Ein verdrossenes Schweigen war.
Der Prinz hatte trüb, aufmerksam und ohne einzugreifen zugehört. Er
bat den Marschall um seine Meinung. »Wenn die Zeit bis zum
Generalsturm«, begann Tiber Alexander, »uns lange werden soll,
warum wollen wir sie nicht auch unsern Gegnern lang machen?«
Erwartungsvoll, verständnislos sahen ihm die Herren auf den dünnen
Mund. »Wir haben«, fuhr er mit seiner leisen, höflichen Stimme
fort, »zuverlässige Nachrichten und sehen es mit unseren eigenen
Augen, wie sehr der zunehmende Hunger der Belagerten unser
Bundesgenosse ist. Ich schlage vor, Hoheit und meine Herren, uns
mehr als bisher auf diesen Bundesgenossen zu stützen. Ich schlage
vor, die Blockade schärfer als bisher durchzuführen. Ich schlage
vor, zu diesem Zweck eine Blokkademauer um die Stadt zu errichten,
daß keine Maus mehr hinein und keine mehr hinaus kann.
Das wäre das eine. Das zweite
wäre dies. Wir haben bisher jeden Tag stolz die Ziffern derjenigen
bekanntgegeben, die trotz der Maßnahmen der Belagerten zu uns
überlaufen. Wir haben diese Herrschaften sehr gut behandelt. Ich
glaube, das macht unserm Herzen mehr Ehre als unserm Verstand. Ich
sehe nicht ein, warum wir die Herren in Jerusalem von der Sorge für
die Ernährung eines so ansehnlichen Teils der Bevölkerung befreien
sollen. Kann man uns zumuten, nachzuprüfen, ob diejenigen, die
jetzt zu uns übergehen, wirklich Zivilisten sind oder ob sie die
Waffen gegen uns getragen haben? Ich schlage vor, Hoheit und meine
Herren, in Zukunft diese Überläufer ausnahmslos als kriegsgefangene
Rebellen zu behandeln und alles, was wir an Holz erübrigen können,
zur Kreuzigung dieser gefangenen Rebellen zu verwenden. Das wird,
hoffe ich, die innerhalb der Mauern veranlassen, auch in Zukunft
hübsch innerhalb der Mauern zu bleiben. Schon sitzt ein großer Teil
der Belagerten vor leeren Tischen. Ich hoffe, daß dann bald alle,
auch die Truppen der Belagerten, vor leeren Tischen sitzen werden.«
Der Marschall sprach leise, sehr verbindlich. »Je härter wir in
diesen Wochen sind, um so humaner können wir in Zukunft sein. Ich
schlage vor, Hoheit und meine Herren, den Hauptmann Lukian, den
Chef der Profose, anzuweisen, bei der Kreuzigung der Rebellen nicht
milde vorzugehen.«
Der Marschall hatte ohne
Nachdruck gesprochen wie bei einer Tischunterhaltung. Aber es war
lautlos still, während er sprach. Der Prinz war Soldat. Immerhin
schaute er angefremdet auf den Juden, der mit so leichter Rede so
harte Maßnahmen gegen Juden vorschlug. Niemand im Rat hatte einen
Einwand gegen Tiber Alexander. Es wurde beschlossen, die
Blockademauer zu bauen und die Überläufer fortan zu
kreuzigen.
Vom Fort Phasael aus sahen die Führer Simon
Bar Giora und Johann von Gischala, wie die Blockademauer hochstieg.
Johann schätzte ihre Länge auf sieben Kilometer und zeigte mit
geübtem Blick dem Simon dreizehn Punkte, wo offenbar Türme angelegt
werden sollten. »Ein etwas schäbiges Mittel, mein Bruder Simon,
meinen Sie nicht?« fragte er und grinste ein wenig fatal. »Dem
alten Fuchs hätte ich das ohne weiteres zugetraut, aber der Junge
mit seinem Geprotz von Mannhaftigkeit und soldatischer Tugend
sollte eigentlich vornehmere Mittel anwenden. Nun ja. Jetzt sind
wir aufs Johannisbrot gekommen oder eigentlich schon
darunter.«
Die Blockademauer wurde
vollendet, und die Straßen und Höhen um Jerusalem säumten sich mit
Kreuzen. Die Profose waren erfinderisch im Ausdenken neuer
Stellungen. Sie nagelten die zu Exekutierenden so an, daß die Füße
oben hingen, oder sie banden sie quer übers Kreuz, ihnen die
Glieder raffiniert verrenkend. Zuerst bewirkten die Maßnahmen der
Römer, daß die Zahl der Überläufer sich verringerte. Aber dann
stieg der Hunger und der Terror in der Stadt. Viele sahen sich
verloren. Was war klüger? In der Stadt zu bleiben, die Verbrechen
der Makkabi-Leute gegen Gott und Menschen ständig vor Augen, und
Hungers zu sterben? Oder zu den Römern überzulaufen und von ihnen
ans Kreuz gehängt zu werden? Verloren war man innerhalb der Mauern,
verloren außerhalb. Wenn der Stein auf den Krug fällt, wehe dem
Krug. Wenn der Krug auf den Stein fällt, wehe dem Krug. Immer,
immer wehe dem Krug.
Es mehrten sich diejenigen, die
das Sterben am Kreuz dem Sterben in Jerusalem vorzogen. Selten
verging ein Tag, an dem nicht mehrere hundert Überläufer
eingebracht wurden. Bald
gab es keinen Raum mehr für die Kreuze und
keine Kreuze für die Menschenleiber.
Der Glasbläser Nachum Ben Nachum lag die
meiste Zeit über auf dem Dach des Hauses in der Salbenmachergasse.
Dort lagen auch das Weib des Alexas und die beiden Kinder, denn
unter freiem Himmel spürte man den Hunger weniger. Auch wenn man
sich das Kleid oder den Gürtel sehr eng um den Leib zog, linderte
das den Hunger ein wenig; doch nur auf kurze Zeit.
Nachum Ben Nachum war sehr vom
Fleisch gefallen, sein dichter Bart war nicht mehr gepflegt, auch
nicht mehr recht viereckig, und viele graue Haare durchzogen ihn.
Manchmal quälte ihn die Ruhe im Haus, denn die Erschöpften hatten
nicht viel Lust zu reden. Dann ging Nachum über die schmale Brücke,
die von der Oberstadt zum Tempel führte, und besuchte seinen
Verwandten, den Doktor Nittai. Die Achte Priesterreihe, die Reihe
Abija, war ausgelost worden, und Doktor Nittai schlief und wohnte
jetzt im Tempel. Seine wilden Augen waren eingetrocknet, der
überkommene Singsang kam nur mit Mühe von seinen geschwächten
Lippen. Es war ein Wunder, daß der ausgedörrte Mann sich aufrecht
halten konnte, aber er hielt sich aufrecht. Ja, er war weniger
wortkarg als sonst, er hatte keine Furcht wegen seines
babylonischen Akzents, er war glücklich. Die ganze Welt ist Netz
und Falle, nur im Tempel ist Sicherheit. Auch Nachums Herz erhob
es, wie trotz des Elends ringsum der Tempeldienst weiterging wie
immer mit seinen tausend großartigen, umständlichen Zeremonien, mit
Morgenopfer und Abendopfer. Die ganze Stadt verkam, aber Jahves
Haus und Tisch blieb herrlich bestellt wie seit
Jahrhunderten.
Vom Tempel aus ging der
Glasbläser Nachum oftmals zur Börse, zur Kippa. Eine ganze Reihe
von Bürgern kam dort zusammen, aus alter Gewohnheit, trotz des
Hungers. Worum man jetzt feilschte, das waren freilich nicht mehr
Karawanen mit Gewürz oder Flotten mit Holz, sondern winzige Mengen
Nahrungsmittel. Ein oder zwei Pfund verdorbenen Mehls, eine
Handvoll getrockneter Heuschrecken, ein Fäßchen Fischsauce. Zu
Anfang Juni hatte man das Gewicht des Brotes mit dem gleichen
Gewicht in Glas aufwiegen müssen, dann mit dem gleichen Gewicht in
Kupfer, dann in Silber. Am 23. Juni zahlte man für einen Scheffel
Weizen, das waren 8,75 Liter, vierzig Mene, noch vor dem Juli ein
ganzes Talent.
Freilich mußte dieser Handel
geheimgehalten werden; denn längst hatten die militärischen
Machthaber alle Lebensmittel für die Truppen requiriert. Die
Soldaten durchforschten die Häuser bis in den letzten Winkel. Mit
ihren Dolchen und Säbeln kitzelten sie unter derben Witzen die
letzte Unze Eßbares heraus.
Nachum segnete seinen Sohn
Alexas. Wo wäre man hingekommen ohne ihn? Er nährte das ganze Haus
in der Salbenmachergasse, und der Vater bekam den größten Anteil.
Nachum wußte nicht, wo Alexas seine Vorräte verborgen hielt, wollte
es auch nicht wissen. Einmal kam Alexas nach Haus, verstört,
blutend aus einer schweren Wunde. Wahrscheinlich war er von
streifenden Soldaten betroffen worden, als er aus einem seiner
Verstecke etwas von seinen Vorräten holen wollte.
Bis in die Nieren voll von Angst
und Grimm saß der Glasbläser Nachum neben dem Lager seines
Ältesten, der, grau von Gesicht, geschwächt und ohne Bewußtsein
dalag. Ach und oj, warum war er seinem Sohne Alexas nicht früher
gefolgt? Sein Sohn Alexas ist der Klügste der Menschen, und er, der
eigene Vater, hat nicht gewagt, sich zu ihm zu bekennen, einfach
weil die Spitzel der Machthaber umgingen. Aber jetzt wird auch er
den Mund nicht mehr verschließen. Wenn sein Sohn Alexas wieder
aufsteht, dann wird er mit ihm zu dem Gelbgesichtigen gehen. Denn
trotz allen Terrors tauchten aus dem wirren System unterirdischer
Gänge und Höhlen unter Jerusalem immer neue Propheten auf,
predigten Frieden und Unterwerfung und verschwanden wieder in der
Unterwelt, bevor die Makkabi-Leute sie fassen konnten. Nachum war
überzeugt, sein Sohn Alexas war vertraut mit dem Führer dieser
Propheten, eben jenem Dunkeln, Geheimnisvollen, den alle nur den
Gelbgesichtigen nannten.
Er war so voll Grimm gegen die
Makkabi-Leute, daß er den Hunger kaum mehr spürte; heftige Erregung
vertrieb den Hunger. Vor allem gegen seinen Sohn Ephraim richtete
sich seine Wut. Zwar gab der Knabe Ephraim aus der reichlichen
Ration, die er als Soldat erhielt, Nahrungsmittel an Vater und
Geschwister ab; aber tief in seinem Innern fürchtete Nachum,
Ephraim könne es gewesen sein, der jetzt die Soldaten auf die
Spuren des Alexas gehetzt habe. Dieser Verdacht, Ohnmacht und Grimm
machten den Glasbläser Nachum fast verrückt.
Alexas genas. Aber der Hunger
wurde immer bitterer, die spärliche Nahrung war stets die gleiche,
der Sommer war heiß. Das jüngste Söhnlein des Alexas starb, der
Zweijährige, und wenige Tage später auch der ältere, der
Vierjährige. Den Zweijährigen konnte man noch bestatten. Aber als
der Vierjährige starb, waren der Leichen zuviel und der Kraft
zuwenig geworden, man mußte sich begnügen, die Toten in die
Schluchten hinunterzustürzen, die die Stadt umgaben. Nachum, seine
Söhne und seine Schwiegertochter brachten die kleine Leiche an das
Südosttor, daß der Hauptmann Mannäus Bar Lazarus, dem der
Totendienst unterstand, sie in die Schlucht hinunterwerfen lasse.
Nachum wollte die Leichenrede halten, aber da er sehr schwach war,
verwirrten sich ihm die Worte, und statt über den kleinen Jannai
Bar Alexas zu sprechen, sagte er, der Hauptmann Mannäus habe nun
bereits siebenundvierzigtausendzweihundertdrei Leichen erledigt und
somit siebenundvierzigtausendzweihundertdrei Sesterzien erhalten,
dafür könne er auf der Börse beinahe zwei Scheffel Weizen
kaufen.
Alexas hockte auf der Erde und
hielt die sieben Tage der Trauer. Er wiegte den Kopf, streichelte
den schmutzigen Bart. Er hatte einiges bezahlt für die Liebe zu
seinem Vater und zu seinen Brüdern.
Als er sich zum erstenmal wieder
durch die Stadt schleppte, war er erstaunt. Er hatte geglaubt, das
Elend könne nicht größer werden, aber es war größer geworden.
Früher war Jerusalem berühmt gewesen wegen seiner Reinlichkeit,
jetzt lag über der ganzen Stadt ein wüster Gestank. In einzelnen
Stadtquartieren sammelte man die Toten in öffentlichen Gebäuden,
und wenn sie voll waren, dann sperrte man diese Gebäude zu. Noch
beängstigender aber als der Gestank war die große Stille der sonst
so lebendigen Stadt; denn jetzt hatten auch die Betriebsamsten die
Lust zu sprechen verloren. Schweigend und stinkend, erfüllt von
dicken Schwärmen Ungeziefers, lag die weiße Stadt in der
Sommersonne.
Auf den Dächern, in den Gassen
sielten sich die Erschöpften herum mit trockenen Augen und
weitgeöffneten Mündern. Viele waren krankhaft angeschwollen, andere
zu Gerippen ausgedörrt. Die Fußtritte der Soldaten vermochten sie
nicht mehr von der Stelle zu bewegen. Sie lagen, die Verhungernden,
herum, starrten nach dem Tempel, der drüben auf seinem Hügel weiß
und golden in dem blauen Licht hing, warteten auf den Tod. Alexas
sah eine Frau im Abfall wühlen, zusammen mit Hunden nach irgend
etwas Genießbarem. Er kannte die Frau. Es war die alte Channa, die
Witwe des Erzpriesters Anan. Einst mußten Teppiche vor ihr
gebreitet werden, wenn sie auf die Straße ging; denn ihr Fuß war zu
vornehm, den Staub des Weges zu treten.
Und dann kam ein Tag, da saß auch
Alexas, der Klügste der Menschen, stur und ohne Rat. Er hatte sein
Versteck in der Unterwelt leer gefunden, andere hatten den Rest
seiner Vorräte entdeckt.
Als Nachum diese
Unglücksbotschaft mühevoll aus seinem Sohn herausgequetscht hatte,
saß er lange und dachte nach. Es war ein Verdienst, einen Toten zu
bestatten; es war ein letztes Verdienst vor Jahve, sich selber zu
bestatten, wenn das kein anderer besorgte. Nachum Ben Nachum
beschloß, sich dieses letzte Verdienst zu erwerben. Wenn einer so
ausschaute, als ob er nicht länger als höchstens noch einen oder
zwei Tage zu leben hätte, dann ließen die Wachsoldaten ihn vor das
Tor. Ihn werden sie passieren lassen. Er legte seine Hand auf den
Scheitel seines Sohnes Alexas, der dumpf auf sein verlöschendes
Weib stierte, und segnete ihn. Dann nahm er einen Spaten, das
Geschäftsbuch, den Schlüssel der alten Glasbläserei, auch einige
Myrtenreiser und Weihrauch und schleppte sich zum Südtor.
Vor dem Südtor lag eine große
Gebeinhöhle. Nach einer Ruhe nämlich von ungefähr einem Jahr, wenn
der Leichnam bis auf die Knochen verwest war, pflegte man die
Gebeine in sehr kleinen Steinsärgen zu sammeln und diese Särge in
den Wänden von Höhlen übereinander und nebeneinander zu schichten.
Auch über die Beinhöhle vor dem Südtor war nun freilich die
Belagerung hinweggegangen und hatte sie zerstört, so daß sie nicht
mehr sehr würdig herschaute, ein Haufen von zertrümmerten
Steinplatten und Gebein. Aber immer noch blieb sie ein jüdischer
Totenacker.
Auf die gelblichweiße, besonnte
Erde dieses Totenackers also hockte Nachum sich nieder. Um ihn her
lagen andere Verhungernde, starrten nach dem Tempel. Manchmal
sprachen sie: Höre, Israel, eins und ewig ist unser Gott Jahve.
Manchmal dachten sie an die Soldaten, an die im Tempel, die Brot
und Fischkonserven hatten, an die im römischen Lager, die Fett und
Fleisch hatten, und dann vertrieb der Zorn auf eine ach nur sehr
kurze Zeit den Hunger.
Nachum war sehr matt, aber es war
keine unangenehme Mattigkeit. Er freute sich an der heißen Sonne.
Anfangs, als er noch Lehrling war, hatte es furchtbar weh getan,
wenn er sich an der heißen Masse verbrannte. Jetzt war seine Haut
daran gewöhnt. Es war unrecht von seinem Sohne Alexas, daß er die
Arbeit mit der Hand ganz durch die Glasbläserpfeife ersetzt hat.
Überhaupt war sein Sohn Alexas zu hochfahrend. Weil sein Sohn
Alexas so überheblich war, darum waren ihm auch die Kinder
gestorben und die Frau, und seine Vorräte waren ihm gestohlen
worden. Wie heißt es im Buche Hiob? »Die Güter, die er verschlungen
hat, muß er wieder ausspeien. Das Getreide in seinem Haus wird
weggeführt werden.« Wer ist nun eigentlich der Hiob, er oder sein
Sohn Alexas? Das ist sehr schwierig. Er hat zwar einen Spaten mit,
aber kratzt er etwa seinen Grind? Er kratzt ihn nicht, folglich ist
sein Sohn Alexas der Hiob.
Wer einem Toten Ehre erweist,
erwirbt sich Verdienst, besonders wenn man selber der Tote ist.
Aber vorher muß er in seinem Geschäftsbuch nachschauen, ob die
letzten Einträge stimmen; er will ein ordentliches Rechnungsbuch im
Grab haben. Er hat da eine Geschichte gehört von einer gewissen
Maria Beth Ezob. Die Soldaten der Makkabi-Leute waren, angelockt
durch Bratengeruch, in das Haus dieser Maria eingedrungen und
hatten auch gebratenes Fleisch vorgefunden. Es stammte von dem Kind
dieser Maria, und sie wollte mit den Soldaten einen Vertrag
abschließen: da sie das Kind geboren habe, sollte die Hälfte des
Fleisches ihr gehören, die Hälfte wollte sie den Soldaten lassen.
Das war eine ordentliche Frau. Eigentlich müßte allerdings ein
solcher Vertrag schriftlich gemacht und auf dem Rathaus deponiert
werden. Aber das ist jetzt schwierig. Die Beamten sind nie da. Sie
sagen, sie haben Hunger, und das geht doch nicht, daß man einfach
wegbleibt, bloß weil man Hunger hat. Einige sind allerdings
gestorben infolge Hungers, besser der Tag des Todes als der Tag der
Geburt, und die sind gewissermaßen entschuldigt.
Da sitzt sein Sohn Alexas, der
Siebenkluge, der Gescheiteste der Menschen, und hat bei all seiner
Gescheitheit doch nichts zu essen. Er hat plötzlich ein ungeheures
Mitleid mit seinem Sohne Alexas. Natürlich ist der der Hiob. Der
Bart des Alexas ist viel grauer als sein eigener, obwohl er jünger
ist als er. Freilich, sein, Nachums, Bart ist jetzt auch nicht mehr
viereckig, und wenn eine schwangere Frau ihn sähe, würde ihr Kind
davon nicht schöner.
Trotzdem ist es ärgerlich, daß
man ihm, Nachum Ben Nachum, dem Glasbläser, dem Großhändler, nicht
die gebührende Ehre erweist. Daß er allein sein ganzes Totengeleite
ist, das ist eine harte Prüfung von Jahve, und er versteht Hiob,
und jetzt ist es ganz klar: nicht sein Sohn Alexas ist der Hiob, er
ist es. »Denn den Zerfall heiße ich meinen Vater, und die Würmer
meine Mutter und meine Schwester.« Und jetzt komm, mein Spaten,
grab, mein Spaten.
Mit sehr großer Mühe richtete er
sich hoch, leicht ächzend. Es ist sehr schwer, zum Graben muß man
sehen. Es sind diese scheußlichen Fliegen, die auf seinem Gesicht
sitzen und die ihm alles verdunkeln. Sehr langsam geht sein Blick
über die graugelbe Erde hin, über die Knochen, die Reste der
Steinsärge. Da, ganz in seiner Nähe, sieht er etwas Schillerndes,
Opalfarbenes, es ist ein Wunder, daß er es nicht längst gesehen
hat, es ist ein Stück murrinisches Glas. Ist es echt? Wenn es nicht
echt ist, dann muß es ein besonders kunstrei ches Verfahren sein,
durch das man solches Glas herstellt. Wo hat man ein so
kunstreiches Verfahren? Wo machen sie solches Glas? In Tyrus? In
Carmanien? Er muß wissen, wo man so künstliches Glas macht und wie
man es macht. Sein Sohn Alexas wird es wissen. Wozu wäre er der
Klügste der Menschen? Er wird seinen Sohn Alexas fragen.
Er kriecht hin, er holt sich das
Stück Glas, verwahrt es sorgfältig in seiner Gürteltasche. Es mag
von einem Parfümfläschchen stammen, das man einem Toten in den
Steinsarg mitgegeben hat. Er hat das Glas. Es ist nicht echt, aber
täuschend nachgeahmt, nur der Fachmann kann die Fälschung erkennen.
Er denkt nicht mehr daran, sich ins Grab zu legen, nichts ist mehr
in ihm als der Wunsch, seinen Sohn Alexas nach diesem Wunderglas zu
fragen. Er steht auf, wirklich, er erhebt sich, er setzt den
rechten Fuß vor, den linken, er schleift, er stolpert ein wenig
über Knochen und Steine, aber er geht. Er kommt zurück zum Tor, es
mögen acht Minuten Weges sein, und siehe, er braucht nur kurze
Zeit, nicht einmal eine Stunde braucht er, und dann ist er am Tor.
Die jüdischen Wachen sind gerade gutgelaunt, sie öffnen das
Ausfallspförtchen, sie fragen: »Hast du etwas zu beißen gefunden,
du Toter? Dann mußt du es mit uns teilen.« Er zeigt stolz sein
Stückchen Glas. Sie lachen, sie lassen ihn passieren, er geht
zurück in die Salbenmachergasse, in das Haus seines Sohnes
Alexas.
Die Römer führten vier neue Wälle gegen die
Stadt heran. Die Soldaten, die dabei nicht beschäftigt waren,
versahen den vorgeschriebenen Lagerdienst, exerzierten, flackten
untätig herum, schauten auf die stille, weiße, stinkende Stadt,
warteten.
Die Offiziere, um die zermürbende
Langeweile zu vertreiben, veranstalteten Jagden auf die vielen
Tiere, die sich, gelockt von dem Aasgeruch, um die Stadt
versammelten. Denn es zeigte sich interessantes Getier, wie man es
seit vielen Geschlechtern in dieser Gegend nicht mehr gesehen
hatte. Vom Libanon stiegen Wölfe nieder, aus dem Jordangebiet kamen
Löwen, aus Gilead und Basan Panther. Die Füchse wurden fett, ohne
daß sie viel List anwenden mußten, auch den Hyänen, den heulenden
Rudeln der Schakale ging es gut. Auf den Kreuzen, die alle Straßen
säumten, hockten dick die Raben, auf den Berghöhen saßen lauernd
die Geier.
Die Bogenschützen machten sich
manchmal den Spaß, die im Raum der Begräbnisstätten hockenden,
verhungernden Juden als Ziele zu verwenden. Andere römische
Mannschaften begaben sich einzeln oder in Trupps vor die Mauern,
außer Schußweite, doch in Sehweite, zeigten denen auf der Mauer den
Überfluß ihrer Ration, fraßen, schlangen, riefen: Hep, Hep,
Hierosolyma est perdita.
Sieben Wochen waren nun vergangen
seit Beginn der Belagerung. Die Juden feierten ihr Pfingstfest, ein
klägliches Pfingstfest, und nichts änderte sich. Der ganze Monat
Juli verging, nichts änderte sich. Die Juden machten Ausfälle gegen
die neuen Wälle, ohne Glück. Trotzdem zerrte dieser Feldzug an den
Nerven der römischen Legionäre schlimmer als gefährlichere und
härtere Feldzüge. Es bemächtigte sich der Belagerer angesichts der
stillen und stinkenden Stadt allmählich eine ohnmächtige Wut.
Gelang es den Juden, die vier neuen Wälle zu vernichten, dann gab
es keine Möglichkeit mehr, andere Belagerungswerke zu bauen; das
Holz war am Ende. Es blieb dann nichts übrig, als abzuwarten, bis
die da drinnen verhungerten. Grimmig schauten die Soldaten auf den
Tempel, der immer gleich, unberührt, weiß und golden dort drüben
auf seinem Hügel stand. Sie nannten ihn nicht den Tempel, sie
nannten ihn nur voll Scheu, Wut, Ekel: das da oder das Bewußte.
Soll man ewig vor dieser weißen, unheimlichen Festung liegen? Das
römische Lager war voll von finsterer, verzweifelter Spannung.
Keine andre Stadt hätte Bürgerzwist, Hunger, Krieg so lange
ausgehalten. Wird man diese Wahnsinnigen, diese verhungerten Lumpen
niemals zur Räson bringen können? Es war Essig mit der Rückkehr
nach Rom zur Opferung des Oktoberrosses. Von den Generälen der
Legionen bis zum letzten Trainsoldaten der bundesgenössischen
Kontingente war jeder einzelne randvoll von Zorn auf diesen Gott
Jahve, der verhinderte, daß römische Kriegskunst über den
Fanatismus jüdischer Barbaren siegte.
An einem der letzten Julitage forderte Titus
den Josef auf, ihn auf einem Rundgang zu begleiten. Die beiden
Männer, der Feldherr ohne Abzeichen seiner Würde, Josef ohne
Waffen, gingen schweigend durch die große Stille. Gleichmäßig kam
der Anruf der Wachen, gleichmäßig gaben sie die Parole: Rom voran.
Die Umgebung Jerusalems lag jetzt in einem Umkreis von zwanzig
Kilometern öd und kahl, und erfüllt hatte sich das Wort der
Schrift: »Der Zorn und Grimm Jahves ist ausgeschüttet über diesen
Ort, über Mensch und Vieh und Bäume des Feldes und Früchte des
Landes.«
Sie kamen an eine Schlucht, in
welche die aus der Stadt ihre Leichen hinabzuwerfen pflegten.
Scharfer Gestank stieg auf, beizend, atemnehmend; die Körper lagen
hochgeschichtet in einer ekeln Jauche der Verwesung. Titus blieb
stehen. Auch Josef machte gehorsam halt. Titus schaute seinen
Begleiter von der Seite an, wie er geduldig in dem scheußlichen
Brodem verharrte. Der Prinz hatte erst heute wieder vertrauliche
Mitteilung bekommen, Josef treibe Spionage, stehe mit den
Belagerten in heimlichem Einverständnis. Titus glaubte kein Wort.
Er wußte genau, wie schwierig die Stellung des Josef war, daß
sowohl die Juden ihn für einen Verräter hielten wie die römischen
Soldaten. Er mochte den Mann gern leiden, hielt ihn für einen
ehrlichen Freund. Aber es gab Stunden, wo er ihm ebenso fremd und
unheimlich war wie seinen Soldaten. Er spähte hier an dieser
Leichenschlucht nach einem Zeichen des Widerwillens und der Trauer
in Josefs Mienen. Aber Josef hielt sein Gesicht versperrt, und den
Prinzen wehte es kalt und fremd an: wie konnte der Jude das
ertragen?
Es war so, daß den Josef ein
quälender Drang an die Orte trieb, wo die Greuel der Belagerung auf
besonders scheußliche Art sichtbar wurden. Er war hierhergeschickt,
um das Auge zu sein, das all dieses Grauen sieht. Sich rühren, das
war leicht. Stille stehen und betrachten müssen, das war viel
schwerer. Oft packte ihn ein scharfer, ätzender Schmerz, daß er
hier außerhalb der Mauern stand, eine sinnlose Sehnsucht, sich
unter die in der Stadt zu mischen. Die hatten es gut. Kämpfen
dürfen, leiden dürfen zusammen mit einer Million anderer, das war
gut.
Er hat einen Brief bekommen aus
der Stadt auf dunkelm Weg und ohne Absender: »Sie stören. Sie haben
zu verschwinden.« Er weiß, daß Justus diesen Brief geschrieben hat.
Wieder hat dieser Justus recht gegen ihn. Seine
Vermittlungsversuche sind hoffnungslos, seine Person stört jede
Vermittlung.
Es ist ein sehr bitterer Sommer
für den Mann Josephus, dieser Sommer vor den Mauern Jerusalems. Die
vernarbende Wunde am rechten Arm ist nicht schwer, aber sie
schmerzt, und sie macht ihm das Schreiben unmöglich. Manchmal fragt
Titus ihn scherzhaft, ob er ihm nicht diktieren wolle; er sei der
beste Stenograph im Lager. Aber vielleicht ist es gut, daß Josef
jetzt nicht schreiben kann. Er will nicht Kunst, Beredsamkeit,
Gefühl. Sein ganzer Körper soll Auge sein, sonst nichts.
So steht er mit Titus inmitten
der kahlen Landschaft, die einst einer der schönsten Teile der Erde
war und seine Heimat. Jetzt ist sie wüst und leer wie vor der
Schöpfung. Auf der letzten Mauer der Stadt, der schon
erschütterten, weiß er seine Landsleute, verwahrlost, verwildert,
überzeugt, daß sie untergehen müssen, und sie hassen ihn mehr als
irgendeinen andern Menschen. Sie haben einen Preis auf seinen Kopf
gesetzt, einen Ungeheuern, den höchsten, den sie kennen, einen
ganzen Scheffel Weizen. Er steht da, schweigend, den Blick vor
sich. Hinter ihm, vor ihm, neben ihm sind die Kreuze, an denen
Menschen seines Stammes hängen, zu seinen Füßen ist die Schlucht,
in der Menschen seines Stammes verwesen, die Luft, das ganze kahle
Land ist voll Getier, das auf den Fraß wartet.
Titus macht den Mund auf. Er
spricht leise, aber in der Ödnis ringsum klingt es laut: »Findest
du es grausam, mein Josef, daß ich dich zwinge, hier zu sein?«
Josef, noch leiser als der Prinz, langsam, die Worte abgewogen,
erwidert: »Es war mein Wille, Prinz Titus.«
Titus legt ihm die Hand auf die
Schulter: »Du hältst dich gut, mein Josef. Kann ich dir einen
Wunsch erfüllen?« Josef, immer ohne ihn anzusehen, mit der
gleichen, gemessenen Stimme erwiderte: »Lassen Sie den Tempel
stehen, Prinz Titus.« – »Das ist mein Wille nicht weniger als
deiner«, sagte Titus. »Ich möchte, daß du etwas für dich
erbittest.«
Endlich wandte sich Josef dem
Prinzen zu. Er sah, daß sein Gesicht neugierig war, forschend, doch
nicht ohne Güte. »Geben Sie mir«, sagte er langsam, behutsam, »wenn
die Stadt fällt, aus der Beute ...« Er verstummte. »Was soll ich
dir geben, mein Jude?« fragte Titus. »Geben Sie mir«, bat Josef,
»sieben Schriftrollen und sieben Menschen.«
Die beiden standen groß und
allein in der kahlen Landschaft. Titus lächelte: »Du sollst siebzig
Rollen haben, mein Josef, und siebzig Menschen.«
Die Priester der diensttuenden Reihe
versammelten sich alltäglich in der Quadernhalle, um auszulosen,
wer die einzelnen Verrichtungen des Opfers vornehmen sollte. Am
Morgen des 5. August, des 17. Tammus jüdischer Rechnung, traten
unter die also Versammelten die Führer der Armee Simon Bar Giora
und Johann von Gischala, gerüstet beide, mit ihnen ihr Sekretär
Amram sowie viele Bewaffnete. Der Chef des Tempeldienstes, der die
Auslosung leitete, fragte, seine Fassung krampfig festhaltend: »Was
wollen Sie?« – »Sie brauchen heute die Losung nicht vorzunehmen,
mein Doktor und Herr«, sagte Johann von Gischala. »Sie brauchen sie
auch in Zukunft nicht mehr vorzunehmen. Sie können nach Hause
gehen, meine Herren, alle, Priester, Leviten, Laien. Der
Tempeldienst hat aufgehört.«
Verschreckt standen die Priester.
