das will seinen Triumph haben, sonst nichts. So was wie dieser General wird ein Bauwerk, das der Geist von Jahrhunderten geschaffen hat, niemals begreifen. So was stampft mit seinen Soldatenstiefeln darüber weg, seinem Triumph zu, und macht nicht den kleinsten Umweg.
  Aber schon sprach Marcanton Julian, der Gouverneur der Provinz Judäa. Er war Beamter, ihn kümmerte nur sein Ressort, die zukünftige Verwaltung der Provinz. Er wollte keine Verantwortung weiter haben. Er zweifle nicht, führte er aus, daß die Armee jetzt auch bei Schonung des Tempels den Aufstand niedertreten werde. Aber das sei eine Lösung nur auf kurze Zeit, nicht auf die Dauer. Niemand könne den Kunstwert des Baus aufrichtiger bewundern als er. Allein die Juden hätten nun einmal den Tempel zur Festung gemacht, und eine Festung werde er bleiben auch nach Niederringung des Aufstands. Wann aber jemals habe Rom in unterworfenen Gebieten Festungen der Aufständischen stehenlassen? Man müsse den Tempel schleifen, wenn man nicht wolle, daß die Juden, gleich nachdem man einen Teil der Truppen zurückziehe, an neue Empörung dächten. Schone man den Bau, so werde dieses unruhige, überhebliche Volk das bestimmt nicht als Zeichen der Milde, sondern der Schwäche auffassen. Er, als Gouverneur Judäas und Rom verantwortlich für Ruhe und Ordnung in dieser schwierigen Provinz, müsse dringend darum bitten, daß man den Tempel dem Erdboden gleichmache. Es sei nicht möglich, ihn zu schonen.
  Titus hörte sich alles mit an; manchmal stenographierte er mit, ein wenig mechanisch. Er begriff gut den Wunsch der Soldaten und den Wunsch der Generäle. Brennt er nicht selber nach dem Triumph?
  Allein dieser Jahve ist ein gefährlicher Gegner. Schon die Hartnäckigkeit, mit der dieses Volk ihn verteidigt, beweist, daß er bei aller Lächerlichkeit kein kleiner und zu verachtender Gott ist. »Wenn möglich.« Er seufzt, unhörbar. Er wünschte, Vespasians Brief wäre klarer.
  Mittlerweile hatten alle Herren ihre Meinung abgegeben. Es zeigte sich, daß drei Stimmen für die Erhaltung des Tempels, drei für seine Zerstörung waren. Gespannt wartete man auf die Entscheidung des Prinzen. Selbst der beherrschte Tiber Alexander konnte ein kleines, nervöses Zucken nicht verhindern.
  Josef kratzte nervös mit dem Schreibgriffel auf die Tischplatte. Er achtete scharf auf jedes Wort, das gesprochen wurde, er schrieb schlecht mit, aber er hatte ein zuverlässiges Gedächtnis. Die Gründe, die die Soldaten vorbrachten, waren keine schlechten Gründe. Und noch ein besserer stand dahinter: der Wunsch eines römischen Triumphes. Titus hat ihm, der Berenike, sich selber zugesagt, er werde den Tempel schonen. Aber Titus ist Soldat. Des Soldaten höchstes Ziel ist ein Triumph in Rom. Wird er standhalten? Wird er einen Triumph in Rom gefährden, um Jahves Haus zu erhalten?
  Titus überlegt. Aber es sind nicht Gründe und Gegengründe. Dieser Jahve, denkt er, ist ein sehr listiger Gott. Wahrschein lich ist er es, der mir dieses störende Gefühl für die Frau in die Brust gelegt hat. Sie hat sich mir gegeben, ich kenne sie: wahrscheinlich ist es dieser Jahve, der nicht zuläßt, daß mein Durst aufhört. Wie wird mein Vater grinsen, wenn er hört, daß ich den Tempel verbrannt habe. »Na, Cänis, alter Hafen«, wird er sagen, »er hat’s nicht lassen können. Bewilligen wir ihm seinen Triumph.«
  Eine Viertelminute Schweigen ist vergangen. »Ich schließe mich«, sagt Titus, »der Meinung derer an, die es für möglich erachten, den Tempel zu schonen. Ich denke, römische Legionen werden Manneszucht halten, auch wenn ihnen ein Befehl einmal nicht zusagt. Ich danke Ihnen, meine Herren.«

Vor dem Zelt des Titus versammelten sich wie jeden Abend nach altem Lagerbrauch die Musikkorps, um die Retraite zu blasen, die Fanfare, das Symbol der höchsten Feldherrngewalt. Titus stand im Eingang des Zeltes. Die Fanfare abzunehmen war ihm immer eine besondere Freude. Die Spielleute, es waren ihrer an zweihundert, nahmen Aufstellung. Das Zeichen kam. Und dann ging es los, unlieblich, aber machtvoll, das Dröhnen der Pauken, das Pfeifen und Heulen der Hörner und Flöten, das Schmettern der Trompeten, das Gellen und Schrillen der Reiterzinken, und Titus erfreute sein Herz an der bunten, lustigen Schar und an ihrem ehrenvollen Lärm.
  Dann zogen sie ab. Und jetzt kam etwas Gewichtigeres, die Ausgabe der Parole und des Tagesbefehls. Das vollzog sich umständlich, feierlich. Abwechselnd täglich schickte jede der vier Legionen ihren Ersten Zenturio, daß der vom Feldherrn Tagesbefehl und Parole entgegennehme und, ebenso umständlich und feierlich, weitergebe.
  Titus war nicht angenehm überrascht, als sich am Abend dieses 28. August als Befehlsempfänger der Hauptmann Pedan einstellte, der Erste Zenturio der Fünften Legion. Es war der seit langer Zeit wichtigste Befehl, und der Prinz hatte ihn dreimal geändert. Er überreichte dem Manne das Täfelchen. Der Hauptmann Pedan nahm es in seine breiten, kurzen, schmutzigen Hände. Er las: »Parole: Geh unter, Judäa. Befehl: Im Lauf des 29. August sind die Lösch- und Aufräumarbeiten an der Nord- und Westseite des Tempels unter allen Umständen dergestalt zu Ende zu führen, daß für den frühen Morgen des 30. August das Gelände für den Angriff bereit ist. Belästigt der Gegner die Lösch- und Aufräumekommandos, so ist er mit Energie abzuweisen, doch unter Schonung der Baulichkeiten, soweit sie zum eigentlichen Tempelhaus gehören.
  Der Hauptmann Pedan las den Befehl vorschriftsmäßig mit lauter Stimme. Der Erste Zenturio der Fünften hatte einen raschen Verstand, er hatte den Befehl mit seinem einen sehenden Auge und mit seinem listigen Hirn längst erfaßt, ehe seine quäkende Stimme dem Auge nachkam. Langsam also sprach er das Gelesene. Fleischig, mit nacktem, rosigem Gesicht, gewaltigen Schultern, mächtigem Nacken stand er vor dem Feldherrn. Langsam aus seinem breiten Mund kamen die Worte des Befehls. Die Worte: so ist der Gegner mit Energie abzuweisen, kamen sehr deutlich und mit Nachdruck, die Schlußworte: doch unter Schonung der Baulichkeiten, sprach der Hauptmann nicht etwa schneller, trotzdem klangen sie hingeworfen, nebensächlich. Er richtete, während er las, die Augen, das lebendige wie das tote, mehr auf den Feldherrn als auf das Täfelchen, forschend, zögernd, als läse er nicht richtig. Wieder, unter diesen Augen, spürte Titus vor dem lärmenden, plumpen Menschen den gleichen Widerwillen wie schon oft und die gleiche starke Lockung, die gleiche tolle Lust, die er bei den Worten der Generäle gespürt hatte, die Feuerbrände weiterzutragen, sie hineinzuschmeißen in das da, in das Bewußte. Ein kleines Schweigen war. Der Hauptmann schaute ihn immer noch an, ungläubig, wartend. Ja, kein Zweifel, er wartete. Du hast ganz recht, mein Pedan, aber die andern haben auch recht. Tut, was ihr wollt. Immer schiebt einer dem andern die Verantwortung zu. Alle wollen es tun, aber keiner will es gewesen sein. Du bist ein Mann, mein Pedan: tu du es. So vielleicht spürte Titus, während der Hauptmann Pedan dastand und wartete. Es wurde nicht Gedanke, und schon gar nicht wurde es Wort, Titus hütete sich. Nichts trat zutage als ein kleines, unmerkliches Lächeln. Allein der Erste Zenturio der Fünften merkte das Lächeln. Sagte er etwas? Dem Feldherrn war, als habe er etwas gesagt. Es hatte geklungen wie Hep, Hep. Aber das war natürlich unmöglich. Der Hauptmann Pedan nahm das Täfelchen, steckte es vorschriftsmäßig ein, grüßte, den Arm mit der flachen Hand ausgestreckt. Der Feldherr sagte: »Danke.« Der Hauptmann Pedan entfernte sich, und es war nichts gewesen.
  In dieser Nacht schlief Titus mit Berenike. Er schlief unruhig, und Berenike hörte ihn sagen: gib mir das Täfelchen.

Der Hauptmann Pedan mittlerweile ging zurück nach seinem Zelt. Er hatte die Worte des Befehls genau im Kopf, trotzdem zog er das Täfelchen nochmals heraus, überlas es. Machte den breiten Mund noch breiter, war vergnügt. Gewiß, die Hitze des Landes, die scheußlichen Mücken, die sein blondes, rosiges Fleisch besonders liebten, die aufreibende Langeweile der Belagerung, das alles war zuwider, und der Träger des Graskranzes, der Liebling der Armee, hätte sich das sparen können. Er war im vorigen Jahr, als hier die Kriegshandlungen stockten, mit einem Detachement des Mucian nach Italien gegangen, um dort an dem Feldzug gegen Vitell teilzunehmen. Er hätte dort bleiben, hätte in die Garde eintreten, sich zum Oberst, zum General befördern lassen können. Jetzt, dieses Täfelchen in der Hand, bereute er es nicht, daß er als Erster Zenturio zu seiner Fünften zurückgekehrt war, vor dieses lausige Jerusalem und in diese verdammte Belagerung.
  Pedan war Soldat. Er hatte vom Stiefel auf gedient. Er liebte es, dick und grob zu essen, zu huren, herumzusaufen, saftige Lieder zu grölen. Er hatte Stechen, Schießen, Fechten gelernt, war, der fleischige Mann, unheimlich gewandt und kräftig. Er war sehr einverstanden mit sich selber. Oft spiegelte er sein Gesicht, nicht nur in dem kostbaren Goldspiegel, den er auf allen Kriegszügen mitführte, sondern auch an jedem Wasser, an dem er vorbeikam, oder in seinem Schild. Sein Gesicht gefiel ihm. Als er sein Auge einbüßte, hatte er, um sich das neue Auge anfertigen zu lassen, den besten jener Spezialisten bestellt, die den Statuen Augen einfügten. Jetzt erst recht gefiel ihm sein Gesicht, und er bereute es nicht, daß er das Auge verloren hatte. Er liebte die Gefahr. Auch liebte er Beute. Er hatte aus seinem Beuteanteil, aus den Gratifikationen für besondere Leistungen und aus geschickten Lagergeschäften ein ansehnliches Vermögen zusammengerafft, das bei einem Bankier in Verona in guter Hut lag und sich dick verzinste. Einmal, alt, zahnlos, wird er sich nach diesem Verona zurückziehen, wird, der Träger des Graskranzes, der Liebling der Armee, eine große Rolle spielen, wird die Stadt tanzen lassen nach seinem Willen.
  Vorläufig allerdings hat er Besseres zu tun. Da ist zum Beispiel dieser kuriose Befehl. Ein überaus erfreulicher Befehl, den im Grunde nur er richtig versteht und mit dem nur er umzugehen weiß. Dieser kuriose Befehl allein schon lohnt es, daß er aus dem üppigen Italien zu seiner Fünften zurückkehrte. Denn der Erste Zenturio der Fünften, gemeinhin Menschen gegenüber sehr gleichgültig, den Gegner sportlich niederhauend ohne weiteres Interesse an seiner Person, dieser Hauptmann Pedan hat einen großen Haß: die Juden.
  Alles an diesen Leuten, ihre Sprache, ihre Sitten, ihr Glaube, ihr Atem, ihre Luft, ärgert ihn. Auch die andern östlichen Menschen sind faule, stinkende Barbaren mit abgeschmackten Bräuchen. Aber diese Juden, ist es zu glauben, lieben so den Müßiggang, daß sie durch kein Mittel, auch durch den Tod nicht, dahin zu bringen sind, an ihrem siebenten Tag irgend etwas zu tun. Sie haben sogar einen Fluß in ihrem Land, den Sabbatfluß, der am siebenten Tag stillsteht. Und zu Beginn des Krieges haben sie, er hat es mit eigenen Augen gesehen, sich an diesem siebenten Tag ohne Gegenwehr abschlachten lassen, einfach aus prinzipieller, vom Gesetz verordneter Faulheit. Sie glauben, die Dummköpfe, die Seelen derer, die ihre dreckigen Gebote halten, werden von ihrem Gott für die Ewigkeit konserviert. Das macht diese Unverschämten so unempfindlich gegen das, was andere lockt und abschreckt. Sie halten sich für besser als andere Menschen, gerade als wären sie römische Legionäre. Sie hassen und verachten alle andern. Beschneiden sich das Glied, nur um ein Unterscheidungsmerkmal zu haben. Sie sind aufreizend anders, hartnäckig wie wilde Ziegenböcke. Wenn sie sterben, wenn man sie kreuzigt, dann schreien sie: »Jah, Jah. Jah ist unser Gott.« Er hat, wegen dieses Jah, Jah, zuerst geglaubt, ihr Gott sei ein Esel, und einige sagen auch, sie verehrten einen Esel in ihrem Allerheiligsten. Aber das stimmt nicht, diese Wahnsinnigen und Verbrecher glauben vielmehr an einen Gott, den man nicht sehen noch schmecken kann, einen Gott, so unverschämt wie sie selber, nur im Verstande vorhanden. Er hat sich mehrmals den Privatspaß gemacht, wenn sie einen kreuzigten, den Hängenden zu kitzeln, ob er ihm nicht durch Drohungen und Versprechungen Vernunft beibringen könnte. Aber nein und nein. Sie glauben wirklich an ihren unsichtbaren Gott, sie schreien Jah, Jah und sterben. Der Hauptmann Pedan ist ein wilder, unerbittlicher Gegner solchen Unsinns. Er will ihn ausrotten. Das Leben wäre nicht lebenswert, wenn etwas von ihrem Geschrei wahr wäre, und wäre es auch nur das winzigste Häuchlein. Es ist aber nicht wahr, es soll nicht wahr sein.
  Der Hauptmann Pedan geht wiegenden Schrittes in sein Zelt, den breiten Mund höhnisch verzogen. Wenn irgend etwas von diesem Gott Jahve existiert, dann müßte er doch wohl sein Haus schützen können. Das wird er aber nicht, dafür wird der Erste Zenturio der Fünften sorgen. Nur zu diesem Zweck steht er in diesem heißen, stinkenden Sommer vor dem lausigen Jerusalem. Er wird es diesem Gott Jahve eintränken. Er wird ihm beweisen, daß er überhaupt nicht vorhanden ist, daß das da, sein Haus, nichts ist als ein leeres Schneckenhaus.
  Der Hauptmann Pedan sieht das Gesicht des Prinzen vor sich, während er ihm den Text des Täfelchens vorliest. »Unter Schonung der Baulichkeiten, soweit sie zum eigentlichen Tempelhaus gehören.« Was heißt: Schonung, was heißt: eigentliches Tempelhaus? »Der Gegner ist mit Energie abzuweisen.« Das ist klarer. Das ist etwas, woran man sich halten kann.
  Hep, Hep, denkt der Hauptmann Pedan. Er ist ausnehmend guter Laune an diesem Abend. Er säuft, erzählt Zoten, ist von einem grimmigen Witz, daß selbst die Hauptleute, denen er im Licht steht, zugeben: er ist mit Recht der Liebling der Armee.

Andern Morgens rückte Pedan mit seinen Leuten zu den Lösch- und Aufräumearbeiten aus. Man schaufelte die glühenden Trümmer zur Seite, bückte sich, schaufelte, es sollte ein breiter, grader Weg entstehen, dem Tor zu. Dieses Tor, mit Gold beschlagen, war nicht groß; schräg links von ihm, in doppelter Mannshöhe etwa, war eine kleine, goldumrahmte Fensteröffnung. Im übrigen starrten die Mauern weiß, riesig, unerschütterlich, unterbrochen nur durch ein paar kleine Fenster in sehr großer Höhe.

  Die Aufräumearbeit war schmutzig, heiß, schwierig. Die Juden rührten sich nicht, kein Gesicht zeigte sich oben in den Öffnungen, das Tor blieb geschlossen. Pedan ärgerte sich. Da mußten er und seine Leute den Juden ihren Dreck wegräumen. Man arbeitete schwitzend, verdrossen. Pedan gab Weisung, zu singen. Er selber stimmte an, mit seiner quäkenden Stimme, das grobe Lied der Fünften:

»Wozu ist uns
ut? Der Legionär macht alles:
Kriege führt er, Wäsche wäscht er,
Throne stürzt er, Suppe kocht er,
Fährt den Mist und schützt den Kaiser,
Kinder säugt er, wenn es not ist.
Der Soldat muß alles können.
Unsre Fünfte, die macht alles.«

Als sie das Lied zum drittenmal sangen, zeigte sich der Gegner. Das Tor war doch nicht so klein, wie es ausgesehen hatte; jedenfalls war es groß genug, um in unglaublich kurzer Zeit unglaublich viele Juden auszuspeien. Die Soldaten vertauschten die Schaufel mit Schild und Schwert. Man hatte verflucht wenig Platz, und wer in die rauchenden Trümmer hineingedrängt wurde, dem war schwer zu helfen. »Makkabi«, schrien die Juden. »Geh unter, Judäa«, schrien die Römer. Es war ein richtiges Gefecht. Die Juden achteten es nicht, daß auch von ihnen viele in die glühenden Trümmer gerieten. In dicken Klumpen umschwärmten sie das römische Feldzeichen. Jetzt fiel der Träger, ein zweiter packte es, wurde niedergemacht. »Makkabi«, schrien die Juden, sie hatten das Feldzeichen. Im Triumph brachten sie es hinter die Mauer.
  Die Römer erhielten Verstärkungen. Beim nächsten Ausfall kamen die Juden nicht so weit wie das erstemal, aber das kleine Tor spie immer neue Scharen aus. Pedan fluchte, hieb mit dem Weinrebstock auf seine Leute ein. Sie warfen die Juden zurück, einige von Pedans Leuten drangen mit ins Tor hinein, das Tor schloß sich. Die eingedrungen sind, sind verloren. Aber der Gegner ist mit Energie abgewiesen.
  Pedan grinste. Der Gegner ist mit nicht genug Energie abgewiesen. Pedan ließ eine Schildkröte bilden. Die Leute waren verwundert. Die Mauer starrte riesig hoch, die Maschinen hatten nicht gearbeitet, keine Artillerie war hinter ihnen. Was wollte ihr Erster? Sollen sie die Mauer mit bloßen Händen umreißen? Aber sie schuppten die Schilde zusammen über die Köpfe, dem Befehl gehorchend, und gingen vor. Seltsamerweise aber hieß sie Pedan nicht das Tor angreifen, sondern die Stelle schräg links, wo die goldumrahmte Fensteröffnung war.
  Sie gingen immer vor, nun waren sie an der Mauer, die vordersten standen bereits an die Mauer geklemmt. Und nun geschah etwas, wie es die Erste Kohorte der Fünften, an so vieles gewöhnt, noch nie gesehen hatte. Der Hauptmann Pedan, schwer in seiner Rüstung, schwang sich auf die Schilde des letzten Gliedes, mit den genagelten Stiefeln über die krachenden Schilde breitbeinig tappte er vor. Er fiel nicht, beim Herkules, er wahrte das Gleichgewicht, in der einen Hand hielt er einen Feuerbrand, und jetzt schleuderte er ihn, durch die goldumrahmte Öffnung schleuderte er ihn, und dann schrie er: »Gib noch einen«, und die Soldaten reichten ihm aus den glühenden Trümmern noch einen Feuerbrand hinauf und noch einen. Die unter den Schilden, schwitzend, bedrängt, mühsam ausharrend, wußten nicht, was über ihren Köpfen geschah, sie hörten nur ihren Hauptmann schreien: Gib noch einen, und: Hep, Hep. Aber sie, ebenso wie die, die die Feuerbrände reichten, waren voll von einer Ungeheuern Spannung, was sich nun ereignen werde. Ihr Erster, ihr Hauptmann Pedan, der Liebling der Armee, wird sicher wissen, was er tut, sicher wird sich etwas ereignen.
  Der Hauptmann Pedan wußte auch, was er tat. Er hatte den Grundriß des Tempels eingesehen, er wußte, an dieser Stelle, in dem Raum mit der goldumrahmten Fensteröffnung, wurden die Holzvorräte aufbewahrt, die die Juden herbeischleppten am Feste des Holztragens, die Bürger Jerusalems und die Pilger, jeder Mann ein Scheit. Der Gegner ist mit Energie abzuweisen. Er ließ sich die Feuerbrände hinaufreichen, er warf, er schrie: Hep, Hep, und: Gib noch einen, und sie hörten seine genagelten Schuhe auf den Schilden kratzen, sie hielten aus, starknackig, geduckt, sie stöhnten vor Erwartung.
  Und jetzt endlich kam Geschrei von innen, und jetzt Rauch, immer mehr, immer dickerer Rauch, und jetzt befahl Pedan: »Die Leiter her.« Die Leiter war zu kurz, da ließ er sie auf die Schildkröte stellen. Er kletterte hinauf, die Leiter schwankte wild, aber die unter den Schilden hielten fest, und durch den Rauch und durch das Fenster kletterte der Hauptmann Pedan ins Innere. Er sprang hinein mitten in Rauch und Geschrei, riß die Riegel des Tores zurück, in der Öffnung erschien geschwärzt und grinsend sein Gesicht. Und wie das Tor vorher in unglaublich kurzer Zeit unglaublich viele Menschen ausgespien hatte, so schluckte es jetzt in einem Augenblick die Mannschaften des Pedan ein, fünfzig jetzt, und jetzt hundert.
  Das Tempelhaus war innen ganz mit Zederngebälk vertäfelt, der Sommer war heiß, das Holz trocken. Schon war es kein Rauch mehr, schon waren es Flammen. Und ehe man recht wußte, was geschah, war ein ungeheures Geschrei im römischen Lager. Hep, Hep, schrien sie und: Schmeißt das Feuer, und: Den Schild vor. Keinen Befehl warteten sie ab, kein Halten war. Das kleine Tor schluckte sie ein, zu Hunderten, und jetzt hatten sie auch die andern Tore aufgerissen. Die Löschmannschaften der Juden wurden niedergemacht, die Legionen drangen vor, in Gliedern zu je zweien, die Schultern schräg in Fühlung, die Schilde aneinander, niedermähend nach rechts und links.


