Genau ein Jahrzehnt verging seit dem Erscheinen des
„Jüdischen Krieges“, bis die ursprünglich auf zwei Bände
bemessene Romantrilogie über den Geschichtsschreiber Fla
vius Josephus im Jahre 1942 dem ausländischen Leserpubli
kum vorlag. Die deutschen Leser allerdings mußten infolge
Faschismus und Krieg fast ein weiteres Jahrzehnt warten;
für sie bedeutete dieses Werk literarisches Neuland.

Verschmolzen mit einem farbigen historischen Gemälde
römischer Staats- und Machtverhältnisse im ersten Jahr
hundert u. Z., wird darin das an Höhepunkten, Leidenschaf
ten und Enttäuschungen reiche Leben des Juden Josef Ben
Matthias geschildert, des Vertrauten am Hofe der flavischen
Kaiser Vespasian, Titus und Domitian.

Der vorliegende erste Band der Trilogie erzählt die
erschütternde Tragödie des jüdischen Volkes, das nach
der Zerstörung Jerusalems endgültig an den kaiserlichen
römischen Herrschaftsbereich gefesselt wird.


Lion Feuchtwanger

Der jüdische Krieg








Roman


















AUFBAU-VERLAG



Die „Josephus“-Trilogie umfaßt die Romane


DER JÜDISCHE KRIEG
DIE SÖHNE
DER TAG WIRD KOMMEN

„Der jüdische Krieg“ erschien erstmalig im Jahre 1932, „Die Söhne“ im Jahre 1935, „Der Tag wird kommen“ in englischer Übersetzung 1942,
in deutscher Sprache 1945











5. Auflage 1989
Alle Rechte Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
© Marta Feuchtwanger 1960
Einbandgestaltung Heinz Unzner
Karl-Marx-Werk, Graphischer Großbetrieb, Pößneck V 15/3o
Printed in the German Democratic Republic
Lizenznummer 301.120/113/89
Bestellnummer 611362 5
I-III 03150





Feuchtwanger, Ges. Werke
ISBN 3-351-00623-3
Bd. 2-4
ISBN 3-351-00681-0



ERSTES BUCH


ROM





     echs Brücken führten über den Fluß Tiber. Blieb man auf der rechten Seite, dann war man gesichert; hier
     waren die Straßen voll von Männern, die man schon an ihren Bärten als Juden erkannte; überall sah man jüdische, aramäische Inschriften, und mit einem bißchen Griechisch kam man leicht durch. Aber sowie man eine der Brücken überschritt und sich auf die linke Seite des Tiber wagte, dann war man wirklich in der großen, wilden Stadt Rom, ein Fremder, hoffnungslos allein. Dennoch schickte Josef den Knaben Cornel, seinen beflissenen kleinen Führer, an der Emiliusbrücke zurück; er wollte endlich allein zurechtkommen, schon um sich seine Eignung und Geschicklichkeit zu beweisen. Der kleine Cornel hätte seinen Fremden gern noch weiter begleitet. Josef schaute ihm nach, wie er zögernd über die Brücke zurückschritt, und unvermittelt, mit scherzhaft liebenswürdigem Lächeln, streckte er, der Jude Josef, den Arm mit der geöffneten Hand aus, grüßte den Knaben auf römische Art, und der Judenknabe Cornel, lächelnd auch er, gab gegen das Verbot des Vaters den Gruß auf römische Art zurück. Dann bog er links ein hinter das hohe Haus, und jetzt war er fort, und jetzt war Josef allein, und jetzt wird sich zeigen, wieweit sein Latein stichhält. So viel weiß er: hier vor ihm ist der Rindermarkt, und rechts dort ist die Große Rennbahn, und dort irgendwo, auf dem Palatin und dahinter, wo die vielen kribbelnden Menschen sind, baut der Kaiser sein neues Haus, und links hier durch die Tuskerstraße geht es zum Forum, und Palatin und Forum sind das Herz der Welt. Er hat viel über Rom gelesen, aber es nützt ihm wenig. Der Brand vor drei Monaten hat die Stadt sehr verändert. Er hat gerade die vier Bezirke im Zentrum zerstört, über dreihundert öffentliche Gebäude, an sechshundert Paläste und Einfamilienhäuser, mehrere tausend Miethäuser. Es ist ein Wunder, wieviel diese Römer in der kurzen Zeit schon neu gebaut haben. Er mag sie nicht, die Römer, er haßt sie geradezu, aber das muß er ihnen lassen: Organisationstalent haben sie, sie haben ihre Technik: Technik, er denkt das fremde Wort, denkt es mehrmals, in der fremden Sprache. Er ist nicht dumm, er wird diesen Römern von ihrer Technik etwas abluchsen.
  Er schreitet energisch los. Schnuppert neugierig und erregt die Luft dieser fremden Häuser und Menschen, in deren Belieben es steht, ihn hochzuheben oder unten zu halten. Bei ihm zu Hause, in Jerusalem, ist dieser Monat Tischri auch in seiner letzten Woche noch sehr heiß; aber hier in Rom heißt er September, und heute jedenfalls atmet es sich frisch und angenehm. Ein leichter Wind lockert ihm das Haar auf, er trägt es etwas lang für römische Verhältnisse. Eigentlich sollte er überhaupt einen Hut aufhaben; denn es gehört sich für einen Juden in seiner Stellung, im Gegensatz zu den Römern, nur mit bedecktem Kopf auszugehen. Ach was, hier in Rom laufen die meisten Juden genauso barhaupt wie die andern, zumindest wenn sie die Tiberbrücken hinter sich haben. Seine jüdische Gesinnung wird nicht lauer, auch wenn er keinen Hut trägt.
  Jetzt steht er vor der Großen Rennbahn. Hier ist alles voll von Trümmerwerk, hier war der Ursprung des Brandes. Immerhin, die Steinteile der Grundform sind intakt. Eine Riesensache, diese Große Rennbahn. Man braucht an die zehn Minuten, um ihre Länge auszuschreiten. Das Stadion in Jerusalem und das in Cäsarea sind wahrhaftig nicht klein, aber vor diesem Bauwerk wirken sie wie Spielzeug.
  Im Innern der Rennbahn schichtet es sich, Steine und Holz, es wird gearbeitet. Neugierige treiben sich herum, Kinder, Bummler. Josef hat seine Garderobe noch nicht ganz der Hauptstadt angepaßt; dennoch, wie er so einherschlendert, jung, schlank, stattlich, mit Augen, die nach allem greifen, wirkt er elegant, nicht knauserig, ein Herr. Man drängt sich an ihn, bietet ihm Amulette an, Reiseandenken, eine Nachahmung des Obelisk, der fremd und feierlich in der Mitte der Rennbahn steht. Ein autorisierter Fremdenführer will ihm alle Einzelheiten zeigen, die kaiserliche Loge, das Modell des Neubaus. Aber Josef winkt mit gespielter Lässigkeit ab. Er steigt allein herum zwischen den Steinbänken, als sei er hier bei den Rennen ständiger Zuschauer gewesen.
  Das hier unten sind offenbar die Bänke der Hocharistokratie, des Senats. Niemand wehrt ihm, sich auf einen dieser vielbegehrten Sitze niederzulassen. Man sitzt gut hier in der Sonne. Er lockert seine Haltung, stützt den Kopf in die Hand,
schaut blicklos nach dem Obelisk in der Mitte.
  Eine bessere Zeit für sein Vorhaben als diese Monate jetzt nach dem großen Brand hätte er nicht erwischen können. Die Leute sind gut aufgelegt, empfänglich. Die Energie, mit der der Kaiser sich an den Wiederaufbau der Stadt gemacht hat, wirkt belebend auf alle. Überall regt es sich, ringsum ist Zuversicht und Geschäft, helle, frische Luft, sehr anders als die schwierige, stickige Atmosphäre Jerusalems, in der er nicht weiterkam.
  In der Großen Rennbahn, auf der Bank des Senats, in der angenehmen Sonne dieses faulen Frühnachmittags, inmitten des Lärms des wieder aufzubauenden Rom überprüft Josef leidenschaftlich und doch kühl wägend seine Chancen. Er ist sechsundzwanzig Jahre alt, er hat alle Voraussetzungen einer großen Laufbahn, Herkunft aus adligem Haus, gründliche Bildung, staatsmännisches Geschick, rasenden Ehrgeiz. Nein, er will nicht in Jerusalem versauern. Er ist seinem Vater dankbar, daß der an ihn glaubt und ihm erwirkt hat, daß man ihn nach Rom schickte.
  Seine Mission hier ist allerdings recht fragwürdig. Juristisch betrachtet, hat der Große Rat von Jerusalem weder Anlaß noch Legitimation, in dieser Sache einen Sondergesandten nach Rom abzuordnen. Josef hat auch aus allen Winkeln seines Hirns Argumente zusammenkratzen müssen, bis die Herren in Jerusalem zögernd nachgaben.
  Also: die drei Mitglieder des Großen Rats, die der Gouverneur Anton Felix vor nunmehr zwei Jahren als Aufrührer an das Kaiserliche Tribunal nach Rom geschickt hat, sind zu Unrecht zu Zwangsarbeit verurteilt. Gewiß, die drei Herren waren in Cäsarea gewesen, als dort die Juden während der Wahlunruhen die kaiserlichen Insignien vor der Residenz des Gouverneurs herunterholten und zerbrachen: aber sie selber hatten sich an dem aufrührerischen Akt nicht beteiligt. Wenn der Gouverneur gerade diese drei hochgestellten Greise herausgegriffen hatte, so war das Willkür gegen Unschuldige, ein skandalöser Übergriff, eine Beleidigung des gesamten jüdischen Volkes. Josef sah hier die ersehnte, große Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Er hat neue Zeugen für die Unschuld der drei aufgetrieben, er hofft, am kaiserlichen Hof ihre Rehabilitierung oder wenigstens ihre Begnadigung durchzusetzen.
  Die römischen Juden freilich, das hat er gemerkt, werden sich nicht übermäßig anstrengen, ihm bei seiner Mission zu helfen. Der Möbelfabrikant Cajus Barzaarone, Präsident der Agrippenser-Gemeinde, bei dem er wohnt und an den er gute Empfehlungen seines Vaters mitbringt, hat ihm in Andeutungen, schlau, wohlwollend und vorsichtig die Situation erklärt. Den hunderttausend Juden in Rom geht es nicht schlecht. Sie leben in Frieden mit der übrigen Bevölkerung. Sie sehen mit Unbehagen, wie in Jerusalem die nationale, Rom feindliche Partei der »Rächer Israels« zu immer größerem Einfluß kommt. Sie denken gar nicht daran, ihre angenehme Lage zu gefährden, indem sie sich einmengen in die ständigen Reibereien der Jerusalemer Herren mit Rom und der kaiserlichen Verwaltung. Nein, das Wesentliche wird Josef selber schaffen müssen.
  Vor ihm schichtete es sich, Stein und Holz, Ziegel, Säulen, Marmor jeder Farbe. Das Bauwerk stieg empor, sichtbar fast. Wenn er nach einer halben Stunde oder einer Stunde hier weggeht, dann wird es gewachsen sein, nicht um viel, um ein Tausendstel vielleicht seines bestimmten Maßes, aber eben das genaue für diese Stunde bestimmte Maß wird erreicht sein. Aber auch er hat etwas erreicht in dieser Zeit. Sein Drang nach vorwärts ist heißer geworden, brennender, unwiderstehlich. Jeder Schlag, jedes Hämmern und Sägen, das von den Bauleuten herdringt, schlägt, hämmert, sägt an ihm, während er scheinbar gelassen, ein Bummler wie die vielen andern, in der Sonne hockt. Er wird viel zu schaffen haben, bis er seine drei Unschuldigen aus dem Kerker herausholt, aber er wird es schaffen.
  Schon kommt er sich nicht mehr so klein und arm vor wie an seinem ersten Tag. Sein Respekt vor den fleischigen, zugesperrten Gesichtern der Leute hier hat sich gemindert. Er hat gesehen, diese Römer sind kleiner von Wuchs als er. Er geht schlank und groß unter ihnen herum, und die Frauen in Rom drehen den Kopf nicht weniger nach ihm als die in Jerusalem und Cäsarea. Irene, die Tochter des Gemeindepräsidenten Cajus, ist, ihren Vater störend, ins Zimmer zurückgekehrt, sicher nur, weil er da war. Er hat einen guten Körper, ein rasches, wendiges Gehirn. Mit einundzwanzig Jahren hat er sich den großen Doktortitel der Tempelhochschule in Jerusalem geholt, er beherrscht das ganze, verzweigte Gebiet der juristischen und theologischen Schriftdeutung. Und hat er nicht sogar zwei Jahre als Eremit gelebt, in der Wüste, bei dem Essäer Banus, um sich hier die reine Schau anzueignen, die Versenkung in sich, die Intuition? Nichts fehlt ihm als die unterste Sprosse der Leiter, der eine günstige Augenblick. Aber er wird kommen, er muß kommen.
  Der junge Literat und Staatsmann Josef Ben Matthias kniff die Lippen zusammen. Warten Sie, meine Herren vom Großen Rat, meine hochmütigen Herren von der Quadernhalle des Tempels. Sie haben mich geduckt, Sie haben mich unten gehalten. Wenn mein Vater zu den Spesen, die mir Ihr Tempelfonds bewilligte, nicht noch einiges zugegeben hätte, dann hätte ich nicht hierher fahren können. Aber jetzt sitze ich hier in Rom als Ihr Delegierter. Und, seien Sie überzeugt, ich werde das ausnützen. Ich werde es Ihnen zeigen, meine Doktoren und Herren.
  Die Leute im Innern der Großen Rennbahn riefen einander zu, standen auf, schauten alle nach einer Richtung. Vom Palatin kam es glitzernd herunter, ein großer Trupp, Vorläufer, Pagen, Gefolge, Sänften. Auch Josef erhob sich, wollte sehen. Gleich war auch der Führer von vorhin wieder an seiner Seite, und diesmal wies ihn Josef nicht zurück. Es war nicht der Kaiser, nicht einmal der Gardekommandant, es war ein Senator oder sonst ein großer Herr, der sich von dem Architekten Celer durch den Neubau der Rennbahn führen ließ.
  Neugierige drängten näher, von Polizei und der Dienerschaft des Architekten und seiner Begleiter zurückgehalten. Es gelang dem geschickten Führer, mit Josef in die erste Reihe vorzustoßen. Ja, wie er schon an der Livree der Pagen, Läufer und Lakaien erkannt hatte, es war der Senator Marull, der sich die Rennbahn zeigen ließ. Ungefähr wußte selbst Josef, wer das war; denn wie in allen Provinzen, so erzählte man sich auch in Jerusalem wilde Geschichten über diesen Marull als über einen der ersten Lebemänner des Hofs, der den Kaiser in allen Fragen raffinierten Genusses unterwies. Übrigens sollten auch gewisse volkstümliche Possen, die frechen Revuen zum Beispiel, die der große Komiker Demetrius Liban aufführte, ihn zum Autor haben. Gierig beschaute Josef den vielgenannten Herrn, der lässig in seinem Tragstuhl den Erklärungen des Architekten zuhörte, manchmal den blickschärfenden Smaragd seines Lorgnons zum Auge führend.
  Ein anderer Herr fiel Josef auf, den man mit der größten Achtung behandelte. Aber war das denn überhaupt ein Herr? Er war aus seiner Sänfte herausgestiegen; schlecht und lotterig angezogen, schlurfte er zwischen dem ringsum geschichteten Baumaterial, dicklich, mit unordentlich rasiertem, fleischigem Kopf, schwere, schläfrige Augen unter einer vorgebauten Stirn. Er hörte nur halb hin auf die Ausführungen des Architekten, hob ein Stück Marmor hoch, drehte es in seinen fetten Fingern, brachte es ganz nah an seine Augen, roch daran, warf es wieder weg, nahm einem Maurer sein Werkzeug aus der Hand, betastete es. Setzte sich schließlich auf einen Block, schnürte ächzend seine aufgegangenen Schuhe neu, die Hilfe eines herbeigeeilten Lakaien unwillig abweisend. Ja, der Führer kannte auch ihn; es war Claudius Regin. »Der Verleger?« fragte Josef. Möglich, daß er auch Bücher verkaufte, aber davon wußte der Führer nichts. Der kannte ihn als Hofjuwelier des Kaisers. Ein sehr einflußreicher Herr jedenfalls, ein großer Finanzmann, trotzdem er sich geradezu armselig in seiner Kleidung gab und so wenig Gewicht auf Zahl und Prunk seines Gefolges legte. Sehr merkwürdig; denn er war noch als Leibeigener geboren, Sohn eines sizilischen Vaters und einer jüdischen Mutter, und diese heraufgekommenen Herren beliebten sonst eine glänzende Aufmachung. Eine fabelhafte Karriere hatte dieser Claudius Regin hinter sich, das war gewiß, mit seinen zweiundvierzig Jahren. Es gab unter der unternehmungslustigen Regierung des jetzigen Kaisers viele Geschäfte, dicke Geschäfte, und Claudius Regin hatte seine Hand in allen. Ein großer Teil der ägyptischen und der libyschen Getreideflotte gehörte ihm, seine Silos in Puteoli und Ostia waren Sehenswürdigkeiten.
  Der Senator Marull und der Hofjuwelier Claudius Regin unterhielten sich laut und ungeniert, so daß die erste Reihe der Neugierigen, in der Josef stand, jedes Wort hören konnte. Josef erwartete, die beiden Männer, deren Namen in den literarischen Zirkeln der ganzen Welt mit Achtung genannt wurden, denn Claudius Regin galt als der erste Verleger Roms, würden bedeutsame ästhetische Anschauungen austauschen über den Neubau der Rennbahn. Er lauschte gespannt. Er konnte dem hurtigen Latein der beiden nicht folgen, aber so viel merkte er, es ging nicht um Ästhetisches oder Weltanschauliches: man sprach von Preisen, Kursen, Geschäften. Deutlich hörte er die helle, nasale Stimme des Senators, der im Ton vergnügter Nekkerei aus seiner Sänfte her fragte, so laut, daß man es weithin vernahm: »Verdienen Sie eigentlich auch an der Großen Rennbahn, Claudius Regin?« Der Juwelier, er saß auf einem Steinblock in der Sonne, die Hände bequem auf den dicken Schenkeln, erwiderte, unbekümmert auch er: »Leider nein, Senator Marull. Ich dachte, bei den Lieferungen für die Rennbahn habe unser Architekt Sie in das Geschäft genommen.« Josef konnte noch mehr hören von dem Gespräch der beiden Herren, aber mangelnde Sprach- und Fachkenntnis hinderte ihn am Verstehen. Der Führer, selber nicht recht informiert, suchte zu helfen. Claudius Regin hatte offenbar ebenso wie der Senator Marull rechtzeitig in den wenig bebauten Vierteln der Außenbezirke riesige Terrains billig erworben; jetzt, nach dem großen Brand, schuf der Kaiser in der Innenstadt Raum für seine öffentlichen Bauten und drängte die Miethäuser in die Außenbezirke ab; man konnte gar nicht zu Ende rechnen, welchen Wert die Außenterrains gewonnen hatten.
  »Ja, ist es denn nicht verboten, daß Mitglieder des Senats Geschäfte machen?« fragte plötzlich Josef den Führer. Der Führer schaute seinen Fremden verblüfft an. Einige ringsum hatten gehört, sie lachten, andere lachten mit, man gab die Frage des Mannes aus der Provinz weiter, und plötzlich war da ein schallendes Gelächter, sich über die ganze riesige Rennbahn fortpflanzend.
  Der Senator Marull fragte nach dem Grund. Ein kleiner Raum wurde frei um Josef, unvermittelt stand er Aug in Aug mit den beiden großen Herren. »Paßt Ihnen was nicht, junger Mann?« fragte aggressiv, doch nicht ohne Spaß der Dicke; er saß auf seinem Steinblock, die Unterarme auf den massigen Schenkeln wie die Statue eines ägyptischen Königs. Eine helle Sonne schien nicht zu heiß, leichter Wind ging, ringsum war gute Laune. Das zahlreiche Gefolge hörte vergnügt der Unterhaltung der beiden Herren mit dem Mann aus der Provinz zu.
  Josef stand bescheiden, keineswegs verlegen. »Ich bin erst seit drei Tagen in Rom«, sagte er in etwas mühsamem Griechisch. »Ist es ungewöhnlich dumm, wenn ich mich in den Mietverhältnissen dieser großen Stadt noch nicht zurechtfinde?« – »Woher sind Sie denn?« fragte aus seiner Sänfte der Senator. »Aus Ägypten?« fragte Claudius Regin. »Ich bin aus Jerusalem«, erwiderte Josef, und er nannte seinen ganzen Namen: Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe. »Das ist viel, für Jerusalem«, meinte der Senator, und es war nicht recht zu erkennen, ob es Ernst oder Spaß war. Der Architekt Celer zeigte sich ungeduldig, er wollte den Herren seine Projekte erklären, es waren große Projekte voll Einfall und Kühnheit, und er wollte sich durch den läppischen Provinzler nicht stören lassen. Allein der Finanzmann Claudius Regin war neugierig von Natur, und er saß bequem auf seinem warmen Steinblock und fragte seinen jungen Juden aus. Josef gab bereitwillig Auskunft. Er wollte möglichst Neues und Interessantes erzählen, sich und sein Volk wichtig machen. Ob es auch hier in Rom vorkomme, fragte er, daß ein Haus vom Aussatz befallen werde. Nein, sagte man ihm, das komme nicht vor. Aber in Judäa, berichtete Josef, ereigne es sich zuweilen. Es zeigten sich dann in den Mauern kleine rötliche oder grünliche Vertiefungen. Manchmal gehe das so weit, daß man das Haus abbrechen müsse. Manchmal könne der Priester helfen, aber die Zeremonie sei nicht einfach. Der Priester müsse die erkrankten Steine herausbrechen lassen, dann müsse er zwei Vögel nehmen, Zedernholz, scharlachfarbene Wolle und Ysop. Mit dem Blut des einen Vogels müsse er das Haus besprengen, siebenmal, den andern Vogel aber müsse er vor der Stadt auf offenem Feld freilassen. Dann sei das Haus versöhnt und rein. Die ringsum hörten den Bericht mit Interesse und die meisten ohne Spott; denn sie hatten Sinn für Absonderliches und liebten das Unheimliche.
  Der Juwelier Claudius Regin beschaute aus seinen schläfrigen Augen ernsthaft den eifrigen, hageren jungen Mann. »Sind Sie in Geschäften hier, Doktor Josef«, fragte er, »oder wollen Sie sich einfach den Wiederaufbau unserer Stadt anschauen?« – »Ich bin in Geschäften hier«, antwortete Josef. »Ich habe drei Unschuldige zu befreien. Das gilt bei uns als dringliches Geschäft.« – »Ich fürchte nur«, meinte leicht gähnend der Senator, »wir sind im Augenblick mit dem Wiederaufbau so stark beschäftigt, daß wir wenig Zeit haben für die Details von drei Unschuldigen.«
  Der Architekt sagte ungeduldig: »Für die Brüstung der kaiserlichen Loge verwende ich diesen grün und schwarz gesprenkelten Serpentin. Man hat mir ein besonders schönes Stück aus Sparta geschickt.« – »Ich habe die Neubauten in Alexandrien gesehen jetzt auf der Herreise«, sagte Josef, er wollte sich nicht aus der Unterredung drängen lassen. »Die Straßen dort sind breit, hell und gerade.« Der Architekt sagte abschätzig: »Alexandrien aufbauen kann jeder Steinklopfer. Dort haben sie Raum, ebene Fläche.« – »Beruhigen Sie sich, Meister«, sagte mit seiner hohen, fettigen Stimme Claudius Regin. »Daß Rom was anderes ist als Alexandrien, sieht auch ein Blinder.«
  »Lassen Sie mich den jungen Herrn belehren«, sagte lächelnd der Senator Marull. Er war angeregt, er hatte Lust, sich zu produzieren, wie das auch der Kaiser Nero liebte und sehr viele große Herren des Hofs. Er ließ die Vorhänge seiner Sänfte weiter zurückschlagen, daß alle ihn sehen konnten, das magere, gepflegte Gesicht, den senatorischen Purpurstreif seines Kleides. Er beschaute den Mann aus der Provinz durch den Smaragd seines Lorgnons. »Ja, junger Herr«, sagte er mit seiner nasalen, ironischen Stimme, »wir sind zur Zeit noch im Aufbau und nicht ganz komplett. Immerhin können Sie auch ohne viel Phantasie jetzt schon erkennen, was wir für eine Stadt sein werden, noch bevor dieses Jahr zu Ende ist.« Er richtete sich etwas höher, streckte den Fuß vor, der in dem hochgesohlten, roten, dem Ersten Adel vorbehaltenen Schuh stak, nahm, leicht parodierend, den Ton eines Marktschreiers an. »Ohne Übertreibung darf ich behaupten: wer das goldne Rom nicht kennt, kann nicht sagen, daß er wahrhaft gelebt hat. Wo immer in Rom Sie sich befinden, Herr, Sie sind stets in der Mitte, denn wir haben keine Grenze, wir verschlingen immer mehr von den umliegenden Ortschaften. Sie hören hier hundert Sprachen. Sie können hier die Besonderheiten aller Völker studieren. Wir haben hier mehr Griechen als Athen, mehr Afrikaner als Karthago. Sie können hier auch ohne Weltreise alle Produkte der Welt antreffen. Sie finden Ladungen aus Indien und Arabien in solcher Quantität, daß Sie zu der Überzeugung gelangen müssen, in Zukunft sei dort das Land für immer entblößt, und wenn jene Völker den Bedarf an ihren eigenen Erzeugnissen decken wollen, müssen sie zu uns kommen. Was wünschen Sie, mein Herr, spanische Wolle, chinesische Seide, Alpenkäse, arabische Parfüms, medizinische Drogen aus dem Sudan? Sie bekommen eine Prämie, wenn Sie etwas nicht finden. Oder wünschen Sie die neuesten Nachrichten? Man ist auf dem Forum und dem Marsfeld genau informiert, wenn in Oberägypten die Getreidekurse sinken, wenn ein General am Rhein eine törichte Rede hielt, wenn unser Gesandter am Hof des Partherkönigs durch zu lautes Niesen unangenehmes Aufsehen erregte. Kein Gelehrter kann arbeiten ohne unsere Bibliotheken. Wir haben so viele Statuen wie Einwohner. Wir zahlen die höchsten Preise für Tugend und für Laster. Was Ihre Phantasie sich ausdenken kann, finden Sie bei uns; aber Sie finden viel mehr, was Ihre Phantasie sich nicht ausdenken kann.«
  Der Senator hatte sich aus der Sänfte vorgeneigt; ringsum im weiten Umkreis hörte man zu. Er hatte die ironische Pose bis zum Schluß durchgehalten, die Imitation eines Advokaten oder Marktschreiers, aber es klang warm durch seine Worte, und alle spürten, daß diese große Lobrede auf die Stadt mehr war als Parodie. Hingerissen hörten sie zu, wie die Stadt gerühmt wurde, ihre Stadt, mit ihren gesegneten Tugenden und ihren gesegneten Lastern, Stadt der Reichsten und der Ärmsten, lebendigste Stadt der Welt. Wie im Theater dem gefeierten Schauspieler jubelten sie dem Senator Beifall, als er zu Ende war. Der Senator Marull aber hörte schon nicht mehr hin, hatte auch keinen Blick mehr für Josef. In seiner Sänfte verschwand er, winkte den Architekten heran, ließ sich das Modell des Neubaus erklären. Auch der Juwelier Claudius Regin richtete nicht mehr das Wort an Josef. Immerhin hatte er, als Josef vom Strudel der sich zerstreuenden Menge weggerissen wurde, für ihn ein Zwinkern ironischer Aufmunterung, das sein fleischiges Gesicht sonderbar schlau veränderte.
  Nachdenklich, ohne Blick für die Umwelt, oft angerempelt, schob sich Josef durch das Gewimmel der Stadt. Er hatte die lateinische Rede des Senators nicht ganz verstanden, aber sie wärmte auch ihm das Herz und gab seinen Gedanken Flug. Er stieg hinauf auf das Capitol, sog ein den Anblick der Tempel, Straßen, Denkmäler, Paläste. In dem Goldenen Haus, das dort errichtet wurde, regierte der römische Kaiser die Welt, und vom Capitol erließen Senat und Volk von Rom Beschlüsse, die die Welt änderten, und dort in den Archiven, in Erz gegraben, lag die Ordnung der Welt, wie Rom sie ordnete. Rom hieß Kraft, er sprach das Wort vor sich hin: Rom, Rom, und dann übersetzte er es ins Hebräische, da hieß es: Gewurah und klang viel weniger furchtbar, und dann übersetzte er es ins Aramäische, da hieß es: Kochah und hatte alle seine Drohung verloren. Nein, er, Josef, Sohn des Matthias aus Jerusalem, Priester der Ersten Reihe, hatte keine Angst vor Rom.
  Er schaute über die Stadt hin, sie belebte sich immer mehr, die Zeit des großen Nachmittagverkehrs war da. Geschrei, Gewimmel, Geschäftigkeit. Er trank in sich das Bild der Stadt, aber dahinter, wirklicher als dieses wirkliche Rom, sah er seine Heimatstadt, die Quadernhalle des Tempels, in der der Große Rat tagte, und wirklicher als den Lärm des Forums hörte er das gelle Getöse der Ungeheuern Schaufelpfeife, die bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang über Jerusalem hin und bis nach Jericho verkündete, daß jetzt das tägliche Brandopfer am Altar Jahves dargebracht werde. Josef lächelte. Nur wer in Rom geboren ist, kann Senator werden. Dieser Herr Marull sieht stolz und turmhoch aus seiner Sänfte und steckt seinen Fuß in den roten, hochgesohlten, schwarzgeriemten Schuh der vierhundert Senatoren. Aber er, Josef, zieht es vor, in Jerusalem geboren zu sein, trotzdem er nicht einmal den Ring des Zweiten Adels hat. Diese Römer lächelten über ihn: aber tiefer lächelte er über sie. Was sie geben konnten, die Männer des Westens, ihre Technik, ihre Logik, das konnte man lernen. Was man nicht lernen konnte, das war die Schaukraft des Ostens, seine Heiligkeit. Die Nation und Gott, Mensch und Gott waren dort eins. Aber es war ein unsichtbarer Gott, er konnte nicht geschaut werden und nicht gelernt. Man hatte ihn oder hatte ihn nicht. Er, Josef, hatte es, dieses Unlernbare. Und daß er das andere lernen werde, die Technik und die Logik des Westens, daran zweifelte er nicht.
  Er ging das Capitol hinunter. Seine langen, heftigen Augen brannten aus dem blaßbraunen, knochigen Gesicht. Man wußte in Rom, daß unter den Leuten aus dem Osten viele von ihrem Gott Besessene waren. Man schaute ihm nach, manche ein wenig spöttisch, einige wohl auch mit Neid, aber den meisten, den Frauen vor allem, gefiel er, wie er einherging, voll von Träumen und Ehrgeiz.

Cajus Barzaarone, Präsident der Agrippenser-Gemeinde, bei dem Josef wohnte, war Inhaber der blühendsten Kunstmöbelfabrik in Rom. Seine Hauptmagazine lagen auf der andern Seite des Tiber, in der eigentlichen Stadt, ein Kleinbürgerladen in der Subura, die beiden großen Luxusgeschäfte in den Arkaden des Marsfelds; an Werktagen war auch sein geräumiges Privathaus im Judenviertel in der Nähe des Drei-Straßen-Tors vollgestopft mit Dingen seines Betriebs. Heute aber, am Vorabend des Sabbat, war keine Spur davon zu merken. Das ganze Haus, vor allem das geräumige Speisezimmer, schien Josef heute verwandelt. Sonst lag der Raum gegen den Hof offen; heute war er durch einen mächtigen Vorhang abgeschlossen, und Josef erkannte wohlig angerührt den Brauch der Heimat, die Sitte Jerusalems. Er wußte: solange dieser Vorhang geschlossen blieb, war ein jeder im Speisezimmer als Gast willkommen. Wurde er zurückgerafft, so daß die freie Luft hereinströmte, dann begann das Mahl, und wer dann kam, kam zu spät. Auch war der Raum heute nicht nach römischer Art, sondern nach dem Brauch Judäas erleuchtet: silberne, mit Veilchengirlanden geschmückte Lampen hingen von der Decke. Auf dem Büfett, auf dem Tafelgeschirr, auf Bechern, Salzfässern, Öl-, Essig- und Gewürzflaschen, glänzte das Emblem Israels, die Weintraube. Zwischen den vielen Geräten aber, und das rührte Josefs Herz wohliger als aller Glanz, standen strohumhüllte Wärmekisten; denn am Sabbat durfte nicht gekocht werden, deshalb waren die Speisen schon bereitet, und ihr Geruch erfüllte den Raum.