Der Hunger hatte ihre Gesichter welk gemacht, weiß wie ihre
Gewänder, sie waren sehr geschwächt. Manche unter ihnen hielt
ähnlich wie den Doktor Nittai allein die Ehrung des Dienstes noch
aufrecht. Sie waren zu schwach zum Schreien, es war mehr ein
sonderbar dünnes Gegurgel und Gestöhn, das nach den Worten Johanns
losbrach.
»Wieviel Opferlämmer sind noch in
der Lämmerhalle?« fragte barsch Simon Bar Giora. »Sechs«,
antwortete mit mühevoller Festigkeit der Chef des Tempeldienstes.
»Sie irren, mein Doktor und Herr«, korrigierte sanft der Sekretär
Amram, und ein höfliches, bösartiges Lächeln legte seine Zähne bloß. »Es sind neun.« – »Geben Sie die neun
Lämmer heraus«, sagte fast gemütlich Johann von Gischala. »In
dieser Stadt ist seit langem Jahve der einzige, der Fleisch ißt.
Die Lämmer sollen nicht verbrannt werden. Jahve hat auf seinem
Brandopferaltar genug süßen Geruch gehabt. Die für das Heiligtum
kämpfen, sollen auch von dem Heiligtum leben. Geben Sie die neun
Lämmer heraus, meine Doktoren und Herren.«
Der Chef des Tempeldienstes
schluckte beschwerlich, suchte eine Erwiderung. Allein bevor er
sprach, trat Doktor Nittai aus der Reihe vor. Die trockenen, wilden
Augen richtete er glühend auf Johann von Gischala. »Überall ist
Netz und Falle«, gurgelte er in seinem harten, babylonischen
Akzent, »nur im Tempel ist Sicherheit. Wollen Sie jetzt auch im
Tempel Ihre Fallen aufstellen? Sie werden zuschanden werden.« –
»Das wird sich zeigen, mein Doktor und Herr«, erwiderte gelassen
Johann von Gischala. »Vielleicht haben Sie bemerkt, daß das Fort
Antonia gefallen ist. Der Krieg ist bis zum Tempel herangekrochen.
Der Tempel ist nicht mehr Jahves Wohnung, er ist Jahves Festung.«
Aber Doktor Nittai grollte gurgelnd weiter: »Sie wollen den Altar
Jahves berauben? Wer Jahve sein Brot und sein Fleisch stiehlt, der
stiehlt ganz Israel den Rückhalt.« – »Schweigen Sie«, herrschte
Simon ihn finster an. »Der Tempeldienst hat aufgehört.« Der
Sekretär Amram aber ging auf Doktor Nittai zu, legte ihm die Hand
auf die Schulter und sagte verträglich, mit gelben Zähnen lächelnd:
»Geben Sie sich zufrieden, Herr Kollege. Wie heißt es im Jeremias?
›So spricht Jahve: Schmeißt eure Brandopfer zu euern Speiseopfern
und fresset sie; denn nichts habe ich euern Vätern geboten, als ich
sie aus Ägypten führte, weder von Brandopfern noch von
Speiseopfern.‹»
Johann von Gischala ließ seine
grauen Augen rundum gehen durch die Reihen der Verstörten. Er sah
den irren, harten Schädel des Doktor Nittai. Vermittelnd,
verbindlich sagte er: »Wenn Sie weiter Dienst tun wollen, meine
Herren, singen, Ihre Instrumente spielen, den Segen sprechen, es
sei Ihnen unbenommen. Aber was an Brot, Wein, Öl und Fleisch da
ist, ist requiriert.«
Der Erzpriester Phanias kam, man
hatte ihn benachrichtigt. Als die Losung des Johann von Gischala
ihn zum höchsten Amt in Stadt und Tempel berief, hatte der dumpfe,
vierschrötige Mann diese Schickung Gottes mit schwerer Beklemmung
angenommen. Er ist sich seiner Einfalt bewußt, er hat nichts
gelernt, nicht die Geheimlehre, nicht einmal die einfachsten
Ausdeutungen der Heiligen Schrift, er hat nur gelernt, Mörtel zu
bereiten, Steine zu schleppen und sie aufeinanderzuschichten. Jetzt
hat Jahve ihn mit dem heiligen Ornat bekleidet, dessen acht Teile
von den acht schwersten Sünden reinigen. So arm an Verstand und
Gelehrsamkeit er ist, es ist Heiligkeit in ihm. Aber diese
Heiligkeit ist schwer zu tragen. Da befehlen also diese Soldaten,
der Tempeldienst habe aufgehört. Das geht nicht. Aber was soll er
tun? Alle schauen auf ihn, wartend, daß er etwas sagen soll. Oh,
wenn er seinen Ornat angezogen hätte, dann gäbe ihm Jahve bestimmt
die rechten Worte. Jetzt kommt er sich nackt vor, steht herum,
hilflos. Endlich tut er den Mund auf. »Sie können«, redet er Johann
von Gischala zu, »mit den neun Lämmern Ihre Armee nicht speisen.
Wir können damit den Dienst vier heilige Tage weiterführen.« Die
Priester finden, was der Erzpriester Phanias gesagt hat, das ist
die fromme, billige Vernunft des Volkes, und sogleich springt der
Chef des Tempeldienstes ihm bei. »Wenn diese Männer noch leben«,
sagt er und weist auf die Priester um ihn herum, »dann ist es nur
durch den Willen, Jahves Dienst gemäß der Schrift zu
verrichten.«
Aber Simon Bar Giora sagte nur:
»Die Tore des Tempels haben lange genug zugeschaut, wie ihr euch
den Bauch von Jahves Opfern gefüllt habt«, und seine Bewaffneten
drangen in die Lämmerhalle. Sie nahmen die Lämmer. Sie drangen in
die Weinhalle, nahmen den Wein und das Öl. Sie drangen in den
Heiligen Raum. Niemals seit Bestehen des Tempels hatten
Nichtpriester den Fuß hierhergesetzt. Jetzt tappten die Soldaten
schwerfällig, verlegen grinsend, durch die kühle, strenge,
dämmerige Halle. Der siebenarmige Leuchter stand da, das
Räucherfaß, der Tisch mit den zwölf goldenen Broten und den Broten
aus Mehl. Niemand kümmerte sich um das Gold, aber auf die duftenden
Weizenbrote wies Simon, und: »Nehmt!« befahl er, er sprach
besonders barsch, um seine Unsicherheit zu verstecken. Die Soldaten
gingen auf den Schaubrottisch zu, behutsam, auf scheuen Sohlen.
Dann, mit schnellen Bewegungen, bemächtigten sie sich der Brote.
Sie trugen sie ungelenk, als wären die Brote kleine Kinder, mit
denen man vorsichtig umgehen muß.
Der Erzpriester Phanias war
täppisch hinter den Soldaten hergestapft, unglücklich, krank vor
Zweifel, was er beginnen solle. Ängstlich starrte er auf den
Vorhang zum Allerheiligsten, der Wohnung Jahves, die nur er
betreten durfte am Versöhnungstag. Aber Simon und Johann rührten
nicht an den Vorhang, sie kehrten um. Eine ungeheure Last fiel ab
von dem Erzpriester Phanias.
Die Soldaten atmeten auf, als sie
die verbotenen Räume verließen. Sie waren heil, kein Feuer war vom
Himmel niedergefahren. Sie trugen die Brote. Es waren erlesen weiße
Brote, aber nur eben Brote, es geschah einem nichts, wenn man sie
berührte.
Simon und Johann luden für diesen Abend die
Herren ihres Stabs zum Abendmahl, dazu den Sekretär Amram. Sie alle
hatten seit Wochen kein Fleisch gegessen, nun schnupperten sie
gierig den Geruch des Gebratenen. Auch war viel und edler Wein da,
Wein von Eschkol, und es lag Brot auf dem Tisch, reichlich, nicht
nur zum Essen, sondern auch, die Männer lachten, um das Fleisch vom
Teller zu nehmen. Sie hatten gebadet, sich mit dem Öl des Tempels
gesalbt, Haar und Bart schneiden und glätten lassen. Erstaunt sahen
sie einander an: in was für stattliche, elegante Herren hatten die
Verwilderten sich verwandelt.
»Legen Sie sich bequem hin und
essen Sie«, forderte Johann von Gischala auf. »Es ist wohl das
letztemal, daß wir es tun können, und wir haben es verdient.« Ihre
Soldaten wuschen ihnen die Hände, Simon Bar Giora sagte den
Segensspruch und brach das Brot, es war ein reichliches Mahl, und
sie gaben auch den Soldaten ab.
Die beiden Führer waren guter,
milder Laune. Sie dachten ihrer Heimat Galiläa. »Ich denke an die
Johannisbrotbäume deiner Stadt Gerasa, mein Bruder Simon«, sagte
Johann. »Es ist eine schöne Stadt.« – »Ich denke an die Feigen und
das Öl deiner Stadt Gischala, mein Bruder Johann«, sagte Simon. »Du
kamst vom Norden nach Jerusalem, ich vom Süden. Wir hätten uns
zusammentun sollen, als wir kamen.« – »Ja«, lächelte Johann, »wir
waren Narren. Wir waren die Hähne. Der Knecht trägt sie an den
Füßen in den Hof, um sie zu schlachten, und sie, hängend und
schaukelnd, hauen einander mit den Schnäbeln.«
»Gib mir das Bruststück, das du
auf deinem Teller hast, mein Bruder Johann«, sagte Simon, »und laß
mich dir die Keule geben. Sie ist fetter und saftiger. Ich liebe
und bewundere dich sehr, mein Bruder Johann.« – »Ich danke dir,
mein Bruder Simon«, sagte Johann. »Ich habe nie gewußt, was für ein
schöner und stattlicher Mann du bist. Ich sehe es erst jetzt, wo es
zu sterben geht.«
Sie tauschten das Fleisch, und
sie tauschten den Wein. Johann stimmte das Lied an, das den Simon
feierte, wie er die Maschinen und die Artillerie der Römer
verbrannte, und Simon stimmte das Lied an, das den Johann rühmte,
wie er hinter der ersten Mauer des Forts Antonia eine zweite
errichtet hatte. »Wenn wir soviel Glück hätten wie Mut«, lächelte
Johann, »die Römer wären längst nicht mehr da.« Sie sangen Sauf-
und Hurenlieder und Lieder von der Schönheit des Landes Galiläa.
Sie gedachten der Städte Sepphoris und Tiberias und der Stadt
Magdala mit ihren achtzig Weberwerkstätten, die die Römer zerstört
hatten. »Weithin ist der See rot von Blut in der Nähe von Magdala«,
sangen sie, »weithin ist der Strand voll Leichen in der Nähe von
Magdala.« Sie schrieben ihre Namen auf ihre Feldbinden mit den
Initialen Makkabi, und sie tauschten die Binden aus.
Von außen, in gleichmäßigem
Abstand, kamen dumpfe Stöße gegen die Grundmauern. Das war der
»Harte Julius«, der berühmte Rammbock der Zehnten Legion. »Laßt ihn
stoßen«, lachten die Offiziere, »morgen verbrennen wir ihn.« Sie
lagen, sie aßen, sie spaßten, sie tranken. Es war ein gutes Mahl,
und es war das letzte.
Die Nacht rückte vor. Sie wurden
nachdenklicher, eine wilde, umschattete Heiterkeit lag über der
großen Halle. Sie gedachten der Toten. »Wir haben nicht Linsen noch
Eier«, sagte Johann von Gischala, »aber die zehn Becher der Trauer
wollen wir trinken, und die Polster wollen wir umstürzen.« – »Es
sind sehr viele Tote«, sagte Simon Bar Giora, »und es geziemte sich
zu ihren Ehren ein besseres Mahl. Ich gedenke der toten Offiziere.«
Es waren siebenundachtzig Offiziere gewesen, die römische
Kriegskunst erlernt hatten, davon waren zweiundsiebzig gefallen.
»Ihr Andenken sei gesegnet«, und sie tranken. »Ich gedenke des
Erzpriesters Anan«, sagte Johann von Gischala. »Was er für die
Mauer getan hat, war gut.« – »Er war ein Schuft«, sagte heftig
Simon Bar Giora, »wir mußten ihn umbringen.« – »Wir mußten ihn
umbringen«, gab Johann verträglich zu, »aber er war ein guter Mann.
Sein Andenken sei zum Segen.« Und sie tranken.
»Ich gedenke eines andern Toten«,
sagte verbissen der Sekretär Amram. »Er war mein Jugendfreund und
ein Hund. Er erlernte mit mir in einem Raum
die Geheimnisse der Lehre. Sein Name ist Josef Ben Matthias. Sein
Andenken sei nicht zum Frieden.«
Er hatte einen Einfall, von dem
er sich besonderen Spaß versprach. Zwinkernd verständigte er sich
mit Simon und Johann, und sie ließen aus den Kerkern des Forts
Phasael den Doktor und Herrn Matthias kommen, den Vater des
Josef.
Der alte, dürre Herr hatte lange,
scheußliche Tage im Gestank eines dunkeln Verlieses gesessen, er
war furchtbar erschöpft, aber er nahm sich zusammen. Er hatte Angst
vor diesen wüsten Soldatenkerlen. Sie hatten so viele
totgeschlagen, es war ein Wunder, daß sie ihn am Leben gelassen
hatten, man mußte ihnen nach dem Mund reden. Er führte die
schlotternde Hand an die Stirn, grüßte. »Was wollen Sie, meine
Herren«, stammelte er, »von einem alten, wehrlosen Mann?«, und er
blinzelte ins Licht und schnupperte wider seinen Willen nach den
Speisen. »Es steht nicht gut, mein Doktor und Herr Matthias«, sagte
Johann. »Wo wir jetzt sind, werden bald die Römer sein. Was wir mit
Ihnen anfangen sollen, alter Herr, darüber sind wir uns noch nicht
schlüssig. Ob wir Sie den Römern überlassen oder vorher totschlagen
sollen.« Der Greis stand gekrümmt, stumm, zitternd.
»Hören Sie«, sagte der Sekretär
Amram, »die Lebensmittel sind knapp in der Stadt, wie Ihnen
vielleicht bekannt ist. Wir haben kein Fleisch mehr, wir sind aufs
Johannisbrot gekom men. Was Sie hier sehen, sind die Knochen der
neun letzten Lämmer für den Brandopferaltar Jahves. Wir haben sie
gegessen. Schauen Sie nicht so starr. Es hat uns geschmeckt. Sehen
Sie ein Menetekel an der Wand? Ich nicht. Beim Beginn unseres
Unternehmens stand Ihr Herr Sohn an unserer Seite. Er ist
inzwischen abgeschwenkt. Es ziemt sich, daß am Ende Sie an unserer
Seite stehen. Wir sind Leute von Lebensart. Wir laden Sie ein, an
unserm letzten Mahl teilzunehmen. Es sind noch reichlich viele
Knochen da, wie Sie sehen. Auch das Brot, mit dem wir das Fleisch
von den Tellern genommen haben, steht zu Ihrer
Verfügung.«
»Ihr Herr Sohn ist ein Unflat
gewesen«, sagte Johann von Gischala, und seine schlauen, grauen
Augen waren zornig, »ein Wegwurf. Sie haben ein Stück Kot in die
Welt gesetzt, mein Doktor und Herr Matthias, Priester der Ersten
Reihe. Die Knochen und das Brot gebühren unsern Soldaten eher als
Ihnen. Aber wir stehen zum Wort unseres Doktor Amram, wir laden Sie
ein.« Simon Bar Giora war weniger höflich. Er bedrohte den Greis
mit seinen finstern, engen Augen und herrschte ihn an:
»Essen!«
Der Alte zitterte stark. Er war
unbändig stolz gewesen auf den Aufstieg seines Sohnes. Er selber
hatte sich nie weit vorgewagt. Er begriff, ach, er begriff gut, daß
Joseph später zu den Römern gegangen war. Aber diese Menschen
begriffen es nicht, sie haßten seinen Sohn auf den Tod. Jetzt also
soll er essen. Vielleicht soll das eine Probe sein, und wenn er
jetzt aß, werden sie triumphieren und ihn verhöhnen und
totschlagen, weil er seinen Rest Leben durch solchen Frevel zu
bewahren sucht. Er war nach dem Moder und Gestank des lichtlosen
Kerkers fast irr vor Hunger und Erschöpfung. Er sah die Knochen, es
waren saftige Knochen, gefüllt mit Mark, von einjährigen,
ausgesuchten Tieren, sicher konnte man die ganzen Knochen zerkauen
und essen. Dazu das Brot, das herrlich duftende, das überdies vom
Saft und der Tunke des Fleisches angenommen hatte. Der Alte befahl
sich, nicht zu gehen, aber seine Füße folgten ihm nicht. Es zog ihn
vorwärts, er ging, widerwilligen Schrittes. Griff nach den Knochen,
gierig, mit seinen schmutzigen Händen. Biß zu, schlang, der Saft
troff ihm in seinen ver wahrlosten weißen Bart. Er hatte keinen
Segensspruch gesagt, das wäre wohl auch doppelte Lästerung gewesen.
Er wußte, das war Fleisch vom Altar Jahves und Brot von seinem
Tisch, und was er tat, war zehnfache Todsünde. Er schloß sich und
seine Nachfahren vom Heil aus für alle Zeiten. Aber er hockte sich
auf den Boden, die Knochen in beiden Händen, seine alten,
schlechten Zähne rissen an den Knochen, bissen sie durch, er kaute,
malmte, war glücklich.
Die andern schauten ihm zu.
»Seht«, sagte der Doktor Amram, »wie er sich um das Heil seiner
Seele frißt.« – »Das sind die Leute, die uns soweit gebracht haben,
mein Bruder Johann«, sagte Simon. »Das sind die Leute, für die wir
sterben, mein Bruder Simon«, sagte Johann. Dann sagten sie nichts
mehr. Schweigend schauten sie zu, wie der Doktor und Herr Matthias
auf dem Boden der Halle hockte, im Schein der Fakkeln,
fressend.
Am Tag darauf, am 6.
August, weckte der Doktor Nittai die für diesen Tag ausgelosten
Priester der Achten Reihe, der Reihe Abija. An Stelle des ratlosen
Chefs hatte Doktor Nittai die Leitung des Tempeldienstes
übernommen, und die Priester gehorchten ihm. Sie folgten ihm in die
Halle, und Doktor Nittai sagte: »Kommet und loset, wer schlachten
soll, wer das Blut sprengen, wer die Opferglieder zum Altar bringen
soll, wer das Mehl, wer den Wein.« Sie losten. Dann sagte Doktor
Nittai: »Gehe hinaus, du Bestimmter, und halte Ausschau, ob die
Zeit zum Schlachten gekommen ist.« Als es soweit war, rief der am
Ausschau: »Es tagt. Es wird hell im Osten.« – »Wird es hell bis
Hebron?« fragte Doktor Nittai, und der am Ausschau erwiderte: »Ja.«
Darauf befahl Doktor Nittai: »Geht hin und holt ein Lamm aus der
Lämmerhalle.« Und die dazu ausgelost waren, gingen in die
Lämmerhalle. Sie achteten nicht, daß kein Lamm darin war, sie
holten das Lamm, das nicht da war, sie tränkten es nach der
Vorschrift aus dem goldenen Becher.
Die das Los getroffen hatte,
begaben sich mittlerweile mit zwei riesigen goldenen Schlüsseln zum
Heiligen Raum und öffneten das große Tor. In dem Augenblick, da das
mächtige Geräusch der Toröffnung an sein Ohr drang, schlachtete der
dazu Bestimmte im andern Raum das Opfer, das nicht da war. Dann
brachten sie das Tier, das nicht da war, auf den Marmortisch,
häuteten und zerteilten es nach der Vorschrift, trugen, ihrer neun,
die einzelnen Teile zur Rampe des Altars. Dann losten sie, wer die
Opferglieder von der Rampe auf den Altar bringen solle. Es kamen
die Beamten des niederen Dienstes und kleideten die dazu Bestimmten
neu ein. Dann entzündeten sie das Opferfeuer und räucherten aus
goldener Schale mit goldenen Löffeln. Und sie nahmen die große
Schaufelpfeife, die hunderttonige, und ließen alle hundert Töne
zugleich erklingen. Wenn dieses gewaltige Gedröhn erklang, das
jedes Geräusch in Jerusalem übertönte, dann wußten alle, jetzt wird
das Opfer dargebracht, und sie warfen sich nieder.
Man reichte dem Ausgelosten den
Wein. Doktor Nittai erstieg das eine Horn des Altars, stand
wartend, mit einem Tuch. Die dazu Bestimmten warfen die Teile des
Opfers ins Feuer. Sowie sich der Priester zum Ausgießen des Weines
bückte, gab Doktor Nittai sein Zeichen, schwenkte das Tuch. Und
während die Rauchsäule stieg, stimmten die Leviten auf den Stufen
des Heiligen Raumes den Psalm an, und die Priester auf den Rampen
des Altars sprachen den Segen über das niedergeworfene
Volk.
So opferten an diesem 6. August die ausgelosten Priester der Achten Reihe,
der Reihe Abija, mit allem Prunk und die vielen hundert
Vorschriften strenge innehaltend. Diese Erschöpften, darauf
gerüstet, heute oder morgen zu sterben, sahen nicht, daß die
Lämmerhalle und der Altar des Herrn leer waren. Der Glaube Doktor
Nittais war in ihnen. Dieser Glaube machte, daß sie das Lamm sahen.
Sie brachten es dar, und dieses Opfer war der Sinn und Gipfel ihres
Lebens. Nur dazu holten sie mit soviel Mühe Luft in ihre Lungen und
stießen sie wieder aus, nur das noch schied sie vom Tode.
Als man Titus berichtete, daß die Juden ihrem
Gott die letzten Lämmer weggefressen hatten, war er überaus
betroffen. Das waren Unheimliche, Irrsinnige, von den Göttern
Geschlagene. Warum beraubten diese Unbegreiflichen, die doch keinen
Schutz hatten außer Jahve, Jahves Altar?
Wie immer, jetzt waren die
Belagerten am Ende. Es war eine große Versuchung, jetzt einen Sturm
auf die erschöpfte Stadt anzusetzen. Die Armee, nach der langen,
zermürbenden Belagerung, lechzte danach. Es war auch der kürzeste
und sicherste Weg zum Triumph. Sein Vater hatte keine Ursache mehr,
die Fiktion, es handle sich um eine polizeiliche Maßnahme,
aufrechtzuhalten. Er sitzt in Rom fest genug, auch wenn er den
Feldzug nicht selber beendet hat. Wenn Titus jetzt die Stadt
stürmt, kann ihm Rom den Triumph nicht wohl verweigern.
Der Prinz hat eine schlechte
Nacht, voll von Zweifeln. Ein Triumph ist eine gute Sache. Aber hat
er nicht Berenike, hat er nicht sich selber zugeschworen, seinen
Zorn gegen die Aufständischen nicht am Tempel auszutoben? Er hat
mit der Anwendung von Gewalt bei Berenike keine guten Erfahrungen
gemacht. Wenn er das da schont, wenn er wartet, bis das da sich ihm
ergibt, hat er dann nicht ausgelöscht, was er an der Frau getan
hat?
Er betraute den Josef damit,
nochmals, ein letztes Mal, Verhandlungen anzubahnen. Er gab ihm ein
Angebot mit, das weit über alle bisherigen Konzessionen
hinausging.
Josefs Herz schlug töricht hoch.
Er neigte sich tief vor Titus, nach jüdischer Sitte, die Hand an
der Stirn. Was der Römer gab, war ein großes Geschenk, dargereicht
von einer starken Hand, die es wahrlich nicht notwendig hatte zu
schenken, die ihren Willen erzwingen konnte. Er muß die in der
Stadt dazu bringen, daß sie das erkennen. Jetzt hat es trotz allem
Sinn bekommen, daß er hier bei den Römern vor Jerusalem ist und
nicht innerhalb der Mauern wie jener Justus.
Zur festgesetzten Stunde begab er
sich unmittelbar vor die Mauer, allein, schlicht angezogen, ohne
Waffen, ohne priesterliches Abzeichen. So stand er zwischen den
Belagerern und den Belagerten, ein kleiner Mensch auf dem kahlen
Boden vor der Ungeheuern Mauer, und vor ihm die Mauer war
dichtbesetzt mit Juden, und hinter ihm die Blockademauer war
dichtbesetzt mit Römern. Hitze war, Gestank, beklemmendes
Schweigen, daß er nur sein Blut hörte. In seinem Rücken spürte er
den kalten, spöttischen Blick des Tiber Alexander, vor sich sah er
die haßerfüllten Augen des Simon Bar Giora, die wilden seines
Jugendkameraden Amram, die verachtungsvollen des Johann. Er war am
ganzen Leibe kalt in der heißen Sonne.
Er begann zu sprechen. Zuerst
klangen ihm seine Worte hohl und fremd, aber dann kam es über ihn,
und er redete schlicht, heiß und gerade wie nie in seinem Leben.
Die Römer, bot er an, werden im Fall der Übergabe die Bewaffneten
zwar gefangensetzen, aber keinen am Leben büßen. Die Römer, bot er
an, werden noch heute Opfertiere für den Tempel durchlassen,
vorausgesetzt, daß man auch das für Jahve bestimmte Opfer des
Kaisers, des Volkes und Senats von Rom annimmt und darbringt wie
früher.
Die auf der Mauer hatten Josef
düster und voll Trauer kommen sehen. Jetzt schauten selbst unter
den Makkabi-Leuten viele begierig auf Simon und Johann. Dies war
wirklich ein großes, mildes Angebot, und in ihrem Herzen hofften
sie, die Führer würden es annehmen.
Allein die dachten nicht daran.
Wenn sie sich ergeben, was werden sie dann für ein Leben haben, im
Triumph aufgeführt zuerst, dann als Leibeigene in irgendein
Bergwerk verschickt? Und selbst wenn die Römer sie freilassen,
konnten sie unter Juden weiterleben nach allem, was geschehen war?
Sie werden, nachdem ihr Krieg mißglückt ist, auf Lebenszeit unter
den Juden verfemt sein. Und es waren nicht nur solche Erwägungen;
es waren tiefere Gründe. Sie waren so weit gegangen, sie hatten
bewirkt, daß jetzt das Land dem Erdboden gleichgemacht war und der
Tempel ein Totenacker und eine Blutfestung, sie hatten die Lämmer
Jahves gefressen, und nun wollten sie ihren Weg zu Ende
gehen.
Ohne also erst zu wissen, was die
Römer anbieten würden, hatten sie ihre Erwiderung vorbereitet. Sie
spuckten nicht aus, als Josef mit seiner Rede zu Ende war,
schüttelten nicht den Staub von ihren Kleidern und Schuhen, dachten
auch gar nicht daran, eine lange Antwort voll Zorn und Verachtung
zu geben. Nein, sie öffneten nur die kleine Ausfallpforte neben dem
Tor: und heraus kam quiekend und grunzend ein Schwein. Ja, sie
hatten den Römern ein paar Schweine abgejagt, und davon eines
ließen sie jetzt auf Josef los.
Josef erblaßte. Das Schwein kam
auf ihn zu, grunzend, schnuffelnd, und die auf der Mauer lachten.
Und dann, im Sprechchor und auf lateinisch, es war nicht leicht für
die erschöpften Männer, sie mußten es lange geübt haben, riefen
sie: »Ist dir eine Vorhaut gewachsen, Flavius Josephus?« Sie
lachten, und die Römer, sie konnten sich nicht helfen, lachten mit.
Da hatten diese höllischen Juden wirklich einen verdammt guten Spaß
gemacht. Josef aber stand allein zwischen den beiden Lagern mit
seinem Schwein, im Angesicht des geschändeten, mit Geschützen
gespickten Tempels, und schallend verlachten ihn Juden und
Römer.
In diesen Augenblicken, die lang
waren wie Jahre, büßte Josef allen Hochmut seines Lebens. »Ihr
Doktor Josef ist ein Lump«, hatte einmal einer gesagt mit einem
gelben Gesicht, in Meron hatten sie Gras gesät über den Weg, auf
dem er gekommen war, andere hatten sieben Schritte Abstand von ihm
gehalten wie vor einem Aussätzigen, unter Posaunen war der Bann
über ihn ausgesprochen worden, in Alexandrien war er in Stricken
gelegen unter der Geißel. Aber was war das alles vor diesen
Augenblicken? Er war reinen Herzens gekommen, er wollte die Stadt
retten, Männer, Frauen, Kinder und das Haus Jahves. Sie aber
schickten ihm ein Schwein. Er wußte wohl, er mußte jetzt gehen,
aber er zögerte. Die Mauer hielt ihn fest. Er mußte viel Willen
aufbieten, um zu gehen. Er setzte einen Fuß hinter den andern, er
ging rückwärts, den Blick immer auf den Mauern. Eine große Kälte
fiel ihn an, alles war von ihm abgeblättert, Schmerz und Hochmut.
Er gehörte nicht zu den Römern und nicht zu den Juden, die Erde war
wüst und leer wie vor der Schöpfung, er war allein, um ihn war
nichts als Hohn und Gelächter.
Titus, als die Juden dem Josef
das Schwein zutrieben, lachte nicht. Eigentlich, dachte er, kann
ich zufrieden sein. Ich habe mich überwunden. Ich habe gutmachen
wollen, was diese Irrsinnigen ihrem Gott angetan haben; jetzt stehe
ich besser mit diesem Jahve als meine Feinde. Aber diese Erwägung
hielt nicht lange vor. Er schaute hin zu dem Bewußten, zu dem Weiß
und Goldenen. Erschreckend überkam ihn plötzlich die Lust, das da
unter seine Füße zu treten, das Störende, Verwirrende. Sie selber
haben es geschändet, er wird es vollends in den Dreck schmeißen,
das da, das Höhnische, Hohe, mit seiner verdammten Reinheit. In
seinem Hirn reißt es, wie er es von seinen Soldaten gehört hat, im
Takt, wüst, wild: Hep, Hep, und bei jedem Hep kracht ein Schädel
ein und stürzt ein Stück Haus.
Gleich darauf erschrak er. Er
wollte das alles nicht gedacht haben. Nein, es war durchaus nicht
seine Absicht, mit diesem Jahve anzubinden. Das überließ er den
Herren jenseits der Mauer.
Eine dunkle Trauer packte ihn,
eine wütende Sehnsucht nach der Jüdin. Hilflos zornig stand er vor
dem Fanatismus der Juden, vor ihrer Verblendung. Berenike ist eine
von diesen, unbegreiflich wie sie, niemals wird er sie wirklich
besitzen.