Der größere Teil der jüdischen Soldaten lag in den Forts und Türmen der Oberstadt, im Tempel selbst lagen nur an tausend Mann. Die erhoben, als die Römer den Brand in das Tempelhaus geworfen hatten, ein wildes Geschrei und versuchten zu löschen. Es war ein mageres Feuer zuerst, aber es war zäh, es gab nicht nach. Bald erwies es sich als unmöglich, gleichzeitig gegen die eindringenden Römer zu kämpfen und zu löschen. Johann und Simon Bar Giora, schleunigst aus der Oberstadt herbeigerufen, erkannten, daß der Tempel gegen das Feuer und die Römer nicht zu halten war. Sie ordneten an, die Hauptmacht solle sich nach der Oberstadt zurückziehen. Kleine Detachements sollten, den Rückzug deckend, die einzelnen Tore des Tempels halten.

  Diese zurückbleibenden Verteidigungsmannschaften, das wußten alle, waren verloren, aber keiner zögerte, sich freiwillig zu melden. Auch der Knabe Ephraim meldete sich und wurde angenommen. Johann von Gischala, als er ging, legte ihm die Hand auf und sagte: »Du bist würdig. Gib unseren Glauben weiter, mein Sohn.« So legten die Großdoktoren ihren Schülern die Hand auf, wenn sie ihnen den Titel und die Fähigkeit verliehen, die Lehre weiterzugeben.
  Die Römer überwältigten rasch den kleinen Trupp, der das Tor des Tempelhauses verteidigte. Sie gewannen die Treppe und stiegen hinunter in den Hof, in dem der Brandopferaltar stand, mit seiner Ungeheuern Rampe, seinen mächtigen Hörnern, gefügt wie für die Ewigkeit, aus unbehauenen Blöcken; denn Eisen durfte ihn nicht berühren. Jetzt aber hatte ein Trupp von etwa fünfzig jüdischen Soldaten ein Geschütz auf ihm aufgestellt. Makkabi! riefen sie. Und: Hep, Hep! Geh unter, Judäa! riefen die Römer und stürmten vor gegen den Altar. Das Geschütz schleuderte Steine und Eisen gegen sie, aber sie drangen vor, zu beiden Flanken des Altars, und jetzt hatten sie ihn umkreist, und jetzt stürmten sie die Rampen. Es waren Leute der Fünften, es waren die Leute des Pedan. Ein ungeheures Getöse war, aber allmählich drang eine Stimme durch, frech, quäkend, sie sang das grobe Lied der Fünften. Einige fielen ein, und jetzt sangen alle, man hörte kein Makkabi mehr, man hörte nur mehr das Lied:

»Wozu ist unsre Fünfte gut?
Der Legionär macht alles:
Kriege führt er, Wäsche wäscht er ...
Unsre Fünfte, die macht alles.«
Und jetzt bemächtigten sie sich auch der andern Außentore dieses Mauerteils, öffneten sie, und nun strömte es von allen Seiten herein. In Gliedern zu je zweien, die Schilde vor, die Gesichter halbschräg nach außen, Schulter an Schulter, schreiten sie, im Takt, stampfen, mähen nieder. Von beiden Seiten kommen sie, kreisen ein, was sie finden, treiben es dem großen Altar zu. Auf dem rechten Horn des Altars aber, wo sonst der Chef des Tempeldienstes den opfernden Priestern und den Leviten sein Zeichen gab, steht jetzt der Hauptmann Pedan, um ihn herum stampft das grobe Lied der Fünften. Er singt mit, er schwingt sein Schwert, und manchmal, der Abwechslung halber, greift er zu seinem Weinrebstock. Die Menschen werden den Altar hinaufgetrieben, sie schreien: Höre, Israel, und auf der Höhe des Altarhornes steht der Hauptmann Pedan, und Hep ruft er und hebt den Weinrebstock und läßt ihn auf die Schädel krachen. Die Schwerter mähen, das Blut fließt wie ein Bach die Rampen herunter, und um den Altar stauen sich die Toten.

Titus hatte sich gerade für eine kleine Weile niedergelegt. Er sprang hoch, sah den Ungeheuern, von niemandem befohlenen Aufbruch der Legionen. Und dann sah er den Rauch aufsteigen und die Flammen. Er lief aus seinem Zelt, wie er war, ohne Abzeichen seines Ranges, ohne Rüstung. Mitten in den wilden, frohen Tumult hinein lief er. Viele erkannten ihn, doch sie machten kein Wesens daraus. Sie riefen ihm zu, eilig, vergnügt: Komm mit, Kamerad. Lauf mit, schmeiß mit, schmeiß das Feuer. Hep, Hep.
  Er wollte wehren, den wüsten Unfug steuern. Wollte er’s wirklich? Hep, Hep, schrie er wie die andern, gegen seinen Willen. Und: Schmeiß das Feuer, Kamerad, schrie er.
  Die Wachen vor dem Zelt hatten den Aufbruch des Prinzen bemerkt. Die alarmierten Offiziere, die Garden bahnten sich durch das Getümmel einen Weg zu ihm. Endlich, er war schon durch das Tor in das Innere des Tempels hineingespült, erreichten sie ihn. Er hatte sich wieder in der Gewalt. War das er gewesen, der mitgeschrien hatte? Löscht! schrie er jetzt, Wasser! Und: Löscht, Wasser! schrien die Offiziere. Unter die rasenden Soldaten stürzten sie sich: Löscht, Wasser! Mit ihren Weinrebstöcken hauten die Zenturionen auf die Verwilderten ein.
  Allein es war sinnlos, den Tobenden wehren zu wollen. Tollwut, Mordrausch hatte sie gepackt, die ganze Armee. Sie hatten so unendlich lange gewartet, diese heißen, zermürbenden Monate hindurch, das da, das Bewußte unter ihre genagelten Stiefel zu treten. Jetzt wollten sie sich rächen für die Qual, sie stürzten heran, römische Legionen, syrische, arabische Kontingente der Vasallen, sich mischend. Keiner wollte zu kurz kommen, sie hatten Eile, sie gönnten es einer dem andern nicht, daß er früher daran war. Der Weg, der gebahnt werden sollte, war nicht fertig. Über den glühenden Schutt stürmten sie herbei, zertraten einander, stießen sich in die rauchenden Trümmer. Über ganze Berge von Leichen drangen sie vor.
  Als Titus sah, daß es gegen das Ungestüm der Armee keinen Widerstand gab, betrat er mit seinen Offizieren das Mittelschiff des Tempelhauses, das von dem brennenden Teil durch eine dicke Mauer getrennt war. Hoch und kühl, unberührt von der Hitze und dem wüsten Getobe draußen, hob sich der Heilige Raum. Der Leuchter war da, die Schaubrottische, der Räucheraltar. Langsam schritt Titus vor, zögernd, bis zu dem Vorhang, hinter dem das Geheimnis war, das Allerheiligste. Seit Pompejus hat kein Römer diese Stelle betreten. Was ist hinter dem Vorhang? Ist vielleicht doch ein abergläubischer Spuk dahinter, ein Eselskopf, ein Ungetüm, aus Tier und Mensch gemischt? Mit der kurzen, breiten Hand greift Titus nach dem Vorhang. Hinter ihm spähen gespannt die Gesichter seiner Offiziere, vor allem eines, breit, rosig, das des Hauptmanns Pedan. Was ist hinter dem Vorhang? Der Prinz reißt ihn zurück. Ein dämmeriges, nicht großes Geviert zeigt sich. Titus tritt ein. Es riecht nach Erde und nach sehr altem Holz. Der nackte, unbehauene Stein ist da, der den Hügel gipfelt, eine große, beklemmende Einsamkeit, sonst nichts. »Na ja«, quäkt der Hauptmann Pedan achselzuckend, »Irrsinnige.«
  Der Prinz atmete auf, als er wieder in dem helleren Viereck des Außenraumes stand. Er sah die noble Schlichtheit der Halle, ihr Ebenmaß, die heiligen Geräte groß und einfach an den Wänden. »Wir müssen das retten, meine Herren«, sagte er, nicht laut, doch dringlich. »Wir dürfen das nicht untergehen lassen«, forderte er. Der Hauptmann Pedan grinste. Schon züngelte es an den Toren, an alle Türangeln hatten sie Feuer gelegt. Es war zu spät.
  In großer Eile schleppen die Soldaten die heiligen Geräte weg. Sie sind schwer, aus massivem Gold. Zehn Mann keuchen unter dem Leuchter, sie stürzen zusammen. Der Leuchter schüttert zu Boden, erschlägt einen Träger. Die Soldaten, angetrieben von den Zurufen des Prinzen, von den Stockhieben der Zenturionen, beugen von neuem die Rücken, schleppen die Geräte aus dem brennenden, stürzenden Heiligtum. Sie trugen hinaus die zwölf goldenen Schaubrote, die Weihgeschenke, die silbernen Trompeten der Priester, falteten den herrlichen babylonischen Vorhang zusammen, dessen Stickerei den Anblick des Himmels zeigte. Der Prinz stand auf den Stufen des Tempelhauses, hinter seinem Rücken das Feuer, und schaute zu, wie der Leuchter, der Schaubrottisch durch das Getümmel schwankten, dem römischen Lager zu, auf, nieder über den Leibern, Köpfen, Schilden wie Schiffe auf bewegtem Meer.


Die Legionäre mittlerweile tobten durch das Heiligtum, besoffen von Blut und Triumph. Sie plünderten, was sie erraffen konnten, rissen die goldenen und silbernen Beläge von den Toren, von den Wänden. Halsbrecherisch kletterten sie an den Außenmauern, um die dort angebrachten Trophäen zu erbeuten, Feldzeichen und Waffen alter syrischer Könige, Feldzeichen der Zehnten Legion, vor vier Jahren dem Cestius Gall genommen. Sie plünderten die Kleiderkammern, die Gewürzkammer, die Halle der Instrumente. Die Arme voll von kostbarem, seltsamem Gerät, trabten sie eilig durch das riesige Geviert. Dies war die Krone des Feldzugs. Um dieses Haus des unsichtbaren Gottes niederzureißen und zu plündern, war man gestorben, zu Zehntausenden, hatte man Ekel und Strapazen auf sich genommen. Jetzt wollte man es ganz auskosten. Sie schrien, sie stießen nieder, lachten einfältig, stampften tan zend mit ihren genagelten Stiefeln über den Boden, dessen Marmor und Mosaik überdeckt war von Leichen und von blutigen Feldbinden mit den Initialen Makkabi.

  In den finstern Gängen, die hinunter zu den Schatzkellern führten, stauten sich die Massen. Diese Kammern waren gut verschlossen, aber die Ungeduldigen hatten nicht gewartet, bis man die Riegel mit Hebel und Maschinen öffnete, sie hatten Feuer an die Metallbeschläge der Türen gelegt. Allein das Innere hatte Feuer gefangen, bevor die Türen aufgingen, und nun schmolz es aus den Schatzkammern heraus, ein dicker, zäher Strom fließenden Metalls. Es flossen in ihm Weihgeschenke römischer Kaiser und parthischer Könige, Ersparnisse der Armen aus Galiläa, Schätze der Reichen aus Jerusalem und den Seestädten, Hunderttausende von Gold-, Silber- und Kupfermünzen, geprägt von den »Rächern Israels«, mit dem Hoheitszeichen Makkabi und mit dem Datum: Erstes, Zweites, Drittes Jahr der Befreiung.
  Knallend rissen die großen Vorhänge, ihre glühenden Fetzen flogen durch die Luft. Krachend stürzte das Gebälk des Tempelhauses, Mauertrümmer ihm nach. Bis plötzlich ein Ton kam, mächtiger als das Prasseln der Flammen, das Stürzen des Gebälks, das wüste Singen der Soldaten, das Geschrei der Sterbenden, ein Ton, schneidend, heulend, wimmernd, von den Bergen ringsum furchtbar und scheußlich zurückgeworfen. Es war die hunderttonige Schaufelpfeife. Man hatte das Unding wegzuschleppen versucht, dann aber als wertlos liegenlassen, nun strich der Wind der Flammen durch die Schaufelpfeife und machte sie tönen.
  Es war, als wecke dieser Ton die Oberstadt, die, nachdem die jüdischen Soldaten die Brücken zum Tempel zerstört hatten, gesondert auf ihrem Hügel lag. Die Verhungerten, Erschöpften der Oberstadt sahen den Rauch, das erste Feuer, sahen dann die Flammen um sich greifen, bis allmählich der ganze, weiße Tempelberg von den Wurzeln auf zu glühen schien. Sie brachten nichts aus ihren ausgedörrten Kehlen als ein schwaches Gewimmer. Aber als nun der große Schrei der Schaufelpfeife aufheulte, brach auch aus ihren Leibern das letzte Leben hervor, und aus dem Gewimmer der Hunderttausende in der Oberstadt wurde jetzt ein Schreien, ein gelles, ununterbrochenes, weißes Geschrei, und die Berge nahmen das Geschrei auf und schrien es zurück.

Es waren übrigens an diesem Tage viele Leute aus der Oberstadt in den Tempel gegangen. Doktor Nittai hatte sie gerufen. Er hatte ein Gesicht gehabt und eine Stimme gehört. War durch die Oberstadt gezogen, erschöpft, doch beharrlich und hatte zu den Massen geredet, sie sollten zum Tempel hinaufsteigen, dort würde sich ihnen heute Jahve als Retter und Erlöser zeigen. So gläubig und befehlend hatte die alte Stimme des besessenen Mannes geklungen, daß, wer sich noch schleppen konnte, ihm folgte. Es waren viele Hunderte. Von diesen Gläubigen hatten sich nur wenige, als die Truppen abzogen, mit ihnen retten können; denn die Brücken zur Oberstadt waren schmal, die Truppen hatten sie für sich selber benötigt und hinter sich abgerissen. Von oben, vom Tempelhaus her, kamen die Flammen und die Römer. Den Gläubigen war nichts übriggeblieben, als sich in den untersten Bezirk des Tempels zu flüchten, in die große Kolonnade des Südrands unmittelbar am Abgrund.
  Die Römer, die Juden vom Innern des Tempels her aufrollend, waren jetzt bis zu diesem untersten Bezirk vorgedrungen. Sie kamen die Stufen herunter, sie sahen die in der Halle, Männer, Frauen, Kinder, Vornehme und kleine Leute, sehr viele, einen großen Haufen lebendigen Fleisches. Trotzdem der Preis der Leibeigenen durch die vielen Gefangenen außerordentlich gesunken war, repräsentierten die Tausende in der Halle einen gewissen Wert. Im schlimmsten Fall konnte man sie im Dutzend an die Veranstalter von Festspielen verkaufen. Aber die Soldaten wollten jetzt keine rechnerischen Erwägungen anstellen. Sie wollten jetzt ihren Privatspaß haben, sie hatten ihn sich teuer genug erkauft. Die von der Fünften riegelten die Kolonnade ab. Die Juden hatten vor sich die Römer, hinter sich den Abgrund. Offiziere kamen dazu, Oberste. Der General der Zehnten, Lepid. Sie gaben Befehl, abzuwarten, man werde die Weisung des Feldherrn einholen. Aber die von der Fünften dachten gar nicht daran, zu warten. Gerade hatten sie die Feldzeichen zurückgeholt, die die Zehnte vor vier Jahren verloren hatte, und nun sollten sie sich von dem General der Zehnten den Spaß verderben lassen? Sie waren nicht einmal aufsässig, sie lachten nur, gemütlich. Das glaubten ja die Herren selber nicht, daß die Armee sich diese Masse lebendigen Fleisches werde wegnehmen lassen. Sachkundig nahmen sie Aufstellung vor der Kolonnade, vier Glieder tief, dann zündeten sie das Zederngebälk des Daches an. Es war wirklich ein großartiger Spaß, wie die in der Halle zu tanzen anfingen, wie die ersten herausstürzten, niedergemacht wurden, wie sie kletterten, wie sie in den Abgrund sprangen, wie sie schwankten, ob sie durchs Schwert umkommen sollten, durch Absturz oder durch Feuer. Angeregt beobachteten die Soldaten, wie schwer die Eingeschlossenen zu einem Entschluß kamen. Mit Vergnügen hörten die Legionen das altvertraute Sterbegeschrei der Juden: Höre, Israel, Jahve ist einzig. Sie hatten es oft gehört, aber niemals von so vielen zusammen. Jahve, Jahve, machten sie nach, Jah, Jah schreiend wie die Esel.
  Unter den Eingeschlossenen waren zwei Herren des Großen Rats, die der Oberst Paulin persönlich kannte, Meïr Bar Belgas und Josef Bar Daläus. Paulin forderte die beiden auf, herauszukommen, sich ihm zu übergeben. Er sagte ihnen Schonung zu. Aber sie blieben, bis die Kolonnade zusammenstürzte, sie wollten umkommen mit den andern, ein Brandopfer für Jahve.

