Genau ein Jahrzehnt
verging seit dem Erscheinen des
„Jüdischen Krieges“, bis
die ursprünglich auf zwei Bände
bemessene Romantrilogie
über den Geschichtsschreiber Fla
vius Josephus im Jahre
1942 dem ausländischen Leserpubli
kum vorlag. Die deutschen
Leser allerdings mußten infolge
Faschismus und Krieg fast
ein weiteres Jahrzehnt warten;
für sie bedeutete dieses
Werk literarisches Neuland.
Verschmolzen mit einem
farbigen historischen Gemälde
römischer Staats- und
Machtverhältnisse im ersten Jahr
hundert u. Z., wird darin
das an Höhepunkten, Leidenschaf
ten und Enttäuschungen
reiche Leben des Juden Josef Ben
Matthias geschildert, des
Vertrauten am Hofe der flavischen
Kaiser Vespasian, Titus
und Domitian.
Der vorliegende erste
Band der Trilogie erzählt die
erschütternde Tragödie
des jüdischen Volkes, das nach
der Zerstörung Jerusalems
endgültig an den kaiserlichen
römischen
Herrschaftsbereich gefesselt wird.
Lion
Feuchtwanger
Der
jüdische Krieg
Roman
AUFBAU-VERLAG
Die „Josephus“-Trilogie umfaßt die Romane
DER JÜDISCHE KRIEG
DIE SÖHNE
DER TAG WIRD KOMMEN
„Der jüdische Krieg“ erschien erstmalig im
Jahre 1932, „Die Söhne“ im Jahre 1935, „Der Tag wird kommen“ in
englischer Übersetzung 1942,
in deutscher Sprache 1945
5. Auflage 1989
Alle Rechte Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
© Marta Feuchtwanger 1960
Einbandgestaltung Heinz Unzner
Karl-Marx-Werk, Graphischer Großbetrieb, Pößneck V 15/3o
Printed in the German Democratic Republic
Lizenznummer 301.120/113/89
Bestellnummer 611362 5
I-III 03150
Feuchtwanger, Ges. Werke
ISBN 3-351-00623-3
Bd. 2-4
ISBN 3-351-00681-0
ERSTES
BUCH
ROM
echs Brücken
führten über den Fluß Tiber. Blieb man auf der rechten Seite, dann
war man gesichert; hier
waren die
Straßen voll von Männern, die man schon an ihren Bärten als Juden
erkannte; überall sah man jüdische, aramäische Inschriften, und mit
einem bißchen Griechisch kam man leicht durch. Aber sowie man eine
der Brücken überschritt und sich auf die linke Seite des Tiber
wagte, dann war man wirklich in der großen, wilden Stadt Rom, ein
Fremder, hoffnungslos allein. Dennoch schickte Josef den Knaben
Cornel, seinen beflissenen kleinen Führer, an der Emiliusbrücke
zurück; er wollte endlich allein zurechtkommen, schon um sich seine
Eignung und Geschicklichkeit zu beweisen. Der kleine Cornel hätte
seinen Fremden gern noch weiter begleitet. Josef schaute ihm nach,
wie er zögernd über die Brücke zurückschritt, und unvermittelt, mit
scherzhaft liebenswürdigem Lächeln, streckte er, der Jude Josef,
den Arm mit der geöffneten Hand aus, grüßte den Knaben auf römische
Art, und der Judenknabe Cornel, lächelnd auch er, gab gegen das
Verbot des Vaters den Gruß auf römische Art zurück. Dann bog er
links ein hinter das hohe Haus, und jetzt war er fort, und jetzt
war Josef allein, und jetzt wird sich zeigen, wieweit sein Latein
stichhält. So viel weiß er: hier vor ihm ist der Rindermarkt, und
rechts dort ist die Große Rennbahn, und dort irgendwo, auf dem
Palatin und dahinter, wo die vielen kribbelnden Menschen sind, baut
der Kaiser sein neues Haus, und links hier durch die Tuskerstraße
geht es zum Forum, und Palatin und Forum sind das Herz der Welt. Er
hat viel über Rom gelesen, aber es nützt ihm wenig. Der Brand vor
drei Monaten hat die Stadt sehr verändert. Er hat gerade die vier
Bezirke im Zentrum zerstört, über dreihundert öffentliche Gebäude,
an sechshundert Paläste und Einfamilienhäuser, mehrere tausend
Miethäuser. Es ist ein Wunder, wieviel diese Römer in der kurzen
Zeit schon neu gebaut haben. Er mag sie nicht, die Römer, er haßt
sie geradezu, aber das muß er ihnen lassen: Organisationstalent
haben sie, sie haben ihre Technik: Technik, er denkt das fremde
Wort, denkt es mehrmals, in der fremden Sprache. Er ist nicht dumm,
er wird diesen Römern von ihrer Technik etwas abluchsen.
Er schreitet energisch los.
Schnuppert neugierig und erregt die Luft dieser fremden Häuser und
Menschen, in deren Belieben es steht, ihn hochzuheben oder unten zu
halten. Bei ihm zu Hause, in Jerusalem, ist dieser Monat Tischri
auch in seiner letzten Woche noch sehr heiß; aber hier in Rom heißt
er September, und heute jedenfalls atmet es sich frisch und
angenehm. Ein leichter Wind lockert ihm das Haar auf, er trägt es
etwas lang für römische Verhältnisse. Eigentlich sollte er
überhaupt einen Hut aufhaben; denn es gehört sich für einen Juden
in seiner Stellung, im Gegensatz zu den Römern, nur mit bedecktem
Kopf auszugehen. Ach was, hier in Rom laufen die meisten Juden
genauso barhaupt wie die andern, zumindest wenn sie die
Tiberbrücken hinter sich haben. Seine jüdische Gesinnung wird nicht
lauer, auch wenn er keinen Hut trägt.
Jetzt steht er vor der Großen
Rennbahn. Hier ist alles voll von Trümmerwerk, hier war der
Ursprung des Brandes. Immerhin, die Steinteile der Grundform sind
intakt. Eine Riesensache, diese Große Rennbahn. Man braucht an die
zehn Minuten, um ihre Länge auszuschreiten. Das Stadion in
Jerusalem und das in Cäsarea sind wahrhaftig nicht klein, aber vor
diesem Bauwerk wirken sie wie Spielzeug.
Im Innern der Rennbahn schichtet
es sich, Steine und Holz, es wird gearbeitet. Neugierige treiben
sich herum, Kinder, Bummler. Josef hat seine Garderobe noch nicht
ganz der Hauptstadt angepaßt; dennoch, wie er so einherschlendert,
jung, schlank, stattlich, mit Augen, die nach allem greifen, wirkt
er elegant, nicht knauserig, ein Herr. Man drängt sich an ihn,
bietet ihm Amulette an, Reiseandenken, eine Nachahmung des Obelisk,
der fremd und feierlich in der Mitte der Rennbahn steht. Ein
autorisierter Fremdenführer will ihm alle Einzelheiten zeigen, die
kaiserliche Loge, das Modell des Neubaus. Aber Josef winkt mit
gespielter Lässigkeit ab. Er steigt allein herum zwischen den
Steinbänken, als sei er hier bei den Rennen ständiger Zuschauer
gewesen.
Das hier unten sind offenbar die
Bänke der Hocharistokratie, des Senats. Niemand wehrt ihm, sich auf
einen dieser vielbegehrten Sitze niederzulassen. Man sitzt gut hier
in der Sonne. Er lockert seine Haltung, stützt den Kopf in die
Hand,
schaut blicklos nach dem Obelisk in der
Mitte.
Eine bessere Zeit für sein
Vorhaben als diese Monate jetzt nach dem großen Brand hätte er
nicht erwischen können. Die Leute sind gut aufgelegt, empfänglich.
Die Energie, mit der der Kaiser sich an den Wiederaufbau der Stadt
gemacht hat, wirkt belebend auf alle. Überall regt es sich, ringsum
ist Zuversicht und Geschäft, helle, frische Luft, sehr anders als
die schwierige, stickige Atmosphäre Jerusalems, in der er nicht
weiterkam.
In der Großen Rennbahn, auf der
Bank des Senats, in der angenehmen Sonne dieses faulen
Frühnachmittags, inmitten des Lärms des wieder aufzubauenden Rom
überprüft Josef leidenschaftlich und doch kühl wägend seine
Chancen. Er ist sechsundzwanzig Jahre alt, er hat alle
Voraussetzungen einer großen Laufbahn, Herkunft aus adligem Haus,
gründliche Bildung, staatsmännisches Geschick, rasenden Ehrgeiz.
Nein, er will nicht in Jerusalem versauern. Er ist seinem Vater
dankbar, daß der an ihn glaubt und ihm erwirkt hat, daß man ihn
nach Rom schickte.
Seine Mission hier ist allerdings
recht fragwürdig. Juristisch betrachtet, hat der Große Rat von
Jerusalem weder Anlaß noch Legitimation, in dieser Sache einen
Sondergesandten nach Rom abzuordnen. Josef hat auch aus allen
Winkeln seines Hirns Argumente zusammenkratzen müssen, bis die
Herren in Jerusalem zögernd nachgaben.
Also: die drei Mitglieder des
Großen Rats, die der Gouverneur Anton Felix vor nunmehr zwei Jahren
als Aufrührer an das Kaiserliche Tribunal nach Rom geschickt hat,
sind zu Unrecht zu Zwangsarbeit verurteilt. Gewiß, die drei Herren
waren in Cäsarea gewesen, als dort die Juden während der
Wahlunruhen die kaiserlichen Insignien vor der Residenz des
Gouverneurs herunterholten und zerbrachen: aber sie selber hatten
sich an dem aufrührerischen Akt nicht beteiligt. Wenn der
Gouverneur gerade diese drei hochgestellten Greise herausgegriffen
hatte, so war das Willkür gegen Unschuldige, ein skandalöser
Übergriff, eine Beleidigung des gesamten jüdischen Volkes. Josef
sah hier die ersehnte, große Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Er
hat neue Zeugen für die Unschuld der drei aufgetrieben, er hofft,
am kaiserlichen Hof ihre Rehabilitierung oder wenigstens ihre
Begnadigung durchzusetzen.
Die römischen Juden freilich, das
hat er gemerkt, werden sich nicht übermäßig anstrengen, ihm bei
seiner Mission zu helfen. Der Möbelfabrikant Cajus Barzaarone,
Präsident der Agrippenser-Gemeinde, bei dem er wohnt und an den er
gute Empfehlungen seines Vaters mitbringt, hat ihm in Andeutungen,
schlau, wohlwollend und vorsichtig die Situation erklärt. Den
hunderttausend Juden in Rom geht es nicht schlecht. Sie leben in
Frieden mit der übrigen Bevölkerung. Sie sehen mit Unbehagen, wie
in Jerusalem die nationale, Rom feindliche Partei der »Rächer
Israels« zu immer größerem Einfluß kommt. Sie denken gar nicht
daran, ihre angenehme Lage zu gefährden, indem sie sich einmengen
in die ständigen Reibereien der Jerusalemer Herren mit Rom und der
kaiserlichen Verwaltung. Nein, das Wesentliche wird Josef selber
schaffen müssen.
Vor ihm schichtete es sich, Stein
und Holz, Ziegel, Säulen, Marmor jeder Farbe. Das Bauwerk stieg
empor, sichtbar fast. Wenn er nach einer halben Stunde oder einer
Stunde hier weggeht, dann wird es gewachsen sein, nicht um viel, um
ein Tausendstel vielleicht seines bestimmten Maßes, aber eben das
genaue für diese Stunde bestimmte Maß wird erreicht sein. Aber auch
er hat etwas erreicht in dieser Zeit. Sein Drang nach vorwärts ist
heißer geworden, brennender, unwiderstehlich. Jeder Schlag, jedes
Hämmern und Sägen, das von den Bauleuten herdringt, schlägt,
hämmert, sägt an ihm, während er scheinbar gelassen, ein Bummler
wie die vielen andern, in der Sonne hockt. Er wird viel zu schaffen
haben, bis er seine drei Unschuldigen aus dem Kerker herausholt,
aber er wird es schaffen.
Schon kommt er sich nicht mehr so
klein und arm vor wie an seinem ersten Tag. Sein Respekt vor den
fleischigen, zugesperrten Gesichtern der Leute hier hat sich
gemindert. Er hat gesehen, diese Römer sind kleiner von Wuchs als
er. Er geht schlank und groß unter ihnen herum, und die Frauen in
Rom drehen den Kopf nicht weniger nach ihm als die in Jerusalem und
Cäsarea. Irene, die Tochter des Gemeindepräsidenten Cajus, ist,
ihren Vater störend, ins Zimmer zurückgekehrt, sicher nur, weil er
da war. Er hat einen guten Körper, ein rasches, wendiges Gehirn.
Mit einundzwanzig Jahren hat er sich den großen Doktortitel der
Tempelhochschule in Jerusalem geholt, er beherrscht das ganze,
verzweigte Gebiet der juristischen und theologischen
Schriftdeutung. Und hat er nicht sogar zwei Jahre als Eremit
gelebt, in der Wüste, bei dem Essäer Banus, um sich hier die reine
Schau anzueignen, die Versenkung in sich, die Intuition? Nichts
fehlt ihm als die unterste Sprosse der Leiter, der eine günstige
Augenblick. Aber er wird kommen, er muß kommen.
Der junge Literat und Staatsmann
Josef Ben Matthias kniff die Lippen zusammen. Warten Sie, meine
Herren vom Großen Rat, meine hochmütigen Herren von der
Quadernhalle des Tempels. Sie haben mich geduckt, Sie haben mich
unten gehalten. Wenn mein Vater zu den Spesen, die mir Ihr
Tempelfonds bewilligte, nicht noch einiges zugegeben hätte, dann
hätte ich nicht hierher fahren können. Aber jetzt sitze ich hier in
Rom als Ihr Delegierter. Und, seien Sie überzeugt, ich werde das
ausnützen. Ich werde es Ihnen zeigen, meine Doktoren und
Herren.
Die Leute im Innern der Großen
Rennbahn riefen einander zu, standen auf, schauten alle nach
einer Richtung. Vom Palatin kam es
glitzernd herunter, ein großer Trupp, Vorläufer, Pagen, Gefolge,
Sänften. Auch Josef erhob sich, wollte sehen. Gleich war auch der
Führer von vorhin wieder an seiner Seite, und diesmal wies ihn
Josef nicht zurück. Es war nicht der Kaiser, nicht einmal der
Gardekommandant, es war ein Senator oder sonst ein großer Herr, der
sich von dem Architekten Celer durch den Neubau der Rennbahn führen
ließ.
Neugierige drängten näher, von
Polizei und der Dienerschaft des Architekten und seiner Begleiter
zurückgehalten. Es gelang dem geschickten Führer, mit Josef in die
erste Reihe vorzustoßen. Ja, wie er schon an der Livree der Pagen,
Läufer und Lakaien erkannt hatte, es war der Senator Marull, der
sich die Rennbahn zeigen ließ. Ungefähr wußte selbst Josef, wer das
war; denn wie in allen Provinzen, so erzählte man sich auch in
Jerusalem wilde Geschichten über diesen Marull als über einen der
ersten Lebemänner des Hofs, der den Kaiser in allen Fragen
raffinierten Genusses unterwies. Übrigens sollten auch gewisse
volkstümliche Possen, die frechen Revuen zum Beispiel, die der
große Komiker Demetrius Liban aufführte, ihn zum Autor haben.
Gierig beschaute Josef den vielgenannten Herrn, der lässig in
seinem Tragstuhl den Erklärungen des Architekten zuhörte, manchmal
den blickschärfenden Smaragd seines Lorgnons zum Auge
führend.
Ein anderer Herr fiel Josef auf,
den man mit der größten Achtung behandelte. Aber war das denn
überhaupt ein Herr? Er war aus seiner Sänfte herausgestiegen;
schlecht und lotterig angezogen, schlurfte er zwischen dem ringsum
geschichteten Baumaterial, dicklich, mit unordentlich rasiertem,
fleischigem Kopf, schwere, schläfrige Augen unter einer vorgebauten
Stirn. Er hörte nur halb hin auf die Ausführungen des Architekten,
hob ein Stück Marmor hoch, drehte es in seinen fetten Fingern,
brachte es ganz nah an seine Augen, roch daran, warf es wieder weg,
nahm einem Maurer sein Werkzeug aus der Hand, betastete es. Setzte
sich schließlich auf einen Block, schnürte ächzend seine
aufgegangenen Schuhe neu, die Hilfe eines herbeigeeilten Lakaien
unwillig abweisend. Ja, der Führer kannte auch ihn; es war Claudius
Regin. »Der Verleger?« fragte Josef. Möglich, daß er auch Bücher
verkaufte, aber davon wußte der Führer nichts. Der kannte ihn als
Hofjuwelier des Kaisers. Ein sehr einflußreicher Herr jedenfalls,
ein großer Finanzmann, trotzdem er sich geradezu armselig in seiner
Kleidung gab und so wenig Gewicht auf Zahl und Prunk seines
Gefolges legte. Sehr merkwürdig; denn er war noch als Leibeigener
geboren, Sohn eines sizilischen Vaters und einer jüdischen Mutter,
und diese heraufgekommenen Herren beliebten sonst eine glänzende
Aufmachung. Eine fabelhafte Karriere hatte dieser Claudius Regin
hinter sich, das war gewiß, mit seinen zweiundvierzig Jahren. Es
gab unter der unternehmungslustigen Regierung des jetzigen Kaisers
viele Geschäfte, dicke Geschäfte, und Claudius Regin hatte seine
Hand in allen. Ein großer Teil der ägyptischen und der libyschen
Getreideflotte gehörte ihm, seine Silos in Puteoli und Ostia waren
Sehenswürdigkeiten.
Der Senator Marull und der
Hofjuwelier Claudius Regin unterhielten sich laut und ungeniert, so
daß die erste Reihe der Neugierigen, in der Josef stand, jedes Wort
hören konnte. Josef erwartete, die beiden Männer, deren Namen in
den literarischen Zirkeln der ganzen Welt mit Achtung genannt
wurden, denn Claudius Regin galt als der erste Verleger Roms,
würden bedeutsame ästhetische Anschauungen austauschen über den
Neubau der Rennbahn. Er lauschte gespannt. Er konnte dem hurtigen
Latein der beiden nicht folgen, aber so viel merkte er, es ging
nicht um Ästhetisches oder Weltanschauliches: man sprach von
Preisen, Kursen, Geschäften. Deutlich hörte er die helle, nasale
Stimme des Senators, der im Ton vergnügter Nekkerei aus seiner
Sänfte her fragte, so laut, daß man es weithin vernahm: »Verdienen
Sie eigentlich auch an der Großen Rennbahn, Claudius Regin?« Der
Juwelier, er saß auf einem Steinblock in der Sonne, die Hände
bequem auf den dicken Schenkeln, erwiderte, unbekümmert auch er:
»Leider nein, Senator Marull. Ich dachte, bei den Lieferungen für
die Rennbahn habe unser Architekt Sie in das Geschäft genommen.«
Josef konnte noch mehr hören von dem Gespräch der beiden Herren,
aber mangelnde Sprach- und Fachkenntnis hinderte ihn am Verstehen.
Der Führer, selber nicht recht informiert, suchte zu helfen.
Claudius Regin hatte offenbar ebenso wie der Senator Marull
rechtzeitig in den wenig bebauten Vierteln der Außenbezirke riesige
Terrains billig erworben; jetzt, nach dem großen Brand, schuf der
Kaiser in der Innenstadt Raum für seine öffentlichen Bauten und
drängte die Miethäuser in die Außenbezirke ab; man konnte gar nicht
zu Ende rechnen, welchen Wert die Außenterrains gewonnen
hatten.
»Ja, ist es denn nicht verboten,
daß Mitglieder des Senats Geschäfte machen?« fragte plötzlich Josef
den Führer. Der Führer schaute seinen Fremden verblüfft an. Einige
ringsum hatten gehört, sie lachten, andere lachten mit, man gab die
Frage des Mannes aus der Provinz weiter, und plötzlich war da ein
schallendes Gelächter, sich über die ganze riesige Rennbahn
fortpflanzend.
Der Senator Marull fragte nach
dem Grund. Ein kleiner Raum wurde frei um Josef, unvermittelt stand
er Aug in Aug mit den beiden großen Herren. »Paßt Ihnen was nicht,
junger Mann?« fragte aggressiv, doch nicht ohne Spaß der Dicke; er
saß auf seinem Steinblock, die Unterarme auf den massigen Schenkeln
wie die Statue eines ägyptischen Königs. Eine helle Sonne schien
nicht zu heiß, leichter Wind ging, ringsum war gute Laune. Das
zahlreiche Gefolge hörte vergnügt der Unterhaltung der beiden
Herren mit dem Mann aus der Provinz zu.
Josef stand bescheiden,
keineswegs verlegen. »Ich bin erst seit drei Tagen in Rom«, sagte
er in etwas mühsamem Griechisch. »Ist es ungewöhnlich dumm, wenn
ich mich in den Mietverhältnissen dieser großen Stadt noch nicht
zurechtfinde?« – »Woher sind Sie denn?« fragte aus seiner Sänfte
der Senator. »Aus Ägypten?« fragte Claudius Regin. »Ich bin aus
Jerusalem«, erwiderte Josef, und er nannte seinen ganzen Namen:
Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe. »Das ist viel, für
Jerusalem«, meinte der Senator, und es war nicht recht zu erkennen,
ob es Ernst oder Spaß war. Der Architekt Celer zeigte sich
ungeduldig, er wollte den Herren seine Projekte erklären, es waren
große Projekte voll Einfall und Kühnheit, und er wollte sich durch
den läppischen Provinzler nicht stören lassen. Allein der
Finanzmann Claudius Regin war neugierig von Natur, und er saß
bequem auf seinem warmen Steinblock und fragte seinen jungen Juden
aus. Josef gab bereitwillig Auskunft. Er wollte möglichst Neues und
Interessantes erzählen, sich und sein Volk wichtig machen. Ob es
auch hier in Rom vorkomme, fragte er, daß ein Haus vom Aussatz
befallen werde. Nein, sagte man ihm, das komme nicht vor. Aber in
Judäa, berichtete Josef, ereigne es sich zuweilen. Es zeigten sich
dann in den Mauern kleine rötliche oder grünliche Vertiefungen.
Manchmal gehe das so weit, daß man das Haus abbrechen müsse.
Manchmal könne der Priester helfen, aber die Zeremonie sei nicht
einfach. Der Priester müsse die erkrankten Steine herausbrechen
lassen, dann müsse er zwei Vögel nehmen, Zedernholz,
scharlachfarbene Wolle und Ysop. Mit dem Blut des einen Vogels
müsse er das Haus besprengen, siebenmal, den andern Vogel aber
müsse er vor der Stadt auf offenem Feld freilassen. Dann sei das
Haus versöhnt und rein. Die ringsum hörten den Bericht mit
Interesse und die meisten ohne Spott; denn sie hatten Sinn für
Absonderliches und liebten das Unheimliche.
Der Juwelier Claudius Regin
beschaute aus seinen schläfrigen Augen ernsthaft den eifrigen,
hageren jungen Mann. »Sind Sie in Geschäften hier, Doktor Josef«,
fragte er, »oder wollen Sie sich einfach den Wiederaufbau unserer
Stadt anschauen?« – »Ich bin in Geschäften hier«, antwortete Josef.
»Ich habe drei Unschuldige zu befreien. Das gilt bei uns als
dringliches Geschäft.« – »Ich fürchte nur«, meinte leicht gähnend
der Senator, »wir sind im Augenblick mit dem Wiederaufbau so stark
beschäftigt, daß wir wenig Zeit haben für die Details von drei
Unschuldigen.«
Der Architekt sagte ungeduldig:
»Für die Brüstung der kaiserlichen Loge verwende ich diesen grün
und schwarz gesprenkelten Serpentin. Man hat mir ein besonders
schönes Stück aus Sparta geschickt.« – »Ich habe die Neubauten in
Alexandrien gesehen jetzt auf der Herreise«, sagte Josef, er wollte
sich nicht aus der Unterredung drängen lassen. »Die Straßen dort
sind breit, hell und gerade.« Der Architekt sagte abschätzig:
»Alexandrien aufbauen kann jeder Steinklopfer. Dort haben sie Raum,
ebene Fläche.« – »Beruhigen Sie sich, Meister«, sagte mit seiner
hohen, fettigen Stimme Claudius Regin. »Daß Rom was anderes ist als
Alexandrien, sieht auch ein Blinder.«
»Lassen Sie mich den jungen Herrn
belehren«, sagte lächelnd der Senator Marull. Er war angeregt, er
hatte Lust, sich zu produzieren, wie das auch der Kaiser Nero
liebte und sehr viele große Herren des Hofs. Er ließ die Vorhänge
seiner Sänfte weiter zurückschlagen, daß alle ihn sehen konnten,
das magere, gepflegte Gesicht, den senatorischen Purpurstreif
seines Kleides. Er beschaute den Mann aus der Provinz durch den
Smaragd seines Lorgnons. »Ja, junger Herr«, sagte er mit seiner
nasalen, ironischen Stimme, »wir sind zur Zeit noch im Aufbau und
nicht ganz komplett. Immerhin können Sie auch ohne viel Phantasie
jetzt schon erkennen, was wir für eine Stadt sein werden, noch
bevor dieses Jahr zu Ende ist.« Er richtete sich etwas höher,
streckte den Fuß vor, der in dem hochgesohlten, roten, dem Ersten
Adel vorbehaltenen Schuh stak, nahm, leicht parodierend, den Ton
eines Marktschreiers an. »Ohne Übertreibung darf ich behaupten: wer
das goldne Rom nicht kennt, kann nicht sagen, daß er wahrhaft
gelebt hat. Wo immer in Rom Sie sich befinden, Herr, Sie sind stets
in der Mitte, denn wir haben keine Grenze, wir verschlingen immer
mehr von den umliegenden Ortschaften. Sie hören hier hundert
Sprachen. Sie können hier die Besonderheiten aller Völker
studieren. Wir haben hier mehr Griechen als Athen, mehr Afrikaner
als Karthago. Sie können hier auch ohne Weltreise alle Produkte der
Welt antreffen. Sie finden Ladungen aus Indien und Arabien in
solcher Quantität, daß Sie zu der Überzeugung gelangen müssen, in
Zukunft sei dort das Land für immer entblößt, und wenn jene Völker
den Bedarf an ihren eigenen Erzeugnissen decken wollen, müssen sie
zu uns kommen. Was wünschen Sie, mein Herr, spanische Wolle,
chinesische Seide, Alpenkäse, arabische Parfüms, medizinische
Drogen aus dem Sudan? Sie bekommen eine Prämie, wenn Sie etwas
nicht finden. Oder wünschen Sie die neuesten Nachrichten? Man ist
auf dem Forum und dem Marsfeld genau informiert, wenn in
Oberägypten die Getreidekurse sinken, wenn ein General am Rhein
eine törichte Rede hielt, wenn unser Gesandter am Hof des
Partherkönigs durch zu lautes Niesen unangenehmes Aufsehen erregte.
Kein Gelehrter kann arbeiten ohne unsere Bibliotheken. Wir haben so
viele Statuen wie Einwohner. Wir zahlen die höchsten Preise für
Tugend und für Laster. Was Ihre Phantasie sich ausdenken kann,
finden Sie bei uns; aber Sie finden viel mehr, was Ihre Phantasie
sich nicht ausdenken kann.«
Der Senator hatte sich aus der
Sänfte vorgeneigt; ringsum im weiten Umkreis hörte man zu. Er hatte
die ironische Pose bis zum Schluß durchgehalten, die Imitation
eines Advokaten oder Marktschreiers, aber es klang warm durch seine
Worte, und alle spürten, daß diese große Lobrede auf die Stadt mehr
war als Parodie. Hingerissen hörten sie zu, wie die Stadt gerühmt
wurde, ihre Stadt, mit ihren gesegneten Tugenden und ihren
gesegneten Lastern, Stadt der Reichsten und der Ärmsten,
lebendigste Stadt der Welt. Wie im Theater dem gefeierten
Schauspieler jubelten sie dem Senator Beifall, als er zu Ende war.
Der Senator Marull aber hörte schon nicht mehr hin, hatte auch
keinen Blick mehr für Josef. In seiner Sänfte verschwand er, winkte
den Architekten heran, ließ sich das Modell des Neubaus erklären.
Auch der Juwelier Claudius Regin richtete nicht mehr das Wort an
Josef. Immerhin hatte er, als Josef vom Strudel der sich
zerstreuenden Menge weggerissen wurde, für ihn ein Zwinkern
ironischer Aufmunterung, das sein fleischiges Gesicht sonderbar
schlau veränderte.