Er ging zu Josef. Der lag auf
seinem Bett, zu Tode erschöpft, überdeckt von kaltem Schweiß trotz
der Hitze des Sommertags. Er wollte sich erheben. »Liege, liege«,
bat Titus, »aber sprich zu mir. Vielleicht macht mich der Zorn über
diese Menschen blind. Erkläre du mir, mein Jude: was wollen sie?
Ihren Zweck können sie nicht mehr erreichen: warum also wollen sie
lieber sterben als leben? Sie können das Haus erhalten, für das sie
kämpfen: warum wollen sie, daß es niederbrennt? Verstehst du das,
mein Jude?« – »Ich verstehe es«, sagte Josef, unendlich müde, und
sein Gesicht hatte den gleichen trauervollen Ausdruck wie die
Gesichter derer auf der Mauer. »Bist du unser Feind, mein Jude?«
fragte Titus, sehr zart. »Nein, mein Prinz«, sagte Josef. »Gehörst
du zu denen jenseits der Mauer?« fragte Titus. Josef zog sich in
sich zusammen, peinvoll, schwieg. »Gehörst du zu denen jenseits der
Mauer?« wiederholte dringlicher Titus. »Ja, mein Prinz«, sagte
Josef. Titus sah ihn an, ohne Haß, aber niemals waren sich die
beiden fremder gewesen. Titus ging hinaus, immer das Aug auf dem
Juden, kummervoll vor Nachdenken.
In ihrem stillen, schönen Haus in Tiberias, auf
der Höhe über dem See, versuchte Berenike ihrem Bruder Agrippa zu
erzählen, was sich im Lager ereignet hatte. Agrippa, als er sie
zerstört und zerrüttet ankommen sah, hatte nicht gefragt. Jetzt
berichtete sie um so offener. Verachtete sie den Titus um seiner
Roheit willen? Nein. Das eben war das Schlimme, daß sie gegen seine
Barbarei keinen Haß mehr aufbrachte. Durch das hämische,
verkniffene Knabenantlitz, das er ihr zuletzt gezeigt hatte, sah
sie das starke, zielgewisse Soldatengesicht. Es half nichts, daß
sie sich vor ihrem Bruder, vor sich selber lustig machte über seine
harte Pedanterie, über sein albernes Stenographieren. In seinem
stinkenden Lager, in der zerstampften Ödnis um Jerusalem war Titus
ein Mann, der Mann.
Agrippa verstand gut die
mühevollen Erklärungen seiner Schwester. Riß etwa dieser bittere
Krieg an seinen eigenen Nerven weniger? Er hatte den Römern sein
Kontingent zugeführt, war aber dann sogleich in sein
transjordanisches Königreich zurückgekehrt und wollte von den
Vorgängen im Lager so wenig hören wie möglich. Sein schönes Palais
in Tiberias, seine Bilder, Bücher, Statuen waren ihm vergällt. »Du
hast es leichter, Schwester«, sagte er, ein kleines, trübes Lächeln
auf dem schönen, etwas zu fleischigen Gesicht. »Hänge du dein Herz
an Judäa, an das Land und an seinen Geist, und schlafe mit deinem
Römer: und du hast für dich das Problem gelöst. Liebe ihn, Nikion,
deinen Titus. Ich beneide ihn, aber ich darf dir nicht abraten. Was
aber bleibt mir, Nikion? Ich begreife beide, die Juden und die
Römer. Allein wie soll ich beide halten? Wenn ich sein könnte wie
die in Jerusalem, wenn ich sein könnte wie die Römer. Ich sehe den
Fanatismus der einen, das Barbarische der andern, aber ich komme
nicht los, ich kann mich nicht entscheiden.«
Berenike, in der Stille von
Tiberias, lauschte gespannt allen Nachrichten aus dem Lager vor
Jerusalem. Zuerst war noch in ihren Augen die Ödnis, in die die
schimmernde Umgebung der Stadt sich verwandelt hatte, in ihren
Nasenlöchern der Gestank des Lagers, in ihren Ohren das Heulen des
Getiers, das auf Aas wartete. Allmählich aber verlor diese
Erinnerung ihren Ekel, und die Tollheit des Krieges begann die Frau
anzustecken. Krieg, das war Blut und Feuer, ein großes Schauspiel,
Krieg roch lieblich, Krieg, das waren wildfromme Männergesichter,
brünstig nach einem schnellen, beseligenden Sterben. Immer heftiger
aus der nachdenklichen Schönheit von Tiberias sehnte sie sich nach
dem großen, pathetischen Getümmel des Lagers. Warum schwieg der
Mann? Warum schrieb er ihr nicht? Hatte ihr Leib ihm mißfallen?
Alle Wut und Scham richtete sie gegen sich selber, nicht gegen den
Mann.
Als Nachricht kam, es sei nun
soweit, die Entscheidung über das Schicksal des Tempels stehe
unmittelbar bevor, schon habe sich ein Kabinettsrat des Kaisers
damit befaßt, hielt sie sich nicht länger. Jetzt hatte sie Grund
genug, ins Lager zurückzukehren.
In dem Prinzen stieg ein großes
Triumphgefühl hoch, als sie sich anmeldete. Seitdem die Frau von
ihm geflohen war, hatte er zwei schwer erträgliche Monate
verbracht, in dem heißen, stinkenden Sommer mit mühsam gezähmten
Nerven auf das Ende der Stadt lauernd. Er hat durch heftige Arbeit
seine Unrast zu betäuben gesucht, er ist auch vorangekommen, er hat
den Krieg bis unmittelbar an den Tempel herangetragen, und wo
ehemals das Fort Antonia stand, steht jetzt sein dreigeteiltes
Zelt, Arbeitsraum, Schlafraum, Eßraum. Das Bild der Berenike
versagt er sich nicht länger. Beängstigend lebendig, wie alles, was
Fabull gemacht hat, steht es in seinem Arbeitszimmer. Oft schaut er
in die braungoldenen, langen Augen der Frau. Wie konnte er auf die
irrsinnige Idee kommen, sie zu nehmen wie eine spanische Hure? Das
ist eine fremde Frau, ja, sehr hoch und fremd. Er brennt nach ihr
wie am ersten Tag.
Er suchte seine Aufzeichnungen
vor, Worte von ihr, die er mitstenographiert hatte, verglich sie,
wog sie ab. Stand lange Zeit betrachtsam vor dem Bild, voll von
Zweifeln. Bezwang sich, unternahm nichts, wartete.
Nun also kam sie von selbst. Er
ritt ihr weit vors Lager entgegen. Berenike war sanft, ohne
Vorwurf, mädchenhaft. Die fahle Landschaft um Jerusalem, das Volk
der Gekreuzigten, die Raubvögel, die verwilderten, gefährlichen
Mienen der Soldaten, dieses Ge Hinnom, diese Totenlandschaft
schreckte sie nicht. Denn festen Schrittes durch diesen Hades ging
der Prinz, der Mann, und da sie an seiner Seite war, zog eine große
Ruhe in sie.
Sie lagen zusammen beim
Abendessen. Er erzählte ihr von seinen Jungen, seinen Soldaten.
Diese Juden machten es einem verdammt schwer. Sie waren fanatisch,
toll wie angeschossene Wildsäue. Sie riskierten ihr Leben um einen
Sack mit Weizen. Ersannen immer neue, harte Tricks. Da hatten sie
etwa das Dach der Verbindungshalle zwischen dem Fort Antonia und
dem Tempelbezirk mit Erdharz, trockenem Holz und Pech gefüllt, die
Römer daraufgelockt und sie gebraten wie Fische. Aber auch mit
seinen Jungens war nicht zu spaßen. Der Prinz erzählte, als ob es
nicht um Verlust oder Gewinn, sondern um guten Sport ginge. Er
selber schont sich nicht, wenn es darauf ankommt, er springt mitten
ins Getümmel, er ist zweimal verwundet worden, sein Pferd haben sie
ihm unterm Leib erstochen, seine Offiziere reden immer auf ihn ein,
er, der Feldherr, möge die gemeine Kampfarbeit dem gemeinen Mann
überlassen.
Titus erzählte, beflissen, gut
gelaunt, kaum darauf achtend, ob sie zuhöre. Plötzlich gewahrte er,
wie sie ihn anschaute. Das waren nicht die Augen des Bildes. Wie
sie sich an ihn hängten, wie sie sich verschleierten, das war ihm
an Frauen nicht fremd. Leise, während er sprach, mit einer
Bewegung, die nahm und doch zart war, schloß er Berenike ein mit
beiden Armen. Sie glitt ihm zu, er sprach den angefangenen Satz
nicht zu Ende, mitten in seinen Erzählungen sanken sie hin und
mischten sich.
Still dann lag sie, mit
geschlossenen Augen, lächelnd. Titus preßte den breiten Bauernkopf,
der jetzt frisch und jungenhaft aussah, an ihre Brust, bohrte ihn
in ihren Leib. »Ich weiß«, sagte er und machte seine harte
Kommandostimme schmiegsam, »ich weiß, du bist nicht um meinetwillen
gekommen. Aber laß mich glauben, du seist es. Süße, Herrliche,
Königin, Geliebte. Es ist wahrscheinlich um deines Tempels willen,
daß du gekommen bist. Gesegnet sei dein Tempel, weil du kamst. Es
war fest in meinem Plan, daß er stehenbleiben soll. Süße, und wenn
ich zehntausend Männer mehr daransetzen müßte, er wird
stehenbleiben. Es ist dein Tempel. Er ist der Rahmen für dich, und
zehntausend Mann ist kein Preis dafür. Auch das Haus deiner Mütter
werde ich neu aufbauen. Du sollst die Stufen hinaufschreiten,
Nikion, mit deinem Schritt, der mich selig macht, und hinter dir
soll dein Tempel sein.«
Berenike lag mit geschlossenen
Augen, lächelnd. Sie trank seine Worte ein. Ganz leise sagte sie:
»Mann, Kind, Janik, Janiki. Ich bin deinethalb gekommen,
Janiki.«
Am 21. August, dem 1. Ab jüdischer Rechnung,
begann der »Harte Julius« gegen die äußere Umfassungsmauer des
Tempelbezirks zu arbeiten. Er arbeitete sechs Tage ununterbrochen,
andere Maschinen wurden angesetzt, am 27. August arbeiteten alle
Maschinen gleichzeitig. Ohne Erfolg. Man versuchte es mit der
direkten Attacke, legte Leitern an, ließ zwei Kohorten in
Schildkrötenform an den Leitern antreten. Die Juden stürzten die
mit Bewaffneten dichtbesetzten Leitern von oben her um. Einige
Legionäre, der Träger eines Feldzeichens darunter, gelangten bis
auf die Mauer, aber hier wurden sie niedergemacht, und die Juden
bemächtigten sich des Feldzeichens.
Titus ließ Feuer an die Tore
legen. Die äußeren Kolonnaden, beruhigte er sich und Berenike,
seien noch nicht der Tempel. Man legte also Feuer an die Tore, das
überall schmelzende Silber öffnete den Flammen den Weg zu dem
hölzernen Gebälk. Den ganzen Tag und die folgende Nacht hindurch
wütete das Feuer. Dann waren die nördlichen und westlichen
Säulenhallen des Tempelbezirks vernichtet, und nun stand man vor
dem hohen Tempelhaus selbst.
Am 28. August, dem 8. Ab
jüdischer Rechnung, während die römischen Löschkommandos
arbeiteten, um durch Schutt, Asche, Glut und Niederbruch einen Weg
unmittelbar bis an das Tempelhaus zu führen, berief Titus einen
Kriegsrat ein. Es sollte entschieden werden, wie gegen das
Tempelhaus vorzugehen sei.
An dem Kriegsrat nahmen teil der
Marschall Tiber Alexander, dazu die kommandierenden Generäle der
vier Legionen, Cerealis von der Fünften, Lepid von der Zehnten,
Litern von der Zwölften, Phryg von der Fünfzehnten und Marcanton
Julian, der Gouverneur von Judäa. Als Sekretär zog Titus den Josef
bei.
Titus ließ zunächst einen Brief
des Kaisers verlesen. Berenike war recht berichtet, der Kaiser
hatte eine Kabinettsitzung einberufen, um die Meinung seiner Herren
über den Fortbestand des Tempels einzuholen. Einige der Minister
waren der Meinung gewesen, man solle das Bollwerk der Meuterei,
dieses Zentrum und Symbol aufsässigen jüdischen Nationalstolzes,
dem Erdboden gleichmachen. Nur so könne man ein für allemal den
Juden ihren Sammelpunkt nehmen. Andere waren der Ansicht, man führe
Krieg gegen Menschen, nicht gegen leblose Dinge, und das
Kulturprestige Roms verlange, daß ein so hochherrliches Bauwerk
geschont werde. Der Kaiser selber, endete der Brief, sei zum Schluß
gekommen, dem Feldherrn zu empfehlen, den Bau wenn möglich zu
erhalten.
Die Herren hörten den Brief ernst
an, mit gesammelten Gesichtern. Sie wußten, es ging um den Triumph.
Wurde der Tempel gestürmt, dann war dies der glorreiche Abschluß
eines Feldzugs, dann konnte niemand mehr von Strafexpedition
fabeln, dann mußte der Senat den Triumph bewilligen. Lokkend vor
ihnen stand der Glanz und Rausch eines solchen Triumphtages,
Lebenshöhe für alle, die als Sieger in dem Zug mitschritten. Aber
davon durfte nicht gesprochen werden, von den Interessen der Armee
durfte hier so wenig gesprochen werden wie im Kronrat des
Kaisers.
Sie konnten sich gut vorstellen,
wie dieser Kronrat verlaufen war. Der dicke Junius Thrax mochte mit
einigen geruhsamen Worten für die Schonung des Tempels eingetreten
sein; auch der fette Claudius Regin mochte ein paar vage,
vermittelnde Worte geäußert haben. Um so schärfer sicherlich war
der Minister Talaß für die Zerstörung des Tempels eingetreten.
Schließlich war dann dieses Kompromiß herausgekommen, dieses »wenn
möglich«, dieser Brief, der die Verantwortung für alles, was
geschah und nicht geschah, der Armee zuschob. Je nun, die Armee
kann die Verantwortung tragen. Die Armee will ihren Triumph, die
Stimmung der Truppen, die sich wild danach sehnten, das da, das
Bewußte mit den Stiefeln zu zertreten, diese Stimmung hatte sich
auch vieler Führer bemächtigt. Hep, Hep, riß es auch an ihnen. »Den
Bau wenn möglich zu erhalten«, das war von Rom aus leicht gesagt.
Wo beginnt das »möglich«, und wo hört es auf?
Als erster sprach der Marschall
Tiber Alexander. Er weiß, die andern wollen ihren römischen
Triumph: er will vernünftige Unterwerfung des Landes. Er sprach
kurz und verbindlich wie stets. Die Erhaltung des Bauwerks werde
Opfer kosten. Aber zehntausend Soldaten ließen sich ersetzen, der
Tempel sei einmalig und lasse sich nicht ersetzen. Mit
hunderttausend Mann gegen jetzt etwa fünfzehntausend innerhalb der
Mauern müsse man fertig werden. Es sei möglich, das Bauwerk zu
schonen.
Der General Phryg von der
Fünfzehnten Legion, unterstützt durch beifällige Zurufe des
Generals Litern, widersprach. Gewiß sei es möglich, den Tempel
unter Preisgabe von schätzungsweise zehntausend römischen
Legionären dem Reich und der Welt zu erhalten. Aber er glaube
nicht, daß der Kaiser, ein Soldatenfreund, die Grenzen des
Möglichen so weit habe stecken wollen. Schon seien viele Tausende
durch die unfaire Kriegführung der Juden jämmerlich umgekommen,
zerschunden, geröstet. Man dürfe nicht weitere Tausende
daransetzen. Die Soldaten lechzten danach, das da niederzubrennen,
sein Gold herauszuholen. Versage man ihnen diese billige Rache,
dann werde man in der Armee eine berechtigte Mißstimmung
erzeugen.
Tiber Alexander, während der
General Litern lärmend zustimmte, lächelte verbindlich wie stets.
Dieser Phryg, das war so recht der Typ des Offiziers, der ihm
verhaßt war, stur, kraftprotzig. So was wie dieser General, das
will seinen Triumph haben, sonst nichts. So was wie dieser General
wird ein Bauwerk, das der Geist von Jahrhunderten geschaffen hat,
niemals begreifen. So was stampft mit seinen Soldatenstiefeln
darüber weg, seinem Triumph zu, und macht nicht den kleinsten
Umweg.
Aber schon sprach Marcanton
Julian, der Gouverneur der Provinz Judäa. Er war Beamter, ihn
kümmerte nur sein Ressort, die zukünftige Verwaltung der Provinz.
Er wollte keine Verantwortung weiter haben. Er zweifle nicht,
führte er aus, daß die Armee jetzt auch bei Schonung des Tempels
den Aufstand niedertreten werde. Aber das sei eine Lösung nur auf
kurze Zeit, nicht auf die Dauer. Niemand könne den Kunstwert des
Baus aufrichtiger bewundern als er. Allein die Juden hätten nun
einmal den Tempel zur Festung gemacht, und eine Festung werde er
bleiben auch nach Niederringung des Aufstands. Wann aber jemals
habe Rom in unterworfenen Gebieten Festungen der Aufständischen
stehenlassen? Man müsse den Tempel schleifen, wenn man nicht wolle,
daß die Juden, gleich nachdem man einen Teil der Truppen
zurückziehe, an neue Empörung dächten. Schone man den Bau, so werde
dieses unruhige, überhebliche Volk das bestimmt nicht als Zeichen
der Milde, sondern der Schwäche auffassen. Er, als Gouverneur
Judäas und Rom verantwortlich für Ruhe und Ordnung in dieser
schwierigen Provinz, müsse dringend darum bitten, daß man den
Tempel dem Erdboden gleichmache. Es sei nicht möglich, ihn zu
schonen.
Titus hörte sich alles mit an;
manchmal stenographierte er mit, ein wenig mechanisch. Er begriff
gut den Wunsch der Soldaten und den Wunsch der Generäle. Brennt er
nicht selber nach dem Triumph?
Allein dieser Jahve ist ein
gefährlicher Gegner. Schon die Hartnäckigkeit, mit der dieses Volk
ihn verteidigt, beweist, daß er bei aller Lächerlichkeit kein
kleiner und zu verachtender Gott ist. »Wenn möglich.« Er seufzt,
unhörbar. Er wünschte, Vespasians Brief wäre klarer.
Mittlerweile hatten alle Herren
ihre Meinung abgegeben. Es zeigte sich, daß drei Stimmen für die
Erhaltung des Tempels, drei für seine Zerstörung waren. Gespannt
wartete man auf die Entscheidung des Prinzen. Selbst der
beherrschte Tiber Alexander konnte ein kleines, nervöses Zucken
nicht verhindern.
Josef kratzte nervös mit dem
Schreibgriffel auf die Tischplatte. Er achtete scharf auf jedes
Wort, das gesprochen wurde, er schrieb schlecht mit, aber er hatte
ein zuverlässiges Gedächtnis. Die Gründe, die die Soldaten
vorbrachten, waren keine schlechten Gründe. Und noch ein besserer
stand dahinter: der Wunsch eines römischen Triumphes. Titus hat
ihm, der Berenike, sich selber zugesagt, er werde den Tempel
schonen. Aber Titus ist Soldat. Des Soldaten höchstes Ziel ist ein
Triumph in Rom. Wird er standhalten? Wird er einen Triumph in Rom
gefährden, um Jahves Haus zu erhalten?
Titus überlegt. Aber es sind
nicht Gründe und Gegengründe. Dieser Jahve, denkt er, ist ein sehr
listiger Gott. Wahrschein lich ist er es, der mir dieses störende
Gefühl für die Frau in die Brust gelegt hat. Sie hat sich mir
gegeben, ich kenne sie: wahrscheinlich ist es dieser Jahve, der
nicht zuläßt, daß mein Durst aufhört. Wie wird mein Vater grinsen,
wenn er hört, daß ich den Tempel verbrannt habe. »Na, Cänis, alter
Hafen«, wird er sagen, »er hat’s nicht lassen können. Bewilligen
wir ihm seinen Triumph.«
Eine Viertelminute Schweigen ist
vergangen. »Ich schließe mich«, sagt Titus, »der Meinung derer an,
die es für möglich erachten, den Tempel zu schonen. Ich denke,
römische Legionen werden Manneszucht halten, auch wenn ihnen ein
Befehl einmal nicht zusagt. Ich danke Ihnen, meine
Herren.«
Vor dem Zelt des Titus versammelten sich wie
jeden Abend nach altem Lagerbrauch die Musikkorps, um die Retraite
zu blasen, die Fanfare, das Symbol der höchsten Feldherrngewalt.
Titus stand im Eingang des Zeltes. Die Fanfare abzunehmen war ihm
immer eine besondere Freude. Die Spielleute, es waren ihrer an
zweihundert, nahmen Aufstellung. Das Zeichen kam. Und dann ging es
los, unlieblich, aber machtvoll, das Dröhnen der Pauken, das
Pfeifen und Heulen der Hörner und Flöten, das Schmettern der
Trompeten, das Gellen und Schrillen der Reiterzinken, und Titus
erfreute sein Herz an der bunten, lustigen Schar und an ihrem
ehrenvollen Lärm.
Dann zogen sie ab. Und jetzt kam
etwas Gewichtigeres, die Ausgabe der Parole und des Tagesbefehls.
Das vollzog sich umständlich, feierlich. Abwechselnd täglich
schickte jede der vier Legionen ihren Ersten Zenturio, daß der vom
Feldherrn Tagesbefehl und Parole entgegennehme und, ebenso
umständlich und feierlich, weitergebe.
Titus war nicht angenehm
überrascht, als sich am Abend dieses 28. August als
Befehlsempfänger der Hauptmann Pedan einstellte, der Erste Zenturio
der Fünften Legion. Es war der seit langer Zeit wichtigste Befehl,
und der Prinz hatte ihn dreimal geändert. Er überreichte dem Manne
das Täfelchen. Der Hauptmann Pedan nahm es in seine breiten,
kurzen, schmutzigen Hände. Er las: »Parole: Geh unter, Judäa.
Befehl: Im Lauf des 29. August sind die Lösch- und Aufräumarbeiten
an der Nord- und Westseite des Tempels unter allen Umständen
dergestalt zu Ende zu führen, daß für den frühen Morgen des 30.
August das Gelände für den Angriff bereit ist. Belästigt der Gegner
die Lösch- und Aufräumekommandos, so ist er mit Energie abzuweisen,
doch unter Schonung der Baulichkeiten, soweit sie zum eigentlichen
Tempelhaus gehören.
Der Hauptmann Pedan las den
Befehl vorschriftsmäßig mit lauter Stimme. Der Erste Zenturio der
Fünften hatte einen raschen Verstand, er hatte den Befehl mit
seinem einen sehenden Auge und mit seinem listigen Hirn längst
erfaßt, ehe seine quäkende Stimme dem Auge nachkam. Langsam also
sprach er das Gelesene. Fleischig, mit nacktem, rosigem Gesicht,
gewaltigen Schultern, mächtigem Nacken stand er vor dem Feldherrn.
Langsam aus seinem breiten Mund kamen die Worte des Befehls. Die
Worte: so ist der Gegner mit Energie abzuweisen, kamen sehr
deutlich und mit Nachdruck, die Schlußworte: doch unter Schonung
der Baulichkeiten, sprach der Hauptmann nicht etwa schneller,
trotzdem klangen sie hingeworfen, nebensächlich. Er richtete,
während er las, die Augen, das lebendige wie das tote, mehr auf den
Feldherrn als auf das Täfelchen, forschend, zögernd, als läse er
nicht richtig. Wieder, unter diesen Augen, spürte Titus vor dem
lärmenden, plumpen Menschen den gleichen Widerwillen wie schon oft
und die gleiche starke Lockung, die gleiche tolle Lust, die er bei
den Worten der Generäle gespürt hatte, die Feuerbrände
weiterzutragen, sie hineinzuschmeißen in das da, in das Bewußte.
Ein kleines Schweigen war. Der Hauptmann schaute ihn immer noch an,
ungläubig, wartend. Ja, kein Zweifel, er wartete. Du hast ganz
recht, mein Pedan, aber die andern haben auch recht. Tut, was ihr
wollt. Immer schiebt einer dem andern die Verantwortung zu. Alle
wollen es tun, aber keiner will es gewesen sein. Du bist ein Mann,
mein Pedan: tu du es. So vielleicht spürte Titus, während der
Hauptmann Pedan dastand und wartete. Es wurde nicht Gedanke, und
schon gar nicht wurde es Wort, Titus hütete sich. Nichts trat
zutage als ein kleines, unmerkliches Lächeln. Allein der Erste
Zenturio der Fünften merkte das Lächeln. Sagte er etwas? Dem
Feldherrn war, als habe er etwas gesagt. Es hatte geklungen wie
Hep, Hep. Aber das war natürlich unmöglich. Der Hauptmann Pedan
nahm das Täfelchen, steckte es vorschriftsmäßig ein, grüßte, den
Arm mit der flachen Hand ausgestreckt. Der Feldherr sagte: »Danke.«
Der Hauptmann Pedan entfernte sich, und es war nichts
gewesen.
In dieser Nacht schlief Titus mit
Berenike. Er schlief unruhig, und Berenike hörte ihn sagen: gib mir
das Täfelchen.
Der Hauptmann Pedan mittlerweile ging zurück
nach seinem Zelt. Er hatte die Worte des Befehls genau im Kopf,
trotzdem zog er das Täfelchen nochmals heraus, überlas es. Machte
den breiten Mund noch breiter, war vergnügt. Gewiß, die Hitze des
Landes, die scheußlichen Mücken, die sein blondes, rosiges Fleisch
besonders liebten, die aufreibende Langeweile der Belagerung, das
alles war zuwider, und der Träger des Graskranzes, der Liebling der
Armee, hätte sich das sparen können. Er war im vorigen Jahr, als
hier die Kriegshandlungen stockten, mit einem Detachement des
Mucian nach Italien gegangen, um dort an dem Feldzug gegen Vitell
teilzunehmen. Er hätte dort bleiben, hätte in die Garde eintreten,
sich zum Oberst, zum General befördern lassen können. Jetzt, dieses
Täfelchen in der Hand, bereute er es nicht, daß er als Erster
Zenturio zu seiner Fünften zurückgekehrt war, vor dieses lausige
Jerusalem und in diese verdammte Belagerung.
Pedan war Soldat. Er hatte vom
Stiefel auf gedient. Er liebte es, dick und grob zu essen, zu
huren, herumzusaufen, saftige Lieder zu grölen. Er hatte Stechen,
Schießen, Fechten gelernt, war, der fleischige Mann, unheimlich
gewandt und kräftig. Er war sehr einverstanden mit sich selber. Oft
spiegelte er sein Gesicht, nicht nur in dem kostbaren Goldspiegel,
den er auf allen Kriegszügen mitführte, sondern auch an jedem
Wasser, an dem er vorbeikam, oder in seinem Schild. Sein Gesicht
gefiel ihm. Als er sein Auge einbüßte, hatte er, um sich das neue
Auge anfertigen zu lassen, den besten jener Spezialisten bestellt,
die den Statuen Augen einfügten. Jetzt erst recht gefiel ihm sein
Gesicht, und er bereute es nicht, daß er das Auge verloren hatte.
Er liebte die Gefahr. Auch liebte er Beute. Er hatte aus seinem
Beuteanteil, aus den Gratifikationen für besondere Leistungen und
aus geschickten Lagergeschäften ein ansehnliches Vermögen
zusammengerafft, das bei einem Bankier in Verona in guter Hut lag
und sich dick verzinste. Einmal, alt, zahnlos, wird er sich nach
diesem Verona zurückziehen, wird, der Träger des Graskranzes, der
Liebling der Armee, eine große Rolle spielen, wird die Stadt tanzen
lassen nach seinem Willen.
Vorläufig allerdings hat er
Besseres zu tun. Da ist zum Beispiel dieser kuriose Befehl. Ein
überaus erfreulicher Befehl, den im Grunde nur er richtig versteht
und mit dem nur er umzugehen weiß. Dieser kuriose Befehl allein
schon lohnt es, daß er aus dem üppigen Italien zu seiner Fünften
zurückkehrte. Denn der Erste Zenturio der Fünften, gemeinhin
Menschen gegenüber sehr gleichgültig, den Gegner sportlich
niederhauend ohne weiteres Interesse an seiner Person, dieser
Hauptmann Pedan hat einen großen Haß: die
Juden.
Alles an diesen Leuten, ihre
Sprache, ihre Sitten, ihr Glaube, ihr Atem, ihre Luft, ärgert ihn.
Auch die andern östlichen Menschen sind faule, stinkende Barbaren
mit abgeschmackten Bräuchen. Aber diese Juden, ist es zu glauben,
lieben so den Müßiggang, daß sie durch kein Mittel, auch durch den
Tod nicht, dahin zu bringen sind, an ihrem siebenten Tag irgend
etwas zu tun. Sie haben sogar einen Fluß in ihrem Land, den
Sabbatfluß, der am siebenten Tag stillsteht. Und zu Beginn des
Krieges haben sie, er hat es mit eigenen Augen gesehen, sich an
diesem siebenten Tag ohne Gegenwehr abschlachten lassen, einfach
aus prinzipieller, vom Gesetz verordneter Faulheit. Sie glauben,
die Dummköpfe, die Seelen derer, die ihre dreckigen Gebote halten,
werden von ihrem Gott für die Ewigkeit konserviert. Das macht diese
Unverschämten so unempfindlich gegen das, was andere lockt und
abschreckt. Sie halten sich für besser als andere Menschen, gerade
als wären sie römische Legionäre. Sie hassen und verachten alle
andern. Beschneiden sich das Glied, nur um ein
Unterscheidungsmerkmal zu haben. Sie sind aufreizend anders,
hartnäckig wie wilde Ziegenböcke. Wenn sie sterben, wenn man sie
kreuzigt, dann schreien sie: »Jah, Jah. Jah ist unser Gott.« Er
hat, wegen dieses Jah, Jah, zuerst geglaubt, ihr Gott sei ein Esel,
und einige sagen auch, sie verehrten einen Esel in ihrem
Allerheiligsten. Aber das stimmt nicht, diese Wahnsinnigen und
Verbrecher glauben vielmehr an einen Gott, den man nicht sehen noch
schmecken kann, einen Gott, so unverschämt wie sie selber, nur im
Verstande vorhanden. Er hat sich mehrmals den Privatspaß gemacht,
wenn sie einen kreuzigten, den Hängenden zu kitzeln, ob er ihm
nicht durch Drohungen und Versprechungen Vernunft beibringen
könnte. Aber nein und nein. Sie glauben wirklich an ihren
unsichtbaren Gott, sie schreien Jah, Jah und sterben. Der Hauptmann
Pedan ist ein wilder, unerbittlicher Gegner solchen Unsinns. Er
will ihn ausrotten. Das Leben wäre nicht lebenswert, wenn etwas von
ihrem Geschrei wahr wäre, und wäre es auch nur das winzigste
Häuchlein. Es ist aber nicht wahr, es soll nicht wahr
sein.
Der Hauptmann Pedan geht
wiegenden Schrittes in sein Zelt, den breiten Mund höhnisch
verzogen. Wenn irgend etwas von diesem Gott Jahve existiert, dann
müßte er doch wohl sein Haus schützen können. Das wird er aber
nicht, dafür wird der Erste Zenturio der Fünften sorgen. Nur zu
diesem Zweck steht er in diesem heißen, stinkenden Sommer vor dem
lausigen Jerusalem. Er wird es diesem Gott Jahve eintränken. Er
wird ihm beweisen, daß er überhaupt nicht vorhanden ist, daß das
da, sein Haus, nichts ist als ein leeres Schneckenhaus.