Die ausgelosten Priester hatten die Funktion ihres Dienstes verrichtet, als geschähe rings um sie nichts Außergewöhnliches. Hatten sich eingekleidet, die Reinigung des Altars, der heiligen Geräte vollzogen wie jeden Tag. Schon waren die ersten Flammen da, schon waren die ersten Römer da, die Priester gingen durch das Getümmel hindurch, als sähen sie nichts.
  Die Römer ließen die Weißgekleideten mit dem blauen Priestergürtel zunächst unbehelligt. Dann aber machten sie sie nieder wie die andern. Sie sahen mit einer gewissen Befriedigung, daß ein Mann, der den blauen Priestergürtel dieses Jahve trug, wenn man ein Eisen in seinen Leib stieß, genauso starb wie ein anderer.
  Johann von Gischala hatte, als er mit seinen Truppen den Tempel verließ, dem Erzpriester Phanias angeboten, ihn mitzunehmen. Aber Phanias hatte es abgelehnt. Wenn er nur herausbringen könnte, was Jahve von ihm will. Es ist sehr schwer, weil Jahve ihm nur einen einfältigen Verstand gegeben hat. Wie schön wäre es, wenn er Bauarbeiter hätte bleiben dürfen. Jetzt irrt er herum, hilflos, weinerlich, seine trüben, braunen Augen suchen, wen er um Rat fragen könnte, ängstlich lauscht er, ob nicht etwa in seinem Innern eine Stimme Jahves spricht, aber er kann nichts hören. Das alles ist nur, weil er, den Schatzmeistern nachgebend, seinen achtteiligen, sündenreinigenden Ornat in ein unzugängliches Versteck hat bringen lassen. Wenn er jetzt den Ornat trüge und die heiligen Juwelen des Großen Dienstes, dann würden sich die Flammen zu seinen Füßen legen wie gehorsame Hunde, und die Römer würden tot umfallen.
  Zusammen mit andern Priestern geriet er in die Hand der Römer. Die Soldaten schickten sich an, die Priester niederzumachen. Die baten um Schonung. Schrien, der Erzpriester sei unter ihnen. Die Soldaten brachten sie vor Titus.
  Titus ist in Eile, man verlangt ihn am südlichen Tempeltor. In seiner Umgebung ist der General Litern. Der Prinz sieht, wie der General gespannt auf ihn blickt, mit einem ganz kleinen Lächeln. Dieser Litern hat es damals im Kriegsrat nicht verstehen können, daß er für die Schonung des Tempels eintrat, sicher hält er ihn für einen ästhetisierenden Schwächling. Dieser Tölpel da ist also der Erzpriester. »Verwahrt ihn«, sagt Titus, »ich will ihn im Triumph aufführen.« Dann sieht er die andern Priester, zwanzig zermürbte, elende Körper, schlotternd in weißen, feierlichen, viel zu weiten Gewändern. Sein Gesicht wird launisch, bösartig, kindisch. Er kehrt sich ab. Im Begriff zu gehen, über die Schulter hin, sagt er zu den Priestern: »Ich hätte Ihnen Ihr Leben vielleicht geschenkt, meine Herren, um Ihres Tempels willen. Aber nachdem Ihr Gott offenbar nicht gesonnen ist, seinen Tempel zu erhalten, ziemt es Ihnen als Priester, mit diesem Tempel unterzugehen. Habe ich nicht recht, meine Herren?« Er ging, und die Profose bemächtigten sich der Priester.
  Wie die andern Priester hatte sich der alte Doktor Nittai, nachdem er seine Gläubigen in den Tempel geführt hatte, ernst und zuversichtlich an die Verrichtungen seines Dienstes gemacht. Die Flammen brachen hervor, sein altes, mürrisches Gesicht lächelte. Er hatte gewußt, heute wird ein Zeichen kommen. Als das Tempelhaus brannte, war er nicht wie die andern durch die Höfe geflohen, vielmehr stiegen er und die acht Priester um ihn die Treppen des Tempelhauses hinauf. Es war gut, zu steigen, jetzt war man noch in einem von Menschenhänden gefügten Bau, aber gleich wird man oben sein, unterm Himmel, nahe bei Jahve. Und nun waren sie auf dem Dach, auf dem höchsten First des Tempels, unter ihnen waren die Flammen und die Römer. Das Geschrei der Sterbenden, der grobe Gesang der Legionen tönte zu ihnen herauf, von der Oberstadt her gellte das weiße Geheul. Da kam der Geist über die auf dem First, der Hunger schuf ihnen Gesichte. Schaukelnd, im Takt, im vorgeschriebenen Singsang sagten sie Kriegs- und Siegeslieder der Schrift auf. Rissen die goldenen Spieße, die zur Abwehr der Vögel auf dem Dach des Tempels angebracht waren, heraus und schleuderten sie gegen die Römer. Sie lachten, sie waren über den Flammen, und über ihnen war Jahve, und sie spürten seinen Hauch. Als die Stunde des Priestersegens kam, hoben sie die Hände und spreizten die Finger, wie es Vorschrift war, und riefen durch die prasselnden Flammen den Priestersegen und das anschließende Bekenntnis; es war ihnen leicht und heilig zumut.
  Als sie zu Ende waren, nahm Nittai die schweren Schlüssel des Großen Tempeltors, hielt sie hoch, daß alle um ihn sie sahen, und rief: »O Jahve, du hast uns nicht würdig befunden, dein Haus zu verwalten. O Jahve, nimm die Schlüssel zurück.« Und er warf die Schlüssel in die Höhe. Und er rief: »Seht ihr, seht ihr die Hand?« Und alle sahen, wie aus dem Himmel eine Hand kam und die Schlüssel auffing.
  Dann krachte das Gebälk, es stürzte das Dach, und sie fanden, daß sie einen begnadeten Tod starben.

Kurz vor dem Mittag hatte Pedan die Fackel geworfen. Nachmittags fünf Uhr brannte bereits der ganze Berg. Der erste Feuerposten, den Titus hatte errichten lassen, sah den Brand, und sowie die Dämmerung kam, gab er sein Signal: der Tempel ist gefallen. Und es entzündete sich das nächste Feuer, und das übernächste, und im Lauf einer Stunde wußte es ganz Judäa, ganz Syrien.

  In Jabne erfuhr es der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai: der Tempel ist gefallen. Der kleine Uralte zerriß seine Kleider und streute Asche auf sein Haupt. Aber noch für die gleiche Nacht berief er eine Sitzung ein.
  »Bis heute«, verkündete er, »hat der Große Rat von Jerusalem Kraft gehabt, das Wort Gottes zu deuten, zu bestimmen, wann die Zeiten beginnen, wann der Mond neu ist, wann voll, was Recht ist und was Unrecht, was heilig und was unheilig, zu binden und zu lösen. Von heute an hat der Rat von Jabne diese Befugnis.
  Unsere erste Aufgabe ist, festzusetzen, wie die Grenzen der Heiligen Schrift laufen. Der Tempel ist nicht mehr, unser ganzes Reich ist jetzt die Schrift. Ihre Bücher sind unsere Provinzen, ihre Sätze unsere Städte und Dörfer. Bis heute war Jahves Wort mit Menschenwort gemischt. Jetzt gilt es, aufs Jota zu begrenzen, was zur Schrift gehört, was nicht.
  Unsere zweite Aufgabe ist, den Kommentar der Doktoren dauerhaft zu machen für die Zeiten. Bis heute lag der Fluch darauf, den heiligen Kommentar anders weiterzugeben als von Mund zu Mund. Wir lösen diesen Fluch. Wir wollen die sechshundertdreizehn Gebote aufzeichnen auf gutem Pergament, wo sie anfangen und wo sie aufhören, sie umzäunen und untermauern, daß Israel für die Ewigkeit darauf stehen kann.
  Wir einundsiebzig sind jetzt alles, was vom Reiche Jahves geblieben ist. Reinigt euer Herz, daß wir ein Reich seien, dauernder als Rom.«
  Sie sagten amen. Sie bestimmten noch in dieser Nacht: vierundzwanzig Bücher sind heilig. Vierzehn Bücher, die vielen als heilig galten, schlossen sie aus. Es war harter Streit unter ihnen, aber sie prüften sich scharf, daß sie nur das Wort Jahves sprechen ließen, wie man es ihnen überliefert hatte, nicht eigene eitle Weisheit. Kein Schlaf kam über sie, sie fühlten sich besessen von Jahve, als sie diese Sichtung vornahmen, die verbindlich sein sollte für alle Zeiten. Sie trennten sich, als schon die Sonne aufgegangen war. Jetzt erst spürten sie ihre Erschöpfung, es war trotz des Schmerzes über das zerstörte Heiligtum keine unglückliche Erschöpfung.
  Als die andern schon weggegangen waren, erinnerte den Großdoktor Jochanan Ben Sakkai sein Schüler Arach: »Sie haben mir den Spruch für diesen Tag noch nicht diktiert, mein Doktor und Herr.« Der Großdoktor besann sich eine Weile, dann diktierte er: »Wenn du zur Tafel gezogen wirst bei einem Herrscher, so setze ein Messer an deine Kehle, ehe daß du gierig wirst nach seinen Leckerbissen; denn sie sind sehr trügerisch.« Arach sah des Großdoktors müdes, bitteres Gesicht; er erkannte, daß ihm bange war um seinen Liebling Josef Ben Matthias, daß er für ihn fürchtete in seinem Herzen.

Es geschah aber der Untergang des Tempels am 29. August des Jahres 823 nach Gründung der Stadt Rom, am 9. Ab des Jahres 3830 jüdischer Zeitrechnung. Auch ein 9. Ab war es gewesen, an dem der erste Tempel durch Nebukadnezar zerstört wurde. Dieser zweite Tempel hatte sechshundertneununddreißig Jahre, einen Monat und siebzehn Tage gestanden. Alle diese Zeit hindurch war jeden Morgen und jeden Abend das Brandopfer dargebracht worden zu Ehren Jahves, viele Tausende von Priestern hatten die Riten vollzogen, wie sie aufgeschrieben sind im Dritten Buch Mosis und bis ins kleinste erläutert durch Generationen von Doktoren.


Der Tempel brannte noch zwei Tage und zwei Nächte. Am dritten Tag standen von seinen vielen Toren nur mehr zwei. Mitten unter den Trümmern, auf den gewaltigen Blöcken des Brandopferaltars, dem einsam und sinnlos ragenden Osttor gegenüber, pflanzten jetzt die Römer ihre Adler auf und brachten ihnen das Siegesopfer. Wenn mehr als sechstausend feindliche Tote das Schlachtfeld deckten, dann pflegte die Armee ihren Feldherrn zum Imperator auszurufen. So nahm jetzt Titus auf der Höhe des Altars die Huldigung seiner Truppen entgegen.

  Den Marschallstab in der Hand, den roten Feldherrnmantel um die Schultern, hinter sich die Goldenen Adler, stand jetzt, wo sonst die Rauchsäule Jahves aufgestiegen war, er, ein fleischernes Idol an Stelle des unsichtbaren Gottes. Die Legionen zogen vorbei, sie schlugen die Schilde zusammen, sie schrien: Sei gegrüßt, Imperator Titus. Stundenlang erfüllte das eiserne Geklirr und der Jubelruf seiner Soldaten des Titus Ohr.
  Er hatte diese Stunde ersehnt, seitdem ihn in Alexandrien sein Vater mit der Führung des Feldzugs beauftragt hatte. Jetzt ließ sie ihn kalt. Berenike war fort, war geflohen vor dem Anblick des brennenden Heiligtums, vor ihm, dem Wortbrüchigen. War er wortbrüchig? Er hat klaren Befehl gegeben, den Tempel zu schonen. Es waren die Götter, die anders beschlossen hatten, wahrscheinlich der Judengott selbst, erzürnt über den Frevel und die Verstocktheit seines Volkes. Nein, nicht ihn, den Feldherrn, trifft die Schuld am Untergang des Heiligtums. Er beschließt, die Vorgänge so zu klären, daß alle Welt das erkennen soll.
  Einige gefangene Juden hatten ausgesagt, der Brand habe in der Holzkammer begonnen. Sie hätten zu löschen versucht. Die römischen Soldaten hätten aber immer neue Feuerbrände in die Holzstöße geschleudert. Dies konnten nur die Mannschaften des Lösch- und Aufräumekommandos getan haben. Titus stellte den Pedan und seine Leute vor ein Kriegsgericht, dem er selber präsidierte.
  Kurz bevor dieses Gericht tagte, hatte er eine Unterredung mit dem Marschall Tiber Alexander. »Hassen Sie mich eigentlich«, fragte er den Marschall, »weil der Tempel dieses Jahve niedergebrannt ist?« – »Haben Sie den Tempel niedergebrannt, Cäsar Titus?« fragte mit seiner verbindlichen Stimme der Marschall. »Ich weiß es nicht«, sagte Titus.
  Man befragte die Angeklagten: »Hat die Erste Kohorte Feuerbrände in das Tempelhaus geworfen?« – »Wir wissen es nicht, Cäsar Titus«, erklärten die Soldaten, schallend, treuherzig, kameradschaftlich. Keiner hatte etwas davon gesehen, daß der Hauptmann Pedan einen Feuerbrand geschmissen hatte. »Es ist möglich«, erklärte Pedan, »daß wir uns auch mit Feuerbränden gegen die Juden gewehrt haben. ›Der Gegner ist mit Energie abzuweisen‹, hieß es im Befehl. ›Mit Energie‹, darunter darf man wohl auch Feuer verstehen, wenn man gerade ein Feuerscheit bei der Hand hat.« – »Hatten Sie die Absicht, die Baulichkeiten zu schonen?« wurde gefragt. Pedan zuckte die Achseln. Ein alter, ehrlicher Soldat, schaute er bieder und einfältig auf seine Richter. »Es war«, meinte er, »eine dicke, steinerne Mauer, von keiner Maschine zu erschüttern. Innen waren Steinböden, Steintreppen. Wer konnte vermuten, daß Stein Feuer fängt? Es war offenbar der Ratschluß der Götter.«
  »Haben Sie«, fragte man, »einen Plan des Tempels gesehen? Haben Sie gewußt, daß das goldumrahmte Fenster in die Holzhalle führte?« Der Hauptmann Pedan ließ sich Zeit mit der Antwort. Sein lebendiges Auge blinzelte den Prinzen an, die Richter, dann wieder den Prinzen. Er lächelte verschmitzt, er betonte sein Einverständnis mit Titus, alle sahen es. Und dann wandte er sich geradezu an den Prinzen. Mit seiner quäkenden Stimme, frech und unbekümmert sagte er: »Nein, Cäsar Titus, ich habe nicht gewußt, daß Holz hinter dem Fenster ist.«
  Sehr deutlich sah Tiber Alexander, daß dieser Hauptmann Pedan log, und ebenso deutlich sah er, daß er sich dabei im reinen Recht glaubte, daß er überzeugt war, einen wortlosen Auftrag des Prinzen ausgeführt zu haben. Dieser Prinz und dieser Hauptmann, der Marschall sah es klar, so verschieden sie schienen, waren im Grund das gleiche: Barbaren. Der Prinz hatte sich und allen andern geschworen, er werde den Tempel erhalten, wahrscheinlich hatte er es ehrlich gemeint, aber in seinem Innern war er genau wie Pedan von Anfang an gewillt gewesen, das da, das Bewußte niederzureißen, unter die Stiefel zu treten.
  Die übrigen, Hauptleute, Unteroffiziere, Mannschaften, blieben dabei: sie hatten nichts gesehen. Keiner konnte sich auch nur im entferntesten erklären, wodurch der Brand entstanden war. Auf alle Fragen hatten sie immer die gleiche, treuherzige Antwort: »Cäsar Titus, wir wissen es nicht.«
  Titus, während der Beratung des Gerichts, war auffallend fahrig. Der freche Blick des Einverständnisses, den dieser unflätige Pedan ihm zugezwinkert hatte, störte sein Inneres auf. Was ihn vorher noch dunkel bedrängt hatte, ob er nicht doch an der Roheit dieses Burschen teilhabe, das schob er jetzt weit von sich. War sein Befehl nicht klar gewesen? Hat er nicht immer eisern für Disziplin gesorgt? Er wartete gespannt auf die Meinung seiner Generäle, entschlossen, dem Liebling der Armee die Begnadigung zu versagen, wenn ihr Urteil auf Tod lautete.
  An eine solche Demonstration dachte aber offenbar keiner der Herren. Vage redeten sie herum. Man sollte vielleicht den einen oder andern der Unteroffiziere in eine Strafkompanie versetzen. »Und Pedan?« rief Titus dazwischen, ungestüm, mit kippender Stimme.
  Ein unbehagliches Schweigen entstand. Dem Pedan, dem Träger des Graskranzes, eines auf den Kopf geben, das wollte keiner riskieren. Schon schickte sich Cerealis, der General der Fünften, an, etwas in diesem Sinn zu sagen, als der Marschall Tiber Alexander das Wort ergriff. Was Pedan, führte er aus, wahrscheinlich getan habe oder zumindest willentlich habe geschehen lassen, das habe die ganze Armee gewollt. Nicht ein einzelner sei schuld an der Schandtat, die den römischen Namen für immer beflecke. Mit seiner leisen, höflichen Stimme schlug er vor, alle Offiziere und Mannschaften, die an den Aufräumearbeiten beteiligt gewesen waren, antreten zu lassen und jeden zehnten hinzurichten.
  Gerade weil man der Rede des Marschalls Folgerichtigkeit nicht absprechen konnte, empörte man sich dagegen einmütig und heftig. Es war eine Frechheit, daß dieser Mann seine jüdischen Ressentiments an römischen Legionären auslassen wollte. Die Urteilsverkündung wurde vertagt.
  Am Ende geschah nichts. In einem lahmen Befehl wurde der Ersten Kohorte der Fünften die Unzufriedenheit der Heeresleitung ausgesprochen, weil sie den Brand nicht verhindert habe.

Titus war tief verdrossen über diesen Ausgang der Untersuchung. Es war aussichtslos, sich jetzt vor der Frau rechtfertigen zu wollen. Er scheute sich, zu erkunden, wohin sie gegangen war. Er fürchtete, es könnte sie jene wilde Laune überkommen haben, die sie schon dreimal in die Wüste getrieben hatte, auf daß sie, ihr Fleisch verwahrlosend, die Stimme ihres Gottes vernehme.

  Dann hörte er, sie sei nach dem kleinen Orte Thekoa gegangen. Das waren nur wenige Stunden Weges. Aber die Nachricht machte ihn nicht fröhlicher. Was suchte sie in dem halbzerstörten Nest? Wollte sie die Stümpfe ihres Haines vor Augen haben, ständige Erinnerung, daß er ihr nicht einmal die kleine Bitte erfüllt hatte?
  Das breite Gesicht des Titus wurde grämlich, sein dreiekkiges, eingezacktes Kinn schob sich noch mehr heraus, das ganze Antlitz verkniff sich zu dem eines bösartigen Bauernknaben. Was soll er tun? Er hat nichts vorzubringen, was vor ihr bestehen könnte. Soll er grob und schmetternd von Kriegsrecht reden, ihr den Herrn zeigen, den Römer? Er wird nicht mehr erreichen als in der Nacht, da er sie mit Gewalt nahm.
  Er befahl sich, nicht mehr an die Frau zu denken. Er hat Arbeit genug, sich abzulenken. Noch steht die Altstadt, die Oberstadt. Sie hat dicke, mächtige Mauern, man kann sie nicht ohne weiteres stürmen, man muß von neuem mit den Maschinen arbeiten, die Tore unterminieren. Er setzte sich einen Termin. Sowie er die Oberstadt genommen hat, wird er sich der Frau stellen.
  Vornächst ließ er alles, was er von dem eroberten Bezirk aus erreichen konnte, dem Erdboden gleichmachen. Auseinander die Steine, nieder die Wände. Er hatte Lust bekommen an der Vernichtung. Die vornehmen Häuser an den Rändern der Tempelschluchten, das Proletarierviertel Ophla, die alten, soliden Gebäude der Unterstadt wurden verheert. Rathaus und Archiv, schon zu Beginn des Bürgerkriegs in Brand gesteckt, wurden ein zweites Mal zerstört. Die Hypothekenbriefe, die Kaufdokumente, die in Erz gegrabenen Staatsverträge, die auf Pergament niedergelegten Ergebnisse der langen, leidenschaftlichen Unterhandlungen auf der Kippa, der Börse, gingen ein für allemal zugrunde. Der ganze Tempelbezirk und die angrenzenden Stadtteile wurden den Soldaten zur Plünderung überlassen. Wochenlang wühlten sie immer neues Gold und neue Schätze aus dem Schutt. Auch in die unterirdischen Gänge des Tempelhügels tauchten sie hinab, nicht ohne Gefahr; denn viele verirrten sich und kamen nicht mehr ans Licht, manche auch fanden den Tod im Kampf mit Flüchtlingen, die sich in dieser Unterwelt versteckt hielten. Aber die Gefahr lohnte, die Unterwelt war eine Goldgrube. Immer neue Kostbarkeiten quollen aus ihren Schächten, auch die verborgenen Tempelschätze förderte man zutage, unter ihnen den berühmten achtteiligen Ornat, den der Erzpriester Phanias so schmerzlich vermißt hatte. Juwelen, edles Metall, seltene Stoffe häuften sich im römischen Depot, die Händler hatten zu tun, der Preis des Goldes im ganzen Osten sank um siebenundzwanzig Prozent.
  In der Unterstadt war ein Heiligtum der Juden, das Mausoleum der Könige David und Salomo. Achtzig Jahre zuvor hatte einmal Herodes die Gruft geöffnet, heimlich, des Nachts, gelockt von dem Gerücht ungeheurer Schätze. Als er aber in das Innere vordringen wollte, wo die Gebeine der alten Könige ruhten, waren ihm Flammen entgegengeschlagen, seine Fakkeln hatten die Erdgase der Gruft entzündet. Titus hatte keine Angst. Er drang mit seinen Herren bis in die letzte Grabkammer. Da lagen die Leichen der beiden Könige, in goldenen Rüstungen, Diademe auf den Schädeln, riesige, bunte Ringe kollerten von ihren Beinhänden. Lampen, Schalen, Teller, Krüge hatte man ihnen mitgegeben, auch die Rechnungsbücher des Tempels, auf daß sie Jahve ihren frommen Wandel beweisen könnten. Der Marschall Tiber Alexander rollte die Bücher auf, beschaute die verschollenen Schriftzeichen. Titus nahm das umfangreiche Diadem von dem einen Schädel, setzte es mit seinen breiten, kurzen Händen auf den eigenen, wandte sich an seine Herren. »Das Diadem steht Ihnen nicht gut, Cäsar Titus«, sagte trocken der Marschall.

Josef hatte den Brand des Tempels mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtet wie ein Forscher eine Naturerscheinung. Er hatte sich verhärtet, er wollte nur Auge sein, er wollte den lückenlosen Ablauf sehen, Anfang, Mitte, Ende. Er war immer wieder bis an den Rand des Feuers gegangen, hatte das brennende Geviert viele hundert Male durchmessen, sehr müde und trotzdem überwach. Er sah, hörte, roch, nahm wahr, sein feines, treues Gedächtnis notierte alles.