  Trotz dieser anheimelnden Umwelt fühlte sich Josef unzufrieden. Er hatte im stillen damit gerechnet, man werde ihm, als einem Priester der Ersten Reihe und Träger des großen Doktortitels von Jerusalem, einen Platz auf einem der drei Speisesofas anbieten. Allein diesem eingebildeten Römer war es wohl zu Kopf gestiegen, daß jetzt nach dem großen Brand sein Möbelgeschäft so gut ging, und er dachte gar nicht daran, ihm einen von seinen Ehrenplätzen anzuweisen. Vielmehr sollte er offenbar mit den Frauen und den mindergeachteten Gästen an dem großen allgemeinen Tisch sitzen.
  Warum steht man eigentlich herum und zieht nicht den Vorhang hoch und beginnt zu essen? Cajus hat seinen Kindern längst die Hand auf die Scheitel gelegt, sie segnend mit dem uralten Spruch, die Knaben: Gott lasse dich werden wie Ephraim und Menasse, das Mädchen: Gott mache dich wie Rahel und Lea. Alle sind ungeduldig und haben Appetit: worauf wartet man?
  Da kommt vom Hof her hinter dem Vorhang eine bekannte Stimme, und jetzt schlurft aus dem Vorhang ein fetter Herr herein, den Josef schon gesehen hat: der Finanzmann Claudius Regin. Er begrüßt spaßhaft auf römische Art den Hausherrn und dessen uralten Vater Aaron, er wirft auch den Mindergeehrten ein paar wohlwollende Worte herüber, und siehe, Josef wird sehr stolz: er erkennt ihn, er blinzelt ihm aus seinen schweren, schläfrigen Augen zu, er sagt mit seiner hohen, fettigen Stimme, und alle hören es: »Guten Tag, Friede mit dir, Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe.« Dann sogleich rafft man den Vorhang hoch, Claudius Regin legt sich ohne weiteres auf das mittlere Speisesofa, auf den Ehrenplatz. Cajus nimmt das andere, der alte Aaron das dritte. Dann spricht Cajus über einem vollen Becher judäischen Weines, Weines von Eschkol, das Heiligungsgebet des Sabbatabends, er segnet den Wein, und der große Becher geht von Mund zu Mund, und dann segnet er das Brot, bricht es, verteilt es, und alle sagen amen, und dann endlich beginnt man zu essen.
  Josef sitzt zwischen der dicklichen Hausfrau und der hübschen sechzehnjährigen Tochter des Hauses, Irene, die hemmungslos ihre sanften Augen an ihn hängt. Es sind noch viele Leute an der großen Tafel, der Knabe Cornel und der andere halbwüchsige Sohn des Cajus, auch zwei demütige, unscheinbare Theologiestudenten, die darauf warten, sich heute abend hier satt zu essen, und vor allem ein junger Herr mit einem braungelben, scharfen Gesicht, der ihm gegenübersitzt und ihn unverhohlen auf und ab schaut. Es stellt sich heraus, daß der Herr auch aus Judäa stammt, aus der halbgriechischen Stadt Tiberias allerdings, und daß er Justus heißt, ja, Justus von Tiberias, und daß seine innere und äußere Situation der des Josef bedenklich ähnelt. Wie dieser hat er Theologie studiert, Jurisprudenz und Literatur. Er beschäftigt sich vornehmlich mit Politik, lebt hier als Agent des Titularkönigs Agrippa, und wenn er an Familienadel hinter Josef zurücksteht, so hat er von Geburt an eine bessere Kenntnis des Griechischen und Lateinischen; auch ist er bereits drei Jahre hier. Die jungen Herren beriechen einander, neugierig beide, höflich und mit viel Mißtrauen.
  Drüben auf den Speisesofas ist die Konversation laut, ungeniert. Die beiden prunkvollen Synagogen in der eigentlichen Stadt Rom sind niedergebrannt, während die drei großen Bethäuser hier auf dem rechten Tiberufer unversehrt geblieben sind. Es war natürlich schmerzlich und eine Heimsuchung, daß die beiden Gotteshäuser verbrannt waren, aber ein bißchen freute es die Gemeindevorsteher vom rechten Tiberufer trotzdem. Die fünf jüdischen Gemeinden Roms hatten jede ihren eigenen Präsidenten, es war ein scharfer Wettkampf zwischen ihnen, vor allem zwischen der sehr exklusiven Veliasynagoge von drüben und der vielköpfigen, doch gar nicht wählerischen Agrippenser-Gemeinde des Cajus. Des Cajus Vater vor allem, der uralte Aaron, keifte zahnlos gegen die hochfahrenden Dummköpfe vom andern Ufer. War es nicht Gesetz und altes Herkommen, die Synagogen jeweils auf den höchsten Platz ihrer Umgebung zu stellen, so wie der Tempel in Jerusalem die Stadt von der Höhe aus beherrschte? Aber natürlich, Julian Alf, der Präsident der Veliagemeinde, mußte seine Synagoge in unmittelbarer Nähe des Palatin haben, auch wenn er sie zu diesem Zweck tiefer stellen mußte. Es war Strafe Gottes, daß er seine Häuser hatte niederbrennen lassen. Strafe vor allem auch dafür, daß die Juden vom andern Ufer ihr Salz bei den Römern kauften, wo doch jeder wußte, daß dieses römische Salz des schönen Aussehens wegen mit Schweinefett bestrichen war. So schimpfte der Uralte über alles und auf alle. Soviel Josef seinem nicht ganz zusammenhängenden wilden Gemurmmel entnehmen konnte, war er jetzt bei denjenigen, die ihre heiligen hebräischen Namen aus Gründen der Mode und des Geschäfts in lateinische und griechische umwandelten. Sein Sohn Cajus, der selber ursprünglich Chajim hieß, lächelte gutmütig, verständnisvoll; eigentlich dürften das die Kinder nicht hören. Claudius Regin aber lachte, klopfte dem Uralten auf die Schulter, sagte, er habe von Geburt an Regin geheißen; denn er sei leibeigen geboren, und so habe sein Herr ihn genannt. Aber eigentlich müßte er Melek heißen, so habe seine Mutter ihn manchmal gerufen, und er habe durchaus nichts dagegen, wenn auch der Uralte ihn Melek nennen wolle.
  Der braungelbe Justus von Tiberias hat sich mittlerweile an Josef herangetastet. Josef fühlte sich schon die ganze Zeit von ihm beobachtet. Er hat den Eindruck, daß dieser Justus sich innerlich über ihn lustig macht, über seine Konversation, über seine Aussprache, seine Jerusalemer Eßsitten, wie er zum Beispiel mit Daumen und drittem Finger den parfümierten Zahnstocher aus Sandelholz zum Mund führt. Jetzt, unvermittelt, fragt ihn dieser Justus, und es klingt schon wieder so verdammt überlegen weltstädtisch: »Sie sind wohl in politischen Geschäften hier, mein Doktor und Herr Josef Ben Matthias?« Und da kann sich Josef nicht halten, er muß diesem höhnischen jungen Römer zu schmecken geben, daß es wirklich etwas Großes und Wichtiges ist, dessenthalb man ihn hierher delegiert hat, und er legt dar den Fall seiner drei Unschuldigen. Er gerät in Feuer, er spricht etwas zu pathetisch für die Ohren dieser skeptischen römischen Gesellschaft; dennoch wird es still in beiden Teilen des Raumes, auf den Speisesofas und an dem großen Tisch, alle hören sie dem beredten, von sich und seiner Sache hingerissenen jungen Menschen zu. Josef merkt gut, wie schwärmerisch Irene zu ihm aufblickt, wie sein Kollege Justus sich ärgert, wie selbst Claudius Regin wohlgefällig schmunzelt. Das beflügelt ihn, seine Worte werden größer, sein Glaube an seine Sendung wärmer, seine Rede bekommt Atem. Bis unwillig der Uralte unterbricht: am Sabbat spreche man nicht von Geschäften. Josef schweigt sogleich, demütig erschrocken. Aber im Innern ist er zufrieden, er spürt, seine Rede hat Wirkung getan.
  Endlich ist die Mahlzeit zu Ende, Cajus spricht das lange Tischgebet, alles verdrückt sich, zurück bleiben nur die ernsthaften Männer. Jetzt lädt Cajus auch Josef und Justus auf die Speisesofas. Der umständliche Mischapparat wird auf den Tisch gebracht. Man nimmt, nachdem der strenge Alte weg ist, die vom Gebrauch vorgeschriebenen Kopfbedeckungen ab, lüftet sich.
  Da liegen und hocken also die vier Männer zusammen, bei Wein, Konfekt und Früchten, satt, vergnügt, aufgelegt zu Gespräch. In angenehm gelblichem Licht liegt der Raum, der Vorhang ist hochgezogen, von dem dunkeln Hof her weht willkommene Kühlung. Die beiden älteren Herren schwatzen mit Josef über Judäa, fragen ihn aus. Cajus ist leider nur einmal in Judäa gewesen, als junger Mann noch, es ist lange her; er hat mit den Hunderttausenden von Wallfahrern sein Opferlamm am Passahfest zum Tempel gebracht. Er hat viel gesehen in der Zwischenzeit, Triumphzüge, üppige Schauspiele in der Arena, in der Großen Rennbahn, aber der Anblick des weißgoldenen Tempels in Jerusalem und der enthusiastischen Hunderttausende, die den Ungeheuern Raum füllten, bleibt das Größte, was er in seinem Leben sah. Alle hier in Rom hängen sie an der alten Heimat. Haben sie nicht ihre eigene Pilgersynagoge in Jerusalem? Schicken sie nicht Abgaben und Tempelgeschenke? Sparen sie nicht ihr Geld, um ihre Leichen nach Judäa zu schicken, auf daß sie begraben seien in der alten Erde? Aber die Herren in Jerusalem tun das Ihre, einem diese alte Heimat zu verekeln. Warum, verdammt noch eins, vertragt ihr euch nicht mit der römischen Verwaltung? Man kann mit den kaiserlichen Beamten in Frieden auskommen, es sind tolerante Leute, wir haben das oft erfahren. Aber nein, ihr in Judäa müßt immer eure Querköpfe durchsetzen, die Rechthaberei liegt euch im Blut, eines schönen Tages wird der Topf zerschlagen sein. Aufs Johannisbrot werdet ihr kommen, übersetzte er sich ins Aramäische, lächelnd, doch im Grunde sehr ernst.
  Der Juwelier Claudius Regin konstatiert schmunzelnd, daß Josef nach strenger Jerusalemer Etikette seinen Becher nicht auf einmal leert, sondern ihn dazwischen zweimal niedersetzt. Claudius Regin kennt die Verhältnisse in Judäa genau, er war erst vor zwei Jahren dort. Nicht die römischen Beamten sind schuld daran, daß Judäa nicht zur Ruhe kommt, auch nicht die großen Herren in Jerusalem: sondern einzig und allein die kleinen Agitatoren, die »Rächer Israels«. Nur weil sie keinen andern Weg sehen, politische Karriere zu machen, hetzen sie zu einem aussichtslosen bewaffneten Aufstand. Nie sei es den Juden besser gegangen als unter der Regierung dieses gesegneten Kaisers Nero. Sie hätten auf allen Gebieten Einfluß, und dieser Einfluß werde wachsen, wenn sie nur klug genug seien, ihn nicht allzu grell ins Licht zu stellen. Was sei wichtiger: Macht haben oder Macht zeigen? schloß er und spülte sich den Mund mit lauwarmem Wein.
  Josef fand es an der Zeit, ein Wort für die »Rächer Israels« einzulegen. Die Herren in Rom, meinte er, sollten nicht vergessen, daß in Judäa nicht kühle Vernunft allein regiere, sondern notwendig auch das Herz mitspreche. Man stolpere dort bei jedem Schritt über die Insignien der römischen Souveränität. Herr Cajus Barzaarone habe sich mit warmem Herzen der Passahfeier im Tempel erinnert. Wenn man aber sehen müsse, wie brutal und zynisch zum Beispiel die römische Polizei sich in diesem Tempel aufführe, die am Passahfest dorthin zur Wahrung der Ordnung befohlen sei, dann laufe auch einem ruhigen Mann der Kopf rot. Es sei nicht leicht, die Befreiung aus Ägypten zu feiern, wenn man bei jedem Wort die Faust der Römer im Nacken spürt. Sich hier in Rom ruhig zu halten ist keine Kunst, hier würde es wahrscheinlich auch mir nicht schwerfallen; aber unerträglich schwer ist es in dem Land, das Gott auserwählt hat, in dem Gott seinen Wohnsitz hat, im Lande Israel.
  »Gott ist nicht mehr im Lande Israel, Gott ist jetzt in Italien«, sagte eine scharfe Stimme. Alle sahen den Gelbgesichtigen an, der diese Worte gesprochen hatte. Er hielt seinen Becher in der Hand, er hatte den Blick auf keinem, sein Satz war nur für ihn selber bestimmt. Es war auch nicht Abfertigung oder Hohn darin, er hatte eine Tatsache festgestellt, und nun schwieg er.
  Alle schwiegen. Es war auf diese Worte nichts zu sagen. Selbst Josef spürte widerwillig, daß Wahrheit darin war. »Gott ist jetzt in Italien«, er übersetzte sich den Satz ins Aramäische. Das Wort traf ihn tief.
  »Da haben Sie wahrscheinlich recht, junger Herr«, sagte nach einer Weile der Finanzmann Claudius Regin. »Sie müssen wissen«, wandte er sich an Josef, »ich bin nicht etwa Jude, ich bin der Sohn eines sizilischen Leibeigenen und einer jüdischen Mutter, mein Herr hat sich seinerzeit gehütet, mich beschneiden zu lassen, wofür ich ihm offen gestanden heute noch dankbar bin. Ich bin Geschäftsmann, ich vermeide die Nachteile einer Sache, wo ich kann; andernteils nehme ich die Vorteile einer Sache, wo ich sie finde. Ihr Gott Jahve leuchtet mir besser ein als die Konkurrenz. Ich sympathisiere mit den Juden.«
  Der große Finanzmann lag behaglich da, den Becher mit dem lauwarmen Wein in der Hand, die schlauen, verschlafenen Augen in den dunklen Hof gerichtet. Am dritten Finger trug er eine mächtige, matte Perle, von der Josef den Blick nicht losbrachte. »Ja, Doktor Josef«, sagte Cajus Barzaarone, »das ist die schönste Perle der vier Meere.« – »Ich trage sie nur am Sabbat«, sagte Claudius Regin.
  Wenn er diesen Abend nicht nützte, überlegte Josef, wenn er jetzt aus dem Sattheitswohlwollen, der NachtischSentimentalität des mächtigen Mannes keinen Vorteil zog, dann war er ein Trottel und nie imstand, die Sache seiner drei Unschuldigen zu einem glücklichen Ende zu führen. »Da Sie zu den Sympathisierenden gehören, Herr Claudius Regin«, wandte er sich bescheiden und doch dringlich an den Finanzmann, »wollen Sie sich nicht der drei Unschuldigen von Cäsarea annehmen?«
  Der Juwelier setzte den Becher heftig nieder. »Cäsarea«, sagte er, und seine sonst so schläfrigen Augen wurden scharf und seine hohe Stimme bedrohlich. »Das ist eine gute Stadt mit einem herrlichen Hafen, die Ausfuhr ist beträchtlich, der Fischmarkt ausgezeichnet. Großartige Möglichkeiten. Ihr seid selber schuld, wenn man sie euch aus der Hand dreht. Mit euern blödsinnigen Aspirationen. Der Wein wird mir sauer, wenn ich von euern ›Rächern Israels‹ höre.«
  Josef, erschreckt durch die plötzliche Heftigkeit des sonst so ruhigen Herrn, erwiderte doppelt bescheiden, die Befreiung der drei Unschuldigen sei eine rein ethische Angelegenheit, die mit Humanität zu tun habe, nicht mit Politik. »Wir wollen nicht mit politischen Argumenten wirken«, sagte er, »auch nicht mit juristischen. Wir wissen, nur durch persönliche Beziehungen bei Hof ist etwas auszurichten«, und er schaute demütig bittend auf Claudius Regin. »Sind denn Ihre drei Unschuldigen wenigstens wirklich unschuldig?« fragte der schließlich zwinkernd. Josef kam sogleich mit leidenschaftlichen Beteuerungen, die drei seien, als die Unruhen ausbrachen, an einem andern Ende der Stadt gewesen. Doch Claudius unterbrach, das wollte er nicht wissen. Wissen wollte er, welcher politischen Partei die drei angehört hatten. »Haben sie in der Blauen Halle gesprochen?« fragte er. Die Blaue Halle war der Versammlungsraum der »Rächer Israels«. »Das wohl«, mußte Josef zugeben. »Sehen Sie«, sagte Claudius Regin, und damit war für ihn die Sache augenscheinlich abgetan.
  Justus von Tiberias schaute auf das schöne, heftige, begehrliche Gesicht Josefs. Der hatte eine offenbare Niederlage erlitten, und Justus gönnte sie ihm. Abgestoßen und angezogen betrachtete er seinen jungen Kollegen. Der wollte das gleiche sein wie er, ein großer Schriftsteller und von politischem Einfluß. Er hatte die gleichen Mittel, den gleichen Weg, die gleichen Ziele. Das hochfahrende Rom war reif für die ältere Kultur des Ostens, wie es hundertfünfzig Jahre zuvor reif gewesen war für die Kultur der Griechen. Daß es von innen her durch diese Kultur des Ostens aufgelockert werde, daran mitzuarbeiten, das reizte, das war ein herrlicher Beruf. Dies witternd, war er vor drei Jahren nach Rom gekommen, wie jetzt dieser Josef. Aber er, Justus, hatte es leichter und schwerer. Er hatte das reinere Wollen, die schärfere Begabung. Allein er war zu anspruchsvoll in seinen Mitteln, zu heikel. Er hatte tief hineingeschaut in den politischen und literarischen Betrieb der Hauptstadt, ihn ekelte vor den Kompromissen, den billigen Effekten. Dieser Josef war offenbar weniger wählerisch. Er scheute nicht vor den plumpsten Mitteln zurück, er wollte hinauf unter allen Umständen, er schauspielerte, schmeichelte, paktierte, daß es für den Kenner eine Lust war, solche Hemmungslosigkeit mit anzusehen. Sein eigenes Judentum ist geistiger als das des Josef, es wird Zusammenstöße geben. Es wird ein harter Wettlauf sein, es wird nicht immer leicht sein, fair zu bleiben: aber er wird fair bleiben. Er wird dem andern jede Chance geben, die ihm zukommt.
  ,Ich würde Ihnen raten, Josef Ben Matthias«, sagte er, sich an den Schauspieler Demetrius Liban zu wenden.« Und wieder schauten alle auf den gelbgesichtigen jungen Herrn. Wieso waren die andern nicht auf diese Idee gekommen? Demetrius Liban, der populärste Komiker der Hauptstadt, verhätschelter Liebling des Hofs, ein Jude, der sein Judentum bei jedem Anlaß betonte, ja, das war der rechte Mann für Josefs Sache. Die Kaiserin sah ihn gern, lud ihn allwöchentlich ein zu ihren Gesellschaften. Beide stimmten zu: Demetrius Liban war die richtige Adresse für Josef.
  Eine kleine Weile später trennte man sich. Josef ging hinauf in sein Zimmer. Er schlief bald ein, sehr befriedigt. Justus von Tiberias ging allein nach Haus, beschwerlich durch die dunkle Nacht. Er lächelte; der Gemeindepräsident Cajus Barzaarone hatte es nicht einmal für der Mühe wert gehalten, ihm einen Fackelträger mitzugeben.

Sehr bald nach Tagesanbruch stellte sich Josef, begleitet von einem Leibeigenen des Gemeindepräsidenten Cajus Barzaarone, am Tibur-Tor ein, wo ihn ein Fuhrknecht der Handels gesellschaft für Überlandverkehr erwartete. Der Wagen war klein, zweirädrig, ziemlich eng und unbequem. Es regnete. Der mürrische Fuhrknecht veranschlagte die Dauer der Fahrt auf etwa drei Stunden. Josef fröstelte. Der Leibeigene, den ihm Cajus vor allem als Dolmetscher mitgegeben hatte, zeigte sich wenig redselig, döste bald ein. Josef hüllte sich fester in seinen Mantel. In Judäa könnte er es jetzt noch schön warm haben. Trotzdem, es ist besser, daß er hier ist. Diesmal muß es gut hinausgehen, er glaubt an sein Glück.

  Die Juden hier in Rom bringen seine drei Unschuldigen immer in Zusammenhang mit der Politik der »Rächer Israels«, mit der Sache Cäsarea. Gewiß, es ist von Bedeutung für das ganze Land, ob man die Juden durch Schiebung ihrer Herrschaft in der Stadt Cäsarea berauben wird; aber er will nicht, daß man diese Frage mit seinen drei Unschuldigen verquickt. Er findet das zynisch. Ihm geht es nur um das ethische Prinzip. Den Gefangenen helfen, das ist eine der ersten sittlichen Forderungen jüdischer Lehre.
  Wenn man ehrlich sein will, so ganz von ungefähr sind die drei Unschuldigen wahrscheinlich nicht in Cäsarea gewesen gerade zur Zeit der Wahlen. Von seinem Standpunkt aus hatte der damalige Gouverneur Anton Felix schon seine Gründe gehabt, die drei zu packen. Immerhin, er, Josef, hat keine Ursache, sich mit den Gründen des jetzt glücklicherweise abberufenen Gouverneurs zu befassen. Für ihn sind die drei unschuldig. Den Gefangenen helfen.
  Der Wagen stößt. Die Straße ist verdammt schlecht. Sieh da, man ist bereits im Bereich der Ziegelei. Es ist eine graugelbliche Ödnis, ringsum Pfähle und Palisaden und dahinter nochmals Pfähle und Palisaden. Vor dem Tor schauen ihnen lungernde Wachsoldaten entgegen, mißtrauisch, neugierig, froh der Abwechslung. Der Leibeigene parlamentiert mit ihnen, zeigt die Ausweise vor. Josef steht unbehaglich daneben.
  Sie werden zum Verwalter geführt, einen trüben, drückenden Weg. Ringsum ist dumpfer, monotoner Singsang; bei der Arbeit muß gesungen werden, das ist Vorschrift. Die Aufseher haben Knüppel und Knuten, sie schauen verwundert auf die Fremden.
  Der Verwalter ist unangenehm erstaunt. Sonst wenn Besucher kommen, pflegt man ihn rechtzeitig zu benachrichtigen. Er wittert Kontrolle, Unannehmlichkeiten, versteht Josefs Latein nicht oder will es nicht verstehen, sein eigenes Griechisch ist schwach. Man muß, um sich zu verständigen, immerzu die Hilfe des Leibeigenen anrufen. Dann kommt ein Unterbeamter, flüstert mit dem Verwalter, und sofort ändert sich das Benehmen des Mannes. Er erklärt auch offen, warum. Um die Gesundheit der drei steht es nicht zum besten, er hat gefürchtet, man habe sie gleichwohl zur Arbeit geschickt, jetzt hat er erfahren, daß man sie humanerweise in der Zelle gelassen hat. Er freut sich, daß das so gut ging, taut auf, er versteht jetzt das Latein des Josef viel besser, auch sein eigenes Griechisch wird besser, er wird gesprächig.
  Da sind die Akten der drei. Sie waren ursprünglich in Sardinien verwendet worden, in den Bergwerken, aber das hielten sie nicht aus. Sonst werden die zu Zwangsarbeit Verurteilten noch verwendet zum Straßenbau, zur Kloakenreinigung, zur Arbeit an den Tretmühlen und an den Pumpen der öffentlichen Bäder. Die Beschäftigung in den Ziegeleien ist die leichteste. Jüdische Zwangsarbeiter sehen die Verwalter der Fabriken nicht gern. Sie machen Schwierigkeiten wegen der Kost, weigern sich, an ihrem Sabbat zu arbeiten. Der Verwalter war, dies Zeugnis darf er sich selber ausstellen, zu den drei Sträflingen besonders human. Aber auch die Humanität muß leider ihre Grenzen haben. Infolge des Wiederaufbaus der Stadt werden gerade an die staatlichen Ziegeleien ungeheure Anforderungen gestellt. Da muß jeder heran. Das verlangte Quantum muß unter allen Umständen geliefert werden, und Sie können sich vorstellen, Herr, die römischen Baumeister sind nicht bescheiden. Fünfzehn Arbeitsstunden ist jetzt das offizielle Minimum. Von seinen achthundert bis tausend Leuten verrecken in der Woche durchschnittlich vier. Es freut ihn, daß die drei bisher nicht darunter sind.
  Dann gibt der Verwalter Josef an einen Unterbeamten weiter. Wieder geht es durch die Ziegelei, vorbei an Aufsehern mit Knüppeln und Knuten, durch den dumpfen, eintönigen Singsang, durch Lehm und Hitze, durch geduckte Arbeiter, kniende, unter Lasten keuchende. Schriftverse steigen Josef auf von dem Pharao, der Israel drückte im Lande Ägypten. »Und die Ägypter zwangen die Kinder Israels zum Dienst mit Unbarmherzigkeit. Und machten ihnen ihr Leben sauer mit schwerer Arbeit in Ton und Ziegelei. Und man setzte Fronvögte über sie, sie zu drücken mit schweren Diensten, und sie bauten dem Pharao die Städte Piton und Ramses.« Wozu feiert man das Passahfest mit Jubel und großem Glanz, wenn hier noch immer die Kinder Israels die Ziegel schleppen, auf daß ihre Feinde Städte bauen? Der Lehm klebte schwer an seinen Schuhen, drang zwischen die Zehen. Und immer ringsum der eintönige, dumpfe Singsang.
  Endlich ist man vor den Gelassen der Strafarbeiter. Der Soldat holt den Kerkermeister. Josef wartet im Vorraum, liest die Inschrift an der Tür, einen Spruch des gefeierten zeitgenössischen Schriftstellers Seneca: »Sklaven sind es? Aber auch Menschen. Sklaven sind es? Aber auch Hausgenossen. Sklaven sind es? Aber auch niedere Freunde.« Ein kleines Buch liegt auf, Richtlinien des Schriftstellers Columella, Sachverständigen für Großbetriebe. Josef liest: »Es muß täglich ein Appell der Zwangsarbeiter abgehalten werden. Auch muß täglich untersucht werden, ob die Fesseln halten und die Zellen fest sind. Die Zellen sind am zweckmäßigsten für je fünfzehn Sträflinge einzurichten.«
  Er wird zu den dreien geführt. Die Zelle ist unterirdisch, die schmalen Fenster liegen sehr hoch, daß sie nicht mit den Händen erreicht werden können. Eng aneinandergereiht stehen die fünfzehn strohbedeckten Pritschen, aber der Raum ist schon jetzt, wo sie nur zu fünfen da sind, er, der Wärter und die drei Sträflinge, unerträglich eng.
  Die drei hocken nebeneinander. Sie sind halbnackt, die Kleider hängen fetzig an ihnen herunter, ihre Haut ist bleifahl. Über den Knöcheln der Füße tragen sie Ringe für die Ketten, auf der Stirn das Brandmal, eingebrannt den Buchstaben E. Ihre Köpfe sind bis zum Scheitel kahl geschoren, grotesk dazu stehen die riesigen Bärte, verfilzt, strähnig, gelblichweiß. Josef kennt die Namen der drei: Natan, Gadja, Jehuda. Gadja und Jehuda hat er selten und flüchtig gesehen, es ist kein Wunder, wenn er sie nicht wiedererkennt; aber Natan Ben Baruch, Doktor und Herr, Mitglied des Großen Rats, ist sein Lehrer gewesen, vier Jahre lang war er täglich viele Stunden mit ihm zusammen, den aus den dreien müßte er herauskennen. Allein er erkennt ihn nicht heraus. Natan ist ein etwas dicklicher Mann gewesen, von Mittelgröße; was da hockt, sind zwei Gerippe von Mittelgröße und ein sehr großes. Und er kann nicht herausfinden, welches von den beiden mittelgroßen Gerippen sein Lehrer Natan sein könnte.
  Er grüßt die drei. Sonderbar durch den elenden Raum klingt seine gesunde, mühsam gedämpfte Stimme: »Friede mit euch, meine Doktoren und Herren.« Die drei schauen auf, und jetzt, an den dicken Augenbrauen, erkennt er seinen alten Lehrer. Er erinnert sich, wie er Angst und Zorn hatte vor den wilden Augen unter diesen dicken Brauen; denn dieser Mann hat ihn sehr geschunden, hat den Neun- oder Zehnjährigen, wenn er seinen verzwickten Auslegungsmethoden nicht folgen konnte, mit Hohn gedemütigt, hat sein Selbstbewußtsein mit bitterem Bedacht niedergetreten. Er hat damals, wie oft!, dem finstern, mürrischen Mann alles Schlechte gewünscht: jetzt, wie der abgelebte Blick der eingetrockneten Augen auf ihn zukommt, fällt es ihm aufs Herz wie ein Stein, und das Mitleid schnürt ihm den Atem.
  Er muß lang und behutsam reden, bis er durch die stumpfe Müdigkeit der drei zu ihrem Verständnis vordringt. Endlich antworten sie, hüstelnd, stammelnd. Es ist aus mit ihnen. Denn wenn man sie auch nicht hat zwingen können, Jahves Verbote zu übertreten, so hat man sie doch gehindert, seine Gebote zu erfüllen. Sie haben also dies und das andre Leben verloren. Ob man sie knüttelt, bis sie auf die lehmige Erde fallen, ob man sie ans Kreuz nagelt nach der verruchten Art, wie dieses Gezücht von Römern Menschen zum Tode zu bringen pflegt: der Herr gibt es, der Herr nimmt es, je rascher das Ende, um so willkommener, der Name des Herrn sei gelobt.
  Es ist eine drückende Luft in dem engen, halbdunkeln Raum, feuchtkalt, durch die schmalen Fensteröffnungen dringt der Regen, der dicke Gestank zieht nicht ab, von außen, fernher kommt der dumpfe Singsang. Josef schämt sich, daß er ganze Kleider am heilen Leib trägt, daß er jung und voll Tatkraft ist, daß er in einer Stunde hier hinaus kann, fort von dieser Stätte des Lehms und des Grauens. Die drei können nichts denken, was über den kleinen Umkreis ihres schauerlichen Alltags hinausgeht. Es hat keinen Sinn, ihnen von seiner Sendung zu sprechen, von den Schritten, die man für sie tun will, von Politik, von der günstigeren Konstellation bei Hofe. Für sie bleibt das Bitterste, daß sie die Reinigungsgesetze nicht halten können, die strengen Gebote der rituellen Waschungen. Sie haben mancherlei Aufseher und Wärter gehabt, einige waren härter, die nahmen ihnen ihre Gebetriemen, auf daß sie sich nicht daran erhängten, einige waren milder, die ließen sie ihnen: aber Unbeschnittene, Frevler und Verdammte waren sie alle. Für sie war es gleich, ob man die Zwangsarbeiter besser nährte oder nicht; denn sie aßen nicht das Fleisch von Tieren, die nicht nach dem Gesetz geschlachtet waren. Also blieb, wovon sie sich nähren mußten, Abfall von Obst und Gemüsen. Sie hatten unter sich beraten, ob sie die Fleischportionen annehmen und an die andern Gefangenen gegen Brot und Früchte austauschen dürften. Sie hatten darüber heftig diskutiert, Doktor Gadja hatte zunächst mit vielen Argumenten bewiesen, es sei erlaubt. Aber schließlich hatte auch er den beiden andern zugestimmt, es sei erlaubt nur als Rettung unmittelbar vor dem Tode. Wer aber kann wissen, ob der Herr, sein Name sei gelobt, ihren Tod für diesen oder erst für den nächsten Monat bestimmt hat? Somit ist es also trotzdem nicht erlaubt. Wenn sie nicht zu stumpf und müde sind, immer dann debattieren sie mit theologischen Argumenten, was erlaubt ist und was nicht, und dann erinnern sie sich an die Quadernhalle des Tempels. Josef hatte den Eindruck, daß diese Debatten oft heftig seien und in wüste Zänkereien ausarteten, aber offenbar waren sie das einzige, was die drei noch am Leben hielt. Nein, es war nicht möglich, mit ihnen halbwegs Vernünftiges zu reden. Wenn er von der Judenfreundschaft der Kaiserin sprach, dann erwiderten sie, es sei fraglich, ob es überhaupt erlaubt sei, an diesem Ort der Tiefe und des Schmutzes zu beten; auch wüßten sie nie den Kalender, so daß sie vielleicht den Sabbat verletzten durch Anlegung der Gebetriemen und
den Werktag durch Nichtanlegung.
  Josef gab es auf. Er hörte sie an, und als einer eine Stelle der Schrift zitierte, ging er darauf ein und zitierte eine Gegenstelle, und siehe, da belebten sie sich und begannen zu streiten und holten Argumente aus ihren kraftlosen Kehlen, und er stritt mit, und es war ein großer Tag für sie. Aber sie hielten nicht durch, und sehr bald sanken sie zurück in ihre Stumpfheit.
  Josef sah sie hocken im trüben Licht ihres Kerkers. Diese drei, jämmerlich an Leib, in Schmutz und letzter Tiefe, waren Große gewesen in Israel, ihre Namen hatten geglänzt unter den Gesetzgebern der Quadernhalle. Den Gefangenen helfen. Nein, es kam nicht darauf an, es war lächerlich und eitel, ob in der Stadt Cäsarea die Juden die Herrschaft hatten oder nicht. Diesen drei zu helfen, darauf kam es an. Der Anblick der drei schüttelte ihn, entzündete alle Feuer in ihm. Er war angefüllt von einem frommen Mitleid, das ihn fast zerriß. Es packte ihn und hob ihn, wie sie starr in ihrer Not am Gesetz festhielten, wie sie sich krallten ans Gesetz, wie nur das Gesetz ihnen Atem einblies, daß sie am Leben blieben. Er dachte an die Zeit, da er selber in der Wüste war, in heiliger Entbehrung, bei den Essäern, bei seinem Lehrer Banus, und wie damals in seinen besten Augenblicken Erkenntnis über ihn gekommen war nicht durch Verstand, sondern durch Versenkung, durch Schau, durch Gott.
  Die Gefangenen befreien. Er preßte die Lippen zusammen in dem festen Vorsatz, jeden Gedanken an sich auszulöschen um dieser drei Elenden willen. Über dem jämmerlichen Singsang der Zwangsarbeiter hörte er die großen, hebräischen Worte des Gebotes. Nein, er ist nicht hier aus eitler Selbstsucht, Jahve hat ihn hergeschickt. Er schritt zurück durch den grauen Regen, er spürte nicht den Regen, nicht den Lehm, der an seinen Schuhen klebte. Die Gefangenen befreien.