Der Hauptmann Pedan sieht das
Gesicht des Prinzen vor sich, während er ihm den Text des
Täfelchens vorliest. »Unter Schonung der Baulichkeiten, soweit sie
zum eigentlichen Tempelhaus gehören.« Was heißt: Schonung, was
heißt: eigentliches Tempelhaus? »Der Gegner ist mit Energie
abzuweisen.« Das ist klarer. Das ist etwas, woran man sich halten
kann.
Hep, Hep, denkt der Hauptmann
Pedan. Er ist ausnehmend guter Laune an diesem Abend. Er säuft,
erzählt Zoten, ist von einem grimmigen Witz, daß selbst die
Hauptleute, denen er im Licht steht, zugeben: er ist mit Recht der
Liebling der Armee.
Andern Morgens rückte Pedan mit seinen Leuten
zu den Lösch- und Aufräumearbeiten aus. Man schaufelte die
glühenden Trümmer zur Seite, bückte sich, schaufelte, es sollte ein
breiter, grader Weg entstehen, dem Tor zu. Dieses Tor, mit Gold
beschlagen, war nicht groß; schräg links von ihm, in doppelter
Mannshöhe etwa, war eine kleine, goldumrahmte Fensteröffnung. Im
übrigen starrten die Mauern weiß, riesig, unerschütterlich,
unterbrochen nur durch ein paar kleine Fenster in sehr großer
Höhe.
Die Aufräumearbeit war schmutzig,
heiß, schwierig. Die Juden rührten sich nicht, kein Gesicht zeigte
sich oben in den Öffnungen, das Tor blieb geschlossen. Pedan
ärgerte sich. Da mußten er und seine Leute den Juden ihren Dreck
wegräumen. Man arbeitete schwitzend, verdrossen. Pedan gab Weisung,
zu singen. Er selber stimmte an, mit seiner quäkenden Stimme, das
grobe Lied der Fünften:
»Wozu ist uns
ut? Der Legionär macht alles:
Kriege führt er, Wäsche wäscht er,
Throne stürzt er, Suppe kocht er,
Fährt den Mist und schützt den Kaiser,
Kinder säugt er, wenn es not ist.
Der Soldat muß alles können.
Unsre Fünfte, die macht alles.«
Als sie das Lied zum drittenmal sangen,
zeigte sich der Gegner. Das Tor war doch nicht so klein, wie es
ausgesehen hatte; jedenfalls war es groß genug, um in unglaublich
kurzer Zeit unglaublich viele Juden auszuspeien. Die Soldaten
vertauschten die Schaufel mit Schild und Schwert. Man hatte
verflucht wenig Platz, und wer in die rauchenden Trümmer
hineingedrängt wurde, dem war schwer zu helfen. »Makkabi«, schrien
die Juden. »Geh unter, Judäa«, schrien die Römer. Es war ein
richtiges Gefecht. Die Juden achteten es nicht, daß auch von ihnen
viele in die glühenden Trümmer gerieten. In dicken Klumpen
umschwärmten sie das römische Feldzeichen. Jetzt fiel der Träger,
ein zweiter packte es, wurde niedergemacht. »Makkabi«, schrien die
Juden, sie hatten das Feldzeichen. Im Triumph brachten sie es
hinter die Mauer.
Die Römer erhielten
Verstärkungen. Beim nächsten Ausfall kamen die Juden nicht so weit
wie das erstemal, aber das kleine Tor spie immer neue Scharen aus.
Pedan fluchte, hieb mit dem Weinrebstock auf seine Leute ein. Sie
warfen die Juden zurück, einige von Pedans Leuten drangen mit ins
Tor hinein, das Tor schloß sich. Die eingedrungen sind, sind
verloren. Aber der Gegner ist mit Energie abgewiesen.
Pedan grinste. Der Gegner ist mit
nicht genug Energie abgewiesen. Pedan ließ eine Schildkröte bilden.
Die Leute waren verwundert. Die Mauer starrte riesig hoch, die
Maschinen hatten nicht gearbeitet, keine Artillerie war hinter
ihnen. Was wollte ihr Erster? Sollen sie die Mauer mit bloßen
Händen umreißen? Aber sie schuppten die Schilde zusammen über die
Köpfe, dem Befehl gehorchend, und gingen vor. Seltsamerweise aber
hieß sie Pedan nicht das Tor angreifen, sondern die Stelle schräg
links, wo die goldumrahmte Fensteröffnung war.
Sie gingen immer vor, nun waren
sie an der Mauer, die vordersten standen bereits an die Mauer
geklemmt. Und nun geschah etwas, wie es die Erste Kohorte der
Fünften, an so vieles gewöhnt, noch nie gesehen hatte. Der
Hauptmann Pedan, schwer in seiner Rüstung, schwang sich auf die
Schilde des letzten Gliedes, mit den genagelten Stiefeln über die
krachenden Schilde breitbeinig tappte er vor. Er fiel nicht, beim
Herkules, er wahrte das Gleichgewicht, in der einen Hand hielt er
einen Feuerbrand, und jetzt schleuderte er ihn, durch die
goldumrahmte Öffnung schleuderte er ihn, und dann schrie er: »Gib
noch einen«, und die Soldaten reichten ihm aus den glühenden
Trümmern noch einen Feuerbrand hinauf und noch einen. Die unter den
Schilden, schwitzend, bedrängt, mühsam ausharrend, wußten nicht,
was über ihren Köpfen geschah, sie hörten nur ihren Hauptmann
schreien: Gib noch einen, und: Hep, Hep. Aber sie, ebenso wie die,
die die Feuerbrände reichten, waren voll von einer Ungeheuern
Spannung, was sich nun ereignen werde. Ihr Erster, ihr Hauptmann
Pedan, der Liebling der Armee, wird sicher wissen, was er tut,
sicher wird sich etwas ereignen.
Der Hauptmann Pedan wußte auch,
was er tat. Er hatte den Grundriß des Tempels eingesehen, er wußte,
an dieser Stelle, in dem Raum mit der goldumrahmten Fensteröffnung,
wurden die Holzvorräte aufbewahrt, die die Juden herbeischleppten
am Feste des Holztragens, die Bürger Jerusalems und die Pilger,
jeder Mann ein Scheit. Der Gegner ist mit Energie abzuweisen. Er
ließ sich die Feuerbrände hinaufreichen, er warf, er schrie: Hep,
Hep, und: Gib noch einen, und sie hörten seine genagelten Schuhe
auf den Schilden kratzen, sie hielten aus, starknackig, geduckt,
sie stöhnten vor Erwartung.
Und jetzt endlich kam Geschrei
von innen, und jetzt Rauch, immer mehr, immer dickerer Rauch, und
jetzt befahl Pedan: »Die Leiter her.« Die Leiter war zu kurz, da
ließ er sie auf die Schildkröte stellen. Er kletterte hinauf, die
Leiter schwankte wild, aber die unter den Schilden hielten fest,
und durch den Rauch und durch das Fenster kletterte der Hauptmann
Pedan ins Innere. Er sprang hinein mitten in Rauch und Geschrei,
riß die Riegel des Tores zurück, in der Öffnung erschien geschwärzt
und grinsend sein Gesicht. Und wie das Tor vorher in unglaublich
kurzer Zeit unglaublich viele Menschen ausgespien hatte, so
schluckte es jetzt in einem Augenblick die
Mannschaften des Pedan ein, fünfzig jetzt, und jetzt
hundert.
Das Tempelhaus war innen ganz mit
Zederngebälk vertäfelt, der Sommer war heiß, das Holz trocken.
Schon war es kein Rauch mehr, schon waren es Flammen. Und ehe man
recht wußte, was geschah, war ein ungeheures Geschrei im römischen
Lager. Hep, Hep, schrien sie und: Schmeißt das Feuer, und: Den
Schild vor. Keinen Befehl warteten sie ab, kein Halten war. Das
kleine Tor schluckte sie ein, zu Hunderten, und jetzt hatten sie
auch die andern Tore aufgerissen. Die Löschmannschaften der Juden
wurden niedergemacht, die Legionen drangen vor, in Gliedern zu je
zweien, die Schultern schräg in Fühlung, die Schilde aneinander,
niedermähend nach rechts und links.
Der größere Teil der jüdischen Soldaten lag in
den Forts und Türmen der Oberstadt, im Tempel selbst lagen nur an
tausend Mann. Die erhoben, als die Römer den Brand in das
Tempelhaus geworfen hatten, ein wildes Geschrei und versuchten zu
löschen. Es war ein mageres Feuer zuerst, aber es war zäh, es gab
nicht nach. Bald erwies es sich als unmöglich, gleichzeitig gegen
die eindringenden Römer zu kämpfen und zu löschen. Johann und Simon
Bar Giora, schleunigst aus der Oberstadt herbeigerufen, erkannten,
daß der Tempel gegen das Feuer und die Römer nicht zu halten war.
Sie ordneten an, die Hauptmacht solle sich nach der Oberstadt
zurückziehen. Kleine Detachements sollten, den Rückzug deckend, die
einzelnen Tore des Tempels halten.
Diese zurückbleibenden
Verteidigungsmannschaften, das wußten alle, waren verloren, aber
keiner zögerte, sich freiwillig zu melden. Auch der Knabe Ephraim
meldete sich und wurde angenommen. Johann von Gischala, als er
ging, legte ihm die Hand auf und sagte: »Du bist würdig. Gib
unseren Glauben weiter, mein Sohn.« So legten die Großdoktoren
ihren Schülern die Hand auf, wenn sie ihnen den Titel und die
Fähigkeit verliehen, die Lehre weiterzugeben.
Die Römer überwältigten rasch den
kleinen Trupp, der das Tor des Tempelhauses verteidigte. Sie
gewannen die Treppe und stiegen hinunter in den Hof, in dem der
Brandopferaltar stand, mit seiner Ungeheuern Rampe, seinen
mächtigen Hörnern, gefügt wie für die Ewigkeit, aus unbehauenen
Blöcken; denn Eisen durfte ihn nicht berühren. Jetzt aber hatte ein
Trupp von etwa fünfzig jüdischen Soldaten ein Geschütz auf ihm
aufgestellt. Makkabi! riefen sie. Und: Hep, Hep! Geh unter, Judäa!
riefen die Römer und stürmten vor gegen den Altar. Das Geschütz
schleuderte Steine und Eisen gegen sie, aber sie drangen vor, zu
beiden Flanken des Altars, und jetzt hatten sie ihn umkreist, und
jetzt stürmten sie die Rampen. Es waren Leute der Fünften, es waren
die Leute des Pedan. Ein ungeheures Getöse war, aber allmählich
drang eine Stimme durch, frech, quäkend, sie sang das grobe Lied
der Fünften. Einige fielen ein, und jetzt sangen alle, man hörte
kein Makkabi mehr, man hörte nur mehr das Lied:
»Wozu ist unsre Fünfte gut?
Der Legionär macht alles:
Kriege führt er, Wäsche wäscht er ...
Unsre Fünfte, die macht alles.«
Und jetzt bemächtigten sie sich auch der
andern Außentore dieses Mauerteils, öffneten sie, und nun strömte
es von allen Seiten herein. In Gliedern zu je zweien, die Schilde
vor, die Gesichter halbschräg nach außen, Schulter an Schulter,
schreiten sie, im Takt, stampfen, mähen nieder. Von beiden Seiten
kommen sie, kreisen ein, was sie finden, treiben es dem großen
Altar zu. Auf dem rechten Horn des Altars aber, wo sonst der Chef
des Tempeldienstes den opfernden Priestern und den Leviten sein
Zeichen gab, steht jetzt der Hauptmann Pedan, um ihn herum stampft
das grobe Lied der Fünften. Er singt mit, er schwingt sein Schwert,
und manchmal, der Abwechslung halber, greift er zu seinem
Weinrebstock. Die Menschen werden den Altar hinaufgetrieben, sie
schreien: Höre, Israel, und auf der Höhe des Altarhornes steht der
Hauptmann Pedan, und Hep ruft er und hebt den Weinrebstock und läßt
ihn auf die Schädel krachen. Die Schwerter mähen, das Blut fließt
wie ein Bach die Rampen herunter, und um den Altar stauen sich die
Toten.
Titus hatte sich gerade für eine kleine Weile
niedergelegt. Er sprang hoch, sah den Ungeheuern, von niemandem
befohlenen Aufbruch der Legionen. Und dann sah er den Rauch
aufsteigen und die Flammen. Er lief aus seinem Zelt, wie er war,
ohne Abzeichen seines Ranges, ohne Rüstung. Mitten in den wilden,
frohen Tumult hinein lief er. Viele erkannten ihn, doch sie machten
kein Wesens daraus. Sie riefen ihm zu, eilig, vergnügt: Komm mit,
Kamerad. Lauf mit, schmeiß mit, schmeiß das Feuer. Hep,
Hep.
Er wollte wehren, den wüsten
Unfug steuern. Wollte er’s wirklich? Hep, Hep, schrie er wie die
andern, gegen seinen Willen. Und: Schmeiß das Feuer, Kamerad,
schrie er.
Die Wachen vor dem Zelt hatten
den Aufbruch des Prinzen bemerkt. Die alarmierten Offiziere, die
Garden bahnten sich durch das Getümmel einen Weg zu ihm. Endlich,
er war schon durch das Tor in das Innere des Tempels hineingespült,
erreichten sie ihn. Er hatte sich wieder in der Gewalt. War das er
gewesen, der mitgeschrien hatte? Löscht! schrie er jetzt, Wasser!
Und: Löscht, Wasser! schrien die Offiziere. Unter die rasenden
Soldaten stürzten sie sich: Löscht, Wasser! Mit ihren
Weinrebstöcken hauten die Zenturionen auf die Verwilderten
ein.
Allein es war sinnlos, den
Tobenden wehren zu wollen. Tollwut, Mordrausch hatte sie gepackt,
die ganze Armee. Sie hatten so unendlich lange gewartet, diese
heißen, zermürbenden Monate hindurch, das da, das Bewußte unter
ihre genagelten Stiefel zu treten. Jetzt wollten sie sich rächen
für die Qual, sie stürzten heran, römische Legionen, syrische,
arabische Kontingente der Vasallen, sich mischend. Keiner wollte zu
kurz kommen, sie hatten Eile, sie gönnten es einer dem andern
nicht, daß er früher daran war. Der Weg, der gebahnt werden sollte,
war nicht fertig. Über den glühenden Schutt stürmten sie herbei,
zertraten einander, stießen sich in die rauchenden Trümmer. Über
ganze Berge von Leichen drangen sie vor.
Als Titus sah, daß es gegen das
Ungestüm der Armee keinen Widerstand gab, betrat er mit seinen
Offizieren das Mittelschiff des Tempelhauses, das von dem
brennenden Teil durch eine dicke Mauer getrennt war. Hoch und kühl,
unberührt von der Hitze und dem wüsten Getobe draußen, hob sich der
Heilige Raum. Der Leuchter war da, die Schaubrottische, der
Räucheraltar. Langsam schritt Titus vor, zögernd, bis zu dem
Vorhang, hinter dem das Geheimnis war, das Allerheiligste. Seit
Pompejus hat kein Römer diese Stelle betreten. Was ist hinter dem
Vorhang? Ist vielleicht doch ein abergläubischer Spuk dahinter, ein
Eselskopf, ein Ungetüm, aus Tier und Mensch gemischt? Mit der
kurzen, breiten Hand greift Titus nach dem Vorhang. Hinter ihm
spähen gespannt die Gesichter seiner Offiziere, vor allem eines,
breit, rosig, das des Hauptmanns Pedan. Was ist hinter dem Vorhang?
Der Prinz reißt ihn zurück. Ein dämmeriges, nicht großes Geviert
zeigt sich. Titus tritt ein. Es riecht nach Erde und nach sehr
altem Holz. Der nackte, unbehauene Stein ist da, der den Hügel
gipfelt, eine große, beklemmende Einsamkeit, sonst nichts. »Na ja«,
quäkt der Hauptmann Pedan achselzuckend, »Irrsinnige.«
Der Prinz atmete auf, als er
wieder in dem helleren Viereck des Außenraumes stand. Er sah die
noble Schlichtheit der Halle, ihr Ebenmaß, die heiligen Geräte groß
und einfach an den Wänden. »Wir müssen das retten, meine Herren«,
sagte er, nicht laut, doch dringlich. »Wir dürfen das nicht
untergehen lassen«, forderte er. Der Hauptmann Pedan grinste. Schon
züngelte es an den Toren, an alle Türangeln hatten sie Feuer
gelegt. Es war zu spät.
In großer Eile schleppen die
Soldaten die heiligen Geräte weg. Sie sind schwer, aus massivem
Gold. Zehn Mann keuchen unter dem Leuchter, sie stürzen zusammen.
Der Leuchter schüttert zu Boden, erschlägt einen Träger. Die
Soldaten, angetrieben von den Zurufen des Prinzen, von den
Stockhieben der Zenturionen, beugen von neuem die Rücken, schleppen
die Geräte aus dem brennenden, stürzenden Heiligtum. Sie trugen
hinaus die zwölf goldenen Schaubrote, die Weihgeschenke, die
silbernen Trompeten der Priester, falteten den herrlichen
babylonischen Vorhang zusammen, dessen Stickerei den Anblick des
Himmels zeigte. Der Prinz stand auf den Stufen des Tempelhauses,
hinter seinem Rücken das Feuer, und schaute zu, wie der Leuchter,
der Schaubrottisch durch das Getümmel schwankten, dem römischen
Lager zu, auf, nieder über den Leibern, Köpfen, Schilden wie
Schiffe auf bewegtem Meer.
Die Legionäre mittlerweile tobten durch das
Heiligtum, besoffen von Blut und Triumph. Sie plünderten, was sie
erraffen konnten, rissen die goldenen und silbernen Beläge von den
Toren, von den Wänden. Halsbrecherisch kletterten sie an den
Außenmauern, um die dort angebrachten Trophäen zu erbeuten,
Feldzeichen und Waffen alter syrischer Könige, Feldzeichen der
Zehnten Legion, vor vier Jahren dem Cestius Gall genommen. Sie
plünderten die Kleiderkammern, die Gewürzkammer, die Halle der
Instrumente. Die Arme voll von kostbarem, seltsamem Gerät, trabten
sie eilig durch das riesige Geviert. Dies war die Krone des
Feldzugs. Um dieses Haus des unsichtbaren Gottes niederzureißen und
zu plündern, war man gestorben, zu Zehntausenden, hatte man Ekel
und Strapazen auf sich genommen. Jetzt wollte man es ganz
auskosten. Sie schrien, sie stießen nieder, lachten einfältig,
stampften tan zend mit ihren genagelten Stiefeln über den Boden,
dessen Marmor und Mosaik überdeckt war von Leichen und von blutigen
Feldbinden mit den Initialen Makkabi.
In den finstern Gängen, die
hinunter zu den Schatzkellern führten, stauten sich die Massen.
Diese Kammern waren gut verschlossen, aber die Ungeduldigen hatten
nicht gewartet, bis man die Riegel mit Hebel und Maschinen öffnete,
sie hatten Feuer an die Metallbeschläge der Türen gelegt. Allein
das Innere hatte Feuer gefangen, bevor die Türen aufgingen, und nun
schmolz es aus den Schatzkammern heraus, ein dicker, zäher Strom
fließenden Metalls. Es flossen in ihm Weihgeschenke römischer
Kaiser und parthischer Könige, Ersparnisse der Armen aus Galiläa,
Schätze der Reichen aus Jerusalem und den Seestädten,
Hunderttausende von Gold-, Silber- und Kupfermünzen, geprägt von
den »Rächern Israels«, mit dem Hoheitszeichen Makkabi und mit dem
Datum: Erstes, Zweites, Drittes Jahr der Befreiung.
Knallend rissen die großen
Vorhänge, ihre glühenden Fetzen flogen durch die Luft. Krachend
stürzte das Gebälk des Tempelhauses, Mauertrümmer ihm nach. Bis
plötzlich ein Ton kam, mächtiger als das Prasseln der Flammen, das
Stürzen des Gebälks, das wüste Singen der Soldaten, das Geschrei
der Sterbenden, ein Ton, schneidend, heulend, wimmernd, von den
Bergen ringsum furchtbar und scheußlich zurückgeworfen. Es war die
hunderttonige Schaufelpfeife. Man hatte das Unding wegzuschleppen
versucht, dann aber als wertlos liegenlassen, nun strich der Wind
der Flammen durch die Schaufelpfeife und machte sie
tönen.
Es war, als wecke dieser Ton die
Oberstadt, die, nachdem die jüdischen Soldaten die Brücken zum
Tempel zerstört hatten, gesondert auf ihrem Hügel lag. Die
Verhungerten, Erschöpften der Oberstadt sahen den Rauch, das erste
Feuer, sahen dann die Flammen um sich greifen, bis allmählich der
ganze, weiße Tempelberg von den Wurzeln auf zu glühen schien. Sie
brachten nichts aus ihren ausgedörrten Kehlen als ein schwaches
Gewimmer. Aber als nun der große Schrei der Schaufelpfeife
aufheulte, brach auch aus ihren Leibern das letzte Leben hervor,
und aus dem Gewimmer der Hunderttausende in der Oberstadt wurde
jetzt ein Schreien, ein gelles, ununterbrochenes, weißes Geschrei,
und die Berge nahmen das Geschrei auf und schrien es
zurück.
Es waren übrigens an diesem Tage viele Leute
aus der Oberstadt in den Tempel gegangen. Doktor Nittai hatte sie
gerufen. Er hatte ein Gesicht gehabt und eine Stimme gehört. War
durch die Oberstadt gezogen, erschöpft, doch beharrlich und hatte
zu den Massen geredet, sie sollten zum Tempel hinaufsteigen, dort
würde sich ihnen heute Jahve als Retter und Erlöser zeigen. So
gläubig und befehlend hatte die alte Stimme des besessenen Mannes
geklungen, daß, wer sich noch schleppen konnte, ihm folgte. Es
waren viele Hunderte. Von diesen Gläubigen hatten sich nur wenige,
als die Truppen abzogen, mit ihnen retten können; denn die Brücken
zur Oberstadt waren schmal, die Truppen hatten sie für sich selber
benötigt und hinter sich abgerissen. Von oben, vom Tempelhaus her,
kamen die Flammen und die Römer. Den Gläubigen war nichts
übriggeblieben, als sich in den untersten Bezirk des Tempels zu
flüchten, in die große Kolonnade des Südrands unmittelbar am
Abgrund.
Die Römer, die Juden vom Innern
des Tempels her aufrollend, waren jetzt bis zu diesem untersten
Bezirk vorgedrungen. Sie kamen die Stufen herunter, sie sahen die
in der Halle, Männer, Frauen, Kinder, Vornehme und kleine Leute,
sehr viele, einen großen Haufen lebendigen Fleisches. Trotzdem der
Preis der Leibeigenen durch die vielen Gefangenen außerordentlich
gesunken war, repräsentierten die Tausende in der Halle einen
gewissen Wert. Im schlimmsten Fall konnte man sie im Dutzend an die
Veranstalter von Festspielen verkaufen. Aber die Soldaten wollten
jetzt keine rechnerischen Erwägungen anstellen. Sie wollten jetzt
ihren Privatspaß haben, sie hatten ihn sich teuer genug erkauft.
Die von der Fünften riegelten die Kolonnade ab. Die Juden hatten
vor sich die Römer, hinter sich den Abgrund. Offiziere kamen dazu,
Oberste. Der General der Zehnten, Lepid. Sie gaben Befehl,
abzuwarten, man werde die Weisung des Feldherrn einholen. Aber die
von der Fünften dachten gar nicht daran, zu warten. Gerade hatten
sie die Feldzeichen zurückgeholt, die die Zehnte vor vier Jahren
verloren hatte, und nun sollten sie sich von dem General der
Zehnten den Spaß verderben lassen? Sie waren nicht einmal
aufsässig, sie lachten nur, gemütlich. Das glaubten ja die Herren
selber nicht, daß die Armee sich diese Masse lebendigen Fleisches
werde wegnehmen lassen. Sachkundig nahmen sie Aufstellung vor der
Kolonnade, vier Glieder tief, dann zündeten sie das Zederngebälk
des Daches an. Es war wirklich ein großartiger Spaß, wie die in der
Halle zu tanzen anfingen, wie die ersten herausstürzten,
niedergemacht wurden, wie sie kletterten, wie sie in den Abgrund
sprangen, wie sie schwankten, ob sie durchs Schwert umkommen
sollten, durch Absturz oder durch Feuer. Angeregt beobachteten die
Soldaten, wie schwer die Eingeschlossenen zu einem Entschluß kamen.
Mit Vergnügen hörten die Legionen das altvertraute Sterbegeschrei
der Juden: Höre, Israel, Jahve ist einzig. Sie hatten es oft
gehört, aber niemals von so vielen zusammen. Jahve, Jahve, machten
sie nach, Jah, Jah schreiend wie die Esel.
Unter den Eingeschlossenen waren
zwei Herren des Großen Rats, die der Oberst Paulin persönlich
kannte, Meïr Bar Belgas und Josef Bar Daläus. Paulin forderte die
beiden auf, herauszukommen, sich ihm zu übergeben. Er sagte ihnen
Schonung zu. Aber sie blieben, bis die Kolonnade zusammenstürzte,
sie wollten umkommen mit den andern, ein Brandopfer für
Jahve.
Die ausgelosten Priester hatten die Funktion
ihres Dienstes verrichtet, als geschähe rings um sie nichts
Außergewöhnliches. Hatten sich eingekleidet, die Reinigung des
Altars, der heiligen Geräte vollzogen wie jeden Tag. Schon waren
die ersten Flammen da, schon waren die ersten Römer da, die
Priester gingen durch das Getümmel hindurch, als sähen sie
nichts.
Die Römer ließen die
Weißgekleideten mit dem blauen Priestergürtel zunächst unbehelligt.
Dann aber machten sie sie nieder wie die andern. Sie sahen mit
einer gewissen Befriedigung, daß ein Mann, der den blauen
Priestergürtel dieses Jahve trug, wenn man ein Eisen in seinen Leib
stieß, genauso starb wie ein anderer.
Johann von Gischala hatte, als er
mit seinen Truppen den Tempel verließ, dem Erzpriester Phanias
angeboten, ihn mitzunehmen. Aber Phanias hatte es abgelehnt. Wenn
er nur herausbringen könnte, was Jahve von ihm will. Es ist sehr
schwer, weil Jahve ihm nur einen einfältigen Verstand gegeben hat.
Wie schön wäre es, wenn er Bauarbeiter hätte bleiben dürfen. Jetzt
irrt er herum, hilflos, weinerlich, seine trüben, braunen Augen
suchen, wen er um Rat fragen könnte, ängstlich lauscht er, ob nicht
etwa in seinem Innern eine Stimme Jahves spricht, aber er kann
nichts hören. Das alles ist nur, weil er, den Schatzmeistern
nachgebend, seinen achtteiligen, sündenreinigenden Ornat in ein
unzugängliches Versteck hat bringen lassen. Wenn er jetzt den Ornat
trüge und die heiligen Juwelen des Großen Dienstes, dann würden
sich die Flammen zu seinen Füßen legen wie gehorsame Hunde, und die
Römer würden tot umfallen.
Zusammen mit andern Priestern
geriet er in die Hand der Römer. Die Soldaten schickten sich an,
die Priester niederzumachen. Die baten um Schonung. Schrien, der
Erzpriester sei unter ihnen. Die Soldaten brachten sie vor
Titus.
Titus ist in Eile, man verlangt
ihn am südlichen Tempeltor. In seiner Umgebung ist der General
Litern. Der Prinz sieht, wie der General gespannt auf ihn blickt,
mit einem ganz kleinen Lächeln. Dieser Litern hat es damals im
Kriegsrat nicht verstehen können, daß er für die Schonung des
Tempels eintrat, sicher hält er ihn für einen ästhetisierenden
Schwächling. Dieser Tölpel da ist also der Erzpriester. »Verwahrt
ihn«, sagt Titus, »ich will ihn im Triumph aufführen.« Dann sieht
er die andern Priester, zwanzig zermürbte, elende Körper,
schlotternd in weißen, feierlichen, viel zu weiten Gewändern. Sein
Gesicht wird launisch, bösartig, kindisch. Er kehrt sich ab. Im
Begriff zu gehen, über die Schulter hin, sagt er zu den Priestern:
»Ich hätte Ihnen Ihr Leben vielleicht geschenkt, meine Herren, um
Ihres Tempels willen. Aber nachdem Ihr Gott offenbar nicht gesonnen
ist, seinen Tempel zu erhalten, ziemt es Ihnen als Priester, mit
diesem Tempel unterzugehen. Habe ich nicht recht, meine Herren?« Er
ging, und die Profose bemächtigten sich der Priester.
Wie die andern Priester hatte
sich der alte Doktor Nittai, nachdem er seine Gläubigen in den
Tempel geführt hatte, ernst und zuversichtlich an die Verrichtungen
seines Dienstes gemacht. Die Flammen brachen hervor, sein altes,
mürrisches Gesicht lächelte. Er hatte gewußt, heute wird ein
Zeichen kommen. Als das Tempelhaus brannte, war er nicht wie die
andern durch die Höfe geflohen, vielmehr stiegen er und die acht
Priester um ihn die Treppen des Tempelhauses hinauf. Es war gut, zu
steigen, jetzt war man noch in einem von Menschenhänden gefügten
Bau, aber gleich wird man oben sein, unterm Himmel, nahe bei Jahve.
Und nun waren sie auf dem Dach, auf dem höchsten First des Tempels,
unter ihnen waren die Flammen und die Römer. Das Geschrei der
Sterbenden, der grobe Gesang der Legionen tönte zu ihnen herauf,
von der Oberstadt her gellte das weiße Geheul. Da kam der Geist
über die auf dem First, der Hunger schuf ihnen Gesichte.
Schaukelnd, im Takt, im vorgeschriebenen Singsang sagten sie
Kriegs- und Siegeslieder der Schrift auf. Rissen die goldenen
Spieße, die zur Abwehr der Vögel auf dem Dach des Tempels
angebracht waren, heraus und schleuderten sie gegen die Römer. Sie
lachten, sie waren über den Flammen, und über ihnen war Jahve, und
sie spürten seinen Hauch. Als die Stunde des Priestersegens kam,
hoben sie die Hände und spreizten die Finger, wie es Vorschrift
war, und riefen durch die prasselnden Flammen den Priestersegen und
das anschließende Bekenntnis; es war ihnen leicht und heilig
zumut.
Als sie zu Ende waren, nahm
Nittai die schweren Schlüssel des Großen Tempeltors, hielt sie
hoch, daß alle um ihn sie sahen, und rief: »O Jahve, du hast uns
nicht würdig befunden, dein Haus zu verwalten. O Jahve, nimm die
Schlüssel zurück.« Und er warf die Schlüssel in die Höhe. Und er
rief: »Seht ihr, seht ihr die Hand?« Und alle sahen, wie aus dem
Himmel eine Hand kam und die Schlüssel auffing.
Dann krachte das Gebälk, es
stürzte das Dach, und sie fanden, daß sie einen begnadeten Tod
starben.