  Am 25. September, einen Monat nach dem Fall des Tempels, fünf Monate nach Beginn der Belagerung, fiel die Oberstadt von Jerusalem. Während die Kohorten um die einzelnen Stadtviertel würfelten, sie zur Plünderung unter sich aufteilend, Straße für Straße, ging Josef zuerst ins Fort Phasael, dort hatten die jüdischen Führer ihre Gefangenen verwahrt. Er wollte Vater und Bruder aus dem Gefängnis herausholen. Aber das Fort war leer, man fand nur Tote dort, Verhungerte. Die er suchte, waren nicht darunter. Vielleicht hatten die Makkabi-Leute ihre Gefangenen beim Einbruch der Römer erledigt, vielleicht hat sich ein Teil in die Unterwelt gerettet.
  Josef stieg tiefer hinein in die Stadt, ging durch Brand und Gemetzel, verhärtet in der kühlen, krampfigen Sachlichkeit des Chronisten. Den ganzen langen, heißen Sommertag hindurch strich er die hügeligen Gassen auf und ab, die Treppenwege, die Durchgänge, vom Herodespalast zum Gartentor, zum Obermarkt, zum Essäertor, und wieder zum Herodespalast. Durch diese Straßen und Winkel hatte er sich dreißig Jahre getrieben, als Kind, als junger Mensch, als Mann. Er kannte hier jeden Stein. Aber er schnürte den Schmerz ab, er wollte nichts sein als Auge und Schreibgriffel.
  Er war unbewaffnet; nur sein goldenes Schreibzeug trug er merkwürdigerweise im Gürtel. Es war nicht ungefährlich, sich so in dem preisgegebenen, zusammenstürzenden Jerusalem herumzutreiben, gar, wenn man einem Juden gleichsah. Er hätte sich schützen können, wenn er die Auszeichnung des Titus getragen hätte, die Plakette mit dem Medusenhaupt. Aber dies brachte er nicht über sich.
  Er ging zum drittenmal in die Fischerstraße, zum Haus seines Bruders. Das Haus war leer, alles Bewegliche daraus weggeschafft. Die Soldaten hatten sich dem Hause nebenan zugewendet. Auch das hatten sie bereits kahl geplündert, sie waren dabei, Feuer anzulegen. Josef schaute durch das offene Tor in den Hof. Dort, mitten in Lärm und Verheerung, stand ein alter Mann, den Gebetmantel um die Schultern, die Gebetriemen an Kopf und Arm, die Füße geschlossen. Josef trat näher. Der Alte sprach laut, den Oberkörper schaukelnd, sein Gebet; denn es war die Stunde der Achtzehn Bitten. Er betete inbrünstig, sein ganzer Leib betete mit, wie es Vorschrift war, und als er zur vierzehnten Bitte kam, betete er sie in der alten Form, wie man sie während des Exils in Babel gebetet hatte: »Laßt schauen unsre Augen, wie du zurückkehrst nach Jerusalem mit Erbarmen wie ehemals.« Es waren verschollene Worte, nur durch die Gelehrten aufbewahrt, sie waren Geschichte, sechshundertfünfzig Jahre lang hatte sie kein Mensch mehr gebetet. Der Alte aber, an diesem ersten Tag, da sie wieder Sinn bekamen, betete sie, zuversichtlich, selbstverständlich. Sein Gebet erwirkte, was alle Schrecken dieses Tages auf Josef nicht vermocht hatten. Durch die gewollte Härte des Betrachters brach plötzlich, ihn von innen her aufreißend, die Erschütterung über den Fall seiner Stadt.
  Die Soldaten, mit dem brennenden Haus beschäftigt, hatten sich bisher um den Alten nicht gekümmert. Jetzt stellten sie sich belustigt um ihn, machten ihm nach: Jah, Jah, packten ihn, rissen ihm den Gebetmantel vom Kopf, verlangten, er solle nachsprechen: Jahve ist ein Esel, und ich bin der Knecht eines Esels. Sie zerrten ihn am Bart, stießen ihn herum. Da trat Josef dazwischen. Herrisch verlangte er, die Soldaten sollten den alten Mann in Ruhe lassen. Die dachten nicht daran. Wer er denn sei, daß er ihnen befehlen wolle? Er sei des Feldherrn Privatsekretär, erklärte Josef, und handle mit seinem Einverständnis. Hatte er nicht Erlaubnis, siebzig Gefangene loszubitten? Da könne jeder kommen, erklärten die Soldaten. Sie redeten sich in Wut, fuchtelten mit ihren Waffen. Er gehöre wahrscheinlich selber zu den Juden, so ohne Rüstung, mit seinem jüdischen Latein. Sie hatten Wein getrunken, sie wollten Blut sehen. Es war toll gewesen von Josef, sich einzumischen, ohne daß er einen schriftlichen Befehl vorzeigen konnte. Aus Jotapat ist er heil hervorgegangen, aus so vielen andern Gefahren, jetzt wird er hier einen lächerlichen Tod sterben, das Opfer eines Irrtums besoffener Soldaten. Da fiel ihm etwas ein. »Schaut mich an«, forderte er die Soldaten auf. »Wenn ich wirklich zu den Belagerten gehörte, müßte ich da nicht magerer sein?« Das leuchtete ihnen ein, sie ließen ihn laufen.
  Josef suchte den Prinzen. Er fand ihn in böser Laune. Die Frist, die sich Titus gegeben hatte, war abgelaufen. Jerusalem war gefallen, morgen, spätestens übermorgen, wird er nach Thekoa reiten. Die Auseinandersetzung mit der Frau wird nicht angenehm sein.
  Bescheiden bat Josef um eine schriftliche Anweisung, damit er die siebzig Menschen losbekomme, deren Freiheit der Prinz ihm zugesagt hat. Unwirsch schrieb Titus die Anweisung. Während des Schreibens, über die Schulter, warf er dem Josef hin: »Warum haben Sie mich eigentlich niemals um Erlaubnis gebeten, Ihre Dorion hierherkommen zu lassen?« Josef schwieg eine kleine Weile, erstaunt. »Ich fürchtete«, sagte er dann, »Dorion werde mich hindern, Ihren Feldzug, Prinz Titus, so mitzuerleben, daß ich ihn dann schreiben kann.« Schlecht gelaunt sagte Titus: »Ihr seid scheußlich konsequent, ihr Juden.«
  Den Josef traf dieses Wort. Es war seine Absicht gewesen, mehr als die siebzig zu verlangen; vor dem Gesicht des Prinzen hatte er es aufgegeben. Jetzt, plötzlich, wußte er: es kam alles darauf an, daß Titus ihm mehr Menschenleben zugestehe. Behutsam, sehr unterwürfig, bat er: »Schreiben Sie nicht: siebzig, Cäsar Titus, schreiben Sie: hundert.« – »Ich denke nicht daran«, sagte der Prinz. Er sah ihn bösartig an, seine Stimme klang grobschlächtig wie die seines Vaters. »Heute würde ich dir auch keine siebzig mehr konzedieren«, sagte er.
  Niemals sonst hätte sich Josef erdreistet, weiter zu bitten. Aber es trieb ihn. Er mußte beharren. Er war für immer verworfen, wenn er jetzt nicht beharrte. »Geben Sie mir siebenundsiebzig, Cäsar Titus«, bat er. »Schweig«, sagte Titus. »Ich hätte Lust, dir auch die siebzig wieder zu nehmen.«
  Josef nahm das Täfelchen an sich, bedankte sich, ließ sich Begleitmannschaften mitgeben, ging zurück in die Stadt.
  Das lebenbringende Täfelchen im Gürtel, strich er durch die Straßen. Sie waren voll von Mord. Wen soll er retten? Seinen Vater, seinen Bruder lebend anzutreffen, hatte er wenig Hoffnung. Er hatte Freunde in Jerusalem, auch Frauen, die er gerne sah, aber er wußte, es war nicht um dieser willen, daß damals an der Leichenschlucht Jahve das Herz des Titus erweicht hatte. Und nicht um dieser willen hatte er jetzt den Prinzen mit so dreister Beharrlichkeit bedrängt. Gut und verdienstvoll ist es, Menschen vom Tode zu retten, aber was sind seine armseligen siebzig vor den Hunderttausenden, die hier sterben? Und während er es noch nicht wahrhaben will, während er es mit aller Kraft ins Nichtwissen zurückdrängt, steigt aus seinem Innern ein bestimmtes Antlitz herauf.
  Dieses ist es, dieses sucht er.
  Er sucht. Er muß finden. Er hat keine Zeit, er darf nicht ablassen, es sind Hunderttausende, und er muß den Einen finden. Es geht nicht um siebzig Irgendwelche, es geht um den Bestimmten. Aber rings um ihn ist der Mord, und er hat das lebenbringende Täfelchen im Gürtel und ein schlagendes Herz in der Brust. Er sollte vorbeigehen, er hat seine Aufgabe, er hat dieses bestimmte Gesicht zu finden. Aber wenn du siehst, wie Menschen umgebracht werden, und du hast das Mittel, zu sagen: lebe, dann ist es schwer, vorbeizugehen, vernünftig, auf das bestimmte Gesicht wartend, schweigend. Und Josef ging nicht vorbei, er sagte: lebe, er bezeichnete diesen, weil seine Angst ihn anrührte, jenen, weil er so jung war, diesen wieder, weil sein Gesicht ihm gefiel. Und er sagte: lebe, sagte es ein fünftes Mal, ein zehntes, ein zwanzigstes Mal. Dann wieder nahm er alle Vernunft zusammen, er hatte seine Aufgabe, er bezwang sich, ging vorbei an Menschen, die starben, weil er vorbeiging. Aber er ertrug es nicht lange, schon zum nächsten wieder sagte er: lebe, und wieder zum nächsten, und zu mehreren. Erst als er den fünfzigsten den knurrenden, unwillig dem Befehl gehorchenden Soldaten entrissen hatte, packte ihn wieder seine Aufgabe, und er hielt ein. Er darf sich so billiges Mitleid nicht gönnen; sonst steht er mit leeren Händen, wenn er den Bestimmten findet.
  Er flüchtet vor sich selber in die Synagoge der Alexandrinischen Pilger. Er wird jetzt die siebzig Rollen der Heiligen Schrift holen, die Titus ihm zugestanden hat. Die Plünderer waren bereits in der Synagoge gewesen. Sie hatten die heiligen Bücher aus der Lade gerissen, sie ihrer kostbaren, bestickten Mäntel beraubt. Da lagen sie, die edeln Rollen, bedeckt mit den köstlichen Zeichen, zerfetzt, blutbeschmiert, zertrampelt von den Stiefeln der Soldaten. Josef bückte sich schwerfällig, hob behutsam eines der geschändeten Pergamente aus Dreck und Blut. Man hatte etwas herausgeschnitten, an zwei Stellen. Josef folgte den Linien des Ausschnitts, sie zeigten die Form von Menschenfüßen. Er begriff, die Soldaten hatten mit den Rollen nichts Besseres anzufangen gewußt, sie hatten sich Einlagsohlen für ihre Stiefel herausgeschnitten. Mechanisch rekonstruierte er die erste der fehlenden Stellen: »Drücke den Fremden nicht in deinem Lande und liege ihm nicht hart an; denn ein Fremder bist du gewesen im Lande Ägypten.«
  Langsam sammelte Josef die zerfetzten Rollen auf, hob sie hoch, behutsam, führte sie ehrerbietig zur Stirn, zum Mund, wie der Brauch es verlangte, küßte sie. Er konnte sie nicht römischen Händen anvertrauen. Er trat hinaus auf die Straße, um Juden zu suchen, die sie ihm in sein Zelt brächten. Da sah er einen Zug heraufkommen, dem Ölberg zu, Gefangene offenbar, die man mit den Waffen in der Hand ergriffen hatte. Man hatte sie gegeißelt, hatte auf ihre zerpeitschten Nacken Querbalken gelegt, ihre ausgestreckten Arme daran gebunden. So schleppten sie jetzt selber das Holz, an dem sie sterben sollten, zur Richtstätte. Josef sah die ausgelöschten, verzerrten Gesichter. Er vergaß seine Aufgabe. Er befahl Halt, er wies dem Hauptmann, der den Zug geleitete, sein Täfelchen vor. Es waren noch zwanzig Leben, über die er zu verfügen hatte, die Gefangenen aber waren dreiundzwanzig. Zwanzig von ihnen wurde der Querbalken wieder abgenommen, sie stierten blöde, sie waren halbtot von der Geißelung, sie wußten nicht, was ihnen geschah. Statt der Kreuzbalken bekamen sie jetzt die Schriftrollen, und statt zum Ölberg ging es ins römische Lager zu Josefs Zelt. Es war eine sonderbare, von den Soldaten stürmisch belachte Prozession, wie da Josef durch die Stadt zog, sein goldenes Schreibzeug im Gürtel, in jedem Arm eine Schriftrolle tragend, zärtlich, als trüge er kleine Kinder, gefolgt von den gegeißelten, taumelnden Juden, die ihm die andern Rollen nachschleppten.

Titus hat den Weg bis Bethlehem sehr rasch zurückgelegt, zwischen Bethlehem und Thekoa verlangsamt er den Trab seines Pferdes. Die Aufgabe, die vor ihm liegt, ist schwierig. Sie heißt Berenike. Das Schlimmste ist, man kann nicht um sich schlagen, kann nichts tun. Man kann sich nur hinstellen und die Entscheidung der Frau abwarten. Man genügt ihr, oder man genügt ihr nicht.

  Es geht jetzt steil aufwärts. Thekoa liegt auf einem Felsen, kahl und verlassen, dahinter liegt Wüste. Der Ortskommandant hat seine Leute zum Empfang des Feldherrn aufgestellt. Titus nimmt seine Meldung entgegen. Das ist also jener Hauptmann Valens, der den Hain hat fällen lassen. Ein Gesicht, nicht klug, nicht dumm, bieder, männlich. Der Mann hat den Befehl erhalten, den Hain zu schonen: er hat ihn geschont. Es ist seltsam, daß es Titus nicht gelingt, der Frau sein Wort zu halten.
  Er steht vor ihrem Haus. Es liegt auf der höchsten Spitze des Felsens, klein, verwittert, erbaut seinerzeit für Makkabäerprinzen, die man in die Wüste schickte. Ja, von hier aus sieht man hinaus in die Wüste. Berenike ist trotz allem in die Wüste gegangen.
  Ein Kerl erscheint vor dem Haus, schäbig angezogen, ohne Livree. Titus schickt ihn hinein, läßt der Prinzessin sagen, daß er da ist. Er hat ihr seine Ankunft nicht vorher mitgeteilt, vielleicht will sie ihn gar nicht sehen. Er wartet, ein Beklagter, auf den Richter. Es ist nicht, weil er den Tempel verbrannt hat. Nicht, was er getan hat, steht vor Gericht, vor Gericht steht sein Wesen, das, was er ist. Sein Gesicht, seine Haltung ist Anklage und Verteidigung zugleich. Da steht er, der Herr über hunderttausend ausgezeichnete Soldaten und zahlreiches Kriegsgerät, der Mann mit unbeschränkten Vollmachten für den Osten von Alexandrien bis an die indische Grenze, und sein ferneres Leben hängt davon ab, ob die Frau ja zu ihm sagt oder nein, und er ist hilflos, er kann nichts tun als abwarten.
  Das Tor oben öffnet sich, sie kommt. Eigentlich ist es selbstverständlich, daß sie den Feldherrn, den Herrn des Landes, ehrenvoll empfängt, aber dem Titus ist es schon Erleichterung, daß sie da oben steht, daß sie da ist. Sie trägt ein einfaches Kleid, viereckig, aus einem Stück, wie es hier die Frauen des Landes tragen. Sie ist schön, sie ist königlich, sie ist die Frau. Titus steht und starrt hinauf zu ihr, besessen, demütig. Wartet. Berenike, in diesen Augenblicken, weiß, daß sie jetzt ein letztes Mal ihr Schicksal in der Hand hält. Sie hat vorausgesehen, daß der Mann einmal kommen wird, aber sie hat sich nicht darauf bereitet, sie hat damit gerechnet, daß Gott, ihr Gott Jahve, sie im rechten Augenblick das Rechte werde tun lassen. Sie steht oben auf der Treppe, sie sieht den Mann, seine Gier, seine Besessenheit, seine Demut. Er hat immer wieder sein Wort gebrochen, er hat Gewalt an ihr getan, und er wird wieder Gewalt an ihr tun. Er ist besten Vorsatzes, aber er ist ein Barbar, der Sohn von Barbaren, und das ist stärker als seine Vorsätze. Nichts zwingt sie mehr, der Mann hat alles zerrissen, die Vergangenheit ist abgelebt. Sie muß, sie darf sich neu entscheiden. Bisher konnte sie sagen, es sei um des Tempels willen, daß sie zu Titus ging. Jetzt hat sie keinen Vorwand mehr, der Mann hat den Tempel niedergebrannt. Zu wem soll sie fortan gehören, zu den Juden oder zu den Römern? Es steht, zum letztenmal, bei ihr. Wohin soll sie gehen? Zu diesem Titus? Oder nach Jabne zu Jochanan Ben Sakkai, der auf schlaue und großartige Weise das Judentum neu aufbaut, heimlicher, geistiger, geschmeidiger und doch fester als bisher? Oder soll sie zu ihrem Bruder gehen und das Leben einer großen Dame, führen, voll betriebsamer Leerheit? Oder soll sie in die Wüste gehen, wartend, ob eine Stimme kommt?
  Sie steht und sieht auf den Mann. Sie riecht den Blutgeruch an ihm, sie hört das grauenvolle Hep, Hep, das sie im Lager gehört hat und das bestimmt auch im Herzen dieses Mannes schrie. Es wäre besser, sie ginge zurück ins Haus. Hinterm Haus ist die Wüste, dort ist es gut. Sie befiehlt sich, zurückzugehen. Aber sie geht nicht zurück, sie steht, den linken Fuß noch auf der Schwelle, den rechten schon außerhalb. Und nun setzt sie auch den linken vor, es zieht sie, sie befiehlt sich: zurück! Aber sie geht nicht zurück. Wieder eine Stufe hinunter setzt sie den Fuß, und noch eine. Sie ist verloren, sie weiß es. Sie nimmt es auf sich, sie will verloren sein. Sie steigt die Treppe hinunter.
  Der Mann unten sieht sie kommen. Sie kommt herunter, ihm entgegen, dies ist der kostbare, geliebte Schritt der Berenike, der ihm entgegenkommt. Er stürmt vor, die Treppe hinauf. Strahlt. Sein Gesicht ist ganz jung, das eines glücklichen Knaben, den alle Götter segnen. Er streckt der Frau den Arm zu, die Handfläche nach außen, stürmt hinauf, jubelt: Nikion!
  Die Nacht bleibt er in dem kleinen, verwahrlosten Haus. Anderen Tages reitet er nach Jerusalem zurück, beglückt. Er trifft den Josef. »Wolltest du nicht siebenundsiebzig Gefangene, mein Josef?« fragt er. »Nimm sie.«