In Judäa konnte ein Mann von Josefs politischen Anschauungen unmöglich zu den Rennen oder ins Theater gehen. Ein einziges Mal hatte er eine Aufführung besucht, heimlich und mit schlechtem Gewissen, in Cäsarea. Aber was war das für eine nichtige Sache gewesen, verglich er es mit dem, was er heute im Marcell-Theater sah. Ihm rauchte der Kopf von den Tänzen, den kleinen Rüpelspielen, dem Ballett, der großen pathetischen Pantomime, dem Prunk und dem ständigen Wechsel auf der mächtigen Bühne, die die langen Stunden hindurch nie leer gestanden hatte. Justus, der neben ihm saß, tat das alles mit einer Handbewegung ab. Er ließ auf der Bühne nur die burleske Revue gelten, wie das Volk mit Recht sie liebte, und hatte sich all das Zeug bisher nur gefallen lassen, um sich den Platz für die Revue des Komikers Demetrius Liban zu ersitzen.

  Ja, dieser Komiker Demetrius Liban, so unangenehm vieles an ihm war, blieb ein Künstler mit einem Menschengesicht. Noch als Leibeigener des kaiserlichen Haushalts geboren, von Kaiser Claudius freigelassen, hatte er sich ein unerhörtes Vermögen und den Titel »Erster Schauspieler der Epoche« zusammengespielt. Kaiser Nero, den er in der Rede- und Schauspielkunst unterwies, liebte ihn. Ein schwieriger Herr, dieser Liban, gehoben und gedrückt von seinem Judentum. Auch Bitten und Befehle des Kaisers konnten ihn nicht bewegen, am Sabbat oder an hohen jüdischen Festen aufzutreten. Immer wieder debattierte er mit den Doktoren der jüdischen Universitäten, ob er wirklich von Gott verworfen sei, weil er Theater spiele. Er bekam hysterische Anfälle, wenn er in Weiberkleidung aufzutreten und also das Gebot der Schrift zu verletzen hatte: ein Mann soll nicht Weibskleidung tragen.
  Die elftausend Zuschauer des Marcell-Theaters, ermüdet von den mehrstündigen Darbietungen des ersten Teils, verlangten jetzt tobend und brüllend den Anfang der Burleske. Die Theaterleitung zögerte, offenbar, weil man den Kaiser oder die Kaiserin erwartete, in deren Loge alle Vorbereitungen getroffen waren. Allein das Publikum hatte nun fünf Stunden gewartet, es war gewöhnt, sich im Theater auch dem Hof gegenüber seine Rechte zu nehmen, es drohte, es schrie, man mußte anfangen.
  Der Vorhang drehte sich in die Versenkung, die Komödie des Demetrius Liban begann. Sie war betitelt »Der Brand«, es hieß, der Senator Marull sei ihr Verfasser. Ihr Held, dargestellt von Liban, war Isidor, ein Leibeigener aus der ägyptischen Stadt Ptolemais, seinem Herrn und seiner ganzen Umgebung überlegen. Er spielte fast ohne allen Behelf, trug keine Maske, keine kostbaren Kleider, keinen überhöhten Schuh; er war einfach der Leibeigene Isidor aus der Provinz Ägypten, ein schläfriger, trauriger, pfiffiger Bursche, dem nichts geschehen kann, der in jeder Situation recht behält. Er hilft seinem schwerfälligen Unglücksmenschen von Herrn aus seinen zahllosen Verlegenheiten, er schafft ihm Geld und Stellung, er schläft mit der Frau seines Herrn. Einmal, wie der ihm eine Ohrfeige versetzt, erklärt er ihm traurig und bestimmt, nun müsse er ihn leider verlassen, und er werde nicht zurückkehren, ehe der Herr an allen öffentlichen Plätzen eine Bitte um Entschuldigung plakatiert habe. Der Herr legt den Leibeigenen Isidor in Ketten, benachrichtigt die Polizei, aber es gelingt Isidor natürlich dennoch, zu entwischen, und unter ungeheurem Jubel des Publikums nasführt er die Polizei wieder und wieder. Leider mußte an der spannendsten Stelle, als es unausbleiblich schien, daß man den Isidor nun endlich doch ergriff, das Spiel abgebrochen werden; denn hier erschien die Kaiserin. Das ganze Publikum erhob sich, grüßte elftausendstimmig die zierliche, blonde Dame, die mit ausgestrecktem Arm, die Handfläche dem Publikum zugekehrt, dankte. Übrigens war ihr Erscheinen eine doppelte Sensation, denn in ihrer Begleitung befand sich die Äbtissin der Vestalinnen, und bisher war es nicht üblich gewesen, daß die aristokratischen Nonnen sich die volkstümlichen Burlesken im Marcell-Theater anschauten.
  Das Spiel mußte von neuem begonnen werden. Josef war das willkommen, die unerhörte, freche Realität des Spiels war ihm überwältigend neu, und er verstand es das zweitemal viel besser. Seine brennenden Augen hingen an dem Schauspieler Liban, an seinem dreisten und traurigen Mund, an seinen beredten Händen, an seinem ganzen bewegten, beredten Körper. Nun kam das Couplet, das berühmte Couplet aus dem Singspiel »Der Brand«, das Josef in der kurzen Zeit seines römischen Aufenthalts schon hundertmal hatte singen, johlen, grunzen, pfeifen hören. Der Schauspieler stand an der Rampe, umgeben von elf Clowns, Schlagzeug gellte, Trompeten brummten, Flöten quiekten, und er sang das Couplet: »Wer ist der Herr hier? Wer zahlt die Butter? Wer zahlt die Mädchen? Und wer, wer zahlt das syrische Parfüm?« Das Publikum war aufgesprungen, sie sangen mit, selbst die bernsteingelbe Kaiserin in der Loge bewegte die Lippen, und die feierliche Äbtissin lachte über das ganze Gesicht. Jetzt aber, endlich, war der Leibeigene Isidor umstellt, es gab kein Entrinnen mehr, dicht um ihn waren die Polizisten, er beteuerte, er sei nicht der Leibeigene Isidor, aber wie das den Polizisten beweisen? Durch einen Tanz. Ja. Und nun kam der Tanz. Isidor trug noch die Kette am Fuß. Es galt, zu tanzen und die Kette dabei zu verbergen, das war furchtbar schwer, das war komisch und erschütternd zugleich, dieser Mensch, der um seine Freiheit und um sein Leben tanzte. Josef war mitgerissen, das Publikum war mitgerissen. Wie sein Fuß die Kette, zog jede Bewegung des Schauspielers Liban die Köpfe der Zuschauer mit. Josef fühlte sich als Aristokrat durch und durch, er trug kein Bedenken, sich von Leibeigenen die niedrigsten Dienste erweisen zu lassen; die meisten Leute hier im Theater trugen keine Bedenken, sie hatten am Beispiel von mehreren zehntausend hingerichteten Leibeigenen einige Male sehr deutlich bewiesen, daß sie den Unterschied zwischen Herren und Leibeigenen nicht verwischt haben wollten. Jetzt aber, wie sie den Mann mit seiner Kette tanzen sahen, der sich für den Herrn ausgab, waren sie alle für ihn und gegen seinen Herrn, und alle jubelten sie, die Römer und ihre Kaiserin, dem frechen Burschen da zu, wie er wieder einmal seine Polizisten drangekriegt hatte und nun leise und pfiffig zu summen anhub: »Wer ist der Herr hier? Wer zahlt die Butter?«
  Und nun wurde das Spiel ganz frech. Der Herr des Isidor hatte richtig seine Entschuldigung plakatiert, er hatte zu seinem Leibeigenen zurückgefunden. Aber er hatte in der Zwischenzeit Dummheiten gemacht, er hatte sich mit seinen Mietern verkracht, so daß sie nicht zahlten. Exmittieren durfte er sie aus gewissen Gründen trotzdem nicht, seine teuren Häuser waren entwertet. Da konnte niemand helfen als der schlaue Isidor, und er half. Er half, wie sich nach der Meinung des Volks der Kaiser und einige große Herren in einem ähnlichen Fall geholfen hatten: er zündete das Stadtviertel mit den entwerte ten Häusern an. Wie Demetrius Liban das darstellte, das war frech und großartig, jeder Satz war eine Anspielung auf die Terrainspekulanten, auf die großen Verdiener an dem Wiederaufbau der Stadt. Niemand wurde geschont, nicht die Architekten Celer und Sever, nicht der berühmte alte Politiker und Literat Seneca mit seinem theoretischen Lob der Armut und seinem praktischen Leben des Reichtums, nicht der Finanzmann Claudius Regin, der eine mächtige Perle am dritten Finger trägt, aber leider nicht das Geld hat, sich passende Schuhriemen zu kaufen, nicht der Kaiser selber. Jedes Wort saß, das Theater jubelte, atemlos vor Lachen, und als am Schluß der Schauspieler Liban das Publikum aufforderte, das brennende Haus auf der Bühne zu plündern, entstand ein Aufruhr, wie Josef ihn nie gesehen hatte. Das verlockende Innere des brennenden Hauses war durch eine kunstvolle Maschinerie den Zuschauern zugedreht worden. Die Tausende wälzten sich zur Bühne, stürzten sich auf die Möbel, das Geschirr, die Speisen. Schrien. Zertrampelten sich, zerdrückten sich. Und durch das Theater über den Platz davor, durch die riesigen, eleganten Kolonnaden, über das ganze, weite Marsfeld hin sang es, johlte es: »Wer ist der Herr hier? Wer zahlt die Butter?«

Als Josef von Demetrius Liban auf Betreiben des Justus zum Abendessen eingeladen wurde, machte ihn das bang. Er war dreist von Natur. Als er dem Erzpriester, dem König Agrippa, dem römischen Gouverneur vorgestellt wurde, war er nicht befangen gewesen. Allein vor dem Schauspieler spürte er tieferen Respekt. Seine Komödie hatte ihn hingerissen. Es füllte ihn mit Bewunderung, wie ein einzelner Mann, dieser Jude Demetrius Liban, die vielen Tausende, Hohe und Niedere, Römer und Fremde, hatte zwingen können, so zu denken, so zu fühlen wie er.
  Josef fand den Schauspieler auf dem Sofa liegend, in einem bequemen, grünen Schlafrock; er streckte ihm lässig die vielberingte Hand hin. Josef sah betreten und mit Bewunderung, wie klein von Statur der Mann war, der das ganze riesige Marcell-Theater ausgefüllt hatte.
  Es war eine Mahlzeit im engen Kreis. Der junge Anton Marull war da, ein Sohn des Senators, ein anderer, kaum flügger Aristokrat, dann ein jüdischer Herr, vom Vorstand der Veliasynagoge, ein gewisser Doktor Licin, recht affektiert und Josef sogleich unsympathisch.
  Josef, das erstemal in einem groß geführten römischen Haus, fand sich überraschend gut ab mit der Fülle des Ungewohnten. Der Gebrauch des Geschirrs, der Fischsaucen, der Gewürze war verwirrend. Aber er hatte dem unsympathischen Doktor Licin, der auf dem Speisesofa ihm gegenüber lag, bald das Wichtigste abgesehen; nach einer halben Stunde schon schickte er, was ihm nicht behagte, mit der gleichen hochfahrend eleganten Kopfbewegung zurück und befahl mit einem Wink des kleinen Fingers herbei, was ihm ins Auge stach.
  Der Schauspieler Liban aß wenig. Er beklagte die Diät, die sein verdammter Beruf ihm auflege, ach, auch in bezug auf Frauen, und er machte ein paar obszöne Anmerkungen über die Art, wie bestimmte Schauspielunternehmer ihre leibeigenen Künstler durch eine sinnvoll am Körper angebrachte Maschinerie verhinderten, über die Stränge zu schlagen. Gegen gutes Geld aber ließen sie sich von gewissen hochgestellten Damen erweichen, ihren armen Schauspielern den Mechanismus für einzelne Nächte abzunehmen. Dann, unvermittelt, machte er sich lustig über einige Kollegen, Anhänger eines andern Stils, über die Lächerlichkeit der Tradition, der Maske, des Stelzschuhs. Er sprang auf, er karikierte den Schauspieler Strathokles, schritt durch das Zimmer, daß der grüne Schlafrock sich bauschte, er trug Sandalen ohne Absatz, aber siehe, man spürte leibhaft den überhöhten Schuh und das ganze gespreizte Wesen.
  Josef nahm einen Anlauf, rühmte bescheiden, wie diskret und dennoch deutlich die Anspielungen Demetrius Libans auf den Finanzmann Regin gewesen seien. Der Schauspieler schaute auf: »Also diese Stelle hat Ihnen gefallen? Das freut mich; denn sie hat nicht so eingeschlagen, wie ich hoffte.« Josef, glühend und doch immer bescheiden, schilderte, wie die ganze Aufführung ihn aufgewühlt habe. Millionen von Leibeigenen habe er gesehen, aber jetzt zum erstenmal habe er erfahren und gespürt, was ein Leibeigener ist. Der Schauspieler streckte Josef die beringte Hand hin. Es sei ihm eine große Bestätigung, sagte er, daß jemand, der gerade aus Judäa komme, von seiner Sache so ergriffen werde. Josef mußte ihm eingehend schildern, wie jedes einzelne auf ihn gewirkt habe. Der Schauspieler hörte nachdenklich zu, langsam einen gewissen, die Gesundheit fördernden Salat essend.
  »Sie kommen aus Judäa, Doktor Josef«, wechselte schließlich Demetrius Liban das Thema. »O meine lieben Juden«, sagte er voll Anklage und Resignation. »Sie tun mir alles Bitterste auf der Welt. In der Hebräer-Synagoge verfluchen sie meinen Namen, bloß weil ich die Gaben verwerte, die Gott der Herr mir gegeben hat, und stellen mich den Kindern als Schreckbild hin. Manchmal sehe ich rot, so ärgert mich ihre Beschränktheit. Wenn sie aber ein Anliegen in der kaiserlichen Residenz haben, dann können sie laufen und mir die Ohren vollschwätzen. Dann ist Demetrius Liban gut genug.«
  »Mein Gott«, sagte der junge Anton Marull, »die Juden ha- ben immer zu quengeln, das weiß man.«
  »Ich verbitte mir das«, schrie auf einmal der Schauspieler und stand aufgereckt, zürnend. »Ich verbitte mir, daß man in meinem Haus die Juden beschimpft. Ich bin Jude.«
  Anton Marull war rot angelaufen, versuchte zu lächeln, aber es gelang nicht, er stammelte Entschuldigungen. Demetrius Liban hörte gar nicht auf ihn. »Judäa«, sagte er, »Land Israel, Jerusalem. Ich bin nie dort gewesen, ich habe den Tempel nie gesehen. Aber einmal werde ich doch hinfahren und mein Lamm zum Altar bringen.« Sehnsüchtig und besessen schauten seine graublauen, traurigen Augen aus dem blassen, leicht gedunsenen Gesicht.
  »Ich kann mehr als das, was Sie gesehen haben«, wandte er sich unvermittelt an Josef, wichtig und geheimnisvoll. »Ich habe da eine Idee. Wenn die mir glückt, dann, ja, werde ich meinen Titel wirklich verdienen und der Erste Schauspieler der Epoche sein. Ich weiß genau, wie ich es machen müßte. Es ist nur eine Frage des Mutes. Beten Sie, mein Doktor und Herr Josef Ben Matthias, daß ich den Mut aufbringe.« Anton Marull legte vertraulich und anmutig den Arm um den Hals des Schauspielers. »Sag uns doch deine Idee, lieber Demetrius«, bat er. »Jetzt sprichst du uns schon das drittemal davon.« Aber Demetrius Liban blieb zugesperrt. »Auch die Kaiserin drängt mich«, sagte er, »ich möge mit meiner Idee herausrücken. Ich glaube, sie würde mir viel dafür geben, wenn ich die Idee ausführte«, und er hatte ein abgründig freches Lächeln. »Aber ich denke nicht daran«, schloß er.
  »Erzählen Sie mir von Judäa«, wandte er sich wieder an Josef. Josef erzählte vom Passahfest, vom Fest des Holztragens, von dem Dienst am Versöhnungstag, wie da der Erzpriester ein einziges Mal im Jahr Jahve bei seinem wirklichen Namen anruft und wie alles Volk, hörend den großen und schrecklichen Namen, sich niederwirft vor dem unsichtbaren Gott, und fünfzigtausend Stirnen rühren die Fliesen des Tempels. Der Schauspieler hörte zu, die Augen geschlossen. »Ja, einmal werde ich auch den Namen hören«, sagte er. »Jahr um Jahr verschiebe ich die Reise nach Jerusalem, die Jahre der Kraft sind nicht viele für einen Schauspieler, er muß haushalten mit seinen Jahren. Aber einmal werde ich doch ins Schiff steigen. Und wenn ich alt geworden bin, werde ich mir ein Haus kaufen und ein kleines Gut bei Jerusalem.«
  Josef, während der Schauspieler sprach, überlegte scharf und schnell: jetzt war man noch aufnahmefähig und in der rechten Stimmung. »Darf ich Ihnen noch etwas von Judäa erzählen, Herr Demetrius?« bat er. Und er erzählte von seinen drei Unschuldigen. Er dachte an die Ziegelei und das feuchtkalte, unterirdische Gelaß und die Skelette der drei, und wie er seinen alten Lehrer Natan nicht erkannt hatte. Der Schauspieler schmiegte die Stirn in die Hand, hielt die Augen geschlossen. Josef sprach, und seine Rede hatte Farbe und guten Flug.
  Alle schwiegen, als er zu Ende war. Dann sagte Doktor Licin von der Veliasynagoge: »Sehr interessant.« Aber der Schauspieler fuhr ihn heftig an; er wollte gepackt sein und glauben. Licin verteidigte sich. Wo denn sei ein Beweis, daß die drei wirklich unschuldig seien? Gewiß spreche dieser Doktor und Herr Josef Ben Matthias aus bester Überzeugung, aber warum sollen seine Zeugenaussagen besser sein als die von dem Gouverneur Anton Felix beigebrachten, von einem kaiserlich römischen Gericht als wahr befundenen? Josef aber blickte auf den Schauspieler, vertrauensvoll, ernst, und erwiderte schlicht: »Sehen Sie sich diese drei Männer an. Sie sind in der Ziegelei von Tibur. Reden Sie mit ihnen. Wenn Sie dann noch an ihre Schuld glauben, soll kein Wort mehr aus meinen Lippen kommen.«
  Der Schauspieler ging hin und her, seine Augen waren nicht mehr trüb, alle Flauheit war weg. »Das ist ein guter Vorschlag«, rief er. »Ich freue mich, Doktor Josef, daß Sie zu mir gekommen sind. Wir fahren nach Tibur. Ich will diese drei Unschuldigen sehen. Ich werde Ihnen helfen, mein Doktor und Herr Josef Ben Matthias.« Er stand vor Josef, er war kleiner als Josef, aber er schien viel größer. »Wissen Sie«, sagte er dunkel, »daß diese Fahrt in der Richtung meiner Idee liegt?«
  Er war angeregt, lebendig, besorgte selber den Mischkrug, sagte jedem Angenehmes. Man trank viel. Als es später wurde, schlug jemand vor zu spielen. Man würfelte mit vier Elfenbeinknöcheln. Demetrius Liban hatte einen Einfall. Irgendwo mußte er noch aus seiner Kinderzeit hebräische Würfel verwahrt haben, sonderbare, mit einer Achse, deren oberer Teil als Griff diente, so daß sie sich wie Kreisel drehen ließen. Ja, Josef kannte diese Art Würfel. Man suchte, fand. Die Würfel waren klobig, primitiv, sie ließen sich auf eine komische, belustigende Art drehen. Man spielte mit Vergnügen. Nicht hoch, doch für Josef waren die Einsätze ungeheuer. Er atmete auf, als er die drei ersten Würfe gewann.
  Es waren vier Würfel. Jeder trug die Buchstaben Gamel, He, Nun, Schin. Schin war der schlechteste, Nun der beste Wurf. Die strenggläubigen Juden verpönten dieses Spiel, sie wollten wissen, daß der Buchstabe Schin ein altes Bild des Gottes Saturn vertrat, der Buchstabe Nun ein Bild der Göttin NogaIstar, bei den Römern Venus genannt. Die Würfel wurden nach der Drehung wieder in die Mitte zusammengeworfen, jeder Spieler konnte für seinen Wurf einen beliebigen Kreisel aus den vieren herausholen. Josef warf im Lauf des Spieles sehr oft den Glücksbuchstaben Nun. Scharfäugig erkannte er bald, daß es ein bestimmter Würfel war, der bei jeder Kreiseldrehung den Buchstaben Nun ergab; es lag wohl daran, daß dieser Würfel an der einen Ecke unmerklich abgestoßen war. Als Josef dies bemerkte, wurde ihm kalt. Wenn die andern daraufkamen, daß es der Würfel mit dem abgestoßenen Eck war, der seine vielen Nun geworfen hatte, war dann nicht das ganze Ergebnis des heutigen Abends, die Gunst des großen Mannes, gefährdet? Er wurde sehr vorsichtig, verminderte seinen Gewinn. Was ihm blieb, genügte, daß er fortan in Rom ohne Knauserei leben konnte.
  »Bin ich sehr unbescheiden, Herr Demetrius«, fragte er, als das Spiel zu Ende war, »wenn ich Sie bitte, mir diese Würfel zum Andenken zu schenken?« Der Schauspieler lachte. Ungefüg kratzte er in einen der Würfel den Anfangsbuchstaben seines Namens.
  »Wann fahren wir zu den drei Unschuldigen?« fragte er Josef. »In fünf Tagen«, schlug Josef zögernd vor. »Übermorgen«, sagte der Schauspieler.

In der Ziegelei wurde Demetrius Liban großartig empfangen. Klirrend erwies das Detachement der Wachsoldaten dem Ersten Schauspieler der Epoche die Ehrenbezeigung, die den Männern der höchsten Rangstufen vorbehalten war. Die Aufseher, die Wächter drängten sich an den Toren, grüßend streckten sie ihm den rechten Arm mit der geöffneten Hand entgegen. Von allen Seiten rief es: »Gegrüßt, Demetrius Liban.«
  Strahlender Himmel war, der Lehm, die geduckten Zwangsarbeiter sahen weniger trostlos aus, überall zwischen ihrem monotonen Singsang klang das berühmte Couplet: »Wer ist der Herr hier? Wer zahlt die Butter?« Benommen an der Seite des Schauspielers ging Josef; mehr fast als der Jubel der Tausende im Theater packte ihn der Anblick der Verehrung, die Demetrius Liban auch an dieser Stätte letzten Elends genoß.
  In dem unterirdischen, feuchtkalten Gelaß aber war die festliche Tünche sogleich weg, mit der die Ziegelei heute angestrichen war. Die hohen, schmalen Fenster, der Gestank, der monotone Singsang. Die drei hockten wie damals ausgedörrt, den vorgeschriebenen Eisenring am Fuß, das eingebrannte E auf dem Schädel, die filzigen Bärte grotesk abstehend von den halbgeschorenen Köpfen.
  Josef versuchte, sie zum Sprechen zu bringen. Mit der gleichen liebevollen Mühe wie das letztemal holte er aus ihnen Sätze des Elends, der hoffnungslosen Ergebung.
  Der Schauspieler, leicht erregt, schluckte. Seine Augen hingen an den Greisen, wie sie ausgemergelt, zerbrochen, mit schwer arbeitenden Adamsäpfeln ihre kümmerlichen Worte gurgelten. Gierig nahmen seine Ohren ihr rauhes, abgehacktes Gestammel auf. Er wäre gern hin und her gegangen, doch das war schwer in dem engen, niedrigen Raum, so stand er starr an seinem Platz, aufgewühlt. Seine rasche Phantasie sah, wie diese Männer hoch hergeschritten waren, weißgewandet, feierlich in der Quadernhalle des Tempels, Gesetzesverkünder in Israel. Tränen kamen ihm, er wischte sie nicht weg, sie rannen über seine leicht gedunsenen Wangen. Er stand sonderbar gezwungen, ohne Regung, dann, mit verbissenen Zähnen, ganz langsam, hob er die Hand mit den beringten Fingern und riß sein Kleid weit durch, wie es die Juden taten zum Zeichen großer Trauer. Dann hockte er nieder bei den drei Elenden, ganz nahe schmiegte er sich an ihre stinkenden Fetzen, daß ihm ihr übler Atem mitten ins Gesicht schlug und ihre schmutzigen Bärte seine Haut kitzelten. Und er begann mit ihnen aramäisch zu sprechen; es war ein stockendes, weithergeholtes Aramäisch, er hatte wenig Übung. Aber es waren Worte, die sie verstanden, besser passend zu ihrem Gemüt und ihrer Lage als die Worte Josefs, Worte der Teilnahme an ihrem kleinen, jämmerlichen Alltag, sehr menschlich, und sie weinten, und sie segneten ihn, als er ging.
  Einen langen Teil der Rückfahrt blieb Demetrius Liban schweigsam, dann ließ er seine Überlegungen laut werden. Was ist das große Pathos eines einmaligen Unglücks, des brennenden Herakles, des gefällten Agamemnon gegen die schleichende, Haut und Herz langsam fressende Not dieser drei? Was für ein endloser, böser Weg, bis diese Großen in Zion, die die Fackel der Lehre weitergetragen hatten, so stumpf und zerstört wurden zu drei Bündeln Nichts.
  In der Stadt angelangt, am Tibur-Tor, als er sich von Josef verabschiedete, sagte er noch: »Wissen Sie, was das Schauerlichste war? Nicht das, was sie sagten, sondern die sonderbare Art, wie sie die Oberkörper hin und her schaukelten, immer gleichmäßig. So können das nur Leute machen, die stets am Boden hocken und viel im Dunkeln gehalten werden. Worte können lügen, aber diese Bewegungen sind schrecklich echt. Ich muß darüber nachdenken. Hier ist eine Möglichkeit für starke Wirkungen.«
  In dieser Nacht legte sich Josef nicht schlafen, sondern er saß in seinem Zimmer und schrieb an einem Memorandum über die drei Unschuldigen. Das Öl seiner Lampe ging aus, und der Docht wurde zu kurz, er erneuerte Öl und Docht und schrieb. Er schrieb sehr wenig von der Sache Cäsarea, mehr von dem Elend der drei Greise, sehr viel von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, schrieb er, gilt den Juden von den ältesten Zeiten her als die erste Tugend. Sie können Not und Bedrückung ertragen, aber kein Unrecht, sie feiern jeden, selbst ihren Bedrücker, wenn er Recht wiederherstellt. »Das Recht flute dahin wie strömendes Wasser«, sagt einer ihrer Propheten, »und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.« – »Dann wird die Zeit golden sein«, sagt ein anderer, »wenn auch in der Wüste das Recht wohnt.« Josef glühte. Die Weisheit der Alten glühte er in seinem eigenen Feuer. Er saß und schrieb. Der Docht seiner Lampe blakte: er schrieb. Von den Toren her donnerten die Lastwagen herein, denen tagsüber die Straßen verboten waren: er achtete es nicht, er schrieb und feilte an seinem Essay.