Nachdenklich, ohne Blick für die
Umwelt, oft angerempelt, schob sich Josef durch das Gewimmel der
Stadt. Er hatte die lateinische Rede des Senators nicht ganz
verstanden, aber sie wärmte auch ihm das Herz und gab seinen
Gedanken Flug. Er stieg hinauf auf das Capitol, sog ein den Anblick
der Tempel, Straßen, Denkmäler, Paläste. In dem Goldenen Haus, das
dort errichtet wurde, regierte der römische Kaiser die Welt, und
vom Capitol erließen Senat und Volk von Rom Beschlüsse, die die
Welt änderten, und dort in den Archiven, in Erz gegraben, lag die
Ordnung der Welt, wie Rom sie ordnete. Rom hieß Kraft, er sprach
das Wort vor sich hin: Rom, Rom, und dann übersetzte er es ins
Hebräische, da hieß es: Gewurah und klang viel weniger furchtbar,
und dann übersetzte er es ins Aramäische, da hieß es: Kochah und
hatte alle seine Drohung verloren. Nein, er, Josef, Sohn des
Matthias aus Jerusalem, Priester der Ersten Reihe, hatte keine
Angst vor Rom.
Er schaute über die Stadt hin,
sie belebte sich immer mehr, die Zeit des großen Nachmittagverkehrs
war da. Geschrei, Gewimmel, Geschäftigkeit. Er trank in sich das
Bild der Stadt, aber dahinter, wirklicher als dieses wirkliche Rom,
sah er seine Heimatstadt, die Quadernhalle des Tempels, in der der
Große Rat tagte, und wirklicher als den Lärm des Forums hörte er
das gelle Getöse der Ungeheuern Schaufelpfeife, die bei
Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang über Jerusalem hin und bis
nach Jericho verkündete, daß jetzt das tägliche Brandopfer am Altar
Jahves dargebracht werde. Josef lächelte. Nur wer in Rom geboren
ist, kann Senator werden. Dieser Herr Marull sieht stolz und
turmhoch aus seiner Sänfte und steckt seinen Fuß in den roten,
hochgesohlten, schwarzgeriemten Schuh der vierhundert Senatoren.
Aber er, Josef, zieht es vor, in Jerusalem geboren zu sein,
trotzdem er nicht einmal den Ring des Zweiten Adels hat. Diese
Römer lächelten über ihn: aber tiefer lächelte er über sie. Was sie
geben konnten, die Männer des Westens, ihre Technik, ihre Logik,
das konnte man lernen. Was man nicht lernen konnte, das war die
Schaukraft des Ostens, seine Heiligkeit. Die Nation und Gott,
Mensch und Gott waren dort eins. Aber es war ein unsichtbarer Gott,
er konnte nicht geschaut werden und nicht gelernt. Man hatte ihn
oder hatte ihn nicht. Er, Josef, hatte es, dieses Unlernbare. Und
daß er das andere lernen werde, die Technik und die Logik des
Westens, daran zweifelte er nicht.
Er ging das Capitol hinunter.
Seine langen, heftigen Augen brannten aus dem blaßbraunen,
knochigen Gesicht. Man wußte in Rom, daß unter den Leuten aus dem
Osten viele von ihrem Gott Besessene waren. Man schaute ihm nach,
manche ein wenig spöttisch, einige wohl auch mit Neid, aber den
meisten, den Frauen vor allem, gefiel er, wie er einherging, voll
von Träumen und Ehrgeiz.
Cajus Barzaarone, Präsident der
Agrippenser-Gemeinde, bei dem Josef wohnte, war Inhaber der
blühendsten Kunstmöbelfabrik in Rom. Seine Hauptmagazine lagen auf
der andern Seite des Tiber, in der eigentlichen Stadt, ein
Kleinbürgerladen in der Subura, die beiden großen Luxusgeschäfte in
den Arkaden des Marsfelds; an Werktagen war auch sein geräumiges
Privathaus im Judenviertel in der Nähe des Drei-Straßen-Tors
vollgestopft mit Dingen seines Betriebs. Heute aber, am Vorabend
des Sabbat, war keine Spur davon zu merken. Das ganze Haus, vor
allem das geräumige Speisezimmer, schien Josef heute verwandelt.
Sonst lag der Raum gegen den Hof offen; heute war er durch einen
mächtigen Vorhang abgeschlossen, und Josef erkannte wohlig
angerührt den Brauch der Heimat, die Sitte Jerusalems. Er wußte:
solange dieser Vorhang geschlossen blieb, war ein jeder im
Speisezimmer als Gast willkommen. Wurde er zurückgerafft, so daß
die freie Luft hereinströmte, dann begann das Mahl, und wer dann
kam, kam zu spät. Auch war der Raum heute nicht nach römischer Art,
sondern nach dem Brauch Judäas erleuchtet: silberne, mit
Veilchengirlanden geschmückte Lampen hingen von der Decke. Auf dem
Büfett, auf dem Tafelgeschirr, auf Bechern, Salzfässern, Öl-,
Essig- und Gewürzflaschen, glänzte das Emblem Israels, die
Weintraube. Zwischen den vielen Geräten aber, und das rührte Josefs
Herz wohliger als aller Glanz, standen strohumhüllte Wärmekisten;
denn am Sabbat durfte nicht gekocht werden, deshalb waren die
Speisen schon bereitet, und ihr Geruch erfüllte den Raum.
Trotz dieser anheimelnden Umwelt
fühlte sich Josef unzufrieden. Er hatte im stillen damit gerechnet,
man werde ihm, als einem Priester der Ersten Reihe und Träger des
großen Doktortitels von Jerusalem, einen Platz auf einem der drei
Speisesofas anbieten. Allein diesem eingebildeten Römer war es wohl
zu Kopf gestiegen, daß jetzt nach dem großen Brand sein
Möbelgeschäft so gut ging, und er dachte gar nicht daran, ihm einen
von seinen Ehrenplätzen anzuweisen. Vielmehr sollte er offenbar mit
den Frauen und den mindergeachteten Gästen an dem großen
allgemeinen Tisch sitzen.
Warum steht man eigentlich herum
und zieht nicht den Vorhang hoch und beginnt zu essen? Cajus hat
seinen Kindern längst die Hand auf die Scheitel gelegt, sie segnend
mit dem uralten Spruch, die Knaben: Gott lasse dich werden wie
Ephraim und Menasse, das Mädchen: Gott mache dich wie Rahel und
Lea. Alle sind ungeduldig und haben Appetit: worauf wartet
man?
Da kommt vom Hof her hinter dem
Vorhang eine bekannte Stimme, und jetzt schlurft aus dem Vorhang
ein fetter Herr herein, den Josef schon gesehen hat: der Finanzmann
Claudius Regin. Er begrüßt spaßhaft auf römische Art den Hausherrn
und dessen uralten Vater Aaron, er wirft auch den Mindergeehrten
ein paar wohlwollende Worte herüber, und siehe, Josef wird sehr
stolz: er erkennt ihn, er blinzelt ihm aus seinen schweren,
schläfrigen Augen zu, er sagt mit seiner hohen, fettigen Stimme,
und alle hören es: »Guten Tag, Friede mit dir, Josef Ben Matthias,
Priester der Ersten Reihe.« Dann sogleich rafft man den Vorhang
hoch, Claudius Regin legt sich ohne weiteres auf das mittlere
Speisesofa, auf den Ehrenplatz. Cajus nimmt das andere, der alte
Aaron das dritte. Dann spricht Cajus über einem vollen Becher
judäischen Weines, Weines von Eschkol, das Heiligungsgebet des
Sabbatabends, er segnet den Wein, und der große Becher geht von
Mund zu Mund, und dann segnet er das Brot, bricht es, verteilt es,
und alle sagen amen, und dann endlich beginnt man zu
essen.
Josef sitzt zwischen der
dicklichen Hausfrau und der hübschen sechzehnjährigen Tochter des
Hauses, Irene, die hemmungslos ihre sanften Augen an ihn hängt. Es
sind noch viele Leute an der großen Tafel, der Knabe Cornel und der
andere halbwüchsige Sohn des Cajus, auch zwei demütige,
unscheinbare Theologiestudenten, die darauf warten, sich heute
abend hier satt zu essen, und vor allem ein junger Herr mit einem
braungelben, scharfen Gesicht, der ihm gegenübersitzt und ihn
unverhohlen auf und ab schaut. Es stellt sich heraus, daß der Herr
auch aus Judäa stammt, aus der halbgriechischen Stadt Tiberias
allerdings, und daß er Justus heißt, ja, Justus von Tiberias, und
daß seine innere und äußere Situation der des Josef bedenklich
ähnelt. Wie dieser hat er Theologie studiert, Jurisprudenz und
Literatur. Er beschäftigt sich vornehmlich mit Politik, lebt hier
als Agent des Titularkönigs Agrippa, und wenn er an Familienadel
hinter Josef zurücksteht, so hat er von Geburt an eine bessere
Kenntnis des Griechischen und Lateinischen; auch ist er bereits
drei Jahre hier. Die jungen Herren beriechen einander, neugierig
beide, höflich und mit viel Mißtrauen.
Drüben auf den Speisesofas ist
die Konversation laut, ungeniert. Die beiden prunkvollen Synagogen
in der eigentlichen Stadt Rom sind niedergebrannt, während die drei
großen Bethäuser hier auf dem rechten Tiberufer unversehrt
geblieben sind. Es war natürlich schmerzlich und eine Heimsuchung,
daß die beiden Gotteshäuser verbrannt waren, aber ein bißchen
freute es die Gemeindevorsteher vom rechten Tiberufer trotzdem. Die
fünf jüdischen Gemeinden Roms hatten jede ihren eigenen
Präsidenten, es war ein scharfer Wettkampf zwischen ihnen, vor
allem zwischen der sehr exklusiven Veliasynagoge von drüben und der
vielköpfigen, doch gar nicht wählerischen Agrippenser-Gemeinde des
Cajus. Des Cajus Vater vor allem, der uralte Aaron, keifte zahnlos
gegen die hochfahrenden Dummköpfe vom andern Ufer. War es nicht
Gesetz und altes Herkommen, die Synagogen jeweils auf den höchsten
Platz ihrer Umgebung zu stellen, so wie der Tempel in Jerusalem die
Stadt von der Höhe aus beherrschte? Aber natürlich, Julian Alf, der
Präsident der Veliagemeinde, mußte seine Synagoge in unmittelbarer
Nähe des Palatin haben, auch wenn er sie zu diesem Zweck tiefer
stellen mußte. Es war Strafe Gottes, daß er seine Häuser hatte
niederbrennen lassen. Strafe vor allem auch dafür, daß die Juden
vom andern Ufer ihr Salz bei den Römern kauften, wo doch jeder
wußte, daß dieses römische Salz des schönen Aussehens wegen mit
Schweinefett bestrichen war. So schimpfte der Uralte über alles und
auf alle. Soviel Josef seinem nicht ganz zusammenhängenden wilden
Gemurmmel entnehmen konnte, war er jetzt bei denjenigen, die ihre
heiligen hebräischen Namen aus Gründen der Mode und des Geschäfts
in lateinische und griechische umwandelten. Sein Sohn Cajus, der
selber ursprünglich Chajim hieß, lächelte gutmütig,
verständnisvoll; eigentlich dürften das die Kinder nicht hören.
Claudius Regin aber lachte, klopfte dem Uralten auf die Schulter,
sagte, er habe von Geburt an Regin geheißen; denn er sei leibeigen
geboren, und so habe sein Herr ihn genannt. Aber eigentlich müßte
er Melek heißen, so habe seine Mutter ihn manchmal gerufen, und er
habe durchaus nichts dagegen, wenn auch der Uralte ihn Melek nennen
wolle.
Der braungelbe Justus von
Tiberias hat sich mittlerweile an Josef herangetastet. Josef fühlte
sich schon die ganze Zeit von ihm beobachtet. Er hat den Eindruck,
daß dieser Justus sich innerlich über ihn lustig macht, über seine
Konversation, über seine Aussprache, seine Jerusalemer Eßsitten,
wie er zum Beispiel mit Daumen und drittem Finger den parfümierten
Zahnstocher aus
Sandelholz zum Mund führt. Jetzt, unvermittelt, fragt ihn dieser
Justus, und es klingt schon wieder so verdammt überlegen
weltstädtisch: »Sie sind wohl in politischen Geschäften hier, mein
Doktor und Herr Josef Ben Matthias?« Und da kann sich Josef nicht
halten, er muß diesem höhnischen jungen Römer zu schmecken geben,
daß es wirklich etwas Großes und Wichtiges ist, dessenthalb man ihn
hierher delegiert hat, und er legt dar den Fall seiner drei
Unschuldigen. Er gerät in Feuer, er spricht etwas zu pathetisch für
die Ohren dieser skeptischen römischen Gesellschaft; dennoch wird
es still in beiden Teilen des Raumes, auf den Speisesofas und an
dem großen Tisch, alle hören sie dem beredten, von sich und seiner
Sache hingerissenen jungen Menschen zu. Josef merkt gut, wie
schwärmerisch Irene zu ihm aufblickt, wie sein Kollege Justus sich
ärgert, wie selbst Claudius Regin wohlgefällig schmunzelt. Das
beflügelt ihn, seine Worte werden größer, sein Glaube an seine
Sendung wärmer, seine Rede bekommt Atem. Bis unwillig der Uralte
unterbricht: am Sabbat spreche man nicht von Geschäften. Josef
schweigt sogleich, demütig erschrocken. Aber im Innern ist er
zufrieden, er spürt, seine Rede hat Wirkung getan.
Endlich ist die Mahlzeit zu Ende,
Cajus spricht das lange Tischgebet, alles verdrückt sich, zurück
bleiben nur die ernsthaften Männer. Jetzt lädt Cajus auch Josef und
Justus auf die Speisesofas. Der umständliche Mischapparat wird auf
den Tisch gebracht. Man nimmt, nachdem der strenge Alte weg ist,
die vom Gebrauch vorgeschriebenen Kopfbedeckungen ab, lüftet
sich.
Da liegen und hocken also die
vier Männer zusammen, bei Wein, Konfekt und Früchten, satt,
vergnügt, aufgelegt zu Gespräch. In angenehm gelblichem Licht liegt
der Raum, der Vorhang ist hochgezogen, von dem dunkeln Hof her weht
willkommene Kühlung. Die beiden älteren Herren schwatzen mit Josef
über Judäa, fragen ihn aus. Cajus ist leider nur einmal in Judäa
gewesen, als junger Mann noch, es ist lange her; er hat mit den
Hunderttausenden von Wallfahrern sein Opferlamm am Passahfest zum
Tempel gebracht. Er hat viel gesehen in der Zwischenzeit,
Triumphzüge, üppige Schauspiele in der Arena, in der Großen
Rennbahn, aber der Anblick des weißgoldenen Tempels in Jerusalem
und der enthusiastischen Hunderttausende, die den Ungeheuern Raum
füllten, bleibt das Größte, was er in seinem Leben sah. Alle hier
in Rom hängen sie an der alten Heimat. Haben sie nicht ihre eigene
Pilgersynagoge in Jerusalem? Schicken sie nicht Abgaben und
Tempelgeschenke? Sparen sie nicht ihr Geld, um ihre Leichen nach
Judäa zu schicken, auf daß sie begraben seien in der alten Erde?
Aber die Herren in Jerusalem tun das Ihre, einem diese alte Heimat
zu verekeln. Warum, verdammt noch eins, vertragt ihr euch nicht mit
der römischen Verwaltung? Man kann mit den kaiserlichen Beamten in
Frieden auskommen, es sind tolerante Leute, wir haben das oft
erfahren. Aber nein, ihr in Judäa müßt immer eure Querköpfe
durchsetzen, die Rechthaberei liegt euch im Blut, eines schönen
Tages wird der Topf zerschlagen sein. Aufs Johannisbrot werdet ihr
kommen, übersetzte er sich ins Aramäische, lächelnd, doch im Grunde
sehr ernst.
Der Juwelier Claudius Regin
konstatiert schmunzelnd, daß Josef nach strenger Jerusalemer
Etikette seinen Becher nicht auf einmal leert, sondern ihn
dazwischen zweimal niedersetzt. Claudius Regin kennt die
Verhältnisse in Judäa genau, er war erst vor zwei Jahren dort.
Nicht die römischen Beamten sind schuld daran, daß Judäa nicht zur
Ruhe kommt, auch nicht die großen Herren in Jerusalem: sondern
einzig und allein die kleinen Agitatoren, die »Rächer Israels«. Nur
weil sie keinen andern Weg sehen, politische Karriere zu machen,
hetzen sie zu einem aussichtslosen bewaffneten Aufstand. Nie sei es
den Juden besser gegangen als unter der Regierung dieses gesegneten
Kaisers Nero. Sie hätten auf allen Gebieten Einfluß, und dieser
Einfluß werde wachsen, wenn sie nur klug genug seien, ihn nicht
allzu grell ins Licht zu stellen. Was sei wichtiger: Macht haben
oder Macht zeigen? schloß er und spülte sich den Mund mit lauwarmem
Wein.
Josef fand es an der Zeit, ein
Wort für die »Rächer Israels« einzulegen. Die Herren in Rom, meinte
er, sollten nicht vergessen, daß in Judäa nicht kühle Vernunft
allein regiere, sondern notwendig auch das Herz mitspreche. Man
stolpere dort bei jedem Schritt über die Insignien der römischen
Souveränität. Herr Cajus Barzaarone habe sich mit warmem Herzen der
Passahfeier im Tempel erinnert. Wenn man aber sehen müsse, wie
brutal und zynisch zum Beispiel die römische Polizei sich in diesem
Tempel aufführe, die am Passahfest dorthin zur Wahrung der Ordnung
befohlen sei, dann laufe auch einem ruhigen Mann der Kopf rot. Es
sei nicht leicht, die Befreiung aus Ägypten zu feiern, wenn man bei
jedem Wort die Faust der Römer im Nacken spürt. Sich hier in Rom
ruhig zu halten ist keine Kunst, hier würde es wahrscheinlich auch
mir nicht schwerfallen; aber unerträglich schwer ist es in dem
Land, das Gott auserwählt hat, in dem Gott seinen Wohnsitz hat, im
Lande Israel.
»Gott ist nicht mehr im Lande
Israel, Gott ist jetzt in Italien«, sagte eine scharfe Stimme. Alle
sahen den Gelbgesichtigen an, der diese Worte gesprochen hatte. Er
hielt seinen Becher in der Hand, er hatte den Blick auf keinem,
sein Satz war nur für ihn selber bestimmt. Es war auch nicht
Abfertigung oder Hohn darin, er hatte eine Tatsache festgestellt,
und nun schwieg er.
Alle schwiegen. Es war auf diese
Worte nichts zu sagen. Selbst Josef spürte widerwillig, daß
Wahrheit darin war. »Gott ist jetzt in Italien«, er übersetzte sich
den Satz ins Aramäische. Das Wort traf ihn tief.
»Da haben Sie wahrscheinlich
recht, junger Herr«, sagte nach einer Weile der Finanzmann Claudius
Regin. »Sie müssen wissen«, wandte er sich an Josef, »ich bin nicht
etwa Jude, ich bin der Sohn eines sizilischen Leibeigenen und einer
jüdischen Mutter, mein Herr hat sich seinerzeit gehütet, mich
beschneiden zu lassen, wofür ich ihm offen gestanden heute noch
dankbar bin. Ich bin Geschäftsmann, ich vermeide die Nachteile
einer Sache, wo ich kann; andernteils nehme ich die Vorteile einer
Sache, wo ich sie finde. Ihr Gott Jahve leuchtet mir besser ein als
die Konkurrenz. Ich sympathisiere mit den Juden.«
Der große Finanzmann lag
behaglich da, den Becher mit dem lauwarmen Wein in der Hand, die
schlauen, verschlafenen Augen in den dunklen Hof gerichtet. Am
dritten Finger trug er eine mächtige, matte Perle, von der Josef
den Blick nicht losbrachte. »Ja, Doktor Josef«, sagte Cajus
Barzaarone, »das ist die schönste Perle der vier Meere.« – »Ich
trage sie nur am Sabbat«, sagte Claudius Regin.
Wenn er diesen Abend nicht
nützte, überlegte Josef, wenn er jetzt aus dem Sattheitswohlwollen,
der NachtischSentimentalität des mächtigen Mannes keinen Vorteil
zog, dann war er ein Trottel und nie imstand, die Sache seiner drei
Unschuldigen zu einem glücklichen Ende zu führen. »Da Sie zu den
Sympathisierenden gehören, Herr Claudius Regin«, wandte er sich
bescheiden und doch dringlich an den Finanzmann, »wollen Sie sich
nicht der drei Unschuldigen von Cäsarea annehmen?«
Der Juwelier setzte den Becher
heftig nieder. »Cäsarea«, sagte er, und seine sonst so schläfrigen
Augen wurden scharf und seine hohe Stimme bedrohlich. »Das ist eine
gute Stadt mit einem herrlichen Hafen, die Ausfuhr ist
beträchtlich, der Fischmarkt ausgezeichnet. Großartige
Möglichkeiten. Ihr seid selber schuld, wenn man sie euch aus der
Hand dreht. Mit euern blödsinnigen Aspirationen. Der Wein wird mir
sauer, wenn ich von euern ›Rächern Israels‹ höre.«
Josef, erschreckt durch die
plötzliche Heftigkeit des sonst so ruhigen Herrn, erwiderte doppelt
bescheiden, die Befreiung der drei Unschuldigen sei eine rein
ethische Angelegenheit, die mit Humanität zu tun habe, nicht mit
Politik. »Wir wollen nicht mit politischen Argumenten wirken«,
sagte er, »auch nicht mit juristischen. Wir wissen, nur durch
persönliche Beziehungen bei Hof ist etwas auszurichten«, und er
schaute demütig bittend auf Claudius Regin. »Sind denn Ihre drei
Unschuldigen wenigstens wirklich unschuldig?« fragte der
schließlich zwinkernd. Josef kam sogleich mit leidenschaftlichen
Beteuerungen, die drei seien, als die Unruhen ausbrachen, an einem
andern Ende der Stadt gewesen. Doch Claudius unterbrach, das wollte
er nicht wissen. Wissen wollte er, welcher politischen Partei die
drei angehört hatten. »Haben sie in der Blauen Halle gesprochen?«
fragte er. Die Blaue Halle war der Versammlungsraum der »Rächer
Israels«. »Das wohl«, mußte Josef zugeben. »Sehen Sie«, sagte
Claudius Regin, und damit war für ihn die Sache augenscheinlich
abgetan.
Justus von Tiberias schaute auf
das schöne, heftige, begehrliche Gesicht Josefs. Der hatte eine
offenbare Niederlage erlitten, und Justus gönnte sie ihm.
Abgestoßen und angezogen betrachtete er seinen jungen Kollegen. Der
wollte das gleiche sein wie er, ein großer Schriftsteller und von
politischem Einfluß. Er hatte die gleichen Mittel, den gleichen
Weg, die gleichen Ziele. Das hochfahrende Rom war reif für die
ältere Kultur des Ostens, wie es hundertfünfzig Jahre zuvor reif
gewesen war für die Kultur der Griechen. Daß es von innen her durch
diese Kultur des Ostens aufgelockert werde, daran mitzuarbeiten,
das reizte, das war ein herrlicher Beruf. Dies witternd, war er vor
drei Jahren nach Rom gekommen, wie jetzt dieser Josef. Aber er,
Justus, hatte es leichter und schwerer. Er hatte das reinere
Wollen, die schärfere Begabung. Allein er war zu anspruchsvoll in
seinen Mitteln, zu heikel. Er hatte tief hineingeschaut in den
politischen und literarischen Betrieb der Hauptstadt, ihn ekelte
vor den Kompromissen, den billigen Effekten. Dieser Josef war
offenbar weniger wählerisch. Er scheute nicht vor den plumpsten
Mitteln zurück, er wollte hinauf unter allen Umständen, er
schauspielerte, schmeichelte, paktierte, daß es für den Kenner eine
Lust war, solche Hemmungslosigkeit mit anzusehen. Sein eigenes
Judentum ist geistiger als das des Josef, es wird Zusammenstöße
geben. Es wird ein harter Wettlauf sein, es wird nicht immer leicht
sein, fair zu bleiben: aber er wird fair bleiben. Er wird dem
andern jede Chance geben, die ihm zukommt.
,Ich würde Ihnen raten, Josef Ben
Matthias«, sagte er, sich an den Schauspieler Demetrius Liban zu
wenden.« Und wieder schauten alle auf den gelbgesichtigen jungen
Herrn. Wieso waren die andern nicht auf diese Idee gekommen?
Demetrius Liban, der populärste Komiker der Hauptstadt,
verhätschelter Liebling des Hofs, ein Jude, der sein Judentum bei
jedem Anlaß betonte, ja, das war der rechte Mann für Josefs Sache.
Die Kaiserin sah ihn gern, lud ihn allwöchentlich ein zu ihren
Gesellschaften. Beide stimmten zu: Demetrius Liban war die richtige
Adresse für Josef.
Eine kleine Weile später trennte
man sich. Josef ging hinauf in sein Zimmer. Er schlief bald ein,
sehr befriedigt. Justus von Tiberias ging allein nach Haus,
beschwerlich durch die dunkle Nacht. Er lächelte; der
Gemeindepräsident Cajus Barzaarone hatte es nicht einmal für der
Mühe wert gehalten, ihm einen Fackelträger mitzugeben.
Sehr bald nach Tagesanbruch stellte sich Josef,
begleitet von einem Leibeigenen des Gemeindepräsidenten Cajus
Barzaarone, am Tibur-Tor ein, wo ihn ein Fuhrknecht der Handels
gesellschaft für Überlandverkehr erwartete. Der Wagen war klein,
zweirädrig, ziemlich eng und unbequem. Es regnete. Der mürrische
Fuhrknecht veranschlagte die Dauer der Fahrt auf etwa drei Stunden.
Josef fröstelte. Der Leibeigene, den ihm Cajus vor allem als
Dolmetscher mitgegeben hatte, zeigte sich wenig redselig, döste
bald ein. Josef hüllte sich fester in seinen Mantel. In Judäa
könnte er es jetzt noch schön warm haben. Trotzdem, es ist besser,
daß er hier ist. Diesmal muß es gut hinausgehen, er glaubt an sein
Glück.
Die Juden hier in Rom bringen
seine drei Unschuldigen immer in Zusammenhang mit der Politik der
»Rächer Israels«, mit der Sache Cäsarea. Gewiß, es ist von
Bedeutung für das ganze Land, ob man die Juden durch Schiebung
ihrer Herrschaft in der Stadt Cäsarea berauben wird; aber er will
nicht, daß man diese Frage mit seinen drei Unschuldigen verquickt.
Er findet das zynisch. Ihm geht es nur um das ethische Prinzip. Den
Gefangenen helfen, das ist eine der ersten sittlichen Forderungen
jüdischer Lehre.
Wenn man ehrlich sein will, so
ganz von ungefähr sind die drei Unschuldigen wahrscheinlich nicht
in Cäsarea gewesen gerade zur Zeit der Wahlen. Von seinem
Standpunkt aus hatte der damalige Gouverneur Anton Felix schon
seine Gründe gehabt, die drei zu packen. Immerhin, er, Josef, hat
keine Ursache, sich mit den Gründen des jetzt glücklicherweise
abberufenen Gouverneurs zu befassen. Für ihn sind die drei
unschuldig. Den Gefangenen helfen.
Der Wagen stößt. Die Straße ist
verdammt schlecht. Sieh da, man ist bereits im Bereich der
Ziegelei. Es ist eine graugelbliche Ödnis, ringsum Pfähle und
Palisaden und dahinter nochmals Pfähle und Palisaden. Vor dem Tor
schauen ihnen lungernde Wachsoldaten entgegen, mißtrauisch,
neugierig, froh der Abwechslung. Der Leibeigene parlamentiert mit
ihnen, zeigt die Ausweise vor. Josef steht unbehaglich
daneben.
Sie werden zum Verwalter geführt,
einen trüben, drückenden Weg. Ringsum ist dumpfer, monotoner
Singsang; bei der Arbeit muß gesungen werden, das ist Vorschrift.
Die Aufseher haben Knüppel und Knuten, sie schauen verwundert auf
die Fremden.
Der Verwalter ist unangenehm
erstaunt. Sonst wenn Besucher kommen, pflegt man ihn rechtzeitig zu
benachrichtigen. Er wittert Kontrolle, Unannehmlichkeiten, versteht
Josefs Latein nicht oder will es nicht verstehen, sein eigenes
Griechisch ist schwach. Man muß, um sich zu verständigen, immerzu
die Hilfe des Leibeigenen anrufen. Dann kommt ein Unterbeamter,
flüstert mit dem Verwalter, und sofort ändert sich das Benehmen des
Mannes. Er erklärt auch offen, warum. Um die Gesundheit der drei
steht es nicht zum besten, er hat gefürchtet, man habe sie
gleichwohl zur Arbeit geschickt, jetzt hat er erfahren, daß man sie
humanerweise in der Zelle gelassen hat. Er freut sich, daß das so
gut ging, taut auf, er versteht jetzt das Latein des Josef viel
besser, auch sein eigenes Griechisch wird besser, er wird
gesprächig.