Josef, das Täfelchen mit der Ermächtigung des Feldherrn im Gürtel, begab sich in den Frauenvorhof des Tempels, der als Gefangenendepot eingerichtet war. Es hatte ihn alle die Tage her gedrückt, daß er seine Macht, zu lösen, auf so billige Art verzettelt hatte. Jetzt begann die hoffnungsvolle, qualvolle Suche von neuem.
  Die Organisation des Gefangenendepots hat noch immer Fronto unter sich, er ist inzwischen zum Oberst aufgerückt. Er übernimmt persönlich die Führung des Josef. Er mag den Juden nicht, aber er weiß, dieser Josephus ist beauftragt, ein Buch über den Krieg zu schreiben, und er möchte in diesem Buch eine gute Figur machen. Er setzt ihm die Schwierigkeit auseinander, ein Depot von solchem Umfang zu verwalten. Der Markt für Leibeigene ist hoffnungslos verstopft. Wie soll man das Pack nur verpflegen, bis man es an den Mann gebracht hat? Sie sind auf dem Hund, seine lieben Kindlein, Haut und Knochen, viele verseucht. Elftausend sind ihm in dieser einzigen Woche eingegangen. Viele sind übrigens selber daran schuld. Unsere Legionäre sind gutmütig, zu Witzen aufgelegt, oft bieten sie den Gefangenen von ihrem eigenen Schweinefleisch an. Aber, ist es zu glauben, die Kerls verrecken lieber, als daß sie das Zeug fräßen.
  Gefangene, die Waffen getragen haben, füttert Fronto nicht mit durch, die läßt er natürlich gleich exekutieren. Was die andern anlangt, so sucht er Verwandte aufzutreiben, die allenfalls Lösegeld für sie zahlen. Die nicht Ausgelösten hofft er im Lauf etwa eines halben Jahres durch ein paar Auktionen großen Stils loszuwerden. Gefangene ohne Marktwert, ältere, schwächliche Männer, ältere Weiber ohne besondere Geschick lichkeit, stößt er ab, indem er sie als Material für die Tierhetzen und Kampfspiele bereitstellt.
  Langsam, einsilbig ging Josef neben dem beflissenen Oberst Fronto her. Die Gefangenen trugen ihr Täfelchen mit Namen und kurzer Charakteristik, sie hockten oder lagen dicht gepfercht in Hitze und Gestank, sie hatten seit Wochen den Tod vor Augen, sie hatten Hoffnung und Furcht so bis ins Letzte ausgeschmeckt, daß sie leer waren, ausgeronnen.
  Die Abteilung, durch die sie jetzt gingen, enthielt die für die Tierhetze und Kampfspiele Ausgesonderten. »Doktor Josef«, rief ihn einer an, kläglich und erfreut, ein alter Bursche, struppig, grau von Gesicht, verfilzt. Josef suchte in seinem Gedächtnis, erkannte ihn nicht. »Ich bin der Glasbläser Alexas«, sagte der Mann. Was, dieser Mensch wollte der gescheite, weltgewandte Kaufmann sein? Der stattliche, beleibte Alexas, nicht älter als er selber? »Ich habe Sie zuletzt auf der Messe in Cäsarea getroffen, Doktor Josef«, erinnerte ihn der Mann. »Wir sprachen davon, daß leiden müsse, wer sich zur Vernunft bekennt.« Josef wandte sich an Fronto: »Ich glaube, der Mann hat nie zu den Aufrührern gehört.« – »Die Untersuchungskommission hat ihn mir überwiesen«, meinte achselzuckend Fronto. »Das römische Prozeßverfahren ist nicht schlecht«, mischte sich Alexas bescheiden ein, mit einem kleinen Lächeln, »aber es wird hier zur Zeit vielleicht ein bißchen summarisch angewandt.« – »Der Bursche ist nicht übel«, lachte Fronto, »aber wohin kämen wir, wenn wir alle Entscheidungen revidieren wollten? Es ist gegen die Richtlinien. ›Besser eine Ungerechtigkeit als ein Verstoß gegen die Ordnung‹, lautete die Order des Feldherrn, als er mir das Depot übergab.« – »Bemühen Sie sich nicht um mich, Doktor Josef«, sagte resigniert Alexas. »Ich bin so überdeckt mit Unglück, daß kein freundlicher Wille mehr durchkommt.« – »Ich bitte um den Mann«, sagte Josef und wies auf sein Täfelchen. »Wie Sie wünschen«, sagte höflich Oberst Fronto. »Jetzt haben Sie noch sechs Stück gut«, konstatierte er und machte seine Anmerkung auf dem Täfelchen.
  Josef ließ den Glasbläser Alexas in sein Zelt bringen. Er mühte sich mit Zartheit um den erschöpften, traurigen Men schen. Alexas erzählte, wie er beim Einbruch der Römer seinen Vater in die Unterwelt hinuntergeschleppt hatte, um sich und ihn zu retten. Der alte Nachum hatte sich gesträubt.: Gehe er in dem Haus in der Salbenmachergasse zugrunde, dann sei eine leise Hoffnung, daß einer ihn finde und begrabe. Sterbe er aber in der Unterwelt, dann werde er unbegraben liegenbleiben, keine Erde über sich, und sein Gesicht bei der Auferstehung verlieren. Schließlich hatte er den Alten mit Überredung und Zwang in die Unterwelt gebracht, aber ihre Fackel war bald ausgegangen, und sie hatten einander verloren. Er selber war dann nach einiger Zeit von zwei Soldaten aufgespürt worden. Hatte ihnen, gekitzelt von ihren Schwertern, ein weniges von seinem Vergrabenen gezeigt. Da er sie vermuten ließ, er habe noch mehr, behielten sie ihn zunächst für sich und lieferten ihn nicht im Depot ab. Die beiden waren drollige, umgängliche Burschen, und vor allem, mit zwei Soldaten konnte man reden, mit dem Depot, mit der römischen Armee, konnte man nicht reden. Er mußte ihnen Witze erzählen. Gefielen sie ihnen nicht, dann banden sie ihn an einen Baumstamm, an Händen und Füßen, den Bauch nach unten, und schaukelten ihn hin und her. Das war unangenehm. Gewöhnlich aber gefielen ihnen seine Witze. Die beiden Soldaten waren nicht die schlimmsten, man kam leidlich miteinander aus. Mehr als eine Woche zogen sie so mit ihm herum, ließen ihn vor den andern Kunststücke machen, seine Witze erzählen. Der jüdische Akzent seines Latein machte ihnen und ihren Kameraden Spaß. Sie kamen schließlich auf die Idee, er eigne sich zum Türhüter, und wollten ihn bei sich halten, bis sie ihn als Türhüter verkaufen könnten. Ihm war es recht. Es war besser, als in einem ägyptischen Bergwerk oder in einer syrischen Arena zu enden. Aber dann waren seine beiden Herren ein zweites Mal in die Unterwelt hinuntergestiegen, waren nicht mehr zurückgekommen, und ihre Zeltkameraden hatten ihn dem Depot überwiesen.
  »Das alles geschah mir«, meditierte Alexas, »weil ich nicht der Vernunft folgte. Wäre ich rechtzeitig aus Jerusalem fort, dann hätte ich wenigstens noch Weib und Kinder, aber ich wollte alles haben, ich wollte Vater und Brüder haben. Ich habe mich überhoben.« Er bat den Josef, ihm eine murrinische Vase schenken zu dürfen. Ja, dieser kluge Alexas hatte immer noch Reserven. Er hatte viel gerettet, meinte er bitter, nur das Wichtigste hatte er nicht gerettet. Sein Vater Nachum, wo ist er? Sein Weib Channa, seine Kinder, sein liebenswerter, heftiger, törichter Bruder Ephraim, wo sind sie? Er selber, Alexas, was er gelitten hat, ist über eines Menschen Vermögen. Er wird Gläser machen und andere schöne Dinge. Aber er hat keine Gnade vor Gott, er wagt es nicht, in diese Welt hinein von neuem ein Kind zu machen.
  Den andern Tag ging Josef wiederum durch das Gefangenendepot. Er hat jetzt nur mehr sechs Menschenleben in der Hand, er wird sie nicht ausgeben, bevor er den Einen, seinen Bestimmten, gefunden hat. Wie aber soll er unter der Million von Toten, Gefangenen, Elenden seinen Einen herausfinden? Das heißt einen Fisch im Meer suchen.
  Als Josef auch am dritten Tag wiederkam, begann Oberst Fronto ihn zu hänseln. Er freue sich, meinte er, daß Josef für seine Ware mehr Interesse zeige als jeder Leibeigenenhändler. Josef ließ sich das nicht anfechten. Er suchte auch diesen Tag hindurch. Vergeblich.
  Am späten Abend erfuhr er, es seien, als Ergebnis einer Razzia in der Unterwelt, achthundert Gefangene eingeliefert worden, die Oberst Fronto sogleich fürs Kreuz bestimmt habe. Josef hatte sich bereits hingelegt, er war müde und erschöpft. Trotzdem machte er sich auf.
  Es war tiefe Nacht, als er auf den Ölberg kam, wo die Exekutionen stattfanden. Dicht standen dort die Kreuze, zu vielen Hunderten. Wo einstmals die Ölterrassen waren, die Magazine der Brüder Chanan, die Villen der Erzpriesterfamilie Boëth, überall jetzt hoben sich die Kreuze. Die nackten, gegeißelten Männer hingen daran, verkrampft, mit schrägen Köpfen, herabfallenden Unterkiefern, bleifarbenen Lidern. Josef und seine Begleiter leuchteten die einzelnen Gesichter ab, sie waren gräßlich verzerrt. Wenn der Lichtschein die Gesichter traf, dann begannen die Hängenden zu sprechen. Einige fluchten, die meisten stammelten ihr: Höre, Israel, Josef war zum Umsinken müde. Er war versucht, beim nächsten zu sagen: Nehmt ab, nehmt ab!, wahllos, damit er die grausige Suche beenden könnte. Das Täfelchen, das ihm Macht gab, wurde immer schwerer. Nur weg von hier, nur schlafen dürfen. Die siebenundsiebzig erreicht haben, das Täfelchen los sein. Ins Zelt, umsinken, schlafen.
  Und dann fand er den, den er suchte. Es stoppelte sich dem Gelbgesichtigen ein wirrer Bart um die Wangen. Das Gesicht war auch nicht mehr gelb, grau vielmehr, eine dicke, belegte Zunge hing aus dem klaffenden Mund. »Nehmt herunter!« sagte Josef, er sagte es sehr leise, es kostete ihn Mühe, zu sprechen, es würgte ihn, er schluckte. Die Profose zögerten. Es mußte erst der Oberst Fronto gerufen werden. Es dauerte quälend lange für Josefs Ungeduld. Ihm schien, als stürbe der Gelbgesichtige, während er hier zu seinen Füßen wartete. Das durfte nicht sein. Das große Gespräch zwischen ihm und Justus war nicht zu Ende. Justus durfte nicht sterben, bevor es zu Ende war.
  Endlich kam Fronto, verschlafen, verärgert, er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Höflich trotzdem wie immer hörte er Josef an. Gab sogleich Befehl, den Mann abzunehmen und Josef zu übergeben. »Jetzt haben Sie noch fünf Stück gut«, konstatierte er und machte seine Anmerkung auf Josefs Täfelchen. »Nehmt ab! Nehmt ab!« befahl Josef und bezeichnete die nächsten fünf. »Jetzt haben Sie keinen mehr«, konstatierte der Oberst.
  Der Gelbgesichtige war angenagelt gewesen, das war das mildere Verfahren, aber es erwies sich als sehr hart jetzt beim Abnehmen. Er hing fünf Stunden, das war für einen starken Mann nicht viel, aber der Gelbgesichtige war kein starker Mann. Josef schickte nach Ärzten. Der Gelbgesichtige kam zum Bewußtsein vor Schmerz, dann sank er wieder weg, dann riß der Schmerz ihn wieder ins Bewußtsein. Die Ärzte kamen. Es gehe um einen Propheten der Juden, hieß es, und er sei im Auftrag des Prinzen vom Kreuz genommen worden. Dergleichen kam nicht oft vor; es waren die besten Ärzte des Lagers, die sich für den Fall interessierten. Josef drang in sie. Sie äußerten sich zurückhaltend. Vor drei Tagen könnten sie nicht sagen, ob der Mann durchkommen werde.
  Josef ging neben der Bahre her, in der man Justus ins Lager brachte. Justus hatte ihn nicht erkannt. Josef ist todmüde, aber er ist voll Ruhe, in seinem Herzen sind die Worte der Lobsagung anläßlich der Errettung aus großer Gefahr. Schlafen hätte ihm nicht Frische gebracht, das Essen keine Sättigung, Bücher keine Erkenntnis, Erfolg keine Genugtuung, wenn dieser Justus tot oder verschollen geblieben wäre. Er wäre neben dem Mädchen Dorion gelegen ohne Glück, er hätte sein Buch geschrieben ohne Glück. Jetzt ist der Mann da, sich mit ihm zu messen, der einzige, um den es lohnt. »Ihr Doktor Josef ist ein Lump.« Ein Wort schmeckt anders im Ohr als im Mund, daran hätte der Mann denken müssen. Es ist eine große Ruhe in Josef, Erfüllung, Leichtigkeit. Er schläft gut und lange, fast bis zum Mittag.
  Er geht ans Lager des Justus. Die Ärzte schweigen sich noch immer aus. Josef geht nicht vom Lager weg. Den ganzen Tag liegt der Gelbgesichtige ohne Bewußtsein. Am zweiten Tag beginnt er zu phantasieren, er sieht grauenvoll aus. Die Ärzte zucken die Achseln, rechnen nicht mehr damit, daß er davonkommt. Josef sitzt am Lager. Er ißt nicht, er wechselt das Kleid nicht, es kräuselt sich um seine Wangen. Er rechtet mit Jahve. Warum hat er ihn geschont durch soviel wilde Wechselfälle, wenn er ihm jetzt die große Auseinandersetzung mit Justus nicht gönnen will? Der Prinz schickt nach ihm. Berenike schickt nach ihm, er möge nach Thekoa kommen. Josef hört nicht. Er sitzt am Lager des Justus, starrt auf den Kranken, wiederholt die Gespräche, die er mit ihm gehabt hat. Das große Gespräch ist nicht zu Ende. Justus darf nicht sterben.
  Am vierten Tag der Pflege nehmen die Ärzte dem Mann den linken Unterarm ab. Am achten erklären sie ihn für gerettet.

Josef, nun er den Justus außer Gefahr wußte, ging fort von seinem Lager, ließ eine Summe Geldes zurück, kümmerte sich nicht weiter um den Mann. So geltungssüchtig er war, es lag ihm nichts daran, sich dem Justus als Lebensretter zu zeigen. Das große Gespräch mit Justus wird eines Tages fortgesetzt werden, das genügte.
Um diese Zeit bat Titus den Josef um einen Dienst. Der
Prinz freute sich dessen, was er in Thekoa errungen hatte; aber er fühlte sich immer noch unsicher in allem, was diese jüdische Frau anging. Er wagte sich nicht weiter vor. Was soll sein, wenn er nun das Land verläßt? Er beauftragte Josef, bei Berenike vorzufühlen, ob sie mit nach Rom kommen wolle.
  In dem verwahrlosten Haus von Thekoa standen sich Josef und Berenike gegenüber, einer so kahl wie der andere. Hat nicht ihr ganzes Leben, ihr Wegwurf an die Römer, Sinn gehabt nur als Versuch, den Tempel zu retten? Der Tempel ist hin, sie sind Muscheln ohne Schale. Aber sie sind aus dem gleichen Stoff, und sie schämen sich, einer vor dem andern, ihrer Blöße nicht. Nackt und rechnerisch betrachten sie ihre Armut. Es gilt jetzt, ohne den Hintergrund eines Stammes mit eigenen Fähigkeiten sich neuen Boden zu schaffen. Er hat sein Buch und seinen Ehrgeiz, sie hat Titus und ihren Ehrgeiz. Ihrer beider Zukunft ist Rom.
  Ja, gewiß wird sie nach Rom gehen.
  Dem Prinzen war die Zusage der Frau eine große Bestätigung. Er fühlte sich Josef zu Dank verpflichtet. »Besitzen Sie nicht Terrains in der Neustadt, mein Josef?« fragte er. »Auch von Ihrem Vater müssen Sie Grundbesitz geerbt haben. Ich werde allen Boden in Jerusalem enteignen für die Legion, die ich als Besatzung hierherlegen will. Geben Sie mir eine genaue Aufstellung Ihrer Verluste. Ich werde Ihnen aus dem konfiszierten Boden im Land Ersatz anweisen.« Josef freute sich über dieses Geschenk. Mit kaltem, nüchternem Geschäftssinn regelte er seine judäischen Angelegenheiten. Er wollte klare Verhältnisse hinter sich haben, nun er das Land verließ.
  Titus schleifte Jerusalem vollends, wie es einstmals die siegreichen Heerführer mit den Städten Karthago und Korinth gemacht hatten. Nur die Türme Phasael, Mariamne und Hippikus sowie einen Teil der Westmauer ließ er stehen zum Zeichen, wie herrlich und stark befestigt die Stadt gewesen war, die seinem Glück hatte erliegen müssen.

Am 24. Oktober, anläßlich des Geburtstags seines Bruders Domitian, des Früchtchens, veranstaltete Titus im Stadion von Cäsarea Festspiele, für die er aus dem Überfluß der jüdischen Gefangenen Menschenmaterial in besonderer Üppigkeit zur Verfügung stellte. »Komm und sieh!« sagte er zu Josef. Josef kam.

  Nachdem alle zweitausendfünfhundert Teilnehmer durch die Arena geführt waren, mußten zunächst zwei Haufen Juden, die einen als Verteidiger, die andern als Angreifer, die Erstürmung einer Stadtmauer darstellen. Sie stachen aufeinander ein, die bärtigen, jämmerlichen Menschen, warfen sich grotesk hoch, wenn sie den zaghaften Todesstreich empfingen. Wer zu feig war, wurde mit Peitschen und glühenden Eisen in den Kampf getrieben. Gegen einzelne, die durchaus nicht dazu gebracht werden konnten, aufeinander loszugehen, schickte man gelernte leibeigene Fechter vor. Theaterdiener in der Maske des Unterweltgottes Hades nahmen die Gefallenen in Empfang, prüften mit Feuerbränden, ob sie den Tod nicht etwa nur simulierten. Die Arena war voll von Geschrei: Höre, Israel, Jahve ist einzig. Viele starben den Zuschauern zu langweilig. Man schrie ihnen zu: »Was ist das für eine waschlappige Art, einen umzulegen. Das ist ja gekitzelt, nicht gefochten. Los, du Bärtiger, los, du Alter! Ein bißchen fixer, wenn’s gefällig ist! Nicht so tranig gestorben, ihr Schisser!« Josef hörte die Rufe. Je nun, man hatte diesem Publikum gesagt, die Juden seien im ihrem Kampf ernst und anständig gestorben, und jetzt war es enttäuscht, daß man ihm dieses anständige Sterben nicht vormachte.
  Es war nicht leicht, auf die Dauer Monotonie zu vermeiden. Man schickte gegen die Gefangenen afrikanische Löwen vor, indische Elefanten, deutsche Auerochsen. Die todbestimmten Juden waren zum Teil in Festgewändern, andere mußten Gebetmäntel tragen, weiß, mit schwarzen Kanten und blauen Quasten, und es war hübsch anzusehen, wie die sich rot färbten. Viele auch, Männer wie Frauen, jagte man nackt in die Arena, damit die Zuschauer das Spiel der Muskeln während des Sterbens beobachten könnten. Ein paar sehr kräftige Männer stellte man gut bewaffnet einem Elefanten gegenüber. Die Männer, finster und verzweifelt, brachten dem Tier ernstliche Wunden bei, ehe es, trompetend und gereizt, sie zertram pelte, und das Publikum hatte Mitleid mit dem Elefanten. Man hatte Sinn für Humor. Viele mußten in lächerlichen Masken sterben. Eine Anzahl von Greisen hatte man auf der einen Seite rasiert und kahlgeschoren, auf der andern Seite hatte man ihnen ihre langen Haare und ihre langen weißen Bärte gelassen. Andere mußten rennen, mit leicht entzündlichen Stoffen bekleidet; ihre Gewänder entzündeten sich während des Laufs, zweihundert Meter vor ihnen war ein Wasserbassin, und wenn sie es erreichten, waren sie, vielleicht, gerettet. Es war possierlich anzusehen, wie sie die Beine warfen, wie sie japsten, wie sie sich ins Wasser schmissen, auch wenn sie nicht schwimmen konnten. Viel Spaß machte auch eine Leiter, die man an eine zu stürmende Mauer anlegte. Die aufgeputzten Todbestimmten mußten sie erklettern, die Leiter aber war mit glitschiger Masse beschmiert, und sie fielen in aufgestellte Spieße.
  Zwei Tage starben die Juden, ihrer zweitausendfünfhundert, auf diese Art, den Unbeschnittenen zum Spaß, im Stadion der Stadt Cäsarea. Zwei Tage sah und hörte Josef sie sterben. Oft glaubte er bekannte Gesichter zu sehen, aber das war wohl Irrtum, denn Fronto hatte für diese Zwecke im wesentlichen namenloses Volk bestimmt, Kleinbauern und Proletarier aus der Provinz. Ich habe es gesehen, konnte Josef hinzufügen, wenn er diese Spiele später schilderte. Meine Augen haben es gesehen.
  Es war nun an dem, daß Josef in kurzer Zeit Judäa, und vermutlich für immer, verlassen mußte. Lange schwankte er, ob er mit Mara zusammentreffen sollte. Er versagte es sich. Er wies ihr eine auskömmliche Rente an und stellte ihr anheim, auf einem der Güter in der Ebene Jesreel zu wohnen, die Titus ihm überlassen hatte.
  Die Juden hatten Josef gesehen, wie er zu den Spielen ging. Sie haßten und verachteten ihn und hielten die sieben Schritte Abstand. Keiner geleitete ihn, als er sich nach Italien einschiffte.
  Der Hafen von Cäsarea versank, die Kolossalstatuen der Göttin Rom, des Kaisers August. Dann versank das Fort Strathon, dann das violette Gebirge Judäas, zuletzt der grüne Gipfel des Berges Karmel. Josef war auf dem Weg nach Rom. Von Judäa führte er mit sich nichts als das Gedächtnis dessen, was er gesehen hatte, siebzig Rollen der Heiligen Schrift und einen kleinen Kasten Erde, hervorgekratzt unter dem Schutt von Jerusalem.