Drei Tage darauf überbrachte ein Läufer des Demetrius Liban dem Josef einen Brief, in welchem der Schauspieler ihn kurz und trocken aufforderte, er möge sich bereit halten, übermorgen um zehn Uhr der Kaiserin in Gesellschaft des Schauspielers seine Aufwartung zu machen.
  Die Kaiserin. Josef stockte der Atem. Ringsum an allen Straßen stand ihre Büste, göttlich verehrt. Was soll er ihr sagen? Wie soll er für diese fremde Frau, deren Leben und Denken so überhöht ist über das aller andern Menschen, Worte finden, die ihr ins Innere dringen? Während er dies dachte, wußte er bereits, daß er die rechten Worte finden werde; denn sie war eine Frau, und er hatte eine kleine, leise Verachtung für alle Frauen, und gerade dadurch, wußte er, wird er sie gewinnen. Er überlas sein Manuskript. Las es sich vor mit lauter Stimme und unbeherrschten Gesten, so wie er es in Jerusalem lesen würde. Er hat es aramäisch geschrieben, jetzt, mühsam, übersetzt er es ins Griechische. Es ist ein Griechisch, durchsprenkelt mit Plumpheiten, mit Fehlern, das weiß er. Ist es nicht unschicklich, der Kaiserin mit einem schlechtpräparierten, fehlerhaften Manuskript zu kommen? Oder werden vielleicht gerade seine Fehler naiv wirken, liebenswürdig?
  Er vermeidet es, mit irgend jemandem über die bevorstehende Audienz zu sprechen. Er läuft in den Straßen herum. Er dreht um, wenn er Bekannte sieht, rennt zum Friseur, kauft sich ein neues Parfüm, fällt aus höchster Zuversicht in tiefste Depression.
  Auf den Büsten hat die Kaiserin eine niedrige, klare und zierliche Stirn, lange Augen, einen nicht zu kleinen Mund. Auch ihre Feinde geben zu, daß sie schön ist, und viele sagen, sie wirke verwirrend auf jeden, der sie das erstemal sieht. Wie soll er, der kleine Mann aus der Provinz, vor ihr bestehen? Er muß einen Menschen haben, mit dem er alles bereden kann. Er läuft nach Haus. Spricht mit dem Mädchen Irene, legt der Strahlenden, Hochgeehrten Heimlichkeit auf, er müsse ihr sehr Wichtiges mitteilen, und dann bricht alles aus ihm heraus: wie er sich die Zusammenkunft mit der Kaiserin denkt, was er ihr sagen wird. Er probiert es vor Irene aus, die Worte, die Bewegungen.
  Wieder den Tag darauf, großartig, in der Prunksänfte des Demetrius Liban, trägt man ihn in den kaiserlichen Palast. Platzmacher voran, Läufer, großes Gefolge. Wo die Sänfte vorbeikommt, bleiben die Leute stehen, akklamieren den Schauspieler. Josef sieht die Büsten der Kaiserin an den Straßen, weiße und bemalte. Die bernsteingelben Haare, das blasse, zierliche Gesicht, die sehr roten Lippen. Poppäa, denkt er. Poppäa heißt Püppchen, Poppäa heißt Baby. Er denkt das judäische Wort: Janiki. So hat man auch ihn einmal gerufen. Es kann nicht schwer sein, mit der Kaiserin fertig zu werden.
  Nach den Schilderungen, die man ihm von der Kaiserin gemacht hat, erwartet Josef, er werde sie nach Art orienta lischer Fürstinnen auf üppigen Polstern und Kissen finden, umgeben von Fächerträgern, Zofen mit Parfüms, in raffinierten Gewändern. Statt dessen saß sie ganz einfach in einem bequemen Stuhl, war überaus schlicht angezogen, matronenhaft fast, in langer Stola; freilich war die Stola aus einem in Judäa berüchtigten Stoff, aus hauchdünnem koischem Flor. Auch geschminkt war die Kaiserin kaum, und die Frisur war glatt, gescheitelt und in einen Haarknoten auslaufend, nichts von den getürmten, juwelenbesetzten Haarbauten, wie man sie sonst an den Damen der herrschenden Schicht sah. Zierlich wie ein ganz junges Mädchen saß die Kaiserin, mit roten, langen Lippen lächelte sie den Herren entgegen, streckte ihnen die weiße Kinderhand hin. Ja, sie hieß mit Recht Poppäa, Baby, Janiki; aber sie war auch in Wahrheit verwirrend, und Josef wußte nicht mehr, was er ihr sagen sollte.
  Sie sagte: »Bitte, meine Herren«, und da der Schauspieler sich setzte, setzte sich Josef auch, und nun war ein kleines Schweigen. Das Haar der Kaiserin war wirklich bernsteingelb, wie die Verse des Kaisers es nannten, aber die Wimpern und die Brauen ihrer grünen Augen waren dunkel. Josef dachte in rasender Eile: Sie ist ja ganz anders als die Büsten, sie ist ein Kind, aber ein Kind, das einen ohne weiteres umbringen lassen kann. Was soll man mit einem solchen Kind sprechen? Außerdem soll sie verflucht gescheit sein.
  Die Kaiserin schaute ihn unverwandt und ungeniert an, er hielt mit großer Mühe, leicht schwitzend, einen demütigen und beflissenen Ausdruck fest. Ganz leise, um ein geringstes nur, verzog sich ihr Mund, und nun sah sie auf einmal gar nicht mehr kindlich aus, sondern überaus erfahren und spöttisch. »Sie kommen frisch aus Judäa?« fragte sie Josef, sie sprach griechisch, ihre Stimme klang ein bißchen spröd, überaus hell. »Erzählen Sie mir«, bat sie, »wie denkt man in Jerusalem über Armenien?« Das war nun wirklich eine überraschende Frage; denn wenn auch der Schlüssel der römischen Orientpolitik in der Entscheidung über Armenien lag, so hatte Josef sein Judäa für viel zu wichtig gehalten, als daß man es nicht selbständig, sondern im Zusammenhang mit etwas so Barbarischem wie Armenien betrachten könnte. Eigentlich also dachte man in Jerusalem oder dachte wenigstens er überhaupt nicht über Armenien, und es fiel ihm nichts ein, was er auf eine solche Frage erwidern konnte. »Den Juden in Armenien geht es gut«, sagte er nach längerem Schweigen, ein wenig tölpisch. »Wirklich?« meinte die Kaiserin, und jetzt lächelte sie breit, unverhohlen amüsiert. Sie fragte weiter in der gleichen Art, sie hatte ihren Spaß an dem jungen Herrn mit den langen, heftigen Augen, der offenbar keine Ahnung hatte, was um sein Land gespielt wurde. »Danke«, sagte sie schließlich, nachdem Josef einen umständlichen Satz über die strategischen Verhältnisse an der parthischen Grenze mühsam zu Ende gebracht hatte, »jetzt bin ich viel informierter«, sagte sie. Sie lächelte hinüber zu Demetrius Liban, befriedigt; was hatte er ihr da für ein komisches Gewächs aus dem Orient zugeführt? »Ich glaube fast«, warf sie dem Schauspieler hin, erstaunt und anerkennend, »er tritt wirklich aus purem gutem Herzen für seine drei Unschuldigen ein.« Und wohlwollend und sehr höflich wendete sie sich an Josef: »Bitte, erzählen Sie mir von Ihren Schützlingen.« Sie saß bequem in ihrem Stuhl; der Hals war mattweiß, Beine und Arme schimmerten durch den dünnen Flor des ernstgeschnittenen Kleides.
  Josef zog sein Memorandum hervor. Allein, wie er anfing, griechisch zu lesen, sagte sie gleich: »Aber was fällt Ihnen ein? Sprechen Sie doch aramäisch.« – »Ja, werden Sie mich denn dann ganz verstehen?« fragte töricht Josef. »Wer sagt Ihnen denn, daß ich Sie ganz verstehen möchte?« erwiderte die Kaiserin. Josef zuckte die Schultern, mehr hochmütig als gekränkt, und dann legte er los, aramäisch, wie er seine Rede ursprünglich entworfen hatte, ja, die Zitate aus den alten Schriften sprach er unbekümmert hebräisch. Doch er konnte sich nicht konzentrieren, er merkte, daß er ohne Schwung sprach, er schaute die Kaiserin unverwandt an, erst demütig, dann ein bißchen blöd, dann interessiert, schließlich geradezu frech. Er wußte nicht, ob sie zuhörte, und schon gar nicht, ob sie verstand. Als er fertig war, fast unmittelbar nach seinem letzten Wort, fragte sie: »Kennen Sie Cleo, die Frau meines Gouverneurs in Judäa?« Josef hörte das »meines«. Wie das klang: mein Gouverneur in Judäa. Er hatte sich vorgestellt, solche Worte müßten kommen wie in Stein gehauen, statuarisch, und nun saß da ein Kind und sagte lächelnd: mein Gouverneur in Judäa, und es klang selbstverständlich, man wußte, es stimmt: Gessius Flor war ihr Gouverneur in Judäa. Aber trotzdem war Josef durchaus nicht gewillt, sich davon imponieren zu lassen. »Ich kenne die Frau des Gouverneurs nicht«, sagte er, und, dreist: »Darf ich eine Antwort auf meinen Vortrag erwarten?« – »Ich habe Ihren Vortrag zur Kenntnis genommen«, sagte die Kaiserin. Konnte ein Mensch wissen, was das bedeuten sollte?
  Der Schauspieler fand es an der Zeit, einzugreifen. »Doktor Josef hat wenig Zeit für gesellschaftliche Dinge«, half er seinem Schützling. »Er beschäftigt sich mit Literatur.« – »Oh«, sagte Poppäa und wurde ganz ernst und nachdenklich, »hebräische Literatur. Ich kenne wenig. Was ich kenne, ist schön, aber sehr schwer.« Josef spannte sich, sammelte sich. Es mußte, mußte! ihm gelingen, diese Dame, die so glatt und spöttisch dasaß, zu erwärmen. Er erzählte, wie es sein einziges Bestreben sei, die gewaltige jüdische Literatur den Römern aufzuschließen. »Ihr schleppt aus dem Osten Perlen und Gewürze und Gold und seltene Tiere«, verkündete er. »Aber seine besten Schätze, seine Bücher, laßt ihr liegen.«
  Poppäa fragte, wie er sich das denke, die jüdische Literatur den Römern aufzuschließen. »Schließen Sie mir einmal ein Stück davon auf«, sagte sie und schaute ihn aufmerksam aus ihren grünen Augen an.
  Josef machte die Lider zu, wie er es wohl an Märchenerzählern seiner Heimat gesehen hatte, und begann zu erzählen. Er nahm das erste, was ihm beifiel, und erzählte von Salomo, einem König in Israel, von seiner Weisheit, seiner Macht, seinen Bauten, seinem Tempel, seinen Weibern und seiner Abgötterei, und wie ihn die Königin aus Äthiopien besuchte, und wie klug er einen Weiberstreit um ein Kind schlichtete, und wie er zwei überaus tiefe Bücher schrieb, eines von der Weisheit, genannt der Prediger, und eines von der Liebe, genannt das Hohelied. Josef versuchte, einige Strophen aus diesem Hohenlied wiederzugeben in einem Gemisch von Griechisch und Aramäisch. Das war nicht leicht. Jetzt hielt er die Augen nicht mehr geschlossen, er übersetzte auch nicht nur mit dem Mund, vielmehr mühte er sich, die heißen Verse deutlich zu machen mit Gesten und Atemzügen und dem ganzen Leib. Die Kaiserin rutschte leicht vor auf ihrem Sessel. Die Arme hielt sie auf der Lehne, den Mund hatte sie halb offen. »Das sind schöne Lieder«, sagte sie, als Josef innehielt, stark atmend vor Anstrengung. Sie wandte sich gegen den Schauspieler. »Ihr Freund ist ein netter Junge«, sagte sie.
  Demetrius Liban, der sich ein wenig im Hintergrund fühlte, benützte die Gelegenheit, sich wieder vorzuspielen. Der Schatz jüdischen Schrifttums sei unausschöpfbar, bemerkte er. Auch er verwerte ihn oft, um seine Kunst aufzufrischen.
  »Sie waren großartig gemein, Demetrius«, sagte voll Anerkennung die Kaiserin, »letzthin als Leibeigener Isidor. Ich habe so gelacht«, sagte sie. Demetrius Liban saß da mit leicht verzerrtem Gesicht. Die Kaiserin mußte gut wissen, daß das Anmerkungen waren, die er gerade von ihr bestimmt nicht hören wollte. Dieser junge, freche und tölpische Mensch aus Jerusalem brachte ihm kein Glück. Die ganze Audienz war ein Mißgriff, er hätte das nicht machen sollen. »Sie sind mir übrigens noch eine Antwort schuldig, Demetrius«, fuhr die Kaiserin fort. »Sie erzählen da immer von einer großen revolutionären Idee, die Sie in Ihrem Kopf wälzen. Wollen Sie nicht endlich herausrücken mit dieser Idee? Offen gestanden, ich glaube nicht mehr recht daran.«
  Der Schauspieler saß finster und gereizt. »Ich habe keinen Anlaß mehr, mit der Idee zurückzuhalten«, sagte er schließlich streitbar. »Sie hängt zusammen mit dem, wovon wir die ganze Zeit reden.« Er machte eine kleine, wirkungsvolle Pause und warf dann ganz leicht hin: »Ich möchte den Juden Apella spielen.«
  Josef erschrak. Der Jude Apella, das war die Figur des Juden, wie der bösartige römische Volkswitz ihn sah, ein sehr widerwärtiger Typ, abergläubisch, stinkend, voll ekelhafter Skurrilität; der große Dichter Horaz hatte ein halbes Jahrhundert zuvor die Figur in die Literatur eingeführt. Und jetzt wollte Demetrius Liban ...? Josef erschrak.
  Fast noch mehr erschrak er über die Kaiserin. Ihr mattweißes Gesicht hatte sich gerötet. Es war zum Bewundern und zum Fürchten, wie vielfältig lebendig sie war.
  Der Schauspieler genoß seine Wirkung. »Man hat«, erläuterte er, »auf unsern Bühnen Griechen und Römer und Ägypter und Barbaren dargestellt, aber einen Juden hat man nicht dargestellt.«
  »Ja«, sagte leise und angestrengt die Kaiserin, »das ist eine gute und gefährliche Idee.« Alle drei saßen schweigsam, nachdenklich.
  »Eine zu gefährliche Idee«, sagte schließlich der Schauspieler, trauervoll, schon bereuend. »Ich fürchte, ich werde sie nicht ausführen können. Ich hätte sie nicht aus meinem Mund herauslassen dürfen. Es wäre schön, den Juden Apella zu spielen, nicht den albernen Narren, den das Volk aus ihm macht, sondern den wirklichen mit seiner ganzen Trauer und Komik, mit seinem Fasten und seinem unsichtbaren Gott. Ich bin wahrscheinlich der einzige auf der Welt, der das könnte. Es wäre großartig. Aber es ist zu gefährlich. Sie, Majestät, verstehen etwas von uns Juden: aber wie wenige sonst in diesem Rom. Man wird lachen, und nur lachen, und mein Bestes würde zu einem bösartigen Gelächter werden. Es wäre schlecht für alle Juden.« Und, nach einer Pause, schloß er: »Und dann wäre es gefährlich für mich selber vor meinem unsichtbaren Gott.«
  Josef saß erstarrt. Das waren wilde und überaus bedenkliche Dinge, in die er da hineingeraten war. Er hatte am eigenen Leib gespürt, wie ungeheuer eine solche Theateraufführung wirken konnte. Seine rasche Phantasie stellte sich vor, wie der Schauspieler Demetrius Liban auf der Bühne stand und sein unheimliches Leben hineingoß in den Juden Apella, tanzend, springend, betend, redend mit den tausend Zungen seines beredten Körpers. Der ganze Erdkreis wußte, wie willkürlich die Launen eines römischen Theaterpublikums waren. Niemand konnte voraussehen, was für eine Nachwirkung bis an die parthischen Grenzen solch eine Aufführung haben mochte.
  Die Kaiserin hatte sich erhoben. Mit einer merkwürdigen Gebärde verschränkte sie die Hände unter dem Haarknoten, daß die Ärmel zurückfielen, sie ging auf und ab durch den ganzen Raum, die Schleppe ihres ernsthaften Kleides fegte nach. Die beiden Männer waren aufgesprungen, als die Kaiserin sich erhob. »Schweigen Sie, schweigen Sie«, sagte sie zu dem Schauspieler, sie war Feuer und Flamme. »Seien Sie nicht feig, wenn Sie einmal eine wirklich gute Idee gehabt haben.« Sie blieb bei dem Schauspieler stehen, legte ihm, zärtlich fast, die Hand auf die Schulter. »Das römische Theater ist langweilig«, klagte sie. »Entweder derb und simpel oder verkommen in lauter dürrer Tradition. Spielen Sie mir den Juden Apella, lieber Demetrius«, bat sie. »Reden Sie ihm zu, junger Herr«, wandte sie sich an Josef. »Glauben Sie mir, ihr alle könnt mancherlei lernen, wenn er den Juden Apella spielt.«
  Josef stand schweigend, in peinvoller Ungewißheit. Röte kam, ging auf seinem blaßbraunen Gesicht. Sollte er Demetrius zureden? Er wußte, das ganze Wesen des Schauspielers dürstete danach, sein Judentum nackt vor die Augen dieses großen Rom zu stellen. Es bedurfte nur eines Wortes von ihm, und der Stein begann zu rollen. Wohin er rollen werde, wußte niemand.
  »Ihr seid langweilig«, konstatierte mißmutig die Kaiserin. Sie hatte sich wieder gesetzt. Die beiden Männer standen noch, der Schauspieler, gewohnt, seinen Körper zu kontrollieren, stand jetzt unschön und unbeholfen. »Reden Sie doch, reden Sie doch«, drängte die Kaiserin auf Josef ein.
  »Gott ist jetzt in Italien«, sagte Josef. Der Schauspieler blickte hoch, man sah, wie ihn das vieldeutige Wort traf, wie es einen dicken Ballen Zweifel von ihm wegfegte. Auch die Kaiserin war angetan von diesem Satz. »Ein ausgezeichnetes Wort«, sagte sie und klatschte in die Hände. »Sie sind ein gescheiter Mann«, sagte sie, und sie notierte sich Josefs Namen.
  Josef war bedrängt und beglückt. Er wußte nicht, was da aus ihm herausgesprochen hatte. Hat er eigentlich selbst diesen Satz gefunden? Hat er ihn früher schon einmal gesagt? Jedenfalls war es der rechte Satz im rechten Augenblick. Und es ist ganz gleichgültig, ob er ihn gefunden hat oder ein anderer: es kommt darauf an, bei welcher Gelegenheit ein Satz gesagt wird. Der Satz: Gott ist in Italien, hat sein Leben jetzt erst gewonnen, in diesem Augenblick seiner großen Wirkung.
  Aber wirkte er denn überhaupt? Der Schauspieler stand immer noch unschlüssig oder spielte wenigstens den Unschlüssigen. »Sagen Sie schon ja, Demetrius«, sagte die Kaiserin. »Wenn Sie ihn dahin bringen, daß er ja sagt«, wandte sie sich an Josef, »dann sollen Sie Ihre drei Unschuldigen frei haben.«
  Ein großes Feuer glomm auf in den heftigen Augen Josefs. Er beugte sich tief nieder, löste mit Zartheit die weiße Hand der Kaiserin von der Stuhllehne, küßte sie lange.
  »Wann werden Sie mir den Juden spielen?« fragte währenddes die Kaiserin den Schauspieler. »Ich habe nichts versprochen«, wehrte schnell und ängstlich Demetrius ab.
  »Geben Sie ihm eine schriftliche Zusage für unsere Schützlinge«, bettelte Josef. Die Kaiserin lächelte anerkennend über dieses »ihm« und »unsere«. Sie ließ ihren Sekretär kommen. »Wenn der Schauspieler Demetrius Liban«, diktierte sie, »den Juden Apella spielt, dann werde ich erwirken, daß die drei jüdischen Zwangsarbeiter in der Ziegelei von Tibur freigelassen werden.« Sie ließ sich das Täfelchen geben. Setzte ihr P darunter. Überreichte es Josef. Schaute ihn an mit grünen, klaren, spöttischen Augen. Und er gab den Blick zurück, demütig, doch so dringlich und andauernd, daß langsam der Spott aus ihren Augen schwand und ihre Klarheit sich trübte.

Josef, nach der Audienz, schwebte auf Wolken. Die andern verehrten die Büsten der Kaiserin, einer großen, göttlichen Frau, die lächelnd ihre gewaltige Gegnerin, die Kaiserin-Mutter, hatte töten lassen, die lächelnd Senat und Volk von Rom in die Knie gezwungen hatte. Er selber aber sprach zu dieser ersten Dame der Welt wie zu einem beliebigen Mädchen am gewöhnlichen Alltag. Jildi, Janiki. Er hatte ihr nur lange in die Augen schauen müssen, und schon hatte sie ihm die Freilassung jener drei Männer versprochen, die der Große Rat von Jerusalem mit all seiner Weisheit und Staatskunst nicht hatte erlangen können.
  Beschwingt ging er herum in den Vierteln des rechten Tiberufers, unter den Juden. Achtungsvoll starrte man ihm nach. Hinter ihm tuschelte es: das ist der Doktor Josef Ben Matthias aus Jerusalem, Priester der Ersten Reihe, Günstling der Kai serin. Das Mädchen Irene legte ihm ihre Verehrung wie einen Teppich unter die Füße. Die Zeit war vorbei, da Josef an den Vorabenden des Sabbats unter den Mindergeachteten sitzen mußte. Jetzt fühlte sich Cajus Barzaarone geehrt, wenn Josef den Ehrenplatz auf seinem Speisesofa einnahm. Mehr als das. Er lockerte, der alte schlaue Herr, seine vorsichtige Zurückhaltung, gab Josef Einblick in gewisse Schwierigkeiten, die er vor andern sorglich verbarg.
  Seine große Möbelfabrik ging nach wie vor ausgezeichnet. Aber immer bösartiger jetzt drohte eine Gefahr, die er schon seit Jahren spürte. Immer mehr wurde es unter den Römern Mode, am Hausrat Tierfiguren als Ornamente anzubringen, als Tischfüße, als Reliefs, in hundertfältiger Verwendung. Nun hieß es aber in der Schrift »Du sollst dir kein Bild machen«, und es war den Juden verboten, Figuren von Lebendigem herzustellen. Cajus Barzaarone hatte denn auch die Herstellung von Tierornamenten bis jetzt vermieden. Allein seine Konkurrenten nützten diesen Verzicht immer rücksichtsloser aus, sie erklärten seine Fabrikate für veraltet, es war schmerzlich, wie viele seiner Kunden abwanderten. Der Verzicht auf die Herstellung von Tierornamenten kostete jetzt nach dem großen Brand den Cajus Barzaarone Hunderttausende. Er suchte Ausflüchte, Auswege. Machte geltend, er benütze die Möbel seines Magazins ja nicht selber, sondern verkaufe sie weiter. Er holte Gutachten ein bei einer Reihe von Theologen; angesehene Doktoren in Jerusalem, Alexandrien und Babylon erklärten die Herstellung der fraglichen Ornamente in seinem Fall für eine läßliche Sünde oder gar für erlaubt. Dennoch zögerte Cajus Barzaarone. Er sprach keinem Menschen von diesen Gutachten. Er wußte genau: wenn er sich, darauf gestützt, über die Bedenken der Orthodoxen wegsetzt, wird das seine Stellung in der Agrippenser-Gemeinde ernstlich gefährden. Sein Vater gar, der uralte Aaron, könnte von dem Gram über solchen Liberalismus, Gott behüte, den Tod haben. Der nach außen so sichere Mann war voll von Zweifeln und Sorgen.
  Josef nahm es nicht genau mit der Befolgung der orthodoxen Riten. Aber »Du sollst dir kein Bild machen«, das war mehr als ein Gesetz, es war eine der Grundwahrheiten des Judentums. Wort und Bild schlossen einander aus. Josef war Literat bis in alle Poren. Er hing an dem unsichtbaren Wort. Es war das Wunderbarste, was es auf der Welt gab, es wirkte gestaltlos stärker als jede Gestalt. Nur der konnte Gottes Wort, das heilige, unsichtbare, in Wahrheit besitzen, der es nicht durch sinnliche Vorstellungen befleckte, der aus innerstem Herzen auf den eitlen Tand des Bildwerks verzichtete. Er hörte die Darlegungen des Cajus Barzaarone verschlossenen Gesichtes an, ablehnend. Gerade das aber lockte den Alten. Ja, Josef hatte den Eindruck, man hätte ihn nicht ungern als Schwiegersohn gesehen.
  Unterdes sickerte langsam durch, daß die Freilassung der drei Unschuldigen an, eine Bedingung geknüpft war. Die Freude der Juden, als sie diese Bedingung hörten, schlug jäh um. Was? Der Schauspieler Demetrius Liban soll den Juden Apella spielen, im Pompejus-Theater womöglich, vor vierzigtausend Menschen? Der Jude Apella. Die Juden überfröstelte es, wenn sie den bösartigen Spitznamen hörten, in den Rom seinen Widerwillen gegen die Zugewanderten am rechten Tiberufer gepreßt hatte. Das Spottwort hatte eine üble Rolle gespielt bei den Pogromen unter den Kaisern Tiber und Claudius, es bedeutete Gemetzel und Plünderung. Konnte der Haß, der jetzt schlief, nicht jeden Augenblick wieder aufwachen? War es nicht ebenso dumm wie frevelhaft, an das Ruhende zu rühren? Man hatte schlimme Beispiele, wozu ein römisches Theaterpublikum sich im Affekt hinreißen ließ. Es war ungeheuerlicher Übermut, wenn Demetrius Liban den Juden Apella auf die Bühne beschwor.
  Von neuem, mit gesteigerter Wildheit, erhoben sich die strengeren unter den jüdischen Doktoren gegen den Schauspieler. War es nicht schon Sünde, sich auf eine Bühne zu stellen, in die Haut und Kleider eines andern Menschen zu schlüpfen? Hatte nicht Gott, gelobt sei sein Name, einem jeden sein Gesicht und seine Haut gegeben? War es also nicht Auflehnung, sie vertauschen zu wollen? Aber gar einen Juden darstellen, einen aus dem Samen Abrahams, einen Auserwählten, zum Spaß der Unbeschnittenen, das war Todsünde, das war Überhebung, das mußte Unheil heraufbeschwören auf die Häupter aller. Und sie
forderten Bann und Ächtung des Demetrius Liban.
  Die Liberalen unter den Doktoren verteidigten den Schauspieler mit Wärme. Geschah, was er plante, nicht zum Heil der drei Unschuldigen? War es nicht das einzige Mittel, diese drei zu erretten? War nicht, den Gefangenen zu helfen, eines der obersten Gebote der Schrift? Durfte man dem Schauspieler sagen: Tu es nicht, laß die drei verfaulen, wie Tausende von den Vorvätern verkommen waren in den Ziegeleien Ägyptens?
  Heftig diskutierte man. Scharfsinnig in den Seminaren der Theologiestudenten setzte man Bibelzitat gegen Bibelzitat. Allen jüdischen Hochschulen legte man das interessante Problem vor, stritt sich darüber in Jerusalem, in Alexandrien, unter den großen Doktoren Babylons, im fernen Osten. Es war eine Angelegenheit, so recht geschaffen für Theologen und Juristen, ihren Witz daran zu üben.
  Der Schauspieler selber ging herum und zeigte jedem den tragischen Konflikt zwischen seinem religiösen und seinem künstlerischen Gewissen. Innerlich war er längst entschlossen, den Juden Apella zu spielen, koste es, was es wolle. Er wußte auch genau, wie er es machen werde. Bereits hatten ihm seine Librettisten, vor allem der feine, spitze Senator Marull, eine wirksame Handlung komponiert, fruchtbare Situationen. Besonders auch dem merkwürdigen mechanischen und resignierten Schaukeln, das die Leiber der drei Unschuldigen in ihren Kerkern angenommen hatten, verdankte er manchen grotesk schauerlichen Einfall. Was er zeigen wollte, war ein kühnes Gemisch von Tragik und Komik. Vorsichtig, in den volkstümlichen Kneipen des Geschäftsviertels, des Speicherviertels, der Baracken gab er einzelne Szenen zum besten, ihre Wirkung zu prüfen. Aber dann wieder versank er in Trauer, daß er wahrscheinlich das Spiel doch nicht werde zeigen können, sein Gewissen verbiete es ihm. Mit Befriedigung nahm er wahr, wie allmählich ganz Rom davon sprach: wird der Schauspieler Demetrius Liban den Juden Apella spielen? Wo sich seine Sänfte zeigte, entstand vergnügtes Geschrei, das Volk applaudierte und rief: Sei gegrüßt, Demetrius Liban, spiel uns den Juden Apella.
  Er sprach auch der Kaiserin davon,» in welch trübes, gewag tes Unternehmen er sich da einlassen solle, und wie schwer seine Skrupel seien. Die Kaiserin lachte, lachend schaute die Kaiserin dem Schwankenden zu. Es war Weisung an die Ziegelei von Tibur gegangen, die drei jüdischen Zwangsarbeiter gut zu halten, daß sie ja nicht inzwischen verstürben. Im übrigen erwartete Poppäa ein Gutachten des Ministeriums für Bitten und Beschwerden. Die Freilassung der drei war keine große Sache; immerhin, die Orientpolitik Roms war verwickelt, und Poppäa war Römerin genug, um die Amnestierung der drei sogleich fallenzulassen, wenn die leisesten politischen Bedenken dagegen sprachen. Sie wird lächelnd, wenn es nötig sein sollte, ihr Versprechen kassieren.
  Vorläufig jedenfalls hatte sie ihren Spaß daran, den Schauspieler immer wieder in sein Vorhaben hineinzujagen. Sie erzählte ihm, schon arbeite die hocharistokratische Opposition im Senat gegen die Amnestierung. Er solle sich also entscheiden, es sei unrecht, die Leiden der drei armen Kerle unnötig zu verlängern. Sie lächelte: »Wann werden Sie uns den Juden Apella spielen, Demetrius?«

Der Minister Philipp Talaß, Chef der Orientabteilung der kaiserlichen Kanzlei, läßt zum zweitenmal den Masseur kommen, daß er ihm Hände und Füße reibe. Es ist noch früh im Herbst, die Sonne ist kaum hinunter, niemand sonst friert; aber der Minister kann nicht warm werden. Er liegt, der kleine, geiernäsige Herr, auf dem Ruhebett, dick in Polster und Decken eingepackt, vor sich ein Kohlenbecken für die Hände, eines für die Füße. Auf der andern Seite des Ruhebettes reibt der leibeigene Masseur ängstlich bemüht die uralte, verschrumpfte Haut, aus der blau und trocken die Adern hervorstehen. Der Minister schimpft, droht. Der Masseur strengt sich an, über die vernarbten Stellen auf den Schultern des Greises wegzugleiten; diese Stellen, das weiß er, rühren von Peitschenhieben her, die der Minister Talaß bekommen hat, als er noch in Smyrna Leibeigener war. Die Ärzte haben tausend Mittel versucht, diese Narben zu entfernen, sie haben operiert, der große Spezialist Scribon Larg hat alle seine Salben angewandt, aber die alten Narben wollen nicht weggehen.