Da sind die Akten der drei. Sie
waren ursprünglich in Sardinien verwendet worden, in den
Bergwerken, aber das hielten sie nicht aus. Sonst werden die zu
Zwangsarbeit Verurteilten noch verwendet zum Straßenbau, zur
Kloakenreinigung, zur Arbeit an den Tretmühlen und an den Pumpen
der öffentlichen Bäder. Die Beschäftigung in den Ziegeleien ist die
leichteste. Jüdische Zwangsarbeiter sehen die Verwalter der
Fabriken nicht gern. Sie machen Schwierigkeiten wegen der Kost,
weigern sich, an ihrem Sabbat zu arbeiten. Der Verwalter war, dies
Zeugnis darf er sich selber ausstellen, zu den drei Sträflingen
besonders human. Aber auch die Humanität muß leider ihre Grenzen
haben. Infolge des Wiederaufbaus der Stadt werden gerade an die
staatlichen Ziegeleien ungeheure Anforderungen gestellt. Da muß
jeder heran. Das verlangte Quantum muß unter allen Umständen
geliefert werden, und Sie können sich vorstellen, Herr, die
römischen Baumeister sind nicht bescheiden. Fünfzehn Arbeitsstunden
ist jetzt das offizielle Minimum. Von seinen achthundert bis
tausend Leuten verrecken in der Woche durchschnittlich vier. Es
freut ihn, daß die drei bisher nicht darunter sind.
Dann gibt der Verwalter Josef an
einen Unterbeamten weiter. Wieder geht es durch die Ziegelei,
vorbei an Aufsehern mit Knüppeln und Knuten, durch den dumpfen,
eintönigen Singsang, durch Lehm und Hitze, durch geduckte Arbeiter,
kniende, unter Lasten keuchende. Schriftverse steigen Josef auf von
dem Pharao, der Israel drückte im Lande Ägypten. »Und die Ägypter
zwangen die Kinder Israels zum Dienst mit Unbarmherzigkeit. Und
machten ihnen ihr Leben sauer mit schwerer Arbeit in Ton und
Ziegelei. Und man setzte Fronvögte über sie, sie zu drücken mit
schweren Diensten, und sie bauten dem Pharao die Städte Piton und
Ramses.« Wozu feiert man das Passahfest mit Jubel und großem Glanz,
wenn hier noch immer die Kinder Israels die Ziegel schleppen, auf
daß ihre Feinde Städte bauen? Der Lehm klebte schwer an seinen
Schuhen, drang zwischen die Zehen. Und immer ringsum der eintönige,
dumpfe Singsang.
Endlich ist man vor den Gelassen
der Strafarbeiter. Der Soldat holt den Kerkermeister. Josef wartet
im Vorraum, liest die Inschrift an der Tür, einen Spruch des
gefeierten zeitgenössischen Schriftstellers Seneca: »Sklaven sind
es? Aber auch Menschen. Sklaven sind es? Aber auch Hausgenossen.
Sklaven sind es? Aber auch niedere Freunde.« Ein kleines Buch liegt
auf, Richtlinien des Schriftstellers Columella, Sachverständigen
für Großbetriebe. Josef liest: »Es muß täglich ein Appell der
Zwangsarbeiter abgehalten werden. Auch muß täglich untersucht
werden, ob die Fesseln halten und die Zellen fest sind. Die Zellen
sind am zweckmäßigsten für je fünfzehn Sträflinge
einzurichten.«
Er wird zu den dreien geführt.
Die Zelle ist unterirdisch, die schmalen Fenster liegen sehr hoch,
daß sie nicht mit den Händen erreicht werden können. Eng
aneinandergereiht stehen die fünfzehn strohbedeckten Pritschen,
aber der Raum ist schon jetzt, wo sie nur zu fünfen da sind, er,
der Wärter und die drei Sträflinge, unerträglich eng.
Die drei hocken nebeneinander.
Sie sind halbnackt, die Kleider hängen fetzig an ihnen herunter,
ihre Haut ist bleifahl. Über den Knöcheln der Füße tragen sie Ringe
für die Ketten, auf der Stirn das Brandmal, eingebrannt den
Buchstaben E. Ihre Köpfe sind bis zum Scheitel kahl geschoren,
grotesk dazu stehen die riesigen Bärte, verfilzt, strähnig,
gelblichweiß. Josef kennt die Namen der drei: Natan, Gadja, Jehuda.
Gadja und Jehuda hat er selten und flüchtig gesehen, es ist kein
Wunder, wenn er sie nicht wiedererkennt; aber Natan Ben Baruch,
Doktor und Herr, Mitglied des Großen Rats, ist sein Lehrer gewesen,
vier Jahre lang war er täglich viele Stunden mit ihm zusammen, den
aus den dreien müßte er herauskennen. Allein er erkennt ihn nicht
heraus. Natan ist ein etwas dicklicher Mann gewesen, von
Mittelgröße; was da hockt, sind zwei Gerippe von Mittelgröße und
ein sehr großes. Und er kann nicht herausfinden, welches von den
beiden mittelgroßen Gerippen sein Lehrer Natan sein
könnte.
Er grüßt die drei. Sonderbar
durch den elenden Raum klingt seine gesunde, mühsam gedämpfte
Stimme: »Friede mit euch, meine Doktoren und Herren.« Die drei
schauen auf, und jetzt, an den dicken Augenbrauen, erkennt er
seinen alten Lehrer. Er erinnert sich, wie er Angst und Zorn hatte
vor den wilden Augen unter diesen dicken Brauen; denn dieser Mann
hat ihn sehr geschunden, hat den Neun- oder Zehnjährigen, wenn er
seinen verzwickten Auslegungsmethoden nicht folgen konnte, mit Hohn
gedemütigt, hat sein Selbstbewußtsein mit bitterem Bedacht
niedergetreten. Er hat damals, wie oft!, dem finstern, mürrischen
Mann alles Schlechte gewünscht: jetzt, wie der abgelebte Blick der
eingetrockneten Augen auf ihn zukommt, fällt es ihm aufs Herz wie
ein Stein, und das Mitleid schnürt ihm den Atem.
Er muß lang und behutsam reden,
bis er durch die stumpfe Müdigkeit der drei zu ihrem Verständnis
vordringt. Endlich antworten sie, hüstelnd, stammelnd. Es ist aus
mit ihnen. Denn wenn man sie auch nicht hat zwingen können, Jahves
Verbote zu übertreten, so hat man sie doch gehindert, seine Gebote
zu erfüllen. Sie haben also dies und das andre Leben verloren. Ob
man sie knüttelt, bis sie auf die lehmige Erde fallen, ob man sie
ans Kreuz nagelt nach der verruchten Art, wie dieses Gezücht von
Römern Menschen zum Tode zu bringen pflegt: der Herr gibt es, der
Herr nimmt es, je rascher das Ende, um so willkommener, der Name
des Herrn sei gelobt.
Es ist eine drückende Luft in dem
engen, halbdunkeln Raum, feuchtkalt, durch die schmalen
Fensteröffnungen dringt der Regen, der dicke Gestank zieht nicht
ab, von außen, fernher kommt der dumpfe Singsang. Josef schämt
sich, daß er ganze Kleider am heilen Leib trägt, daß er jung und
voll Tatkraft ist, daß er in einer Stunde hier hinaus kann, fort
von dieser Stätte des Lehms und des Grauens. Die drei können nichts
denken, was über den kleinen Umkreis ihres schauerlichen Alltags
hinausgeht. Es hat keinen Sinn, ihnen von seiner Sendung zu
sprechen, von den Schritten, die man für sie tun will, von Politik,
von der günstigeren Konstellation bei Hofe. Für sie bleibt das
Bitterste, daß sie die Reinigungsgesetze nicht halten können, die
strengen Gebote der rituellen Waschungen. Sie haben mancherlei
Aufseher und Wärter gehabt, einige waren härter, die nahmen ihnen
ihre Gebetriemen, auf daß sie sich nicht daran erhängten, einige
waren milder, die ließen sie ihnen: aber Unbeschnittene, Frevler
und Verdammte waren sie alle. Für sie war es gleich, ob man die
Zwangsarbeiter besser nährte oder nicht; denn sie aßen nicht das
Fleisch von Tieren, die nicht nach dem Gesetz geschlachtet waren.
Also blieb, wovon sie sich nähren mußten, Abfall von Obst und
Gemüsen. Sie hatten unter sich beraten, ob sie die Fleischportionen
annehmen und an die andern Gefangenen gegen Brot und Früchte
austauschen dürften. Sie hatten darüber heftig diskutiert, Doktor
Gadja hatte zunächst mit vielen Argumenten bewiesen, es sei
erlaubt. Aber schließlich hatte auch er den beiden andern
zugestimmt, es sei erlaubt nur als Rettung unmittelbar vor dem
Tode. Wer aber kann wissen, ob der Herr, sein Name sei gelobt,
ihren Tod für diesen oder erst für den nächsten Monat bestimmt hat?
Somit ist es also trotzdem nicht erlaubt. Wenn sie nicht zu stumpf
und müde sind, immer dann debattieren sie mit theologischen
Argumenten, was erlaubt ist und was nicht, und dann erinnern sie
sich an die Quadernhalle des Tempels. Josef hatte den Eindruck, daß
diese Debatten oft heftig seien und in wüste Zänkereien ausarteten,
aber offenbar waren sie das einzige, was die drei noch am Leben
hielt. Nein, es war nicht möglich, mit ihnen halbwegs Vernünftiges
zu reden. Wenn er von der Judenfreundschaft der Kaiserin sprach,
dann erwiderten sie, es sei fraglich, ob es überhaupt erlaubt sei,
an diesem Ort der Tiefe und des Schmutzes zu beten; auch wüßten sie
nie den Kalender, so daß sie vielleicht den Sabbat verletzten durch
Anlegung der Gebetriemen und
den Werktag durch Nichtanlegung.
Josef gab es auf. Er hörte sie
an, und als einer eine Stelle der Schrift zitierte, ging er darauf
ein und zitierte eine Gegenstelle, und siehe, da belebten sie sich
und begannen zu streiten und holten Argumente aus ihren kraftlosen
Kehlen, und er stritt mit, und es war ein großer Tag für sie. Aber
sie hielten nicht durch, und sehr bald sanken sie zurück in ihre
Stumpfheit.
Josef sah sie hocken im trüben
Licht ihres Kerkers. Diese drei, jämmerlich an Leib, in Schmutz und
letzter Tiefe, waren Große gewesen in Israel, ihre Namen hatten
geglänzt unter den Gesetzgebern der Quadernhalle. Den Gefangenen
helfen. Nein, es kam nicht darauf an, es war lächerlich und eitel,
ob in der Stadt Cäsarea die Juden die Herrschaft hatten oder nicht.
Diesen drei zu helfen, darauf kam es an. Der Anblick der drei
schüttelte ihn, entzündete alle Feuer in ihm. Er war angefüllt von
einem frommen Mitleid, das ihn fast zerriß. Es packte ihn und hob
ihn, wie sie starr in ihrer Not am Gesetz festhielten, wie sie sich
krallten ans Gesetz, wie nur das Gesetz ihnen Atem einblies, daß
sie am Leben blieben. Er dachte an die Zeit, da er selber in der
Wüste war, in heiliger Entbehrung, bei den Essäern, bei seinem
Lehrer Banus, und wie damals in seinen besten Augenblicken
Erkenntnis über ihn gekommen war nicht durch Verstand, sondern
durch Versenkung, durch Schau, durch Gott.
Die Gefangenen befreien. Er
preßte die Lippen zusammen in dem festen Vorsatz, jeden Gedanken an
sich auszulöschen um dieser drei Elenden willen. Über dem
jämmerlichen Singsang der Zwangsarbeiter hörte er die großen,
hebräischen Worte des Gebotes. Nein, er ist nicht hier aus eitler
Selbstsucht, Jahve hat ihn hergeschickt. Er schritt zurück durch
den grauen Regen, er spürte nicht den Regen, nicht den Lehm, der an
seinen Schuhen klebte. Die Gefangenen befreien.
In Judäa konnte ein Mann von Josefs politischen
Anschauungen unmöglich zu den Rennen oder ins Theater gehen. Ein
einziges Mal hatte er eine Aufführung besucht, heimlich und mit
schlechtem Gewissen, in Cäsarea. Aber was war das für eine nichtige
Sache gewesen, verglich er es mit dem, was er heute im
Marcell-Theater sah. Ihm rauchte der Kopf von den Tänzen, den
kleinen Rüpelspielen, dem Ballett, der großen pathetischen
Pantomime, dem Prunk und dem ständigen Wechsel auf der mächtigen
Bühne, die die langen Stunden hindurch nie leer gestanden hatte.
Justus, der neben ihm saß, tat das alles mit einer Handbewegung ab.
Er ließ auf der Bühne nur die burleske Revue gelten, wie das Volk
mit Recht sie liebte, und hatte sich all das Zeug bisher nur
gefallen lassen, um sich den Platz für die Revue des Komikers
Demetrius Liban zu ersitzen.
Ja, dieser Komiker Demetrius
Liban, so unangenehm vieles an ihm war, blieb ein Künstler mit
einem Menschengesicht. Noch als Leibeigener des kaiserlichen
Haushalts geboren, von Kaiser Claudius freigelassen, hatte er sich
ein unerhörtes Vermögen und den Titel »Erster Schauspieler der
Epoche« zusammengespielt. Kaiser Nero, den er in der Rede- und
Schauspielkunst unterwies, liebte ihn. Ein schwieriger Herr, dieser
Liban, gehoben und gedrückt von seinem Judentum. Auch Bitten und
Befehle des Kaisers konnten ihn nicht bewegen, am Sabbat oder an
hohen jüdischen Festen aufzutreten. Immer wieder debattierte er mit
den Doktoren der jüdischen Universitäten, ob er wirklich von Gott
verworfen sei, weil er Theater spiele. Er bekam hysterische
Anfälle, wenn er in Weiberkleidung aufzutreten und also das Gebot
der Schrift zu verletzen hatte: ein Mann soll nicht Weibskleidung
tragen.
Die elftausend Zuschauer des
Marcell-Theaters, ermüdet von den mehrstündigen Darbietungen des
ersten Teils, verlangten jetzt tobend und brüllend den Anfang der
Burleske. Die Theaterleitung zögerte, offenbar, weil man den Kaiser
oder die Kaiserin erwartete, in deren Loge alle Vorbereitungen
getroffen waren. Allein das Publikum hatte nun fünf Stunden
gewartet, es war gewöhnt, sich im Theater auch dem Hof gegenüber
seine Rechte zu nehmen, es drohte, es schrie, man mußte
anfangen.
Der Vorhang drehte sich in die
Versenkung, die Komödie des Demetrius Liban begann. Sie war
betitelt »Der Brand«, es hieß, der Senator Marull sei ihr
Verfasser. Ihr Held, dargestellt von Liban, war Isidor, ein
Leibeigener aus der ägyptischen Stadt Ptolemais, seinem Herrn und
seiner ganzen Umgebung überlegen. Er spielte fast ohne allen
Behelf, trug keine Maske, keine kostbaren Kleider, keinen
überhöhten Schuh; er war einfach der Leibeigene Isidor aus der
Provinz Ägypten, ein schläfriger, trauriger, pfiffiger Bursche, dem
nichts geschehen kann, der in jeder Situation recht behält. Er
hilft seinem schwerfälligen Unglücksmenschen von Herrn aus seinen
zahllosen Verlegenheiten, er schafft ihm Geld und Stellung, er
schläft mit der Frau seines Herrn. Einmal, wie der ihm eine
Ohrfeige versetzt, erklärt er ihm traurig und bestimmt, nun müsse
er ihn leider verlassen, und er werde nicht zurückkehren, ehe der
Herr an allen öffentlichen Plätzen eine Bitte um Entschuldigung
plakatiert habe. Der Herr legt den Leibeigenen Isidor in Ketten,
benachrichtigt die Polizei, aber es gelingt Isidor natürlich
dennoch, zu entwischen, und unter ungeheurem Jubel des Publikums
nasführt er die Polizei wieder und wieder. Leider mußte an der
spannendsten Stelle, als es unausbleiblich schien, daß man den
Isidor nun endlich doch ergriff, das Spiel abgebrochen werden; denn
hier erschien die Kaiserin. Das ganze Publikum erhob sich, grüßte
elftausendstimmig die zierliche, blonde Dame, die mit
ausgestrecktem Arm, die Handfläche dem Publikum zugekehrt, dankte.
Übrigens war ihr Erscheinen eine doppelte Sensation, denn in ihrer
Begleitung befand sich die Äbtissin der Vestalinnen, und bisher war
es nicht üblich gewesen, daß die aristokratischen Nonnen sich die
volkstümlichen Burlesken im Marcell-Theater anschauten.
Das Spiel mußte von neuem
begonnen werden. Josef war das willkommen, die unerhörte, freche
Realität des Spiels war ihm überwältigend neu, und er verstand es
das zweitemal viel besser. Seine brennenden Augen hingen an dem
Schauspieler Liban, an seinem dreisten und traurigen Mund, an
seinen beredten Händen, an seinem ganzen bewegten, beredten Körper.
Nun kam das Couplet, das berühmte Couplet aus dem Singspiel »Der
Brand«, das Josef in der kurzen Zeit seines römischen Aufenthalts
schon hundertmal hatte singen, johlen, grunzen, pfeifen hören. Der
Schauspieler stand an der Rampe, umgeben von elf Clowns, Schlagzeug
gellte, Trompeten brummten, Flöten quiekten, und er sang das
Couplet: »Wer ist der Herr hier? Wer zahlt die Butter? Wer zahlt
die Mädchen? Und wer, wer zahlt das syrische Parfüm?« Das Publikum
war aufgesprungen, sie sangen mit, selbst die bernsteingelbe
Kaiserin in der Loge bewegte die Lippen, und die feierliche
Äbtissin lachte über das ganze Gesicht. Jetzt aber, endlich, war
der Leibeigene Isidor umstellt, es gab kein Entrinnen mehr, dicht
um ihn waren die Polizisten, er beteuerte, er sei nicht der
Leibeigene Isidor, aber wie das den Polizisten beweisen? Durch
einen Tanz. Ja. Und nun kam der Tanz. Isidor trug noch die Kette am
Fuß. Es galt, zu tanzen und die Kette dabei zu verbergen, das war
furchtbar schwer, das war komisch und erschütternd zugleich, dieser
Mensch, der um seine Freiheit und um sein Leben tanzte. Josef war
mitgerissen, das Publikum war mitgerissen. Wie sein Fuß die Kette,
zog jede Bewegung des Schauspielers Liban die Köpfe der Zuschauer
mit. Josef fühlte sich als Aristokrat durch und durch, er trug kein
Bedenken, sich von Leibeigenen die niedrigsten Dienste erweisen zu
lassen; die meisten Leute hier im Theater trugen keine Bedenken,
sie hatten am Beispiel von mehreren zehntausend hingerichteten
Leibeigenen einige Male sehr deutlich bewiesen, daß sie den
Unterschied zwischen Herren und Leibeigenen nicht verwischt haben
wollten. Jetzt aber, wie sie den Mann mit seiner Kette tanzen
sahen, der sich für den Herrn ausgab, waren sie alle für ihn und
gegen seinen Herrn, und alle jubelten sie, die Römer und ihre
Kaiserin, dem frechen Burschen da zu, wie er wieder einmal seine
Polizisten drangekriegt hatte und nun leise und pfiffig zu summen
anhub: »Wer ist der Herr hier? Wer zahlt die Butter?«
Und nun wurde das Spiel ganz
frech. Der Herr des Isidor hatte richtig seine Entschuldigung
plakatiert, er hatte zu seinem Leibeigenen zurückgefunden. Aber er
hatte in der Zwischenzeit Dummheiten gemacht, er hatte sich mit
seinen Mietern verkracht, so daß sie nicht zahlten. Exmittieren
durfte er sie aus gewissen Gründen trotzdem nicht, seine teuren
Häuser waren entwertet. Da konnte niemand helfen als der schlaue
Isidor, und er half. Er half, wie sich nach der Meinung des Volks
der Kaiser und einige große Herren in einem ähnlichen Fall geholfen
hatten: er zündete das Stadtviertel mit den entwerte ten Häusern
an. Wie Demetrius Liban das darstellte, das war frech und
großartig, jeder Satz war eine Anspielung auf die
Terrainspekulanten, auf die großen Verdiener an dem Wiederaufbau
der Stadt. Niemand wurde geschont, nicht die Architekten Celer und
Sever, nicht der berühmte alte Politiker und Literat Seneca mit
seinem theoretischen Lob der Armut und seinem praktischen Leben des
Reichtums, nicht der Finanzmann Claudius Regin, der eine mächtige
Perle am dritten Finger trägt, aber leider nicht das Geld hat, sich
passende Schuhriemen zu kaufen, nicht der Kaiser selber. Jedes Wort
saß, das Theater jubelte, atemlos vor Lachen, und als am Schluß der
Schauspieler Liban das Publikum aufforderte, das brennende Haus auf
der Bühne zu plündern, entstand ein Aufruhr, wie Josef ihn nie
gesehen hatte. Das verlockende Innere des brennenden Hauses war
durch eine kunstvolle Maschinerie den Zuschauern zugedreht worden.
Die Tausende wälzten sich zur Bühne, stürzten sich auf die Möbel,
das Geschirr, die Speisen. Schrien. Zertrampelten sich, zerdrückten
sich. Und durch das Theater über den Platz davor, durch die
riesigen, eleganten Kolonnaden, über das ganze, weite Marsfeld hin
sang es, johlte es: »Wer ist der Herr hier? Wer zahlt die
Butter?«
Als Josef von Demetrius Liban auf Betreiben
des Justus zum Abendessen eingeladen wurde, machte ihn das bang. Er
war dreist von Natur. Als er dem Erzpriester, dem König Agrippa,
dem römischen Gouverneur vorgestellt wurde, war er nicht befangen
gewesen. Allein vor dem Schauspieler spürte er tieferen Respekt.
Seine Komödie hatte ihn hingerissen. Es füllte ihn mit Bewunderung,
wie ein einzelner Mann, dieser Jude Demetrius Liban, die vielen
Tausende, Hohe und Niedere, Römer und Fremde, hatte zwingen können,
so zu denken, so zu fühlen wie er.
Josef fand den Schauspieler auf
dem Sofa liegend, in einem bequemen, grünen Schlafrock; er streckte
ihm lässig die vielberingte Hand hin. Josef sah betreten und mit
Bewunderung, wie klein von Statur der Mann war, der das ganze
riesige Marcell-Theater ausgefüllt hatte.
Es war eine Mahlzeit im engen
Kreis. Der junge Anton Marull war da, ein Sohn des Senators, ein
anderer, kaum flügger Aristokrat, dann ein jüdischer Herr, vom
Vorstand der Veliasynagoge, ein gewisser Doktor Licin, recht
affektiert und Josef sogleich unsympathisch.
Josef, das erstemal in einem groß
geführten römischen Haus, fand sich überraschend gut ab mit der
Fülle des Ungewohnten. Der Gebrauch des Geschirrs, der Fischsaucen,
der Gewürze war verwirrend. Aber er hatte dem unsympathischen
Doktor Licin, der auf dem Speisesofa ihm gegenüber lag, bald das
Wichtigste abgesehen; nach einer halben Stunde schon schickte er,
was ihm nicht behagte, mit der gleichen hochfahrend eleganten
Kopfbewegung zurück und befahl mit einem Wink des kleinen Fingers
herbei, was ihm ins Auge stach.
Der Schauspieler Liban aß wenig.
Er beklagte die Diät, die sein verdammter Beruf ihm auflege, ach,
auch in bezug auf Frauen, und er machte ein paar obszöne
Anmerkungen über die Art, wie bestimmte Schauspielunternehmer ihre
leibeigenen Künstler durch eine sinnvoll am Körper angebrachte
Maschinerie verhinderten, über die Stränge zu schlagen. Gegen gutes
Geld aber ließen sie sich von gewissen hochgestellten Damen
erweichen, ihren armen Schauspielern den Mechanismus für einzelne
Nächte abzunehmen. Dann, unvermittelt, machte er sich lustig über
einige Kollegen, Anhänger eines andern Stils, über die
Lächerlichkeit der Tradition, der Maske, des Stelzschuhs. Er sprang
auf, er karikierte den Schauspieler Strathokles, schritt durch das
Zimmer, daß der grüne Schlafrock sich bauschte, er trug Sandalen
ohne Absatz, aber siehe, man spürte leibhaft den überhöhten Schuh
und das ganze gespreizte Wesen.
Josef nahm einen Anlauf, rühmte
bescheiden, wie diskret und dennoch deutlich die Anspielungen
Demetrius Libans auf den Finanzmann Regin gewesen seien. Der
Schauspieler schaute auf: »Also diese Stelle hat Ihnen gefallen?
Das freut mich; denn sie hat nicht so eingeschlagen, wie ich
hoffte.« Josef, glühend und doch immer bescheiden, schilderte, wie
die ganze Aufführung ihn aufgewühlt habe. Millionen von Leibeigenen
habe er gesehen, aber jetzt zum erstenmal habe er erfahren und
gespürt, was ein Leibeigener ist. Der Schauspieler streckte Josef
die beringte Hand hin. Es sei ihm eine große Bestätigung, sagte er,
daß jemand, der gerade aus Judäa komme, von seiner Sache so
ergriffen werde. Josef mußte ihm eingehend schildern, wie jedes
einzelne auf ihn gewirkt habe. Der Schauspieler hörte nachdenklich
zu, langsam einen gewissen, die Gesundheit fördernden Salat
essend.
»Sie kommen aus Judäa, Doktor
Josef«, wechselte schließlich Demetrius Liban das Thema. »O meine
lieben Juden«, sagte er voll Anklage und Resignation. »Sie tun mir
alles Bitterste auf der Welt. In der Hebräer-Synagoge verfluchen
sie meinen Namen, bloß weil ich die Gaben verwerte, die Gott der
Herr mir gegeben hat, und stellen mich den Kindern als Schreckbild
hin. Manchmal sehe ich rot, so ärgert mich ihre Beschränktheit.
Wenn sie aber ein Anliegen in der kaiserlichen Residenz haben, dann
können sie laufen und mir die Ohren vollschwätzen. Dann ist
Demetrius Liban gut genug.«
»Mein Gott«, sagte der junge
Anton Marull, »die Juden ha- ben immer zu quengeln, das weiß
man.«
»Ich verbitte mir das«, schrie
auf einmal der Schauspieler und stand aufgereckt, zürnend. »Ich
verbitte mir, daß man in meinem Haus die Juden beschimpft. Ich bin
Jude.«
Anton Marull war rot angelaufen,
versuchte zu lächeln, aber es gelang nicht, er stammelte
Entschuldigungen. Demetrius Liban hörte gar nicht auf ihn. »Judäa«,
sagte er, »Land Israel, Jerusalem. Ich bin nie dort gewesen, ich
habe den Tempel nie gesehen. Aber einmal werde ich doch hinfahren
und mein Lamm zum Altar bringen.« Sehnsüchtig und besessen schauten
seine graublauen, traurigen Augen aus dem blassen, leicht
gedunsenen Gesicht.
»Ich kann mehr als das, was Sie
gesehen haben«, wandte er sich unvermittelt an Josef, wichtig und
geheimnisvoll. »Ich habe da eine Idee. Wenn die mir glückt, dann,
ja, werde ich meinen Titel wirklich verdienen und der Erste
Schauspieler der Epoche sein. Ich weiß genau, wie ich es machen
müßte. Es ist nur eine Frage des Mutes. Beten Sie, mein Doktor und
Herr Josef Ben Matthias, daß ich den Mut aufbringe.« Anton Marull
legte vertraulich und anmutig den Arm um den Hals des
Schauspielers. »Sag uns doch deine Idee, lieber Demetrius«, bat er.
»Jetzt sprichst du uns schon das drittemal davon.« Aber Demetrius
Liban blieb zugesperrt. »Auch die Kaiserin drängt mich«, sagte er,
»ich möge mit meiner Idee herausrücken. Ich glaube, sie würde mir
viel dafür geben, wenn ich die Idee ausführte«, und er hatte ein
abgründig freches Lächeln. »Aber ich denke nicht daran«, schloß
er.