Kurz vor dem Mittag hatte Pedan die Fackel
geworfen. Nachmittags fünf Uhr brannte bereits der ganze Berg. Der
erste Feuerposten, den Titus hatte errichten lassen, sah den Brand,
und sowie die Dämmerung kam, gab er sein Signal: der Tempel ist
gefallen. Und es entzündete sich das nächste Feuer, und das
übernächste, und im Lauf einer Stunde wußte es ganz Judäa, ganz
Syrien.
In Jabne erfuhr es der Großdoktor
Jochanan Ben Sakkai: der Tempel ist gefallen. Der kleine Uralte
zerriß seine Kleider und streute Asche auf sein Haupt. Aber noch
für die gleiche Nacht berief er eine Sitzung ein.
»Bis heute«, verkündete er, »hat
der Große Rat von Jerusalem Kraft gehabt, das Wort Gottes zu
deuten, zu bestimmen, wann die Zeiten beginnen, wann der Mond neu
ist, wann voll, was Recht ist und was Unrecht, was heilig und was
unheilig, zu binden und zu lösen. Von heute an hat der Rat von
Jabne diese Befugnis.
Unsere erste Aufgabe ist,
festzusetzen, wie die Grenzen der Heiligen Schrift laufen. Der
Tempel ist nicht mehr, unser ganzes Reich ist jetzt die Schrift.
Ihre Bücher sind unsere Provinzen, ihre Sätze unsere Städte und
Dörfer. Bis heute war Jahves Wort mit Menschenwort gemischt. Jetzt
gilt es, aufs Jota zu begrenzen, was zur Schrift gehört, was
nicht.
Unsere zweite Aufgabe ist, den
Kommentar der Doktoren dauerhaft zu machen für die Zeiten. Bis
heute lag der Fluch darauf, den heiligen Kommentar anders
weiterzugeben als von Mund zu Mund. Wir lösen diesen Fluch. Wir
wollen die sechshundertdreizehn Gebote aufzeichnen auf gutem
Pergament, wo sie anfangen und wo sie aufhören, sie umzäunen und
untermauern, daß Israel für die Ewigkeit darauf stehen
kann.
Wir einundsiebzig sind jetzt
alles, was vom Reiche Jahves geblieben ist. Reinigt euer Herz, daß
wir ein Reich seien, dauernder als Rom.«
Sie sagten amen. Sie bestimmten
noch in dieser Nacht: vierundzwanzig Bücher sind heilig. Vierzehn
Bücher, die vielen als heilig galten, schlossen sie aus. Es war
harter Streit unter ihnen, aber sie prüften sich scharf, daß sie
nur das Wort Jahves sprechen ließen, wie man es ihnen überliefert
hatte, nicht eigene eitle Weisheit. Kein Schlaf kam über sie, sie
fühlten sich besessen von Jahve, als sie diese Sichtung vornahmen,
die verbindlich sein sollte für alle Zeiten. Sie trennten sich, als
schon die Sonne aufgegangen war. Jetzt erst spürten sie ihre
Erschöpfung, es war trotz des Schmerzes über das zerstörte
Heiligtum keine unglückliche Erschöpfung.
Als die andern schon weggegangen
waren, erinnerte den Großdoktor Jochanan Ben Sakkai sein Schüler
Arach: »Sie haben mir den Spruch für diesen Tag noch nicht
diktiert, mein Doktor und Herr.« Der Großdoktor besann sich eine
Weile, dann diktierte er: »Wenn du zur Tafel gezogen wirst bei
einem Herrscher, so setze ein Messer an deine Kehle, ehe daß du
gierig wirst nach seinen Leckerbissen; denn sie sind sehr
trügerisch.« Arach sah des Großdoktors müdes, bitteres Gesicht; er
erkannte, daß ihm bange war um seinen Liebling Josef Ben Matthias,
daß er für ihn fürchtete in seinem Herzen.
Es geschah aber der Untergang des Tempels am
29. August des Jahres 823 nach Gründung der Stadt Rom, am 9. Ab des
Jahres 3830 jüdischer Zeitrechnung. Auch ein 9. Ab war es gewesen,
an dem der erste Tempel durch Nebukadnezar zerstört wurde. Dieser
zweite Tempel hatte sechshundertneununddreißig Jahre, einen Monat
und siebzehn Tage gestanden. Alle diese Zeit hindurch war jeden
Morgen und jeden Abend das Brandopfer dargebracht worden zu Ehren
Jahves, viele Tausende von Priestern hatten die Riten vollzogen,
wie sie aufgeschrieben sind im Dritten Buch Mosis und bis ins
kleinste erläutert durch Generationen von Doktoren.
Der Tempel brannte noch zwei Tage und zwei
Nächte. Am dritten Tag standen von seinen vielen Toren nur mehr
zwei. Mitten unter den Trümmern, auf den gewaltigen Blöcken des
Brandopferaltars, dem einsam und sinnlos ragenden Osttor gegenüber,
pflanzten jetzt die Römer ihre Adler auf und brachten ihnen das
Siegesopfer. Wenn mehr als sechstausend feindliche Tote das
Schlachtfeld deckten, dann pflegte die Armee ihren Feldherrn zum
Imperator auszurufen. So nahm jetzt Titus auf der Höhe des Altars
die Huldigung seiner Truppen entgegen.
Den Marschallstab in der Hand,
den roten Feldherrnmantel um die Schultern, hinter sich die
Goldenen Adler, stand jetzt, wo sonst die Rauchsäule Jahves
aufgestiegen war, er, ein fleischernes Idol an Stelle des
unsichtbaren Gottes. Die Legionen zogen vorbei, sie schlugen die
Schilde zusammen, sie schrien: Sei gegrüßt, Imperator Titus.
Stundenlang erfüllte das eiserne Geklirr und der Jubelruf seiner
Soldaten des Titus Ohr.
Er hatte diese Stunde ersehnt,
seitdem ihn in Alexandrien sein Vater mit der Führung des Feldzugs
beauftragt hatte. Jetzt ließ sie ihn kalt. Berenike war fort, war
geflohen vor dem Anblick des brennenden Heiligtums, vor ihm, dem
Wortbrüchigen. War er wortbrüchig? Er hat klaren Befehl gegeben,
den Tempel zu schonen. Es waren die Götter, die anders beschlossen
hatten, wahrscheinlich der Judengott selbst, erzürnt über den
Frevel und die Verstocktheit seines Volkes. Nein, nicht ihn, den
Feldherrn, trifft die Schuld am Untergang des Heiligtums. Er
beschließt, die Vorgänge so zu klären, daß alle Welt das erkennen
soll.
Einige gefangene Juden hatten
ausgesagt, der Brand habe in der Holzkammer begonnen. Sie hätten zu
löschen versucht. Die römischen Soldaten hätten aber immer neue
Feuerbrände in die Holzstöße geschleudert. Dies konnten nur die
Mannschaften des Lösch- und Aufräumekommandos getan haben. Titus
stellte den Pedan und seine Leute vor ein Kriegsgericht, dem er
selber präsidierte.
Kurz bevor dieses Gericht tagte,
hatte er eine Unterredung mit dem Marschall Tiber Alexander.
»Hassen Sie mich eigentlich«, fragte er den Marschall, »weil der
Tempel dieses Jahve niedergebrannt ist?« – »Haben Sie den Tempel niedergebrannt, Cäsar Titus?« fragte
mit seiner verbindlichen Stimme der Marschall. »Ich weiß es nicht«,
sagte Titus.
Man befragte die Angeklagten:
»Hat die Erste Kohorte Feuerbrände in das Tempelhaus geworfen?« –
»Wir wissen es nicht, Cäsar Titus«, erklärten die Soldaten,
schallend, treuherzig, kameradschaftlich. Keiner hatte etwas davon
gesehen, daß der Hauptmann Pedan einen Feuerbrand geschmissen
hatte. »Es ist möglich«, erklärte Pedan, »daß wir uns auch mit
Feuerbränden gegen die Juden gewehrt haben. ›Der Gegner ist mit
Energie abzuweisen‹, hieß es im Befehl. ›Mit Energie‹, darunter
darf man wohl auch Feuer verstehen, wenn man gerade ein Feuerscheit
bei der Hand hat.« – »Hatten Sie die Absicht, die Baulichkeiten zu
schonen?« wurde gefragt. Pedan zuckte die Achseln. Ein alter,
ehrlicher Soldat, schaute er bieder und einfältig auf seine
Richter. »Es war«, meinte er, »eine dicke, steinerne Mauer, von
keiner Maschine zu erschüttern. Innen waren Steinböden,
Steintreppen. Wer konnte vermuten, daß Stein Feuer fängt? Es war
offenbar der Ratschluß der Götter.«
»Haben Sie«, fragte man, »einen
Plan des Tempels gesehen? Haben Sie gewußt, daß das goldumrahmte
Fenster in die Holzhalle führte?« Der Hauptmann Pedan ließ sich
Zeit mit der Antwort. Sein lebendiges Auge blinzelte den Prinzen
an, die Richter, dann wieder den Prinzen. Er lächelte verschmitzt,
er betonte sein Einverständnis mit Titus, alle sahen es. Und dann
wandte er sich geradezu an den Prinzen. Mit seiner quäkenden
Stimme, frech und unbekümmert sagte er: »Nein, Cäsar Titus, ich
habe nicht gewußt, daß Holz hinter dem Fenster ist.«
Sehr deutlich sah Tiber
Alexander, daß dieser Hauptmann Pedan log, und ebenso deutlich sah
er, daß er sich dabei im reinen Recht glaubte, daß er überzeugt
war, einen wortlosen Auftrag des Prinzen ausgeführt zu haben.
Dieser Prinz und dieser Hauptmann, der Marschall sah es klar, so
verschieden sie schienen, waren im Grund das gleiche: Barbaren. Der
Prinz hatte sich und allen andern geschworen, er werde den Tempel
erhalten, wahrscheinlich hatte er es ehrlich gemeint, aber in
seinem Innern war er genau wie Pedan von Anfang an gewillt gewesen,
das da, das Bewußte niederzureißen, unter die Stiefel zu
treten.
Die übrigen, Hauptleute,
Unteroffiziere, Mannschaften, blieben dabei: sie hatten nichts
gesehen. Keiner konnte sich auch nur im entferntesten erklären,
wodurch der Brand entstanden war. Auf alle Fragen hatten sie immer
die gleiche, treuherzige Antwort: »Cäsar Titus, wir wissen es
nicht.«
Titus, während der Beratung des
Gerichts, war auffallend fahrig. Der freche Blick des
Einverständnisses, den dieser unflätige Pedan ihm zugezwinkert
hatte, störte sein Inneres auf. Was ihn vorher noch dunkel bedrängt
hatte, ob er nicht doch an der Roheit dieses Burschen teilhabe, das
schob er jetzt weit von sich. War sein Befehl nicht klar gewesen?
Hat er nicht immer eisern für Disziplin gesorgt? Er wartete
gespannt auf die Meinung seiner Generäle, entschlossen, dem
Liebling der Armee die Begnadigung zu versagen, wenn ihr Urteil auf
Tod lautete.
An eine solche Demonstration
dachte aber offenbar keiner der Herren. Vage redeten sie herum. Man
sollte vielleicht den einen oder andern der Unteroffiziere in eine
Strafkompanie versetzen. »Und Pedan?« rief Titus dazwischen,
ungestüm, mit kippender Stimme.
Ein unbehagliches Schweigen
entstand. Dem Pedan, dem Träger des Graskranzes, eines auf den Kopf
geben, das wollte keiner riskieren. Schon schickte sich Cerealis,
der General der Fünften, an, etwas in diesem Sinn zu sagen, als der
Marschall Tiber Alexander das Wort ergriff. Was Pedan, führte er
aus, wahrscheinlich getan habe oder zumindest willentlich habe
geschehen lassen, das habe die ganze Armee gewollt. Nicht ein
einzelner sei schuld an der Schandtat, die den römischen Namen für
immer beflecke. Mit seiner leisen, höflichen Stimme schlug er vor,
alle Offiziere und Mannschaften, die an den Aufräumearbeiten
beteiligt gewesen waren, antreten zu lassen und jeden zehnten
hinzurichten.
Gerade weil man der Rede des
Marschalls Folgerichtigkeit nicht absprechen konnte, empörte man
sich dagegen einmütig und heftig. Es war eine Frechheit, daß dieser
Mann seine jüdischen Ressentiments an römischen Legionären
auslassen wollte. Die Urteilsverkündung wurde vertagt.
Am Ende geschah nichts. In einem
lahmen Befehl wurde der Ersten Kohorte der Fünften die
Unzufriedenheit der Heeresleitung ausgesprochen, weil sie den Brand
nicht verhindert habe.
Titus war tief verdrossen über diesen Ausgang
der Untersuchung. Es war aussichtslos, sich jetzt vor der Frau
rechtfertigen zu wollen. Er scheute sich, zu erkunden, wohin sie
gegangen war. Er fürchtete, es könnte sie jene wilde Laune
überkommen haben, die sie schon dreimal in die Wüste getrieben
hatte, auf daß sie, ihr Fleisch verwahrlosend, die Stimme ihres
Gottes vernehme.
Dann hörte er, sie sei nach dem
kleinen Orte Thekoa gegangen. Das waren nur wenige Stunden Weges.
Aber die Nachricht machte ihn nicht fröhlicher. Was suchte sie in
dem halbzerstörten Nest? Wollte sie die Stümpfe ihres Haines vor
Augen haben, ständige Erinnerung, daß er ihr nicht einmal die
kleine Bitte erfüllt hatte?
Das breite Gesicht des Titus
wurde grämlich, sein dreiekkiges, eingezacktes Kinn schob sich noch
mehr heraus, das ganze Antlitz verkniff sich zu dem eines
bösartigen Bauernknaben. Was soll er tun? Er hat nichts
vorzubringen, was vor ihr bestehen könnte. Soll er grob und
schmetternd von Kriegsrecht reden, ihr den Herrn zeigen, den Römer?
Er wird nicht mehr erreichen als in der Nacht, da er sie mit Gewalt
nahm.
Er befahl sich, nicht mehr an die
Frau zu denken. Er hat Arbeit genug, sich abzulenken. Noch steht
die Altstadt, die Oberstadt. Sie hat dicke, mächtige Mauern, man
kann sie nicht ohne weiteres stürmen, man muß von neuem mit den
Maschinen arbeiten, die Tore unterminieren. Er setzte sich einen
Termin. Sowie er die Oberstadt genommen hat, wird er sich der Frau
stellen.
Vornächst ließ er alles, was er
von dem eroberten Bezirk aus erreichen konnte, dem Erdboden
gleichmachen. Auseinander die Steine, nieder die Wände. Er hatte
Lust bekommen an der Vernichtung. Die vornehmen Häuser an den
Rändern der Tempelschluchten, das Proletarierviertel Ophla, die
alten, soliden Gebäude der Unterstadt wurden verheert. Rathaus und
Archiv, schon zu Beginn des Bürgerkriegs in Brand gesteckt, wurden
ein zweites Mal zerstört. Die Hypothekenbriefe, die Kaufdokumente,
die in Erz gegrabenen Staatsverträge, die auf Pergament
niedergelegten Ergebnisse der langen, leidenschaftlichen
Unterhandlungen auf der Kippa, der Börse, gingen ein für allemal
zugrunde. Der ganze Tempelbezirk und die angrenzenden Stadtteile
wurden den Soldaten zur Plünderung überlassen. Wochenlang wühlten
sie immer neues Gold und neue Schätze aus dem Schutt. Auch in die
unterirdischen Gänge des Tempelhügels tauchten sie hinab, nicht
ohne Gefahr; denn viele verirrten sich und kamen nicht mehr ans
Licht, manche auch fanden den Tod im Kampf mit Flüchtlingen, die
sich in dieser Unterwelt versteckt hielten. Aber die Gefahr lohnte,
die Unterwelt war eine Goldgrube. Immer neue Kostbarkeiten quollen
aus ihren Schächten, auch die verborgenen Tempelschätze förderte
man zutage, unter ihnen den berühmten achtteiligen Ornat, den der
Erzpriester Phanias so schmerzlich vermißt hatte. Juwelen, edles
Metall, seltene Stoffe häuften sich im römischen Depot, die Händler
hatten zu tun, der Preis des Goldes im ganzen Osten sank um
siebenundzwanzig Prozent.
In der Unterstadt war ein
Heiligtum der Juden, das Mausoleum der Könige David und Salomo.
Achtzig Jahre zuvor hatte einmal Herodes die Gruft geöffnet,
heimlich, des Nachts, gelockt von dem Gerücht ungeheurer Schätze.
Als er aber in das Innere vordringen wollte, wo die Gebeine der
alten Könige ruhten, waren ihm Flammen entgegengeschlagen, seine
Fakkeln hatten die Erdgase der Gruft entzündet. Titus hatte keine
Angst. Er drang mit seinen Herren bis in die letzte Grabkammer. Da
lagen die Leichen der beiden Könige, in goldenen Rüstungen, Diademe
auf den Schädeln, riesige, bunte Ringe kollerten von ihren
Beinhänden. Lampen, Schalen, Teller, Krüge hatte man ihnen
mitgegeben, auch die Rechnungsbücher des Tempels, auf daß sie Jahve
ihren frommen Wandel beweisen könnten. Der Marschall Tiber
Alexander rollte die Bücher auf, beschaute die verschollenen
Schriftzeichen. Titus nahm das umfangreiche Diadem von dem einen
Schädel, setzte es mit seinen breiten, kurzen Händen auf den
eigenen, wandte sich an seine Herren. »Das Diadem steht Ihnen nicht
gut, Cäsar Titus«, sagte trocken der Marschall.
Josef hatte den Brand des Tempels mit
gespannter Aufmerksamkeit betrachtet wie ein Forscher eine
Naturerscheinung. Er hatte sich verhärtet, er wollte nur Auge sein,
er wollte den lückenlosen Ablauf sehen, Anfang, Mitte, Ende. Er war
immer wieder bis an den Rand des Feuers gegangen, hatte das
brennende Geviert viele hundert Male durchmessen, sehr müde und
trotzdem überwach. Er sah, hörte, roch, nahm wahr, sein feines,
treues Gedächtnis notierte alles.
Am 25. September, einen Monat
nach dem Fall des Tempels, fünf Monate nach Beginn der Belagerung,
fiel die Oberstadt von Jerusalem. Während die Kohorten um die
einzelnen Stadtviertel würfelten, sie zur Plünderung unter sich
aufteilend, Straße für Straße, ging Josef zuerst ins Fort Phasael,
dort hatten die jüdischen Führer ihre Gefangenen verwahrt. Er
wollte Vater und Bruder aus dem Gefängnis herausholen. Aber das
Fort war leer, man fand nur Tote dort, Verhungerte. Die er suchte,
waren nicht darunter. Vielleicht hatten die Makkabi-Leute ihre
Gefangenen beim Einbruch der Römer erledigt, vielleicht hat sich
ein Teil in die Unterwelt gerettet.
Josef stieg tiefer hinein in die
Stadt, ging durch Brand und Gemetzel, verhärtet in der kühlen,
krampfigen Sachlichkeit des Chronisten. Den ganzen langen, heißen
Sommertag hindurch strich er die hügeligen Gassen auf und ab, die
Treppenwege, die Durchgänge, vom Herodespalast zum Gartentor, zum
Obermarkt, zum Essäertor, und wieder zum Herodespalast. Durch diese
Straßen und Winkel hatte er sich dreißig Jahre getrieben, als Kind,
als junger Mensch, als Mann. Er kannte hier jeden Stein. Aber er
schnürte den Schmerz ab, er wollte nichts sein als Auge und
Schreibgriffel.
Er war unbewaffnet; nur sein
goldenes Schreibzeug trug er merkwürdigerweise im Gürtel. Es war
nicht ungefährlich, sich so in dem preisgegebenen,
zusammenstürzenden Jerusalem herumzutreiben, gar, wenn man einem
Juden gleichsah. Er hätte sich schützen können, wenn er die
Auszeichnung des Titus getragen hätte, die Plakette mit dem
Medusenhaupt. Aber dies brachte er nicht über sich.
Er ging zum drittenmal in die
Fischerstraße, zum Haus seines Bruders. Das Haus war leer, alles
Bewegliche daraus weggeschafft. Die Soldaten hatten sich dem Hause
nebenan zugewendet. Auch das hatten sie bereits kahl geplündert,
sie waren dabei, Feuer anzulegen. Josef schaute durch das offene
Tor in den Hof. Dort, mitten in Lärm und Verheerung, stand ein
alter Mann, den Gebetmantel um die Schultern, die Gebetriemen an
Kopf und Arm, die Füße geschlossen. Josef trat näher. Der Alte
sprach laut, den Oberkörper schaukelnd, sein Gebet; denn es war die
Stunde der Achtzehn Bitten. Er betete inbrünstig, sein ganzer Leib
betete mit, wie es Vorschrift war, und als er zur vierzehnten Bitte
kam, betete er sie in der alten Form, wie man sie während des Exils
in Babel gebetet hatte: »Laßt schauen unsre Augen, wie du
zurückkehrst nach Jerusalem mit Erbarmen wie ehemals.« Es waren
verschollene Worte, nur durch die Gelehrten aufbewahrt, sie waren
Geschichte, sechshundertfünfzig Jahre lang hatte sie kein Mensch
mehr gebetet. Der Alte aber, an diesem ersten Tag, da sie wieder
Sinn bekamen, betete sie, zuversichtlich, selbstverständlich. Sein
Gebet erwirkte, was alle Schrecken dieses Tages auf Josef nicht
vermocht hatten. Durch die gewollte Härte des Betrachters brach
plötzlich, ihn von innen her aufreißend, die Erschütterung über den
Fall seiner Stadt.
Die Soldaten, mit dem brennenden
Haus beschäftigt, hatten sich bisher um den Alten nicht gekümmert.
Jetzt stellten sie sich belustigt um ihn, machten ihm nach: Jah,
Jah, packten ihn, rissen ihm den Gebetmantel vom Kopf, verlangten,
er solle nachsprechen: Jahve ist ein Esel, und ich bin der Knecht
eines Esels. Sie zerrten ihn am Bart, stießen ihn herum. Da trat
Josef dazwischen. Herrisch verlangte er, die Soldaten sollten den
alten Mann in Ruhe lassen. Die dachten nicht daran. Wer er denn
sei, daß er ihnen befehlen wolle? Er sei des Feldherrn
Privatsekretär, erklärte Josef, und handle mit seinem
Einverständnis. Hatte er nicht Erlaubnis, siebzig Gefangene
loszubitten? Da könne jeder kommen, erklärten die Soldaten. Sie
redeten sich in Wut, fuchtelten mit ihren Waffen. Er gehöre
wahrscheinlich selber zu den Juden, so ohne Rüstung, mit seinem
jüdischen Latein. Sie hatten Wein getrunken, sie wollten Blut
sehen. Es war toll gewesen von Josef, sich einzumischen, ohne daß
er einen schriftlichen Befehl vorzeigen konnte. Aus Jotapat ist er
heil hervorgegangen, aus so vielen andern Gefahren, jetzt wird er
hier einen lächerlichen Tod sterben, das Opfer eines Irrtums
besoffener Soldaten. Da fiel ihm etwas ein. »Schaut mich an«,
forderte er die Soldaten auf. »Wenn ich wirklich zu den Belagerten
gehörte, müßte ich da nicht magerer sein?« Das leuchtete ihnen ein,
sie ließen ihn laufen.
Josef suchte den Prinzen. Er fand
ihn in böser Laune. Die Frist, die sich Titus gegeben hatte, war
abgelaufen. Jerusalem war gefallen, morgen, spätestens übermorgen,
wird er nach Thekoa reiten. Die Auseinandersetzung mit der Frau
wird nicht angenehm sein.
Bescheiden bat Josef um eine
schriftliche Anweisung, damit er die siebzig Menschen losbekomme,
deren Freiheit der Prinz ihm zugesagt hat. Unwirsch schrieb Titus
die Anweisung. Während des Schreibens, über die Schulter, warf er
dem Josef hin: »Warum haben Sie mich eigentlich niemals um
Erlaubnis gebeten, Ihre Dorion hierherkommen zu lassen?« Josef
schwieg eine kleine Weile, erstaunt. »Ich fürchtete«, sagte er
dann, »Dorion werde mich hindern, Ihren Feldzug, Prinz Titus, so
mitzuerleben, daß ich ihn dann schreiben kann.« Schlecht gelaunt
sagte Titus: »Ihr seid scheußlich konsequent, ihr Juden.«
Den Josef traf dieses Wort. Es
war seine Absicht gewesen, mehr als die siebzig zu verlangen; vor
dem Gesicht des Prinzen hatte er es aufgegeben. Jetzt, plötzlich,
wußte er: es kam alles darauf an, daß Titus ihm mehr Menschenleben
zugestehe. Behutsam, sehr unterwürfig, bat er: »Schreiben Sie
nicht: siebzig, Cäsar Titus, schreiben Sie: hundert.« – »Ich denke
nicht daran«, sagte der Prinz. Er sah ihn bösartig an, seine Stimme
klang grobschlächtig wie die seines Vaters. »Heute würde ich dir
auch keine siebzig mehr konzedieren«, sagte er.
Niemals sonst hätte sich Josef
erdreistet, weiter zu bitten. Aber es trieb ihn. Er mußte beharren.
Er war für immer verworfen, wenn er jetzt nicht beharrte. »Geben
Sie mir siebenundsiebzig, Cäsar Titus«, bat er. »Schweig«, sagte
Titus. »Ich hätte Lust, dir auch die siebzig wieder zu
nehmen.«
Josef nahm das Täfelchen an sich,
bedankte sich, ließ sich Begleitmannschaften mitgeben, ging zurück
in die Stadt.
Das lebenbringende Täfelchen im
Gürtel, strich er durch die Straßen. Sie waren voll von Mord. Wen
soll er retten? Seinen Vater, seinen Bruder lebend anzutreffen,
hatte er wenig Hoffnung. Er hatte Freunde in Jerusalem, auch
Frauen, die er gerne sah, aber er wußte, es war nicht um dieser
willen, daß damals an der Leichenschlucht Jahve das Herz des Titus
erweicht hatte. Und nicht um dieser willen hatte er jetzt den
Prinzen mit so dreister Beharrlichkeit bedrängt. Gut und
verdienstvoll ist es, Menschen vom Tode zu retten, aber was sind
seine armseligen siebzig vor den Hunderttausenden, die hier
sterben? Und während er es noch nicht wahrhaben will, während er es
mit aller Kraft ins Nichtwissen zurückdrängt, steigt aus seinem
Innern ein bestimmtes Antlitz herauf.
Dieses ist es, dieses sucht
er.
Er sucht. Er muß finden. Er hat
keine Zeit, er darf nicht ablassen, es sind Hunderttausende, und er
muß den Einen finden. Es geht nicht um siebzig Irgendwelche, es
geht um den Bestimmten. Aber rings um ihn ist der Mord, und er hat
das lebenbringende Täfelchen im Gürtel und ein schlagendes Herz in
der Brust. Er sollte vorbeigehen, er hat seine Aufgabe, er hat
dieses bestimmte Gesicht zu finden. Aber wenn du siehst, wie
Menschen umgebracht werden, und du hast das Mittel, zu sagen: lebe,
dann ist es schwer, vorbeizugehen, vernünftig, auf das bestimmte
Gesicht wartend, schweigend. Und Josef ging nicht vorbei, er sagte:
lebe, er bezeichnete diesen, weil seine Angst ihn anrührte, jenen,
weil er so jung war, diesen wieder, weil sein Gesicht ihm gefiel.
Und er sagte: lebe, sagte es ein fünftes Mal, ein zehntes, ein
zwanzigstes Mal. Dann wieder nahm er alle Vernunft zusammen, er
hatte seine Aufgabe, er bezwang sich, ging vorbei an Menschen, die
starben, weil er vorbeiging. Aber er ertrug es nicht lange, schon
zum nächsten wieder sagte er: lebe, und wieder zum nächsten, und zu
mehreren. Erst als er den fünfzigsten den knurrenden, unwillig dem
Befehl gehorchenden Soldaten entrissen hatte, packte ihn wieder
seine Aufgabe, und er hielt ein. Er darf sich so billiges Mitleid
nicht gönnen; sonst steht er mit leeren Händen, wenn er den
Bestimmten findet.
Er flüchtet vor sich selber in
die Synagoge der Alexandrinischen Pilger. Er wird jetzt die siebzig
Rollen der Heiligen Schrift holen, die Titus ihm zugestanden hat.
Die Plünderer waren bereits in der Synagoge gewesen. Sie hatten die
heiligen Bücher aus der Lade gerissen, sie ihrer kostbaren,
bestickten Mäntel beraubt. Da lagen sie, die edeln Rollen, bedeckt
mit den köstlichen Zeichen, zerfetzt, blutbeschmiert, zertrampelt
von den Stiefeln der Soldaten. Josef bückte sich schwerfällig, hob
behutsam eines der geschändeten Pergamente aus Dreck und Blut. Man
hatte etwas herausgeschnitten, an zwei Stellen. Josef folgte den
Linien des Ausschnitts, sie zeigten die Form von Menschenfüßen. Er
begriff, die Soldaten hatten mit den Rollen nichts Besseres
anzufangen gewußt, sie hatten sich Einlagsohlen für ihre Stiefel
herausgeschnitten. Mechanisch rekonstruierte er die erste der
fehlenden Stellen: »Drücke den Fremden nicht in deinem Lande und
liege ihm nicht hart an; denn ein Fremder bist du gewesen im Lande
Ägypten.«
Langsam sammelte Josef die
zerfetzten Rollen auf, hob sie hoch, behutsam, führte sie
ehrerbietig zur Stirn, zum Mund, wie der Brauch es verlangte, küßte
sie. Er konnte sie nicht römischen Händen anvertrauen. Er trat
hinaus auf die Straße, um Juden zu suchen, die sie ihm in sein Zelt
brächten. Da sah er einen Zug heraufkommen, dem Ölberg zu,
Gefangene offenbar, die man mit den Waffen in der Hand ergriffen
hatte. Man hatte sie gegeißelt, hatte auf ihre zerpeitschten Nacken
Querbalken gelegt, ihre ausgestreckten Arme daran gebunden. So
schleppten sie jetzt selber das Holz, an dem sie sterben sollten,
zur Richtstätte. Josef sah die ausgelöschten, verzerrten Gesichter.
Er vergaß seine Aufgabe. Er befahl Halt, er wies dem Hauptmann, der
den Zug geleitete, sein Täfelchen vor. Es waren noch zwanzig Leben,
über die er zu verfügen hatte, die Gefangenen aber waren
dreiundzwanzig. Zwanzig von ihnen wurde der Querbalken wieder
abgenommen, sie stierten blöde, sie waren halbtot von der
Geißelung, sie wußten nicht, was ihnen geschah. Statt der
Kreuzbalken bekamen sie jetzt die Schriftrollen, und statt zum
Ölberg ging es ins römische Lager zu Josefs Zelt. Es war eine
sonderbare, von den Soldaten stürmisch belachte Prozession, wie da
Josef durch die Stadt zog, sein goldenes Schreibzeug im Gürtel, in
jedem Arm eine Schriftrolle tragend, zärtlich, als trüge er kleine
Kinder, gefolgt von den gegeißelten, taumelnden Juden, die ihm die
andern Rollen nachschleppten.
Titus hat den Weg bis Bethlehem sehr rasch
zurückgelegt, zwischen Bethlehem und Thekoa verlangsamt er den Trab
seines Pferdes. Die Aufgabe, die vor ihm liegt, ist schwierig. Sie
heißt Berenike. Das Schlimmste ist, man kann nicht um sich
schlagen, kann nichts tun. Man kann sich nur hinstellen und die
Entscheidung der Frau abwarten. Man genügt ihr, oder man genügt ihr
nicht.