  Es ist ein schlechter Tag heute, ein schwarzer Tag, die ganze Dienerschaft im Haus des Ministers Talaß hat das schon zu spüren bekommen. Der Sekretär weiß, was an dieser schlechten Laune schuld ist. Sie flog den Minister an, als er ihm einen Brief aus dem Ministerium für Bitten und Beschwerden vorlegte, eine kleine, formelle Anfrage. Die Herren in diesem Ministerium, vor allem der dicke, schlaue Junius Thrax, würden den Minister Talaß gern übergehen, sie lieben ihn nicht; aber unter diesem Kaiser ist die Orientabteilung zum Mittelpunkt der gesamten Reichspolitik geworden, und sie wissen, was für wüsten Stank Philipp Talaß zu machen pflegt, wenn er in irgendeiner Angelegenheit nicht gehört wird, die von fernher in sein Ressort reicht. Und so haben die Herren eine gewisse Anfrage aus dem Kabinett der Kaiserin nicht endgültig verabschiedet, bevor sie nicht auch von ihm begutachtet ist.
  An sich ist es keine große Sache. Es handelt sich um ein paar alte Juden, vor Jahren im Zusammenhang mit Unruhen in Cäsarea zu Zwangsarbeit verurteilt. Die Kaiserin hat offenbar wieder eine ihrer Launen, die wievielte?, sie will die Verbrecher amnestieren, Ihre Majestät hat eine bedenkliche Schwäche für jüdisches Gesindel. Hure, verdammte! denkt der Minister und gibt dem Masseur einen unwilligen Stoß mit dem Ellbogen. Wahrscheinlich stammt sie selbst aus irgendeiner Hurerei mit Juden trotz ihres altadeligen Namens. Diese hochmütigen römischen Aristokraten sind ja seit Urväterzeiten verseucht mit allen Lastern und verderbt bis in die Knochen.
  Immerhin, viel kann man gegen die Laune der Kaiserin nicht vorbringen. Nur sehr allgemeine Gesichtspunkte: die Lage im Orient verlange äußerste Energie auch in scheinbar geringfügigen Dingen und dergleichen.
  Der kleine, geiernäsige Herr ärgert sich. Er schickt den Masseur fort, der Idiot kann ihm doch nicht helfen. Er legt sich auf die Seite, zieht die spitzen Knie hoch bis zur Brust, denkt scharf nach, übellaunig.
  Immer diese Juden, überall kommen sie einem in die Quer.
  Die Orientpolitik ist seit den Erfolgen des Feldmarschalls Corbulo an der parthischen Grenze erfreulich aktiv. Den Kaiser stachelt der Ehrgeiz, ein neuer Alexander zu werden, die Einflußsphäre des Reichs bis an den Indus auszudehnen. Die großen, geheimnisvollen Feldzüge nach dem fernen Osten, von denen Rom seit einem Jahrhundert träumt, vor einer Generation noch läppische Knabenphantasien, sind in das Stadium ernsthafter Erwägung getreten. Die autoritativen Militärs haben Pläne ausgearbeitet, das Finanzministerium hat nach sorglicher Prüfung die Bereitstellung der Mittel für möglich erklärt.
  Nur einen wunden Punkt hat das kühne Projekt dieses neuen Alexanderzugs: eben die Provinz Judäa. Sie liegt mitten im Aufmarschgebiet, man kann das große Werk nicht beginnen, solange man diese unsichere Stelle nicht dicht und fest gemacht hat. Die andern Herren des kaiserlichen Kabinetts lächeln, wenn der Minister Talaß darauf zu sprechen kommt, sie halten seinen Judenhaß für eine fixe Idee. Aber er, Philipp Talaß, kennt die Juden aus seiner asiatischen Vergangenheit. Er weiß, man kann mit ihnen keinen Frieden halten, sie sind ein fanatisches, abergläubisches, irrsinnig hochmütiges Volk, und sie werden nicht ruhen, ehe sie endgültig gezüchtigt sind, ehe ihre freche Hauptstadt dem Erdboden gleichgemacht ist. Immer wieder fallen die Gouverneure auf ihre versöhnlichen Versprechungen herein, aber immer wieder erweist sich hinterher, daß diese Beteuerungen Lügen waren. Niemals hat sich die läppische, kleine Provinz loyal in die Herrschaft des Reichs gefügt wie so viele andere größere und mächtigere Gebiete. Ihr Gott verträgt sich nicht mit den andern Göttern. Eigentlich ist Krieg in Judäa seit dem Tod des letzten in Jerusalem residierenden Königs, und Judäa wird unruhig bleiben, es wird dort Krieg sein, der Alexanderzug wird nicht möglich sein, solange nicht Jerusalem zerstört ist.
  Der Minister Talaß weiß, diese Erwägungen stimmen. Aber er weiß auch, nicht sie allein sind schuld, daß, sooft er von Juden hört, ihm der Magen brennt und ihn das Zwerchfell sticht. Er denkt an seine Vergangenheit: wie er als Zugabe zu einem kostbaren Kandelaber in den Besitz eines kultivierten griechischen Herrn geriet; wie er mit äußerster Zähigkeit durch sein Gedächtnis und sein Sprachentalent hochkam, so daß sein Herr ihn ausbilden ließ; wie er in die engere Konkur renz derer kam, die in den kaiserlichen Dienst übernommen werden sollten; wie dann, als der Personalchef des Kaisers Cajus ihn examinierte, der jüdische Dolmetsch Theodor Zachäus sich über sein Aramäisch lustig machte, so daß die kaiserliche Kanzlei ihn um ein Haar abgelehnt hätte. Dabei war es ein winziger Fehler gewesen, man konnte streiten, ob es überhaupt ein Fehler war. Der Stinkjud stritt aber nicht, er verbesserte bloß. »Nablion«, hatte er gesagt, aber der Jud verbesserte: »Nabla« oder vielleicht »Nebel«, aber bestimmt nicht »Nablion«, und dabei hatte er ein so gemeines, niederträchtiges Lächeln. Und was dann, wenn nach soviel Jahren des Schweißes und der Kosten die Übernahme nach Rom nicht erfolgt wäre, was dann hätte sein Herr mit ihm angefangen? Totpeitschen hätte er ihn lassen. Der Minister, wenn er daran dachte, wie der Jud gelächelt hatte, wurde kalt vor Angst und Wut.
  Aber es war wirklich nicht allein persönliches Ressentiment, es war guter politischer Instinkt, der ihn gegen die Juden scharfmachte. Die Welt war römisch, die Welt war befriedet durch das einheitliche, römisch-griechische System. Nur die Juden muckten auf, wollten die Segnungen dieser gewaltigen völkerverbindenden Organisation nicht erkennen. Die große Handelsstraße nach Indien, bestimmt, griechische Kultur nach dem fernsten Osten zu tragen, konnte nicht erschlossen werden, solange das hochfahrende, hartnäckige Volk nicht endgültig niedergetreten war.
  Leider hatte man bei Hof kein Aug für die Gefahr Judäa. Es wehte durch das kaiserliche Palais ein verdammt freundlicher Wind für die Juden. Sein dicker Kollege Junius Thrax von der Justiz begönnerte sie. Auch in der Finanzverwaltung saßen sie. Allein in den letzten drei Jahren waren ihrer zweiundzwanzig in die Liste des Adels eingetragen worden. Sie drängten auf die Bühne, in die Literatur. Spürte man nicht geradezu körperlich, wie sie mit ihren läppischen, abergläubischen Büchern das Reich zersetzten? Dieser Claudius Regin wirft das Zeug jetzt in Schiffsladungen auf den Markt. Der alte Minister, wie er den Namen Regin denkt, zieht die Beine noch höher. Vor der Schlauheit dieses Mannes, so zuwider er ihm ist, hat er Respekt. Und dann hat dieser Regin eine Perle in seiner Truhe, ein mächtiges, fehlerloses, zartrosiges Stück. Er möchte ihm diese Perle gern abkaufen. Er glaubt, wenn er sie an seinem Finger trägt, dann wird seine Haut weniger trocken. Wahrscheinlich würde die Perle auch auf die vernarbten Stellen an der Schulter günstig einwirken; aber der Stinkjud ist reich, Geld lockt ihn nicht, er gibt die Perle nicht.
  Der Minister Talaß überlegt hin und her. Die Unruhen in Cäsarea. Regin und sein Ring. Soll man den Senat mobil machen? Man kann auf den Partherkrieg hinweisen. Und es heißt doch Nablion.
  Plötzlich wirft er sich auf den Rücken, streckt sich gerade, starrt aus seinen geröteten, trockenen Augen zur Decke. Seine Magenschmerzen sind weg, auch sein Frostgefühl ist verschwunden. Er hat eine Idee, eine ausgezeichnete Idee. Nein, er gibt sich nicht mit Kleinlichem ab. Was hat er schon erreicht, wenn die drei Hunde in der Ziegelei von Tibur verrecken? Sollen sich die Herren Juden ihre Lieblinge herausholen. Sollen sie sich die drei in Knoblauch einmachen oder in ihren Sabbatkochkisten. Er weiß was Besseres. Er wird den Juden für die Freilassung dieser drei eine Rechnung schreiben, gesalzener, als irgendein Herr vom Finanzministerium sie auskalkulieren könnte. Das Edikt, das Edikt über Cäsarea. Er wird die Sache Cäsarea verquicken mit der Amnestierung der drei. Er wird das Edikt über Cäsarea dem Kaiser morgen von neuem vorlegen. Seit sieben Monaten wartet er auf die Unterschrift: bei dieser Gelegenheit wird er sie bekommen. Man kann den Juden nicht alles konzedieren. Man kann ihnen nicht ihre drei Verbrecher herausgeben und die Stadt Cäsarea dazu. Entweder das eine oder das andere. Da die Kaiserin es wünscht, wird man ihre geschätzten Märtyrer freilassen. Aber auf ihre Forderungen für Cäsarea müssen sie dann endgültig verzichten.
  Er läßt sich den Sekretär kommen, verlangt seine Denkschrift über Cäsarea. Wie er sie in Erinnerung hat, ist sie kurz und schlagend. So liebt es der Kaiser; denn er will sich nicht lang mit Politik abplagen, ihn interessieren andere Dinge. Übrigens kapiert er gut, der Kaiser, er hat einen raschen, scharfen Verstand. Wenn man ihn nur dahin bringt, daß er die Denkschrift einmal richtig überliest, dann hat man auch seine Unterschrift für das Edikt. Und diese Sache mit den drei Zwangsarbeitern kann gar nicht erledigt werden, ohne daß endlich die ganze Angelegenheit Cäsarea entschieden wird. Ja, diesmal muß der Kaiser sich entschließen. Es war ein gesegneter Einfall Poppäas, die Freilassung der drei zu verlangen.
  Der Sekretär kommt, überbringt ihm die Denkschrift. Talaß überfliegt sie. Ja, er hat die Sache klar und überzeugend dargestellt.
  Die nicht leibeigene Einwohnerschaft von Cäsarea setzt sich zusammen aus vierzig Prozent Juden und sechzig Prozent Griechen und Römern. Im Stadtmagistrat haben aber die Juden die Majorität. Sie sind reich, und das Wahlstatut staffelt das Stimmrecht nach ökonomischen Prinzipien. Das auf solchen Prinzipien basierende Wahlrecht hat sich im allgemeinen in den Provinzen Syrien und Judäa bewährt. Warum sollen diejenigen, die den größeren Teil der Gemeindeumlagen aufbringen, nicht auch über die Verwendung dieser Umlagen bestimmen? In Cäsarea aber bringt dieses Wahlrecht für die Majorität der Bevölkerung außerordentliche Härten mit sich. Denn die Juden nützen ihre Macht im Stadtmagistrat mit unerhörter Willkür aus. Sie verwenden die öffentlichen Gelder nicht für die Bedürfnisse der Bevölkerung, sondern schicken unverhältnismäßig große Beträge nach Jerusalem für den Tempel und für religiöse Zwecke. Es ist kein Wunder, daß es bei den Wahlen immer wieder zu blutigen Zusammenstößen kommt. Mit Erbitterung denken die Griechen und Römer Cäsareas daran, daß sie, als die Stadt unter Herodes gegründet wurde, die ersten Einwohner stellten, daß sie den Hafen bauten, von dessen Erträgnissen die Stadt lebt. Schließlich auch residiert der römische Gouverneur in Cäsarea, und die Vergewaltigung der Griechen und Römer durch die Juden wirkt in der offiziellen Hauptstadt der Provinz doppelt unerträglich. Man hat wirklich auf die Empfindlichkeit der Juden genügend Rücksicht genommen, indem man ihnen in Jerusalem absolute Autonomie konzediert hat. Es ist nicht angängig, daß man diesem nie zufriedenen Volk noch weiter entgegenkommt. Die Geschichte Cäsareas, die Herkunft und die Religion des Großteils der Bevölkerung, ihr Stamm und ihre Kraft sind nichtjüdisch. Die Stadt Cäsarea, auf der die Ruhe und Sicherheit der ganzen Provinz steht, wird es nicht begreifen, wenn man dem loyalsten, reichstreuesten Teil ihrer Einwohnerschaft auf die Dauer sein wohlverdientes Wahlrecht vorenthält.
  Der Minister Philipp Talaß hat in seinem gescheiten und hinterhältigen Gutachten die Argumente der Juden keineswegs verschwiegen. Er hat darauf hingewiesen, daß im Fall einer Änderung des Wahlstatuts die griechisch-römische Bevölkerung Verfügungsrecht über die gesamten jüdischen Steuern der Stadt erhielte, was praktisch einer weitgehenden Enteignung der jüdischen Kapitalisten gleichkäme. Aber sehr geschickt bewies er, was das für ein kleines Übel sei, gemessen an der ungeheuren Ungerechtigkeit, daß man die offizielle Hauptstadt einer für die gesamte Orientpolitik so wichtigen Provinz wie Judäa faktisch durch das bestehende Wahlrecht vom Willen einer kleinen Anzahl reicher Juden abhängig mache.
  Er las nochmals. Überprüfte sorgfältig das Manuskript: seine Argumente waren durchschlagend. Er war fest entschlossen, lächelte. Ja, er wird das Kleinere, die drei Zwangsarbeiter, preisgeben, um den Juden dafür das Große zu entreißen, die schöne Hafenstadt Cäsarea.
  Er rief Dienerschaft herbei, schimpfte. Ließ die Kohlenbecken hinausbringen, die Polster, die Kissen. Was fiel den Dummköpfen ein, wollten sie ihn in Hitze ersticken? Er lief auf seinen dürren Beinen hin und her, seine Knochenhände belebten sich. Er verlangte dringlich für den andern Morgen eine Audienz beim Kaiser. Er sah jetzt seinen Weg, es konnte gar nicht mißglücken.
  Denn er hatte keine Eile, er konnte seine Rache auch kalt genießen. Es waren einige Jahrzehnte vergangen, seitdem der jüdische Dolmetsch Theodor Zachäus gelächelt hatte. Nablion, nun gerade und für immer: Nablion. Er kann warten. Ist das Edikt, das die Juden in Cäsarea aus ihrer angemaßten Machtstellung hinauswirft, erst unterzeichnet, dann braucht es keineswegs sogleich verkündet zu werden. Es mag dann ruhig noch Monate oder selbst ein Jahr liegenbleiben, bis man über den Beginn des großen Alexanderzuges klarsieht.
  Ja, in dieser Form wird er dem Kaiser morgen die Regelung der Sache Cäsarea vorschlagen. Er ist sicher, in dieser Form wird er sie durchdrücken. Er lächelt. Er diktiert noch vor dem Abendessen die Antwort auf die Anfrage des Ministeriums für Bitten und Beschwerden, betreffend das Gutachten an das Kabinett der Kaiserin über die Amnestierung von drei jüdischen Zwangsarbeitern in der Ziegelei von Tibur. Der dicke Junius Thrax wird sich wundern, wenn er sieht, daß der Minister Talaß gegen die Freilassung der drei nichts, aber auch gar nichts einzuwenden hat.
  Beim Abendessen nehmen die Gäste des Ministers nachdenklich wahr, wie geradezu aufgeräumt der alte, verdrießliche Herr sein kann.

Dem Demetrius Liban gefiel Josef immer besser. Der Schauspieler war nicht mehr ganz jung, sein Leben und seine Kunst kosteten ihn viel Kraft, es war ihm, als könne er sich an der Heftigkeit dieses Jünglings aus Jerusalem neu entzünden. War nicht auch Josef der Anlaß gewesen, daß er endlich seine große und gefährliche Idee, die Darstellung des Juden Apella, ans Licht ließ? Er zog den Josef immer häufiger in sein Haus. Der legte seine Provinzmanieren ab, erlernte mit hellem Verstand die rasche, wendige Lebensklugheit der Hauptstadt, wurde weltläufig. Den vielen Literaten, die er durch den Schauspieler kennenlernte, schaute er ihre Technik, sogar den Jargon des Metiers ab. Er hatte politische und weltanschauliche Gespräche mit Männern von Bedeutung, Liebschaften mit Frauen, die ihm gefielen, mit leibeigenen Mädchen wie mit Damen der Aristokratie.
  Josef lebte also angesehen und angenehm. Dennoch packte ihn oft, wenn er allein war, prickelndes Unbehagen. Er wußte natürlich, daß die Freilassung der drei Unschuldigen nicht über Nacht erfolgen konnte. Aber nun vergingen Wochen, Monate, er wartete und wartete, wie er in Judäa gewartet hatte. Es fraß an ihm, er mußte sich Gewalt antun, um nicht aus der Rolle des Zuversichtlichen zu fallen.
  Claudius Regin hatte ihn aufgefordert, er möge ihm das Memorandum schicken, dessen Vortrag solchen Eindruck auf die Kaiserin gemacht hatte. Josef schickte das Manuskript, wartete gespannt auf eine Äußerung des großen Verlegers. Aber der schwieg. Josef wartete vier lange Wochen; Regin schwieg. Hatte er das Manuskript dem Justus zu lesen gegeben? Josef wurde es unbehaglich, wenn er an den kühlen, scharfen Kollegen dachte.
  Endlich bat ihn Regin zum Essen. Einziger Gast außer Josef war Justus von Tiberias. Josef spannte sich, witterte Auseinandersetzung. Er brauchte nicht lange zu warten. Schon nach dem Vorgericht sagte der Hausherr, er habe Josefs Memorandum gelesen. Beachtliches Formtalent, aber der Inhalt, die Argumente seien schwach. Justus habe sich ja auch seinesteils, im Auftrag des Königs Agrippa, zu dem Fall der drei Verurteilten geäußert. Es wäre freundlich, wenn er ihnen seine Meinung mitteilen wollte. Dem Josef zitterten die Knie. Die Meinung ganz Roms erschien ihm mit einemmal unwichtig vor der Meinung dieses seines Kollegen Justus von Tiberias.
  Justus ließ sich nicht bitten. Der Fall der drei könne nicht anders behandelt werden als im Zusammenhang mit der Angelegenheit Cäsarea. Die Angelegenheit Cäsarea könne nicht anders behandelt werden als im Zusammenhang mit der gesamten Orientpolitik Roms. Seitdem im Osten der Generalfeldmarschall Corbulo kommandiere, habe Rom in der Form manchmal, in der Sache nie Konzessionen gemacht. Bei allem Respekt vor dem Formtalent des Josef glaube er nicht, daß in der kaiserlichen Kanzlei seine Denkschrift den Ausschlag geben werde, sondern vielmehr Berichte und Aufstellungen des Finanzamts, des Generalstabs. Er, Justus, habe in der Denkschrift, die er der Orientabteilung der Kanzlei im Auftrag seines Königs Agrippa überreichte, vor allem die juristische Seite der Angelegenheit Cäsarea ins Licht gehoben. Habe hingewiesen auf das Beispiel der Stadt Alexandrien, wo Rom die Schiebungen der Judenfeinde nicht hatte durchgehen lassen. Aber er fürchte, der Minister Talaß, ohnedies Antisemit und wahrscheinlich von den Griechen Cäsareas geschmiert, werde hier trotz aller juristischen Argumente die Schiebungen der nichtjüdischen Bevölkerung begünstigen. Vom Gesichtspunkt der gesamten römischen Orientpolitik aus gesehen leider mit gutem Grund. Justus hatte sich auf seinem Speisesofa hochgesetzt; er dozierte scharf, logisch, eindringlich. Josef hörte zu, liegend, die Hände hinterm Kopf verschränkt. Plötzlich richtete er sich hoch, beugte sich über den Tisch gegen Justus, sagte feindselig: »Es ist nicht wahr, daß es bei den Märtyrern von Tibur um Politik geht. Es geht um Gerechtigkeit, um Menschlichkeit. Nur um der Gerechtigkeit willen bin ich hier. Gerechtigkeit! Das schreie ich, seitdem ich in Italien bin, den Leuten ins Gesicht. Mit meinem Willen zur Gerechtigkeit habe ich die Kaiserin überzeugt.«
  Regin wandte den fleischigen Kopf von einem zum andern. Sah das blaßbraune hagere Gesicht Josefs, das gelbbraune hagere des Justus. »Wissen Sie, meine Herren«, sagte er, und seine hohe, fettige Stimme war bewegt, »daß Sie sich ähnlich sehen?«
  Beide waren sie betroffen. Sie musterten sich: der Juwelier hatte recht. Sie haßten sich.
  »Ich kann Ihnen übrigens im Vertrauen sagen, meine Herren«, fuhr Regin fort, »daß Sie sich über einen Fall streiten, der erledigt ist. Ja«, sagte er ihnen in ihre verblüfften Gesichter, »die Angelegenheit Cäsarea ist entschieden. Es kann eine Weile dauern, bis das Edikt veröffentlicht wird; aber es ist unterschrieben und an den Generalgouverneur von Syrien abgegangen. Sie haben recht, Doktor Justus. Die Angelegenheit Cäsarea ist gegen die Juden entschieden.«
  Die beiden jungen Leute schauten mit starren Augen auf Claudius Regin, der schläfrig vor sich hin sah. Sie waren so bestürzt, daß sie einander und ihren Streit vergaßen. »Das ist der schlimmste Schlag gegen Judäa seit mehr als hundert Jahren«, sagte Josef. »Ich fürchte, wegen dieses Edikts wird noch manches Mannes Blut fließen«, sagte Justus. Sie schwiegen, sie tranken. »Sehen Sie zu, Doktor Josef«, sagte Regin, »daß Ihre Juden vernünftig bleiben.« – »Hier in Rom läßt sich das leicht raten«, sagte Josef, und seine Stimme war voll ehrlicher Bitterkeit. Er saß zusammengeduckt, müde, wie ausgeronnen. Die Mitteilung dieses widerwärtigen, fetten Mannes füllte ihn so mit Trauer, daß sein Herz nicht einmal mehr Raum hatte für das erniedrigende Gefühl, wie lächerlich er und seine Sendung jetzt war. Natürlich, sein Nebenbuhler hatte recht gehabt, er hatte alles vorausgesehen, und was er, Josef, sich zusammengereimt hatte, war Dunst gewesen, und sein Erfolg leeres Stroh.
  Claudius Regin sprach. »Ich werde übrigens jetzt gerade«, sagte er, »bevor das Edikt bekannt ist, Ihr Memorandum veröffentlichen, Doktor Justus. Sie müssen diese Denkschrift hören«, wandte er sich ungewohnt eifrig an Josef, »sie ist ein kleines Meisterwerk.« Und er bat Justus, ein Kapitel vorzulesen. Josef, in all seiner Bedrücktheit, merkte auf, war gefesselt. Ja, gegen diese hellen, guten Sätze konnte sein armseliges, pathetisches Gerede nicht aufkommen.
  Er gab es auf. Er verzichtete. Er beschloß, nach Jerusalem zurückzukehren, eine bescheidene Stellung im Dienst des Tempels anzunehmen. Er schlief schlecht in dieser Nacht, und auch den andern Tag ging er bedrückt herum. Er aß wenig und ohne Genuß, er besuchte nicht das Mädchen Lucilla, mit dem er sich für diesen Tag verabredet hatte. Er wünschte, er wäre nie nach Rom gekommen, sondern säße noch in Jerusalem, nichts wissend von den üblen und bedrohlichen Dingen, die hier gegen Judäa gesponnen wurden. Er kannte gut die Stadt Cäsarea, ihren Hafen, ihre großen Speicherviertel, ihre Reedereien, Synagogen, Geschäftsläden, Bordelle. Selbst die Bauten, die die Römer dort aufgeführt hatten, so verpönt sie waren, die Residenz des Gouverneurs, die Kolossalstatuen der Göttin Rom und des ersten Kaisers, mehrten den Ruhm Judäas, solange die Stadt von Juden verwaltet wurde. Fiel sie aber der Verwaltung durch die Griechen und Römer anheim, wurde die Hauptstadt römisch, dann war alles ins Gegenteil gekehrt, dann waren die Juden ganz Judäas, auch Jerusalems, nur mehr Geduldete in ihrem eigenen Land. Josef, wenn er dies dachte, fühlte den Boden unter seinen Füßen weggleiten. Trauer und Zorn füllte ihn vom Herzen bis an die Poren seiner Haut, daß er beinahe am Leibe krank wurde.

Als aber Demetrius Liban ihm feierlich entschlossen mitteilte, er werde also jetzt den Juden Apella spielen, auf daß die drei Märtyrer von Tibur erlöst würden, strahlte Josef wieder im ersten unverdunkelten Glanz seines Erfolgs. Die römischen Juden nahmen den Entschluß des Schauspielers ruhiger hin, als man nach ihrer ersten Erregung hätte erwarten sollen; denn es war Winter, und die Aufführung sollte vorläufig nicht öffentlich, sondern in dem kleinen Privattheater in den kaiserlichen Gärten stattfinden. Es blieb eigentlich ein einziger, der schimpfte, der uralte Aaron; der freilich mummelte unentwegt Verwünschungen gegen das gottlose Vorhaben des Schauspielers und gegen die ganze frevelhafte neumodische Generation.

  »Der Jude Apella« war das erste volkstümliche Singspiel, das im kaiserlichen Privattheater aufgeführt wurde. Das Theater faßte nur etwa tausend Menschen, die große Gesellschaft Roms beneidete diejenigen, die zu dieser Premiere Einladungen erhielten. Alle Minister waren da, der dürre Talaß, der dicke, wohlwollende Junius Thrax, Minister für Bitten und Beschwerden, auch der Gardekommandant Tigellin. Dann die neugierige, lebensfrohe Äbtissin der Vestalinnen. Claudius Regin hatte man selbstverständlich nicht vergessen. Von Juden waren nicht viele da: der elegante Julian Alf, der Präsident der Veliagemeinde, und sein Sohn; mit Mühe hatte Josef auch dem Cajus Barzaarone und dem Mädchen Irene eine Einladung verschafft.
  Der Vorhang dreht sich in die Versenkung. Auf der Bühne steht der Jude Apella, ein Mann in mittleren Jahren mit einem langen, spitzen Bart, der sich zu verfärben beginnt. Er lebt in einer Landstadt in Judäa, sein Haus ist klein, er, seine Frau, seine vielen Kinder wohnen in einem Raum. Die Hälfte von seinem spärlichen Verdienst nehmen ihm die großen Herren in Jerusalem ab; von dem Rest nehmen die Römer in Cäsarea die Hälfte. Als sein Weib stirbt, wandert er aus. Er nimmt mit sich die kleine Rolle mit dem Glaubensbekenntnis, sie am Türpfosten seines Hauses zu befestigen, er nimmt weiter mit seine Gebetriemen, seine Wärmekiste für die Sabbatspeisen, seinen Sabbatleuchter, seine vielen Kinder und seinen unsichtbaren Gott. Er zieht nach Osten, ins Land der Parther. Er baut sich ein Häuslein, befestigt am Türpfosten die kleine Rolle mit dem Glaubensbekenntnis, schlingt die Gebetriemen um den Kopf und um den Arm, stellt sich hin, das Gesicht gegen Westen, gegen Jerusalem, wo der Tempel liegt, und betet. Er nährt sich kärglich, es reicht nicht recht, aber er ist genügsam, ja, er schickt noch einiges nach Jerusalem für den Tempel. Doch da kommen die andern, die elf Clowns, sie sind die Parther, sie verhöhnen ihn. Sie nehmen die kleine Rolle von dem Türpfosten und seine Gebetriemen, sie schauen nach, was darin ist, sie finden beschriebenes Pergament, und sie lachen über die komischen Götter dieses Mannes. Sie wollen ihn zwingen, ihre Götter zu verehren, den hellen Ormuzd und den dunklen Ariman, und wie er sich weigert, zupfen sie ihn an seinem Bart und seinem Haar und reißen ihn so lang, bis er kniet, und das ist sehr komisch. Er erkennt nicht ihre sichtbaren Götter, und die andern erkennen nicht seinen unsichtbaren Gott. Aber für alle Fälle nehmen sie ihm das bißchen Geld weg, das er sich zusammengespart hat, für die Altäre ihrer Götter, und sie schlagen drei von seinen sieben Kindern tot. Er begräbt die drei Kinder, er geht herum zwischen den drei kleinen Gräbern, er setzt sich nieder und singt ein altes Lied: An den Strömen Babels saßen wir und weinten, und seine Bewegungen haben etwas sonderbar Schaukelndes, Groteskes und Trauriges. Dann wäscht er sich die Hände und wandert wieder weg, nach Süden diesmal, nach Ägypten. Das kleine Haus, das er sich gebaut hat, läßt er stehen, aber mit nimmt er die Rolle mit den Bekenntnissen, die Gebetriemen, die Kochkiste, den Leuchter, den Rest der Kinder und seinen unsichtbaren Gott. Er baut sich ein neues Häuslein, er nimmt sich eine neue Frau, Jahre kommen und gehen, er erwirbt neues Geld, und statt der drei erschlagenen Kinder macht er vier neue. Jetzt, wenn er betet, stellt er sich mit dem Gesicht gegen Norden, wo Jerusalem liegt und der Tempel, und er vergißt nicht, jährlich seine Abgabe nach dem Lande Israel zu schicken. Aber auch im Süden lassen ihn seine Feinde nicht. Wieder kommen die elf Clowns, diesmal sind sie Ägypter, und verlangen, daß er ihre Götter anbetet, Isis und Osiris, Stier, Widder und Sperber. Aber da kommt der römische Gouverneur und befiehlt, sie sollen von ihm ablassen. Die elf Clowns sind sehr komisch, wie sie enttäuscht abziehen. Aber er selber, der Jude Apella, in seiner Siegesfreude ist noch komischer. Wieder schaukelt er auf merkwürdige Art mit seinem hagern Leib; aber diesmal tanzt er vor Gott, er tanzt vor der Lade mit den heiligen Büchern. Grotesk hebt er die Beine bis zu dem verfärbten Bart, sein zerlumptes Gewand flattert, mit dürrer, schmutziger Hand schlägt er ein Tamburin. Er schaukelt, alle seine Knochen loben seinen unsichtbaren Gott. So tanzt er vor der Bücherlade, wie einst der König David tanzte vor der Bundeslade. Die großen römischen Herren im Zuschauerraum lachen sehr, deutlich durch das allgemeine Gelächter hört man das scheppernde Lachen des Ministers Talaß. Aber die meisten sind etwas angefremdet, und die paar Juden starren betreten, erschrocken geradezu, auf den hüpfenden, tanzenden, schaukelnden Mann auf der Bühne. Sie denken an die Leviten, wie sie heilig mit silbernen Trompeten auf den hohen Stufen des Tempels stehen, und an den Erzpriester, wie er groß und würdevoll im Schmuck der erhabenen Gewänder und der Tempeljuwelen vor Gott hintritt, und ist das nicht Sakrileg, was der Mann da auf der Bühne macht? Aber schließlich kann auch der römische Gouverneur den Juden nicht mehr schützen. Denn der Ägypter sind zu viele, aus den elf Clowns sind elf mal elf geworden, und sie träufeln vergiftete Anschuldigungen in das Ohr des Kaisers, und sie tanzen possierlich, und sie stechen und zwicken und schießen mit kleinen, tödlichen Pfeilen, und wieder erlegen sie drei von den Kindern und seine Frau dazu. Und zuletzt zieht der Jude Apella abermals weg, mit Rolle und Riemen und Kiste und Leuchter und Kindern und seinem unsichtbaren Gott, und diesmal kommt er nach Rom. Jetzt aber wird das Spiel ganz gewagt und frech. Die Clowns trauen sich nicht, ihn leibhaft zu bedrängen, sie halten sich am Rand der Bühne. Immerhin erklettern sie, wie die Affen hüpfend, das Dach seines Hauses, sie dringen auch ins Innere, sie schauen nach, was in der Rolle ist und was in der Kochkiste. Sie parodieren ihn, wie er sich zum Gebet hinstellt, nach Osten diesmal, wo Jerusalem liegt und der Tempel. Die elf führenden Clowns tragen sehr kühne Masken jetzt, Porträtmasken, man erkennt ohne viel Mühe den Minister Talaß, den großen Juristen des Senats Cassius Longin, den Philosophen Seneca und andere sehr hochmögende Judenfeinde. Doch diesmal können sie nicht an gegen den Juden Apella, er wird geschützt von dem Kaiser und der Kaiserin. Allein sie spähen, bis er sich eine Blöße gibt. Und siehe, er gibt sich eine Blöße. Er heiratet eine Eingeborene, eine Freigelassene. Da stecken sie sich hinter diese seine Frau und gießen ihr all ihren Hohn ins Herz. Einige außerordentlich bösartige Couplets werden gesungen über den Beschnittenen, seinen Knoblauch, seinen Gestank, den Atem seines Fastens, seine Kochkiste. Es kommt dahin, daß seine Frau ihn in Gegenwart seiner Kinder verhöhnt, weil er beschnitten ist. Da jagt er sie fort und bleibt allein mit seinen Kindern und mit seinem unsichtbaren Gott, im Schutz des römischen Kaisers. Resigniert und in wilder Sehnsucht schaukelnd singt er sein altes Lied: An den Wassern Babels saßen wir und weinten; fernher, ganz leise parodieren ihn die elf Clowns.
  Die Zuschauer sehen sich an und wissen nicht recht, ob sie heitere oder traurige Gesichter machen sollen. Alle schielen nach der kaiserlichen Loge. Die Kaiserin sagt vernehmlich mit ihrer hellen Kinderstimme, so daß man es weithin hören kann, kaum ein zweites Stück aus der zeitgenössischen Produktion habe sie so interessiert wie dieses. Sie macht dem Senator Marull Komplimente, der mit falscher Bescheidenheit die Urheberschaft der Texte ablehnt. Der Kaiser ist zurückhaltend; sein Literaturlehrer Seneca hat ihm so viel von Tradition gepredigt, daß er vorläufig mit der neuartigen Technik dieses Spiels nichts Rechtes anfangen kann. Der Kaiser ist jung, blond, sein intelligentes Gesicht ist leicht aufgedunsen; seine Augen mustern beschäftigt, etwas abwesend die Zuschauer, die das Theater nicht verlassen dürfen, bevor er aufbricht. Die jüdischen Herren im Zuschauerraum stehen betreten umher. Claudius Regin bindet ächzend seinen Schnürriemen und quäkt, wenn man ihn fragt, Unverständliches. Josef ist hin- und hergeworfen zwischen Ärger und Anerkennung. Die grelle Lebenswahrheit, mit der dieser Jude Apella auf der Bühne stand, hat seinen Augen weh getan. Daß jemand alles Lächerliche dieses Juden so rücksichtslos seinem ernsthaften Schicksal beimischt, erfüllt ihn mit ebensoviel Unbehagen wie Bewunderung. Eigentlich geht es den meisten so. Sie sind beschäftigt und unzufrieden, die jüdischen Herren geradezu bekümmert. Wirklich vergnügt ist nur der Minister Talaß.
  Der Kaiser befiehlt ihn und den Justizminister Junius Thrax in die Loge und sagt nachdenklich, er sei gespannt darauf, wie die Juden eine gewisse Entscheidung aufnehmen werden. Die Kaiserin, unmittelbar bevor sie aufbricht, teilt Josef mit, noch am andern Tag werde die Freilassung seiner drei Unschuldigen erfolgen.

Am andern Tag, gleich nach Sonnenaufgang, wurden die drei Märtyrer entlassen. Im Villenort Tibur, im Landhaus des Julian Alf, des Präsidenten der Veliagemeinde, wurden sie unter der Aufsicht von Ärzten gebadet, gespeist, mit kostbaren Kleidern versehen. Dann setzte man sie in den schönen Reisewagen des Julian Alf. Überall am Wege, der von Tibur nach Rom führte, standen Gruppen von Juden, und wenn der Wagen vorüberkam, Läufer voran, großer Troß hinterher, sprachen sie den Segensspruch, der vorgeschrieben ist nach der Errettung aus großer Gefahr, und sie riefen den drei entgegen: »Gesegnet, die da kommen. Friede mit euch, meine Doktoren und Herren.«
  Am Tibur-Tor aber war ungeheures Gedränge. Hier erwarteten, inmitten des von Polizei und Militär abgesperrten Raums, die Präsidenten der fünf jüdischen Gemeinden die Märtyrer, dann der Staatssekretär Polyb vom Ministerium für Bitten und Beschwerden, ein Zeremonienmeister der Kaiserin, vor allem aber der Schriftsteller Josef Ben Matthias, Delegierter des Großen Rats von Jerusalem, und der Schauspieler Demetrius Liban. Natürlich erregte auch hier der Schauspieler die meiste Aufmerksamkeit; aber alle ohne Ausnahme, die römischen Herren und die Juden, zeigten sich den schlanken jungen Mann mit dem hagern, fanatischen Gesicht, der kühnen Nase und den heftigen Augen: das war der Doktor Josef Ben Matthias, der die Amnestierung der drei erwirkt hatte. Es war eine große Stunde für Josef. Er sah jung, ernst, erregt und würdig aus, er machte gute Figur selbst neben dem Schauspieler.
  Endlich kam der Wagen mit den dreien. Sie wurden herausgeholt. Sie waren sehr schwach, ihre Leiber schaukelten merkwürdig mechanisch hin und her. Blicklos schauten sie in die vielen Gesichter, auf die vielen feierlichen weißen Kleider, stumpf hörten sie die Ansprachen, die sie rühmten. Ergriffen machte man sich aufmerksam auf die halbgeschorenen Schädel mit dem eingebrannten E, auf die Spuren der Kette über den Knöcheln. Viele weinten. Der Schauspieler Demetrius Liban aber kniete nieder, den Kopf neigte er in den Staub der Straße, und er küßte die Füße der Männer, die gelitten hatten für Jahve und das Land Israel. Man war gewohnt, ihn als Komiker zu sehen, das Volk lachte, wo immer er sich zeigte, aber niemand fand ihn komisch, wie er im Staub lag vor den dreien und ihre Füße küßte und weinte.
  Am Sabbat darauf fand der große Gottesdienst statt in der Agrippenser-Synagoge. Der älteste von den dreien las die ersten Verse des für diesen Sabbat bestimmten Abschnittes aus der Schrift; mühsam, tief aus der Kehle holte er die Worte, das weite Bethaus war erfüllt von Menschen bis in den letzten Winkel, dicht, lautlos und gepackt standen sie die ganze Straße entlang. Josef aber wurde aufgerufen, nach Schluß der Verlesung die Thorarolle hochzuheben. Schlank und ernst stand er auf dem erhöhten Platz, hoch mit beiden Händen hob er die Rolle, drehte sich, auf daß alle sie sehen könnten, schaute mit seinen heftigen Augen über die zahllose Versammlung. Und die Blicke der Juden Roms hingen an dem jungen, glühenden Menschen, wie er die heilige Rolle der Schrift vor ihnen hochhob.
  In diesem Winter wurden die drei Märtyrer sehr gefeiert. Allmählich erholten sie sich, ihre abgezehrten Leiber gewannen neuen Saft, ihre kahlgeschorenen Schädel bedeckten sich mit spärlichem neuem Haar, nach den Rezepten Scribon Largs wurden die Kettennarben über ihren Fußknöcheln getilgt. Man reichte sie von einer Gemeinde zur andern, von einem der einflußreichen jüdischen Herren zum andern. Sie nahmen die Ehrungen ziemlich stumpf hin, als gebührenden Tribut.
  Langsam, mit zunehmenden Kräften, begannen sie, mehr zu reden. Es erwies sich, daß die Märtyrer zänkische, eifernde, keifende alte Herren waren. Nichts war ihnen fromm genug und den Vorschriften entsprechend. Sie stritten unter sich und mit jedem andern, sie gingen unter den Juden Roms umher, als wäre es Jerusalem und diese Juden alle ihrer Herrschgewalt unterstellt, sie ordneten an und verboten. Bis endlich Julian Alf sie verbindlich, aber bestimmt darauf aufmerksam machte, seine Veliasynagoge liege nicht in ihrem Tempelbereich. Darauf verfluchten sie ihn und wollten ihn in den Großen Bann tun und den allgemeinen Boykott gegen ihn erklären. Alle waren schließlich froh, als die Schiffahrt wieder begann und man die drei nach Puteoli auf das Schiff nach Judäa bringen konnte.