»Erzählen Sie mir von Judäa«,
wandte er sich wieder an Josef. Josef erzählte vom Passahfest, vom
Fest des Holztragens, von dem Dienst am Versöhnungstag, wie da der
Erzpriester ein einziges Mal im Jahr Jahve bei seinem wirklichen
Namen anruft und wie alles Volk, hörend den großen und
schrecklichen Namen, sich niederwirft vor dem unsichtbaren Gott,
und fünfzigtausend Stirnen rühren die Fliesen des Tempels. Der
Schauspieler hörte zu, die Augen geschlossen. »Ja, einmal werde ich
auch den Namen hören«, sagte er. »Jahr um Jahr verschiebe ich die
Reise nach Jerusalem, die Jahre der Kraft sind nicht viele für
einen Schauspieler, er muß haushalten mit seinen Jahren. Aber
einmal werde ich doch ins Schiff steigen. Und wenn ich alt geworden
bin, werde ich mir ein Haus kaufen und ein kleines Gut bei
Jerusalem.«
Josef, während der Schauspieler
sprach, überlegte scharf und schnell: jetzt war man noch
aufnahmefähig und in der rechten Stimmung. »Darf ich Ihnen noch
etwas von Judäa erzählen, Herr Demetrius?« bat er. Und er erzählte
von seinen drei Unschuldigen. Er dachte an die Ziegelei und das
feuchtkalte, unterirdische Gelaß und die Skelette der drei, und wie
er seinen alten Lehrer Natan nicht erkannt hatte. Der Schauspieler
schmiegte die Stirn in die Hand, hielt die Augen geschlossen. Josef
sprach, und seine Rede hatte Farbe und guten Flug.
Alle schwiegen, als er zu Ende
war. Dann sagte Doktor Licin von der Veliasynagoge: »Sehr
interessant.« Aber der Schauspieler fuhr ihn heftig an; er wollte
gepackt sein und glauben. Licin verteidigte sich. Wo denn sei ein
Beweis, daß die drei wirklich unschuldig seien? Gewiß spreche
dieser Doktor und Herr Josef Ben Matthias aus bester Überzeugung,
aber warum sollen seine Zeugenaussagen besser sein als die von dem
Gouverneur Anton Felix beigebrachten, von einem kaiserlich
römischen Gericht als wahr befundenen? Josef aber blickte auf den
Schauspieler, vertrauensvoll, ernst, und erwiderte schlicht: »Sehen
Sie sich diese drei Männer an. Sie sind in der Ziegelei von Tibur.
Reden Sie mit ihnen. Wenn Sie dann noch an ihre Schuld glauben,
soll kein Wort mehr aus meinen Lippen kommen.«
Der Schauspieler ging hin und
her, seine Augen waren nicht mehr trüb, alle Flauheit war weg. »Das
ist ein guter Vorschlag«, rief er. »Ich freue mich, Doktor Josef,
daß Sie zu mir gekommen sind. Wir fahren nach Tibur. Ich will diese
drei Unschuldigen sehen. Ich werde Ihnen helfen, mein Doktor und
Herr Josef Ben Matthias.« Er stand vor Josef, er war kleiner als
Josef, aber er schien viel größer. »Wissen Sie«, sagte er dunkel,
»daß diese Fahrt in der Richtung meiner Idee liegt?«
Er war angeregt, lebendig,
besorgte selber den Mischkrug, sagte jedem Angenehmes. Man trank
viel. Als es später wurde, schlug jemand vor zu spielen. Man
würfelte mit vier Elfenbeinknöcheln. Demetrius Liban hatte einen
Einfall. Irgendwo mußte er noch aus seiner Kinderzeit hebräische
Würfel verwahrt haben, sonderbare, mit einer Achse, deren oberer
Teil als Griff diente, so daß sie sich wie Kreisel drehen ließen.
Ja, Josef kannte diese Art Würfel. Man suchte, fand. Die Würfel
waren klobig, primitiv, sie ließen sich auf eine komische,
belustigende Art drehen. Man spielte mit Vergnügen. Nicht hoch,
doch für Josef waren die Einsätze ungeheuer. Er atmete auf, als er
die drei ersten Würfe gewann.
Es waren vier Würfel. Jeder trug
die Buchstaben Gamel, He, Nun, Schin. Schin war der schlechteste,
Nun der beste Wurf. Die strenggläubigen Juden verpönten dieses
Spiel, sie wollten wissen, daß der Buchstabe Schin ein altes Bild
des Gottes Saturn vertrat, der Buchstabe Nun ein Bild der Göttin
NogaIstar, bei den Römern Venus genannt. Die Würfel wurden nach der
Drehung wieder in die Mitte zusammengeworfen, jeder Spieler konnte
für seinen Wurf einen beliebigen Kreisel aus den vieren
herausholen. Josef warf im Lauf des Spieles sehr oft den
Glücksbuchstaben Nun. Scharfäugig erkannte er bald, daß es ein
bestimmter Würfel war, der bei jeder Kreiseldrehung den Buchstaben
Nun ergab; es lag wohl daran, daß dieser Würfel an der einen Ecke
unmerklich abgestoßen war. Als Josef dies bemerkte, wurde ihm kalt.
Wenn die andern daraufkamen, daß es der Würfel mit dem abgestoßenen
Eck war, der seine vielen Nun geworfen hatte, war dann nicht das
ganze Ergebnis des heutigen Abends, die Gunst des großen Mannes,
gefährdet? Er wurde sehr vorsichtig, verminderte seinen Gewinn. Was
ihm blieb, genügte, daß er fortan in Rom ohne Knauserei leben
konnte.
»Bin ich sehr unbescheiden, Herr
Demetrius«, fragte er, als das Spiel zu Ende war, »wenn ich Sie
bitte, mir diese Würfel zum Andenken zu schenken?« Der Schauspieler
lachte. Ungefüg kratzte er in einen der Würfel den
Anfangsbuchstaben seines Namens.
»Wann fahren wir zu den drei
Unschuldigen?« fragte er Josef. »In fünf Tagen«, schlug Josef
zögernd vor. »Übermorgen«, sagte der Schauspieler.
In der Ziegelei wurde Demetrius Liban
großartig empfangen. Klirrend erwies das Detachement der
Wachsoldaten dem Ersten Schauspieler der Epoche die Ehrenbezeigung,
die den Männern der höchsten Rangstufen vorbehalten war. Die
Aufseher, die Wächter drängten sich an den Toren, grüßend streckten
sie ihm den rechten Arm mit der geöffneten Hand entgegen. Von allen
Seiten rief es: »Gegrüßt, Demetrius Liban.«
Strahlender Himmel war, der Lehm,
die geduckten Zwangsarbeiter sahen weniger trostlos aus, überall
zwischen ihrem monotonen Singsang klang das berühmte Couplet: »Wer
ist der Herr hier? Wer zahlt die Butter?« Benommen an der Seite des
Schauspielers ging Josef; mehr fast als der Jubel der Tausende im
Theater packte ihn der Anblick der Verehrung, die Demetrius Liban
auch an dieser Stätte letzten Elends genoß.
In dem unterirdischen,
feuchtkalten Gelaß aber war die festliche Tünche sogleich weg, mit
der die Ziegelei heute angestrichen war. Die hohen, schmalen
Fenster, der Gestank, der monotone Singsang. Die drei hockten wie
damals ausgedörrt, den vorgeschriebenen Eisenring am Fuß, das
eingebrannte E auf dem Schädel, die filzigen Bärte grotesk
abstehend von den halbgeschorenen Köpfen.
Josef versuchte, sie zum Sprechen
zu bringen. Mit der gleichen liebevollen Mühe wie das letztemal
holte er aus ihnen Sätze des Elends, der hoffnungslosen
Ergebung.
Der Schauspieler, leicht erregt,
schluckte. Seine Augen hingen an den Greisen, wie sie ausgemergelt,
zerbrochen, mit schwer arbeitenden Adamsäpfeln ihre kümmerlichen
Worte gurgelten. Gierig nahmen seine Ohren ihr rauhes, abgehacktes
Gestammel auf. Er wäre gern hin und her gegangen, doch das war
schwer in dem engen, niedrigen Raum, so stand er starr an seinem
Platz, aufgewühlt. Seine rasche Phantasie sah, wie diese Männer
hoch hergeschritten waren, weißgewandet, feierlich in der
Quadernhalle des Tempels, Gesetzesverkünder in Israel. Tränen kamen
ihm, er wischte sie nicht weg, sie rannen über seine leicht
gedunsenen Wangen. Er stand sonderbar gezwungen, ohne Regung, dann,
mit verbissenen Zähnen, ganz langsam, hob er die Hand mit den
beringten Fingern und riß sein Kleid weit durch, wie es die Juden
taten zum Zeichen großer Trauer. Dann hockte er nieder bei den drei
Elenden, ganz nahe schmiegte er sich an ihre stinkenden Fetzen, daß
ihm ihr übler Atem mitten ins Gesicht schlug und ihre schmutzigen
Bärte seine Haut kitzelten. Und er begann mit ihnen aramäisch zu
sprechen; es war ein stockendes, weithergeholtes Aramäisch, er
hatte wenig Übung. Aber es waren Worte, die sie verstanden, besser
passend zu ihrem Gemüt und ihrer Lage als die Worte Josefs, Worte
der Teilnahme an ihrem kleinen, jämmerlichen Alltag, sehr
menschlich, und sie weinten, und sie segneten ihn, als er
ging.
Einen langen Teil der Rückfahrt
blieb Demetrius Liban schweigsam, dann ließ er seine Überlegungen
laut werden. Was ist das große Pathos eines einmaligen Unglücks,
des brennenden Herakles, des gefällten Agamemnon gegen die
schleichende, Haut und Herz langsam fressende Not dieser drei? Was
für ein endloser, böser Weg, bis diese Großen in Zion, die die
Fackel der Lehre weitergetragen hatten, so stumpf und zerstört
wurden zu drei Bündeln Nichts.
In der Stadt angelangt, am
Tibur-Tor, als er sich von Josef verabschiedete, sagte er noch:
»Wissen Sie, was das Schauerlichste war? Nicht das, was sie sagten,
sondern die sonderbare Art, wie sie die Oberkörper hin und her
schaukelten, immer gleichmäßig. So können das nur Leute machen, die
stets am Boden hocken und viel im Dunkeln gehalten werden. Worte
können lügen, aber diese Bewegungen sind schrecklich echt. Ich muß
darüber nachdenken. Hier ist eine Möglichkeit für starke
Wirkungen.«
In dieser Nacht legte sich Josef
nicht schlafen, sondern er saß in seinem Zimmer und schrieb an
einem Memorandum über die drei Unschuldigen. Das Öl seiner Lampe
ging aus, und der Docht wurde zu kurz, er erneuerte Öl und Docht
und schrieb. Er schrieb sehr wenig von der Sache Cäsarea, mehr von
dem Elend der drei Greise, sehr viel von Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit, schrieb er, gilt den Juden von den ältesten Zeiten
her als die erste Tugend. Sie können Not und Bedrückung ertragen,
aber kein Unrecht, sie feiern jeden, selbst ihren Bedrücker, wenn
er Recht wiederherstellt. »Das Recht flute dahin wie strömendes
Wasser«, sagt einer ihrer Propheten, »und die Gerechtigkeit wie ein
nie versiegender Bach.« – »Dann wird die Zeit golden sein«, sagt
ein anderer, »wenn auch in der Wüste das Recht wohnt.« Josef
glühte. Die Weisheit der Alten glühte er in seinem eigenen Feuer.
Er saß und schrieb. Der Docht seiner Lampe blakte: er schrieb. Von
den Toren her donnerten die Lastwagen herein, denen tagsüber die
Straßen verboten waren: er achtete es nicht, er schrieb und feilte
an seinem Essay.
Drei Tage darauf überbrachte ein Läufer des
Demetrius Liban dem Josef einen Brief, in welchem der Schauspieler
ihn kurz und trocken aufforderte, er möge sich bereit halten,
übermorgen um zehn Uhr der Kaiserin in Gesellschaft des
Schauspielers seine Aufwartung zu machen.
Die Kaiserin. Josef stockte der
Atem. Ringsum an allen Straßen stand ihre Büste, göttlich verehrt.
Was soll er ihr sagen? Wie soll er für diese fremde Frau, deren
Leben und Denken so überhöht ist über das aller andern Menschen,
Worte finden, die ihr ins Innere dringen? Während er dies dachte,
wußte er bereits, daß er die rechten Worte finden werde; denn sie
war eine Frau, und er hatte eine kleine, leise Verachtung für alle
Frauen, und gerade dadurch, wußte er, wird er sie gewinnen. Er
überlas sein Manuskript. Las es sich vor mit lauter Stimme und
unbeherrschten Gesten, so wie er es in Jerusalem lesen würde. Er
hat es aramäisch geschrieben, jetzt, mühsam, übersetzt er es ins
Griechische. Es ist ein Griechisch, durchsprenkelt mit Plumpheiten,
mit Fehlern, das weiß er. Ist es nicht unschicklich, der Kaiserin
mit einem schlechtpräparierten, fehlerhaften Manuskript zu kommen?
Oder werden vielleicht gerade seine Fehler naiv wirken,
liebenswürdig?
Er vermeidet es, mit irgend
jemandem über die bevorstehende Audienz zu sprechen. Er läuft in
den Straßen herum. Er dreht um, wenn er Bekannte sieht, rennt zum
Friseur, kauft sich ein neues Parfüm, fällt aus höchster Zuversicht
in tiefste Depression.
Auf den Büsten hat die Kaiserin
eine niedrige, klare und zierliche Stirn, lange Augen, einen nicht
zu kleinen Mund. Auch ihre Feinde geben zu, daß sie schön ist, und
viele sagen, sie wirke verwirrend auf jeden, der sie das erstemal
sieht. Wie soll er, der kleine Mann aus der Provinz, vor ihr
bestehen? Er muß einen Menschen haben, mit dem er alles bereden
kann. Er läuft nach Haus. Spricht mit dem Mädchen Irene, legt der
Strahlenden, Hochgeehrten Heimlichkeit auf, er müsse ihr sehr
Wichtiges mitteilen, und dann bricht alles aus ihm heraus: wie er
sich die Zusammenkunft mit der Kaiserin denkt, was er ihr sagen
wird. Er probiert es vor Irene aus, die Worte, die
Bewegungen.
Wieder den Tag darauf, großartig,
in der Prunksänfte des Demetrius Liban, trägt man ihn in den
kaiserlichen Palast. Platzmacher voran, Läufer, großes Gefolge. Wo
die Sänfte vorbeikommt, bleiben die Leute stehen, akklamieren den
Schauspieler. Josef sieht die Büsten der Kaiserin an den Straßen,
weiße und bemalte. Die bernsteingelben Haare, das blasse, zierliche
Gesicht, die sehr roten Lippen. Poppäa, denkt er. Poppäa heißt
Püppchen, Poppäa heißt Baby. Er denkt das judäische Wort: Janiki.
So hat man auch ihn einmal gerufen. Es kann nicht schwer sein, mit
der Kaiserin fertig zu werden.
Nach den Schilderungen, die man
ihm von der Kaiserin gemacht hat, erwartet Josef, er werde sie nach
Art orienta lischer Fürstinnen auf üppigen Polstern und Kissen
finden, umgeben von Fächerträgern, Zofen mit Parfüms, in
raffinierten Gewändern. Statt dessen saß sie ganz einfach in einem
bequemen Stuhl, war überaus schlicht angezogen, matronenhaft fast,
in langer Stola; freilich war die Stola aus einem in Judäa
berüchtigten Stoff, aus hauchdünnem koischem Flor. Auch geschminkt
war die Kaiserin kaum, und die Frisur war glatt, gescheitelt und in
einen Haarknoten auslaufend, nichts von den getürmten,
juwelenbesetzten Haarbauten, wie man sie sonst an den Damen der
herrschenden Schicht sah. Zierlich wie ein ganz junges Mädchen saß
die Kaiserin, mit roten, langen Lippen lächelte sie den Herren
entgegen, streckte ihnen die weiße Kinderhand hin. Ja, sie hieß mit
Recht Poppäa, Baby, Janiki; aber sie war auch in Wahrheit
verwirrend, und Josef wußte nicht mehr, was er ihr sagen
sollte.
Sie sagte: »Bitte, meine Herren«,
und da der Schauspieler sich setzte, setzte sich Josef auch, und
nun war ein kleines Schweigen. Das Haar der Kaiserin war wirklich
bernsteingelb, wie die Verse des Kaisers es nannten, aber die
Wimpern und die Brauen ihrer grünen Augen waren dunkel. Josef
dachte in rasender Eile: Sie ist ja ganz anders als die Büsten, sie
ist ein Kind, aber ein Kind, das einen ohne weiteres umbringen
lassen kann. Was soll man mit einem solchen Kind sprechen? Außerdem
soll sie verflucht gescheit sein.
Die Kaiserin schaute ihn
unverwandt und ungeniert an, er hielt mit großer Mühe, leicht
schwitzend, einen demütigen und beflissenen Ausdruck fest. Ganz
leise, um ein geringstes nur, verzog sich ihr Mund, und nun sah sie
auf einmal gar nicht mehr kindlich aus, sondern überaus erfahren
und spöttisch. »Sie kommen frisch aus Judäa?« fragte sie Josef, sie
sprach griechisch, ihre Stimme klang ein bißchen spröd, überaus
hell. »Erzählen Sie mir«, bat sie, »wie denkt man in Jerusalem über
Armenien?« Das war nun wirklich eine überraschende Frage; denn wenn
auch der Schlüssel der römischen Orientpolitik in der Entscheidung
über Armenien lag, so hatte Josef sein Judäa für viel zu wichtig
gehalten, als daß man es nicht selbständig, sondern im Zusammenhang
mit etwas so Barbarischem wie Armenien betrachten könnte.
Eigentlich also dachte man in Jerusalem oder dachte wenigstens er
überhaupt nicht über Armenien, und es fiel ihm nichts ein, was er
auf eine solche Frage erwidern konnte. »Den Juden in Armenien geht
es gut«, sagte er nach längerem Schweigen, ein wenig tölpisch.
»Wirklich?« meinte die Kaiserin, und jetzt lächelte sie breit,
unverhohlen amüsiert. Sie fragte weiter in der gleichen Art, sie
hatte ihren Spaß an dem jungen Herrn mit den langen, heftigen
Augen, der offenbar keine Ahnung hatte, was um sein Land gespielt
wurde. »Danke«, sagte sie schließlich, nachdem Josef einen
umständlichen Satz über die strategischen Verhältnisse an der
parthischen Grenze mühsam zu Ende gebracht hatte, »jetzt bin ich
viel informierter«, sagte sie. Sie lächelte hinüber zu Demetrius
Liban, befriedigt; was hatte er ihr da für ein komisches Gewächs
aus dem Orient zugeführt? »Ich glaube fast«, warf sie dem
Schauspieler hin, erstaunt und anerkennend, »er tritt wirklich aus
purem gutem Herzen für seine drei Unschuldigen ein.« Und
wohlwollend und sehr höflich wendete sie sich an Josef: »Bitte,
erzählen Sie mir von Ihren Schützlingen.« Sie saß bequem in ihrem
Stuhl; der Hals war mattweiß, Beine und Arme schimmerten durch den
dünnen Flor des ernstgeschnittenen Kleides.
Josef zog sein Memorandum hervor.
Allein, wie er anfing, griechisch zu lesen, sagte sie gleich: »Aber
was fällt Ihnen ein? Sprechen Sie doch aramäisch.« – »Ja, werden
Sie mich denn dann ganz verstehen?« fragte töricht Josef. »Wer sagt
Ihnen denn, daß ich Sie ganz verstehen möchte?« erwiderte die
Kaiserin. Josef zuckte die Schultern, mehr hochmütig als gekränkt,
und dann legte er los, aramäisch, wie er seine Rede ursprünglich
entworfen hatte, ja, die Zitate aus den alten Schriften sprach er
unbekümmert hebräisch. Doch er konnte sich nicht konzentrieren, er
merkte, daß er ohne Schwung sprach, er schaute die Kaiserin
unverwandt an, erst demütig, dann ein bißchen blöd, dann
interessiert, schließlich geradezu frech. Er wußte nicht, ob sie
zuhörte, und schon gar nicht, ob sie verstand. Als er fertig war,
fast unmittelbar nach seinem letzten Wort, fragte sie: »Kennen Sie
Cleo, die Frau meines Gouverneurs in Judäa?« Josef hörte das
»meines«. Wie das klang: mein Gouverneur in Judäa. Er hatte sich
vorgestellt, solche Worte müßten kommen wie in Stein gehauen,
statuarisch, und nun saß da ein Kind und sagte lächelnd: mein
Gouverneur in Judäa, und es klang selbstverständlich, man wußte, es
stimmt: Gessius Flor war ihr Gouverneur in Judäa. Aber trotzdem war
Josef durchaus nicht gewillt, sich davon imponieren zu lassen. »Ich
kenne die Frau des Gouverneurs nicht«, sagte er, und, dreist: »Darf
ich eine Antwort auf meinen Vortrag erwarten?« – »Ich habe Ihren
Vortrag zur Kenntnis genommen«, sagte die Kaiserin. Konnte ein
Mensch wissen, was das bedeuten sollte?
Der Schauspieler fand es an der
Zeit, einzugreifen. »Doktor Josef hat wenig Zeit für
gesellschaftliche Dinge«, half er seinem Schützling. »Er
beschäftigt sich mit Literatur.« – »Oh«, sagte Poppäa und wurde
ganz ernst und nachdenklich, »hebräische Literatur. Ich kenne
wenig. Was ich kenne, ist schön, aber sehr schwer.« Josef spannte
sich, sammelte sich. Es mußte, mußte! ihm gelingen, diese Dame, die
so glatt und spöttisch dasaß, zu erwärmen. Er erzählte, wie es sein
einziges Bestreben sei, die gewaltige jüdische Literatur den Römern
aufzuschließen. »Ihr schleppt aus dem Osten Perlen und Gewürze und
Gold und seltene Tiere«, verkündete er. »Aber seine besten Schätze,
seine Bücher, laßt ihr liegen.«
Poppäa fragte, wie er sich das
denke, die jüdische Literatur den Römern aufzuschließen. »Schließen
Sie mir einmal ein Stück davon auf«, sagte sie und schaute ihn
aufmerksam aus ihren grünen Augen an.
Josef machte die Lider zu, wie er
es wohl an Märchenerzählern seiner Heimat gesehen hatte, und begann
zu erzählen. Er nahm das erste, was ihm beifiel, und erzählte von
Salomo, einem König in Israel, von seiner Weisheit, seiner Macht,
seinen Bauten, seinem Tempel, seinen Weibern und seiner Abgötterei,
und wie ihn die Königin aus Äthiopien besuchte, und wie klug er
einen Weiberstreit um ein Kind schlichtete, und wie er zwei überaus
tiefe Bücher schrieb, eines von der Weisheit, genannt der Prediger,
und eines von der Liebe, genannt das Hohelied. Josef versuchte,
einige Strophen aus diesem Hohenlied wiederzugeben in einem Gemisch
von Griechisch und Aramäisch. Das war nicht leicht. Jetzt hielt er
die Augen nicht mehr geschlossen, er übersetzte auch nicht nur mit
dem Mund, vielmehr mühte er sich, die heißen Verse deutlich zu
machen mit Gesten und Atemzügen und dem ganzen Leib. Die Kaiserin
rutschte leicht vor auf ihrem Sessel. Die Arme hielt sie auf der
Lehne, den Mund hatte sie halb offen. »Das sind schöne Lieder«,
sagte sie, als Josef innehielt, stark atmend vor Anstrengung. Sie
wandte sich gegen den Schauspieler. »Ihr Freund ist ein netter
Junge«, sagte sie.
Demetrius Liban, der sich ein
wenig im Hintergrund fühlte, benützte die Gelegenheit, sich wieder
vorzuspielen. Der Schatz jüdischen Schrifttums sei unausschöpfbar,
bemerkte er. Auch er verwerte ihn oft, um seine Kunst
aufzufrischen.
»Sie waren großartig gemein,
Demetrius«, sagte voll Anerkennung die Kaiserin, »letzthin als
Leibeigener Isidor. Ich habe so gelacht«, sagte sie. Demetrius
Liban saß da mit leicht verzerrtem Gesicht. Die Kaiserin mußte gut
wissen, daß das Anmerkungen waren, die er gerade von ihr bestimmt
nicht hören wollte. Dieser junge, freche und tölpische Mensch aus
Jerusalem brachte ihm kein Glück. Die ganze Audienz war ein
Mißgriff, er hätte das nicht machen sollen. »Sie sind mir übrigens
noch eine Antwort schuldig, Demetrius«, fuhr die Kaiserin fort.
»Sie erzählen da immer von einer großen revolutionären Idee, die
Sie in Ihrem Kopf wälzen. Wollen Sie nicht endlich herausrücken mit
dieser Idee? Offen gestanden, ich glaube nicht mehr recht
daran.«
Der Schauspieler saß finster und
gereizt. »Ich habe keinen Anlaß mehr, mit der Idee zurückzuhalten«,
sagte er schließlich streitbar. »Sie hängt zusammen mit dem, wovon
wir die ganze Zeit reden.« Er machte eine kleine, wirkungsvolle
Pause und warf dann ganz leicht hin: »Ich möchte den Juden Apella
spielen.«
Josef erschrak. Der Jude Apella,
das war die Figur des Juden, wie der bösartige römische Volkswitz
ihn sah, ein sehr widerwärtiger Typ, abergläubisch, stinkend, voll
ekelhafter Skurrilität; der große Dichter Horaz hatte ein halbes
Jahrhundert zuvor die Figur in die Literatur eingeführt. Und jetzt
wollte Demetrius Liban ...? Josef erschrak.
Fast noch mehr erschrak er über
die Kaiserin. Ihr mattweißes Gesicht hatte sich gerötet. Es war zum
Bewundern und zum Fürchten, wie vielfältig lebendig sie
war.
Der Schauspieler genoß seine
Wirkung. »Man hat«, erläuterte er, »auf unsern Bühnen Griechen und
Römer und Ägypter und Barbaren dargestellt, aber einen Juden hat
man nicht dargestellt.«
»Ja«, sagte leise und angestrengt
die Kaiserin, »das ist eine gute und gefährliche Idee.« Alle drei
saßen schweigsam, nachdenklich.
»Eine zu gefährliche Idee«, sagte
schließlich der Schauspieler, trauervoll, schon bereuend. »Ich
fürchte, ich werde sie nicht ausführen können. Ich hätte sie nicht
aus meinem Mund herauslassen dürfen. Es wäre schön, den Juden
Apella zu spielen, nicht den albernen Narren, den das Volk aus ihm
macht, sondern den wirklichen mit seiner ganzen Trauer und Komik,
mit seinem Fasten und seinem unsichtbaren Gott. Ich bin
wahrscheinlich der einzige auf der Welt, der das könnte. Es wäre
großartig. Aber es ist zu gefährlich. Sie, Majestät, verstehen
etwas von uns Juden: aber wie wenige sonst in diesem Rom. Man wird
lachen, und nur lachen, und mein Bestes würde zu einem bösartigen
Gelächter werden. Es wäre schlecht für alle Juden.« Und, nach einer
Pause, schloß er: »Und dann wäre es gefährlich für mich selber vor
meinem unsichtbaren Gott.«
Josef saß erstarrt. Das waren
wilde und überaus bedenkliche Dinge, in die er da hineingeraten
war. Er hatte am eigenen Leib gespürt, wie ungeheuer eine solche
Theateraufführung wirken konnte. Seine rasche Phantasie stellte
sich vor, wie der Schauspieler Demetrius Liban auf der Bühne stand
und sein unheimliches Leben hineingoß in den Juden Apella, tanzend,
springend, betend, redend mit den tausend Zungen seines beredten
Körpers. Der ganze Erdkreis wußte, wie willkürlich die Launen eines
römischen Theaterpublikums waren. Niemand konnte voraussehen, was
für eine Nachwirkung bis an die parthischen Grenzen solch eine
Aufführung haben mochte.
Die Kaiserin hatte sich erhoben.
Mit einer merkwürdigen Gebärde verschränkte sie die Hände unter dem
Haarknoten, daß die Ärmel zurückfielen, sie ging auf und ab durch
den ganzen Raum, die Schleppe ihres ernsthaften Kleides fegte nach.
Die beiden Männer waren aufgesprungen, als die Kaiserin sich erhob.