Es geht jetzt steil aufwärts.
Thekoa liegt auf einem Felsen, kahl und verlassen, dahinter liegt
Wüste. Der Ortskommandant hat seine Leute zum Empfang des Feldherrn
aufgestellt. Titus nimmt seine Meldung entgegen. Das ist also jener
Hauptmann Valens, der den Hain hat fällen lassen. Ein Gesicht,
nicht klug, nicht dumm, bieder, männlich. Der Mann hat den Befehl
erhalten, den Hain zu schonen: er hat ihn geschont. Es ist seltsam,
daß es Titus nicht gelingt, der Frau sein Wort zu halten.
Er steht vor ihrem Haus. Es liegt
auf der höchsten Spitze des Felsens, klein, verwittert, erbaut
seinerzeit für Makkabäerprinzen, die man in die Wüste schickte. Ja,
von hier aus sieht man hinaus in die Wüste. Berenike ist trotz
allem in die Wüste gegangen.
Ein Kerl erscheint vor dem Haus,
schäbig angezogen, ohne Livree. Titus schickt ihn hinein, läßt der
Prinzessin sagen, daß er da ist. Er hat ihr seine Ankunft nicht
vorher mitgeteilt, vielleicht will sie ihn gar nicht sehen. Er
wartet, ein Beklagter, auf den Richter. Es ist nicht, weil er den
Tempel verbrannt hat. Nicht, was er getan hat, steht vor Gericht,
vor Gericht steht sein Wesen, das, was er ist. Sein Gesicht, seine
Haltung ist Anklage und Verteidigung zugleich. Da steht er, der
Herr über hunderttausend ausgezeichnete Soldaten und zahlreiches
Kriegsgerät, der Mann mit unbeschränkten Vollmachten für den Osten
von Alexandrien bis an die indische Grenze, und sein ferneres Leben
hängt davon ab, ob die Frau ja zu ihm sagt oder nein, und er ist
hilflos, er kann nichts tun als abwarten.
Das Tor oben öffnet sich, sie
kommt. Eigentlich ist es selbstverständlich, daß sie den Feldherrn,
den Herrn des Landes, ehrenvoll empfängt, aber dem Titus ist es
schon Erleichterung, daß sie da oben steht, daß sie da ist. Sie
trägt ein einfaches Kleid, viereckig, aus einem Stück, wie es hier die Frauen des Landes
tragen. Sie ist schön, sie ist königlich, sie ist die Frau. Titus
steht und starrt hinauf zu ihr, besessen, demütig. Wartet.
Berenike, in diesen Augenblicken, weiß, daß sie jetzt ein letztes
Mal ihr Schicksal in der Hand hält. Sie hat vorausgesehen, daß der
Mann einmal kommen wird, aber sie hat sich nicht darauf bereitet,
sie hat damit gerechnet, daß Gott, ihr Gott Jahve, sie im rechten
Augenblick das Rechte werde tun lassen. Sie steht oben auf der
Treppe, sie sieht den Mann, seine Gier, seine Besessenheit, seine
Demut. Er hat immer wieder sein Wort gebrochen, er hat Gewalt an
ihr getan, und er wird wieder Gewalt an ihr tun. Er ist besten
Vorsatzes, aber er ist ein Barbar, der Sohn von Barbaren, und das
ist stärker als seine Vorsätze. Nichts zwingt sie mehr, der Mann
hat alles zerrissen, die Vergangenheit ist abgelebt. Sie muß, sie
darf sich neu entscheiden. Bisher konnte sie sagen, es sei um des
Tempels willen, daß sie zu Titus ging. Jetzt hat sie keinen Vorwand
mehr, der Mann hat den Tempel niedergebrannt. Zu wem soll sie
fortan gehören, zu den Juden oder zu den Römern? Es steht, zum
letztenmal, bei ihr. Wohin soll sie gehen? Zu diesem Titus? Oder
nach Jabne zu Jochanan Ben Sakkai, der auf schlaue und großartige
Weise das Judentum neu aufbaut, heimlicher, geistiger,
geschmeidiger und doch fester als bisher? Oder soll sie zu ihrem
Bruder gehen und das Leben einer großen Dame, führen, voll
betriebsamer Leerheit? Oder soll sie in die Wüste gehen, wartend,
ob eine Stimme kommt?
Sie steht und sieht auf den Mann.
Sie riecht den Blutgeruch an ihm, sie hört das grauenvolle Hep,
Hep, das sie im Lager gehört hat und das bestimmt auch im Herzen
dieses Mannes schrie. Es wäre besser, sie ginge zurück ins Haus.
Hinterm Haus ist die Wüste, dort ist es gut. Sie befiehlt sich,
zurückzugehen. Aber sie geht nicht zurück, sie steht, den linken
Fuß noch auf der Schwelle, den rechten schon außerhalb. Und nun
setzt sie auch den linken vor, es zieht sie, sie befiehlt sich:
zurück! Aber sie geht nicht zurück. Wieder eine Stufe hinunter
setzt sie den Fuß, und noch eine. Sie ist verloren, sie weiß es.
Sie nimmt es auf sich, sie will verloren sein. Sie steigt die
Treppe hinunter.
Der Mann unten sieht sie kommen.
Sie kommt herunter, ihm entgegen, dies ist der kostbare, geliebte
Schritt der Berenike, der ihm entgegenkommt. Er stürmt vor, die
Treppe hinauf. Strahlt. Sein Gesicht ist ganz jung, das eines
glücklichen Knaben, den alle Götter segnen. Er streckt der Frau den
Arm zu, die Handfläche nach außen, stürmt hinauf, jubelt:
Nikion!
Die Nacht bleibt er in dem
kleinen, verwahrlosten Haus. Anderen Tages reitet er nach Jerusalem
zurück, beglückt. Er trifft den Josef. »Wolltest du nicht
siebenundsiebzig Gefangene, mein Josef?« fragt er. »Nimm
sie.«
Josef, das Täfelchen mit der Ermächtigung des
Feldherrn im Gürtel, begab sich in den Frauenvorhof des Tempels,
der als Gefangenendepot eingerichtet war. Es hatte ihn alle die
Tage her gedrückt, daß er seine Macht, zu lösen, auf so billige Art
verzettelt hatte. Jetzt begann die hoffnungsvolle, qualvolle Suche
von neuem.
Die Organisation des
Gefangenendepots hat noch immer Fronto unter sich, er ist
inzwischen zum Oberst aufgerückt. Er übernimmt persönlich die
Führung des Josef. Er mag den Juden nicht, aber er weiß, dieser
Josephus ist beauftragt, ein Buch über den Krieg zu schreiben, und
er möchte in diesem Buch eine gute Figur machen. Er setzt ihm die
Schwierigkeit auseinander, ein Depot von solchem Umfang zu
verwalten. Der Markt für Leibeigene ist hoffnungslos verstopft. Wie
soll man das Pack nur verpflegen, bis man es an den Mann gebracht
hat? Sie sind auf dem Hund, seine lieben Kindlein, Haut und
Knochen, viele verseucht. Elftausend sind ihm in dieser einzigen
Woche eingegangen. Viele sind übrigens selber daran schuld. Unsere
Legionäre sind gutmütig, zu Witzen aufgelegt, oft bieten sie den
Gefangenen von ihrem eigenen Schweinefleisch an. Aber, ist es zu
glauben, die Kerls verrecken lieber, als daß sie das Zeug
fräßen.
Gefangene, die Waffen getragen
haben, füttert Fronto nicht mit durch, die läßt er natürlich gleich
exekutieren. Was die andern anlangt, so sucht er Verwandte
aufzutreiben, die allenfalls Lösegeld für sie zahlen. Die nicht
Ausgelösten hofft er im Lauf etwa eines halben Jahres durch ein
paar Auktionen großen Stils loszuwerden. Gefangene ohne Marktwert,
ältere, schwächliche Männer, ältere Weiber ohne besondere Geschick
lichkeit, stößt er ab, indem er sie als Material für die Tierhetzen
und Kampfspiele bereitstellt.
Langsam, einsilbig ging Josef
neben dem beflissenen Oberst Fronto her. Die Gefangenen trugen ihr
Täfelchen mit Namen und kurzer Charakteristik, sie hockten oder
lagen dicht gepfercht in Hitze und Gestank, sie hatten seit Wochen
den Tod vor Augen, sie hatten Hoffnung und Furcht so bis ins Letzte
ausgeschmeckt, daß sie leer waren, ausgeronnen.
Die Abteilung, durch die sie
jetzt gingen, enthielt die für die Tierhetze und Kampfspiele
Ausgesonderten. »Doktor Josef«, rief ihn einer an, kläglich und
erfreut, ein alter Bursche, struppig, grau von Gesicht, verfilzt.
Josef suchte in seinem Gedächtnis, erkannte ihn nicht. »Ich bin der
Glasbläser Alexas«, sagte der Mann. Was, dieser Mensch wollte der
gescheite, weltgewandte Kaufmann sein? Der stattliche, beleibte
Alexas, nicht älter als er selber? »Ich habe Sie zuletzt auf der
Messe in Cäsarea getroffen, Doktor Josef«, erinnerte ihn der Mann.
»Wir sprachen davon, daß leiden müsse, wer sich zur Vernunft
bekennt.« Josef wandte sich an Fronto: »Ich glaube, der Mann hat
nie zu den Aufrührern gehört.« – »Die Untersuchungskommission hat
ihn mir überwiesen«, meinte achselzuckend Fronto. »Das römische
Prozeßverfahren ist nicht schlecht«, mischte sich Alexas bescheiden
ein, mit einem kleinen Lächeln, »aber es wird hier zur Zeit
vielleicht ein bißchen summarisch angewandt.« – »Der Bursche ist
nicht übel«, lachte Fronto, »aber wohin kämen wir, wenn wir alle
Entscheidungen revidieren wollten? Es ist gegen die Richtlinien.
›Besser eine Ungerechtigkeit als ein Verstoß gegen die Ordnung‹,
lautete die Order des Feldherrn, als er mir das Depot übergab.« –
»Bemühen Sie sich nicht um mich, Doktor Josef«, sagte resigniert
Alexas. »Ich bin so überdeckt mit Unglück, daß kein freundlicher
Wille mehr durchkommt.« – »Ich bitte um den Mann«, sagte Josef und
wies auf sein Täfelchen. »Wie Sie wünschen«, sagte höflich Oberst
Fronto. »Jetzt haben Sie noch sechs Stück gut«, konstatierte er und
machte seine Anmerkung auf dem Täfelchen.
Josef ließ den Glasbläser Alexas
in sein Zelt bringen. Er mühte sich mit Zartheit um den
erschöpften, traurigen Men schen. Alexas erzählte, wie er beim
Einbruch der Römer seinen Vater in die Unterwelt hinuntergeschleppt
hatte, um sich und ihn zu retten. Der alte Nachum hatte sich
gesträubt.: Gehe er in dem Haus in der Salbenmachergasse zugrunde,
dann sei eine leise Hoffnung, daß einer ihn finde und begrabe.
Sterbe er aber in der Unterwelt, dann werde er unbegraben
liegenbleiben, keine Erde über sich, und sein Gesicht bei der
Auferstehung verlieren. Schließlich hatte er den Alten mit
Überredung und Zwang in die Unterwelt gebracht, aber ihre Fackel
war bald ausgegangen, und sie hatten einander verloren. Er selber
war dann nach einiger Zeit von zwei Soldaten aufgespürt worden.
Hatte ihnen, gekitzelt von ihren Schwertern, ein weniges von seinem
Vergrabenen gezeigt. Da er sie vermuten ließ, er habe noch mehr,
behielten sie ihn zunächst für sich und lieferten ihn nicht im
Depot ab. Die beiden waren drollige, umgängliche Burschen, und vor
allem, mit zwei Soldaten konnte man reden, mit dem Depot, mit der
römischen Armee, konnte man nicht reden. Er mußte ihnen Witze
erzählen. Gefielen sie ihnen nicht, dann banden sie ihn an einen
Baumstamm, an Händen und Füßen, den Bauch nach unten, und
schaukelten ihn hin und her. Das war unangenehm. Gewöhnlich aber
gefielen ihnen seine Witze. Die beiden Soldaten waren nicht die
schlimmsten, man kam leidlich miteinander aus. Mehr als eine Woche
zogen sie so mit ihm herum, ließen ihn vor den andern Kunststücke
machen, seine Witze erzählen. Der jüdische Akzent seines Latein
machte ihnen und ihren Kameraden Spaß. Sie kamen schließlich auf
die Idee, er eigne sich zum Türhüter, und wollten ihn bei sich
halten, bis sie ihn als Türhüter verkaufen könnten. Ihm war es
recht. Es war besser, als in einem ägyptischen Bergwerk oder in
einer syrischen Arena zu enden. Aber dann waren seine beiden Herren
ein zweites Mal in die Unterwelt hinuntergestiegen, waren nicht
mehr zurückgekommen, und ihre Zeltkameraden hatten ihn dem Depot
überwiesen.
»Das alles geschah mir«,
meditierte Alexas, »weil ich nicht der Vernunft folgte. Wäre ich
rechtzeitig aus Jerusalem fort, dann hätte ich wenigstens noch Weib
und Kinder, aber ich wollte alles haben, ich wollte Vater und
Brüder haben. Ich habe mich überhoben.« Er bat den Josef, ihm eine
murrinische Vase schenken zu dürfen. Ja, dieser kluge Alexas hatte
immer noch Reserven. Er hatte viel gerettet, meinte er bitter, nur
das Wichtigste hatte er nicht gerettet. Sein Vater Nachum, wo ist
er? Sein Weib Channa, seine Kinder, sein liebenswerter, heftiger,
törichter Bruder Ephraim, wo sind sie? Er selber, Alexas, was er
gelitten hat, ist über eines Menschen Vermögen. Er wird Gläser
machen und andere schöne Dinge. Aber er hat keine Gnade vor Gott,
er wagt es nicht, in diese Welt hinein von neuem ein Kind zu
machen.
Den andern Tag ging Josef
wiederum durch das Gefangenendepot. Er hat jetzt nur mehr sechs
Menschenleben in der Hand, er wird sie nicht ausgeben, bevor er den
Einen, seinen Bestimmten, gefunden hat. Wie aber soll er unter der
Million von Toten, Gefangenen, Elenden seinen Einen herausfinden?
Das heißt einen Fisch im Meer suchen.
Als Josef auch am dritten Tag
wiederkam, begann Oberst Fronto ihn zu hänseln. Er freue sich,
meinte er, daß Josef für seine Ware mehr Interesse zeige als jeder
Leibeigenenhändler. Josef ließ sich das nicht anfechten. Er suchte
auch diesen Tag hindurch. Vergeblich.
Am späten Abend erfuhr er, es
seien, als Ergebnis einer Razzia in der Unterwelt, achthundert
Gefangene eingeliefert worden, die Oberst Fronto sogleich fürs
Kreuz bestimmt habe. Josef hatte sich bereits hingelegt, er war
müde und erschöpft. Trotzdem machte er sich auf.
Es war tiefe Nacht, als er auf
den Ölberg kam, wo die Exekutionen stattfanden. Dicht standen dort
die Kreuze, zu vielen Hunderten. Wo einstmals die Ölterrassen
waren, die Magazine der Brüder Chanan, die Villen der
Erzpriesterfamilie Boëth, überall jetzt hoben sich die Kreuze. Die
nackten, gegeißelten Männer hingen daran, verkrampft, mit schrägen
Köpfen, herabfallenden Unterkiefern, bleifarbenen Lidern. Josef und
seine Begleiter leuchteten die einzelnen Gesichter ab, sie waren
gräßlich verzerrt. Wenn der Lichtschein die Gesichter traf, dann
begannen die Hängenden zu sprechen. Einige fluchten, die meisten
stammelten ihr: Höre, Israel, Josef war zum Umsinken müde. Er war
versucht, beim nächsten zu sagen: Nehmt ab, nehmt ab!, wahllos,
damit er die grausige Suche beenden könnte. Das Täfelchen, das ihm
Macht gab, wurde immer schwerer. Nur weg von hier, nur schlafen
dürfen. Die siebenundsiebzig erreicht haben, das Täfelchen los
sein. Ins Zelt, umsinken, schlafen.
Und dann fand er den, den er
suchte. Es stoppelte sich dem Gelbgesichtigen ein wirrer Bart um
die Wangen. Das Gesicht war auch nicht mehr gelb, grau vielmehr,
eine dicke, belegte Zunge hing aus dem klaffenden Mund. »Nehmt
herunter!« sagte Josef, er sagte es sehr leise, es kostete ihn
Mühe, zu sprechen, es würgte ihn, er schluckte. Die Profose
zögerten. Es mußte erst der Oberst Fronto gerufen werden. Es
dauerte quälend lange für Josefs Ungeduld. Ihm schien, als stürbe
der Gelbgesichtige, während er hier zu seinen Füßen wartete. Das
durfte nicht sein. Das große Gespräch zwischen ihm und Justus war
nicht zu Ende. Justus durfte nicht sterben, bevor es zu Ende
war.
Endlich kam Fronto, verschlafen,
verärgert, er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Höflich
trotzdem wie immer hörte er Josef an. Gab sogleich Befehl, den Mann
abzunehmen und Josef zu übergeben. »Jetzt haben Sie noch fünf Stück
gut«, konstatierte er und machte seine Anmerkung auf Josefs
Täfelchen. »Nehmt ab! Nehmt ab!« befahl Josef und bezeichnete die
nächsten fünf. »Jetzt haben Sie keinen mehr«, konstatierte der
Oberst.
Der Gelbgesichtige war angenagelt
gewesen, das war das mildere Verfahren, aber es erwies sich als
sehr hart jetzt beim Abnehmen. Er hing fünf Stunden, das war für
einen starken Mann nicht viel, aber der Gelbgesichtige war kein
starker Mann. Josef schickte nach Ärzten. Der Gelbgesichtige kam
zum Bewußtsein vor Schmerz, dann sank er wieder weg, dann riß der
Schmerz ihn wieder ins Bewußtsein. Die Ärzte kamen. Es gehe um
einen Propheten der Juden, hieß es, und er sei im Auftrag des
Prinzen vom Kreuz genommen worden. Dergleichen kam nicht oft vor;
es waren die besten Ärzte des Lagers, die sich für den Fall
interessierten. Josef drang in sie. Sie äußerten sich
zurückhaltend. Vor drei Tagen könnten sie nicht sagen, ob der Mann
durchkommen werde.
Josef ging neben der Bahre her,
in der man Justus ins Lager brachte. Justus hatte ihn nicht
erkannt. Josef ist todmüde, aber er ist voll Ruhe, in seinem Herzen
sind die Worte der Lobsagung anläßlich der Errettung aus großer
Gefahr. Schlafen hätte ihm nicht Frische gebracht, das Essen keine
Sättigung, Bücher keine Erkenntnis, Erfolg keine Genugtuung, wenn
dieser Justus tot oder verschollen geblieben wäre. Er wäre neben
dem Mädchen Dorion gelegen ohne Glück, er hätte sein Buch
geschrieben ohne Glück. Jetzt ist der Mann da, sich mit ihm zu
messen, der einzige, um den es lohnt. »Ihr Doktor Josef ist ein
Lump.« Ein Wort schmeckt anders im Ohr als im Mund, daran hätte der
Mann denken müssen. Es ist eine große Ruhe in Josef, Erfüllung,
Leichtigkeit. Er schläft gut und lange, fast bis zum
Mittag.
Er geht ans Lager des Justus. Die
Ärzte schweigen sich noch immer aus. Josef geht nicht vom Lager
weg. Den ganzen Tag liegt der Gelbgesichtige ohne Bewußtsein. Am
zweiten Tag beginnt er zu phantasieren, er sieht grauenvoll aus.
Die Ärzte zucken die Achseln, rechnen nicht mehr damit, daß er
davonkommt. Josef sitzt am Lager. Er ißt nicht, er wechselt das
Kleid nicht, es kräuselt sich um seine Wangen. Er rechtet mit
Jahve. Warum hat er ihn geschont durch soviel wilde Wechselfälle,
wenn er ihm jetzt die große Auseinandersetzung mit Justus nicht
gönnen will? Der Prinz schickt nach ihm. Berenike schickt nach ihm,
er möge nach Thekoa kommen. Josef hört nicht. Er sitzt am Lager des
Justus, starrt auf den Kranken, wiederholt die Gespräche, die er
mit ihm gehabt hat. Das große Gespräch ist nicht zu Ende. Justus
darf nicht sterben.
Am vierten Tag der Pflege nehmen
die Ärzte dem Mann den linken Unterarm ab. Am achten erklären sie
ihn für gerettet.
Josef, nun er den Justus außer Gefahr wußte,
ging fort von seinem Lager, ließ eine Summe Geldes zurück, kümmerte
sich nicht weiter um den Mann. So geltungssüchtig er war, es lag
ihm nichts daran, sich dem Justus als Lebensretter zu zeigen. Das
große Gespräch mit Justus wird eines Tages fortgesetzt werden, das
genügte.
Um diese Zeit bat Titus den Josef um einen
Dienst. Der
Prinz freute sich dessen, was er in Thekoa
errungen hatte; aber er fühlte sich immer noch unsicher in allem,
was diese jüdische Frau anging. Er wagte sich nicht weiter vor. Was
soll sein, wenn er nun das Land verläßt? Er beauftragte Josef, bei
Berenike vorzufühlen, ob sie mit nach Rom kommen wolle.
In dem verwahrlosten Haus von
Thekoa standen sich Josef und Berenike gegenüber, einer so kahl wie
der andere. Hat nicht ihr ganzes Leben, ihr Wegwurf an die Römer,
Sinn gehabt nur als Versuch, den Tempel zu retten? Der Tempel ist
hin, sie sind Muscheln ohne Schale. Aber sie sind aus dem gleichen
Stoff, und sie schämen sich, einer vor dem andern, ihrer Blöße
nicht. Nackt und rechnerisch betrachten sie ihre Armut. Es gilt
jetzt, ohne den Hintergrund eines Stammes mit eigenen Fähigkeiten
sich neuen Boden zu schaffen. Er hat sein Buch und seinen Ehrgeiz,
sie hat Titus und ihren Ehrgeiz. Ihrer beider Zukunft ist
Rom.
Ja, gewiß wird sie nach Rom
gehen.
Dem Prinzen war die Zusage der
Frau eine große Bestätigung. Er fühlte sich Josef zu Dank
verpflichtet. »Besitzen Sie nicht Terrains in der Neustadt, mein
Josef?« fragte er. »Auch von Ihrem Vater müssen Sie Grundbesitz
geerbt haben. Ich werde allen Boden in Jerusalem enteignen für die
Legion, die ich als Besatzung hierherlegen will. Geben Sie mir eine
genaue Aufstellung Ihrer Verluste. Ich werde Ihnen aus dem
konfiszierten Boden im Land Ersatz anweisen.« Josef freute sich
über dieses Geschenk. Mit kaltem, nüchternem Geschäftssinn regelte
er seine judäischen Angelegenheiten. Er wollte klare Verhältnisse
hinter sich haben, nun er das Land verließ.
Titus schleifte Jerusalem
vollends, wie es einstmals die siegreichen Heerführer mit den
Städten Karthago und Korinth gemacht hatten. Nur die Türme Phasael,
Mariamne und Hippikus sowie einen Teil der Westmauer ließ er stehen
zum Zeichen, wie herrlich und stark befestigt die Stadt gewesen
war, die seinem Glück hatte erliegen müssen.
Am 24. Oktober, anläßlich des Geburtstags
seines Bruders Domitian, des Früchtchens, veranstaltete Titus im
Stadion von Cäsarea Festspiele, für die er aus dem Überfluß der
jüdischen Gefangenen Menschenmaterial in besonderer Üppigkeit zur
Verfügung stellte. »Komm und sieh!« sagte er zu Josef. Josef
kam.
Nachdem alle
zweitausendfünfhundert Teilnehmer durch die Arena geführt waren,
mußten zunächst zwei Haufen Juden, die einen als Verteidiger, die
andern als Angreifer, die Erstürmung einer Stadtmauer darstellen.
Sie stachen aufeinander ein, die bärtigen, jämmerlichen Menschen,
warfen sich grotesk hoch, wenn sie den zaghaften Todesstreich
empfingen. Wer zu feig war, wurde mit Peitschen und glühenden Eisen
in den Kampf getrieben. Gegen einzelne, die durchaus nicht dazu
gebracht werden konnten, aufeinander loszugehen, schickte man
gelernte leibeigene Fechter vor. Theaterdiener in der Maske des
Unterweltgottes Hades nahmen die Gefallenen in Empfang, prüften mit
Feuerbränden, ob sie den Tod nicht etwa nur simulierten. Die Arena
war voll von Geschrei: Höre, Israel, Jahve ist einzig. Viele
starben den Zuschauern zu langweilig. Man schrie ihnen zu: »Was ist
das für eine waschlappige Art, einen umzulegen. Das ist ja
gekitzelt, nicht gefochten. Los, du Bärtiger, los, du Alter! Ein
bißchen fixer, wenn’s gefällig ist! Nicht so tranig gestorben, ihr
Schisser!« Josef hörte die Rufe. Je nun, man hatte diesem Publikum
gesagt, die Juden seien im ihrem Kampf ernst und anständig
gestorben, und jetzt war es enttäuscht, daß man ihm dieses
anständige Sterben nicht vormachte.
Es war nicht leicht, auf die
Dauer Monotonie zu vermeiden. Man schickte gegen die Gefangenen
afrikanische Löwen vor, indische Elefanten, deutsche Auerochsen.
Die todbestimmten Juden waren zum Teil in Festgewändern, andere
mußten Gebetmäntel tragen, weiß, mit schwarzen Kanten und blauen
Quasten, und es war hübsch anzusehen, wie die sich rot färbten.
Viele auch, Männer wie Frauen, jagte man nackt in die Arena, damit
die Zuschauer das Spiel der Muskeln während des Sterbens beobachten
könnten. Ein paar sehr kräftige Männer stellte man gut bewaffnet
einem Elefanten gegenüber. Die Männer, finster und verzweifelt,
brachten dem Tier ernstliche Wunden bei, ehe es, trompetend und
gereizt, sie zertram pelte, und das Publikum hatte Mitleid mit dem
Elefanten. Man hatte Sinn für Humor. Viele mußten in lächerlichen
Masken sterben. Eine Anzahl von Greisen hatte man auf der einen
Seite rasiert und kahlgeschoren, auf der andern Seite hatte man
ihnen ihre langen Haare und ihre langen weißen Bärte gelassen.
Andere mußten rennen, mit leicht entzündlichen Stoffen bekleidet;
ihre Gewänder entzündeten sich während des Laufs, zweihundert Meter
vor ihnen war ein Wasserbassin, und wenn sie es erreichten, waren
sie, vielleicht, gerettet. Es war possierlich anzusehen, wie sie
die Beine warfen, wie sie japsten, wie sie sich ins Wasser
schmissen, auch wenn sie nicht schwimmen konnten. Viel Spaß machte
auch eine Leiter, die man an eine zu stürmende Mauer anlegte. Die
aufgeputzten Todbestimmten mußten sie erklettern, die Leiter aber
war mit glitschiger Masse beschmiert, und sie fielen in
aufgestellte Spieße.
Zwei Tage starben die Juden,
ihrer zweitausendfünfhundert, auf diese Art, den Unbeschnittenen
zum Spaß, im Stadion der Stadt Cäsarea. Zwei Tage sah und hörte
Josef sie sterben. Oft glaubte er bekannte Gesichter zu sehen, aber
das war wohl Irrtum, denn Fronto hatte für diese Zwecke im
wesentlichen namenloses Volk bestimmt, Kleinbauern und Proletarier
aus der Provinz. Ich habe es gesehen, konnte Josef hinzufügen, wenn
er diese Spiele später schilderte. Meine Augen haben es
gesehen.
Es war nun an dem, daß Josef in
kurzer Zeit Judäa, und vermutlich für immer, verlassen mußte. Lange
schwankte er, ob er mit Mara zusammentreffen sollte. Er versagte es
sich. Er wies ihr eine auskömmliche Rente an und stellte ihr
anheim, auf einem der Güter in der Ebene Jesreel zu wohnen, die
Titus ihm überlassen hatte.
Die Juden hatten Josef gesehen,
wie er zu den Spielen ging. Sie haßten und verachteten ihn und
hielten die sieben Schritte Abstand. Keiner geleitete ihn, als er
sich nach Italien einschiffte.
Der Hafen von Cäsarea versank,
die Kolossalstatuen der Göttin Rom, des Kaisers August. Dann
versank das Fort Strathon, dann das violette Gebirge Judäas,
zuletzt der grüne Gipfel des Berges Karmel. Josef war auf dem Weg
nach Rom. Von Judäa führte er mit sich nichts als das Gedächtnis
dessen, was er gesehen hatte, siebzig Rollen der Heiligen Schrift
und einen kleinen Kasten Erde, hervorgekratzt unter dem Schutt von
Jerusalem.
Auf der Höhe der Appischen Straße, wo das
Grabmal der Cäcilia Metella stand, machte der Fuhrmann den üblichen
Halt, und Josef sah hin auf das große Bild der Stadt, das sich hier
öffnete. Es war ein kühler Märztag, die Stadt lag hell im Licht,
Rom, Kraft, Gewurah, sie dehnte sich kräftiger als damals, da er
sie verlassen hatte, um Jerusalem aufzusuchen. Was er damals
geträumt hat, als er zum erstenmal vom Capitol aus über die Stadt
hinschaute, jetzt braucht er nur die Hand auszustrecken, und er hat
es erreicht. Der Kaiser und der Prinz bitten ihn um sein Wort, um
Wort und Geist vom Geist des Ostens.
Bitter kneift Josef die Lippen
ein. Leider hat der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai recht. Was ihm
damals das Ende schien, ist erst der Anfang. Verschmelzung
östlicher Weisheit mit westlicher Technik, das ist eine Sache von
harter Mühe und von wenig Glanz. Der Wagen ist weitergefahren, er
hält am Tor. Josef hat Dorion seine Ankunft nicht angezeigt. Er
liebt Dorion, er hat ihr Bild nicht vergessen, wie sie das erstemal
vor ihm stand, die Katze im Arm, ihre dünne, geliebte
Kleinmädchenstimme nicht, und nicht, wie sie ihren langen, braunen
Körper ihm anschmiegt, wild, ohnmächtig, ergeben. Aber es sind
jetzt so viele Gesichte zwischen ihm und ihr, Dinge, aus denen sie
ausgeschlossen ist. Er will abwarten, will nicht Hoffnungen in ihr
erwecken, will sehen, spüren, ob noch jenes Fließende zwischen ihm
und ihr ist wie damals.
Das Haus Dorions ist klein,
gefällig, modern. Der leibeigene Türhüter fragt Josef nach seinem
Begehr. Josef nennt seinen Namen, der Türhüter neigt sich tief,
rennt fort. Josef steht allein in der Empfangshalle, er verfinstert
sich. Ringsum ist alles geschmückt mit Bildern, Statuen, Mosaiken,
wahrscheinlich von diesem Fabull. Was soll er hier? Er kann hier
nicht leben.