Josefs Aufgabe in Rom war erledigt. Dennoch blieb er. Klar stand ihm wieder das Ziel vor Augen, um dessentwillen er nach Rom gekommen war: diese Stadt zu erobern. Immer deutlicher wurde ihm, daß es für ihn einen einzigen Weg gab: die Literatur. Ein großer Stoff aus der Geschichte seines Landes lockte ihn. Von jeher hatte ihn in den alten Büchern seines Volkes dieser Bericht am meisten gepackt: der Freiheitskampf der Makkabäer gegen die Griechen. Jetzt erst erkannte er, was ihn hierhergezogen hatte. Rom war reif, die Weisheit und das Geheimnis des Ostens zu empfangen. Seine Aufgabe war, der Welt jenen pathetisch heroischen Abschnitt aus der Vorzeit Israels darzustellen, so daß alle erkannten: dieses Land Israel war ausersehen, in ihm wohnte Gott.
  Er sprach niemandem von seinem Vorhaben. Nach außen hin führte er das Leben eines jungen Herrn der guten Gesellschaft. Aber alles, was er sah, hörte, lebte, bezog er auf sein Werk. Es mußte möglich sein, beides zu begreifen, den Osten und den Westen. Es mußte möglich sein, die Geschichte der Makkabäer mit ihrem Glauben und ihren Wundern in die harte, klare Form zu bringen, die die Theorie der jüngeren Prosaisten verlangte. In den alten Büchern lebte er mit die Martern jener Früheren, die sie auf sich genommen hatten, um die Gebote Jahves nicht zu verletzen, und auf dem Forum, in den Kolonnaden der Livia, des Marsfelds, in den öffentlichen Bädern, im Theater lebte er mit die Schärfe und die »Technik« dieser Stadt Rom, die ihre Bewohner bezauberte, so daß alle sie beschimpften und alle sie liebten.
  Ganz aus kostete er die große Versuchung der Stadt, als die Gelegenheit kam, für immer zu bleiben. Es war an dem, daß Cajus Barzaarone seine Tochter Irene verheiraten wollte. Er hatte auf Wunsch der Mutter als Schwiegersohn den jungen Doktor Licin von der Veliasynagoge in Aussicht genommen, aber es war nicht sein Herz, das diese Verbindung wünschte, und die Augen des Mädchens Irene hingen mit der gleichen schwärmerischen Begeisterung wie am ersten Tag an Josefs hagerem, fanatischem Gesicht. Man zögerte mit der Heirat, es hätte Josef nur ein Wort gekostet, und er hätte sich für alle Zeiten als Schwiegersohn des reichen Mannes in Rom hinsetzen können. Das war verlockend, das bedeutete ruhiges, breites Leben, Ansehen und Fülle. Aber es bedeutete auch Stillstand und Sichbescheiden. War es nicht ein zu kleines Ziel?
  Er warf sich mit doppelter Inbrunst auf die Bücher. Bereitete mit unendlicher Gewissenhaftigkeit seine »Geschichte der Makkabäer« vor. Verschmähte es nicht, wie ein Schuljunge lateinische und griechische Grammatik zu treiben. Übte seine Handfertigkeit an schwierigen Details. So, auf kleine und mühselige Art, arbeitete er das ganze Frühjahr hindurch, bis er sich endlich reif fühlte, das Werk selbst zu beginnen.
  Da trat ein Ereignis ein, das seine Fundamente erschütterte.
  In diesem Frühsommer nämlich, sehr plötzlich und sehr jung, starb die Kaiserin Poppäa. Sie hatte gewünscht, früh zu sterben, unverwelkt, sie hatte oft vom Tode gesprochen, nun war ihr Wunsch erfüllt. Noch nach dem Tode bewies sie ihre Neigung für den Osten; denn in ihrem Testament hatte sie angeordnet, daß ihr Leib nicht verbrannt, sondern nach der Sitte des Ostens einbalsamiert werde.
  Der Kaiser machte aus seiner Trauer und seiner Liebe ein ungeheures Fest. Der riesige Leichenzug bewegte sich durch die Stadt, Musikkorps, Klageweiber, Sprechchöre. Endlos die Prozession der Ahnen, die jetzt die Kaiserin als Letzte in ihren Zug aufnahmen. Die Wachsmasken der toten Urväter waren zu diesem Zweck aus ihren heiligen Schränken genommen worden. Schauspieler trugen sie, angetan mit der prunkhaften Amtstracht dieser toten Konsuln, Präsidenten, Minister, jeder der Toten seine Liktoren voran mit Beilen und Rutenbündeln. Dann, grotesk, kam der ganze Zug nochmals, dargestellt wiederum von Tänzern und Schauspielern, die die vorangehenden parodierten. Auch die tote Kaiserin war darunter. Demetrius Liban hatte sich’s nicht nehmen lassen, seiner Protektorin diesen letzten grausigen Liebesdienst zu erweisen, und die Juden, wenn dieses springende, hüpfende, schmerzhaft lächerliche Abbild ihrer mächtigen Gönnerin vorbeikam, heulten vor Lachen und vor Kummer. Dann folgte die Dienerschaft der Verstorbenen, der riesige Zug ihrer Beamten, Leibeigenen, Freigelassenen, dann die Offiziere der Leibgarde, endlich die Tote selbst, getragen von vier Senatoren, sitzend auf einem Lehnstuhl, wie sie es geliebt hatte, gekleidet in eines jener ernsthaft geschnittenen, doch verrucht durchsichtigen Gewänder, wie sie sie geliebt hatte, von jüdischen Ärzten kunstvoll einbalsamiert, umwölkt von Wohlgerüchen. Hinter ihr der Kaiser, das Haupt verhüllt, in einfachem schwarzem Kleid, ohne Kennzeichen seiner Gewalt. Und hinter ihm Senat und Volk von Rom.
  Vor der Rednerbühne des Forums machte der Zug halt. Die Ahnen stiegen von ihren Wagen und setzten sich auf die elfenbeinernen Stühle, und der Kaiser hielt die Leichenrede. Josef sah Poppäa, sie saß auf ihrem Stuhl, wie sie damals vor ihm gesessen war, bernsteinfarben von Haar und ein wenig spöttisch, und dann war der Kaiser zu Ende, und zum letzten Male grüßte Rom seine Kaiserin. Die Zehntausende standen, den Arm mit der geöffneten Hand ausgestreckt, auch die Ahnen erhoben sich von ihren Stühlen und streckten den Arm mit der geöffneten Hand aus, und so verharrten sie grüßend, eine Minute lang, stehend, und allein die Tote saß.

Josef hatte seinen Kollegen Justus die ganze Zeit vermieden. Jetzt suchte er ihn auf. Die beiden jungen Herren schlenderten durch die Kolonnaden des Marsfelds. Justus meinte, jetzt nach dem Tode Poppäas würden die Herren Talaß und Genossen mit der Publikation des Edikts wohl nicht mehr lange warten. Josef hob die Schultern. Schweigend gingen sie zwischen den eleganten Bummlern der Kolonnaden. Dann, und zwar genau vor dem schönen Laden des Cajus Barzaarone, hielt Justus an und sagte: »Und wenn jetzt den Juden von Cäsarea ihre Rechte weggeschwindelt werden, wird kein Mensch etwas dabei finden. Die Juden müssen in dieser Sache unrecht haben. Wenn sie Beschwerden vorbringen, die halbwegs gerechtfertigt sind, dann hört sie Rom und schafft Hilfe. Hat man nicht ihre drei Unschuldigen begnadigt? Rom ist großzügig. Rom behandelt Judäa mild, milder als andere Provinzen.«

  Josef erblaßte. Hatte dieser Mensch recht? War sein Erfolg, war die Freilassung der drei für die Gesamtpolitik der Juden schädlich, da Rom auf diese Art durch Milde in einer Nebensache die Härte der Hauptentscheidung lügnerisch überzuckern konnte? Blicklos überschaute er die Möbel, die vor dem Magazin des Cajus Barzaarone feil standen.
  Er erwiderte nichts, verabschiedete sich bald. Was Justus gesagt hatte, machte ihn krank. Es durfte nicht wahr sein. Er hat seine eitlen Tage, wer hat sie nicht? Aber in der Angelegenheit der drei Unschuldigen hat er aus ehrlichem Herzen heraus gewirkt, er hat nicht um eines persönlichen kleinen Erfolges willen die Sache seines Volkes verschlechtert.
  Mit neuem, verbissenem Eifer warf er sich auf sein Werk. Er fastete, kasteite sich, schwor, kein Weib zu berühren, bevor er das Werk vollendet habe. Arbeitete. Schloß die Augen, um die Dinge seines Buches zu schauen, öffnete sie, um die Dinge seines Buches ins rechte Licht zu stellen. Erzählte der Welt die Geschichte von dem wunderbaren Freiheitskrieg seines Volkes. Er litt mit den Märtyrern des Buches, siegte mit ihnen. Er weihte mit Juda dem Makkabäer den Tempel neu. Mild und groß hüllte der Glaube ihn ein. Glauben, Befreiung, Triumph, alle hohen Gefühle, die er vor den alten Büchern gespürt hatte, goß er in sein Werk. Er war ein erwählter Krieger Jahves, solang er schrieb.
  Er vergaß Cäsarea.
  Er begann sein früheres Leben von neuem, ging in Gesellschaft, suchte sich Frauen, spielte sich auf. Er las sein Makkabäerbuch einem ausgesuchten Kreis junger Literaten vor. Man beglückwünschte ihn. Er schickte es dem Verleger Claudius Regin. Der erklärte sogleich, er übernehme die Veröffentlichung. Aber gleichzeitig und auch im Verlag des Claudius Regin erschien ein Werk des Justus »Über die Idee des Judentums«. Josef empfand es als hinterhältig, daß weder Regin noch Justus ihm vorher davon gesprochen hatten. Er mäkelte an dem Buch des Justus, es sei nüchtern und schwunglos. Aber im Innern erschien ihm, was er selber gemacht hatte, läppischer Bombast vor den neuen, dichten und zwingenden Gedankenreihen des andern. Er verglich das Porträt des Justus, das vornean in seinem Buch gemalt war, mit seinem eigenen. Er las das kleine Werk des Justus ein zweites, ein drittes Mal. Seine eigene Schriftstellern erschien ihm kindlich, hoffnungslos.
  Aber siehe, nicht nur das Mädchen Irene, jetzt die Frau des Doktor Licin, und die wohlwollenden Leser vom rechten Tiberufer, auch die Literaten und jungen Snobs in den eleganten Bädern des linken Ufers fanden das Makkabäerbuch gut. Josefs Ruf verbreitete sich, sein jüdisches Kriegsbuch wirkte als eine interessante und fruchtbare Erneuerung des Heldenepos. Junge Literaten machten sich an ihn heran, schon wurde er nachgeahmt, galt als Haupt einer Schule. Die großen Familien baten ihn, aus seinem Buch in ihrem Kreis vorzulesen. Auf dem rechten Tiberufer wurden die Kinder aus seinem Buch unterrichtet. Das Werk des Justus von Tiberias aber kannte niemand, las niemand. Der Verlagsbuchhalter im Haus des Claudius Regin erzählte Josef, vom Buch des Justus seien hundertneunzig, vom Werk des Josef viertausendzweihundert Exemplare abgesetzt, und die Nachfrage aus allen Provinzen, besonders aus dem Orient, steige ständig. Justus selbst schien sich aus Rom zurückgezogen zu haben; jedenfalls traf ihn Josef in diesen Monaten seines literarischen Erfolges nirgends.

Der Winter verging, und das früheste Frühjahr brachte eine eindrucksvolle Schaustellung römischer Macht, den lang vorbereiteten Triumph Roms über den Osten, die stolze Einleitung des neuen Alexanderzugs. Das Nachbarreich im Osten, das Partherreich unter König Vologas, einzige Großmacht der bekannten Welt außer Rom, war des langen Krieges müde, gab Armenien, das strittige Territorium, preis. Der Kaiser selber schloß in festlicher Zeremonie den Janus-Tempel zum Zeichen, daß Friede sei auf Erden. Dann feierte er diesen ersten Sieg über den neu zu erobernden Orient in einem großartigen Schauspiel. Der Armenierkönig Tiridat mußte persönlich vor ihm erscheinen, um aus seiner Hand die Krone als Lehen entgegenzunehmen. Monatelang zog der östliche Herrscher mit riesigem Gefolge, mit Reitern und üppigen Gastgeschenken, Gold und Myrrhen, nach dem Westen, um dem römischen Kaiser zu huldigen. Durch den ganzen Orient verbreiteten sich Legenden von drei Königen aus Morgenland, die sich auf den Weg gemacht hätten, um den aufgehenden Stern im Westen anzubeten. Im übrigen hatte das Finanzministerium in Rom schwere Sorge, wie es den ganzen Aufwand bezahlen sollte, der natürlich auf Kosten der kaiserlichen Kasse ging.

  Als endlich der Zug des Königs Tiridat Italien betreten hatte, wurden Senat und Volk von Rom durch eine Proklamation aufgefordert, der Huldigung des Orients vor dem Kaiser beizuwohnen. Auf allen Straßen drängten sich die Neugierigen. Die Mannschaften der kaiserlichen Garde bildeten Spalier. Durch ihre Reihen schritt der östliche König, in der Tracht seines Landes, die Tiara auf dem Kopf, den kurzen Persersäbel im Gürtel: allein die Waffe war durch Festnagelung in der Scheide unschädlich gemacht. So zog er über das Forum, stieg die Estrade hinan, auf der der römische Kaiser thronte, beugte die Stirn zur Erde. Der Kaiser aber nahm ihm die Tiara ab und setzte an ihre Stelle das Diadem. Und dann klirrten die Truppen die Schilde und Lanzen zusammen und riefen in mächtigem Sprechchor, wie sie es tagelang geübt hatten: Gegrüßt sei, Kaiser, Herrscher, Imperator, Gott!
  Auf einer Tribüne an der Heiligen Straße, die über das Forum führte, wohnten Ehrengäste aus den Provinzen dem Schauspiel bei, unter ihnen Josef. Voll tiefer Erregung sah er die Demütigung des Tiridat. Der Kampf zwischen dem Osten und dem Westen war uralt. Die Perser hatten seinerzeit den Westen weit zurückgedämmt, dann aber hatte Alexander auf Jahrhunderte den Osten zurückgeworfen. In den letzten Jahrzehnten, vor allem seitdem ein Jahrhundert vorher die Parther eine große römische Armee aufgerieben hatten, schien wieder der Osten im Vordringen. Auf alle Fälle fühlte er sich geistig überlegen, und neue Hoffnung erfüllte die Juden, im Osten werde der Erlöser aufstehen und, wie es die alten Wahrsprüche verkündeten, Jerusalem zur Hauptstadt der Welt machen. Und jetzt mußte Josef sehen, klar, mit eigenen Augen, wie Tiridat, der Bruder des mächtigen Herrschers im Osten, die Stirn in Staub drückte vor Rom. Das Partherreich lag fern, militärische Unternehmungen dorthin waren mit ungeheuren Schwierigkeiten verbunden, noch lebten dort die Enkel derer, die den großen römischen General Crassus und seine Armee mit Mann und Roß geschlagen hatten. Und dennoch schlossen die Parther dieses klägliche Kompromiß. Er hatte es zugegeben, dieser Partherprinz, daß man ihm den Säbel in der Scheide festnagelte. So wenigstens behielt er eine gewisse Autonomie und, wenn auch nur geliehen, sein Diadem. Da der mächtige Parther sich damit begnügte, war es nicht Wahnsinn, wenn man in dem kleinen Judäa glaubte, man könnte es aufnehmen mit der römischen Macht? Judäa war leicht erreichbar, umgeben von romanisierten Provinzen, seit mehr als einem Jahrhundert hatte Rom seine Verwaltung und Militärtechnik dort eingearbeitet. Was die »Rächer Israels« in der Blauen Halle zu Jerusalem zusammenredeten, war heller Irrsinn. Judäa mußte sich einordnen in die Welt wie die andern, Gott war in Italien, die Welt war römisch.
  Auf einmal war Justus neben ihm. »König Tiridat macht eine schlechte Figur neben Ihren Makkabäern, Doktor Josef«, sagte er. Josef schaute ihn an, er sah gelbgesichtig aus, skeptisch, ein wenig bitter und sehr viel älter als er selber, trotzdem er es nicht war. Machte er sich lustig über ihn, oder was eigentlich sollten diese Worte? »Ich bin allerdings der Meinung«, sagte er, »daß ein in der Scheide festgenagelter Degen weniger sympathisch ist als ein gezückter.« – »Aber in vielen Fällen klüger und in manchen sogar vielleicht heroischer«, erwiderte Justus. »Ernstlich«, sagte er, »es ist schade, daß ein so begabter Mensch wie Sie sich zu einem solchen Schädling auswächst.« – »Ich ein Schädling?« entrüstete sich Josef. Es trieb ihm das Blut hoch, daß jemand so klar und nackt die nebelhaften Vorwürfe formulierte, die ihn manchmal in der Nacht peinig ten. »Mein Makkabäerbuch«, sagte er, »hat Rom gezeigt, daß wir Juden noch Juden sind, keine Römer. Ist das schädlich?« – »Der Kaiser zieht jetzt wohl seine Unterschrift zurück von dem Edikt über Cäsarea, was?« fragte Justus mild. »Das Edikt ist noch nicht veröffentlicht«, erwiderte Josef verbissen. »Es gibt Leute«, zitierte er, »die wissen, was Jupiter der Juno ins Ohr geflüstert hat.« – »Ich fürchte«, meinte Justus, »nachdem Rom seine Sache mit den Parthern bereinigt hat, werden Sie auf die Veröffentlichung nicht mehr lange warten müssen.« Sie saßen auf der Tribüne, unten zog Kavallerie vorbei, in Paradeuniform, doch in lockerer, bequemer Haltung, die Menge applaudierte, die Offiziere schauten hochmütig gradaus, nicht rechts, nicht links. »Sie sollten sich selber nichts vormachen wollen«, sagte Justus, beinahe verächtlich. »Ich weiß«, winkte er ab, »Sie haben die klassische Darstellung unserer Freiheitskriege geschrieben, Sie sind der jüdische Titus Livius. Nur, sehen Sie, wenn unsere lebendigen Griechen heute von dem toten Leonidas lesen, dann bleibt das ein harmloses, akademisches Vergnügen. Wenn aber unsere ›Rächer Israels‹ in Jerusalem Ihre Geschichte des Juda Makkabi lesen, dann bekommen sie heiße Augen und schauen nach ihren Waffen. Halten Sie das für wünschenswert?«
  Unten ritt jetzt der Mann vorbei mit dem festgenagelten Degen. Alle auf der Tribüne erhoben sich. Frenetisch schrie das Volk ihm zu.
  »Cäsarea«, sagte Justus, »ist uns endgültig entrissen. Sie haben das den Römern einigermaßen erleichtert. Wollen Sie ihnen noch viele Vorwände geben, auch Jerusalem zu einer römischen Stadt zu machen?«
  »Was kann ein jüdischer Schriftsteller heute tun? Ich will nicht, daß Judäa in Rom aufgeht«, sagte Josef.
  »Ein jüdischer Schriftsteller«, erwiderte Justus, »muß vor allem einmal erkannt haben, daß man heute die Welt nicht durch Eisen und Gold verändern kann.«
  »Auch Eisen und Gold werden ein Stück Geist, wenn sie für geistige Dinge gebraucht werden«, sagte Josef.
  »Ein schöner Satz für Ihre Bücher, Herr Livius, wenn Sie gerade nichts Faktisches vorzubringen haben«, höhnte Justus.
  »Was soll Judäa tun, wenn es nicht untergehen will?« fragte Josef zurück. »Die Makkabäer haben gesiegt, weil sie bereit waren, zu sterben für ihre Überzeugung und ihre Erkenntnis.«
  »Ich kann keinen Sinn darin erblicken«, erwiderte Justus, »für eine Erkenntnis zu sterben. Für eine Überzeugung zu sterben ist Kriegerart. Der Beruf des Schriftstellers ist, sie an andere weiterzugeben. Ich glaube nicht«, fuhr er fort, »daß der unsichtbare Gott Jerusalems heute so billig ist wie der Gott Ihrer Makkabäer. Ich glaube nicht, daß viel getan ist, wenn jemand für ihn stirbt. Er verlangt mehr. Es ist furchtbar schwer, für diesen unsichtbaren Gott das unsichtbare Haus zu bauen. So einfach jedenfalls, wie Sie es sich gedacht haben, Doktor Josef, ist es bestimmt nicht. Ihr Buch wird vielleicht einiges von römischem Geist nach Judäa, aber sicher nichts von jüdischem Geist nach Rom bringen.«
  Den Josef beschäftigte diese Unterredung mit Justus mehr, als er wollte. Vergeblich sagte er sich, aus Justus spreche nur der Neid, weil seine Bücher Erfolg hatten und die des Justus nicht. Was Justus gegen ihn vorgebracht hatte, saß, er konnte es nicht aus seinem Herzen herausbringen. Er las das Makkabäerbuch, er rief alle die großen Gefühle zu Hilfe aus den einsamen Nächten, in denen er das Buch geschrieben hatte. Vergeblich. Er mußte mit diesem Justus fertig werden. So konnte er nicht weiterleben.
  Er beschloß, die Sache Cäsarea als Zeichen zu nehmen. Seit einem Jahr jetzt fuchteln sie mit diesem albernen Edikt vor ihm herum. Nur diese Sache Cäsarea ist es, die den Gedanken des Justus recht gibt gegen ihn. Gut. Wenn sie wirklich zuungunsten der Juden entschieden werden sollte, dann unterwirft er sich, dann hat er unrecht, dann ist sein Makkabäerbuch nicht der richtige jüdische Geist, dann ist Justus der große Mann und er ein kleiner, eitler Streber.
  Mehrere lange Tage geht er umher in qualvoller Erwartung. Schließlich kann er die Spannung nicht mehr ertragen. Er holt die Würfel hervor. Wenn sie günstig fallen, dann fällt die Entscheidung zugunsten der Juden. Er dreht die Kreiselwürfel. Sie fallen ungünstig. Er dreht nochmals. Sie fallen wieder ungünstig. Er dreht ein drittes Mal. Diesmal fallen sie günstig. Er erschrickt. Er hat, wirklich ohne Absicht, den abgeschrägten Würfel genommen.
  Wie immer, er will nach Judäa zurück. Er hat in diesen achtzehn Monaten Rom viel von Judäa vergessen, er sieht es nicht mehr, er muß zurück und sich Kraft aus Judäa holen.
  In großer Eile rüstet er seine Abreise. Die halbe Judenschaft steht am Drei-Straßen-Tor, wo der Wagen abfährt, der ihn an sein Schiff nach Ostia bringen soll. Drei der Versammelten begleiten ihn weiter: Irene, die Frau des Doktor Licin, der Schauspieler Demetrius Liban, der Schriftsteller Justus von Tiberias.
  Demetrius, auf dem Wege, spricht davon, wie auch er einmal nach Zion reisen wird, und dann für immer. Nein, allzulange wird er nicht mehr warten müssen. Er glaubt nicht, daß er noch länger als sieben oder acht Jahre spielen wird. Dann, endlich, wird er Jerusalem sehen. Er träumt vom Tempel, wie er strahlend über der Stadt hängt mit seinen riesigen Terrassen, seinen weiß und goldenen Hallen. Er träumt von dem mattschillernden Vorhang, der das Allerheiligste abschließt, dem kunstvollsten Gewebe der bekannten Welt. Er kennt jede Einzelheit des Heiligtums, besser wahrscheinlich als mancher, der es mit leiblichen Augen gesehen hat, so oft hat er sich davon erzählen lassen.
  Sie sind im Hafen von Ostia angelangt. Die Sonnenuhr zeigt die achte Stunde. Josef rechnet kindlich, mühsam und beharrlich. Es sind jetzt ein Jahr sieben Monate zwölf Tage und vier Stunden, daß er fort ist aus Judäa. Es überfällt ihn plötzlich eine schier leibliche Begierde nach Jerusalem, er möchte seinen Atem mit in die Segel des Schiffes blasen, auf daß es schneller fahre.
  Die drei Freunde stehen am Kai. Ernst und still Irene, spöttisch und traurig Justus, aber Demetrius Liban streckt mit großer Geste den Arm mit der flachen Hand aus, den Oberkörper nach vorn geneigt. Es ist mehr als ein Abschiedsgruß an Josef, es ist ein Gruß an das ganze, ferne, heißbegehrte Land.
  Die Menschen verschwinden. Ostia, Rom, Italien verschwin den. Josef ist auf dem freien Meer. Er fährt nach Judäa. Mit ihm auf dem gleichen Schiff fährt der Geheimkurier, der dem Gouverneur von Judäa den Befehl überbringt, der Stadt Cäsarea die kaiserliche Entscheidung über das Wahlstatut zu verkünden.