»Schweigen Sie, schweigen Sie«, sagte sie zu dem Schauspieler, sie
war Feuer und Flamme. »Seien Sie nicht feig, wenn Sie einmal eine
wirklich gute Idee gehabt haben.« Sie blieb bei dem Schauspieler
stehen, legte ihm, zärtlich fast, die Hand auf die Schulter. »Das
römische Theater ist langweilig«, klagte sie. »Entweder derb und
simpel oder verkommen in lauter dürrer Tradition. Spielen Sie mir
den Juden Apella, lieber Demetrius«, bat sie. »Reden Sie ihm zu,
junger Herr«, wandte sie sich an Josef. »Glauben Sie mir, ihr alle
könnt mancherlei lernen, wenn er den Juden Apella
spielt.«
Josef stand schweigend, in
peinvoller Ungewißheit. Röte kam, ging auf seinem blaßbraunen
Gesicht. Sollte er Demetrius zureden? Er wußte, das ganze Wesen des
Schauspielers dürstete danach, sein Judentum nackt vor die Augen
dieses großen Rom zu stellen. Es bedurfte nur eines Wortes von ihm,
und der Stein begann zu rollen. Wohin er rollen werde, wußte
niemand.
»Ihr seid langweilig«,
konstatierte mißmutig die Kaiserin. Sie hatte sich wieder gesetzt.
Die beiden Männer standen noch, der Schauspieler, gewohnt, seinen
Körper zu kontrollieren, stand jetzt unschön und unbeholfen. »Reden
Sie doch, reden Sie doch«, drängte die Kaiserin auf Josef
ein.
»Gott ist jetzt in Italien«,
sagte Josef. Der Schauspieler blickte hoch, man sah, wie ihn das
vieldeutige Wort traf, wie es einen dicken Ballen Zweifel von ihm
wegfegte. Auch die Kaiserin war angetan von diesem Satz. »Ein
ausgezeichnetes Wort«, sagte sie und klatschte in die Hände. »Sie
sind ein gescheiter Mann«, sagte sie, und sie notierte sich Josefs
Namen.
Josef war bedrängt und beglückt.
Er wußte nicht, was da aus ihm herausgesprochen hatte. Hat er
eigentlich selbst diesen Satz gefunden? Hat er ihn früher schon
einmal gesagt? Jedenfalls war es der rechte Satz im rechten
Augenblick. Und es ist ganz gleichgültig, ob er ihn gefunden hat
oder ein anderer: es kommt darauf an, bei welcher Gelegenheit ein
Satz gesagt wird. Der Satz: Gott ist in Italien, hat sein Leben
jetzt erst gewonnen, in diesem Augenblick seiner großen
Wirkung.
Aber wirkte er denn überhaupt?
Der Schauspieler stand immer noch unschlüssig oder spielte
wenigstens den Unschlüssigen. »Sagen Sie schon ja, Demetrius«,
sagte die Kaiserin. »Wenn Sie ihn dahin bringen, daß er ja sagt«,
wandte sie sich an Josef, »dann sollen Sie Ihre drei Unschuldigen
frei haben.«
Ein großes Feuer glomm auf in den
heftigen Augen Josefs. Er beugte sich tief nieder, löste mit
Zartheit die weiße Hand der Kaiserin von der Stuhllehne, küßte sie
lange.
»Wann werden Sie mir den Juden
spielen?« fragte währenddes die Kaiserin den Schauspieler. »Ich
habe nichts versprochen«, wehrte schnell und ängstlich Demetrius
ab.
»Geben Sie ihm eine schriftliche
Zusage für unsere Schützlinge«, bettelte Josef. Die Kaiserin
lächelte anerkennend über dieses »ihm« und »unsere«. Sie ließ ihren
Sekretär kommen. »Wenn der Schauspieler Demetrius Liban«, diktierte
sie, »den Juden Apella spielt, dann werde ich erwirken, daß die
drei jüdischen Zwangsarbeiter in der Ziegelei von Tibur
freigelassen werden.« Sie ließ sich das Täfelchen geben. Setzte ihr
P darunter. Überreichte es Josef. Schaute ihn an mit grünen,
klaren, spöttischen Augen. Und er gab den Blick zurück, demütig,
doch so dringlich und andauernd, daß langsam der Spott aus ihren
Augen schwand und ihre Klarheit sich trübte.
Josef, nach der Audienz, schwebte auf Wolken.
Die andern verehrten die Büsten der Kaiserin, einer großen,
göttlichen Frau, die lächelnd ihre gewaltige Gegnerin, die
Kaiserin-Mutter, hatte töten lassen, die lächelnd Senat und Volk
von Rom in die Knie gezwungen hatte. Er selber aber sprach zu
dieser ersten Dame der Welt wie zu einem beliebigen Mädchen am
gewöhnlichen Alltag. Jildi, Janiki. Er hatte ihr nur lange in die
Augen schauen müssen, und schon hatte sie ihm die Freilassung jener
drei Männer versprochen, die der Große Rat von Jerusalem mit all
seiner Weisheit und Staatskunst nicht hatte erlangen
können.
Beschwingt ging er herum in den
Vierteln des rechten Tiberufers, unter den Juden. Achtungsvoll
starrte man ihm nach. Hinter ihm tuschelte es: das ist der Doktor
Josef Ben Matthias aus Jerusalem, Priester der Ersten Reihe,
Günstling der Kai serin. Das Mädchen Irene legte ihm ihre Verehrung
wie einen Teppich unter die Füße. Die Zeit war vorbei, da Josef an
den Vorabenden des Sabbats unter den Mindergeachteten sitzen mußte.
Jetzt fühlte sich Cajus Barzaarone geehrt, wenn Josef den
Ehrenplatz auf seinem Speisesofa einnahm. Mehr als das. Er
lockerte, der alte schlaue Herr, seine vorsichtige Zurückhaltung,
gab Josef Einblick in gewisse Schwierigkeiten, die er vor andern
sorglich verbarg.
Seine große Möbelfabrik ging nach
wie vor ausgezeichnet. Aber immer bösartiger jetzt drohte eine
Gefahr, die er schon seit Jahren spürte. Immer mehr wurde es unter
den Römern Mode, am Hausrat Tierfiguren als Ornamente anzubringen,
als Tischfüße, als Reliefs, in hundertfältiger Verwendung. Nun hieß
es aber in der Schrift »Du sollst dir kein Bild machen«, und es war
den Juden verboten, Figuren von Lebendigem herzustellen. Cajus
Barzaarone hatte denn auch die Herstellung von Tierornamenten bis
jetzt vermieden. Allein seine Konkurrenten nützten diesen Verzicht
immer rücksichtsloser aus, sie erklärten seine Fabrikate für
veraltet, es war schmerzlich, wie viele seiner Kunden abwanderten.
Der Verzicht auf die Herstellung von Tierornamenten kostete jetzt
nach dem großen Brand den Cajus Barzaarone Hunderttausende. Er
suchte Ausflüchte, Auswege. Machte geltend, er benütze die Möbel
seines Magazins ja nicht selber, sondern verkaufe sie weiter. Er
holte Gutachten ein bei einer Reihe von Theologen; angesehene
Doktoren in Jerusalem, Alexandrien und Babylon erklärten die
Herstellung der fraglichen Ornamente in seinem Fall für eine
läßliche Sünde oder gar für erlaubt. Dennoch zögerte Cajus
Barzaarone. Er sprach keinem Menschen von diesen Gutachten. Er
wußte genau: wenn er sich, darauf gestützt, über die Bedenken der
Orthodoxen wegsetzt, wird das seine Stellung in der
Agrippenser-Gemeinde ernstlich gefährden. Sein Vater gar, der
uralte Aaron, könnte von dem Gram über solchen Liberalismus, Gott
behüte, den Tod haben. Der nach außen so sichere Mann war voll von
Zweifeln und Sorgen.
Josef nahm es nicht genau mit der
Befolgung der orthodoxen Riten. Aber »Du sollst dir kein Bild
machen«, das war mehr als ein Gesetz, es war eine der
Grundwahrheiten des Judentums. Wort und Bild schlossen einander
aus. Josef war Literat bis in alle Poren. Er hing an dem
unsichtbaren Wort. Es war das Wunderbarste, was es auf der Welt
gab, es wirkte gestaltlos stärker als jede Gestalt. Nur der konnte
Gottes Wort, das heilige, unsichtbare, in Wahrheit besitzen, der es
nicht durch sinnliche Vorstellungen befleckte, der aus innerstem
Herzen auf den eitlen Tand des Bildwerks verzichtete. Er hörte die
Darlegungen des Cajus Barzaarone verschlossenen Gesichtes an,
ablehnend. Gerade das aber lockte den Alten. Ja, Josef hatte den
Eindruck, man hätte ihn nicht ungern als Schwiegersohn
gesehen.
Unterdes sickerte langsam durch,
daß die Freilassung der drei Unschuldigen an, eine Bedingung
geknüpft war. Die Freude der Juden, als sie diese Bedingung hörten,
schlug jäh um. Was? Der Schauspieler Demetrius Liban soll den Juden
Apella spielen, im Pompejus-Theater womöglich, vor vierzigtausend
Menschen? Der Jude Apella. Die Juden überfröstelte es, wenn sie den
bösartigen Spitznamen hörten, in den Rom seinen Widerwillen gegen
die Zugewanderten am rechten Tiberufer gepreßt hatte. Das Spottwort
hatte eine üble Rolle gespielt bei den Pogromen unter den Kaisern
Tiber und Claudius, es bedeutete Gemetzel und Plünderung. Konnte
der Haß, der jetzt schlief, nicht jeden Augenblick wieder
aufwachen? War es nicht ebenso dumm wie frevelhaft, an das Ruhende
zu rühren? Man hatte schlimme Beispiele, wozu ein römisches
Theaterpublikum sich im Affekt hinreißen ließ. Es war
ungeheuerlicher Übermut, wenn Demetrius Liban den Juden Apella auf
die Bühne beschwor.
Von neuem, mit gesteigerter
Wildheit, erhoben sich die strengeren unter den jüdischen Doktoren
gegen den Schauspieler. War es nicht schon Sünde, sich auf eine
Bühne zu stellen, in die Haut und Kleider eines andern Menschen zu
schlüpfen? Hatte nicht Gott, gelobt sei sein Name, einem jeden sein
Gesicht und seine Haut gegeben? War es also nicht Auflehnung, sie
vertauschen zu wollen? Aber gar einen Juden darstellen, einen aus
dem Samen Abrahams, einen Auserwählten, zum Spaß der
Unbeschnittenen, das war Todsünde, das war Überhebung, das mußte
Unheil heraufbeschwören auf die Häupter aller. Und sie
forderten Bann und Ächtung des Demetrius
Liban.
Die Liberalen unter den Doktoren
verteidigten den Schauspieler mit Wärme. Geschah, was er plante,
nicht zum Heil der drei Unschuldigen? War es nicht das einzige
Mittel, diese drei zu erretten? War nicht, den Gefangenen zu
helfen, eines der obersten Gebote der Schrift? Durfte man dem
Schauspieler sagen: Tu es nicht, laß die drei verfaulen, wie
Tausende von den Vorvätern verkommen waren in den Ziegeleien
Ägyptens?
Heftig diskutierte man.
Scharfsinnig in den Seminaren der Theologiestudenten setzte man
Bibelzitat gegen Bibelzitat. Allen jüdischen Hochschulen legte man
das interessante Problem vor, stritt sich darüber in Jerusalem, in
Alexandrien, unter den großen Doktoren Babylons, im fernen Osten.
Es war eine Angelegenheit, so recht geschaffen für Theologen und
Juristen, ihren Witz daran zu üben.
Der Schauspieler selber ging
herum und zeigte jedem den tragischen Konflikt zwischen seinem
religiösen und seinem künstlerischen Gewissen. Innerlich war er
längst entschlossen, den Juden Apella zu spielen, koste es, was es
wolle. Er wußte auch genau, wie er es machen werde. Bereits hatten
ihm seine Librettisten, vor allem der feine, spitze Senator Marull,
eine wirksame Handlung komponiert, fruchtbare Situationen.
Besonders auch dem merkwürdigen mechanischen und resignierten
Schaukeln, das die Leiber der drei Unschuldigen in ihren Kerkern
angenommen hatten, verdankte er manchen grotesk schauerlichen
Einfall. Was er zeigen wollte, war ein kühnes Gemisch von Tragik
und Komik. Vorsichtig, in den volkstümlichen Kneipen des
Geschäftsviertels, des Speicherviertels, der Baracken gab er
einzelne Szenen zum besten, ihre Wirkung zu prüfen. Aber dann
wieder versank er in Trauer, daß er wahrscheinlich das Spiel doch
nicht werde zeigen können, sein Gewissen verbiete es ihm. Mit
Befriedigung nahm er wahr, wie allmählich ganz Rom davon sprach:
wird der Schauspieler Demetrius Liban den Juden Apella spielen? Wo
sich seine Sänfte zeigte, entstand vergnügtes Geschrei, das Volk
applaudierte und rief: Sei gegrüßt, Demetrius Liban, spiel uns den
Juden Apella.
Er sprach auch der Kaiserin
davon,» in welch trübes, gewag tes Unternehmen er sich da einlassen
solle, und wie schwer seine Skrupel seien. Die Kaiserin lachte,
lachend schaute die Kaiserin dem Schwankenden zu. Es war Weisung an
die Ziegelei von Tibur gegangen, die drei jüdischen Zwangsarbeiter
gut zu halten, daß sie ja nicht inzwischen verstürben. Im übrigen
erwartete Poppäa ein Gutachten des Ministeriums für Bitten und
Beschwerden. Die Freilassung der drei war keine große Sache;
immerhin, die Orientpolitik Roms war verwickelt, und Poppäa war
Römerin genug, um die Amnestierung der drei sogleich
fallenzulassen, wenn die leisesten politischen Bedenken dagegen
sprachen. Sie wird lächelnd, wenn es nötig sein sollte, ihr
Versprechen kassieren.
Vorläufig jedenfalls hatte sie
ihren Spaß daran, den Schauspieler immer wieder in sein Vorhaben
hineinzujagen. Sie erzählte ihm, schon arbeite die
hocharistokratische Opposition im Senat gegen die Amnestierung. Er
solle sich also entscheiden, es sei unrecht, die Leiden der drei
armen Kerle unnötig zu verlängern. Sie lächelte: »Wann werden Sie
uns den Juden Apella spielen, Demetrius?«
Der Minister Philipp Talaß, Chef der
Orientabteilung der kaiserlichen Kanzlei, läßt zum zweitenmal den
Masseur kommen, daß er ihm Hände und Füße reibe. Es ist noch früh
im Herbst, die Sonne ist kaum hinunter, niemand sonst friert; aber
der Minister kann nicht warm werden. Er liegt, der kleine,
geiernäsige Herr, auf dem Ruhebett, dick in Polster und Decken
eingepackt, vor sich ein Kohlenbecken für die Hände, eines für die
Füße. Auf der andern Seite des Ruhebettes reibt der leibeigene
Masseur ängstlich bemüht die uralte, verschrumpfte Haut, aus der
blau und trocken die Adern hervorstehen. Der Minister schimpft,
droht. Der Masseur strengt sich an, über die vernarbten Stellen auf
den Schultern des Greises wegzugleiten; diese Stellen, das weiß er,
rühren von Peitschenhieben her, die der Minister Talaß bekommen
hat, als er noch in Smyrna Leibeigener war. Die Ärzte haben tausend
Mittel versucht, diese Narben zu entfernen, sie haben operiert, der
große Spezialist Scribon Larg hat alle seine Salben angewandt, aber
die alten Narben wollen nicht weggehen.
Es ist ein schlechter Tag heute,
ein schwarzer Tag, die ganze Dienerschaft im Haus des Ministers
Talaß hat das schon zu spüren bekommen. Der Sekretär weiß, was an
dieser schlechten Laune schuld ist. Sie flog den Minister an, als
er ihm einen Brief aus dem Ministerium für Bitten und Beschwerden
vorlegte, eine kleine, formelle Anfrage. Die Herren in diesem
Ministerium, vor allem der dicke, schlaue Junius Thrax, würden den
Minister Talaß gern übergehen, sie lieben ihn nicht; aber unter
diesem Kaiser ist die Orientabteilung zum Mittelpunkt der gesamten
Reichspolitik geworden, und sie wissen, was für wüsten Stank
Philipp Talaß zu machen pflegt, wenn er in irgendeiner
Angelegenheit nicht gehört wird, die von fernher in sein Ressort
reicht. Und so haben die Herren eine gewisse Anfrage aus dem
Kabinett der Kaiserin nicht endgültig verabschiedet, bevor sie
nicht auch von ihm begutachtet ist.
An sich ist es keine große Sache.
Es handelt sich um ein paar alte Juden, vor Jahren im Zusammenhang
mit Unruhen in Cäsarea zu Zwangsarbeit verurteilt. Die Kaiserin hat
offenbar wieder eine ihrer Launen, die wievielte?, sie will die
Verbrecher amnestieren, Ihre Majestät hat eine bedenkliche Schwäche
für jüdisches Gesindel. Hure, verdammte! denkt der Minister und
gibt dem Masseur einen unwilligen Stoß mit dem Ellbogen.
Wahrscheinlich stammt sie selbst aus irgendeiner Hurerei mit Juden
trotz ihres altadeligen Namens. Diese hochmütigen römischen
Aristokraten sind ja seit Urväterzeiten verseucht mit allen Lastern
und verderbt bis in die Knochen.
Immerhin, viel kann man gegen die
Laune der Kaiserin nicht vorbringen. Nur sehr allgemeine
Gesichtspunkte: die Lage im Orient verlange äußerste Energie auch
in scheinbar geringfügigen Dingen und dergleichen.
Der kleine, geiernäsige Herr
ärgert sich. Er schickt den Masseur fort, der Idiot kann ihm doch
nicht helfen. Er legt sich auf die Seite, zieht die spitzen Knie
hoch bis zur Brust, denkt scharf nach, übellaunig.
Immer diese Juden, überall kommen
sie einem in die Quer.
Die Orientpolitik ist seit den
Erfolgen des Feldmarschalls Corbulo an der parthischen Grenze
erfreulich aktiv. Den Kaiser stachelt der Ehrgeiz, ein neuer
Alexander zu werden, die Einflußsphäre des Reichs bis an den Indus
auszudehnen. Die großen, geheimnisvollen Feldzüge nach dem fernen
Osten, von denen Rom seit einem Jahrhundert träumt, vor einer
Generation noch läppische Knabenphantasien, sind in das Stadium
ernsthafter Erwägung getreten. Die autoritativen Militärs haben
Pläne ausgearbeitet, das Finanzministerium hat nach sorglicher
Prüfung die Bereitstellung der Mittel für möglich
erklärt.
Nur einen wunden Punkt hat das
kühne Projekt dieses neuen Alexanderzugs: eben die Provinz Judäa.
Sie liegt mitten im Aufmarschgebiet, man kann das große Werk nicht
beginnen, solange man diese unsichere Stelle nicht dicht und fest
gemacht hat. Die andern Herren des kaiserlichen Kabinetts lächeln,
wenn der Minister Talaß darauf zu sprechen kommt, sie halten seinen
Judenhaß für eine fixe Idee. Aber er, Philipp Talaß, kennt die
Juden aus seiner asiatischen Vergangenheit. Er weiß, man kann mit
ihnen keinen Frieden halten, sie sind ein fanatisches,
abergläubisches, irrsinnig hochmütiges Volk, und sie werden nicht
ruhen, ehe sie endgültig gezüchtigt sind, ehe ihre freche
Hauptstadt dem Erdboden gleichgemacht ist. Immer wieder fallen die
Gouverneure auf ihre versöhnlichen Versprechungen herein, aber
immer wieder erweist sich hinterher, daß diese Beteuerungen Lügen
waren. Niemals hat sich die läppische, kleine Provinz loyal in die
Herrschaft des Reichs gefügt wie so viele andere größere und
mächtigere Gebiete. Ihr Gott verträgt sich nicht mit den andern
Göttern. Eigentlich ist Krieg in Judäa seit dem Tod des letzten in
Jerusalem residierenden Königs, und Judäa wird unruhig bleiben, es
wird dort Krieg sein, der Alexanderzug wird nicht möglich sein,
solange nicht Jerusalem zerstört ist.
Der Minister Talaß weiß, diese
Erwägungen stimmen. Aber er weiß auch, nicht sie allein sind
schuld, daß, sooft er von Juden hört, ihm der Magen brennt und ihn
das Zwerchfell sticht. Er denkt an seine Vergangenheit: wie er als
Zugabe zu einem kostbaren Kandelaber in den Besitz eines
kultivierten griechischen Herrn geriet; wie er mit äußerster
Zähigkeit durch sein Gedächtnis und sein Sprachentalent hochkam, so
daß sein Herr ihn ausbilden ließ; wie er in die engere Konkur renz
derer kam, die in den kaiserlichen Dienst übernommen werden
sollten; wie dann, als der Personalchef des Kaisers Cajus ihn
examinierte, der jüdische Dolmetsch Theodor Zachäus sich über sein
Aramäisch lustig machte, so daß die kaiserliche Kanzlei ihn um ein
Haar abgelehnt hätte. Dabei war es ein winziger Fehler gewesen, man
konnte streiten, ob es überhaupt ein Fehler war. Der Stinkjud
stritt aber nicht, er verbesserte bloß. »Nablion«, hatte er gesagt,
aber der Jud verbesserte: »Nabla« oder vielleicht »Nebel«, aber
bestimmt nicht »Nablion«, und dabei hatte er ein so gemeines,
niederträchtiges Lächeln. Und was dann, wenn nach soviel Jahren des
Schweißes und der Kosten die Übernahme nach Rom nicht erfolgt wäre,
was dann hätte sein Herr mit ihm angefangen? Totpeitschen hätte er
ihn lassen. Der Minister, wenn er daran dachte, wie der Jud
gelächelt hatte, wurde kalt vor Angst und Wut.
Aber es war wirklich nicht allein
persönliches Ressentiment, es war guter politischer Instinkt, der
ihn gegen die Juden scharfmachte. Die Welt war römisch, die Welt
war befriedet durch das einheitliche, römisch-griechische System.
Nur die Juden muckten auf, wollten die Segnungen dieser gewaltigen
völkerverbindenden Organisation nicht erkennen. Die große
Handelsstraße nach Indien, bestimmt, griechische Kultur nach dem
fernsten Osten zu tragen, konnte nicht erschlossen werden, solange
das hochfahrende, hartnäckige Volk nicht endgültig niedergetreten
war.
Leider hatte man bei Hof kein Aug
für die Gefahr Judäa. Es wehte durch das kaiserliche Palais ein
verdammt freundlicher Wind für die Juden. Sein dicker Kollege
Junius Thrax von der Justiz begönnerte sie. Auch in der
Finanzverwaltung saßen sie. Allein in den letzten drei Jahren waren
ihrer zweiundzwanzig in die Liste des Adels eingetragen worden. Sie
drängten auf die Bühne, in die Literatur. Spürte man nicht geradezu
körperlich, wie sie mit ihren läppischen, abergläubischen Büchern
das Reich zersetzten? Dieser Claudius Regin wirft das Zeug jetzt in
Schiffsladungen auf den Markt. Der alte Minister, wie er den Namen
Regin denkt, zieht die Beine noch höher. Vor der Schlauheit dieses
Mannes, so zuwider er ihm ist, hat er Respekt. Und dann hat dieser
Regin eine Perle in seiner Truhe, ein mächtiges, fehlerloses,
zartrosiges Stück. Er möchte ihm diese Perle gern abkaufen. Er
glaubt, wenn er sie an seinem Finger trägt, dann wird seine Haut
weniger trocken. Wahrscheinlich würde die Perle auch auf die
vernarbten Stellen an der Schulter günstig einwirken; aber der
Stinkjud ist reich, Geld lockt ihn nicht, er gibt die Perle
nicht.
Der Minister Talaß überlegt hin
und her. Die Unruhen in Cäsarea. Regin und sein Ring. Soll man den
Senat mobil machen? Man kann auf den Partherkrieg hinweisen. Und es
heißt doch Nablion.
Plötzlich wirft er sich auf den
Rücken, streckt sich gerade, starrt aus seinen geröteten, trockenen
Augen zur Decke. Seine Magenschmerzen sind weg, auch sein
Frostgefühl ist verschwunden. Er hat eine Idee, eine ausgezeichnete
Idee. Nein, er gibt sich nicht mit Kleinlichem ab. Was hat er schon
erreicht, wenn die drei Hunde in der Ziegelei von Tibur verrecken?
Sollen sich die Herren Juden ihre Lieblinge herausholen. Sollen sie
sich die drei in Knoblauch einmachen oder in ihren
Sabbatkochkisten. Er weiß was Besseres. Er wird den Juden für die
Freilassung dieser drei eine Rechnung schreiben, gesalzener, als
irgendein Herr vom Finanzministerium sie auskalkulieren könnte. Das
Edikt, das Edikt über Cäsarea. Er wird die Sache Cäsarea verquicken
mit der Amnestierung der drei. Er wird das Edikt über Cäsarea dem
Kaiser morgen von neuem vorlegen. Seit sieben Monaten wartet er auf
die Unterschrift: bei dieser Gelegenheit wird er sie bekommen. Man
kann den Juden nicht alles konzedieren. Man kann ihnen nicht ihre
drei Verbrecher herausgeben und die Stadt Cäsarea dazu. Entweder
das eine oder das andere. Da die Kaiserin es wünscht, wird man ihre
geschätzten Märtyrer freilassen. Aber auf ihre Forderungen für
Cäsarea müssen sie dann endgültig verzichten.
Er läßt sich den Sekretär kommen,
verlangt seine Denkschrift über Cäsarea. Wie er sie in Erinnerung
hat, ist sie kurz und schlagend. So liebt es der Kaiser; denn er
will sich nicht lang mit Politik abplagen, ihn interessieren andere
Dinge. Übrigens kapiert er gut, der Kaiser, er hat einen raschen,
scharfen Verstand. Wenn man ihn nur dahin bringt, daß er die
Denkschrift einmal richtig überliest, dann hat man auch seine
Unterschrift für das Edikt. Und diese Sache mit den drei
Zwangsarbeitern kann gar nicht erledigt werden, ohne daß endlich
die ganze Angelegenheit Cäsarea entschieden wird. Ja, diesmal muß
der Kaiser sich entschließen. Es war ein gesegneter Einfall
Poppäas, die Freilassung der drei zu verlangen.
Der Sekretär kommt, überbringt
ihm die Denkschrift. Talaß überfliegt sie. Ja, er hat die Sache
klar und überzeugend dargestellt.
Die nicht leibeigene
Einwohnerschaft von Cäsarea setzt sich zusammen aus vierzig Prozent
Juden und sechzig Prozent Griechen und Römern. Im Stadtmagistrat
haben aber die Juden die Majorität. Sie sind reich, und das
Wahlstatut staffelt das Stimmrecht nach ökonomischen Prinzipien.
Das auf solchen Prinzipien basierende Wahlrecht hat sich im
allgemeinen in den Provinzen Syrien und Judäa bewährt. Warum sollen
diejenigen, die den größeren Teil der Gemeindeumlagen aufbringen,
nicht auch über die Verwendung dieser Umlagen bestimmen? In Cäsarea
aber bringt dieses Wahlrecht für die Majorität der Bevölkerung
außerordentliche Härten mit sich. Denn die Juden nützen ihre Macht
im Stadtmagistrat mit unerhörter Willkür aus. Sie verwenden die
öffentlichen Gelder nicht für die Bedürfnisse der Bevölkerung,
sondern schicken unverhältnismäßig große Beträge nach Jerusalem für
den Tempel und für religiöse Zwecke. Es ist kein Wunder, daß es bei
den Wahlen immer wieder zu blutigen Zusammenstößen kommt. Mit
Erbitterung denken die Griechen und Römer Cäsareas daran, daß sie,
als die Stadt unter Herodes gegründet wurde, die ersten Einwohner
stellten, daß sie den Hafen bauten, von dessen Erträgnissen die
Stadt lebt. Schließlich auch residiert der römische Gouverneur in
Cäsarea, und die Vergewaltigung der Griechen und Römer durch die
Juden wirkt in der offiziellen Hauptstadt der Provinz doppelt
unerträglich. Man hat wirklich auf die Empfindlichkeit der Juden
genügend Rücksicht genommen, indem man ihnen in Jerusalem absolute
Autonomie konzediert hat. Es ist nicht angängig, daß man diesem nie
zufriedenen Volk noch weiter entgegenkommt. Die Geschichte
Cäsareas, die Herkunft und die Religion des Großteils der
Bevölkerung, ihr Stamm und ihre Kraft sind nichtjüdisch. Die Stadt
Cäsarea, auf der die Ruhe und Sicherheit der ganzen Provinz steht,
wird es nicht begreifen, wenn man dem loyalsten, reichstreuesten
Teil ihrer Einwohnerschaft auf die Dauer sein wohlverdientes
Wahlrecht vorenthält.