Auf der Höhe der Appischen Straße, wo das Grabmal der Cäcilia Metella stand, machte der Fuhrmann den üblichen Halt, und Josef sah hin auf das große Bild der Stadt, das sich hier öffnete. Es war ein kühler Märztag, die Stadt lag hell im Licht, Rom, Kraft, Gewurah, sie dehnte sich kräftiger als damals, da er sie verlassen hatte, um Jerusalem aufzusuchen. Was er damals geträumt hat, als er zum erstenmal vom Capitol aus über die Stadt hinschaute, jetzt braucht er nur die Hand auszustrecken, und er hat es erreicht. Der Kaiser und der Prinz bitten ihn um sein Wort, um Wort und Geist vom Geist des Ostens.
  Bitter kneift Josef die Lippen ein. Leider hat der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai recht. Was ihm damals das Ende schien, ist erst der Anfang. Verschmelzung östlicher Weisheit mit westlicher Technik, das ist eine Sache von harter Mühe und von wenig Glanz. Der Wagen ist weitergefahren, er hält am Tor. Josef hat Dorion seine Ankunft nicht angezeigt. Er liebt Dorion, er hat ihr Bild nicht vergessen, wie sie das erstemal vor ihm stand, die Katze im Arm, ihre dünne, geliebte Kleinmädchenstimme nicht, und nicht, wie sie ihren langen, braunen Körper ihm anschmiegt, wild, ohnmächtig, ergeben. Aber es sind jetzt so viele Gesichte zwischen ihm und ihr, Dinge, aus denen sie ausgeschlossen ist. Er will abwarten, will nicht Hoffnungen in ihr erwecken, will sehen, spüren, ob noch jenes Fließende zwischen ihm und ihr ist wie damals.
  Das Haus Dorions ist klein, gefällig, modern. Der leibeigene Türhüter fragt Josef nach seinem Begehr. Josef nennt seinen Namen, der Türhüter neigt sich tief, rennt fort. Josef steht allein in der Empfangshalle, er verfinstert sich. Ringsum ist alles geschmückt mit Bildern, Statuen, Mosaiken, wahrscheinlich von diesem Fabull. Was soll er hier? Er kann hier nicht leben.
  Und jetzt kommt Dorion. Wie damals hebt sich auf ihrem steilen Kinderhals leicht, rein der lange, dünne Kopf mit dem großen Mund. Sie steht und schaut ihn an mit ihren meerfarbenen Augen, die zusehends dunkler werden. Sie möchte lächeln, aber sie ist ganz schwach, sie kann nicht einmal lächeln. Sie hat ihn so lange erwartet, und nun, großen Dank, Götter, ist er da. Sie hat gefürchtet, dieses widerliche Judäa werde ihn für immer verschlingen, und nun, großen Dank, Götter, ist er gekommen. Sie wird blaß, zuerst um den Mund herum, dann über das ganze Gesicht, sie starrt ihn an, und jetzt tritt sie auf ihn zu, sie stößt einen kleinen, schrillen Schrei aus und gleitet an ihm nieder, er muß sie halten. Dies ist die gelbbraune Haut des Mädchens, das er liebt. Sie ist süß und glatt, und o wie kalt sie ist, diese Haut, weil das Mädchen ihn liebt.
  Minuten vergehen, die beiden haben noch kein Wort gesprochen. Sie ist die Süßigkeit der Welt. Wie sie an ihm niedergleitet, tödlich erblaßt, ohnmächtig vor Erregung, werden ihm die Knie schwach. Du sollst dich nicht vergatten mit ihnen. Vor ihm steht sein Buch, die kahle Landschaft mit der Leichenschlucht, der Tempelberg, glühend von seinen Wurzeln auf. Was sollen die albernen Mosaiken ringsum, diese läppischen, freundlichen Bilder häuslichen Lebens? Was soll ; er hier? Was will die Frau? Er ist hier ganz fremd.
  »Du bist hier ganz fremd«, sagt sie, es ist das erste Wort, das sie seit einem Jahr zu ihm spricht. Sie hält ihn an den Schultern, sie hat die Arme gestreckt, sie schaut ihm ins Gesicht. Sie sagt: du bist hier ganz fremd, sie stellt es fest, ernst, ohne Klage. Sie liebt ihn, darum weiß sie es.
  Kleine Tröstungen, kleine Lügen haben hier keinen Sinn. »Ja«, erwidert er. »Ich kann hier nicht leben. Ich kann jetzt nicht mit dir leben, Dorion.«
  Dorion sagt kein Wort des Widerspruchs. Sie spürt, dieser ist nicht mehr ihr Josef, er ist ein anderer, voll von Gesichten, die nicht die ihren sind. Aber sie gehört zu ihm, auch wenn er sich in dieser Gestalt zeigt, sie ist zäh und tapfer, sie wird ihn auch in dieser Gestalt erringen. Sie hält ihn nicht. »Wenn du mich willst, laß mich kommen«, sagt sie.
  Josef geht. Er fühlt sich sehr fremd in Rom. Er drückt sich durch die Straßen, die Kolonnaden. Wenn er bekannte Gesichter sieht, wendet er den Kopf weg, er will mit niemandem reden. Nach einigem Hin und Her entschließt er sich, geht zu Claudius Regin.
  Der Verleger sieht müde aus, alle Teile seines fleischigen Gesichtes hängen. »Gegrüßt sei, der da kommt«, grinst er. »Nun, mein Prophet, was macht Ihr Buch? Ihre Prophezeiung hat sich erfüllt, auf eine etwas eigentümliche Art allerdings. Ich denke, Sie könnten jetzt an die Arbeit gehen. Oder wollen Sie sich drücken?« – »Ich habe mich nicht gedrückt«, sagt verbissen Josef. »Sie wissen nicht, wie schwer das manchmal war. Aber ich habe mich nicht gedrückt.«
  »Ich bin zuweilen Ihrer schönen Frau begegnet, der Ägypterin«, sagte der Verleger. »Ich werde nicht mit Dorion zusammen sein«, sagte Josef, »solange ich an dem Buch schreibe.« Regin sah hoch. »Das ist merkwürdig«, meinte er. »Dabei ist eigentlich die Dame der Grund Ihres Buches.« – »Ein Anlaß vielleicht«, lehnte Josef ab.
  »Wenn Sie bei mir wohnen wollen, mein Haus steht zu Ihrer Verfügung«, sagte der Verleger. Josef zögerte. »Ich möchte allein sein«, sagte er, »solange ich an dem Buch schreibe.« – »Ich glaube«, sagte Claudius Regin, »der Kaiser wird Ihnen das Haus einräumen, das er früher bewohnt hat. Das Haus ist ein wenig kahl, die Majestät war immer sparsam, das wissen Sie.«
  Josef bezog das Haus. Es war groß, dunkel, verwahrlost. Er wohnte dort mit einem einzigen Leibeigenen. Er pflegte sich nicht, aß nur das Notwendigste. Er zeigte keinem Menschen an, daß er in Rom sei. Er strich durch die Straßen, wenn sie am leersten waren, sah die Vorbereitungen zu dem Triumphzug. Überall schon arbeitete man an Gerüsten, Tribünen. An den Mauerwänden, an den Toren tauchten riesige Bilder des Vespasian, des Titus auf, Spruchbänder um sie, die die Imperatoren feierten, das besiegte Judäa verhöhnten. In gigantischer Vergrößerung stierten dem Josef die Fratzen des Kaisers und des Prinzen entgegen, leer, grob, verzerrt; alles Vertraute war fort, es waren Gesichter des Pedan.
  Eines Tages, in den Kolonnaden des Marsfelds, begegnete dem Josef die Sänfte des Senators Marull. Josef wollte rasch vorbei, aber der Senator hatte ihn erspäht. »Sie haben Karriere gemacht, junger Herr«, konstatierte er. »Sie haben sich verändert. Ja, Schicksale machen Köpfe.« Er betrachtete ihn durch seinen blickschärfenden Smaragd. »Erinnern Sie sich, wie ich Sie über Rom informierte, in der Großen Rennbahn? Das war vor fünf Jahren. Ich habe damals schon gesehen, daß es sich lohnt, Sie zu informieren. Sie haben sich im rechten Augenblick auf die richtige Seite gelegt.«
  Er ließ ihn nicht gehen, nahm ihn mit sich, erzählte ihm. Er schrieb an einer Posse, die zu Beginn der Triumphwoche im Marcell-Theater in Szene gehen sollte. Held der Posse sollte der Jude Secharja sein, ein Gefangener, verurteilt zu den Spielen. Der Schauspieler Demetrius Liban wird ihn darstellen. Der Gefangene Secharja soll im Einzelkampf mit einem andern sterben. Die Todesangst des Juden, seine Bitten, seine Erwartung, trotz allem begnadigt zu werden, sein Fechten, sein Nichtfechten, das alles gab Anlaß zu sehr vielen komischen Szenen, Witzen, Tänzen, Couplets. Die Frage war nur der Schluß. Es wäre reizvoll, einen Doppelgänger des Liban zu suchen – man hat jetzt ja reichliche Auswahl –, so ähnlich, daß die eigene Mutter ihn nicht von dem Schauspieler wegkennt, und ihn von einem Berufsfechter abtun zu lassen. Andernteils ist das Publikum mit Kreuzigungen und toten Juden übersättigt. Vielleicht läßt man doch besser den Gefangenen Secharja begnadigt werden. Seine Freude am neuen Leben ist kein schlechtes Motiv, und zum Schluß könnte er aus Dankbarkeit Schätze aus seinem Versteck holen und sie unters Publikum verteilen. Man kann es vielleicht so wenden, daß man ihn am Schluß am Kreuz hängen läßt und daß dann einer kommt und ihn herunterholt, haben nicht Sie was Ähnliches gemacht, Flavius Josephus?, und daß er dann Geld vom Kreuz aus unters Publikum wirft, neugeprägte Siegesmünzen.
  Josef mußte über den Abend bei dem Senator Marull bleiben, mit ihm essen. Der hagere, gescheite Herr interessierte sich für eine Menge abliegender Details aus dem Feldzug, er holte den Josef gründlich aus. Auch er konnte dem Josef Neuigkeiten mitteilen. Es stand nun fest, daß von den drei Repräsentanten der Juden, die im Triumphzug aufgeführt werden sollten, nur an Simon Bar Giora die während des Triumphs übliche Hinrichtung vollzogen werden wird. Die beiden andern, Johann von Gischala und der Erzpriester Phanias, sollten nach dem Triumph als Leibeigene verkauft werden. Es sind drei Reflektanten da: Mucian, der Minister Talaß und er selber. Er hat Grund anzunehmen, daß man ihn berücksichtigen wird. Die Dame Cänis ist nicht billig, aber er ist kein Knauser. Zu wem Josef ihm mehr rate, zu dem Feldherrn oder zu dem Erzpriester?
  Am andern Tag überwand sich Josef und suchte den Schauspieler Demetrius Liban auf. Er fand ihn überraschend gealtert und nervös. »Ah, da sind Sie ja«, empfing er ihn. »Natürlich, Sie durften nicht fehlen. Eigentlich habe ich Sie schon längst erwartet.« Er war voll feindseliger Ironie gegen Josef. Langsam begriff Josef: dieser Mann maß sich die Schuld am Untergang des Tempels bei. Er hat Josef zu Poppäa gebracht, er im Grund hat die Amnestierung der drei erwirkt, und ist nicht alles Übel ausgegangen von dieser Amnestierung? Die Amnestierung, das Edikt über Cäsarea, der Aufstand, die Einäscherung des Tempels, das war eine Kette. Und der Anfang der Kette war er. Von ihm damals hing es ab: spielte er den Juden Apella oder nicht? Jahve hatte in seine Hand die Lose über Bestand und Untergang gelegt, und seine Unglückshand hat das Los des Verderbens geworfen. Er erhob sich. Er begann aufzusagen die große Verfluchung aus dem Fünften Buch Mosis. Sicherlich hat er niemals einen von den Propheten gesehen oder gehört, die, echte und falsche, in diesen letzten Jahrzehnten in Jerusalem aufgestanden sind; aber es war die Geste dieser Propheten, selbst ihr Singsang, in seinen griechischen Worten. Der Schauspieler Liban war kein stattlicher Mann, er war eher klein von Wuchs, aber er ragte wie ein finsterer Baum. »Am Morgen wirst du sprechen: wer gäbe Abend, und am Abend wirst du sprechen: wer gäbe Morgen, vor Bangigkeit deines Herzens.« Schauerlich wälzten sich die düsteren Verwünschungen aus seinem Mund, eintönig, wuchtig, herzbeklemmend. »Und so ist es geschehen«, konstatierte er manchmal mitten hinein, nüchtern, aber mit wüster, verzweifelter Genugtuung. Josef, nach dieser Zusammenkunft mit Demetrius Liban, saß zwei Tage allein in seinem großen, finstern Haus. Am dritten Tag ging er über die Emiliusbrücke, auf die andere Seite des Tiber, unter die Juden.
  Die Juden der Stadt Rom haben, solange der Feldzug dauerte, der Regierung ihre Loyalität auf jede Art gezeigt. Sie sind loyale Untertanen auch jetzt noch, die Aufrührer trugen selber die Schuld, gewiß: aber sie scheuen sich nicht, trotzdem ihren Jammer über die Zerstörung des Heiligtums offen kundzutun. Sie wollen auch ihren Abscheu nicht verstecken, daß Juden bei der Zerstörung mitgeholfen haben. Josef, wie er die Stadtteile am rechten Ufer betritt, stößt auf einen ungeheuern Haß. Alle dort halten die sieben Schritte Abstand. Er geht durch einen leeren Raum, zwischen Mauern aus Verachtung.
  Er wendet sich zum Haus des Cajus Barzaarone. Der Präsident der Agrippenser-Gemeinde, der ihm ehemals seine Tochter zur Frau hat geben wollen, steht ihm gegenüber, hält die sieben Schritte Abstand. Das Gesicht des schlauen, jovialen Mannes ist finster, verzerrt vor Feindschaft. Cajus Barzaarone hat auf einmal eine große Ähnlichkeit mit seinem Vater, dem uralten, mummelnden Aaron. Josef steht entmutigt vor diesem zugesperrten Gesicht. »Entschuldigen Sie«, sagt er und wendet die Hände hilflos nach außen. »Es hat keinen Zweck.« Er kehrt um. Durch ein Spalier von Todfeinden hindurch verläßt er das Judenviertel, geht zurück über die Emiliusbrücke.
  Am andern Ufer, wie er um die Ecke ist, von den Juden nicht mehr gesehen, hört er hinter sich den Schritt eines Verfolgers, er glaubt, ihn schon länger gehört zu haben. Unwillkürlich greift er nach seinem großen goldenen Schreibzeug, sich zu schützen. Da ruft eine Stimme hinter ihm, aramäisch: »Erschrecken Sie nicht. Haben Sie keine Angst. Ich bin’s.« Es ist ein sehr junger Mensch, das Gesicht kommt Josef bekannt vor. »Ich habe Sie schon einmal gesehen«, sagt der Junge, »als Sie zum erstenmal in Rom waren.« – »Sie sind ...?« besinnt sich Josef. »Ich bin Cornel, der Sohn des Cajus Barzaarone.« – »Was wollen Sie?« fragt Josef. »Warum halten Sie nicht die sieben Schritte Abstand?« Aber der junge Cornel kommt näher an ihn heran. »Verzeihen Sie den andern«, bittet er, und seine Stimme klingt herzlich, zutraulich, tapfer. »Die andern verstehen Sie nicht, aber ich verstehe Sie. Bitte, glauben Sie mir.« Er tritt dicht zu ihm, schaut zu ihm auf. »Ich habe Ihren Kosmopolitischen Psalm gelesen. Oft, wenn es ringsum wirr und undurchsichtig wird, spreche ich ihn mir vor. Hier ist alles eng und in Mauern, Sie haben den Blick ins Weite. Sie sind ein Großer in Israel, Flavius Josephus, einer von den Propheten.« Dem Josef rann ein heißer Trost durchs Herz. Daß dieser junge Mensch sich zu ihm stellte, der nichts von ihm kannte, nur sein Wort, das war ihm eine gute Bestätigung. »Ich freue mich, Cornel«, sagte er, »ich freue mich sehr. Ich habe Erde mitgebracht aus dem Schutt Jerusalems, ich habe Schriftrollen aus Jerusalem mitgebracht, laß sie mich dir zeigen. Komm zu mir, Cornel.« Der Knabe strahlte.


Mittlerweile war Titus in Italien angelangt. Es waren im Osten noch mancherlei Anfechtungen an ihn herangetreten. Im Namen der Fünften und der Fünfzehnten Legion, die in unbeliebte Quartiere an der untern Donau gelegt werden sollten, hatte der Hauptmann Pedan ihn gebeten, bei diesen Legionen zu bleiben oder sie mit sich nach Rom zu nehmen. Der Prinz hatte sogleich begriffen, was hinter den schlau naiven Worten des alten, ehrlichen Soldaten stak, das Angebot nämlich, an Stelle des alten Vespasian ihn zum Kaiser auszurufen. Das war für Titus verlockend, aber sehr riskant, und er hatte nicht gezögert, in ebenso naiven, spaßhaften Worten abzulehnen. Der Osten aber hatte ihn auch weiterhin gefeiert wie einen Selbstherrscher, und Titus hatte sich’s nicht versagen können, sich in Memphis bei der Weihe des Apis-Stieres das Diadem Ägyptens aufs Haupt zu setzen. Das war unvorsichtig gewesen, es konnte mißdeutet werden, und der Prinz hatte sich beeilt, seinem Vater brieflich zu versichern, er habe es natürlich nur in Stellvertretung getan. Anders habe auch er es natürlich nicht aufgefaßt, hatte Vespasian postwendend erwidert, hatte aber in aller Freundschaft mehrere zehntausend Mann gegen den Osten in Bereitschaft gestellt.