ZWEITES BUCH


Galiläa





      m 13. Mai, um neun Uhr morgens, empfing der Gouverneur Gessius Flor den Magistrat von Cäsarea und teilte
      ihm die kaiserliche Entscheidung über das Wahlstatut mit, durch welche die Juden ihrer Herrschaft über die offizielle Hauptstadt des Landes verlustig gingen. Um zehn Uhr wurde das Edikt durch den Sprecher der Regierung von der Rednertribüne auf dem großen Forum verkündet. In den Werkstätten der Brüder Zakynth arbeitete man bereits daran, den Wortlaut des Ediktes in Bronze zu gießen, damit es in dieser Form in den Archiven der Stadt für alle Zeiten aufbewahrt werde.
  Unter der griechisch-römischen Bevölkerung brach ungeheurer Jubel los. Die Kolossalstatuen an der Hafeneinfahrt, die Bildnissäulen der Göttin Rom und des Begründers der Monarchie, die Porträtbüsten des regierenden Kaisers an den Straßenecken wurden festlich bekränzt. Musikkorps, Sprechchöre durchzogen die Straßen, im Hafen schenkte man freien Wein aus, die Leibeigenen bekamen Urlaub. In den Stadtvierteln der Juden aber starrten die sonst so lärmvollen Häuser weiß und öde, die Läden waren geschlossen, die Furcht vor einem Pogrom lag beklemmend über den heißen Straßen.
  Am Tag darauf, einem Sabbat, fanden die Juden, als sie ihre Hauptsynagoge besuchen wollten, vor dem Tor den Führer eines griechischen Stoßtrupps mit seinen Leuten, wie er ein Vogelopfer darbrachte. Solche Opfer pflegten Aussätzige darzubringen, und es war die beliebteste Beschimpfung der Juden im vorderen Asien, daß man sie für Abkömmlinge ägyptischer Aussätziger erklärte. Die Synagogendiener forderten die Griechen auf, sich für ihr Opfer einen andern Platz auszusuchen. Die Griechen höhnten zurück, die Zeiten, in denen die Juden in Cäsarea das Maul aufreißen konnten, seien vorbei. Die jüdischen Beamten wandten sich an die Polizei. Die erklärte, sie müsse erst Instruktionen einholen. Einige Hitzköpfe unter den Juden wollten die freche Zeremonie der Griechen nicht länger mit anschauen, versuchten, den Opfertopf mit Gewalt wegzunehmen. Dolche, Messer blitzten hoch. Endlich, es gab bereits Tote und Verwundete, griffen römische Truppen ein. Sie nahmen eine Reihe von Juden als Anstifter des Landfrie densbruchs fest, den Griechen konfiszierten sie den Opfertopf. Wer von den Juden konnte, flüchtete jetzt mit seinem beweglichen Gut fort von Cäsarea; die heiligen Schriftrollen wurden in Sicherheit gebracht.
  Die Vorgänge in Cäsarea, das Edikt und seine Folgen, bewirkten, daß der Kleinkrieg, den Judäa seit nunmehr hundert Jahren gegen die römische Schutzmacht führte, überall im Land mit neuer, wilder Erbitterung hochflammte. Bisher hatten zumindest in Jerusalem die beiden Parteien der Ordnung, die aristokratischen »Unentwegt Rechtlichen« und die bürgerlichen »Wahrhaft Schriftgläubigen«, Gewalttätigkeiten gegen die Römer verhindern können: jetzt, nach dem Edikt von Cäsarea, bekam die dritte Partei die Oberhand, die »Rächer Israels«.
  Immer mehr Leute von den »Wahrhaft Schriftgläubigen« fielen jetzt ihnen zu, selbst der Chef der Tempelverwaltung, der Doktor und Herr Eleasar Ben Simon, ging öffentlich zu ihnen über. Überall sah man ihr Zeichen, das Wort Makkabi, die Initialen des hebräischen Satzes: »Wer ist wie du, o Herr?«, die Parole des Aufstandes. In Galiläa tauchte mit einemmal der Agitator Nachum auf, der Sohn des von den Römern hingerichteten Patriotenführers Juda. Er war fast ein Jahrzehnt verschollen gewesen, man hatte geglaubt, er sei umgekommen, nun plötzlich zog er durch die Städte und Dörfer der Nordprovinz, überall liefen die Massen ihm zu. »Worauf denn noch wollt ihr warten?« beschwor er inbrünstig, fanatisch die dumpf und erbittert Lauschenden. »Die bloße Gegenwart der Unbeschnittenen besudelt euer Land. Ihre Regimenter trampeln frech über die Fliesen des Tempels, ihre Trompeten kreischen scheußlich in die heilige Musik. Ihr seid auserwählt, Jahve zu dienen: ihr könnt nicht den Cäsar, den Schweinefresser, anbeten. Denkt an die großen Eiferer des Herrn, an Pinchas, an Eli, an Juda den Makkabäer. Drücken euch eure eigenen Ausbeuter nicht genug? Müßt ihr euch noch von den Fremden den Segen rauben lassen, den Jahve für euch bestimmt hat, daß sie Fechterspiele damit veranstalten und Tierhetzen? Laßt euch nicht bange machen von der Feigheit der ›Wahrhaft Schriftgläubigen‹! Kuscht nicht vor der Profitgier der ›Unent wegt Rechtlichen‹, die die Hand der Unterdrücker streicheln, weil sie ihren Geldsack beschützt. Die Zeit ist erfüllt. Das Himmelreich ist nahe. In ihm zählt der Arme genauso wie der Fettbauch. Der Messias ist geboren, er wartet nur darauf, daß ihr euch regt, dann wird er sich zeigen. Erschlagt die Feiglinge vom Großen Rat in Jerusalem! Erschlagt die Römer!«
  Die bewaffneten Verbände der »Rächer Israels«, die ausgetilgt schienen, tauchten im ganzen Land wieder auf. In Jerusalem kam es zu wilden Kundgebungen. In der Provinz wurden Römer, die sich ohne militärischen Schutz auf die Landstraßen wagten, überfallen, als Geiseln verschleppt. Da gerade die kaiserliche Finanzverwaltung gewisse Steuerrückstände mit Härte eintrieb, zeigten sich junge Anhänger der »Rächer Israels« mit Sammelbüchsen auf den Straßen, bettelten bei den Passanten: gebt eine mildtätige Gabe für den armen, unglücklichen Gouverneur. Gessius Flor beschloß, scharf durchzugreifen, verlangte, man solle ihm die Rädelsführer ausliefern. Die einheimischen Behörden erklärten, sie könnten sie nicht ermitteln. Der Gouverneur ließ durch Truppen den Obern Markt und die angrenzenden Straßen, wo man die Hauptsitze der »Rächer Israels« vermutete, Haus für Haus durchsuchen. Die Haussuchungen gingen in Plünderungen über. Die Juden wehrten sich, von den Dächern einzelner Häuser wurde geschossen. Auch unter den Römern gab es Tote. Der Gouverneur verkündete das Standrecht. Die erbitterten Soldaten schleppten Schuldige und Unschuldige vor Gericht; die bloße Bezichtigung, jemand gehöre zu den »Rächern Israels«, genügte. Es regnete Todesurteile. Das Gesetz verbot, römische Bürger anders als durchs Schwert hinzurichten. Gessius Flor ließ jüdische Männer, selbst wenn sie den Rittertitel und den Goldenen Ring des Zweiten römischen Adels trugen, schmählich am Kreuz exekutieren.
  Als auch zwei Mitglieder des Großen Rats abgeurteilt werden sollten, erschien vor den Offizieren des Standgerichts, begleitet von einer stummen, ergriffenen Menge, die Prinzessin Berenike, die Schwester des Titularkönigs Agrippa. Sie hatte wegen Errettung aus einer Krankheit ein erschwertes Gelübde getan, so daß sie mit kurzgeschorenem Haupthaar ging und ohne jeden Schmuck. Sie war eine schöne Frau, in Jerusalem sehr geliebt und gern gesehen auch am römischen Hof. Ihre Art zu gehen war berühmt in der ganzen Welt. Von der deutschen Grenze bis zum Sudan, von England bis an den Indus konnte man einer Frau kein willkommeneres Kompliment machen als: sie gehe wie die Prinzessin Berenike. Jetzt nun schritt diese große Dame demütig her, nach Art der Schutzflehenden, barfuß, das schwarze Gewand nur von einer Schnur gehalten, das Haupt mit dem kurzen Haar gebeugt. Sie neigte sich vor dem Vorsitzenden des Gerichts und bat um Gnade für die beiden Priester. Die Offiziere waren zunächst höflich, machten galante Scherze. Da aber die Prinzessin nicht abließ, wurden sie kühl und kurz, zuletzt geradezu grob, und Berenike mußte sich, übel gedemütigt, zurückziehen.
  Es kamen in diesen fünf Tagen vom 21. bis zum 26. Mai in ! Jerusalem über dreitausend Menschen ums Leben, darunter an tausend Frauen und Kinder.
  Die Stadt kochte in dumpfer Empörung. Bisher waren zumeist Bauern und Proletarier den »Rächern Israels« zugelaufen, jetzt schlossen sich immer mehr Bürger ihnen an. Überall raunte es oder schrie es auch offen, übermorgen, nein, morgen schon werde das Land sich gegen die römische Gewalt erheben. Die einheimische Regierung, das Kollegium des Erzpriesters und der Große Rat, sahen mit Sorge, welche Wendung die Dinge nahmen. Die gesamte Oberschicht wünschte Verständigung mit Rom, hatte Angst vor einem Krieg. Die »Unentwegt Rechtlichen«, Aristokraten zumeist und reiche Leute, die die wichtigsten Staatsämter innehatten, fürchteten, ein Krieg gegen Rom werde unausbleiblich in eine Revolution gegen ihre eigene Herrschaft ausmünden; denn sie hatten von jeher die bescheidenen Forderungen der Pachtbauern, Kleinbürger, Proletarier starr und hochmütig abgelehnt. Die »Wahrhaft Schriftgläubigen« aber, die Partei der Doktoren des Tempels von Jerusalem, Gelehrte, Demokraten, denen die große Masse des Volkes anhing, glaubten, man müsse es Gott überlassen, die alte Freiheit des Staates wiederherzustellen, und warnten vor jeder Gewalttätigkeit, solange die Römer die Lehre nicht antasteten, die sechshundertdreizehn Gebote des Moses.
  Die Führer beider Parteien wandten sich dringlich an den König Agrippa, der in Ägypten weilte, und baten ihn, zwischen den Aufständischen und der römischen Regierung zu vermitteln. Diesem König hatten die Römer zwar nur in Transjordanien und in einigen Städten Galiläas wirkliche Herrschaft belassen, in Judäa hatten sie seine Befugnis auf die Oberaufsicht über den Tempel beschränkt. Aber noch hatte er den Königstitel, galt als der erste Mann unter den Juden, war beliebt. Eiligst, auf die Bitten der jüdischen Regierung, reiste er nach Jerusalem, gewillt, selber zu den Massen zu reden.
  Zehntausende kamen, ihn zu hören, auf den großen Platz vor dem Makkabäerpalais. Sie standen dichtgedrängt, hinter ihnen war die alte Stadtmauer und, von einer schmalen Brücke überspannt, die Talenge, und wieder dahinter weiß und golden die ragende Westhalle des Tempels. Die Menge begrüßte den König gedrückt, gespannt, ein wenig mißtrauisch. Dann aber kam zwischen sich neigenden Offizieren die Prinzessin Berenike aus dem Tor des Palastes, schwarzgekleidet wieder, aber nicht in der Tracht der Schutzflehenden diesmal, sondern in schwerem Brokat. Unter dem kurzen Haar schien ihr langes, edles Gesicht doppelt kühn. Alle verstummten, als sie aus dem Palais trat, wie wohl die Betenden verstummen, die am Neumondstag auf den jungen Mond gewartet haben: er war zwischen Wolken und unsichtbar, jetzt aber kommt er heraus, und sie freuen sich. Langsam stieg die Prinzessin die Treppen herunter zu ihrem Bruder, schwer bauschte sich der Brokat um die still Schreitende. Und wie sie jetzt die beiden Hände mit den Flächen gegen das Volk hob, gaben sie inbrünstig, stürmisch den Gruß zurück: sei gegrüßt, Berenike, Fürstin, die da kommt im Namen des Herrn.
  Dann begann der König seine Rede. In eindringlichen Sätzen führte er aus, wie hoffnungslos eine Erhebung gegen das römische Protektorat sei. Er hob, der elegante Herr, die Schultern, ließ sie wieder fallen, malte mit seinem ganzen Körper die Sinnlosigkeit des Unternehmens. Hatten nicht alle Völker der Erde sich auf den Boden der Tatsachen gestellt? Die Griechen, die sich einstmals gegen ganz Asien hatten behaupten können, die Makedonier, deren Alexander vor Zeiten den großen Samen eines Weltreiches ausgestreut hatte: genügte heute nicht eine Besetzung von zweitausend römischen Soldaten für beide Länder zusammen? Gallien hatte dreihundertfünf verschiedene Stämme, besaß ausgezeichnete natürliche Befestigungen, erzeugte alle Rohstoffe im eigenen Land: reichten nicht zwölfhundert Mann aus, nicht mehr, als das Land Städte hatte, um jeden leisesten Gedanken an Auflehnung zu unterdrücken? Zwei Legionen genügten, römische Ordnung in dem riesigen, reichen, altkultivierten Ägypten zu sichern. Gegen die Deutschen, bekanntlich von einer Gemütsart heftiger als die der wilden Tiere, kam man mit vier Legionen aus, und im ganzen Gebiet diesseits des Rheins und der Donau reiste man so friedlich wie in Italien selbst. »Habt ihr denn«, der König schüttelte bekümmert den Kopf, »keinen Maßstab für eure eigene Schwäche und die Kraft Roms? Sagt mir doch, wo habt ihr eure Flotte, eure Artillerie, eure Finanzquellen? Die Welt ist römisch: wo wollt ihr Bundesgenossen und Hilfe hernehmen? Vielleicht aus der unbewohnten Wüste?«
  König Agrippa redete seinen Juden gut zu wie unverständigen Kindern. Genau betrachtet, seien die Steuern, die Rom verlange, nicht übermäßig hoch. »Bedenkt doch, die Stadt Alexandrien allein bringt in einem Monat mehr Steuern auf als ganz Judäa in einem Jahr. Und leistet Rom nicht auch allerhand für diese Steuern? Hat es nicht ausgezeichnete Straßen geschaffen, moderne Wasserleitungen, eine rasch arbeitende, gut geschulte Verwaltung?« Mit großer, dringlicher Geste beschwor er die Versammlung. »Gerade noch liegt das Schiff im Hafen. Seid vernünftig. Fahrt nicht mitten in das fürchterliche Unwetter und den sicheren Untergang.«
  Die Rede des Königs machte Eindruck. Viele riefen, sie seien nicht gegen Rom, sie seien nur gegen diesen Gouverneur, gegen Gessius Flor. Hier aber hakten geschickt die »Rächer Israels« ein. Der junge, elegante Doktor Eleasar vor allem forderte in wirkungsvollen Sätzen, der König solle als Erster ein Ultimatum an Rom unterzeichnen, das die sofortige Abberufung des Gouverneurs verlangte. Agrippa wich zurück, suchte hinzuzögern, auszubiegen. Eleasar drängte auf klare Antwort, der König lehnte ab. Immer mehr schrien: »Die Unterschrift! Das Ultimatum! Nieder mit Gessius Flor!« Die Stimmung schlug um. Man rief, der König stecke mit dem Gouverneur unter einer Decke, sie alle wollten nur das Volk ausbeuten. Schon drangen einige entschlossen aussehende Burschen auf den König ein. Gerade noch konnte er sich unter dem Schutze seiner Herren heil in das Palais zurückziehen. Den Tag darauf verließ er die Stadt, sehr erbittert, begab sich in seine sicheren transjordanischen Provinzen.
  Nach dieser Niederlage der Feudalherren und der Regierung trieben es die Radikalen mit allen Mitteln zum Äußersten. Seit der Begründung der Monarchie, seit hundert Jahren, sandten Kaiser und Senat von Rom allwöchentlich ein Opfer für Jahve und seinen Tempel. Jetzt gab Doktor Eleasar als Chef der Tempelverwaltung den diensttuenden Priestern Anweisung, dieses Opfer nicht mehr anzunehmen. Vergeblich beschworen ihn der Erzpriester und sein Kollegium, die Schutzmacht nicht auf so unerhörte Art zu provozieren. Doktor Eleasar schickte das Opfer des Kaisers mit Hohn zurück.
  Dies war das Zeichen für die jüdischen Kleinbürger, Bauern und Proletarier, sich offen gegen die Römer und gegen ihre eigenen Feudalherren zu erheben. Die römische Garnison war schwach. Die »Rächer Israels« waren bald im Besitz aller strategisch wichtigen Punkte der Stadt. Sie steckten das Finanzamt in Brand, vernichteten unter Jubelgeschrei die Steuerlisten und Hypothekenverzeichnisse. Zerstörten und plünderten die Häuser vieler mißliebiger Aristokraten. Schlossen die römischen Truppen im Makkabäerpalais ein. Die Römer hielten diesen letzten, stark befestigten Stützpunkt mit großer Tapferkeit. Aber ihre Position war aussichtslos, und als ihnen die Juden gegen Ablieferung der Waffen freien Abzug zusicherten, nahmen sie das Angebot mit Freuden an. Beide Parteien bekräftigten das Abkommen durch Eid und Handschlag. Sowie aber die Belagerten die Waffen abgelegt hatten, stürzten sich die »Rächer Israels« auf die Wehrlosen und machten sich daran, sie niederzumetzeln. Die Römer leisteten keinen Widerstand, sie baten auch nicht um ihr Leben, aber sie riefen: Eid! Vertrag! Sie riefen es im Chor, immer weniger riefen es, immer schwächer wurde der Chor, zuletzt rief nur mehr ein einziger:
Eid! Vertrag!, und dann verstummte auch er. Dies geschah am
7. September, am 20. Elul jüdischer Rechnung, einem Sabbat.
  Der Rausch der Tat kaum vorbei, bemächtigte sich der ganzen Stadt eine tiefe Beklemmung. Wie zur Bestätigung dieses üblen Gefühls trafen sehr bald schon Nachrichten ein, in zahlreichen Städten mit gemischter Bevölkerung seien die Griechen über die Juden hergefallen. In Cäsarea allein waren an jenem schwarzen Sabbat zwanzigtausend Juden gemetzelt worden, die übrigen hatte der Gouverneur in die Docks getrieben und zu Leibeigenen erklärt. Als Antwort verheerten die Juden in den Städten, in denen sie die Majorität hatten, die griechischen Bezirke. Seit Jahrhunderten schon hatten die Griechen und Juden, die an der Küste, in Samaria, am Rand von Galiläa in den gleichen Städten wohnten, einander gehaßt und verachtet. Die Juden waren stolz auf ihren unsichtbaren Gott Jahve, sie waren überzeugt, nur für sie werde der Messias kommen, sie gingen hochfahrend einher im Gefühl ihrer Auserwähltheit. Die Griechen machten sich lustig über die fixen Ideen, den stinkenden Aberglauben, die lächerlichen, barbarischen Gebräuche der Juden, und jeder tat dem Nachbarn das Böseste an. Immer schon hatte es zwischen ihnen blutige Händel gegeben. Jetzt wütete weit über die Grenzen Judäas hinaus Plünderung, Mord und Brand, und das Land füllte sich mit unbegrabenen Leichen.
  Als es soweit war, beschloß der Vorgesetzte des Gessius Flor, Cestius Gall, Generalgouverneur von Syrien, in Judäa endlich durchzugreifen. Er war ein alter, skeptischer Herr, überzeugt, was man nicht getan habe, bereue man seltener und weniger bitter als das Getane. Nachdem indes die Dinge einmal so übel ausgereift waren, durfte man keine falsche Schwäche zeigen: Jerusalem mußte energisch gezüchtigt werden.
  Cestius Gall mobilisierte die ganze Zwölfte Legion, dazu acht weitere Regimenter syrischer Infanterie. Forderte auch von den Vasallenstaaten ansehnliche Kontingente. Der jüdische Titularkönig Agrippa, beflissen, Rom seine Bundestreue zu beweisen, bot allein zweitausend Mann Kavallerie auf, dazu drei Regimenter Schützen, und stellte sich persönlich an ihre Spitze. Umständlich, bis ins kleinste Detail, legte Cestius Gall das Programm der Strafexpedition fest. Vergaß auch nicht, die feuertelegrafischen Siegesmeldungen vorzubereiten. Rom sollte, sowie er als Richter und Rächer in Jerusalem einziehen wird, es am gleichen Tage erfahren.
  Gewaltig, von Norden her, brach er in das meuterische Land. Nahm programmgemäß die schöne Siedlung Zabulon-Männerstadt, plünderte sie, brannte sie nieder. Nahm programmgemäß die Küstenstadt Joppe, plünderte sie, brannte sie nieder. Geplünderte, niedergebrannte Städte, gemetzelte Menschen zeichneten seinen Weg, bis er programmgemäß am
27. September vor Jerusalem stand.
  Aber hier stockte er. Am 9. Oktober, hatte er errechnet, werde er im Besitz des Forts Antonia, am 10. im Besitz des Tempels sein. Jetzt war schon der 14., und das Fort Antonia hielt sich immer noch. Die »Rächer Israels« hatten nicht gezögert, die zahllosen Wallfahrer, die aus Anlaß des Laubhüttenfestes gekommen waren, zu bewaffnen, die Stadt floß über von freiwilligen Truppen. Der 27. Oktober kam, Cestius Gall stand nun schon einen ganzen Monat vor Jerusalem, und immer noch warteten an den sorglich vorbereiteten Feuerposten die Telegrafisten vergeblich, schon fürchtend, der Apparat klappe nicht und sie würden bestraft. Cestius beorderte neue Verstärkungen heran, ließ mit großen Opfern alle Stoßmaschinen an den Mauern in Stellung bringen, bereitete für den 2. November einen endgültigen Sturmangriff mit solchen Mitteln vor, daß er menschlicher Voraussicht nach nicht mißglücken konnte.
  Die Juden hielten sich tapfer. Allein was vermochte individuelle Tapferkeit gegen die überlegene Organisation der Römer? Was zum Beispiel konnte der rührende Ausfall der drei Greise nützen, die sich am 1. November, am Tag vor dem Sturm, allein vor die Mauern begaben, die römische Artillerie in Brand zu stecken? Am hellen Mittag erschienen sie plötzlich vor den römischen Posten, drei uralte Juden mit den Abzeichen der »Rächer Israels«, der Feldbinde, die die Buchstaben Makkabi trug, die Initialen der hebräischen Worte: »Wer ist wie du, o Herr?« Erst glaubte man, sie seien Parlamentäre und hätten eine Botschaft der Belagerten zu überbringen, aber sie waren keine Parlamentäre, vielmehr schossen sie mit ihren zitteri gen Greisenhänden Brandpfeile gegen die Maschinen. Das war offenkundiger Wahnsinn, und die Römer – was sollte man sonst mit den Wahnsinnigen anfangen? – machten sie erstaunt, gutmütig scherzend, fast mitleidig nieder. Es stellte sich noch am gleichen Tage heraus, daß es jene drei Mitglieder des Großen Rates waren, Gadja, Jehuda und Natan, von den Gerichten des Kaisers seinerzeit zu Zwangsarbeit verurteilt, dann in großer Milde freigelassen. Immer wieder hatten die Römer diese Amnestierung als schlagendes Beispiel ihrer eigenen Gutwilligkeit angeführt und hatten daran erweisen wollen, daß nicht römische Härte, sondern jüdische Bockbeinigkeit die Hauptschuld an den entstandenen Unruhen trage. Auch in den Reden der »Unentwegt Rechtlichen« und der »Wahrhaft Schriftgläubigen« spielte die Amnestierung als Beweis für römische Großmut eine wichtige Rolle. Die drei Märtyrer wollten nicht länger in ihrer Stadt umherlaufen als leibhaftes Exempel für die edle Gesinnung des Erzfeindes. Ihr Herz gehörte den »Rächern Israels«. So entschlossen sie sich als fanatische Pädagogen zu dieser beispielhaften, frommen und heroischen Tat.
  Die Führer der Makkabi-Leute freilich wußten sehr gut, daß mit Gesinnung allein wenig auszurichten war gegen die Belagerungsmaschinen der Römer. Mit dem Willen, die Stadt nicht zu übergeben, doch ohne Hoffnung, sie zu halten, sahen sie die Vorbereitungen zu dem letzten Sturm, der am andern Tage erfolgen mußte.
  Er erfolgte nicht. In der Nacht gab Cestius Gall Befehl, die Belagerung abzubrechen, den Rückzug anzutreten. Er sah krank und verstört aus. Was war geschehen? Niemand wußte es. Man bestürmte den Oberst Paulin, den Adjutanten des Cestius Gall. Er zuckte die Schulter. Die Generäle schüttelten die Köpfe. Cestius gab für den überraschenden Befehl keine Gründe, und die Disziplin verbot, zu fragen. Die Armee setzte sich in Bewegung, rückte ab.
  Bestürzt erst, ohne Glauben, dann mit einem Aufatmen, dann mit ungeheurem Jubel sahen die Juden diesen Aufbruch der Belagerungsarmee. Zögernd, immer noch ein taktisches Manöver befürchtend, dann mit wachsender Kraft machten sie sich an die Verfolgung. Es wurde für die Römer ein schwieriger Rückzug. Von Jerusalem her drückten die Aufständischen hart nach. In dem nördlichen Gebiet, das die Römer durchqueren mußten, hatte ein gewisser Simon Bar Giora, ein galiläischer Freischärlerführer, einen erbitterten Kleinkrieg organisiert. Jetzt besetzte dieser Simon Bar Giora nach einem raschen Umgehungsmarsch mit dem Gros seiner Kräfte die Schlucht von Beth Horon. Der Name dieser Schlucht klang lieblich in die Ohren der jüdischen Freischärler. Hier hatte der Herr die Sonne stillstehen lassen, auf daß der General Josua einen Sieg für Israel erfechte; hier hatte Juda der Makkabäer die Griechen triumphal geschlagen. Auch das Manöver Simon Bar Gioras gelang: die Römer erlitten eine Schlappe, wie sie in Asien seit den Partherkriegen keine mehr erlebt hatten. Die Juden hatten noch nicht tausend Tote, die Römer verloren an Toten fünftausendsechshundertachtzig Mann Infanterie und dreihundertachtzig Mann Kavallerie. Unter den Toten war der Gouverneur Gessius Flor. Die gesamte Artillerie, alles sonstige Kriegsmaterial, der Goldene Adler der Legion, dazu die reiche Kriegskasse fiel in die Hände der Juden.
  Dies geschah am 3. November römischer, am 8. Dios griechischer, am 10. Marcheschvan jüdischer Rechnung, im zwölften Regierungsjahr des Kaisers Nero.


Feierlich mit ihren Instrumenten standen die Leviten auf den Stufen des Heiligen Raumes, hinter ihnen im Heiligen Raum selbst Priester aller vierundzwanzig Reihen. Nach dem überraschenden Sieg über Cestius Gall hatte der Erzpriester Anan, wiewohl er die Partei der »Unentwegt Rechtlichen« führte, einen Dankgottesdienst anberaumen müssen, und nun zelebrierte man das große Hallel. Die Ereignisse der letzten Tage hatten Fremde auf allen Straßen in die Stadt gespült, überwältigt starrten sie auf den strengen Prunk. Wie Meeresbrandung brauste es durch die riesigen weiß und goldenen Hallen: Dies ist der Tag des Herrn. Lasset uns jauchzen und fröhlich sein. Und immer wieder, durch die hundertdreiundzwanzig vorgeschriebenen Variationen: Lobet den Herrn!

  Josef stand ganz vorn, in seiner weißen Amtstracht, den blauen Gürtel mit den eingewirkten Blumen um die Taille. Hingerissen wie die andern warf er im vorgeschriebenen Takt den Oberkörper. Niemand spürte tiefer als er, wie wunderbar dieser Sieg war, den ungeschulte Freischärler über eine römische Legion errungen hatten, über dieses Meisterwerk an Technik und Präzision, das, wiewohl bestehend aus vielen Tausenden, sich fortbewegte wie ein einzelner, gelenkt von einem Gehirn. Beth Horon, Josua, Wunder. Es war eine herrliche Bestätigung seines Gefühls, daß für die Bedrängnis des heutigen Jerusalem Vernunft allein nicht genügte. Die ganz großen Taten sind nicht mit Vernunft gemacht worden, sie kommen unmittelbar aus göttlicher Eingebung. Die Tausende vor den Stufen sahen ergriffen, wie inbrünstig dieser junge, glühende Priester die Dankeshymnen mitsang.
  Aber in aller frommen Begeisterung konnte er nicht verhindern, daß seine Gedanken sich damit beschäftigten, was für Folgen der unvorhergesehene Sieg der Makkabi-Leute für ihn persönlich haben werde.
  Jerusalem hatte nicht viel Zeit gehabt, ihn wegen seines Erfolgs in der Sache der drei Unschuldigen zu feiern. Kaum eine Woche nach seiner Rückkehr waren die Unruhen losgebrochen. Immerhin war er durch seinen römischen Erfolg populär geworden, die gemäßigte Regierung konnte den jungen Aristokraten, trotzdem er so oft in der Blauen Halle der »Rächer Israels« gesehen wurde, nicht länger brüskieren: man gab ihm Amt und Titel eines Geheimsekretärs im Tempeldienst. Viel zuwenig. Jetzt nach dem großen Sieg sind seine Chancen mächtig gestiegen. Die Gewalten müssen neu verteilt werden. Die Volksstimmung zwingt die Regierung, auch einige von den Makkabi-Leuten an die Macht zu lassen. Morgen oder übermorgen schon soll eine Versammlung der drei gesetzgebenden Körperschaften stattfinden. Es darf nicht sein, daß man bei dieser Verteilung an ihm vorübergeht.
  Lobet den Herrn! sang es, Lobet den Herrn! Er konnte es verstehen, daß die Regierung bisher mit allen Mitteln den Krieg mit Rom zu vermeiden gesucht hat. Selbst gestern noch, nach dem großen Sieg, flüchteten einige ganz kluge Leute in größter Eile aus der Stadt, dem Generalgouverneur Cestius Gall nach, ihm trotz seiner Niederlage zu versichern, daß sie nichts zu tun hätten mit dem heimtückischen Überfall der Meuterer auf die Armee des Kaisers. Der alte, reiche Chanan, der Besitzer der großen Warenmagazine auf dem Ölberg, hat sich aus der Stadt verdrückt, der Staatssekretär Sebulon hat sein Haus stehenlassen und ist fort, die Priester Zefanja und Herodes sind auf die andere Seite des Jordan geflohen in das Gebiet des Königs Agrippa. Auch viele Essäer sind gleich nach dem Sieg über Cestius weggezogen, und jene Sektierer, die sich Christen nennen, haben sich allesamt davongemacht. Josef hat wenig übrig für die saftlose Frommheit der einen und für die kahle Klugheit der andern.
  Die heilige Handlung war zu Ende. Josef schob sich durch die Massen, die den riesigen Tempelbezirk füllten. Die meisten trugen Binden mit dem Abzeichen der »Rächer Israels«, dem Wort Makkabi. In dicken Haufen stand man um die erbeuteten Kriegsmaschinen, betastete sie, die mauerbrechenden Sturmböcke, die leichten Katapulte und die schweren Ballisten, die ihre mächtigen Geschosse weithin schleudern konnten. Überall ringsum in der angenehmen Novembersonne war fröhliches, gutgelauntes Gefeilsche um Stücke der römischen Beute, Kleider, Waffen, Zelte, Pferde, Maultiere, Hausrat, Schmuck, Andenken jeder Art, Rutenbündel, Beile der Liktoren. Neugierig, schadenfroh zeigte man sich das Riemenzeug, wie es jeder römische Soldat zum Binden der Gefangenen bei sich trug. Die Bankiers des Tempels hatten viel zu tun mit dem Einwechseln der fremden Münzen, die man den Erschlagenen abgenommen hatte.
  Josef gerät an eine erregte, heftig diskutierende Gruppe: Soldaten, Bürger, Priester. Es geht um den Goldenen Adler mit dem Kaiserporträt, das Feldzeichen der Zwölften Legion, das man erbeutet hat. Die Offiziere der Freischärler wollten, daß der Adler an den Außenmauern des Tempels angebracht werde, neben den Trophäen des Juda Makkabi und des Herodes, an sichtbarster Stelle, ein Wahrzeichen für Stadt und Land. Aber die »Wahrhaft Schriftgläubigen« wollten das nicht dulden; Tierfiguren, unter welchem Vorwand immer, waren im Gesetz verboten. Man schlug einen Mittelweg vor; der Adler sollte in den Tempelschatz gebracht werden zur Verfügung des Doktor Eleasar, des Chefs der Tempelverwaltung, der doch selber zu den »Rächern« gehörte. Nein, das gaben die Offiziere nicht zu. Die Leute, die den Adler transportierten, standen zögernd; auch ihnen wäre es lieber gewesen, die Trophäe wäre nicht im Tempelschatz verschwunden. Sie hatten die dicke Stange mit dem Adler niedergelegt. Das gefürchtete Zeichen der Armee sah in der Nähe plump und ungefüg aus, auch das Bild des Kaisers in dem Medaillon darunter war roh und häßlich, keineswegs furchterregend. Heftig stritten die Männer hin und her. Da kam der Geist über Josef, seine junge Stimme drang voll, Gehorsam fordernd, durch den Wirrwarr. Weder soll der Adler an die Mauer noch in den Tempelschatz. Zertrümmert soll er werden, in Stücke gehauen. Verschwinden soll er. Das war ein Vorschlag nach dem Herzen aller. Die Ausführung war freilich nicht einfach. Der Adler war solid, es dauerte eine gute Stunde, bis er ganz zertrümmert war und jeder mit seinem Stückchen Gold abziehen konnte. Josef, der Held der drei Unschuldigen von Cäsarea, hatte sich neue Sympathien erworben.
  Josef ist müde, aber er kann jetzt nicht nach Hause gehen, es treibt ihn weiter durch den Tempelbezirk. Wer ist es, der da kommt und vor dem sich die Haufen willig teilen? Ein junger Offizier, nicht groß, über dem kurzen, gepflegten Bart steht eine starke, gerade Nase und enge, braune Augen. Es ist Simon Bar Giora, der Freischärlerführer aus Galiläa, der Sieger. Vor ihm her wird ein makelloses, schneeweißes Tier geführt, ein Dankopfer offenbar. Aber, Josef sieht es mit unbehaglichem Erstaunen, Simon Bar Giora ist in Waffen. Will er in Eisen zum Altar gehen, den Eisen nie berührt hat, nicht während des Baus und niemals später? Das soll er nicht. Josef tritt ihm in den Weg. »Ich heiße Josef Ben Matthias«, sagt er. Der junge Offizier weiß, wer er ist, er begrüßt ihn achtungsvoll, herzlich. »Sie gehen zum Opfer?« fragt Josef. Simon bejaht. Er lächelt, ernst, eine tiefe Zufriedenheit und Zuversicht geht von ihm aus. Allein Josef fragt weiter: »In Waffen?« Simon errötet. »Sie haben recht«, sagt er. Er heißt die Leute mit dem Tier warten, er wird die Waffen ablegen. Aber dann wendet er sich nochmals an Josef. Herzlich, freimütig, daß alle es hören, sagt er: »Sie, Doktor Josef, waren der erste. Als Sie die drei Unschuldigen aus dem Kerker der Römer herausholten, spürte ich, daß das Unmögliche möglich ist. Gott ist mit uns, Doktor Josef.« Er grüßt ihn, die Hand an der Stirn; aus seinen Augen strahlt Frommheit, Kühnheit, Glück.