Der Minister Philipp Talaß hat in
seinem gescheiten und hinterhältigen Gutachten die Argumente der
Juden keineswegs verschwiegen. Er hat darauf hingewiesen, daß im
Fall einer Änderung des Wahlstatuts die griechisch-römische
Bevölkerung Verfügungsrecht über die gesamten jüdischen Steuern der
Stadt erhielte, was praktisch einer weitgehenden Enteignung der
jüdischen Kapitalisten gleichkäme. Aber sehr geschickt bewies er,
was das für ein kleines Übel sei, gemessen an der ungeheuren
Ungerechtigkeit, daß man die offizielle Hauptstadt einer für die
gesamte Orientpolitik so wichtigen Provinz wie Judäa faktisch durch
das bestehende Wahlrecht vom Willen einer kleinen Anzahl reicher
Juden abhängig mache.
Er las nochmals. Überprüfte
sorgfältig das Manuskript: seine Argumente waren durchschlagend. Er
war fest entschlossen, lächelte. Ja, er wird das Kleinere, die drei
Zwangsarbeiter, preisgeben, um den Juden dafür das Große zu
entreißen, die schöne Hafenstadt Cäsarea.
Er rief Dienerschaft herbei,
schimpfte. Ließ die Kohlenbecken hinausbringen, die Polster, die
Kissen. Was fiel den Dummköpfen ein, wollten sie ihn in Hitze
ersticken? Er lief auf seinen dürren Beinen hin und her, seine
Knochenhände belebten sich. Er verlangte dringlich für den andern
Morgen eine Audienz beim Kaiser. Er sah jetzt seinen Weg, es konnte
gar nicht mißglücken.
Denn er hatte keine Eile, er
konnte seine Rache auch kalt genießen. Es waren einige Jahrzehnte
vergangen, seitdem der jüdische Dolmetsch Theodor Zachäus gelächelt
hatte. Nablion, nun gerade und für immer: Nablion. Er kann warten.
Ist das Edikt, das die Juden in Cäsarea aus ihrer angemaßten
Machtstellung hinauswirft, erst unterzeichnet, dann braucht es
keineswegs sogleich verkündet zu werden. Es mag dann ruhig noch
Monate oder selbst ein Jahr liegenbleiben, bis man über den Beginn
des großen Alexanderzuges klarsieht.
Ja, in dieser Form wird er dem
Kaiser morgen die Regelung der Sache Cäsarea vorschlagen. Er ist
sicher, in dieser Form wird er sie durchdrücken. Er lächelt. Er
diktiert noch vor dem Abendessen die Antwort auf die Anfrage des
Ministeriums für Bitten und Beschwerden, betreffend das Gutachten
an das Kabinett der Kaiserin über die Amnestierung von drei
jüdischen Zwangsarbeitern in der Ziegelei von Tibur. Der dicke
Junius Thrax wird sich wundern, wenn er sieht, daß der Minister
Talaß gegen die Freilassung der drei nichts, aber auch gar nichts
einzuwenden hat.
Beim Abendessen nehmen die Gäste
des Ministers nachdenklich wahr, wie geradezu aufgeräumt der alte,
verdrießliche Herr sein kann.
Dem Demetrius Liban gefiel Josef immer
besser. Der Schauspieler war nicht mehr ganz jung, sein Leben und
seine Kunst kosteten ihn viel Kraft, es war ihm, als könne er sich
an der Heftigkeit dieses Jünglings aus Jerusalem neu entzünden. War
nicht auch Josef der Anlaß gewesen, daß er endlich seine große und
gefährliche Idee, die Darstellung des Juden Apella, ans Licht ließ?
Er zog den Josef immer häufiger in sein Haus. Der legte seine
Provinzmanieren ab, erlernte mit hellem Verstand die rasche,
wendige Lebensklugheit der Hauptstadt, wurde weltläufig. Den vielen
Literaten, die er durch den Schauspieler kennenlernte, schaute er
ihre Technik, sogar den Jargon des Metiers ab. Er hatte politische
und weltanschauliche Gespräche mit Männern von Bedeutung,
Liebschaften mit Frauen, die ihm gefielen, mit leibeigenen Mädchen
wie mit Damen der Aristokratie.
Josef lebte also angesehen und
angenehm. Dennoch packte ihn oft, wenn er allein war, prickelndes
Unbehagen. Er wußte natürlich, daß die Freilassung der drei
Unschuldigen nicht über Nacht erfolgen konnte. Aber nun vergingen
Wochen, Monate, er wartete und wartete, wie er in Judäa gewartet
hatte. Es fraß an ihm, er mußte sich Gewalt antun, um nicht aus der
Rolle des Zuversichtlichen zu fallen.
Claudius Regin hatte ihn
aufgefordert, er möge ihm das Memorandum schicken, dessen Vortrag
solchen Eindruck auf die Kaiserin gemacht hatte. Josef schickte das
Manuskript, wartete gespannt auf eine Äußerung des großen
Verlegers. Aber der schwieg. Josef wartete vier lange Wochen; Regin
schwieg. Hatte er das Manuskript dem Justus zu lesen gegeben? Josef
wurde es unbehaglich, wenn er an den kühlen, scharfen Kollegen
dachte.
Endlich bat ihn Regin zum Essen.
Einziger Gast außer Josef war Justus von Tiberias. Josef spannte
sich, witterte Auseinandersetzung. Er brauchte nicht lange zu
warten. Schon nach dem Vorgericht sagte der Hausherr, er habe
Josefs Memorandum gelesen. Beachtliches Formtalent, aber der
Inhalt, die Argumente seien schwach. Justus habe sich ja auch
seinesteils, im Auftrag des Königs Agrippa, zu dem Fall der drei
Verurteilten geäußert. Es wäre freundlich, wenn er ihnen seine
Meinung mitteilen wollte. Dem Josef zitterten die Knie. Die Meinung
ganz Roms erschien ihm mit einemmal unwichtig vor der Meinung
dieses seines Kollegen Justus von Tiberias.
Justus ließ sich nicht bitten.
Der Fall der drei könne nicht anders behandelt werden als im
Zusammenhang mit der Angelegenheit Cäsarea. Die Angelegenheit
Cäsarea könne nicht anders behandelt werden als im Zusammenhang mit
der gesamten Orientpolitik Roms. Seitdem im Osten der
Generalfeldmarschall Corbulo kommandiere, habe Rom in der Form
manchmal, in der Sache nie Konzessionen gemacht. Bei allem Respekt
vor dem Formtalent des Josef glaube er nicht, daß in der
kaiserlichen Kanzlei seine Denkschrift den Ausschlag geben werde,
sondern vielmehr Berichte und Aufstellungen des Finanzamts, des
Generalstabs. Er, Justus, habe in der Denkschrift, die er der
Orientabteilung der Kanzlei im Auftrag seines Königs Agrippa
überreichte, vor allem die juristische Seite der Angelegenheit
Cäsarea ins Licht gehoben. Habe hingewiesen auf das Beispiel der
Stadt Alexandrien, wo Rom die Schiebungen der Judenfeinde nicht
hatte durchgehen lassen. Aber er fürchte, der Minister Talaß,
ohnedies Antisemit und wahrscheinlich von den Griechen Cäsareas
geschmiert, werde hier trotz aller juristischen Argumente die
Schiebungen der nichtjüdischen Bevölkerung begünstigen. Vom
Gesichtspunkt der gesamten römischen Orientpolitik aus gesehen
leider mit gutem Grund. Justus hatte sich auf seinem Speisesofa
hochgesetzt; er dozierte scharf, logisch, eindringlich. Josef hörte
zu, liegend, die Hände hinterm Kopf verschränkt. Plötzlich richtete
er sich hoch, beugte sich über den Tisch gegen Justus, sagte
feindselig: »Es ist nicht wahr, daß es bei den Märtyrern von Tibur
um Politik geht. Es geht um Gerechtigkeit, um Menschlichkeit. Nur
um der Gerechtigkeit willen bin ich hier. Gerechtigkeit! Das
schreie ich, seitdem ich in Italien bin, den Leuten ins Gesicht.
Mit meinem Willen zur Gerechtigkeit habe ich die Kaiserin
überzeugt.«
Regin wandte den fleischigen Kopf
von einem zum andern. Sah das blaßbraune hagere Gesicht Josefs, das
gelbbraune hagere des Justus. »Wissen Sie, meine Herren«, sagte er,
und seine hohe, fettige Stimme war bewegt, »daß Sie sich ähnlich
sehen?«
Beide waren sie betroffen. Sie
musterten sich: der Juwelier hatte recht. Sie haßten
sich.
»Ich kann Ihnen übrigens im
Vertrauen sagen, meine Herren«, fuhr Regin fort, »daß Sie sich über
einen Fall streiten, der erledigt ist. Ja«, sagte er ihnen in ihre
verblüfften Gesichter, »die Angelegenheit Cäsarea ist entschieden.
Es kann eine Weile dauern, bis das Edikt veröffentlicht wird; aber
es ist unterschrieben und an den Generalgouverneur von Syrien
abgegangen. Sie haben recht, Doktor Justus. Die Angelegenheit
Cäsarea ist gegen die Juden entschieden.«
Die beiden jungen Leute schauten
mit starren Augen auf Claudius Regin, der schläfrig vor sich hin
sah. Sie waren so bestürzt, daß sie einander und ihren Streit
vergaßen. »Das ist der schlimmste Schlag gegen Judäa seit mehr als
hundert Jahren«, sagte Josef. »Ich fürchte, wegen dieses Edikts
wird noch manches Mannes Blut fließen«, sagte Justus. Sie
schwiegen, sie tranken. »Sehen Sie zu, Doktor Josef«, sagte Regin,
»daß Ihre Juden vernünftig bleiben.« – »Hier in Rom läßt sich das
leicht raten«, sagte Josef, und seine Stimme war voll ehrlicher
Bitterkeit. Er saß zusammengeduckt, müde, wie ausgeronnen. Die
Mitteilung dieses widerwärtigen, fetten Mannes füllte ihn so mit
Trauer, daß sein Herz nicht einmal mehr Raum hatte für das
erniedrigende Gefühl, wie lächerlich er und seine Sendung jetzt
war. Natürlich, sein Nebenbuhler hatte recht gehabt, er hatte alles
vorausgesehen, und was er, Josef, sich zusammengereimt hatte, war
Dunst gewesen, und sein Erfolg leeres Stroh.
Claudius Regin sprach. »Ich werde
übrigens jetzt gerade«, sagte er, »bevor das Edikt bekannt ist, Ihr
Memorandum veröffentlichen, Doktor Justus. Sie müssen diese
Denkschrift hören«, wandte er sich ungewohnt eifrig an Josef, »sie
ist ein kleines Meisterwerk.« Und er bat Justus, ein Kapitel
vorzulesen. Josef, in all seiner Bedrücktheit, merkte auf, war
gefesselt. Ja, gegen diese hellen, guten Sätze konnte sein
armseliges, pathetisches Gerede nicht aufkommen.
Er gab es auf. Er verzichtete. Er
beschloß, nach Jerusalem zurückzukehren, eine bescheidene Stellung
im Dienst des Tempels anzunehmen. Er schlief schlecht in dieser
Nacht, und auch den andern Tag ging er bedrückt herum. Er aß wenig
und ohne Genuß, er besuchte nicht das Mädchen Lucilla, mit dem er
sich für diesen Tag verabredet hatte. Er wünschte, er wäre nie nach
Rom gekommen, sondern säße noch in Jerusalem, nichts wissend von
den üblen und bedrohlichen Dingen, die hier gegen Judäa gesponnen
wurden. Er kannte gut die Stadt Cäsarea, ihren Hafen, ihre großen
Speicherviertel, ihre Reedereien, Synagogen, Geschäftsläden,
Bordelle. Selbst die Bauten, die die Römer dort aufgeführt hatten,
so verpönt sie waren, die Residenz des Gouverneurs, die
Kolossalstatuen der Göttin Rom und des ersten Kaisers, mehrten den
Ruhm Judäas, solange die Stadt von Juden verwaltet wurde. Fiel sie
aber der Verwaltung durch die Griechen und Römer anheim, wurde die
Hauptstadt römisch, dann war alles ins Gegenteil gekehrt, dann
waren die Juden ganz Judäas, auch Jerusalems, nur mehr Geduldete in
ihrem eigenen Land. Josef, wenn er dies dachte, fühlte den Boden
unter seinen Füßen weggleiten. Trauer und Zorn füllte ihn vom
Herzen bis an die Poren seiner Haut, daß er beinahe am Leibe krank
wurde.
Als aber Demetrius Liban ihm feierlich
entschlossen mitteilte, er werde also jetzt den Juden Apella
spielen, auf daß die drei Märtyrer von Tibur erlöst würden,
strahlte Josef wieder im ersten unverdunkelten Glanz seines
Erfolgs. Die römischen Juden nahmen den Entschluß des Schauspielers
ruhiger hin, als man nach ihrer ersten Erregung hätte erwarten
sollen; denn es war Winter, und die Aufführung sollte vorläufig
nicht öffentlich, sondern in dem kleinen Privattheater in den
kaiserlichen Gärten stattfinden. Es blieb eigentlich ein einziger,
der schimpfte, der uralte Aaron; der freilich mummelte unentwegt
Verwünschungen gegen das gottlose Vorhaben des Schauspielers und
gegen die ganze frevelhafte neumodische Generation.
»Der Jude Apella« war das erste
volkstümliche Singspiel, das im kaiserlichen Privattheater
aufgeführt wurde. Das Theater faßte nur etwa tausend Menschen, die
große Gesellschaft Roms beneidete diejenigen, die zu dieser
Premiere Einladungen erhielten. Alle Minister waren da, der dürre
Talaß, der dicke, wohlwollende Junius Thrax, Minister für Bitten
und Beschwerden, auch der Gardekommandant Tigellin. Dann die
neugierige, lebensfrohe Äbtissin der Vestalinnen. Claudius Regin
hatte man selbstverständlich nicht vergessen. Von Juden waren nicht
viele da: der elegante Julian Alf, der Präsident der Veliagemeinde,
und sein Sohn; mit Mühe hatte Josef auch dem Cajus Barzaarone und
dem Mädchen Irene eine Einladung verschafft.
Der Vorhang dreht sich in die
Versenkung. Auf der Bühne steht der Jude Apella, ein Mann in
mittleren Jahren mit einem langen, spitzen Bart, der sich zu
verfärben beginnt. Er lebt in einer Landstadt in Judäa, sein Haus
ist klein, er, seine Frau, seine vielen Kinder wohnen in einem Raum. Die Hälfte von seinem spärlichen
Verdienst nehmen ihm die großen Herren in Jerusalem ab; von dem
Rest nehmen die Römer in Cäsarea die Hälfte. Als sein Weib stirbt,
wandert er aus. Er nimmt mit sich die kleine Rolle mit dem
Glaubensbekenntnis, sie am Türpfosten seines Hauses zu befestigen,
er nimmt weiter mit seine Gebetriemen, seine Wärmekiste für die
Sabbatspeisen, seinen Sabbatleuchter, seine vielen Kinder und
seinen unsichtbaren Gott. Er zieht nach Osten, ins Land der
Parther. Er baut sich ein Häuslein, befestigt am Türpfosten die
kleine Rolle mit dem Glaubensbekenntnis, schlingt die Gebetriemen
um den Kopf und um den Arm, stellt sich hin, das Gesicht gegen
Westen, gegen Jerusalem, wo der Tempel liegt, und betet. Er nährt
sich kärglich, es reicht nicht recht, aber er ist genügsam, ja, er
schickt noch einiges nach Jerusalem für den Tempel. Doch da kommen
die andern, die elf Clowns, sie sind die Parther, sie verhöhnen
ihn. Sie nehmen die kleine Rolle von dem Türpfosten und seine
Gebetriemen, sie schauen nach, was darin ist, sie finden
beschriebenes Pergament, und sie lachen über die komischen Götter
dieses Mannes. Sie wollen ihn zwingen, ihre Götter zu verehren, den
hellen Ormuzd und den dunklen Ariman, und wie er sich weigert,
zupfen sie ihn an seinem Bart und seinem Haar und reißen ihn so
lang, bis er kniet, und das ist sehr komisch. Er erkennt nicht ihre
sichtbaren Götter, und die andern erkennen nicht seinen
unsichtbaren Gott. Aber für alle Fälle nehmen sie ihm das bißchen
Geld weg, das er sich zusammengespart hat, für die Altäre ihrer
Götter, und sie schlagen drei von seinen sieben Kindern tot. Er
begräbt die drei Kinder, er geht herum zwischen den drei kleinen
Gräbern, er setzt sich nieder und singt ein altes Lied: An den
Strömen Babels saßen wir und weinten, und seine Bewegungen haben
etwas sonderbar Schaukelndes, Groteskes und Trauriges. Dann wäscht
er sich die Hände und wandert wieder weg, nach Süden diesmal, nach
Ägypten. Das kleine Haus, das er sich gebaut hat, läßt er stehen,
aber mit nimmt er die Rolle mit den Bekenntnissen, die Gebetriemen,
die Kochkiste, den Leuchter, den Rest der Kinder und seinen
unsichtbaren Gott. Er baut sich ein neues Häuslein, er nimmt sich
eine neue Frau, Jahre kommen und gehen, er erwirbt neues Geld, und
statt der drei erschlagenen Kinder macht er vier neue. Jetzt, wenn
er betet, stellt er sich mit dem Gesicht gegen Norden, wo Jerusalem
liegt und der Tempel, und er vergißt nicht, jährlich seine Abgabe
nach dem Lande Israel zu schicken. Aber auch im Süden lassen ihn
seine Feinde nicht. Wieder kommen die elf Clowns, diesmal sind sie
Ägypter, und verlangen, daß er ihre Götter anbetet, Isis und
Osiris, Stier, Widder und Sperber. Aber da kommt der römische
Gouverneur und befiehlt, sie sollen von ihm ablassen. Die elf
Clowns sind sehr komisch, wie sie enttäuscht abziehen. Aber er
selber, der Jude Apella, in seiner Siegesfreude ist noch komischer.
Wieder schaukelt er auf merkwürdige Art mit seinem hagern Leib;
aber diesmal tanzt er vor Gott, er tanzt vor der Lade mit den
heiligen Büchern. Grotesk hebt er die Beine bis zu dem verfärbten
Bart, sein zerlumptes Gewand flattert, mit dürrer, schmutziger Hand
schlägt er ein Tamburin. Er schaukelt, alle seine Knochen loben
seinen unsichtbaren Gott. So tanzt er vor der Bücherlade, wie einst
der König David tanzte vor der Bundeslade. Die großen römischen
Herren im Zuschauerraum lachen sehr, deutlich durch das allgemeine
Gelächter hört man das scheppernde Lachen des Ministers Talaß. Aber
die meisten sind etwas angefremdet, und die paar Juden starren
betreten, erschrocken geradezu, auf den hüpfenden, tanzenden,
schaukelnden Mann auf der Bühne. Sie denken an die Leviten, wie sie
heilig mit silbernen Trompeten auf den hohen Stufen des Tempels
stehen, und an den Erzpriester, wie er groß und würdevoll im
Schmuck der erhabenen Gewänder und der Tempeljuwelen vor Gott
hintritt, und ist das nicht Sakrileg, was der Mann da auf der Bühne
macht? Aber schließlich kann auch der römische Gouverneur den Juden
nicht mehr schützen. Denn der Ägypter sind zu viele, aus den elf
Clowns sind elf mal elf geworden, und sie träufeln vergiftete
Anschuldigungen in das Ohr des Kaisers, und sie tanzen possierlich,
und sie stechen und zwicken und schießen mit kleinen, tödlichen
Pfeilen, und wieder erlegen sie drei von den Kindern und seine Frau
dazu. Und zuletzt zieht der Jude Apella abermals weg, mit Rolle und
Riemen und Kiste und Leuchter und Kindern und seinem unsichtbaren
Gott, und diesmal kommt er nach Rom. Jetzt aber wird das Spiel ganz
gewagt und frech. Die Clowns trauen sich nicht, ihn leibhaft zu
bedrängen, sie halten sich am Rand der Bühne. Immerhin erklettern
sie, wie die Affen hüpfend, das Dach seines Hauses, sie dringen
auch ins Innere, sie schauen nach, was in der Rolle ist und was in
der Kochkiste. Sie parodieren ihn, wie er sich zum Gebet hinstellt,
nach Osten diesmal, wo Jerusalem liegt und der Tempel. Die elf
führenden Clowns tragen sehr kühne Masken jetzt, Porträtmasken, man
erkennt ohne viel Mühe den Minister Talaß, den großen Juristen des
Senats Cassius Longin, den Philosophen Seneca und andere sehr
hochmögende Judenfeinde. Doch diesmal können sie nicht an gegen den
Juden Apella, er wird geschützt von dem Kaiser und der Kaiserin.
Allein sie spähen, bis er sich eine Blöße gibt. Und siehe, er gibt
sich eine Blöße. Er heiratet eine Eingeborene, eine Freigelassene.
Da stecken sie sich hinter diese seine Frau und gießen ihr all
ihren Hohn ins Herz. Einige außerordentlich bösartige Couplets
werden gesungen über den Beschnittenen, seinen Knoblauch, seinen
Gestank, den Atem seines Fastens, seine Kochkiste. Es kommt dahin,
daß seine Frau ihn in Gegenwart seiner Kinder verhöhnt, weil er
beschnitten ist. Da jagt er sie fort und bleibt allein mit seinen
Kindern und mit seinem unsichtbaren Gott, im Schutz des römischen
Kaisers. Resigniert und in wilder Sehnsucht schaukelnd singt er
sein altes Lied: An den Wassern Babels saßen wir und weinten;
fernher, ganz leise parodieren ihn die elf Clowns.
Die Zuschauer sehen sich an und
wissen nicht recht, ob sie heitere oder traurige Gesichter machen
sollen. Alle schielen nach der kaiserlichen Loge. Die Kaiserin sagt
vernehmlich mit ihrer hellen Kinderstimme, so daß man es weithin
hören kann, kaum ein zweites Stück aus der zeitgenössischen
Produktion habe sie so interessiert wie dieses. Sie macht dem
Senator Marull Komplimente, der mit falscher Bescheidenheit die
Urheberschaft der Texte ablehnt. Der Kaiser ist zurückhaltend; sein
Literaturlehrer Seneca hat ihm so viel von Tradition gepredigt, daß
er vorläufig mit der neuartigen Technik dieses Spiels nichts
Rechtes anfangen kann. Der Kaiser ist jung, blond, sein
intelligentes Gesicht ist leicht aufgedunsen; seine Augen mustern
beschäftigt, etwas abwesend die Zuschauer, die das Theater nicht
verlassen dürfen, bevor er aufbricht. Die jüdischen Herren im
Zuschauerraum stehen betreten umher. Claudius Regin bindet ächzend
seinen Schnürriemen und quäkt, wenn man ihn fragt,
Unverständliches. Josef ist hin- und hergeworfen zwischen Ärger und
Anerkennung. Die grelle Lebenswahrheit, mit der dieser Jude Apella
auf der Bühne stand, hat seinen Augen weh getan. Daß jemand alles
Lächerliche dieses Juden so rücksichtslos seinem ernsthaften
Schicksal beimischt, erfüllt ihn mit ebensoviel Unbehagen wie
Bewunderung. Eigentlich geht es den meisten so. Sie sind
beschäftigt und unzufrieden, die jüdischen Herren geradezu
bekümmert. Wirklich vergnügt ist nur der Minister Talaß.
Der Kaiser befiehlt ihn und den
Justizminister Junius Thrax in die Loge und sagt nachdenklich, er
sei gespannt darauf, wie die Juden eine gewisse Entscheidung aufnehmen werden. Die Kaiserin,
unmittelbar bevor sie aufbricht, teilt Josef mit, noch am andern
Tag werde die Freilassung seiner drei Unschuldigen
erfolgen.
Am andern Tag, gleich nach Sonnenaufgang,
wurden die drei Märtyrer entlassen. Im Villenort Tibur, im Landhaus
des Julian Alf, des Präsidenten der Veliagemeinde, wurden sie unter
der Aufsicht von Ärzten gebadet, gespeist, mit kostbaren Kleidern
versehen. Dann setzte man sie in den schönen Reisewagen des Julian
Alf. Überall am Wege, der von Tibur nach Rom führte, standen
Gruppen von Juden, und wenn der Wagen vorüberkam, Läufer voran,
großer Troß hinterher, sprachen sie den Segensspruch, der
vorgeschrieben ist nach der Errettung aus großer Gefahr, und sie
riefen den drei entgegen: »Gesegnet, die da kommen. Friede mit
euch, meine Doktoren und Herren.«
Am Tibur-Tor aber war ungeheures
Gedränge. Hier erwarteten, inmitten des von Polizei und Militär
abgesperrten Raums, die Präsidenten der fünf jüdischen Gemeinden
die Märtyrer, dann der Staatssekretär Polyb vom Ministerium für
Bitten und Beschwerden, ein Zeremonienmeister der Kaiserin, vor
allem aber der Schriftsteller Josef Ben Matthias, Delegierter des
Großen Rats von Jerusalem, und der Schauspieler Demetrius Liban.
Natürlich erregte auch hier der Schauspieler die meiste
Aufmerksamkeit; aber alle ohne Ausnahme, die römischen Herren und
die Juden, zeigten sich den schlanken jungen Mann mit dem hagern,
fanatischen Gesicht, der kühnen Nase und den heftigen Augen: das
war der Doktor Josef Ben Matthias, der die Amnestierung der drei
erwirkt hatte. Es war eine große Stunde für Josef. Er sah jung,
ernst, erregt und würdig aus, er machte gute Figur selbst neben dem
Schauspieler.
Endlich kam der Wagen mit den
dreien. Sie wurden herausgeholt. Sie waren sehr schwach, ihre
Leiber schaukelten merkwürdig mechanisch hin und her. Blicklos
schauten sie in die vielen Gesichter, auf die vielen feierlichen
weißen Kleider, stumpf hörten sie die Ansprachen, die sie rühmten.
Ergriffen machte man sich aufmerksam auf die halbgeschorenen
Schädel mit dem eingebrannten E, auf die Spuren der Kette über den
Knöcheln. Viele weinten. Der Schauspieler Demetrius Liban aber
kniete nieder, den Kopf neigte er in den Staub der Straße, und er
küßte die Füße der Männer, die gelitten hatten für Jahve und das
Land Israel. Man war gewohnt, ihn als Komiker zu sehen, das Volk
lachte, wo immer er sich zeigte, aber niemand fand ihn komisch, wie
er im Staub lag vor den dreien und ihre Füße küßte und
weinte.
Am Sabbat darauf fand der große
Gottesdienst statt in der Agrippenser-Synagoge. Der älteste von den
dreien las die ersten Verse des für diesen Sabbat bestimmten
Abschnittes aus der Schrift; mühsam, tief aus der Kehle holte er
die Worte, das weite Bethaus war erfüllt von Menschen bis in den
letzten Winkel, dicht, lautlos und gepackt standen sie die ganze
Straße entlang. Josef aber wurde aufgerufen, nach Schluß der
Verlesung die Thorarolle hochzuheben. Schlank und ernst stand er
auf dem erhöhten Platz, hoch mit beiden Händen hob er die Rolle,
drehte sich, auf daß alle sie sehen könnten, schaute mit seinen
heftigen Augen über die zahllose Versammlung. Und die Blicke der
Juden Roms hingen an dem jungen, glühenden Menschen, wie er die
heilige Rolle der Schrift vor ihnen hochhob.
In diesem Winter wurden die drei
Märtyrer sehr gefeiert. Allmählich erholten sie sich, ihre
abgezehrten Leiber gewannen neuen Saft, ihre kahlgeschorenen
Schädel bedeckten sich mit spärlichem neuem Haar, nach den Rezepten
Scribon Largs wurden die Kettennarben über ihren Fußknöcheln
getilgt. Man reichte sie von einer Gemeinde zur andern, von einem
der einflußreichen jüdischen Herren zum andern. Sie nahmen die
Ehrungen ziemlich stumpf hin, als gebührenden Tribut.
Langsam, mit zunehmenden Kräften,
begannen sie, mehr zu reden. Es erwies sich, daß die Märtyrer
zänkische, eifernde, keifende alte Herren waren. Nichts war ihnen
fromm genug und den Vorschriften entsprechend. Sie stritten unter
sich und mit jedem andern, sie gingen unter den Juden Roms umher,
als wäre es Jerusalem und diese Juden alle ihrer Herrschgewalt
unterstellt, sie ordneten an und verboten. Bis endlich Julian Alf
sie verbindlich, aber bestimmt darauf aufmerksam machte, seine
Veliasynagoge liege nicht in ihrem Tempelbereich. Darauf
verfluchten sie ihn und wollten ihn in den Großen Bann tun und den
allgemeinen Boykott gegen ihn erklären. Alle waren schließlich
froh, als die Schiffahrt wieder begann und man die drei nach
Puteoli auf das Schiff nach Judäa bringen konnte.