Und jetzt kommt Dorion. Wie
damals hebt sich auf ihrem steilen Kinderhals leicht, rein der
lange, dünne Kopf mit dem großen Mund. Sie steht und schaut ihn an
mit ihren meerfarbenen Augen, die zusehends dunkler werden. Sie
möchte lächeln, aber sie ist ganz schwach, sie kann nicht einmal
lächeln. Sie hat ihn so lange erwartet, und nun, großen Dank,
Götter, ist er da. Sie hat gefürchtet, dieses widerliche Judäa
werde ihn für immer verschlingen, und nun, großen Dank, Götter, ist
er gekommen. Sie wird blaß, zuerst um den Mund herum, dann über das
ganze Gesicht, sie starrt ihn an, und jetzt tritt sie auf ihn zu,
sie stößt einen kleinen, schrillen Schrei aus und gleitet an ihm
nieder, er muß sie halten. Dies ist die gelbbraune Haut des
Mädchens, das er liebt. Sie ist süß und glatt, und o wie kalt sie
ist, diese Haut, weil das Mädchen ihn liebt.
Minuten vergehen, die beiden
haben noch kein Wort gesprochen. Sie ist die Süßigkeit der Welt.
Wie sie an ihm niedergleitet, tödlich erblaßt, ohnmächtig vor
Erregung, werden ihm die Knie schwach. Du sollst dich nicht
vergatten mit ihnen. Vor ihm steht sein Buch, die kahle Landschaft
mit der Leichenschlucht, der Tempelberg, glühend von seinen Wurzeln
auf. Was sollen die albernen Mosaiken ringsum, diese läppischen,
freundlichen Bilder häuslichen Lebens? Was soll ; er hier? Was will
die Frau? Er ist hier ganz fremd.
»Du bist hier ganz fremd«, sagt
sie, es ist das erste Wort, das sie seit einem Jahr zu ihm spricht.
Sie hält ihn an den Schultern, sie hat die Arme gestreckt, sie
schaut ihm ins Gesicht. Sie sagt: du bist hier ganz fremd, sie
stellt es fest, ernst, ohne Klage. Sie liebt ihn, darum weiß sie
es.
Kleine Tröstungen, kleine Lügen
haben hier keinen Sinn. »Ja«, erwidert er. »Ich kann hier nicht
leben. Ich kann jetzt nicht mit dir leben, Dorion.«
Dorion sagt kein Wort des
Widerspruchs. Sie spürt, dieser ist nicht mehr ihr Josef, er ist
ein anderer, voll von Gesichten, die nicht die ihren sind. Aber sie
gehört zu ihm, auch wenn er sich in dieser Gestalt zeigt, sie ist
zäh und tapfer, sie wird ihn auch in dieser Gestalt erringen. Sie
hält ihn nicht. »Wenn du mich willst, laß mich kommen«, sagt
sie.
Josef geht. Er fühlt sich sehr
fremd in Rom. Er drückt sich durch die Straßen, die Kolonnaden.
Wenn er bekannte Gesichter sieht, wendet er den Kopf weg, er will
mit niemandem reden. Nach einigem Hin und Her entschließt er sich,
geht zu Claudius Regin.
Der Verleger sieht müde aus, alle
Teile seines fleischigen Gesichtes hängen. »Gegrüßt sei, der da
kommt«, grinst er. »Nun, mein Prophet, was macht Ihr Buch? Ihre
Prophezeiung hat sich erfüllt, auf eine etwas eigentümliche Art
allerdings. Ich denke, Sie könnten jetzt an die Arbeit gehen. Oder
wollen Sie sich drücken?« – »Ich habe mich nicht gedrückt«, sagt
verbissen Josef. »Sie wissen nicht, wie schwer das manchmal war.
Aber ich habe mich nicht gedrückt.«
»Ich bin zuweilen Ihrer schönen
Frau begegnet, der Ägypterin«, sagte der Verleger. »Ich werde nicht
mit Dorion zusammen sein«, sagte Josef, »solange ich an dem Buch
schreibe.« Regin sah hoch. »Das ist merkwürdig«, meinte er. »Dabei
ist eigentlich die Dame der Grund Ihres Buches.« – »Ein Anlaß
vielleicht«, lehnte Josef ab.
»Wenn Sie bei mir wohnen wollen,
mein Haus steht zu Ihrer Verfügung«, sagte der Verleger. Josef
zögerte. »Ich möchte allein sein«, sagte er, »solange ich an dem
Buch schreibe.« – »Ich glaube«, sagte Claudius Regin, »der Kaiser
wird Ihnen das Haus einräumen, das er früher bewohnt hat. Das Haus
ist ein wenig kahl, die Majestät war immer sparsam, das wissen
Sie.«
Josef bezog das Haus. Es war
groß, dunkel, verwahrlost. Er wohnte dort mit einem einzigen
Leibeigenen. Er pflegte sich nicht, aß nur das Notwendigste. Er
zeigte keinem Menschen an, daß er in Rom sei. Er strich durch die
Straßen, wenn sie am leersten waren, sah die Vorbereitungen zu dem
Triumphzug. Überall schon arbeitete man an Gerüsten, Tribünen. An
den Mauerwänden, an den Toren tauchten riesige Bilder des
Vespasian, des Titus auf, Spruchbänder um sie, die die Imperatoren
feierten, das besiegte Judäa verhöhnten. In gigantischer
Vergrößerung stierten dem Josef die Fratzen des Kaisers und des
Prinzen entgegen, leer, grob, verzerrt; alles Vertraute war fort,
es waren Gesichter des Pedan.
Eines Tages, in den Kolonnaden
des Marsfelds, begegnete dem Josef die Sänfte des Senators Marull.
Josef wollte rasch vorbei, aber der Senator hatte ihn erspäht. »Sie
haben Karriere gemacht, junger Herr«, konstatierte er. »Sie haben
sich verändert. Ja, Schicksale machen Köpfe.« Er betrachtete ihn
durch seinen blickschärfenden Smaragd. »Erinnern Sie sich, wie ich
Sie über Rom informierte, in der Großen Rennbahn? Das war vor fünf
Jahren. Ich habe damals schon gesehen, daß es sich lohnt, Sie zu
informieren. Sie haben sich im rechten Augenblick auf die richtige
Seite gelegt.«
Er ließ ihn nicht gehen, nahm ihn
mit sich, erzählte ihm. Er schrieb an einer Posse, die zu Beginn
der Triumphwoche im Marcell-Theater in Szene gehen sollte. Held der
Posse sollte der Jude Secharja sein, ein Gefangener, verurteilt zu
den Spielen. Der Schauspieler Demetrius Liban wird ihn darstellen.
Der Gefangene Secharja soll im Einzelkampf mit einem andern
sterben. Die Todesangst des Juden, seine Bitten, seine Erwartung,
trotz allem begnadigt zu werden, sein Fechten, sein Nichtfechten,
das alles gab Anlaß zu sehr vielen komischen Szenen, Witzen,
Tänzen, Couplets. Die Frage war nur der Schluß. Es wäre reizvoll,
einen Doppelgänger des Liban zu suchen – man hat jetzt ja
reichliche Auswahl –, so ähnlich, daß die eigene Mutter ihn nicht
von dem Schauspieler wegkennt, und ihn von einem Berufsfechter
abtun zu lassen. Andernteils ist das Publikum mit Kreuzigungen und
toten Juden übersättigt. Vielleicht läßt man doch besser den
Gefangenen Secharja begnadigt werden. Seine Freude am neuen Leben
ist kein schlechtes Motiv, und zum Schluß könnte er aus Dankbarkeit
Schätze aus seinem Versteck holen und sie unters Publikum
verteilen. Man kann es vielleicht so wenden, daß man ihn am Schluß
am Kreuz hängen läßt und daß dann einer kommt und ihn herunterholt,
haben nicht Sie was Ähnliches gemacht, Flavius Josephus?, und daß
er dann Geld vom Kreuz aus unters Publikum wirft, neugeprägte
Siegesmünzen.
Josef mußte über den Abend bei
dem Senator Marull bleiben, mit ihm essen. Der hagere, gescheite
Herr interessierte sich für eine Menge abliegender Details aus dem
Feldzug, er holte den Josef gründlich aus. Auch er konnte dem Josef
Neuigkeiten mitteilen. Es stand nun fest, daß von den drei
Repräsentanten der Juden, die im Triumphzug aufgeführt werden
sollten, nur an Simon Bar Giora die während des Triumphs übliche
Hinrichtung vollzogen werden wird. Die beiden andern, Johann von
Gischala und der Erzpriester Phanias, sollten nach dem Triumph als
Leibeigene verkauft werden. Es sind drei Reflektanten da: Mucian,
der Minister Talaß und er selber. Er hat Grund anzunehmen, daß man
ihn berücksichtigen wird. Die Dame Cänis ist nicht billig, aber er
ist kein Knauser. Zu wem Josef ihm mehr rate, zu dem Feldherrn oder
zu dem Erzpriester?
Am andern Tag überwand sich Josef
und suchte den Schauspieler Demetrius Liban auf. Er fand ihn
überraschend gealtert und nervös. »Ah, da sind Sie ja«, empfing er
ihn. »Natürlich, Sie durften nicht fehlen. Eigentlich habe ich Sie
schon längst erwartet.« Er war voll feindseliger Ironie gegen
Josef. Langsam begriff Josef: dieser Mann maß sich die Schuld am
Untergang des Tempels bei. Er hat Josef zu Poppäa gebracht, er im
Grund hat die Amnestierung der drei erwirkt, und ist nicht alles
Übel ausgegangen von dieser Amnestierung? Die Amnestierung, das
Edikt über Cäsarea, der Aufstand, die Einäscherung des Tempels, das
war eine Kette. Und der Anfang der Kette war er. Von ihm damals
hing es ab: spielte er den Juden Apella oder nicht? Jahve hatte in
seine Hand die Lose über Bestand und Untergang gelegt, und seine
Unglückshand hat das Los des Verderbens geworfen. Er erhob sich. Er
begann aufzusagen die große Verfluchung aus dem Fünften Buch Mosis.
Sicherlich hat er niemals einen von den Propheten gesehen oder
gehört, die, echte und falsche, in diesen letzten Jahrzehnten in
Jerusalem aufgestanden sind; aber es war die Geste dieser
Propheten, selbst ihr Singsang, in seinen griechischen Worten. Der
Schauspieler Liban war kein stattlicher Mann, er war eher klein von
Wuchs, aber er ragte wie ein finsterer Baum. »Am Morgen wirst du
sprechen: wer gäbe Abend, und am Abend wirst du sprechen: wer gäbe
Morgen, vor Bangigkeit deines Herzens.« Schauerlich wälzten sich
die düsteren Verwünschungen aus seinem Mund, eintönig, wuchtig,
herzbeklemmend. »Und so ist es geschehen«, konstatierte er manchmal
mitten hinein, nüchtern, aber mit wüster, verzweifelter Genugtuung.
Josef, nach dieser Zusammenkunft mit Demetrius Liban, saß zwei Tage
allein in seinem großen, finstern Haus. Am dritten Tag ging er über
die Emiliusbrücke, auf die andere Seite des Tiber, unter die
Juden.
Die Juden der Stadt Rom haben,
solange der Feldzug dauerte, der Regierung ihre Loyalität auf jede
Art gezeigt. Sie sind loyale Untertanen auch jetzt noch, die
Aufrührer trugen selber die Schuld, gewiß: aber sie scheuen sich
nicht, trotzdem ihren Jammer über die Zerstörung des Heiligtums
offen kundzutun. Sie wollen auch ihren Abscheu nicht verstecken,
daß Juden bei der Zerstörung mitgeholfen haben. Josef, wie er die
Stadtteile am rechten Ufer betritt, stößt auf einen ungeheuern Haß.
Alle dort halten die sieben Schritte Abstand. Er geht durch einen
leeren Raum, zwischen Mauern aus Verachtung.
Er wendet sich zum Haus des Cajus
Barzaarone. Der Präsident der Agrippenser-Gemeinde, der ihm ehemals
seine Tochter zur Frau hat geben wollen, steht ihm gegenüber, hält
die sieben Schritte Abstand. Das Gesicht des schlauen, jovialen
Mannes ist finster, verzerrt vor Feindschaft. Cajus Barzaarone hat
auf einmal eine große Ähnlichkeit mit seinem Vater, dem uralten,
mummelnden Aaron. Josef steht entmutigt vor diesem zugesperrten
Gesicht. »Entschuldigen Sie«, sagt er und wendet die Hände hilflos
nach außen. »Es hat keinen Zweck.« Er kehrt um. Durch ein Spalier
von Todfeinden hindurch verläßt er das Judenviertel, geht zurück
über die Emiliusbrücke.
Am andern Ufer, wie er um die
Ecke ist, von den Juden nicht mehr gesehen, hört er hinter sich den
Schritt eines Verfolgers, er glaubt, ihn schon länger gehört zu
haben. Unwillkürlich greift er nach seinem großen goldenen
Schreibzeug, sich zu schützen. Da ruft eine Stimme hinter ihm,
aramäisch: »Erschrecken Sie nicht. Haben Sie keine Angst. Ich
bin’s.« Es ist ein sehr junger Mensch, das Gesicht kommt Josef
bekannt vor. »Ich habe Sie schon einmal gesehen«, sagt der Junge,
»als Sie zum erstenmal in Rom waren.« – »Sie sind ...?« besinnt
sich Josef. »Ich bin Cornel, der Sohn des Cajus Barzaarone.« – »Was
wollen Sie?« fragt Josef. »Warum halten Sie nicht die sieben
Schritte Abstand?« Aber der junge Cornel kommt näher an ihn heran.
»Verzeihen Sie den andern«, bittet er, und seine Stimme klingt
herzlich, zutraulich, tapfer. »Die andern verstehen Sie nicht, aber
ich verstehe Sie. Bitte, glauben Sie mir.« Er tritt dicht zu ihm,
schaut zu ihm auf. »Ich habe Ihren Kosmopolitischen Psalm gelesen.
Oft, wenn es ringsum wirr und undurchsichtig wird, spreche ich ihn
mir vor. Hier ist alles eng und in Mauern, Sie haben den Blick ins
Weite. Sie sind ein Großer in Israel, Flavius Josephus, einer von
den Propheten.« Dem Josef rann ein heißer Trost durchs Herz. Daß
dieser junge Mensch sich zu ihm stellte, der nichts von ihm kannte,
nur sein Wort, das war ihm eine gute Bestätigung. »Ich freue mich,
Cornel«, sagte er, »ich freue mich sehr. Ich habe Erde mitgebracht
aus dem Schutt Jerusalems, ich habe Schriftrollen aus Jerusalem
mitgebracht, laß sie mich dir zeigen. Komm zu mir, Cornel.« Der
Knabe strahlte.
Mittlerweile war Titus in Italien angelangt. Es
waren im Osten noch mancherlei Anfechtungen an ihn herangetreten.
Im Namen der Fünften und der Fünfzehnten Legion, die in unbeliebte
Quartiere an der untern Donau gelegt werden sollten, hatte der
Hauptmann Pedan ihn gebeten, bei diesen Legionen zu bleiben oder
sie mit sich nach Rom zu nehmen. Der Prinz hatte sogleich
begriffen, was hinter den schlau naiven Worten des alten, ehrlichen
Soldaten stak, das Angebot nämlich, an Stelle des alten Vespasian
ihn zum Kaiser auszurufen. Das war für Titus verlockend, aber sehr
riskant, und er hatte nicht gezögert, in ebenso naiven, spaßhaften
Worten abzulehnen. Der Osten aber hatte ihn auch weiterhin gefeiert
wie einen Selbstherrscher, und Titus hatte sich’s nicht versagen
können, sich in Memphis bei der Weihe des Apis-Stieres das Diadem
Ägyptens aufs Haupt zu setzen. Das war unvorsichtig gewesen, es
konnte mißdeutet werden, und der Prinz hatte sich beeilt, seinem
Vater brieflich zu versichern, er habe es natürlich nur in
Stellvertretung getan. Anders habe auch er es natürlich nicht
aufgefaßt, hatte Vespasian postwendend erwidert, hatte aber in
aller Freundschaft mehrere zehntausend Mann gegen den Osten in
Bereitschaft gestellt.
Daraufhin also kam Titus, sehr
schnell, sehr schlicht, fast ohne Gefolge. Rom durfte er, wollte er
seinen Triumph haben, nach altem Brauch erst am Tage des Zuges
betreten. So kam Vespasian dem Sohn auf der Appischen Straße
entgegen. »Da bin ich, Vater, da bin ich«, begrüßte ihn Titus
treuherzig. »Es wäre dir auch nicht gut bekommen, mein Junge«,
knarrte Vespasian, »wenn du dich noch länger im Osten
herumgetrieben hättest.« Dann erst küßte er ihn.
Gleich nach dem Essen, in
Gegenwart Mucians und der Dame Cänis, kam es zu der notwendigen
Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn. »Sie haben Ihrem
Vater«, fing die resolute Cänis an, »nicht immer nur Freude
bereitet, Prinz Titus. Wir haben gewisse Nachrichten über Ihre
Krönung bei der Weihe des Stieres Apis nicht ohne Sorge angehört.«
– »Ich will aus dem Stier keinen Elefanten machen«, meinte
gemütlich Vespasian. »Was uns hier mehr interessiert, ist eine
andere Frage. War es wirklich nicht möglich, den Judentempel zu
retten?«
Sie schauten sich an, beide mit
harten, engen Augen. »Wünschtest du, daß es möglich gewesen wäre?«
fragte nach einer Weile Titus zurück.
Vespasian wiegte den Kopf. »Wenn
die Polizeiaktion gegen Jerusalem«, sagte er schlau und bedächtig,
»wirklich als Feldzug aufgezogen werden und mit dem Triumph endigen
sollte, den ich uns beiden vom Senat bewilligen ließ, dann war es
vielleicht nicht möglich.«
Titus lief rot an. »Es war nicht
möglich«, sagte er kurz.
»Stellen wir also fest«,
konstatierte grinsend der Kaiser, »es war nicht möglich. Sonst
hättest du den Bau wohl schon um der Dame Berenike willen geschont.
Und damit wären wir bei dem zweiten Punkt, der uns alle hier
interessiert. Die Dame Berenike ist ein beachtliches Stück Weib.
Daß du sie während dieser langweiligen Polizeiaktion bei dir haben
wolltest, kann ich verstehen. Nur: mußt du sie auch in Rom bei dir
haben?« Titus wollte erwidern. Vespasian, nur ganz leise
schnaufend, die harten, grauen Augen fest auf ihm, ließ ihn nicht
zum Sprechen kommen. »Sieh einmal«, fuhr er fort, gut zuredend,
kameradschaftlich, »hier meine Cänis ist eine einfache Person,
nicht wahr, alter Hafen? Ohne Ansprüche, ohne große Titel. Sie
bringt mir einen Haufen Geld ein; vieles, was meine alten Augen
nicht mehr sehen, das erlinsen die ihren. Trotzdem sieht ganz Rom
sie gern, soweit es ihr nicht Provision hat zahlen müssen. Sie ist
eine Römerin. Aber deine Jüdin, diese Prinzessin, gerade weil sie
so großartig ist mit ihrem Gang und ihrem ganzen östlichen Gewese:
wir sind noch eine junge Dynastie, mein Sohn, ich bin der erste,
und du bist der zweite, wir können uns diese extravagante Dame
nicht leisten. Ich sag es dir im Guten, aber in allem Ernst. Ein
Nero hätte sich das leisten können, einer aus einer alten Familie.
Aber wenn du oder ich es tun, dann nehmen sie Ärgernis. Sie nehmen
es, mein Junge. Sag du, Cänis, sagen Sie, alter Mucian: nehmen sie
oder nehmen sie nicht? Da hörst du es, sie nehmen.«
»Ich will dir einmal etwas sagen,
Vater«, fing Titus an, und in seine Stimme kam jenes harte
Schmettern wie beim Kommando. »Ich hätte mir in Alexandrien den
Reif aufsetzen können. Die Legionen wollten es. Ich war nahe daran.
Die Prinzessin hätte nur ein Wort sagen müssen, und ich hätte es
getan. Die Prinzessin hat das Wort nicht gesagt.«
Vespasian erhob sich. Man hatte
dem Titus berichtet, er sei sehr gealtert; aber das war offenbar
Gerede, jetzt jedenfalls war dieser sabinische Bauer hart wie je.
Er ging ganz nah an seinen Sohn heran, sie standen sich gegenüber,
zwei wilde, kräftige Tiere, duckten sich zum Sprung. Mucian schaute
interessiert zu, heftig zuckenden Gesichts, ein angeregtes Lächeln
um den harten, schmalen Mund, Cänis wollte sich dazwischenwerfen.
Aber der Alte bezwang sich. »Was du mir da mitteilst«, sagte er,
»das ist interessant. Aber jetzt jedenfalls bist du nicht mehr in
Alexandrien, und hier in Rom wirst du, auch wenn deine
liebenswürdige Freundin es wünschen sollte, kaum auf die Idee
kommen, mich abzusetzen. Na also.« Er hockte nieder, leicht
ächzend, rieb sich den gichtischen Arm, redete Vernunft. »Sie wie
ein kleines Mädchen halten kannst du nicht. Die Dame wird sich mit
dir zeigen wollen, sie hat recht, sie ist Prinzessin aus einem sehr
viel älteren Haus als wir. Aber die Römer lassen dir diese Frau
nicht durch, glaub mir. Willst du, daß sie im Theater Witze auf
dich reißen? Willst du, daß sie während des Triumphs Couplets auf
dich und die Dame singen? Willst du es verbieten? Nimm Vernunft an,
mein Junge. Es geht nicht.«
Titus kaute seinen Zorn. »Du hast
sie von Anfang an nicht leiden können.«
»Stimmt«, sagte der Alte. »Aber
sie mich auch nicht. Wenn’s nach ihr gegangen wäre, dann säßen wir
nicht hier. Ich könnte ein paar recht gute Witze machen. Ich
schlucke sie hinunter. Die Dame hat deine Liebe. Nichts gegen sie.
Aber in Rom mag ich sie nicht. Bring ihr das bei. Es war ein
Blödsinn, daß du sie mitgebracht hast. Ihr könnt tun und lassen,
was ihr wollt, aber aus Italien soll sie verschwinden. Sag’s
ihr.«
»Ich denke nicht daran«, erklärte
Titus. »Ich will diese Frau behalten.«
Vespasian schaute seinen Sohn an,
der hatte in den Augen jenes Wirre, Törichte, das den Kaiser schon
an des Jungen Mutter, an Domitilla, geängstigt hatte. Er legte ihm
die Hand auf die Schulter. »Du bist dreißig, mein Sohn«, mahnte er.
»Sei kein kleiner Junge.«
»Darf ich einen Vorschlag
machen?« vermittelte der geschmeidige Mucian. Er kam vor, den Stock
hinterm Rücken. Titus schaute ihm mißtrauisch auf den Mund. Der
Senator Mucian, der sich sehr wackelig gab, spielte diese
Greisenhaftigkeit offenbar nur, um eine Folie für Vespasians
Rüstigkeit abzugeben, und der Kaiser ließ sich diese Komödie, sie
gut durchschauend, gern gefallen. »Die Beziehungen zwischen dem
Cäsar Titus und der Prinzessin«, sagte also Mucian, »erregen
Ärgernis. Darin hat die Majestät zweifellos recht. Aber nur
deshalb, weil die Fürstin einem aufrührerischen Volk angehört. Wir
hier wissen, daß die Prinzessin zu unsern loyalen jüdischen
Untertanen zählt. Aber der römische Volkswitz macht keinen
Unterschied zwischen Jud und Jud. Man müßte veranlassen, daß die
Prinzessin sich klar und unmißverständlich zu uns bekennt. Ich
glaube, es genügte schon, wenn sie dem Triumph in der Loge
beiwohnt.«
Alle überlegten den Sinn dieses
Vorschlags. Da hatte, fand Vespasian, sein kluger Freund die Jüdin
in eine Situation hineinmanövriert, aus der sie schwer einen Ausweg
finden wird. Sein Herr Sohn kann die Forderung des Mucian nicht gut
ablehnen. Was soll Berenike tun? Wohnt sie dem Triumph über ihre
eigenen Leute bei, dann wird sie in den Augen der Römer lächerlich.
Unmöglich dann kann Titus daran denken, sie zu seiner Frau zu
machen. Auch Cänis erfaßte das sogleich: »Wenn eine Frau zu einem
Mann gehört«, unterstützte sie resolut, handgreiflich und banal den
Vorschlag des Mucian, »dann muß sie den Mut haben, zu ihm zu
stehen.«
Gespannt warteten alle auf Titus.
Gegen das Argument der Dame Cänis hatte er nichts vorzubringen. Im
Grund hat sie recht, dachte er. Wenn er einen Triumph feiert, dann
hat er Anspruch darauf, daß seine Freundin, die er einmal zu seiner
Frau machen will, sich diesen Triumph anschaut. Sich mit ihr
darüber auseinanderzusetzen wird nicht angenehm sein. Aber
angenehmer, als sie wegzuschicken. Er murrt ein weniges, man könne
der Prinzessin das nicht zumuten. Die andern erklären, dann könne
man die Prinzessin den Römern nicht zumuten. Er überlegt hin und
her. Sie hat ihre östlichen Gefühle, ihre Wüstenstimmungen.
Andernteils hat sie Sinn für Realität. Nach einer halben Stunde
Geredes nimmt Titus an: entweder die Prinzessin wohnt in der
Kaiserlichen Loge dem Triumph bei oder sie verläßt
Italien.
Er bittet Berenike zu sich. Er
ist gewiß, er wird das leidige Geschäft in den ersten fünf Minuten
erledigt haben. In der Vorhalle, auf ihre Ankunft wartend,
beschließt er nochmals, das Ganze möglichst leicht zu behandeln,
als eine Selbstverständlichkeit.
Aber dann ist Berenike da, sie
ist heiter und ernst zugleich, ihr großer, kühner Kopf neigt sich
vertrauensvoll zu ihm, ihre dunkle Stimme spricht zu ihm, und auf
einmal scheint ihm sein Vorhaben unmöglich. Wie soll er an diese
Frau dieses plumpe Ansinnen stellen? Er macht sich Mut, nur keine
langen Vorbereitungen, er wird es im Sprung wagen; es ist, wie wenn
man den Atem lang einzieht, um sich mit Entschluß in sehr kaltes
Wasser zu stürzen. »Der Triumph«, sagt er, und seine Stimme kommt
verhältnismäßig frei, er muß sich nicht einmal räuspern, »der
Triumph soll jetzt endgültig in zehn Tagen stattfinden. Ich werde
dich doch in der Loge sehen, Nikion?« Es ist eigentlich sehr glatt
gegangen, nur hat er vor sich hin gespro chen, ohne Blick auf sie,
auch jetzt sieht er sie nicht an. Berenike erblaßt. Es ist gut, daß
sie sitzt, sie fiele sonst um. Der Mann hat den Hain von Thekoa
geschlagen, dann hat er sie mit Gewalt genommen, dann hat er es
geschehen lassen, daß der Tempel niederbrannte. Und sie, da sie
nicht nein sagte, hat immer ja gesagt. Sie hat alles geschluckt,
weil sie von dem Manne nicht loskam, von seinem breiten
Bauerngesicht nicht, von seiner Brutalität nicht, von seiner
kindisch launischen Grausamkeit nicht, von seinen kleinen Zähnen
nicht. Sie hat den Blutgeruch eingeatmet, den Brandgeruch, sie hat
auf die Wüste verzichtet, auf die Stimme ihres Gottes. Und nun also
lädt der Mann sie ein, seinen Triumph über Jahve mit anzusehen, von
der Loge aus. Eigentlich handelt er ‘,. folgerichtig, und für die
Römer mag es eine pikante Beigabe zu diesem Triumph sein, wenn sie,
die makkabäische Fürstin, die Beischläferin des Siegers, zusieht.
Aber sie wird nicht zusehen. Es wäre erträglich, im Triumph
mitzugehen, in Ketten, eine Gefangene. Aber freiwillig in der Loge
des Siegers sitzen, die Sauce zu seinem Braten abgeben, nein. »Ich
danke dir«, sagt sie, ihre Stimme ist nicht laut, aber jetzt sehr
heiser. »Ich werde am Tag des Triumphes nicht mehr in Rom sein. Ich
werde zu meinem Bruder reisen.«
Er sieht auf, er sieht, daß er
diese Frau am Leben getroffen hat.
Er hat es nicht gewollt. Er hat
nichts von dem gewollt, was er ihr angetan hat. Immer ist er
hineingeschliddert. Auch jetzt. Sein Vater hat ihn gestoßen, und er
hat sich nicht dagegen gestemmt. Diese andern sind aus so leichtem,
schwebendem Stoff, und man selber ist so fest und grob, und immer
erkennt man es zu spät. Wie konnte er ihr zumuten, daß sie sich
diesen plumpen Triumph anschauen soll? Er selber wird auf den
Triumph verzichten, er wird krank werden. Er stammelt, er
überhastet sich. Aber er spricht ins Leere, sie ist schon gegangen,
ist fort.
Sein Gesicht verzerrt sich in
wüste Raserei. Aus seinem kleinzahnigen Mund geifert er
Soldatenflüche gegen die Frau. Gegen ihre zimperliche, östliche
Ziererei. Warum kann sie nicht dem Triumph zuschauen? Haben nicht
andere, germanische Fürsten zum Beispiel, Triumphen zugeschaut, bei
denen ihre eigenen Söhne, Brüder, Enkel in Ketten aufgeführt
wurden? Er hätte sich nicht bluffen lassen dürfen, hätte sie als
ein Mann behandeln müssen. Es wäre nicht schwer gewesen, sie einer
Illoyalität, einer aufrührerischen Handlung zu bezichtigen, sie
gefangenzusetzen, sie selber im Triumph aufzuführen, in Ketten, und
sie dann, bis ins letzte gedemütigt, aus dem Dreck aufzuheben,
mild, stark, gütevoll, ein Mann. Dann kennt sie endlich ihren
Platz, die Überhebliche. Aber noch während er dies dachte, wußte
er, daß das knabenhafte Phantasien waren. Sie war eben keine
Barbarin, sie war nicht wie jener deutsche Barbarenfürst Segest,
sie war eine wirkliche Königin, voll von uralter östlicher Hoheit
und Weisheit. Seine ganze Wut kehrte sich gegen ihn selber. Rom,
der Triumph, war ihm verhunzt. Im Osten ist das Leben, und hier ist
alles kahl und beschissen. Das Capitol ist ein Dreck, vergleicht
man es mit dem Tempel Jahves, und er, hirnrissig wie er ist, hat
diesen Tempel verbrannt, und die Frau, die sich ihm dreimal gegeben
hat, dreimal fortgescheucht, durch seine römische Brutalität, und
diesmal für immer.
Den Tag darauf stellte sich Josef ein, um den
Prinzen zu begrüßen. Titus war von jener jovialen, kalt strahlenden
Höflichkeit, die Josef haßte. Dieser Triumph, scherzte er, mache
mehr Arbeit als der ganze Feldzug. Er wollte ihn hinter sich haben,
er wollte endlich wieder in seine Stadt, und nach dem dummen Brauch
mußte er warten bis zum Tag des Festzugs. Ist es nicht ein Jammer?