  Daraufhin also kam Titus, sehr schnell, sehr schlicht, fast ohne Gefolge. Rom durfte er, wollte er seinen Triumph haben, nach altem Brauch erst am Tage des Zuges betreten. So kam Vespasian dem Sohn auf der Appischen Straße entgegen. »Da bin ich, Vater, da bin ich«, begrüßte ihn Titus treuherzig. »Es wäre dir auch nicht gut bekommen, mein Junge«, knarrte Vespasian, »wenn du dich noch länger im Osten herumgetrieben hättest.« Dann erst küßte er ihn.
  Gleich nach dem Essen, in Gegenwart Mucians und der Dame Cänis, kam es zu der notwendigen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn. »Sie haben Ihrem Vater«, fing die resolute Cänis an, »nicht immer nur Freude bereitet, Prinz Titus. Wir haben gewisse Nachrichten über Ihre Krönung bei der Weihe des Stieres Apis nicht ohne Sorge angehört.« – »Ich will aus dem Stier keinen Elefanten machen«, meinte gemütlich Vespasian. »Was uns hier mehr interessiert, ist eine andere Frage. War es wirklich nicht möglich, den Judentempel zu retten?«
  Sie schauten sich an, beide mit harten, engen Augen. »Wünschtest du, daß es möglich gewesen wäre?« fragte nach einer Weile Titus zurück.
  Vespasian wiegte den Kopf. »Wenn die Polizeiaktion gegen Jerusalem«, sagte er schlau und bedächtig, »wirklich als Feldzug aufgezogen werden und mit dem Triumph endigen sollte, den ich uns beiden vom Senat bewilligen ließ, dann war es vielleicht nicht möglich.«
  Titus lief rot an. »Es war nicht möglich«, sagte er kurz.
  »Stellen wir also fest«, konstatierte grinsend der Kaiser, »es war nicht möglich. Sonst hättest du den Bau wohl schon um der Dame Berenike willen geschont. Und damit wären wir bei dem zweiten Punkt, der uns alle hier interessiert. Die Dame Berenike ist ein beachtliches Stück Weib. Daß du sie während dieser langweiligen Polizeiaktion bei dir haben wolltest, kann ich verstehen. Nur: mußt du sie auch in Rom bei dir haben?« Titus wollte erwidern. Vespasian, nur ganz leise schnaufend, die harten, grauen Augen fest auf ihm, ließ ihn nicht zum Sprechen kommen. »Sieh einmal«, fuhr er fort, gut zuredend, kameradschaftlich, »hier meine Cänis ist eine einfache Person, nicht wahr, alter Hafen? Ohne Ansprüche, ohne große Titel. Sie bringt mir einen Haufen Geld ein; vieles, was meine alten Augen nicht mehr sehen, das erlinsen die ihren. Trotzdem sieht ganz Rom sie gern, soweit es ihr nicht Provision hat zahlen müssen. Sie ist eine Römerin. Aber deine Jüdin, diese Prinzessin, gerade weil sie so großartig ist mit ihrem Gang und ihrem ganzen östlichen Gewese: wir sind noch eine junge Dynastie, mein Sohn, ich bin der erste, und du bist der zweite, wir können uns diese extravagante Dame nicht leisten. Ich sag es dir im Guten, aber in allem Ernst. Ein Nero hätte sich das leisten können, einer aus einer alten Familie. Aber wenn du oder ich es tun, dann nehmen sie Ärgernis. Sie nehmen es, mein Junge. Sag du, Cänis, sagen Sie, alter Mucian: nehmen sie oder nehmen sie nicht? Da hörst du es, sie nehmen.«
  »Ich will dir einmal etwas sagen, Vater«, fing Titus an, und in seine Stimme kam jenes harte Schmettern wie beim Kommando. »Ich hätte mir in Alexandrien den Reif aufsetzen können. Die Legionen wollten es. Ich war nahe daran. Die Prinzessin hätte nur ein Wort sagen müssen, und ich hätte es getan. Die Prinzessin hat das Wort nicht gesagt.«
  Vespasian erhob sich. Man hatte dem Titus berichtet, er sei sehr gealtert; aber das war offenbar Gerede, jetzt jedenfalls war dieser sabinische Bauer hart wie je. Er ging ganz nah an seinen Sohn heran, sie standen sich gegenüber, zwei wilde, kräftige Tiere, duckten sich zum Sprung. Mucian schaute interessiert zu, heftig zuckenden Gesichts, ein angeregtes Lächeln um den harten, schmalen Mund, Cänis wollte sich dazwischenwerfen. Aber der Alte bezwang sich. »Was du mir da mitteilst«, sagte er, »das ist interessant. Aber jetzt jedenfalls bist du nicht mehr in Alexandrien, und hier in Rom wirst du, auch wenn deine liebenswürdige Freundin es wünschen sollte, kaum auf die Idee kommen, mich abzusetzen. Na also.« Er hockte nieder, leicht ächzend, rieb sich den gichtischen Arm, redete Vernunft. »Sie wie ein kleines Mädchen halten kannst du nicht. Die Dame wird sich mit dir zeigen wollen, sie hat recht, sie ist Prinzessin aus einem sehr viel älteren Haus als wir. Aber die Römer lassen dir diese Frau nicht durch, glaub mir. Willst du, daß sie im Theater Witze auf dich reißen? Willst du, daß sie während des Triumphs Couplets auf dich und die Dame singen? Willst du es verbieten? Nimm Vernunft an, mein Junge. Es geht nicht.«
  Titus kaute seinen Zorn. »Du hast sie von Anfang an nicht leiden können.«
  »Stimmt«, sagte der Alte. »Aber sie mich auch nicht. Wenn’s nach ihr gegangen wäre, dann säßen wir nicht hier. Ich könnte ein paar recht gute Witze machen. Ich schlucke sie hinunter. Die Dame hat deine Liebe. Nichts gegen sie. Aber in Rom mag ich sie nicht. Bring ihr das bei. Es war ein Blödsinn, daß du sie mitgebracht hast. Ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt, aber aus Italien soll sie verschwinden. Sag’s ihr.«
  »Ich denke nicht daran«, erklärte Titus. »Ich will diese Frau behalten.«
  Vespasian schaute seinen Sohn an, der hatte in den Augen jenes Wirre, Törichte, das den Kaiser schon an des Jungen Mutter, an Domitilla, geängstigt hatte. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du bist dreißig, mein Sohn«, mahnte er. »Sei kein kleiner Junge.«
  »Darf ich einen Vorschlag machen?« vermittelte der geschmeidige Mucian. Er kam vor, den Stock hinterm Rücken. Titus schaute ihm mißtrauisch auf den Mund. Der Senator Mucian, der sich sehr wackelig gab, spielte diese Greisenhaftigkeit offenbar nur, um eine Folie für Vespasians Rüstigkeit abzugeben, und der Kaiser ließ sich diese Komödie, sie gut durchschauend, gern gefallen. »Die Beziehungen zwischen dem Cäsar Titus und der Prinzessin«, sagte also Mucian, »erregen Ärgernis. Darin hat die Majestät zweifellos recht. Aber nur deshalb, weil die Fürstin einem aufrührerischen Volk angehört. Wir hier wissen, daß die Prinzessin zu unsern loyalen jüdischen Untertanen zählt. Aber der römische Volkswitz macht keinen Unterschied zwischen Jud und Jud. Man müßte veranlassen, daß die Prinzessin sich klar und unmißverständlich zu uns bekennt. Ich glaube, es genügte schon, wenn sie dem Triumph in der Loge beiwohnt.«
  Alle überlegten den Sinn dieses Vorschlags. Da hatte, fand Vespasian, sein kluger Freund die Jüdin in eine Situation hineinmanövriert, aus der sie schwer einen Ausweg finden wird. Sein Herr Sohn kann die Forderung des Mucian nicht gut ablehnen. Was soll Berenike tun? Wohnt sie dem Triumph über ihre eigenen Leute bei, dann wird sie in den Augen der Römer lächerlich. Unmöglich dann kann Titus daran denken, sie zu seiner Frau zu machen. Auch Cänis erfaßte das sogleich: »Wenn eine Frau zu einem Mann gehört«, unterstützte sie resolut, handgreiflich und banal den Vorschlag des Mucian, »dann muß sie den Mut haben, zu ihm zu stehen.«
  Gespannt warteten alle auf Titus. Gegen das Argument der Dame Cänis hatte er nichts vorzubringen. Im Grund hat sie recht, dachte er. Wenn er einen Triumph feiert, dann hat er Anspruch darauf, daß seine Freundin, die er einmal zu seiner Frau machen will, sich diesen Triumph anschaut. Sich mit ihr darüber auseinanderzusetzen wird nicht angenehm sein. Aber angenehmer, als sie wegzuschicken. Er murrt ein weniges, man könne der Prinzessin das nicht zumuten. Die andern erklären, dann könne man die Prinzessin den Römern nicht zumuten. Er überlegt hin und her. Sie hat ihre östlichen Gefühle, ihre Wüstenstimmungen. Andernteils hat sie Sinn für Realität. Nach einer halben Stunde Geredes nimmt Titus an: entweder die Prinzessin wohnt in der Kaiserlichen Loge dem Triumph bei oder sie verläßt Italien.
  Er bittet Berenike zu sich. Er ist gewiß, er wird das leidige Geschäft in den ersten fünf Minuten erledigt haben. In der Vorhalle, auf ihre Ankunft wartend, beschließt er nochmals, das Ganze möglichst leicht zu behandeln, als eine Selbstverständlichkeit.
  Aber dann ist Berenike da, sie ist heiter und ernst zugleich, ihr großer, kühner Kopf neigt sich vertrauensvoll zu ihm, ihre dunkle Stimme spricht zu ihm, und auf einmal scheint ihm sein Vorhaben unmöglich. Wie soll er an diese Frau dieses plumpe Ansinnen stellen? Er macht sich Mut, nur keine langen Vorbereitungen, er wird es im Sprung wagen; es ist, wie wenn man den Atem lang einzieht, um sich mit Entschluß in sehr kaltes Wasser zu stürzen. »Der Triumph«, sagt er, und seine Stimme kommt verhältnismäßig frei, er muß sich nicht einmal räuspern, »der Triumph soll jetzt endgültig in zehn Tagen stattfinden. Ich werde dich doch in der Loge sehen, Nikion?« Es ist eigentlich sehr glatt gegangen, nur hat er vor sich hin gespro chen, ohne Blick auf sie, auch jetzt sieht er sie nicht an. Berenike erblaßt. Es ist gut, daß sie sitzt, sie fiele sonst um. Der Mann hat den Hain von Thekoa geschlagen, dann hat er sie mit Gewalt genommen, dann hat er es geschehen lassen, daß der Tempel niederbrannte. Und sie, da sie nicht nein sagte, hat immer ja gesagt. Sie hat alles geschluckt, weil sie von dem Manne nicht loskam, von seinem breiten Bauerngesicht nicht, von seiner Brutalität nicht, von seiner kindisch launischen Grausamkeit nicht, von seinen kleinen Zähnen nicht. Sie hat den Blutgeruch eingeatmet, den Brandgeruch, sie hat auf die Wüste verzichtet, auf die Stimme ihres Gottes. Und nun also lädt der Mann sie ein, seinen Triumph über Jahve mit anzusehen, von der Loge aus. Eigentlich handelt er ‘,. folgerichtig, und für die Römer mag es eine pikante Beigabe zu diesem Triumph sein, wenn sie, die makkabäische Fürstin, die Beischläferin des Siegers, zusieht. Aber sie wird nicht zusehen. Es wäre erträglich, im Triumph mitzugehen, in Ketten, eine Gefangene. Aber freiwillig in der Loge des Siegers sitzen, die Sauce zu seinem Braten abgeben, nein. »Ich danke dir«, sagt sie, ihre Stimme ist nicht laut, aber jetzt sehr heiser. »Ich werde am Tag des Triumphes nicht mehr in Rom sein. Ich werde zu meinem Bruder reisen.«
  Er sieht auf, er sieht, daß er diese Frau am Leben getroffen hat.
  Er hat es nicht gewollt. Er hat nichts von dem gewollt, was er ihr angetan hat. Immer ist er hineingeschliddert. Auch jetzt. Sein Vater hat ihn gestoßen, und er hat sich nicht dagegen gestemmt. Diese andern sind aus so leichtem, schwebendem Stoff, und man selber ist so fest und grob, und immer erkennt man es zu spät. Wie konnte er ihr zumuten, daß sie sich diesen plumpen Triumph anschauen soll? Er selber wird auf den Triumph verzichten, er wird krank werden. Er stammelt, er überhastet sich. Aber er spricht ins Leere, sie ist schon gegangen, ist fort.
  Sein Gesicht verzerrt sich in wüste Raserei. Aus seinem kleinzahnigen Mund geifert er Soldatenflüche gegen die Frau. Gegen ihre zimperliche, östliche Ziererei. Warum kann sie nicht dem Triumph zuschauen? Haben nicht andere, germanische Fürsten zum Beispiel, Triumphen zugeschaut, bei denen ihre eigenen Söhne, Brüder, Enkel in Ketten aufgeführt wurden? Er hätte sich nicht bluffen lassen dürfen, hätte sie als ein Mann behandeln müssen. Es wäre nicht schwer gewesen, sie einer Illoyalität, einer aufrührerischen Handlung zu bezichtigen, sie gefangenzusetzen, sie selber im Triumph aufzuführen, in Ketten, und sie dann, bis ins letzte gedemütigt, aus dem Dreck aufzuheben, mild, stark, gütevoll, ein Mann. Dann kennt sie endlich ihren Platz, die Überhebliche. Aber noch während er dies dachte, wußte er, daß das knabenhafte Phantasien waren. Sie war eben keine Barbarin, sie war nicht wie jener deutsche Barbarenfürst Segest, sie war eine wirkliche Königin, voll von uralter östlicher Hoheit und Weisheit. Seine ganze Wut kehrte sich gegen ihn selber. Rom, der Triumph, war ihm verhunzt. Im Osten ist das Leben, und hier ist alles kahl und beschissen. Das Capitol ist ein Dreck, vergleicht man es mit dem Tempel Jahves, und er, hirnrissig wie er ist, hat diesen Tempel verbrannt, und die Frau, die sich ihm dreimal gegeben hat, dreimal fortgescheucht, durch seine römische Brutalität, und diesmal für immer.

Den Tag darauf stellte sich Josef ein, um den Prinzen zu begrüßen. Titus war von jener jovialen, kalt strahlenden Höflichkeit, die Josef haßte. Dieser Triumph, scherzte er, mache mehr Arbeit als der ganze Feldzug. Er wollte ihn hinter sich haben, er wollte endlich wieder in seine Stadt, und nach dem dummen Brauch mußte er warten bis zum Tag des Festzugs. Ist es nicht ein Jammer? Nicht einmal die Vorstellung des Demetrius Liban im Marcell-Theater kann er sich anschauen. Er gab dem Josef Weisung, bei den Proben darauf zu achten, daß man in der Wiedergabe jüdischer Dinge keine Fehler mache. »Ich habe jetzt«, erzählte er, »das Arrangement des Triumphes und alles, was damit zusammenhängt, selber in die Hand genommen. Ich bin neugierig, welchen Eindruck der Zug auf Sie machen wird. Sie werden ihn doch von der Großen Rennbahn aus anschauen?«
  Josef sah, daß der Prinz gespannt auf seine Antwort wartete. Eigentlich mußte es diesen Römern selbstverständlich sein, daß er, der Chronist des Feldzugs, seinem Ende als Augenzeuge beiwohnte. Er selber hatte sich merkwürdigerweise nie überlegt, ob er kommen werde oder nicht. Es wäre schön, zu sagen: Nein, Cäsar Titus, ich werde nicht kommen, ich werde zu Hause bleiben. Es wäre eine Genugtuung, das zu sagen, es wäre eine Geste, groß und sinnlos. Er sagte: »Ja, Cäsar Titus, ich werde den Zug von der Großen Rennbahn aus anschauen.«
  Titus veränderte sich. Jene maskenhafte, laute Höflichkeit fiel von ihm ab. »Ich hoffe, mein Jude«, sagte er, vertraulich, freundschaftlich, »man hat es dir in Rom leicht und bequem gemacht. Ich will«, sagte er herzlich, »daß du gern in Rom lebst. Ich will das Meine dazu tun. Glaub mir.«
  Josef, um sich für die Teilnahme an dem Triumph vorzubereiten, schaute sich im Marcell-Theater die Aufführung des Gefangenen Secharja an. Demetrius Liban war ein großer Schauspieler. Er war der Gefangene Secharja, unsagbar wirklich und schauerlich komisch. Zuletzt setzten sie ihm eine kleine, blöde Clownsmaske auf, wie man sie oft Verurteilte in der Arena tragen ließ, auf daß die Komik der Maske wirksam kontrastiere mit dem Sterben des Verurteilten. Niemand sah, wie unter der Maske des Gefangenen Secharja der Schauspieler Liban nach Luft japste, wie sein Herz pumpte und versagte. Er hielt durch. Sie banden ihn ans Kreuz. Er schrie, wie die Rolle es vorschrieb: Höre, Israel, Jahve ist unser Gott, und die elf Clowns tanzten um ihn herum in Eselsmasken und wiederholten sein Geschrei: Jah, Jah. Er hielt durch bis zuletzt, bis man ihm sagte, jetzt werde er vom Kreuz abgenommen, und bis er vom Kreuz das Geld zu werfen hatte. Da allerdings sackte er zusammen. Aber das merkte niemand, das hielt man für Spiel, und über dem Ungeheuern Jubel, der über den Münzen losbrach, achtete man ohnedies kaum mehr auf den Schauspieler. Auch Josef erhaschte einige von den Münzen, zwei silberne und mehrere kupferne. Sie waren an diesem Tag ausgegeben worden, und sie zeigten auf der einen Seite das Porträt des Kaisers, auf der andern eine unter einem Palmbaum sitzende gefesselte Frau mit der Umschrift: »Das gefangene Judäa«. Die Frau, war es das Werk der Dame Cänis?, trug
die Züge der Prinzessin Berenike.
  Den Tag darauf bestellte ihn der Verleger Claudius Regin zu sich. »Ich bin beauftragt«, sagte er, »Ihnen diese Eintrittsmarke für die Große Rennbahn auszuhändigen.« Es war ein Sitz auf den Bänken des Zweiten Adels. »Sie erhalten ein hohes Honorar für Ihr Buch«, sagte Regin. »Einer muß da sein und sehen«, sagte verbissen Josef. Regin lächelte sein fatales Lächeln. »Gewiß«, sagte er, »und ich als Ihr Verleger habe alles Interesse daran, daß Sie da sind. Sie werden wohl der einzige Jude sein, Flavius Josephus, der zuschaut. Lassen Sie schon«, wehrte er ab, ein wenig müde, da Josef losfahren wollte. »Ich glaube Ihnen, daß es nicht leicht sein wird. Auch ich, wenn ich im Zug mitschreite unter den Beamten des Kaisers, werde mir die Schuhe sehr fest binden und es mir nicht bequem machen.«