Josefs Aufgabe in Rom war erledigt. Dennoch
blieb er. Klar stand ihm wieder das Ziel vor Augen, um
dessentwillen er nach Rom gekommen war: diese Stadt zu erobern.
Immer deutlicher wurde ihm, daß es für ihn einen einzigen Weg gab:
die Literatur. Ein großer Stoff aus der Geschichte seines Landes
lockte ihn. Von jeher hatte ihn in den alten Büchern seines Volkes
dieser Bericht am meisten gepackt: der Freiheitskampf der Makkabäer
gegen die Griechen. Jetzt erst erkannte er, was ihn hierhergezogen
hatte. Rom war reif, die Weisheit und das Geheimnis des Ostens zu
empfangen. Seine Aufgabe war, der Welt jenen pathetisch heroischen
Abschnitt aus der Vorzeit Israels darzustellen, so daß alle
erkannten: dieses Land Israel war ausersehen, in ihm wohnte
Gott.
Er sprach niemandem von seinem
Vorhaben. Nach außen hin führte er das Leben eines jungen Herrn der
guten Gesellschaft. Aber alles, was er sah, hörte, lebte, bezog er
auf sein Werk. Es mußte möglich sein, beides zu begreifen, den
Osten und den Westen. Es mußte möglich sein, die Geschichte der
Makkabäer mit ihrem Glauben und ihren Wundern in die harte, klare
Form zu bringen, die die Theorie der jüngeren Prosaisten verlangte.
In den alten Büchern lebte er mit die Martern jener Früheren, die
sie auf sich genommen hatten, um die Gebote Jahves nicht zu
verletzen, und auf dem Forum, in den Kolonnaden der Livia, des
Marsfelds, in den öffentlichen Bädern, im Theater lebte er mit die
Schärfe und die »Technik« dieser Stadt Rom, die ihre Bewohner
bezauberte, so daß alle sie beschimpften und alle sie
liebten.
Ganz aus kostete er die große
Versuchung der Stadt, als die Gelegenheit kam, für immer zu
bleiben. Es war an dem, daß Cajus Barzaarone seine Tochter Irene
verheiraten wollte. Er hatte auf Wunsch der Mutter als
Schwiegersohn den jungen Doktor Licin von der Veliasynagoge in
Aussicht genommen, aber es war nicht sein Herz, das diese
Verbindung wünschte, und die Augen des Mädchens Irene hingen mit
der gleichen schwärmerischen Begeisterung wie am ersten Tag an
Josefs hagerem, fanatischem Gesicht. Man zögerte mit der Heirat, es
hätte Josef nur ein Wort gekostet, und er hätte sich für alle
Zeiten als Schwiegersohn des reichen Mannes in Rom hinsetzen
können. Das war verlockend, das bedeutete ruhiges, breites Leben,
Ansehen und Fülle. Aber es bedeutete auch Stillstand und
Sichbescheiden. War es nicht ein zu kleines Ziel?
Er warf sich mit doppelter
Inbrunst auf die Bücher. Bereitete mit unendlicher
Gewissenhaftigkeit seine »Geschichte der Makkabäer« vor.
Verschmähte es nicht, wie ein Schuljunge lateinische und
griechische Grammatik zu treiben. Übte seine Handfertigkeit an
schwierigen Details. So, auf kleine und mühselige Art, arbeitete er
das ganze Frühjahr hindurch, bis er sich endlich reif fühlte, das
Werk selbst zu beginnen.
Da trat ein Ereignis ein, das
seine Fundamente erschütterte.
In diesem Frühsommer nämlich,
sehr plötzlich und sehr jung, starb die Kaiserin Poppäa. Sie hatte
gewünscht, früh zu sterben, unverwelkt, sie hatte oft vom Tode
gesprochen, nun war ihr Wunsch erfüllt. Noch nach dem Tode bewies
sie ihre Neigung für den Osten; denn in ihrem Testament hatte sie
angeordnet, daß ihr Leib nicht verbrannt, sondern nach der Sitte
des Ostens einbalsamiert werde.
Der Kaiser machte aus seiner
Trauer und seiner Liebe ein ungeheures Fest. Der riesige Leichenzug
bewegte sich durch die Stadt, Musikkorps, Klageweiber, Sprechchöre.
Endlos die Prozession der Ahnen, die jetzt die Kaiserin als Letzte
in ihren Zug aufnahmen. Die Wachsmasken der toten Urväter waren zu
diesem Zweck aus ihren heiligen Schränken genommen worden.
Schauspieler trugen sie, angetan mit der prunkhaften Amtstracht
dieser toten Konsuln, Präsidenten, Minister, jeder der Toten seine
Liktoren voran mit Beilen und Rutenbündeln. Dann, grotesk, kam der
ganze Zug nochmals, dargestellt wiederum von Tänzern und
Schauspielern, die die vorangehenden parodierten. Auch die tote
Kaiserin war darunter. Demetrius Liban hatte sich’s nicht nehmen
lassen, seiner Protektorin diesen letzten grausigen Liebesdienst zu
erweisen, und die Juden, wenn dieses springende, hüpfende,
schmerzhaft lächerliche Abbild ihrer mächtigen Gönnerin vorbeikam,
heulten vor Lachen und vor Kummer. Dann folgte die Dienerschaft der
Verstorbenen, der riesige Zug ihrer Beamten, Leibeigenen,
Freigelassenen, dann die Offiziere der Leibgarde, endlich die Tote
selbst, getragen von vier Senatoren, sitzend auf einem Lehnstuhl,
wie sie es geliebt hatte, gekleidet in eines jener ernsthaft
geschnittenen, doch verrucht durchsichtigen Gewänder, wie sie sie
geliebt hatte, von jüdischen Ärzten kunstvoll einbalsamiert,
umwölkt von Wohlgerüchen. Hinter ihr der Kaiser, das Haupt
verhüllt, in einfachem schwarzem Kleid, ohne Kennzeichen seiner
Gewalt. Und hinter ihm Senat und Volk von Rom.
Vor der Rednerbühne des Forums
machte der Zug halt. Die Ahnen stiegen von ihren Wagen und setzten
sich auf die elfenbeinernen Stühle, und der Kaiser hielt die
Leichenrede. Josef sah Poppäa, sie saß auf ihrem Stuhl, wie sie
damals vor ihm gesessen war, bernsteinfarben von Haar und ein wenig
spöttisch, und dann war der Kaiser zu Ende, und zum letzten Male
grüßte Rom seine Kaiserin. Die Zehntausende standen, den Arm mit
der geöffneten Hand ausgestreckt, auch die Ahnen erhoben sich von
ihren Stühlen und streckten den Arm mit der geöffneten Hand aus,
und so verharrten sie grüßend, eine Minute lang, stehend, und
allein die Tote saß.
Josef hatte seinen Kollegen Justus die ganze
Zeit vermieden. Jetzt suchte er ihn auf. Die beiden jungen Herren
schlenderten durch die Kolonnaden des Marsfelds. Justus meinte,
jetzt nach dem Tode Poppäas würden die Herren Talaß und Genossen
mit der Publikation des Edikts wohl nicht mehr lange warten. Josef
hob die Schultern. Schweigend gingen sie zwischen den eleganten
Bummlern der Kolonnaden. Dann, und zwar genau vor dem schönen Laden
des Cajus Barzaarone, hielt Justus an und sagte: »Und wenn jetzt
den Juden von Cäsarea ihre Rechte weggeschwindelt werden, wird kein
Mensch etwas dabei finden. Die Juden müssen in dieser Sache unrecht
haben. Wenn sie Beschwerden vorbringen, die halbwegs gerechtfertigt
sind, dann hört sie Rom und schafft Hilfe. Hat man nicht ihre drei
Unschuldigen begnadigt? Rom ist großzügig. Rom behandelt Judäa
mild, milder als andere Provinzen.«
Josef erblaßte. Hatte dieser
Mensch recht? War sein Erfolg, war die Freilassung der drei für die
Gesamtpolitik der Juden schädlich, da Rom auf diese Art durch Milde
in einer Nebensache die Härte der Hauptentscheidung lügnerisch
überzuckern konnte? Blicklos überschaute er die Möbel, die vor dem
Magazin des Cajus Barzaarone feil standen.
Er erwiderte nichts,
verabschiedete sich bald. Was Justus gesagt hatte, machte ihn
krank. Es durfte nicht wahr sein. Er hat seine eitlen Tage, wer hat
sie nicht? Aber in der Angelegenheit der drei Unschuldigen hat er
aus ehrlichem Herzen heraus gewirkt, er hat nicht um eines
persönlichen kleinen Erfolges willen die Sache seines Volkes
verschlechtert.
Mit neuem, verbissenem Eifer warf
er sich auf sein Werk. Er fastete, kasteite sich, schwor, kein Weib
zu berühren, bevor er das Werk vollendet habe. Arbeitete. Schloß
die Augen, um die Dinge seines Buches zu schauen, öffnete sie, um
die Dinge seines Buches ins rechte Licht zu stellen. Erzählte der
Welt die Geschichte von dem wunderbaren Freiheitskrieg seines
Volkes. Er litt mit den Märtyrern des Buches, siegte mit ihnen. Er
weihte mit Juda dem Makkabäer den Tempel neu. Mild und groß hüllte
der Glaube ihn ein. Glauben, Befreiung, Triumph, alle hohen
Gefühle, die er vor den alten Büchern gespürt hatte, goß er in sein
Werk. Er war ein erwählter Krieger Jahves, solang er
schrieb.
Er vergaß Cäsarea.
Er begann sein früheres Leben von
neuem, ging in Gesellschaft, suchte sich Frauen, spielte sich auf.
Er las sein Makkabäerbuch einem ausgesuchten Kreis junger Literaten
vor. Man beglückwünschte ihn. Er schickte es dem Verleger Claudius
Regin. Der erklärte sogleich, er übernehme die Veröffentlichung.
Aber gleichzeitig und auch im Verlag des Claudius Regin erschien
ein Werk des Justus »Über die Idee des Judentums«. Josef empfand es
als hinterhältig, daß weder Regin noch Justus ihm vorher davon
gesprochen hatten. Er mäkelte an dem Buch des Justus, es sei
nüchtern und schwunglos. Aber im Innern erschien ihm, was er selber
gemacht hatte, läppischer Bombast vor den neuen, dichten und
zwingenden Gedankenreihen des andern. Er verglich das Porträt des
Justus, das vornean in seinem Buch gemalt war, mit seinem eigenen.
Er las das kleine Werk des Justus ein zweites, ein drittes Mal.
Seine eigene Schriftstellern erschien ihm kindlich,
hoffnungslos.
Aber siehe, nicht nur das Mädchen
Irene, jetzt die Frau des Doktor Licin, und die wohlwollenden Leser
vom rechten Tiberufer, auch die Literaten und jungen Snobs in den
eleganten Bädern des linken Ufers fanden das Makkabäerbuch gut.
Josefs Ruf verbreitete sich, sein jüdisches Kriegsbuch wirkte als
eine interessante und fruchtbare Erneuerung des Heldenepos. Junge
Literaten machten sich an ihn heran, schon wurde er nachgeahmt,
galt als Haupt einer Schule. Die großen Familien baten ihn, aus
seinem Buch in ihrem Kreis vorzulesen. Auf dem rechten Tiberufer
wurden die Kinder aus seinem Buch unterrichtet. Das Werk des Justus
von Tiberias aber kannte niemand, las niemand. Der
Verlagsbuchhalter im Haus des Claudius Regin erzählte Josef, vom
Buch des Justus seien hundertneunzig, vom Werk des Josef
viertausendzweihundert Exemplare abgesetzt, und die Nachfrage aus
allen Provinzen, besonders aus dem Orient, steige ständig. Justus
selbst schien sich aus Rom zurückgezogen zu haben; jedenfalls traf
ihn Josef in diesen Monaten seines literarischen Erfolges
nirgends.
Der Winter verging, und das früheste Frühjahr
brachte eine eindrucksvolle Schaustellung römischer Macht, den lang
vorbereiteten Triumph Roms über den Osten, die stolze Einleitung
des neuen Alexanderzugs. Das Nachbarreich im Osten, das
Partherreich unter König Vologas, einzige Großmacht der bekannten
Welt außer Rom, war des langen Krieges müde, gab Armenien, das
strittige Territorium, preis. Der Kaiser selber schloß in
festlicher Zeremonie den Janus-Tempel zum Zeichen, daß Friede sei
auf Erden. Dann feierte er diesen ersten Sieg über den neu zu
erobernden Orient in einem großartigen Schauspiel. Der
Armenierkönig Tiridat mußte persönlich vor ihm erscheinen, um aus
seiner Hand die Krone als Lehen entgegenzunehmen. Monatelang zog
der östliche Herrscher mit riesigem Gefolge, mit Reitern und
üppigen Gastgeschenken, Gold und Myrrhen, nach dem Westen, um dem
römischen Kaiser zu huldigen. Durch den ganzen Orient verbreiteten
sich Legenden von drei Königen aus Morgenland, die sich auf den Weg
gemacht hätten, um den aufgehenden Stern im Westen anzubeten. Im
übrigen hatte das Finanzministerium in Rom schwere Sorge, wie es
den ganzen Aufwand bezahlen sollte, der natürlich auf Kosten der
kaiserlichen Kasse ging.
Als endlich der Zug des Königs
Tiridat Italien betreten hatte, wurden Senat und Volk von Rom durch
eine Proklamation aufgefordert, der Huldigung des Orients vor dem
Kaiser beizuwohnen. Auf allen Straßen drängten sich die
Neugierigen. Die Mannschaften der kaiserlichen Garde bildeten
Spalier. Durch ihre Reihen schritt der östliche König, in der
Tracht seines Landes, die Tiara auf dem Kopf, den kurzen
Persersäbel im Gürtel: allein die Waffe war durch Festnagelung in
der Scheide unschädlich gemacht. So zog er über das Forum, stieg
die Estrade hinan, auf der der römische Kaiser thronte, beugte die
Stirn zur Erde. Der Kaiser aber nahm ihm die Tiara ab und setzte an
ihre Stelle das Diadem. Und dann klirrten die Truppen die Schilde
und Lanzen zusammen und riefen in mächtigem Sprechchor, wie sie es
tagelang geübt hatten: Gegrüßt sei, Kaiser, Herrscher, Imperator,
Gott!
Auf einer Tribüne an der Heiligen
Straße, die über das Forum führte, wohnten Ehrengäste aus den
Provinzen dem Schauspiel bei, unter ihnen Josef. Voll tiefer
Erregung sah er die Demütigung des Tiridat. Der Kampf zwischen dem
Osten und dem Westen war uralt. Die Perser hatten seinerzeit den
Westen weit zurückgedämmt, dann aber hatte Alexander auf
Jahrhunderte den Osten zurückgeworfen. In den letzten Jahrzehnten,
vor allem seitdem ein Jahrhundert vorher die Parther eine große
römische Armee aufgerieben hatten, schien wieder der Osten im
Vordringen. Auf alle Fälle fühlte er sich geistig überlegen, und
neue Hoffnung erfüllte die Juden, im Osten werde der Erlöser
aufstehen und, wie es die alten Wahrsprüche verkündeten, Jerusalem
zur Hauptstadt der Welt machen. Und jetzt mußte Josef sehen, klar,
mit eigenen Augen, wie Tiridat, der Bruder des mächtigen Herrschers
im Osten, die Stirn in Staub drückte vor Rom. Das Partherreich lag
fern, militärische Unternehmungen dorthin waren mit ungeheuren
Schwierigkeiten verbunden, noch lebten dort die Enkel derer, die
den großen römischen General Crassus und seine Armee mit Mann und
Roß geschlagen hatten. Und dennoch schlossen die Parther dieses
klägliche Kompromiß. Er hatte es zugegeben, dieser Partherprinz,
daß man ihm den Säbel in der Scheide festnagelte. So wenigstens
behielt er eine gewisse Autonomie und, wenn auch nur geliehen, sein
Diadem. Da der mächtige Parther sich damit begnügte, war es nicht
Wahnsinn, wenn man in dem kleinen Judäa glaubte, man könnte es
aufnehmen mit der römischen Macht? Judäa war leicht erreichbar,
umgeben von romanisierten Provinzen, seit mehr als einem
Jahrhundert hatte Rom seine Verwaltung und Militärtechnik dort
eingearbeitet. Was die »Rächer Israels« in der Blauen Halle zu
Jerusalem zusammenredeten, war heller Irrsinn. Judäa mußte sich
einordnen in die Welt wie die andern, Gott war in Italien, die Welt
war römisch.
Auf einmal war Justus neben ihm.
»König Tiridat macht eine schlechte Figur neben Ihren Makkabäern,
Doktor Josef«, sagte er. Josef schaute ihn an, er sah gelbgesichtig
aus, skeptisch, ein wenig bitter und sehr viel älter als er selber,
trotzdem er es nicht war. Machte er sich lustig über ihn, oder was
eigentlich sollten diese Worte? »Ich bin allerdings der Meinung«,
sagte er, »daß ein in der Scheide festgenagelter Degen weniger
sympathisch ist als ein gezückter.« – »Aber in vielen Fällen klüger
und in manchen sogar vielleicht heroischer«, erwiderte Justus.
»Ernstlich«, sagte er, »es ist schade, daß ein so begabter Mensch
wie Sie sich zu einem solchen Schädling auswächst.« – »Ich ein
Schädling?« entrüstete sich Josef. Es trieb ihm das Blut hoch, daß
jemand so klar und nackt die nebelhaften Vorwürfe formulierte, die
ihn manchmal in der Nacht peinig ten. »Mein Makkabäerbuch«, sagte
er, »hat Rom gezeigt, daß wir Juden noch Juden sind, keine Römer.
Ist das schädlich?« – »Der Kaiser zieht jetzt wohl seine
Unterschrift zurück von dem Edikt über Cäsarea, was?« fragte Justus
mild. »Das Edikt ist noch nicht veröffentlicht«, erwiderte Josef
verbissen. »Es gibt Leute«, zitierte er, »die wissen, was Jupiter
der Juno ins Ohr geflüstert hat.« – »Ich fürchte«, meinte Justus,
»nachdem Rom seine Sache mit den Parthern bereinigt hat, werden Sie
auf die Veröffentlichung nicht mehr lange warten müssen.« Sie saßen
auf der Tribüne, unten zog Kavallerie vorbei, in Paradeuniform,
doch in lockerer, bequemer Haltung, die Menge applaudierte, die
Offiziere schauten hochmütig gradaus, nicht rechts, nicht links.
»Sie sollten sich selber nichts vormachen wollen«, sagte Justus,
beinahe verächtlich. »Ich weiß«, winkte er ab, »Sie haben die
klassische Darstellung unserer Freiheitskriege geschrieben, Sie
sind der jüdische Titus Livius. Nur, sehen Sie, wenn unsere
lebendigen Griechen heute von dem toten Leonidas lesen, dann bleibt
das ein harmloses, akademisches Vergnügen. Wenn aber unsere ›Rächer
Israels‹ in Jerusalem Ihre Geschichte des Juda Makkabi lesen, dann
bekommen sie heiße Augen und schauen nach ihren Waffen. Halten Sie
das für wünschenswert?«
Unten ritt jetzt der Mann vorbei
mit dem festgenagelten Degen. Alle auf der Tribüne erhoben sich.
Frenetisch schrie das Volk ihm zu.
»Cäsarea«, sagte Justus, »ist uns
endgültig entrissen. Sie haben das den Römern einigermaßen
erleichtert. Wollen Sie ihnen noch viele Vorwände geben, auch
Jerusalem zu einer römischen Stadt zu machen?«
»Was kann ein jüdischer
Schriftsteller heute tun? Ich will nicht, daß Judäa in Rom
aufgeht«, sagte Josef.
»Ein jüdischer Schriftsteller«,
erwiderte Justus, »muß vor allem einmal erkannt haben, daß man
heute die Welt nicht durch Eisen und Gold verändern
kann.«
»Auch Eisen und Gold werden ein
Stück Geist, wenn sie für geistige Dinge gebraucht werden«, sagte
Josef.
»Ein schöner Satz für Ihre
Bücher, Herr Livius, wenn Sie gerade nichts Faktisches vorzubringen
haben«, höhnte Justus.
»Was soll Judäa tun, wenn es
nicht untergehen will?« fragte Josef zurück. »Die Makkabäer haben
gesiegt, weil sie bereit waren, zu sterben für ihre Überzeugung und
ihre Erkenntnis.«
»Ich kann keinen Sinn darin
erblicken«, erwiderte Justus, »für eine Erkenntnis zu sterben. Für
eine Überzeugung zu sterben ist Kriegerart. Der Beruf des
Schriftstellers ist, sie an andere weiterzugeben. Ich glaube
nicht«, fuhr er fort, »daß der unsichtbare Gott Jerusalems heute so
billig ist wie der Gott Ihrer Makkabäer. Ich glaube nicht, daß viel
getan ist, wenn jemand für ihn stirbt. Er verlangt mehr. Es ist
furchtbar schwer, für diesen unsichtbaren Gott das unsichtbare Haus
zu bauen. So einfach jedenfalls, wie Sie es sich gedacht haben,
Doktor Josef, ist es bestimmt nicht. Ihr Buch wird vielleicht
einiges von römischem Geist nach Judäa, aber sicher nichts von
jüdischem Geist nach Rom bringen.«
Den Josef beschäftigte diese
Unterredung mit Justus mehr, als er wollte. Vergeblich sagte er
sich, aus Justus spreche nur der Neid, weil seine Bücher Erfolg
hatten und die des Justus nicht. Was Justus gegen ihn vorgebracht
hatte, saß, er konnte es nicht aus seinem Herzen herausbringen. Er
las das Makkabäerbuch, er rief alle die großen Gefühle zu Hilfe aus
den einsamen Nächten, in denen er das Buch geschrieben hatte.
Vergeblich. Er mußte mit diesem Justus fertig werden. So konnte er
nicht weiterleben.
Er beschloß, die Sache Cäsarea
als Zeichen zu nehmen. Seit einem Jahr jetzt fuchteln sie mit
diesem albernen Edikt vor ihm herum. Nur diese Sache Cäsarea ist
es, die den Gedanken des Justus recht gibt gegen ihn. Gut. Wenn sie
wirklich zuungunsten der Juden entschieden werden sollte, dann
unterwirft er sich, dann hat er unrecht, dann ist sein
Makkabäerbuch nicht der richtige jüdische Geist, dann ist Justus
der große Mann und er ein kleiner, eitler Streber.
Mehrere lange Tage geht er umher
in qualvoller Erwartung. Schließlich kann er die Spannung nicht
mehr ertragen. Er holt die Würfel hervor. Wenn sie günstig fallen,
dann fällt die Entscheidung zugunsten der Juden. Er dreht die
Kreiselwürfel. Sie fallen ungünstig. Er dreht nochmals. Sie fallen
wieder ungünstig. Er dreht ein drittes Mal. Diesmal fallen sie
günstig. Er erschrickt. Er hat, wirklich ohne Absicht, den
abgeschrägten Würfel genommen.
Wie immer, er will nach Judäa
zurück. Er hat in diesen achtzehn Monaten Rom viel von Judäa
vergessen, er sieht es nicht mehr, er muß zurück und sich Kraft aus
Judäa holen.
In großer Eile rüstet er seine
Abreise. Die halbe Judenschaft steht am Drei-Straßen-Tor, wo der
Wagen abfährt, der ihn an sein Schiff nach Ostia bringen soll. Drei
der Versammelten begleiten ihn weiter: Irene, die Frau des Doktor
Licin, der Schauspieler Demetrius Liban, der Schriftsteller Justus
von Tiberias.
Demetrius, auf dem Wege, spricht
davon, wie auch er einmal nach Zion reisen wird, und dann für
immer. Nein, allzulange wird er nicht mehr warten müssen. Er glaubt
nicht, daß er noch länger als sieben oder acht Jahre spielen wird.
Dann, endlich, wird er Jerusalem sehen. Er träumt vom Tempel, wie
er strahlend über der Stadt hängt mit seinen riesigen Terrassen,
seinen weiß und goldenen Hallen. Er träumt von dem mattschillernden
Vorhang, der das Allerheiligste abschließt, dem kunstvollsten
Gewebe der bekannten Welt. Er kennt jede Einzelheit des Heiligtums,
besser wahrscheinlich als mancher, der es mit leiblichen Augen
gesehen hat, so oft hat er sich davon erzählen lassen.
Sie sind im Hafen von Ostia
angelangt. Die Sonnenuhr zeigt die achte Stunde. Josef rechnet
kindlich, mühsam und beharrlich. Es sind jetzt ein Jahr sieben
Monate zwölf Tage und vier Stunden, daß er fort ist aus Judäa. Es
überfällt ihn plötzlich eine schier leibliche Begierde nach
Jerusalem, er möchte seinen Atem mit in die Segel des Schiffes
blasen, auf daß es schneller fahre.
Die drei Freunde stehen am Kai.
Ernst und still Irene, spöttisch und traurig Justus, aber Demetrius
Liban streckt mit großer Geste den Arm mit der flachen Hand aus,
den Oberkörper nach vorn geneigt. Es ist mehr als ein Abschiedsgruß
an Josef, es ist ein Gruß an das ganze, ferne, heißbegehrte
Land.
Die Menschen verschwinden. Ostia,
Rom, Italien verschwin den. Josef ist auf dem freien Meer. Er fährt
nach Judäa. Mit ihm auf dem gleichen Schiff fährt der Geheimkurier,
der dem Gouverneur von Judäa den Befehl überbringt, der Stadt
Cäsarea die kaiserliche Entscheidung über das Wahlstatut zu
verkünden.
ZWEITES
BUCH
Galiläa
m 13.
Mai, um neun Uhr morgens, empfing der Gouverneur Gessius Flor den
Magistrat von Cäsarea und teilte
ihm die
kaiserliche Entscheidung über das Wahlstatut mit, durch welche die
Juden ihrer Herrschaft über die offizielle Hauptstadt des Landes
verlustig gingen. Um zehn Uhr wurde das Edikt durch den Sprecher
der Regierung von der Rednertribüne auf dem großen Forum verkündet.
In den Werkstätten der Brüder Zakynth arbeitete man bereits daran,
den Wortlaut des Ediktes in Bronze zu gießen, damit es in dieser
Form in den Archiven der Stadt für alle Zeiten aufbewahrt
werde.
Unter der griechisch-römischen
Bevölkerung brach ungeheurer Jubel los. Die Kolossalstatuen an der
Hafeneinfahrt, die Bildnissäulen der Göttin Rom und des Begründers
der Monarchie, die Porträtbüsten des regierenden Kaisers an den
Straßenecken wurden festlich bekränzt. Musikkorps, Sprechchöre
durchzogen die Straßen, im Hafen schenkte man freien Wein aus, die
Leibeigenen bekamen Urlaub. In den Stadtvierteln der Juden aber
starrten die sonst so lärmvollen Häuser weiß und öde, die Läden
waren geschlossen, die Furcht vor einem Pogrom lag beklemmend über
den heißen Straßen.
Am Tag darauf, einem Sabbat,
fanden die Juden, als sie ihre Hauptsynagoge besuchen wollten, vor
dem Tor den Führer eines griechischen Stoßtrupps mit seinen Leuten,
wie er ein Vogelopfer darbrachte. Solche Opfer pflegten Aussätzige
darzubringen, und es war die beliebteste Beschimpfung der Juden im
vorderen Asien, daß man sie für Abkömmlinge ägyptischer Aussätziger
erklärte. Die Synagogendiener forderten die Griechen auf, sich für
ihr Opfer einen andern Platz auszusuchen. Die Griechen höhnten
zurück, die Zeiten, in denen die Juden in Cäsarea das Maul
aufreißen konnten, seien vorbei. Die jüdischen Beamten wandten sich
an die Polizei. Die erklärte, sie müsse erst Instruktionen
einholen. Einige Hitzköpfe unter den Juden wollten die freche
Zeremonie der Griechen nicht länger mit anschauen, versuchten, den
Opfertopf mit Gewalt wegzunehmen. Dolche, Messer blitzten hoch.
Endlich, es gab bereits Tote und Verwundete, griffen römische
Truppen ein. Sie nahmen eine Reihe von Juden als Anstifter des
Landfrie densbruchs fest, den Griechen konfiszierten sie den
Opfertopf. Wer von den Juden konnte, flüchtete jetzt mit seinem
beweglichen Gut fort von Cäsarea; die heiligen Schriftrollen wurden
in Sicherheit gebracht.