Josef ging durch die sacht ansteigenden Straßen der Neustadt, durch die Basare der Kleiderhändler, über den Markt der Schmiede, durch die Töpferstraße. Wieder nahm er mit Wohlgefallen wahr, wie sich die Neustadt zu einem Viertel voll Handel, Industrie, Leben entwickelte. Er besaß Terrains hier, die ihm der Glasfabrikant Nachum Ben Nachum gern abgekauft hätte. Er hatte sich schon entschlossen, sie ihm zu überlassen. Jetzt, nach dem großen Sieg, wollte er das nicht mehr. Der Glasbläser Nachum wartet auf Bescheid. Josef wird jetzt hingehen und ihm absagen. Er wird sich hier in der Neustadt selber ein Haus bauen.
  Der Glasfabrikant Nachum Ben Nachum hockte vor seiner Werkstatt, auf Polstern, die Beine gekreuzt. Zu seinen Häupten, über dem Eingang, hing aus buntem Glas eine große Traube, das Emblem Israels. Er stand auf, um Josef zu begrüßen, lud ihn ein, zu sitzen. Josef hockte nieder auf die Polster, ein wenig mühevoll, er hatte sich diese Art zu sitzen abgewöhnt.
  Nachum Ben Nachum war ein stattlicher, beleibter Herr von etwa fünfzig Jahren. Er hatte die schönen, lebendigen Augen, um derentwillen die Jerusalemer berühmt waren, sein frischfarbiges Gesicht war gerahmt von einem dichten, viereckigen, schwarzen Bart, der nur mit wenigen grauen Haaren gesprenkelt war. Er war neugierig auf Josefs Bescheid, aber er ließ nichts von dieser Neugier merken, sondern begann ein abgewogenes Gespräch über Politik. Es sei vielleicht gut, wenn auch die jungen Leute einmal ans Steuer kämen. Nachdem die »Rächer« diesen Sieg errungen hätten, müßten sich die regierenden Herren in der Quadernhalle mit ihnen einigen. Er sprach lebhaft, aber gleichwohl würdig und bestimmt.
  Josef hörte ihn aufmerksam an. Zu erfahren, wie Nachum
Ben Nachum sich nach dem großen Sieg bei Beth Horon zu den Dingen stellte, war interessant. Was er sagte, war wohl die Meinung der meisten Bürger Jerusalems. Noch vor acht Tagen waren sie alle gegen die »Rächer Israels« gewesen; jetzt hatten sie das vergessen, jetzt waren sie überzeugt, man hätte die Makkabi-Leute schon lange an die Macht lassen sollen.
  Doktor Nittai kam aus dem Haus, ein älterer, mürrischer Herr, mit dem Josef von Mutterseite her weitläufig verwandt war. Doktor Nittai war auch mit dem Glasfabrikanten verwandt, und der hatte ihn ins Geschäft genommen. Doktor Nittai verstand zwar nichts vom Geschäft; aber es erhöhte das Ansehen einer Firma, wenn sie einen Gelehrten aufnahm und ihn an ihren Einkünften teilnehmen ließ, »ihm in den Mund gab«, wie man fromm und ein wenig verächtlich sagte. So lebte also der Doktor und Herr Nittai wortkarg und verdrießlich im Hause des Glasbläsers. Er hielt es für eine große Wohltat, daß er dem Fabrikanten erlaubte, die Firma unter dem Namen Doktor Nittai und Nachum zu führen, und daß er seinen Lebensunterhalt von ihm annahm. Wenn er nicht auf der Tempeluniversität diskutierte, saß er schaukelnd vor dem Haus in der Sonne, eine Rolle der Heiligen Schrift vor sich, im Singsang Gründe und Gegengründe der Ausdeutung abwägend. Niemand durfte ihn dann stören; denn wer das Studium der Schrift unterbricht, um zu sagen: Siehe, wie schön ist dieser Baum, der ist der Ausrottung schuldig.
  Diesmal aber war er nicht mit dem Studium beschäftigt, und so fragte ihn Nachum, ob nicht auch er dafür sei, daß man die »Rächer Israels« in die Regierung aufnehme. Doktor Nittai runzelte die Stirn. »Machet die Lehre nicht zu einem Spaten«, sagte er unwirsch, »um damit zu graben. Die Schrift ist nicht dazu da, Politik aus ihr herauszulesen.«
  Es war viel Betrieb in Nachums Laden und Fabrik. Die römische Beute spülte Geld in die Stadt, und man kaufte gern Nachums weitgerühmte Gläser. Nachum begrüßte würdig die Käufer, bot ihnen schneegekühlte Getränke an, ein wenig Konfekt. Ein großer, herrlicher Sieg, nicht wahr? Die Geschäfte gehen ausgezeichnet, Gott sei gedankt. Wenn das so bleibt, wird man sich bald Magazine anlegen können, groß wie die Magazine der Brüder Chanan unter den Zedern des Ölbergs. Wer sich von seiner Hände Arbeit nährt, steht höher als der Gottesfürchtige, zitierte er, nicht ganz passend. Aber er erreichte seinen Zweck: Doktor Nittai ärgerte sich.
  Er hätte manches Gegenzitat gewußt, aber er schluckte es hinunter; denn wenn er sich erregte, dann machte sich sein babylonischer Akzent bemerkbar, und Josef pflegte ihn wegen dieses Akzents in aller Ehrfurcht aufzuziehen. »Ihr Babylonier habt den Tempel zerstört«, pflegte er zu sagen, und Doktor Nittai vertrug keine Neckerei. Er nahm nicht am Gespräch teil, er studierte auch nicht, er hockte in der angenehmen Sonne und träumte vor sich hin. Oftmals jetzt, seitdem er von seiner babylonischen Heimatstadt Nehardea nach Jerusalem gezogen war, war die Achte Priesterreihe, der er angehörte, die Reihe Abija, zum Tempeldienst ausgelost worden. Oftmals hatte er es erlost, Teile des Opfertiers zum Altar zu bringen. Aber sein höchster Traum, den Weihrauch aus der goldenen Schale auf den Altar zu schütten, war nie in Erfüllung gegangen. Immer wenn die Magrepha ertönte, die hunderttonige Schaufelpfeife, die anzeigte, daß jetzt das Räucheropfer dargebracht wurde, faßte ihn tiefer Neid auf den Priester, dem dieser Segen zugefallen war. Er hatte alle Voraussetzungen, er hatte keinen von den hundertsiebenundvierzig Leibesfehlern, die den Priester zum Dienst untauglich machten. Allein er war nicht mehr jung. Wird Jahve es fügen, daß er sich das Räucheropfer noch erlost?
  Josef hatte mittlerweile dem Glasbläser seinen Entschluß mitgeteilt, die Terrains zu behalten. Nachum nahm die Mitteilung ohne das kleinste Zeichen von Ärger auf. »Möge Ihr Entschluß uns beiden zum Glück sein, mein Doktor und Herr«, sagte er höflich.
  Der junge Ephraim kam, der Vierzehnjährige, Nachums jüngster Sohn. Er trug das Abzeichen mit den Initialen Makkabi. Er war ein schöner, frischer Junge, und heute glühte er von doppeltem Leben. Er hatte Simon Bar Giora gesehen, den Helden. Begeistert strahlten seine langen Augen aus dem warmen, dunkeln Gesicht. Es war vielleicht unrecht gewesen, daß er heute aus der Werkstatt fortlief. Aber er konnte doch das große Hallel im Tempel nicht versäumen. Und er war ja auch belohnt worden, er hatte Simon Bar Giora gesehen.
  Josef war schon im Begriff zu gehen, als auch Nachums ältester Sohn kam, Alexas. Alexas war stattlich und beleibt wie der Vater, er hatte den gleichen dicken, viereckigen Bart und das frischfarbige Gesicht; aber seine Augen waren trüber, er wiegte viel den Kopf, strich sich oft mit der rauhen, vom Anfassen heißer Masse zerschrundeten Hand den Bart. Er war nicht ruhevoll wie der Vater, er sah immer bekümmert aus, beschäftigt. Er belebte sich, als er Josef erblickte. Josef durfte jetzt nicht gehen. Er mußte ihm helfen, den Vater überzeugen, daß man jetzt noch, solange vielleicht noch Zeit sei, Jerusalem verlasse. »Sie waren in Rom«, redete er auf ihn ein, »Sie kennen Rom. Sagen Sie selbst, was die Makkabi-Leute jetzt treiben, muß das nicht zum Zusammenbruch führen? Ich habe die besten Beziehungen, ich habe Geschäftsfreunde in Nehardea, in Antiochien, in Batna. Ich verpflichte mich beim Leben meiner Kinder, in jeder beliebigen Stadt des Auslands binnen drei Jahren ein Geschäft aufzumachen, das hinter unserm hier nicht zurückbleibt. Reden Sie meinem Vater zu, daß er sich von diesem gefährlichen Boden fortmacht.«
  Der Knabe Ephraim fuhr auf den Bruder los, seine schönen Augen waren schwarz vor Wut. »Du verdienst nicht, in dieser Zeit zu leben. Alle schauen mich schief an, weil ich so einen Bruder habe. Geh nur zu den Schweinefressern, du! Jahve hat dich ausgespien aus seinem Mund.« Nachum wehrte dem Knaben, aber nur sachte. Er selber hörte die Reden seines Sohnes Alexas nicht gern. Wohl war ihm manchmal bange geworden bei dem wilden Treiben der »Rächer Israels«, und er wie die andern streng Rechtgläubigen hatte sie abgelehnt; aber nachdem jetzt fast ganz Jerusalem den Makkabi-Leuten recht gab, führte man keine solchen Reden wie Alexas. »Hören Sie nicht auf meinen Sohn Alexas, Doktor Josef«, sagte er. »Er ist ein guter Sohn, aber er muß immer alles anders haben als die andern. Immer steckt er voll von querköpfigen Ideen.«
  Josef wußte, daß es grade diese querköpfigen Ideen des Alexas waren, denen die Fabrik des Nachum ihren Aufschwung verdankte. Nachum Ben Nachum betrieb seine Werkstatt, wie sein Vater und sein Großvater sie betrieben hatten. Er fabrizierte immer das gleiche, verkaufte immer das gleiche. Beschränkte sich auf den Jerusalemer Markt. Ging auf die Börse, auf die Kippa, setzte mit Hilfe der zuständigen Notare die zeremoniellen, umständlichen Kaufverträge auf und sorgte dafür, daß sie im Stadtarchiv hinterlegt wurden. Mehr zu tun erschien ihm von Übel. Als eine zweite Glasfabrik in Jerusalem errichtet wurde, hätte er sich mit so schlichten Prinzipien gegen die rührige Konkurrenz nicht halten können. Da hatte Alexas eingegriffen. Während man bisher in Nachums Werkstatt zumeist mit der Hand gearbeitet hatte, hatte Alexas den Betrieb modernisiert, so daß man jetzt ausschließlich die lange Glasmacherpfeife anwandte und aus ihr schöne, runde Gefäße herausblies, so wie Gott den Atem in den menschlichen Leib einbläst. Alexas hatte ferner große Quantitäten pulverisierten Quarzkiesels eingeführt, die sehr rentable Filiale in der Oberstadt errichtet, in der nur Prunk- und Luxusgläser verkauft wurden. Hatte die großen Warenmärkte von Gaza, Cäsarea und die Jahresmesse von Batna in Mesopotamien beschickt. Alle diese Neuerungen hatte der kaum Dreißigjährige in ständigem Kampf gegen den Vater durchsetzen müssen.
  Auch heute ereiferte sich Nachum gegen den Sohn und seine übervorsichtigen, siebenklugen Reden. Niemals wieder nach dieser Schlappe werden die Römer nach Jerusalem ziehen. Und wenn sie kommen, wird man sie übers Meer zurückwerfen. Er jedenfalls, Nachum Ben Nachum, der Großhändler, wird niemals diese seine Glasfabrik verlassen und von Jerusalem fortgehen. Man hat Glas mit der Hand geformt, und man hat Glas mit der Pfeife geblasen, und Jahve hat das Werk gesegnet. Durch Jahrhunderte waren wir Glasbläser in Jerusalem, und Glasbläser in Jerusalem werden wir bleiben.
  Sie hockten auf den Polstern, äußerlich ruhig, aber beide waren sie erregt, und beide strichen sie heftig den viereckigen, schwarzen Bart. Der Knabe Ephraim schaute mit wilden Augen auf den Bruder; es war offensichtlich, daß nur die Ehrfurcht vor dem Vater ihn hinderte, gegen ihn loszugehen. Josef schaute von einem zum andern. Alexas saß ruhig und beherrscht, er lächelte sogar, aber Josef sah gut, wie bitter und traurig er war. Sicherlich hatte Alexas recht, aber seine Vorsicht wirkte kahl und kümmerlich vor der Beharrlichkeit des Vaters und vor der Zuversicht des Knaben.
  Von neuem kam Alexas mit Vernunft. »Wenn die Römer unsere Sandtransporte vom Flusse Belus nicht mehr hereinlassen, dann können wir unsere Glasbläserei zusperren. Sie natürlich, Doktor Josef, Sie sind Politiker, Sie müssen in Jerusalem bleiben. Aber einfache Kaufleute wie wir« – »Großkaufleute«, korrigierte mild Nachum und streichelte seinen Bart –, »tun wir nicht am besten, schleunigst von Jerusalem wegzuziehen?«
  Allein Nachum wollte von diesen Dingen nichts mehr hören. Ohne Übergang wechselte er das Thema. »Unsere Familie«, erklärte er dem Josef, »ist in allen Dingen beharrlich. Als mein Großvater, das Andenken des Gerechten zum Segen, starb, hatte er noch achtundzwanzig Zähne, und als mein Vater, das Andenken des Gerechten zum Segen, starb, hatte er noch dreißig Zähne. Ich bin heute über fünfzig, und ich habe noch meine zweiunddreißig Zähne, und meine Haare sind noch fast schwarz und gehen mir nicht aus.«
  Als Josef sich entfernen wollte, forderte Nachum ihn auf, mit in die Werkstatt zu kommen und sich ein Geschenk auszusuchen. Denn noch ist das Fest des Sieges von Beth Horon, und kein Fest ohne Geschenke.
  Der Ofen glühte eine unerträgliche Hitze aus, und der Rauch lag dick in der Werkstatt. Nachum wollte dem Josef durchaus ein Prunkglas aufdrängen, einen großen, eiförmigen Becher, die Außenseite durchbrochene Arbeit, so daß das Ganze wie von einem gläsernen Netz gleichsam umwirkt war. Nachum sang die Verse des alten Liedchens: »Wenn ich nur einmal, heute nur, mein Prunkglas hab, morgen mag es zerbrechen.« Allein Josef wies das kostbare Geschenk zurück, wie es der Anstand erforderte, und begnügte sich mit etwas Einfacherem.
  Der Knabe Ephraim konnte sich’s nicht versagen, mit seinem Bruder Alexas im Rauch und in der Hitze der Werkstatt eine neue, wilde, politische Debatte anzufangen. »Warst du bei dem großen Hallel?« stürmte er auf ihn ein. »Natürlich nicht. Jahve hat dich mit Blindheit geschlagen. Aber jetzt lasse ich mir nichts mehr einreden. Ich trete in die Bürgerwehr ein.« Alexas verzog den Mund. Er hatte für den glühenden Knaben nichts als ein Schweigen und ein verlegenes Lächeln. Er hätte so gern mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern Jerusalem verlassen. Aber er hing mit ganzem Herzen an seiner Familie, an seinem schönen, törichten Vater Nachum und an seinem schönen, törichten Bruder Ephraim. Er war der einzige, der hier Vernunft hatte. Er mußte bleiben, um sie vor dem Äußersten zu bewahren.
  Endlich konnte Josef gehen. Er ließ die Tür unter der großen Glastraube hinter sich, atmete nach der Hitze und dem Rauch der Werkstatt wohlig die angenehm frische Luft. Alexas begleitete ihn ein Stück Weges. »Sie sehen«, sagte er, «wie die Unvernunft reißend um sich greift. Vor einer Woche noch war mein Vater ein überzeugter Gegner der Makkabi-Leute. Bleiben Sie uns wenigstens vernünftig, Doktor Josef. Sie haben Sympathien. Setzen Sie einige Sympathien aufs Spiel und behalten Sie Ihren Verstand. Sie sind eine große Hoffnung. Ich wünschte herzlich, man beriefe morgen in der Quadernhalle Sie in die Regierung.« Josef, im stillen, dachte: Er will mich so unsympathisch haben, wie er selber ist. Alexas, als er sich verabschiedete, sagte trüb: »Ich wollte, dieser Sieg wäre uns erspart geblieben.«


Eine halbe Stunde vor dem angesetzten Beginn der Versammlung ging Josef in die Quadernhalle. Aber schon hatten sich die Herren der gesetzgebenden Körperschaften fast alle eingefunden. In ihrer blauen Amtstracht die Herren vom Kollegium des Erzpriesters, in ihren weiß und blauen Festkleidern die Herren vom Großen Rat, weiß und rot die Herren vom Obersten Gericht. Sonderbar dazwischen stand in seinen Waffen Simon Bar Giora mit einigen seiner Offiziere.
  Josef war kaum eingetreten, als sein Freund Amram sich auf ihn stürzte. Früher ein fanatischer Anhänger der »Unentwegt Rechtlichen«, hatte er sich seit einiger Zeit den »Rächern Israels« angeschlossen. Seitdem Josef die Befreiung der drei Märtyrer durchgesetzt hatte, hing er ihm mit doppelter Leidenschaft an.
  Was er ihm jetzt mitteilen konnte, mußte Josef eine gro- ße Genugtuung sein. Galiläische Freischärler hatten einen römischen Kurier abgefangen und ihm einen anscheinend bedeutungsvollen Brief abgenommen. Simon Bar Giora hatte dem Doktor Amram, den er schätzte, den Brief gezeigt. In diesem Schreiben berichtete Oberst Paulin, der Adjutant des Cestius, einem Freunde eilig und vertraulich über die Niederlage der Zwölften Legion. Es lag, schrieb er, für den unseligen Rückzugsbefehl kein vernünftiger Grund vor. Sein Chef hatte einfach die Nerven verloren. Und schuld an dieser Nervenkrisis, eine seltsame und erbitterte Laune des Schicksals, war eine Lappalie: der Selbstmord jener drei verrückten Zwangsarbeiter von Tibur. Der alte Herr hatte zeitlebens nur an Vernunft geglaubt. Der alberne und heroische Tod der drei warf ihn um. Gegen ein solches Volk von Fanatikern und Verrückten eine reguläre Armee einzusetzen war sinnlos. Er kämpfte nicht weiter. Er gab es auf.
  Josef las den Bericht, es wurde ihm heiß unter seinem Priesterhut, trotzdem es ein frischer Novembertag war. Der Brief war eine große, herrliche Bestätigung. Manchmal in diesen Zeiten hatte er gezweifelt, ob seine römische Tat gut war. Als die Römer, als gar die »Unentwegt Rechtlichen« die Amnestierung der drei immer wieder als Beweis für die Milde der kaiserlichen Verwaltung anführten, schien es, daß wirklich Justus mit seiner kahlen Mathematik recht behalten sollte. Jetzt aber wurde es offenbar, daß seine Tat sich dennoch zum Heil auswirkte. Ja, mein Herr Doktor Justus von Tiberias, meine Haltung war vielleicht unvernünftig, aber ist sie nicht durch die Folgen herrlich gerechtfertigt?
  Der Erzpriester Anan eröffnete die Sitzung. Er hatte es heute nicht leicht. Er stand an der Spitze der »Unentwegt Rechtlichen«, führte den Flügel der extremen Aristokraten, die im Schutz der römischen Waffen den Kleinbürgern, Bauern und Proletariern hart und hochmütig alle Erleichterungen versagt hatten. Sein Vater und drei seiner Brüder hatten, einer nach dem andern, das Erzpriestertum, das erste Amt des Tem pels und des Staates, bekleidet. Klar, kühl und fair, war er der rechte Mann gewesen, mit den Römern zu verhandeln: jetzt war seine Verständigungspolitik schmählich gescheitert, man stand unmittelbar vor dem Krieg, war man nicht schon mitten darin? Und was wird der Erzpriester Anan jetzt tun und sagen? Ruhig wie stets stand er in seinem hyazinthfarbenen Kleid, er strengte seine tiefe Stimme nicht an, es wurde sogleich still, als er zu sprechen anhub. Er war wahrlich ein mutiger Mann. Als wäre nichts geschehen, sagte er: »Ich bin befremdet, Herrn Simon Bar Giora hier in der Quadernhalle wahrzunehmen. Mir scheint, nur im Feld hat der Soldat zu entscheiden. Wie es weiter mit diesem Tempel und diesem Lande Israel gehalten werden soll, steht vorläufig noch beim Kollegium der Erzpriester, beim Großen Rat und beim Obersten Gerichtshof. Ich ersuche also Herrn Simon Bar Giora und seine Offiziere, sich zu entfernen.« Von allen Seiten rief es los gegen den Erzpriester. Der Freischärlerführer schaute um sich, als habe er nicht verstanden. Anan aber fuhr fort, immer mit der gleichen, nicht lauten, aber tiefen Stimme: »Da aber Herr Simon Bar Giora einmal hier ist, möchte ich ihn fragen: an welche Behörde hat er die von den Römern erbeuteten Gelder abgeführt?« Die Sachlichkeit dieser Frage wirkte ernüchternd. Der Offizier, das Gesicht dunkelrot, erwiderte knapp: »Die Gelder sind in Händen des Chefs der Tempelverwaltung.« Alle Köpfe drehten sich nach diesem, dem jungen, eleganten Doktor Eleasar, der gradaus und unbeteiligt vor sich hin sah. Dann, mit einem kurzen Gruß, entfernte sich Simon Bar Giora.
  Kaum war er gegangen, brach Doktor Eleasar los. Niemand im Volk werde verstehen, wie der Erzpriester den Helden von Beth Horon so hochfahrend von der Sitzung habe ausschließen können. Die »Rächer Israels« seien nicht mehr gewillt, den schalen Rationalismus der Herren länger zu dulden. Da hätten sie immer erklärt, kleingläubig, rechnerisch, es sei unmöglich, gegen römische Truppen aufzukommen. Nun aber: wo sei die Zwölfte Legion jetzt? Gott habe sich sichtbarlich für die erklärt, die nicht länger warten wollten; er habe ein Wunder getan. »Rom hat sechsundzwanzig Legionen«, rief einer der jüngeren Aristokraten dazwischen, »glauben Sie, daß Gott noch weitere fünfundzwanzig Wunder tun wird?« – »Lassen Sie so etwas nicht außerhalb dieser Mauern hören«, drohte Eleasar. »Das Volk hat keine Laune mehr für so kümmerliche Witze. Die Lage verlangt, daß die Gewalten neu verteilt werden. Sie werden weggefegt, alle hier, die Sie nicht zu den ›Rächern Israels‹ gehören, wenn Sie nicht Simon Bar Giora in der zu bildenden Regierung der nationalen Verteidigung Sitz und Stimme anbieten.« – »Ich beabsichtige nicht, Herrn Simon einen Sitz in der Regierung anzubieten«, sagte der Erzpriester Anan. »Denkt einer von den Doktoren und Herren daran?« Langsam gingen seine grauen Augen im Kreis, das schmale, hohe Gesicht unter der blau und goldenen Erzpriesterbinde schien unbeteiligt. Niemand sprach. »Wie denken Sie sich die Verwendung der Gelder, die Herr Simon Ihnen übergeben hat?« fragte Anan den Chef der Tempelverwaltung. »Die Gelder sind ausschließlich für Zwecke der nationalen Verteidigung bestimmt«, sagte Doktor Eleasar. »Nicht auch für andere Zwecke der Regierung?« fragte Anan. »Ich kenne keine andern Aufgaben der Regierung«, erwiderte Doktor Eleasar. »Durch den kühnen Handstreich Ihres Freundes«, sagte der Erzpriester, »haben sich Verhältnisse herausgebildet, die es uns wünschenswert erscheinen ließen, einige unserer Befugnisse an die Tempelverwaltung abzutreten. Aber Sie werden begreifen, daß wir, wenn Sie unsere Aufgaben so eng sehen, unsere Kompetenzen nicht mit Ihnen teilen können.« – »Das Volk verlangt eine Regierung der nationalen Verteidigung«, sagte hartnäckig der junge Eleasar. »Eine solche Regierung wird sein, Doktor Eleasar«, erwiderte der Erzpriester, »aber ich fürchte, sie wird auf die Mitwirkung Doktor Eleasar Ben Simons verzichten müssen. Es hat in Israel in Notzeiten Regierungen gegeben«, fuhr er fort, »in denen weder ein Finanzmann saß noch ein Soldat, nur Priester und Staatsmänner. Es waren dies nicht die schlechtesten Regierungen in Israel.« Er wandte sich an die Versammlung: »Das Gesetz räumt dem Doktor Eleasar Ben Simon selbständige Entscheidung ein über die Geldbestände der Tempelverwaltung. Die Kassen der Regierung sind leer, die Geldbestände Doktor Eleasars durch die Beute von Beth Horon um mindestens zehn Mil lionen Sesterzien vermehrt. Wünschen Sie, meine Doktoren und Herren, daß wir den Doktor Eleasar in die Regierung aufnehmen?« Viele erhoben sich, mahnten unmutig, drohten zur Mäßigung. »Ich habe nichts zurückzunehmen und nichts zuzufügen«, kam nicht laut die tiefe Stimme des Erzpriesters. »Geld ist wichtig in diesen schweren Zeiten, die Aufnahme des temperamentvollen Doktor Simon in die Regierung halte ich für eine Belastung. Das Für und Wider ist klar. Wir schreiten zur Abstimmung.« – »Die Abstimmung ist nicht notwendig«, sagte grau vor Erregung Doktor Eleasar. »Ich würde den Eintritt in diese Regierung ablehnen.« Er stand auf, ging ohne Gruß aus der schweigenden Versammlung. »Wir haben weder Geld noch Soldaten«, sagte nachdenklich Doktor Jannai, der Finanzverwalter des Großen Rats. »Wir haben für uns«, sagte der Erzpriester, »Gott, das Recht und die Vernunft.«
  Es wurde das Aktionsprogramm der Regierung für die nächsten Wochen festgelegt. Das Priesterkollegium, der Große Rat, der Oberste Gerichtshof kamen bei genauer Prüfung der Sachlage zu dem Resultat: man befinde sich nicht im Krieg mit Rom. Die aufrührerischen Handlungen waren von einzelnen begangen worden, die Behörden trugen keine Verantwortung. Die jüdische Zentralregierung in Jerusalem muß, wie die Dinge nun einmal liegen, mobilisieren. Aber sie respektiert das der römischen Verwaltung direkt unterstellte Gebiet, Samaria, den Küstenstrich. Sie verbietet streng jede Handlung, die als ein Angriff gedeutet werden könnte. Ihr Programm heißt: bewaffneter Friede.
  Gegen die kühle, ruhige Haltung der alten Herren war schwer aufzukommen. Es zeigte sich sogleich, daß trotz des Sieges bei Beth Horon die »Unentwegt Rechtlichen« und die »Wahrhaft Schriftgläubigen« an der Macht bleiben würden. Josef war mit soviel Zuversicht in die Sitzung gekommen. Er wußte, das Land wird verteilt werden, bestimmt wird ein Stück davon für ihn abfallen, diesmal sicherlich wird er zwischen die satten und dennoch gefräßigen Größeren springen können und sich ein Stück erraffen. Wenn nichts anderes, so legitimierte ihn schon seine ungeheure Begier. Jetzt aber, während dieser Debatte über das Aktionsprogramm, entrann ihm jede Hoffnung wie der Wein aus durchlöchertem Schlauch. Sein Gehirn war leer. Als er kam, war er sicher gewesen, er werde etwas Bedeutsames zu sagen haben, was diese Männer bewegen mußte, ihm eine Führerstelle zu übertragen. Jetzt war er gewiß, auch dieser Tag, auch diese große Gelegenheit wird vorbeigehen, und er wird weiter unten bleiben müssen wie bisher, ein betriebsamer Streber.
  Man ernannte zur Durchführung des bewaffneten Friedens für die sieben Bezirke des Landes je zwei Volkskommissare mit diktatorischen Vollmachten. Josef saß schlaff auf seinem Platz in den hinteren Reihen. Was ging ihn das an? Ihn vorzuschlagen, darauf wird niemand kommen.
  Jerusalem Stadt und Land war vergeben, Idumäa wurde vergeben, Tamna, Gophna wurden vergeben. Jetzt ging es um den nördlichen Grenzbezirk, das reiche Bauernland Galiläa. Hier hatten die »Rächer Israels« ihre meisten Anhänger. Hier war die Freiheitsbewegung entstanden, hier waren die stärksten Wehrverbände. Man schlug vor, den alten Doktor Jannai in diese Provinz zu schicken, einen bedachtsamen, sachlichen Herrn, den besten Finanzmann des Großen Rats. Den Josef riß es aus seiner Leere. Dieses herrliche Land, mit seinen Reichtümern, mit seinen langsamen, nachdenklichen Menschen. Diese wunderbare, schwierige, verwickelte Provinz. Die wollte man dem alten Jannai geben? Ein ausgezeichneter Theoretiker, gewiß, ein verdienter Nationalökonom: aber doch kein Mann für Galiläa. Josef wollte »nein« schreien, er stand halb auf, er beugte sich vor, seine Nachbarn sahen ihn an, aber er sagte nichts, es war ja doch umsonst, er seufzte nur, mit gepreßtem Atem, einer, der viel zu sagen hat und es hinunterschluckt.
  Die ihm nahe saßen, lächelten über den unbeherrschten jungen Herrn. Noch einer hatte ihn gesehen, seine Empörung und seinen Verzicht. Er lächelte nicht. Er saß sehr viel weiter vorn als Josef. Es war ein Zufall, daß er die heftige Geste des jungen Menschen beobachtet hatte; denn er hielt gewohnheitsmäßig die meiste Zeit die gelben, zerfältelten Lider über den Augen. Es war ein kleiner Herr, uralt, welk, der Oberrichter des Landes, der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai, Rektor der Tempeluniversität. Als man nach einmütiger Wahl des Kommissars Jannai unschlüssig auf einen zweiten Vorschlag wartete, erhob er sich. Auffallend hell und lebendig standen die Augen in seinem kleinen, tausendfach zerknitterten Gesicht. Er sagte: »Ich schlage als zweiten Kommissar für Galiläa vor den Doktor Josef Ben Matthias.«
  Josef, wie jetzt alle auf ihn schauten, saß sonderbar reglos. Er hatte an diesem Tag Erwartung und Verzicht zehnmal vorgeschmeckt, hatte in seiner Phantasie Erfüllung und Enttäuschung ganz ausgekostet: jetzt traf es ihn nicht mehr, daß man seinen Namen nannte. Er saß leer, als sei die Rede von einem Dritten.
  Den andern kam der Vorschlag überraschend. Warum wohl schlug der milde und trockne Großdoktor Jochanan Ben Sakkai, der angesehene Gesetzgeber, diesen jungen Menschen vor? Der hatte sich bisher in keinem verantwortungsreichen Amt bewährt, hatte vielmehr, seitdem er durch seinen belanglosen Erfolg in der Sache der drei Unschuldigen bei den Massen Sympathien genoß, großmäulig mit seinen Neigungen für die Blaue Halle kokettiert. Hielt es der Großdoktor vielleicht für ratsam, dem alten Jannai einen jungen Herrn mitzugeben, der auch bei den »Rächern Israels« Namen hatte? Ja, so mußte es zusammenhängen. Der Vorschlag war gut. Das Feuer der Makkabi-Leute pflegt, sitzen sie erst in Amt und Würden, rasch abzuflauen. Doktor Josef wird vermutlich in Galiläa zahmer sein als in Rom und Jerusalem, und die wassernüchterne Klugheit des alten Finanztheoretikers Jannai konnte eine kleine Beimischung von dem jungen Wein dieses heftigen Josef ganz gut vertragen.
  Josef war mittlerweile aus seiner Starrheit aufgewacht. Hatte nicht eben jemand seinen Namen genannt? Jemand? Jochanan Ben Sakkai, der Großdoktor. Er hatte manchmal, als Kind, mit Scheu die leichte, segnende Hand des milden Mannes auf seinem Kopf gespürt. In Rom hatte er erfahren, daß der Alte selbst dort im Ruf eines der weisesten Menschen der Welt stand. Ganz ohne eigenes Zutun hatte Jochanan das erlangt, einfach durch die Wirkung seines Wesens. Solche stille, ehrgeizlose Art war dem Josef fremd, unheimlich geradezu, sie kratzte und bedrückte ihn, er ging dem Großdoktor am liebsten aus dem Weg. Und nun hatte der ihn vorgeschlagen.
  Er war ergriffen, als die Versammlung den Vorschlag bestätigte. Die Männer, die ihn beauftragten, waren weise und gut. Auch er wird weise und gut sein. Er wird nicht als einer der »Rächer Israels« nach Galiläa gehen, und ohne Ehrsucht. Er wird sich still und demütig halten und vertrauen, daß der rechte Geist über ihn komme.
  Zusammen mit dem alten Jannai verabschiedete er sich von dem Erzpriester. Kühl und klar wie stets steht Anan vor ihm. Seine Richtlinien sind eindeutig. Galiläa ist am meisten gefährdet. Es gilt, die Ruhe in dieser Provinz unter allen Umständen zu erhalten. »Tun Sie in zweifelhaften Fällen lieber nichts als etwas Gewagtes. Warten Sie Weisungen von Jerusalem ab. Richten Sie immer die Augen nach Jerusalem. Galiläa hat starke Bürgerwehren. Sie, meine Doktoren und Herren, haben die Aufgabe, diese Kräfte zur Verfügung Jerusalems zu halten.« Und zu Josef sagte er noch, ihn ohne Wohlwollen musternd: »Man hat Ihnen ein verantwortungsvolles Amt anvertraut. Ich hoffe, man hat sich nicht geirrt.«
  Josef hörte die Weisungen des Erzpriesters höflich, fast demütig an. Aber sie erreichten nur sein Ohr. Gewiß, solange er in Jerusalem ist, muß er auf den Erzpriester hören. Sowie er aber die Grenzen Galiläas überschritten hat, ist er nur mehr einem einzigen verantwortlich, sich selbst.
  Am Abend sagte Anan zu Jochanan Ben Sakkai: »Hoffentlich waren wir nicht voreilig, diesen Josef Ben Matthias nach Galiläa zu schicken. Er kennt nichts als seinen Ehrgeiz.« – »Mag sein«, erwiderte Jochanan Ben Sakkai, »daß es Zuverlässigere gibt als ihn. Es wird vielleicht viele Jahre hindurch scheinen, als ob er nur für sich handle. Aber solange er nicht tot ist, werde ich glauben, daß er zuletzt dennoch für uns gehandelt haben wird.«

Der neue Kommissar Josef Ben Matthias fuhr durch seine Provinz, kreuz und quer. Es war eine gute Regenzeit in diesem Jahr, Jahve war gnädig, die Zisternen füllten sich, auf den Bergen Obergaliläas lag Schnee, fröhlich prasselten die Bergbäche herunter. In der Ebene hockten die Bauern auf dem Boden, rochen an der Erde nach dem Wetter. Ja, es war ein reiches Land, fruchtbar, mannigfach mit seinen Tälern, Hügeln, Bergen, mit seinem See Genezareth, dem Fluß Jordan, der Meeresküste, mit seinen zweihundert Städten. Ein wahrer Garten Gottes, lag es in seiner zauberisch hellen Luft. Josef dehnte die Brust. Er hat es erreicht, er ist sehr hoch gestiegen, es ist herrlich, Herr dieser Provinz zu sein. Wer mit Vollmachten wie er in dieses Land kommt, der muß seinem Namen weithin und für immer Geltung verschaffen, oder er ist ein Unfähiger.

  Aber nach wenigen Tagen schon begann ein tiefes Mißbehagen an ihm zu fressen, und es fraß weiter mit jedem Tag. Er studierte die Akten, die Archive, er ließ die Gauvorsteher kommen, verhandelte mit den Bürgermeistern, den Priestern, den Vorstehern der Synagogen und Lehrhäuser. Er versuchte zu organisieren, gab Weisungen, man pflichtete ihm höflich bei, man führte seine Weisungen aus; aber er spürte deutlich, man tat das ohne Glauben, seine Maßnahmen blieben ohne Wirkung. Die gleichen Dinge sahen sich anders an in Jerusalem, anders in Galiläa. Wenn nach Jerusalem immer wieder Klagen kamen, wie sehr das Land unter den drückenden Steuern leide, dann zuckte man dort die Achseln, führte Ziffern an, belächelte die Beschwerden Galiläas als das übliche Gejammer und trieb, unter dem Schutz der römischen Waffen, die Steuern weiter ein wie bisher. Jetzt vergleicht Josef, die Lippen verpreßt, die galiläische Wirklichkeit mit den Jerusalemer Ziffern. Mit finsteren Augen sieht er: die Klagen dieser galiläischen Bauern, Fischer, Handwerker, Hafen- und Fabrikarbeiter sind kein leeres Gejammer. Sie sitzen im Gelobten Land, aber die Reben des Landes wachsen nicht für sie. Das Fett des Landes geht, nach Cäsarea an die Römer, sein Öl an die großen Herren nach Jerusalem. Da ist die Bodenabgabe: von der Kornfrucht der dritte Teil, vom Wein und vom Öl die Hälfte, vom Obst der vierte Teil. Dann der Tempelzehnt, die jährliche Kopfsteuer für den Tempel, die Wallfahrtssteuern. Dann die Auktionsabgaben, die Salzsteuer, die Wege- und Brückengelder. Hier Steuern, dort Steuern, überall Steuern.
  Je nun, diese finanziellen Dinge sind Sache seines Kollegen Jannai. Aber Josef kann es den Leuten von Galiläa nicht verdenken, wenn sie finster blicken auf die Doktoren der Quadernhalle, die ihnen durch schlaue und verzwickte Ausdeutung der Schrift ihr Bestes wegeskamotieren, und auf ihn, ihren Vertreter. Er hat in Rom und Jerusalem gelernt, wie man Mißvergnügte behandelt, mit kleinen Erleichterungen, mit ernsten und milden Reden, mit feierlichen Kundgebungen und billigen Ehren. Aber mit diesen Mitteln kommt er hier nicht weiter.
  In Jerusalem hat man hochmütig gekrümmte Lippen für die Leute von Galiläa: das ist Landvolk, das sind Provinzler, ohne Bildung, von groben Manieren. Schon in der ersten Woche muß Josef diese billige Hoffart abtun. Gewiß, die Leute hier sind lax in der Erfüllung der Gebote, die gelehrte Ausdeutung der Schrift gilt ihnen wenig. Aber dann wieder sind sie sonderbar streng und fanatisch. Sie wollen sich durchaus nicht zufriedengeben mit dem, was ist. Sie sagen, Staat und Leben müßten in den Grundlagen geändert werden; erst dann könnten die Worte der Schrift sich erfüllen. Alle hier im Land können sie das Buch des Propheten Jesaja auswendig. Die Viehtreiber reden vom ewigen Frieden, die Hafenarbeiter vom Reich Gottes auf Erden; unlängst hat ihn ein Tuchwirker korrigiert, als er ein Zitat aus dem Ezechiel nicht im Wortlaut brachte. Es sind langsame Leute, schwerfällig, ruhig und friedlich im äußern Gehabe, aber in ihrem Innern sind sie keineswegs friedlich, da sind sie gewalttätig, alles erwartend und zu allem bereit. Josef spürt deutlich: das sind Leute für ihn. Ihr dumpfer, wilder Glaube ist eine festere Basis für einen Mann und ein großes Unternehmen als die kahle Gelehrsamkeit, die glatte Skepsis Jerusalems.