Am Morgen des 8. April saß Josef in der Großen Rennbahn. Dreihundertdreiundachtzigtausend Menschen faßte der Neubau, und die Steinbänke waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Josef hatte es geschafft, er saß mitten unter den Herren des Zweiten Adels, dies war der Platz, den er vor fünf Jahren für sich erträumt hatte. Steif und zugesperrt saß er unter den angeregten Menschen, sein hochmütiges Gesicht fiel weithin auf. Man wußte auf den Bänken des Adels, daß der Kaiser ihn beauftragt hatte, die Geschichte des Krieges zu schreiben. Bücher standen hoch in Ansehen in der Stadt Rom. Man betrachtete neugierig den Mann, der für so viele Menschen Ruhm und Tadel in der Hand hielt.
  Josef saß still und beherrscht, aber in seinem Innern war er voll Aufruhr. Er war durch das jubelnde, vom Lärm froher Erwartung gefüllte Rom gegangen. Die Häuser, die Kolonnaden geschmückt, überall, auf Gerüsten, Vorsprüngen, Bäumen, Torbögen, Dächern, bekränzte Menschen. Auch hier in der Großen Rennbahn waren alle bekränzt und hatten Blumen im Schoß, in den Armen, um sie den Vorüberziehenden zuzuwerfen. Nur Josef hatte die Kühnheit, kahl dazusitzen.
  Dem Zug voran schritten die Herren des Senats, etwas mühevoll in ihren hochgesohlten, roten Schuhen. Die meisten von ihnen gingen ungern in diesem Zug mit, mit vielen inneren Vorbehalten. Im Grund ihres Herzens waren sie voll Verachtung für die Emporkömmlinge, die sie feiern mußten. Der Spediteur und sein Sohn hatten das Reich an sich gerissen, aber sie blieben auch auf dem Thron Bauern und Pöbel. Josef sah das hagere, skeptische Gesicht des Marull, den feinen, müden, grausamen Kopf des Mucian. Mucian, trotz des Galakleides, hielt den Stock hinterm Rücken, sein Gesicht zuckte. Es war ein Tag gewesen, da standen die Schalen der Waage gleich, und Josef hätte vielleicht nur ein starkes Wort hineinwerfen müssen, dann hätte die Schale des Mucian sich gesenkt und die des Vespasian sich gehoben.
  Die Minister kamen. Es machte dem eingeschrumpften, krankheitgeplagten Talaß viel Beschwer, sich mitzuschleppen, aber es war sein Werk, daß dieser Zug stattfand, der Alte wollte seinen großen Tag nicht versäumen. Dann, allein, einen kleinen Raum um sich, schritt Claudius Regin, ernsthaft, ungewohnt aufrecht. Nein, er machte sich’s wirklich nicht bequem. Aus harten, bösen, unverhängten Augen blickte er um sich, wachsam, und er verdarb den Schaulustigen den Spaß: vergebens suchten sie an seinem dritten Finger die berühmte Perle, und seine Schuhriemen waren fest gebunden, Musik kam, viel Musik. Heute spielten alle Banden militärische Weisen, am liebsten den Marsch der Fünften, der rasch populär geworden war: »Unsre Fünfte, die macht alles.«
  Die Beute des Feldzugs kam, jene Beute, von der man so Märchenhaftes gehört hatte. Man war verwöhnt, übersättigt. Aber als das nun vorbeikam, Gold, Silber, Elfenbein, nicht einzelne Stücke, sondern ein Strom, da konnte man nicht an sich halten. Man reckte den Hals, starrte über die Schulter des Vormannes, die Frauen stießen kleine, schrille Schreie aus, der Bewunderung, des Begehrens. Es floß daher, unendlich, Gold, Silber, edle Stoffe, Gewänder, und immer wieder Gold, in jeder Form, gemünzt, in Barren, gegossen in Gefäße aller Art. Dann Kriegsgerät, Waffen, Feldbinden mit den Initialen Makkabi, saubere, schmutzige, blutgetränkte, in Körben, auf Wagen, viele Tausende. Feldzeichen, Fahnen mit blockigen, hebräischen Buchstaben und mit syrisch-aramäischen, einst geschaffen, die Herzen zu erheben, jetzt mit Geschick zusammengestellt, um blasierte Zuschauer zu unterhalten. Tragbare Bühnen mit blutrünstigen Darstellungen von Kriegsszenen, gigantische Schaugerüste manchmal, vierstöckig, daß die Zuschauer sich erschreckt zurückbogen, wenn das einherschwankte, fürchtend, es möchte einstürzen, sie erschlagen. Zerbeulte Schiffe von der Schlacht an der Küste von Joppe, erbeutete Kähne aus Magdala. Und immer wieder Gold. Es ist kein Wunder, daß der Preis des Goldes sinkt, schon beträgt er nur mehr die Hälfte des Vorkriegspreises.
  Jetzt aber wird es still, denn nun kommen Beamte des Kaiserlichen Schatzamtes, in Galauniform, mit Lorbeerzweigen, sie geleiten die Hauptstücke der Beute. Getragen von Soldaten die goldenen Schaubrottische, der riesige, siebenarmige Leuchter, die dreiundneunzig heiligen Geräte des Tempels, die Schriftrollen des Gesetzes. Hoch heben sie die Träger, auf daß alle die Rollen sehen können, das Gesetz Jahves, erbeutet von dem großen guten Jupiter der Römer.
  Dahinter eine groteske Musik. Es sind die Instrumente des Tempels, die Zimbel des Ersten Leviten, die gellenden Widderhörner des Neujahrfestes, die silbernen Trompeten, die in jedem fünfzigsten Jahr verkünden, daß aller Grundbesitz wieder an den Staat zurückfällt. Die Römer spielen auf diesen Instrumenten, parodistisch, es klingt lächerlich und barbarisch. Und plötzlich hat ein Witzbold einen glücklichen Einfall. Jah, Jah! schreit er, wie ein Esel schreit. Alle schreien mit, die heiligen Instrumente der Juden blasen dazu. Schallendes Gelächter wellt durch die langen Reihen der Rennbahn.
  Josef sitzt mit einem Gesicht von Stein. Aushalten jetzt. Alle schauen auf dich. Zehn Jahre müssen die Priester lernen, ehe sie gewürdigt werden, diese spröden Instrumente zu blasen. Halt dein Gesicht still, Josef, du bist hier Israel. Deinen Grimm gieß aus über die Völker.
  Jetzt kam der lebendige Teil der Beute, die Kriegsgefangenen. Man hatte aus der Ungeheuern Schar siebenhundert ausgesucht, hatte sie in bunte Festkleider gesteckt, die wirkungsvoll kontrastierten mit ihren finstern Gesichtern und mit ihren Ketten. Auch Priester mußten unter ihnen gehen, mit Hüten und Gürteln. Interessiert, gespannt beschauen sich die Menschen in der Rennbahn ihre besiegten Feinde. Da gehen sie hin. Man hat ihnen reichlichen Fraß vorgesetzt, daß sie keinen Vorwand haben, zusammenzubrechen und den Römern das verdiente Schauspiel zu versagen. Aber nach dem Festspiel werden sie als Zwangsarbeiter verschickt, die Besiegten, ein Teil in die Bergwerke, an die Tretmühlen, an die Kloaken, ein Teil an die großen Schauhäuser für Kampfspiele und Tierhetzen.
  Die Leute in der Rennbahn sind still geworden, sie schauen nur. Jetzt aber bricht ein haßerfülltes, tobsüchtiges Geschrei los: Hep, Hep und: Hunde, Hundesöhne, stinkende, gottlose. Sie werfen faule Rüben, Dreck. Sie spucken, trotzdem der Speichel die, denen er gilt, nie erreichen kann. Da kommen sie, gefesselt, von den Göttern gedemütigt, die feindlichen Führer, die einstmals Furcht und Schrecken einflößten, Simon Bar Giora und Johann von Gischala. Es ist ein großer Genuß, es ist der glücklichste Tag für den Römer, seine Feinde auf diese Art einhergehen zu sehen, niedergekämpft die Überheblichen, die sich auflehnten gegen die von den Göttern gewollte Mehrung des Reichs.
  Sie hatten dem Simon eine Krone aus Brennesseln und dürren Reisern aufgesetzt, und sie hatten ihm eine Tafel umgehängt: »Simon Bar Giora, König der Juden.« Den Johann, »Feldherrn der Juden«, hatten sie in eine komische blecherne Rüstung gesteckt. Simon wußte, daß er, noch ehe der Zug sich auflöst, getötet werden würde. So haben es die Römer dem Vercingetorix gemacht, so dem Jugurtha, so vielen anderen, die sterben mußten am Fuß des Capitols, während oben der Sieger seinen Göttern opferte. Merkwürdigerweise war Simon Bar Giora nicht mehr der mürrische Mann, als den ihn seine Leute von der letzten Zeit her kannten, vielmehr war um ihn wieder das Strahlende seiner ersten Zeit. Still in seinen Fesseln ging er einher neben dem gefesselten Johann von Gischala, und sie sprachen miteinander.
  »Es ist ein schöner Himmel über diesem Lande«, sagte Simon, »aber wie blaß ist er vor dem Himmel unseres Galiläa. Es ist schön, daß ich blauen Himmel über mir habe, nun ich zum Tode gehe.« – »Ich weiß nicht, wohin ich gehe«, sagte Johann, »aber ich glaube, sie werden mich am Leben lassen.« – »Es ist mir ein großer Trost, mein Johann«, sagte Simon, »daß sie dich am Leben lassen. Denn dieser Krieg ist noch nicht zu Ende. Es ist merkwürdig, daß mir einmal der Sinn danach stand, dich umzubringen. So schlimm es jetzt hersieht, es war gut, daß wir diesen Krieg gemacht haben. Er ist noch nicht zu Ende, und die nach uns haben gelernt. O mein Bruder Johann, sie werden mich geißeln, und sie werden mich über einen Platz führen, wo der Speichel und die faulen Rüben ihres Pöbels mich erreichen, und sie werden mich auf erbärmliche Art töten. Aber es war dennoch gut, daß wir diesen Krieg gemacht haben. Nur leid ist es mir, daß mein Leichnam elend liegen wird, unbestattet.« Und da Johann von Gischala schwieg, sagte er nach einer Weile: »Weißt du, Johann, wir hätten doch den Minenstollen L mehr nach rechts legen müssen. Dann wäre ihr Turm F eingestürzt, und was hätten sie dann machen sollen?« Johann von Gischala war ein verträglicher Mann, aber in taktischen Fragen kannte er keinen Spaß und kein Einlenken. Er wußte, er hatte recht gehabt mit diesem Minenstollen L. Aber er wird leben, und Simon wird sterben, und er bezwang sich und sagte: »Ja, mein Simon, wir hätten den Minenstollen mehr rechts legen sollen. Die nach uns werden es besser machen.« – »Wenn wir nur rechtzeitig zusammengehalten hätten, mein Johann«, sagte Simon, »wir wären mit ihnen fertig geworden. Ich habe jetzt ihren Titus in der Nähe gesehen. Ein guter Junge, aber kein Feldherr.«
  Josef sah die beiden herankommen, vorüberschreiten. Sie gingen langsam, er sah sie eine ganze Weile, er sah jenes Strahlen um Simon wie seinerzeit bei der Begegnung im Tempel. Und jetzt konnte er sich nicht mehr im Zaum halten. Er wollte den Laut in der Kehle bewahren, aber er konnte es nicht, der Laut drang vor, ein Stöhnen, verzweifelt, unterdrückt, furchtbar, daß Josefs Nachbar, der eben noch geschrien hatte wie die andern: Hunde! Hundesöhne!, mitten im Wort abbrach, erschrocken, erblaßt. Josef starrte auf die beiden Gefangenen, er fürchtete, sie möchten herschauen. Er war ein frecher Mann, der einstand für seine Taten, aber wenn sie hergeschaut hätten, dann wäre er gestorben vor Schande und Demütigung. Es preßte ihn, es würgte ihn, er ist der einzige Jude, der das mit ansieht. Er hat Hunger ertragen und letzten Durst, Geißelung, jede Art Schmach, und wie oft ist er vor dem Tod gestanden. Aber das kann er nicht ertragen, das kann keiner ertragen. Das ist nicht mehr menschlich, das ist eine härtere Strafe, als er sie verdient hat. Die beiden sind ganz nah.
  Er wird eine Synagoge stiften. Alles, was er hat, auch die Erträgnisse seines Buches wird er an den Bau wenden, es soll eine Synagoge sein, wie sie Rom noch nicht gesehen hat. Die heiligen Schriftrollen aus Jerusalem wird er für die Lade stiften. Aber sie werden seine Synagoge nicht annehmen. Sie haben Weihgaben von Unbeschnittenen genommen, aber von ihm werden sie nichts nehmen, und sie werden recht haben.
  Jetzt sind die beiden gerade vor ihm. Sie sehen ihn nicht. Er steht auf. Sie können ihn nicht hören in dem wilden Geschrei ringsum, aber er tut den Mund auf, er gibt ihnen das Bekenntnis mit auf ihren Weg. Inbrünstig wie nie im Leben reißt er es aus sich heraus, ruft es ihnen zu: »Höre, Israel, Jahve ist unser Gott, Jahve ist einzig.«
  Auf einmal, als hätten sie ihn gehört, beginnt es im Zug der Gefangenen zu schreien, erst einige, dann mehr, dann alle: Höre, Israel, Jahve ist unser Gott, Jahve ist einzig. Als die ersten anfangen, lachen die Zuschauer, machen den Eselsschrei: Jah, Jah. Aber dann werden sie still, und manche beginnen zu zweifeln, ob es wirklich ein Esel ist, zu dem die Juden schreien.
  Josef, wie er den Ruf von unten hört, wird ruhiger. Sicher jetzt rufen sie es in allen Synagogen der Judenheit: Höre, Israel. Hat er es je geleugnet? Er hat es nie geleugnet. Damit alle es erkennen, nur darum hat er getan, was er getan hat. Er wird sein Buch schreiben, er wird es frommen Sinnes schreiben, Jahve wird mit ihm sein. Es wird verkannt werden, von den Römern und von den Juden. Es wird lange dauern, bis es verstanden wird. Aber eine Zeit wird sein, da wird es verstanden.
  Hinter den beiden jüdischen Heerführern, wer aber prangte da, herrlich, im Schmuck des berühmten, achtteiligen Ornats? Der Erzpriester, der Proletarier, Phanias, der Bauarbeiter. Er ging daher, dürr, dumpf vor sich hin starrend, die Augen einwärts, gedrückt und besessen. Der Senator Marull sah ihn. Es wird wirklich nicht viel Unterschied machen, ob er diesen Phanias zum Leibeigenen hat oder den Johann von Gischala. Johann sieht intelligenter aus, man wird mit ihm interessante Gespräche führen können, aber pikanter wäre es, den Erzpriester als Türhüter zu haben.
  Musik kam, Opfertiere, und dann, die Krone des Zuges, sein prunkvolles Mittelstück, die Wagen der Triumphatoren. Profose voran, die Rutenbündel mit Lorbeer bekränzt, Notare, die die Bewilligungsurkunde des Triumphes trugen, dann eine Schar von Clowns, frech und gutmütig gewisse populäre Eigenschaften der Triumphatoren parodierend, die Sparsamkeit des Vespasian, des Titus Genauigkeit, sein Stenographieren. Dann Karikaturen der Besiegten, gestellt von den beliebtesten Schauspielern. Unter ihnen Demetrius Liban, der Erste Schauspieler der Epoche. Ja, er hatte Krankheit und Schwäche besiegt, hatte die Auflehnung seines Herzens besiegt. Es ging um seine Kunst, seinen Ehrgeiz, der Kaiser hatte ihn gerufen, er riß sich zusammen, er war zur Stelle. Er war der Jude Apella, er sprang, tanzte, strich sich den zweigeteilten Bart, führte mit sich seine Gebetriemen, seinen unsichtbaren Gott. Hin und her gerissen zwischen seiner Kunst und seiner Seligkeit, denn eines mußte er mit dem andern bezahlen, hatte er sich für seine Kunst entschieden. Josef sah ihn einhergehen, den Zerrissenen, einen großen Schauspieler, einen armen Menschen.
  Es folgten die Generäle der Legionen und die Offiziere und Soldaten, die sich hohe Auszeichnungen verdient hatten. Einer vor allem wurde mit Jubel akklamiert. Wo er einherkam, der Liebling der Armee, unser Pedan, der Träger des Graskranzes, da begann man zu singen, das deftige Lied der Fünften, und die Herzen hoben sich. Ja, das war Fleisch von unserm Fleisch, das war Rom. Dieser vergnügte, seiner sichere Mensch, dem konnte nichts an, mit dem war der capitolinische Jupiter. Vage Gerüchte gingen um, auch diesmal sei er es gewesen, der es geschafft hat. Was er eigentlich geleistet hatte, das durfte man aus gewissen Gründen nicht genauer sagen; aber daß es etwas Großes war, das geht ja schon daraus hervor, daß man ihm wiederum eine so hohe Auszeichnung verliehen hat. Josef sah das häßliche, nackte, einäugige Gesicht. Da ging er hin, verschmitzt, behaglich, kräftig, laut, zufrieden, ein Mann. Nein, gegen diese satte Gemeinheit kam keiner auf. Diesem Soldaten, der niemals zweifelte, der immer einverstanden war mit sich, dem gehörte die Welt, für ihn hatte sein Jupiter sie erschaffen.
  Und jetzt schimmerte es heran, turmhoch, lorbeerbekränzt, gezogen von vier weißen Rossen, der Triumphwagen. Auf ihm Vespasian. Das Gesicht, damit es dem des Jupiter gleiche, mit Mennige geschminkt. Lorbeer auf dem breiten, unbedeckten Bauernschädel, den alten, untersetzten Körper gekleidet in den besternten Purpurornat, den der capitolinische Jupiter ihm für diesen Tag hatte abtreten müssen. Etwas gelangweilt schaute er auf die jubelnde Menge. Noch gut drei Stunden würde das dauern. Das Kleid des Jupiter war schwer, das lange Stehen auf dem schwankenden Wagen war auch alles andere als behaglich. Er hat das wirklich nur wegen seiner Söhne auf sich genommen. Eine Dynastie gründen ist eine mühevolle Sache. Warm ist es. Jupiter muß es im Sommer bedeutend heiß haben, wenn man schon im April in seinen Kleidern derartig schwitzt. Was dieser Triumph kostet, nicht auszudenken. Zwölf Millionen hat Regin veranschlagt, es werden sicher dreizehn, vierzehn werden. Man könnte das Geld wahrhaftig besser verwenden, aber diese Fetthirne müssen immer ihre Repräsentation haben, dagegen ist nichts zu machen. Daß der Tempel nicht mehr da ist, ist recht angenehm. Der Junge hat das geschickt gedreht. Wenn das Unanständige nützlich ist, muß man es tun, und hernach muß man sich Skrupel machen. Nur so besteht man im Leben und vor den Göttern. Der Leibeigene hinter ihm, der die schwere, goldene Krone des Jupiter über seinem Haupt hält, ruft ihm die vorgeschriebene Formel zu: »Sieh hinter dich und vergiß nicht, daß du ein Mensch bist.« Na ja, hoffentlich hat er noch recht lange Zeit, ehe er ein Gott wird. Er denkt an die Statuen der vergotteten früheren Kaiser. Dieser Triumph wird dazu beitragen, daß er eine Woche früher ein Gott wird. Der Wagen stößt. Vespasian schaut ächzend nach der Sonnenuhr.
  Titus, auf dem zweiten Triumphwagen, sieht oft nach dem Amulett, das ihn vor Neid und bösem Blick schützen soll; denn neben ihm reitet sein Bruder Domitian, das Früchtchen. Aber die Sorge vor dem Neid des Bruders kann ihm den Stolz dieses Tages nicht verderben. Kalt strahlend steht er auf seinem Wagen, erhoben über alles Menschliche, der Soldat am Ziel, der fleischgewordene Jupiter. Wie er an der Kaiserlichen Loge vorbeikommt, ernüchtert er sich freilich auf eine kurze Weile. Die Frau ist nicht da, die Frau haben sie ihm genommen. Wem denn will er sich zeigen in seinem Glanz, was hat das alles für einen Sinn ohne die Frau? Sein Auge sucht unter der Menge, sucht auf den Plätzen des Zweiten Adels. Wie er Josef entdeckt hat, streckt er ihm den Arm zu, grüßend.
  Die Wagen der Triumphatoren zogen weiter, machten halt am Fuß des Capitols. Augenzeugen meldeten: Simon Bar Giora ist gegeißelt, erwürgt. Ausrufer schrien es unters Volk. Jubelgeschrei: der Krieg war aus. Vespasian und sein Sohn stiegen herab von ihren Wagen. Opferten Schwein, Bock und Stier, um sich und das Heer zu entsühnen, falls man sich während des Feldzugs einer Gottheit mißliebig gemacht habe.
  Die Armee mittlerweile defilierte in der Großen Rennbahn. Da zogen sie vorbei, zwei Kohorten von jeder Legion und der ganze Apparat, die Katapulte und Ballisten, der »Harte Julius« und die andern Widder alle. Stürmisch begrüßt wurden die Feldzeichen, die Goldenen Adler, der der Zwölften besonders, den man jetzt von den Juden zurückgeholt hat, wie man seinerzeit den Deutschen die Adler wieder abgenommen hat, die sie unter dem verräterischen Barbaren Hermann erbeutet haben. Josef sah die Armee vorbeimarschieren, fröhlich,« friedlich, voll gehaltener Kraft. Gewähr der Ordnung im Reich. Aber Josef kennt auch das andere Gesicht dieser Armee. Er weiß, diese alle sind Pedan. Er hat sie schreien hören: Hep, Hep, er hat sie tanzen sehen im Blutrausch über den Boden des Tempels, dessen Marmor verschwand unter Leichen.
  Der Vorbeimarsch der Truppen dauerte lange. Viele, vor allem auf den Bänken des Adels, brachen auf. Josef hielt aus.


Noch einmal bis zum Ende sah er die Legionen, die er Stadt und Tempel hatte verwüsten sehen.


Am Abend dieses 8. April kamen einige jüdische Männer zum diensttuenden Aufseher des Mamertinischen Gefängnisses. Sie wiesen ein versiegeltes Schreiben vor. Der Aufseher las es und führte sie in den Keller des Gefängnisses, das sogenannte Kalte Badehaus, denn es war ursprünglich ein Brunnenhaus gewesen. In diesem verwahrlosten, finstern Raum hatte Simon Bar Giora geendet. Seine Leiche hätte dem Brauch zufolge des Nachts auf den Schindanger am Esquilin geworfen werden sollen. Aber die Männer hatten Erlaubnis, die Leiche zu übernehmen und mit ihr nach Belieben zu verfahren. Diese Erlaubnis hatte Claudius Regin erwirkt. Es war der Erlös seiner Perle, den er der Dame Cänis dafür bezahlt hatte.
  Die Männer übernahmen also die striemenbedeckte, blutüberkrustete Leiche des jüdischen Feldherrn, legten sie auf eine Bahre, deckten sie zu. Führten sie durch die Stadt, die in festlicher Illumination strahlte. Sie gingen barfuß. Am Capenischen Tor erwarteten sie mehrere hundert andere Juden, unter ihnen Cajus Barzaarone. Auch sie gingen barfuß, und sie hatten ihr Gewand eingerissen. Sie brachten den Leichnam, alle fünfzig Schritte trugen ihn andere, auf der Appischen Straße bis zum zweiten Meilenstein links. Dort erwartete sie Claudius Regin. Sie brachten den Leichnam hinunter in die unterirdische Begräbnisstätte der Juden. Sie legten den Erwürgten in einen Sarg, betteten den blauschwarzen Kopf in Erde aus Judäa, gossen wohlriechende Wasser darüber. Dann verschlossen sie das Grab mit einer Platte. Darauf war in ungefügen griechischen Buchstaben eingeritzt: »Simon Bar Giora, Soldat Jahves.« Dann wuschen sie sich die Hände und verließen die Begräbnisstätte.

Josef kam aus der Großen Rennbahn nach Hause. Er hatte seine Aufgabe erfüllt, hatte sich nicht geschont, hatte den jüdischen Krieg mit angesehen bis zum Ende. Aber nun hatte er alle Kraft ausgegeben. Er sackte zusammen, fiel in einen totenähnlichen Schlaf.

  Er war allein in dem großen, leeren, verwahrlosten Haus, nur der alte Leibeigene war da, niemand betreute ihn. Er schlief zwanzig Stunden. Dann erhob er sich, hockte nieder, in der Haltung eines Trauernden.
  Ein Kurier des Kaiserlichen Palais kam mit dem glückkündenden Lorbeerreis. Als der Leibeigene ihn zu dem ungepflegten Menschen führte, der auf der Erde hockte, wild wachsenden Flaum ums Gesicht, die Kleider zerrissen, Asche auf dem Haupt, zweifelte er, ob dies wirklich der Adressat sei. Zögernd übergab er seinen Brief. Es war ein Handschreiben Vespasians, das Kaiserliche Sekretariat sei angewiesen, Josef Einblick zu geben in alle Dokumente, die er zu Zwecken seines Buches einsehen wolle. Außerdem verlieh ihm der Kaiser den Goldenen Ring des Zweiten Adels. Es war das erstemal, daß der Kurier, wenn er den Lorbeer trug, kein Trinkgeld erhielt. Josef begnügte sich, den Erhalt des Schreibens zu bestätigen. Dann hockte er nieder wie vorher.
  Der Knabe Cornel kam. Der Leibeigene wagte nicht, ihn vor Josef zu lassen.
  Nach sieben Tagen erhob sich Josef. Fragte, was inzwischen geschehen sei. Hörte von dem Knaben Cornel. Schickte nach ihm.
  Die beiden, als der Knabe Cornel ein zweites Mal kam, sprachen nicht viel. Josef sagte, er brauche einen guten, zuverlässigen Sekretär. Ob Cornel ihm bei der Abfassung seines Buches helfen wolle. Cornel strahlte.
  Noch am gleichen Tag begann Josef zu arbeiten.
  »Es werden«, diktierte er, »wahrscheinlich mehrere versuchen, den Krieg der Juden gegen die Römer zu beschreiben, Autoren, die nicht Zeugen der Ereignisse waren und die angewiesen sind auf törichtes, widerspruchsvolles Gerede. Ich, Josef, des Matthias Sohn, Priester der Ersten Reihe aus Jerusalem, Augenzeuge von Anfang an, habe mich entschlossen, die Geschichte dieses Krieges zu schreiben, wie er wirklich war, den Heutigen zur Erinnerung, den Späteren zur Warnung.«

Hier endet der erste der drei Romane über den Geschichtsschreiber Flavius Josephus.