Nicht einmal die Vorstellung des Demetrius Liban im Marcell-Theater
kann er sich anschauen. Er gab dem Josef Weisung, bei den Proben
darauf zu achten, daß man in der Wiedergabe jüdischer Dinge keine
Fehler mache. »Ich habe jetzt«, erzählte er, »das Arrangement des
Triumphes und alles, was damit zusammenhängt, selber in die Hand
genommen. Ich bin neugierig, welchen Eindruck der Zug auf Sie
machen wird. Sie werden ihn doch von der Großen Rennbahn aus
anschauen?«
Josef sah, daß der Prinz gespannt
auf seine Antwort wartete. Eigentlich mußte es diesen Römern
selbstverständlich sein, daß er, der Chronist des Feldzugs, seinem
Ende als Augenzeuge beiwohnte. Er selber hatte sich
merkwürdigerweise nie überlegt, ob er kommen werde oder nicht. Es
wäre schön, zu sagen: Nein, Cäsar Titus, ich werde nicht kommen,
ich werde zu Hause bleiben. Es wäre eine Genugtuung, das zu sagen,
es wäre eine Geste, groß und sinnlos. Er sagte: »Ja, Cäsar Titus,
ich werde den Zug von der Großen Rennbahn aus anschauen.«
Titus veränderte sich. Jene
maskenhafte, laute Höflichkeit fiel von ihm ab. »Ich hoffe, mein
Jude«, sagte er, vertraulich, freundschaftlich, »man hat es dir in
Rom leicht und bequem gemacht. Ich will«, sagte er herzlich, »daß
du gern in Rom lebst. Ich will das Meine dazu tun. Glaub
mir.«
Josef, um sich für die Teilnahme
an dem Triumph vorzubereiten, schaute sich im Marcell-Theater die
Aufführung des Gefangenen Secharja an. Demetrius Liban war ein
großer Schauspieler. Er war der Gefangene Secharja, unsagbar
wirklich und schauerlich komisch. Zuletzt setzten sie ihm eine
kleine, blöde Clownsmaske auf, wie man sie oft Verurteilte in der
Arena tragen ließ, auf daß die Komik der Maske wirksam kontrastiere
mit dem Sterben des Verurteilten. Niemand sah, wie unter der Maske
des Gefangenen Secharja der Schauspieler Liban nach Luft japste,
wie sein Herz pumpte und versagte. Er hielt durch. Sie banden ihn
ans Kreuz. Er schrie, wie die Rolle es vorschrieb: Höre, Israel,
Jahve ist unser Gott, und die elf Clowns tanzten um ihn herum in
Eselsmasken und wiederholten sein Geschrei: Jah, Jah. Er hielt
durch bis zuletzt, bis man ihm sagte, jetzt werde er vom Kreuz
abgenommen, und bis er vom Kreuz das Geld zu werfen hatte. Da
allerdings sackte er zusammen. Aber das merkte niemand, das hielt
man für Spiel, und über dem Ungeheuern Jubel, der über den Münzen
losbrach, achtete man ohnedies kaum mehr auf den Schauspieler. Auch
Josef erhaschte einige von den Münzen, zwei silberne und mehrere
kupferne. Sie waren an diesem Tag ausgegeben worden, und sie
zeigten auf der einen Seite das Porträt des Kaisers, auf der andern
eine unter einem Palmbaum sitzende gefesselte Frau mit der
Umschrift: »Das gefangene Judäa«. Die Frau, war es das Werk der
Dame Cänis?, trug
die Züge der Prinzessin Berenike.
Den Tag darauf bestellte ihn der
Verleger Claudius Regin zu sich. »Ich bin beauftragt«, sagte er,
»Ihnen diese Eintrittsmarke für die Große Rennbahn auszuhändigen.«
Es war ein Sitz auf den Bänken des Zweiten Adels. »Sie erhalten ein
hohes Honorar für Ihr Buch«, sagte Regin. »Einer muß da sein und
sehen«, sagte verbissen Josef. Regin lächelte sein fatales Lächeln.
»Gewiß«, sagte er, »und ich als Ihr Verleger habe alles Interesse
daran, daß Sie da sind. Sie werden wohl der einzige Jude sein,
Flavius Josephus, der zuschaut. Lassen Sie schon«, wehrte er ab,
ein wenig müde, da Josef losfahren wollte. »Ich glaube Ihnen, daß
es nicht leicht sein wird. Auch ich, wenn ich im Zug mitschreite
unter den Beamten des Kaisers, werde mir die Schuhe sehr fest
binden und es mir nicht bequem machen.«
Am Morgen des 8. April saß Josef in der
Großen Rennbahn. Dreihundertdreiundachtzigtausend Menschen faßte
der Neubau, und die Steinbänke waren bis auf den letzten Platz
gefüllt. Josef hatte es geschafft, er saß mitten unter den Herren
des Zweiten Adels, dies war der Platz, den er vor fünf Jahren für
sich erträumt hatte. Steif und zugesperrt saß er unter den
angeregten Menschen, sein hochmütiges Gesicht fiel weithin auf. Man
wußte auf den Bänken des Adels, daß der Kaiser ihn beauftragt
hatte, die Geschichte des Krieges zu schreiben. Bücher standen hoch
in Ansehen in der Stadt Rom. Man betrachtete neugierig den Mann,
der für so viele Menschen Ruhm und Tadel in der Hand
hielt.
Josef saß still und beherrscht,
aber in seinem Innern war er voll Aufruhr. Er war durch das
jubelnde, vom Lärm froher Erwartung gefüllte Rom gegangen. Die
Häuser, die Kolonnaden geschmückt, überall, auf Gerüsten,
Vorsprüngen, Bäumen, Torbögen, Dächern, bekränzte Menschen. Auch
hier in der Großen Rennbahn waren alle bekränzt und hatten Blumen
im Schoß, in den Armen, um sie den Vorüberziehenden zuzuwerfen. Nur
Josef hatte die Kühnheit, kahl dazusitzen.
Dem Zug voran schritten die
Herren des Senats, etwas mühevoll in ihren hochgesohlten, roten
Schuhen. Die meisten von ihnen gingen ungern in diesem Zug mit, mit
vielen inneren Vorbehalten. Im Grund ihres Herzens waren sie voll
Verachtung für die Emporkömmlinge, die sie feiern mußten. Der
Spediteur und sein Sohn hatten das Reich an sich gerissen, aber sie
blieben auch auf dem Thron Bauern und Pöbel. Josef sah das hagere,
skeptische Gesicht des Marull, den feinen, müden, grausamen Kopf
des Mucian. Mucian, trotz des Galakleides, hielt den Stock hinterm
Rücken, sein Gesicht zuckte. Es war ein Tag gewesen, da standen die
Schalen der Waage gleich, und Josef hätte vielleicht nur ein
starkes Wort hineinwerfen müssen, dann hätte die Schale des Mucian
sich gesenkt und die des Vespasian sich gehoben.
Die Minister kamen. Es machte dem
eingeschrumpften, krankheitgeplagten Talaß viel Beschwer, sich
mitzuschleppen, aber es war sein Werk, daß dieser Zug stattfand,
der Alte wollte seinen großen Tag nicht versäumen. Dann, allein,
einen kleinen Raum um sich, schritt Claudius Regin, ernsthaft,
ungewohnt aufrecht. Nein, er machte sich’s wirklich nicht bequem.
Aus harten, bösen, unverhängten Augen blickte er um sich, wachsam,
und er verdarb den Schaulustigen den Spaß: vergebens suchten sie an
seinem dritten Finger die berühmte Perle, und seine Schuhriemen
waren fest gebunden, Musik kam, viel Musik. Heute spielten alle
Banden militärische Weisen, am liebsten den Marsch der Fünften, der
rasch populär geworden war: »Unsre Fünfte, die macht
alles.«
Die Beute des Feldzugs kam, jene
Beute, von der man so Märchenhaftes gehört hatte. Man war verwöhnt,
übersättigt. Aber als das nun vorbeikam, Gold, Silber, Elfenbein,
nicht einzelne Stücke, sondern ein Strom, da konnte man nicht an
sich halten. Man reckte den Hals, starrte über die Schulter des
Vormannes, die Frauen stießen kleine, schrille Schreie aus, der
Bewunderung, des Begehrens. Es floß daher, unendlich, Gold, Silber,
edle Stoffe, Gewänder, und immer wieder Gold, in jeder Form,
gemünzt, in Barren, gegossen in Gefäße aller Art. Dann Kriegsgerät,
Waffen, Feldbinden mit den Initialen Makkabi, saubere, schmutzige,
blutgetränkte, in Körben, auf Wagen, viele Tausende. Feldzeichen,
Fahnen mit blockigen, hebräischen Buchstaben und mit
syrisch-aramäischen, einst geschaffen, die Herzen zu erheben, jetzt
mit Geschick zusammengestellt, um blasierte Zuschauer zu
unterhalten. Tragbare Bühnen mit blutrünstigen Darstellungen von
Kriegsszenen, gigantische Schaugerüste manchmal, vierstöckig, daß
die Zuschauer sich erschreckt zurückbogen, wenn das
einherschwankte, fürchtend, es möchte einstürzen, sie erschlagen.
Zerbeulte Schiffe von der Schlacht an der Küste von Joppe,
erbeutete Kähne aus Magdala. Und immer wieder Gold. Es ist kein
Wunder, daß der Preis des Goldes sinkt, schon beträgt er nur mehr
die Hälfte des Vorkriegspreises.
Jetzt aber wird es still, denn
nun kommen Beamte des Kaiserlichen Schatzamtes, in Galauniform, mit
Lorbeerzweigen, sie geleiten die Hauptstücke der Beute. Getragen
von Soldaten die goldenen Schaubrottische, der riesige,
siebenarmige Leuchter, die dreiundneunzig heiligen Geräte des
Tempels, die Schriftrollen des Gesetzes. Hoch heben sie die Träger,
auf daß alle die Rollen sehen können, das Gesetz Jahves, erbeutet
von dem großen guten Jupiter der Römer.
Dahinter eine groteske Musik. Es
sind die Instrumente des Tempels, die Zimbel des Ersten Leviten,
die gellenden Widderhörner des Neujahrfestes, die silbernen
Trompeten, die in jedem fünfzigsten Jahr verkünden, daß aller
Grundbesitz wieder an den Staat zurückfällt. Die Römer spielen auf
diesen Instrumenten, parodistisch, es klingt lächerlich und
barbarisch. Und plötzlich hat ein Witzbold einen glücklichen
Einfall. Jah, Jah! schreit er, wie ein Esel schreit. Alle schreien
mit, die heiligen Instrumente der Juden blasen dazu. Schallendes
Gelächter wellt durch die langen Reihen der Rennbahn.
Josef sitzt mit einem Gesicht von
Stein. Aushalten jetzt. Alle schauen auf dich. Zehn Jahre müssen
die Priester lernen, ehe sie gewürdigt werden, diese spröden
Instrumente zu blasen. Halt dein Gesicht still, Josef, du bist hier
Israel. Deinen Grimm gieß aus über die Völker.
Jetzt kam der lebendige Teil der
Beute, die Kriegsgefangenen. Man hatte aus der Ungeheuern Schar
siebenhundert ausgesucht, hatte sie in bunte Festkleider gesteckt,
die wirkungsvoll kontrastierten mit ihren finstern Gesichtern und
mit ihren Ketten. Auch Priester mußten unter ihnen gehen, mit Hüten
und Gürteln. Interessiert, gespannt beschauen sich die Menschen in
der Rennbahn ihre besiegten Feinde. Da gehen sie hin. Man hat ihnen
reichlichen Fraß vorgesetzt, daß sie keinen Vorwand haben,
zusammenzubrechen und den Römern das verdiente Schauspiel zu
versagen. Aber nach dem Festspiel werden sie als Zwangsarbeiter
verschickt, die Besiegten, ein Teil in die Bergwerke, an die
Tretmühlen, an die Kloaken, ein Teil an die großen Schauhäuser für
Kampfspiele und Tierhetzen.
Die Leute in der Rennbahn sind
still geworden, sie schauen nur. Jetzt aber bricht ein
haßerfülltes, tobsüchtiges Geschrei los: Hep, Hep und: Hunde,
Hundesöhne, stinkende, gottlose. Sie werfen faule Rüben, Dreck. Sie
spucken, trotzdem der Speichel die, denen er gilt, nie erreichen
kann. Da kommen sie, gefesselt, von den Göttern gedemütigt, die
feindlichen Führer, die einstmals Furcht und Schrecken einflößten,
Simon Bar Giora und Johann von Gischala. Es ist ein großer Genuß,
es ist der glücklichste Tag für den Römer, seine Feinde auf diese
Art einhergehen zu sehen, niedergekämpft die Überheblichen, die
sich auflehnten gegen die von den Göttern gewollte Mehrung des
Reichs.
Sie hatten dem Simon eine Krone
aus Brennesseln und dürren Reisern aufgesetzt, und sie hatten ihm
eine Tafel umgehängt: »Simon Bar Giora, König der Juden.« Den
Johann, »Feldherrn der Juden«, hatten sie in eine komische
blecherne Rüstung gesteckt. Simon wußte, daß er, noch ehe der Zug
sich auflöst, getötet werden würde. So haben es die Römer dem
Vercingetorix gemacht, so dem Jugurtha, so vielen anderen, die
sterben mußten am Fuß des Capitols, während oben der Sieger seinen
Göttern opferte. Merkwürdigerweise war Simon Bar Giora nicht mehr
der mürrische Mann, als den ihn seine Leute von der letzten Zeit
her kannten, vielmehr war um ihn wieder das Strahlende seiner
ersten Zeit. Still in seinen Fesseln ging er einher neben dem
gefesselten Johann von Gischala, und sie sprachen
miteinander.
»Es ist ein schöner Himmel über
diesem Lande«, sagte Simon, »aber wie blaß ist er vor dem Himmel
unseres Galiläa. Es ist schön, daß ich blauen Himmel über mir habe,
nun ich zum Tode gehe.« – »Ich weiß nicht, wohin ich gehe«, sagte
Johann, »aber ich glaube, sie werden mich am Leben lassen.« – »Es
ist mir ein großer Trost, mein Johann«, sagte Simon, »daß sie dich
am Leben lassen. Denn dieser Krieg ist noch nicht zu Ende. Es ist
merkwürdig, daß mir einmal der Sinn danach stand, dich umzubringen.
So schlimm es jetzt hersieht, es war gut, daß wir diesen Krieg
gemacht haben. Er ist noch nicht zu Ende, und die nach uns haben
gelernt. O mein Bruder Johann, sie werden mich geißeln, und sie
werden mich über einen Platz führen, wo der Speichel und die faulen
Rüben ihres Pöbels mich erreichen, und sie werden mich auf
erbärmliche Art töten. Aber es war dennoch gut, daß wir diesen
Krieg gemacht haben. Nur leid ist es mir, daß mein Leichnam elend
liegen wird, unbestattet.« Und da Johann von Gischala schwieg,
sagte er nach einer Weile: »Weißt du, Johann, wir hätten doch den
Minenstollen L mehr nach rechts legen müssen. Dann wäre ihr Turm F
eingestürzt, und was hätten sie dann machen sollen?« Johann von
Gischala war ein verträglicher Mann, aber in taktischen Fragen
kannte er keinen Spaß und kein Einlenken. Er wußte, er hatte recht
gehabt mit diesem Minenstollen L. Aber er wird leben, und Simon
wird sterben, und er bezwang sich und sagte: »Ja, mein Simon, wir
hätten den Minenstollen mehr rechts legen sollen. Die nach uns
werden es besser machen.« – »Wenn wir nur rechtzeitig
zusammengehalten hätten, mein Johann«, sagte Simon, »wir wären mit
ihnen fertig geworden. Ich habe jetzt ihren Titus in der Nähe
gesehen. Ein guter Junge, aber kein Feldherr.«
Josef sah die beiden herankommen,
vorüberschreiten. Sie gingen langsam, er sah sie eine ganze Weile,
er sah jenes Strahlen um Simon wie seinerzeit bei der Begegnung im
Tempel. Und jetzt konnte er sich nicht mehr im Zaum halten. Er
wollte den Laut in der Kehle bewahren, aber er konnte es nicht, der
Laut drang vor, ein Stöhnen, verzweifelt, unterdrückt, furchtbar,
daß Josefs Nachbar, der eben noch geschrien hatte wie die andern:
Hunde! Hundesöhne!, mitten im Wort abbrach, erschrocken, erblaßt.
Josef starrte auf die beiden Gefangenen, er fürchtete, sie möchten
herschauen. Er war ein frecher Mann, der einstand für seine Taten,
aber wenn sie hergeschaut hätten, dann wäre er gestorben vor
Schande und Demütigung. Es preßte ihn, es würgte ihn, er ist der
einzige Jude, der das mit ansieht. Er hat Hunger ertragen und
letzten Durst, Geißelung, jede Art Schmach, und wie oft ist er vor
dem Tod gestanden. Aber das kann er nicht ertragen, das kann keiner
ertragen. Das ist nicht mehr menschlich, das ist eine härtere
Strafe, als er sie verdient hat. Die beiden sind ganz
nah.
Er wird eine Synagoge stiften.
Alles, was er hat, auch die Erträgnisse seines Buches wird er an
den Bau wenden, es soll eine Synagoge sein, wie sie Rom noch nicht
gesehen hat. Die heiligen Schriftrollen aus Jerusalem wird er für
die Lade stiften. Aber sie werden seine Synagoge nicht annehmen.
Sie haben Weihgaben von Unbeschnittenen genommen, aber von ihm
werden sie nichts nehmen, und sie werden recht haben.
Jetzt sind die beiden gerade vor
ihm. Sie sehen ihn nicht. Er steht auf. Sie können ihn nicht hören
in dem wilden Geschrei ringsum, aber er tut den Mund auf, er gibt
ihnen das Bekenntnis mit auf ihren Weg. Inbrünstig wie nie im Leben
reißt er es aus sich heraus, ruft es ihnen zu: »Höre, Israel, Jahve
ist unser Gott, Jahve ist einzig.«
Auf einmal, als hätten sie ihn
gehört, beginnt es im Zug der Gefangenen zu schreien, erst einige,
dann mehr, dann alle: Höre, Israel, Jahve ist unser Gott, Jahve ist
einzig. Als die ersten anfangen, lachen die Zuschauer, machen den
Eselsschrei: Jah, Jah. Aber dann werden sie still, und manche
beginnen zu zweifeln, ob es wirklich ein Esel ist, zu dem die Juden
schreien.
Josef, wie er den Ruf von unten
hört, wird ruhiger. Sicher jetzt rufen sie es in allen Synagogen
der Judenheit: Höre, Israel. Hat er es je geleugnet? Er hat es nie
geleugnet. Damit alle es erkennen, nur darum hat er getan, was er
getan hat. Er wird sein Buch schreiben, er wird es frommen Sinnes
schreiben, Jahve wird mit ihm sein. Es wird verkannt werden, von
den Römern und von den Juden. Es wird lange dauern, bis es
verstanden wird. Aber eine Zeit wird sein, da wird es
verstanden.
Hinter den beiden jüdischen
Heerführern, wer aber prangte da, herrlich, im Schmuck des
berühmten, achtteiligen Ornats? Der Erzpriester, der Proletarier,
Phanias, der Bauarbeiter. Er ging daher, dürr, dumpf vor sich hin
starrend, die Augen einwärts, gedrückt und besessen. Der Senator
Marull sah ihn. Es wird wirklich nicht viel Unterschied machen, ob
er diesen Phanias zum Leibeigenen hat oder den Johann von Gischala.
Johann sieht intelligenter aus, man wird mit ihm interessante
Gespräche führen können, aber pikanter wäre es, den Erzpriester als
Türhüter zu haben.
Musik kam, Opfertiere, und dann,
die Krone des Zuges, sein prunkvolles Mittelstück, die Wagen der
Triumphatoren. Profose voran, die Rutenbündel mit Lorbeer bekränzt,
Notare, die die Bewilligungsurkunde des Triumphes trugen, dann eine
Schar von Clowns, frech und gutmütig gewisse populäre Eigenschaften
der Triumphatoren parodierend, die Sparsamkeit des Vespasian, des
Titus Genauigkeit, sein Stenographieren. Dann Karikaturen der
Besiegten, gestellt von den beliebtesten Schauspielern. Unter ihnen
Demetrius Liban, der Erste Schauspieler der Epoche. Ja, er hatte
Krankheit und Schwäche besiegt, hatte die Auflehnung seines Herzens
besiegt. Es ging um seine Kunst, seinen Ehrgeiz, der Kaiser hatte
ihn gerufen, er riß sich zusammen, er war zur Stelle. Er war der
Jude Apella, er sprang, tanzte, strich sich den zweigeteilten Bart,
führte mit sich seine Gebetriemen, seinen unsichtbaren Gott. Hin
und her gerissen zwischen seiner Kunst und seiner Seligkeit, denn
eines mußte er mit dem andern bezahlen, hatte er sich für seine
Kunst entschieden. Josef sah ihn einhergehen, den Zerrissenen,
einen großen Schauspieler, einen armen Menschen.
Es folgten die Generäle der
Legionen und die Offiziere und Soldaten, die sich hohe
Auszeichnungen verdient hatten. Einer vor allem wurde mit Jubel
akklamiert. Wo er einherkam, der Liebling der Armee, unser Pedan,
der Träger des Graskranzes, da begann man zu singen, das deftige
Lied der Fünften, und die Herzen hoben sich. Ja, das war Fleisch
von unserm Fleisch, das war Rom. Dieser vergnügte, seiner sichere
Mensch, dem konnte nichts an, mit dem war der capitolinische
Jupiter. Vage Gerüchte gingen um, auch diesmal sei er es gewesen,
der es geschafft hat. Was er eigentlich geleistet hatte, das durfte
man aus gewissen Gründen nicht genauer sagen; aber daß es etwas
Großes war, das geht ja schon daraus hervor, daß man ihm wiederum
eine so hohe Auszeichnung verliehen hat. Josef sah das häßliche,
nackte, einäugige Gesicht. Da ging er hin, verschmitzt, behaglich,
kräftig, laut, zufrieden, ein Mann. Nein, gegen diese satte
Gemeinheit kam keiner auf. Diesem Soldaten, der niemals zweifelte,
der immer einverstanden war mit sich, dem gehörte die Welt, für ihn
hatte sein Jupiter sie erschaffen.
Und jetzt schimmerte es heran,
turmhoch, lorbeerbekränzt, gezogen von vier weißen Rossen, der
Triumphwagen. Auf ihm Vespasian. Das Gesicht, damit es dem des
Jupiter gleiche, mit Mennige geschminkt. Lorbeer auf dem breiten,
unbedeckten Bauernschädel, den alten, untersetzten Körper gekleidet
in den besternten Purpurornat, den der capitolinische Jupiter ihm
für diesen Tag hatte abtreten müssen. Etwas gelangweilt schaute er
auf die jubelnde Menge. Noch gut drei Stunden würde das dauern. Das
Kleid des Jupiter war schwer, das lange Stehen auf dem schwankenden
Wagen war auch alles andere als behaglich. Er hat das wirklich nur
wegen seiner Söhne auf sich genommen. Eine Dynastie gründen ist
eine mühevolle Sache. Warm ist es. Jupiter muß es im Sommer
bedeutend heiß haben, wenn man schon im April in seinen Kleidern
derartig schwitzt. Was dieser Triumph kostet, nicht auszudenken.
Zwölf Millionen hat Regin veranschlagt, es werden sicher dreizehn,
vierzehn werden. Man könnte das Geld wahrhaftig besser verwenden,
aber diese Fetthirne müssen immer ihre Repräsentation haben,
dagegen ist nichts zu machen. Daß der Tempel nicht mehr da ist, ist
recht angenehm. Der Junge hat das geschickt gedreht. Wenn das
Unanständige nützlich ist, muß man es tun, und hernach muß man sich
Skrupel machen. Nur so besteht man im Leben und vor den Göttern.
Der Leibeigene hinter ihm, der die schwere, goldene Krone des
Jupiter über seinem Haupt hält, ruft ihm die vorgeschriebene Formel
zu: »Sieh hinter dich und vergiß nicht, daß du ein Mensch bist.« Na
ja, hoffentlich hat er noch recht lange Zeit, ehe er ein Gott wird.
Er denkt an die Statuen der vergotteten früheren Kaiser. Dieser
Triumph wird dazu beitragen, daß er eine Woche früher ein Gott
wird. Der Wagen stößt. Vespasian schaut ächzend nach der
Sonnenuhr.
Titus, auf dem zweiten
Triumphwagen, sieht oft nach dem Amulett, das ihn vor Neid und
bösem Blick schützen soll; denn neben ihm reitet sein Bruder
Domitian, das Früchtchen. Aber die Sorge vor dem Neid des Bruders
kann ihm den Stolz dieses Tages nicht verderben. Kalt strahlend
steht er auf seinem Wagen, erhoben über alles Menschliche, der
Soldat am Ziel, der fleischgewordene Jupiter. Wie er an der
Kaiserlichen Loge vorbeikommt, ernüchtert er sich freilich auf eine
kurze Weile. Die Frau ist nicht da, die Frau haben sie ihm
genommen. Wem denn will er sich zeigen in seinem Glanz, was hat das
alles für einen Sinn ohne die Frau? Sein Auge sucht unter der
Menge, sucht auf den Plätzen des Zweiten Adels. Wie er Josef
entdeckt hat, streckt er ihm den Arm zu, grüßend.
Die Wagen der Triumphatoren zogen
weiter, machten halt am Fuß des Capitols. Augenzeugen meldeten:
Simon Bar Giora ist gegeißelt, erwürgt. Ausrufer schrien es unters
Volk. Jubelgeschrei: der Krieg war aus. Vespasian und sein Sohn
stiegen herab von ihren Wagen. Opferten Schwein, Bock und Stier, um
sich und das Heer zu entsühnen, falls man sich während des Feldzugs
einer Gottheit mißliebig gemacht habe.
Die Armee mittlerweile defilierte
in der Großen Rennbahn. Da zogen sie vorbei, zwei Kohorten von
jeder Legion und der ganze Apparat, die Katapulte und Ballisten,
der »Harte Julius« und die andern Widder alle. Stürmisch begrüßt
wurden die Feldzeichen, die Goldenen Adler, der der Zwölften
besonders, den man jetzt von den Juden zurückgeholt hat, wie man
seinerzeit den Deutschen die Adler wieder abgenommen hat, die sie
unter dem verräterischen Barbaren Hermann erbeutet haben. Josef sah
die Armee vorbeimarschieren, fröhlich,« friedlich, voll gehaltener
Kraft. Gewähr der Ordnung im Reich. Aber Josef kennt auch das
andere Gesicht dieser Armee. Er weiß, diese alle sind Pedan. Er hat
sie schreien hören: Hep, Hep, er hat sie tanzen sehen im Blutrausch
über den Boden des Tempels, dessen Marmor verschwand unter
Leichen.
Der Vorbeimarsch der Truppen
dauerte lange. Viele, vor allem auf den Bänken des Adels, brachen
auf. Josef hielt aus.
Noch einmal bis zum Ende sah er die Legionen,
die er Stadt und Tempel hatte verwüsten sehen.
Am Abend dieses 8. April kamen einige
jüdische Männer zum diensttuenden Aufseher des Mamertinischen
Gefängnisses. Sie wiesen ein versiegeltes Schreiben vor. Der
Aufseher las es und führte sie in den Keller des Gefängnisses, das
sogenannte Kalte Badehaus, denn es war ursprünglich ein Brunnenhaus
gewesen. In diesem verwahrlosten, finstern Raum hatte Simon Bar
Giora geendet. Seine Leiche hätte dem Brauch zufolge des Nachts auf
den Schindanger am Esquilin geworfen werden sollen. Aber die Männer
hatten Erlaubnis, die Leiche zu übernehmen und mit ihr nach
Belieben zu verfahren. Diese Erlaubnis hatte Claudius Regin
erwirkt. Es war der Erlös seiner Perle, den er der Dame Cänis dafür
bezahlt hatte.
Die Männer übernahmen also die
striemenbedeckte, blutüberkrustete Leiche des jüdischen Feldherrn,
legten sie auf eine Bahre, deckten sie zu. Führten sie durch die
Stadt, die in festlicher Illumination strahlte. Sie gingen barfuß.
Am Capenischen Tor erwarteten sie mehrere hundert andere Juden,
unter ihnen Cajus Barzaarone. Auch sie gingen barfuß, und sie
hatten ihr Gewand eingerissen. Sie brachten den Leichnam, alle
fünfzig Schritte trugen ihn andere, auf der Appischen Straße bis
zum zweiten Meilenstein links. Dort erwartete sie Claudius Regin.
Sie brachten den Leichnam hinunter in die unterirdische
Begräbnisstätte der Juden. Sie legten den Erwürgten in einen Sarg,
betteten den blauschwarzen Kopf in Erde aus Judäa, gossen
wohlriechende Wasser darüber. Dann verschlossen sie das Grab mit
einer Platte. Darauf war in ungefügen griechischen Buchstaben
eingeritzt: »Simon Bar Giora, Soldat Jahves.« Dann wuschen sie sich
die Hände und verließen die Begräbnisstätte.
Josef kam aus der Großen Rennbahn nach Hause.
Er hatte seine Aufgabe erfüllt, hatte sich nicht geschont, hatte
den jüdischen Krieg mit angesehen bis zum Ende. Aber nun hatte er
alle Kraft ausgegeben. Er sackte zusammen, fiel in einen
totenähnlichen Schlaf.
Er war allein in dem großen,
leeren, verwahrlosten Haus, nur der alte Leibeigene war da, niemand
betreute ihn. Er schlief zwanzig Stunden. Dann erhob er sich,
hockte nieder, in der Haltung eines Trauernden.
Ein Kurier des Kaiserlichen
Palais kam mit dem glückkündenden Lorbeerreis. Als der Leibeigene
ihn zu dem ungepflegten Menschen führte, der auf der Erde hockte,
wild wachsenden Flaum ums Gesicht, die Kleider zerrissen, Asche auf
dem Haupt, zweifelte er, ob dies wirklich der Adressat sei. Zögernd
übergab er seinen Brief. Es war ein Handschreiben Vespasians, das
Kaiserliche Sekretariat sei angewiesen, Josef Einblick zu geben in
alle Dokumente, die er zu Zwecken seines Buches einsehen wolle.
Außerdem verlieh ihm der Kaiser den Goldenen Ring des Zweiten
Adels. Es war das erstemal, daß der Kurier, wenn er den Lorbeer
trug, kein Trinkgeld erhielt. Josef begnügte sich, den Erhalt des
Schreibens zu bestätigen. Dann hockte er nieder wie
vorher.
Der Knabe Cornel kam. Der
Leibeigene wagte nicht, ihn vor Josef zu lassen.
Nach sieben Tagen erhob sich
Josef. Fragte, was inzwischen geschehen sei. Hörte von dem Knaben
Cornel. Schickte nach ihm.
Die beiden, als der Knabe Cornel
ein zweites Mal kam, sprachen nicht viel. Josef sagte, er brauche
einen guten, zuverlässigen Sekretär. Ob Cornel ihm bei der
Abfassung seines Buches helfen wolle. Cornel strahlte.
Noch am gleichen Tag begann Josef
zu arbeiten.
»Es werden«, diktierte er,
»wahrscheinlich mehrere versuchen, den Krieg der Juden gegen die
Römer zu beschreiben, Autoren, die nicht Zeugen der Ereignisse
waren und die angewiesen sind auf törichtes, widerspruchsvolles
Gerede. Ich, Josef, des Matthias Sohn, Priester der Ersten Reihe
aus Jerusalem, Augenzeuge von Anfang an, habe mich entschlossen,
die Geschichte dieses Krieges zu schreiben, wie er wirklich war,
den Heutigen zur Erinnerung, den Späteren zur Warnung.«
Hier endet der erste der
drei Romane über den Geschichtsschreiber
Flavius Josephus.