Die Vorgänge in Cäsarea, das
Edikt und seine Folgen, bewirkten, daß der Kleinkrieg, den Judäa
seit nunmehr hundert Jahren gegen die römische Schutzmacht führte,
überall im Land mit neuer, wilder Erbitterung hochflammte. Bisher
hatten zumindest in Jerusalem die beiden Parteien der Ordnung, die
aristokratischen »Unentwegt Rechtlichen« und die bürgerlichen
»Wahrhaft Schriftgläubigen«, Gewalttätigkeiten gegen die Römer
verhindern können: jetzt, nach dem Edikt von Cäsarea, bekam die
dritte Partei die Oberhand, die »Rächer Israels«.
Immer mehr Leute von den
»Wahrhaft Schriftgläubigen« fielen jetzt ihnen zu, selbst der Chef
der Tempelverwaltung, der Doktor und Herr Eleasar Ben Simon, ging
öffentlich zu ihnen über. Überall sah man ihr Zeichen, das Wort
Makkabi, die Initialen des hebräischen Satzes: »Wer ist wie du, o
Herr?«, die Parole des Aufstandes. In Galiläa tauchte mit einemmal
der Agitator Nachum auf, der Sohn des von den Römern hingerichteten
Patriotenführers Juda. Er war fast ein Jahrzehnt verschollen
gewesen, man hatte geglaubt, er sei umgekommen, nun plötzlich zog
er durch die Städte und Dörfer der Nordprovinz, überall liefen die
Massen ihm zu. »Worauf denn noch wollt ihr warten?« beschwor er
inbrünstig, fanatisch die dumpf und erbittert Lauschenden. »Die
bloße Gegenwart der Unbeschnittenen besudelt euer Land. Ihre
Regimenter trampeln frech über die Fliesen des Tempels, ihre
Trompeten kreischen scheußlich in die heilige Musik. Ihr seid
auserwählt, Jahve zu dienen: ihr könnt nicht den Cäsar, den
Schweinefresser, anbeten. Denkt an die großen Eiferer des Herrn, an
Pinchas, an Eli, an Juda den Makkabäer. Drücken euch eure eigenen
Ausbeuter nicht genug? Müßt ihr euch noch von den Fremden den Segen
rauben lassen, den Jahve für euch bestimmt hat, daß sie
Fechterspiele damit veranstalten und Tierhetzen? Laßt euch nicht
bange machen von der Feigheit der ›Wahrhaft Schriftgläubigen‹!
Kuscht nicht vor der Profitgier der ›Unent wegt Rechtlichen‹, die
die Hand der Unterdrücker streicheln, weil sie ihren Geldsack
beschützt. Die Zeit ist erfüllt. Das Himmelreich ist nahe. In ihm
zählt der Arme genauso wie der Fettbauch. Der Messias ist geboren,
er wartet nur darauf, daß ihr euch regt, dann wird er sich zeigen.
Erschlagt die Feiglinge vom Großen Rat in Jerusalem! Erschlagt die
Römer!«
Die bewaffneten Verbände der
»Rächer Israels«, die ausgetilgt schienen, tauchten im ganzen Land
wieder auf. In Jerusalem kam es zu wilden Kundgebungen. In der
Provinz wurden Römer, die sich ohne militärischen Schutz auf die
Landstraßen wagten, überfallen, als Geiseln verschleppt. Da gerade
die kaiserliche Finanzverwaltung gewisse Steuerrückstände mit Härte
eintrieb, zeigten sich junge Anhänger der »Rächer Israels« mit
Sammelbüchsen auf den Straßen, bettelten bei den Passanten: gebt
eine mildtätige Gabe für den armen, unglücklichen Gouverneur.
Gessius Flor beschloß, scharf durchzugreifen, verlangte, man solle
ihm die Rädelsführer ausliefern. Die einheimischen Behörden
erklärten, sie könnten sie nicht ermitteln. Der Gouverneur ließ
durch Truppen den Obern Markt und die angrenzenden Straßen, wo man
die Hauptsitze der »Rächer Israels« vermutete, Haus für Haus
durchsuchen. Die Haussuchungen gingen in Plünderungen über. Die
Juden wehrten sich, von den Dächern einzelner Häuser wurde
geschossen. Auch unter den Römern gab es Tote. Der Gouverneur
verkündete das Standrecht. Die erbitterten Soldaten schleppten
Schuldige und Unschuldige vor Gericht; die bloße Bezichtigung,
jemand gehöre zu den »Rächern Israels«, genügte. Es regnete
Todesurteile. Das Gesetz verbot, römische Bürger anders als durchs
Schwert hinzurichten. Gessius Flor ließ jüdische Männer, selbst
wenn sie den Rittertitel und den Goldenen Ring des Zweiten
römischen Adels trugen, schmählich am Kreuz exekutieren.
Als auch zwei Mitglieder des
Großen Rats abgeurteilt werden sollten, erschien vor den Offizieren
des Standgerichts, begleitet von einer stummen, ergriffenen Menge,
die Prinzessin Berenike, die Schwester des Titularkönigs Agrippa.
Sie hatte wegen Errettung aus einer Krankheit ein erschwertes
Gelübde getan, so daß sie mit kurzgeschorenem Haupthaar ging und
ohne jeden Schmuck. Sie war eine schöne Frau, in Jerusalem sehr
geliebt und gern gesehen auch am römischen Hof. Ihre Art zu gehen
war berühmt in der ganzen Welt. Von der deutschen Grenze bis zum
Sudan, von England bis an den Indus konnte man einer Frau kein
willkommeneres Kompliment machen als: sie gehe wie die Prinzessin
Berenike. Jetzt nun schritt diese große Dame demütig her, nach Art
der Schutzflehenden, barfuß, das schwarze Gewand nur von einer
Schnur gehalten, das Haupt mit dem kurzen Haar gebeugt. Sie neigte
sich vor dem Vorsitzenden des Gerichts und bat um Gnade für die
beiden Priester. Die Offiziere waren zunächst höflich, machten
galante Scherze. Da aber die Prinzessin nicht abließ, wurden sie
kühl und kurz, zuletzt geradezu grob, und Berenike mußte sich, übel
gedemütigt, zurückziehen.
Es kamen in diesen fünf Tagen vom
21. bis zum 26. Mai in ! Jerusalem über dreitausend Menschen ums
Leben, darunter an tausend Frauen und Kinder.
Die Stadt kochte in dumpfer
Empörung. Bisher waren zumeist Bauern und Proletarier den »Rächern
Israels« zugelaufen, jetzt schlossen sich immer mehr Bürger ihnen
an. Überall raunte es oder schrie es auch offen, übermorgen, nein,
morgen schon werde das Land sich gegen die römische Gewalt erheben.
Die einheimische Regierung, das Kollegium des Erzpriesters und der
Große Rat, sahen mit Sorge, welche Wendung die Dinge nahmen. Die
gesamte Oberschicht wünschte Verständigung mit Rom, hatte Angst vor
einem Krieg. Die »Unentwegt Rechtlichen«, Aristokraten zumeist und
reiche Leute, die die wichtigsten Staatsämter innehatten,
fürchteten, ein Krieg gegen Rom werde unausbleiblich in eine
Revolution gegen ihre eigene Herrschaft ausmünden; denn sie hatten
von jeher die bescheidenen Forderungen der Pachtbauern,
Kleinbürger, Proletarier starr und hochmütig abgelehnt. Die
»Wahrhaft Schriftgläubigen« aber, die Partei der Doktoren des
Tempels von Jerusalem, Gelehrte, Demokraten, denen die große Masse
des Volkes anhing, glaubten, man müsse es Gott überlassen, die alte
Freiheit des Staates wiederherzustellen, und warnten vor jeder
Gewalttätigkeit, solange die Römer die Lehre nicht antasteten, die
sechshundertdreizehn Gebote des Moses.
Die Führer beider Parteien
wandten sich dringlich an den König Agrippa, der in Ägypten weilte,
und baten ihn, zwischen den Aufständischen und der römischen
Regierung zu vermitteln. Diesem König hatten die Römer zwar nur in
Transjordanien und in einigen Städten Galiläas wirkliche Herrschaft
belassen, in Judäa hatten sie seine Befugnis auf die Oberaufsicht
über den Tempel beschränkt. Aber noch hatte er den Königstitel,
galt als der erste Mann unter den Juden, war beliebt. Eiligst, auf
die Bitten der jüdischen Regierung, reiste er nach Jerusalem,
gewillt, selber zu den Massen zu reden.
Zehntausende kamen, ihn zu hören,
auf den großen Platz vor dem Makkabäerpalais. Sie standen
dichtgedrängt, hinter ihnen war die alte Stadtmauer und, von einer
schmalen Brücke überspannt, die Talenge, und wieder dahinter weiß
und golden die ragende Westhalle des Tempels. Die Menge begrüßte
den König gedrückt, gespannt, ein wenig mißtrauisch. Dann aber kam
zwischen sich neigenden Offizieren die Prinzessin Berenike aus dem
Tor des Palastes, schwarzgekleidet wieder, aber nicht in der Tracht
der Schutzflehenden diesmal, sondern in schwerem Brokat. Unter dem
kurzen Haar schien ihr langes, edles Gesicht doppelt kühn. Alle
verstummten, als sie aus dem Palais trat, wie wohl die Betenden
verstummen, die am Neumondstag auf den jungen Mond gewartet haben:
er war zwischen Wolken und unsichtbar, jetzt aber kommt er heraus,
und sie freuen sich. Langsam stieg die Prinzessin die Treppen
herunter zu ihrem Bruder, schwer bauschte sich der Brokat um die
still Schreitende. Und wie sie jetzt die beiden Hände mit den
Flächen gegen das Volk hob, gaben sie inbrünstig, stürmisch den
Gruß zurück: sei gegrüßt, Berenike, Fürstin, die da kommt im Namen
des Herrn.
Dann begann der König seine Rede.
In eindringlichen Sätzen führte er aus, wie hoffnungslos eine
Erhebung gegen das römische Protektorat sei. Er hob, der elegante
Herr, die Schultern, ließ sie wieder fallen, malte mit seinem
ganzen Körper die Sinnlosigkeit des Unternehmens. Hatten nicht alle
Völker der Erde sich auf den Boden der Tatsachen gestellt? Die
Griechen, die sich einstmals gegen ganz Asien hatten behaupten
können, die Makedonier, deren Alexander vor Zeiten den großen Samen
eines Weltreiches ausgestreut hatte: genügte heute nicht eine
Besetzung von zweitausend römischen Soldaten für beide Länder
zusammen? Gallien hatte dreihundertfünf verschiedene Stämme, besaß
ausgezeichnete natürliche Befestigungen, erzeugte alle Rohstoffe im
eigenen Land: reichten nicht zwölfhundert Mann aus, nicht mehr, als
das Land Städte hatte, um jeden leisesten Gedanken an Auflehnung zu
unterdrücken? Zwei Legionen genügten, römische Ordnung in dem
riesigen, reichen, altkultivierten Ägypten zu sichern. Gegen die
Deutschen, bekanntlich von einer Gemütsart heftiger als die der
wilden Tiere, kam man mit vier Legionen aus, und im ganzen Gebiet
diesseits des Rheins und der Donau reiste man so friedlich wie in
Italien selbst. »Habt ihr denn«, der König schüttelte bekümmert den
Kopf, »keinen Maßstab für eure eigene Schwäche und die Kraft Roms?
Sagt mir doch, wo habt ihr eure Flotte, eure Artillerie, eure
Finanzquellen? Die Welt ist römisch: wo wollt ihr Bundesgenossen
und Hilfe hernehmen? Vielleicht aus der unbewohnten
Wüste?«
König Agrippa redete seinen Juden
gut zu wie unverständigen Kindern. Genau betrachtet, seien die
Steuern, die Rom verlange, nicht übermäßig hoch. »Bedenkt doch, die
Stadt Alexandrien allein bringt in einem Monat mehr Steuern auf als
ganz Judäa in einem Jahr. Und leistet Rom nicht auch allerhand für
diese Steuern? Hat es nicht ausgezeichnete Straßen geschaffen,
moderne Wasserleitungen, eine rasch arbeitende, gut geschulte
Verwaltung?« Mit großer, dringlicher Geste beschwor er die
Versammlung. »Gerade noch liegt das Schiff im Hafen. Seid
vernünftig. Fahrt nicht mitten in das fürchterliche Unwetter und
den sicheren Untergang.«
Die Rede des Königs machte
Eindruck. Viele riefen, sie seien nicht gegen Rom, sie seien nur
gegen diesen Gouverneur, gegen Gessius Flor. Hier aber hakten
geschickt die »Rächer Israels« ein. Der junge, elegante Doktor
Eleasar vor allem forderte in wirkungsvollen Sätzen, der König
solle als Erster ein Ultimatum an Rom unterzeichnen, das die
sofortige Abberufung des Gouverneurs verlangte. Agrippa wich
zurück, suchte hinzuzögern, auszubiegen. Eleasar drängte auf klare
Antwort, der König lehnte ab. Immer mehr schrien: »Die
Unterschrift! Das Ultimatum! Nieder mit Gessius Flor!« Die Stimmung
schlug um. Man rief, der König stecke mit dem Gouverneur unter
einer Decke, sie alle wollten nur das Volk ausbeuten. Schon drangen
einige entschlossen aussehende Burschen auf den König ein. Gerade
noch konnte er sich unter dem Schutze seiner Herren heil in das
Palais zurückziehen. Den Tag darauf verließ er die Stadt, sehr
erbittert, begab sich in seine sicheren transjordanischen
Provinzen.
Nach dieser Niederlage der
Feudalherren und der Regierung trieben es die Radikalen mit allen
Mitteln zum Äußersten. Seit der Begründung der Monarchie, seit
hundert Jahren, sandten Kaiser und Senat von Rom allwöchentlich ein
Opfer für Jahve und seinen Tempel. Jetzt gab Doktor Eleasar als
Chef der Tempelverwaltung den diensttuenden Priestern Anweisung,
dieses Opfer nicht mehr anzunehmen. Vergeblich beschworen ihn der
Erzpriester und sein Kollegium, die Schutzmacht nicht auf so
unerhörte Art zu provozieren. Doktor Eleasar schickte das Opfer des
Kaisers mit Hohn zurück.
Dies war das Zeichen für die
jüdischen Kleinbürger, Bauern und Proletarier, sich offen gegen die
Römer und gegen ihre eigenen Feudalherren zu erheben. Die römische
Garnison war schwach. Die »Rächer Israels« waren bald im Besitz
aller strategisch wichtigen Punkte der Stadt. Sie steckten das
Finanzamt in Brand, vernichteten unter Jubelgeschrei die
Steuerlisten und Hypothekenverzeichnisse. Zerstörten und plünderten
die Häuser vieler mißliebiger Aristokraten. Schlossen die römischen
Truppen im Makkabäerpalais ein. Die Römer hielten diesen letzten,
stark befestigten Stützpunkt mit großer Tapferkeit. Aber ihre
Position war aussichtslos, und als ihnen die Juden gegen
Ablieferung der Waffen freien Abzug zusicherten, nahmen sie das
Angebot mit Freuden an. Beide Parteien bekräftigten das Abkommen
durch Eid und Handschlag. Sowie aber die Belagerten die Waffen
abgelegt hatten, stürzten sich die »Rächer Israels« auf die
Wehrlosen und machten sich daran, sie niederzumetzeln. Die Römer
leisteten keinen Widerstand, sie baten auch nicht um ihr Leben,
aber sie riefen: Eid! Vertrag! Sie riefen es im Chor, immer weniger
riefen es, immer schwächer wurde der Chor, zuletzt rief nur mehr
ein einziger:
Eid! Vertrag!, und dann verstummte auch er.
Dies geschah am
7. September, am 20. Elul jüdischer Rechnung,
einem Sabbat.
Der Rausch der Tat kaum vorbei,
bemächtigte sich der ganzen Stadt eine tiefe Beklemmung. Wie zur
Bestätigung dieses üblen Gefühls trafen sehr bald schon Nachrichten
ein, in zahlreichen Städten mit gemischter Bevölkerung seien die
Griechen über die Juden hergefallen. In Cäsarea allein waren an
jenem schwarzen Sabbat zwanzigtausend Juden gemetzelt worden, die
übrigen hatte der Gouverneur in die Docks getrieben und zu
Leibeigenen erklärt. Als Antwort verheerten die Juden in den
Städten, in denen sie die Majorität hatten, die griechischen
Bezirke. Seit Jahrhunderten schon hatten die Griechen und Juden,
die an der Küste, in Samaria, am Rand von Galiläa in den gleichen
Städten wohnten, einander gehaßt und verachtet. Die Juden waren
stolz auf ihren unsichtbaren Gott Jahve, sie waren überzeugt, nur
für sie werde der Messias kommen, sie gingen hochfahrend einher im
Gefühl ihrer Auserwähltheit. Die Griechen machten sich lustig über
die fixen Ideen, den stinkenden Aberglauben, die lächerlichen,
barbarischen Gebräuche der Juden, und jeder tat dem Nachbarn das
Böseste an. Immer schon hatte es zwischen ihnen blutige Händel
gegeben. Jetzt wütete weit über die Grenzen Judäas hinaus
Plünderung, Mord und Brand, und das Land füllte sich mit
unbegrabenen Leichen.
Als es soweit war, beschloß der
Vorgesetzte des Gessius Flor, Cestius Gall, Generalgouverneur von
Syrien, in Judäa endlich durchzugreifen. Er war ein alter,
skeptischer Herr, überzeugt, was man nicht getan habe, bereue man
seltener und weniger bitter als das Getane. Nachdem indes die Dinge
einmal so übel ausgereift waren, durfte man keine falsche Schwäche
zeigen: Jerusalem mußte energisch gezüchtigt werden.
Cestius Gall mobilisierte die
ganze Zwölfte Legion, dazu acht weitere Regimenter syrischer
Infanterie. Forderte auch von den Vasallenstaaten ansehnliche
Kontingente. Der jüdische Titularkönig Agrippa, beflissen, Rom
seine Bundestreue zu beweisen, bot allein zweitausend Mann
Kavallerie auf, dazu drei Regimenter Schützen, und stellte sich
persönlich an ihre Spitze. Umständlich, bis ins kleinste Detail,
legte Cestius Gall das Programm der Strafexpedition fest. Vergaß
auch nicht, die feuertelegrafischen Siegesmeldungen vorzubereiten.
Rom sollte, sowie er als Richter und Rächer in Jerusalem einziehen
wird, es am gleichen Tage erfahren.
Gewaltig, von Norden her, brach
er in das meuterische Land. Nahm programmgemäß die schöne Siedlung
Zabulon-Männerstadt, plünderte sie, brannte sie nieder. Nahm
programmgemäß die Küstenstadt Joppe, plünderte sie, brannte sie
nieder. Geplünderte, niedergebrannte Städte, gemetzelte Menschen
zeichneten seinen Weg, bis er programmgemäß am
27. September vor Jerusalem stand.
Aber hier stockte er. Am 9.
Oktober, hatte er errechnet, werde er im Besitz des Forts Antonia,
am 10. im Besitz des Tempels sein. Jetzt war schon der 14., und das
Fort Antonia hielt sich immer noch. Die »Rächer Israels« hatten
nicht gezögert, die zahllosen Wallfahrer, die aus Anlaß des
Laubhüttenfestes gekommen waren, zu bewaffnen, die Stadt floß über
von freiwilligen Truppen. Der 27. Oktober kam, Cestius Gall stand
nun schon einen ganzen Monat vor Jerusalem, und immer noch warteten
an den sorglich vorbereiteten Feuerposten die Telegrafisten
vergeblich, schon fürchtend, der Apparat klappe nicht und sie
würden bestraft. Cestius beorderte neue Verstärkungen heran, ließ
mit großen Opfern alle Stoßmaschinen an den Mauern in Stellung
bringen, bereitete für den 2. November einen endgültigen
Sturmangriff mit solchen Mitteln vor, daß er menschlicher
Voraussicht nach nicht mißglücken konnte.
Die Juden hielten sich tapfer.
Allein was vermochte individuelle Tapferkeit gegen die überlegene
Organisation der Römer? Was zum Beispiel konnte der rührende
Ausfall der drei Greise nützen, die sich am 1. November, am Tag vor
dem Sturm, allein vor die Mauern begaben, die römische Artillerie
in Brand zu stecken? Am hellen Mittag erschienen sie plötzlich vor
den römischen Posten, drei uralte Juden mit den Abzeichen der
»Rächer Israels«, der Feldbinde, die die Buchstaben Makkabi trug,
die Initialen der hebräischen Worte: »Wer ist wie du, o Herr?« Erst
glaubte man, sie seien Parlamentäre und hätten eine Botschaft der
Belagerten zu überbringen, aber sie waren keine Parlamentäre,
vielmehr schossen sie mit ihren zitteri gen Greisenhänden
Brandpfeile gegen die Maschinen. Das war offenkundiger Wahnsinn,
und die Römer – was sollte man sonst mit den Wahnsinnigen anfangen?
– machten sie erstaunt, gutmütig scherzend, fast mitleidig nieder.
Es stellte sich noch am gleichen Tage heraus, daß es jene drei
Mitglieder des Großen Rates waren, Gadja, Jehuda und Natan, von den
Gerichten des Kaisers seinerzeit zu Zwangsarbeit verurteilt, dann
in großer Milde freigelassen. Immer wieder hatten die Römer diese
Amnestierung als schlagendes Beispiel ihrer eigenen Gutwilligkeit
angeführt und hatten daran erweisen wollen, daß nicht römische
Härte, sondern jüdische Bockbeinigkeit die Hauptschuld an den
entstandenen Unruhen trage. Auch in den Reden der »Unentwegt
Rechtlichen« und der »Wahrhaft Schriftgläubigen« spielte die
Amnestierung als Beweis für römische Großmut eine wichtige Rolle.
Die drei Märtyrer wollten nicht länger in ihrer Stadt umherlaufen
als leibhaftes Exempel für die edle Gesinnung des Erzfeindes. Ihr
Herz gehörte den »Rächern Israels«. So entschlossen sie sich als
fanatische Pädagogen zu dieser beispielhaften, frommen und
heroischen Tat.
Die Führer der Makkabi-Leute
freilich wußten sehr gut, daß mit Gesinnung allein wenig
auszurichten war gegen die Belagerungsmaschinen der Römer. Mit dem
Willen, die Stadt nicht zu übergeben, doch ohne Hoffnung, sie zu
halten, sahen sie die Vorbereitungen zu dem letzten Sturm, der am
andern Tage erfolgen mußte.
Er erfolgte nicht. In der Nacht
gab Cestius Gall Befehl, die Belagerung abzubrechen, den Rückzug
anzutreten. Er sah krank und verstört aus. Was war geschehen?
Niemand wußte es. Man bestürmte den Oberst Paulin, den Adjutanten
des Cestius Gall. Er zuckte die Schulter. Die Generäle schüttelten
die Köpfe. Cestius gab für den überraschenden Befehl keine Gründe,
und die Disziplin verbot, zu fragen. Die Armee setzte sich in
Bewegung, rückte ab.
Bestürzt erst, ohne Glauben, dann
mit einem Aufatmen, dann mit ungeheurem Jubel sahen die Juden
diesen Aufbruch der Belagerungsarmee. Zögernd, immer noch ein
taktisches Manöver befürchtend, dann mit wachsender Kraft machten
sie sich an die Verfolgung. Es wurde für die Römer ein schwieriger
Rückzug. Von Jerusalem her drückten die Aufständischen hart nach.
In dem nördlichen Gebiet, das die Römer durchqueren mußten, hatte
ein gewisser Simon Bar Giora, ein galiläischer Freischärlerführer,
einen erbitterten Kleinkrieg organisiert. Jetzt besetzte dieser
Simon Bar Giora nach einem raschen Umgehungsmarsch mit dem Gros
seiner Kräfte die Schlucht von Beth Horon. Der Name dieser Schlucht
klang lieblich in die Ohren der jüdischen Freischärler. Hier hatte
der Herr die Sonne stillstehen lassen, auf daß der General Josua
einen Sieg für Israel erfechte; hier hatte Juda der Makkabäer die
Griechen triumphal geschlagen. Auch das Manöver Simon Bar Gioras
gelang: die Römer erlitten eine Schlappe, wie sie in Asien seit den
Partherkriegen keine mehr erlebt hatten. Die Juden hatten noch
nicht tausend Tote, die Römer verloren an Toten
fünftausendsechshundertachtzig Mann Infanterie und
dreihundertachtzig Mann Kavallerie. Unter den Toten war der
Gouverneur Gessius Flor. Die gesamte Artillerie, alles sonstige
Kriegsmaterial, der Goldene Adler der Legion, dazu die reiche
Kriegskasse fiel in die Hände der Juden.
Dies geschah am 3. November
römischer, am 8. Dios griechischer, am 10. Marcheschvan jüdischer
Rechnung, im zwölften Regierungsjahr des Kaisers Nero.
Feierlich mit ihren Instrumenten standen die
Leviten auf den Stufen des Heiligen Raumes, hinter ihnen im
Heiligen Raum selbst Priester aller vierundzwanzig Reihen. Nach dem
überraschenden Sieg über Cestius Gall hatte der Erzpriester Anan,
wiewohl er die Partei der »Unentwegt Rechtlichen« führte, einen
Dankgottesdienst anberaumen müssen, und nun zelebrierte man das
große Hallel. Die Ereignisse der letzten Tage hatten Fremde auf
allen Straßen in die Stadt gespült, überwältigt starrten sie auf
den strengen Prunk. Wie Meeresbrandung brauste es durch die
riesigen weiß und goldenen Hallen: Dies ist der Tag des Herrn.
Lasset uns jauchzen und fröhlich sein. Und immer wieder, durch die
hundertdreiundzwanzig vorgeschriebenen Variationen: Lobet den
Herrn!
Josef stand ganz vorn, in seiner
weißen Amtstracht, den blauen Gürtel mit den eingewirkten Blumen um
die Taille. Hingerissen wie die andern warf er im vorgeschriebenen
Takt den Oberkörper. Niemand spürte tiefer als er, wie wunderbar
dieser Sieg war, den ungeschulte Freischärler über eine römische
Legion errungen hatten, über dieses Meisterwerk an Technik und
Präzision, das, wiewohl bestehend aus vielen Tausenden, sich
fortbewegte wie ein einzelner, gelenkt von einem Gehirn. Beth Horon, Josua, Wunder. Es war eine
herrliche Bestätigung seines Gefühls, daß für die Bedrängnis des
heutigen Jerusalem Vernunft allein nicht genügte. Die ganz großen
Taten sind nicht mit Vernunft gemacht worden, sie kommen
unmittelbar aus göttlicher Eingebung. Die Tausende vor den Stufen
sahen ergriffen, wie inbrünstig dieser junge, glühende Priester die
Dankeshymnen mitsang.
Aber in aller frommen
Begeisterung konnte er nicht verhindern, daß seine Gedanken sich
damit beschäftigten, was für Folgen der unvorhergesehene Sieg der
Makkabi-Leute für ihn persönlich haben werde.
Jerusalem hatte nicht viel Zeit
gehabt, ihn wegen seines Erfolgs in der Sache der drei Unschuldigen
zu feiern. Kaum eine Woche nach seiner Rückkehr waren die Unruhen
losgebrochen. Immerhin war er durch seinen römischen Erfolg populär
geworden, die gemäßigte Regierung konnte den jungen Aristokraten,
trotzdem er so oft in der Blauen Halle der »Rächer Israels« gesehen
wurde, nicht länger brüskieren: man gab ihm Amt und Titel eines
Geheimsekretärs im Tempeldienst. Viel zuwenig. Jetzt nach dem
großen Sieg sind seine Chancen mächtig gestiegen. Die Gewalten
müssen neu verteilt werden. Die Volksstimmung zwingt die Regierung,
auch einige von den Makkabi-Leuten an die Macht zu lassen. Morgen
oder übermorgen schon soll eine Versammlung der drei gesetzgebenden
Körperschaften stattfinden. Es darf nicht sein, daß man bei dieser
Verteilung an ihm vorübergeht.
Lobet den Herrn! sang es, Lobet
den Herrn! Er konnte es verstehen, daß die Regierung bisher mit
allen Mitteln den Krieg mit Rom zu vermeiden gesucht hat. Selbst
gestern noch, nach dem großen Sieg, flüchteten einige ganz kluge
Leute in größter Eile aus der Stadt, dem Generalgouverneur Cestius
Gall nach, ihm trotz seiner Niederlage zu versichern, daß sie
nichts zu tun hätten mit dem heimtückischen Überfall der Meuterer
auf die Armee des Kaisers. Der alte, reiche Chanan, der Besitzer
der großen Warenmagazine auf dem Ölberg, hat sich aus der Stadt
verdrückt, der Staatssekretär Sebulon hat sein Haus stehenlassen
und ist fort, die Priester Zefanja und Herodes sind auf die andere
Seite des Jordan geflohen in das Gebiet des Königs Agrippa. Auch
viele Essäer sind gleich nach dem Sieg über Cestius weggezogen, und
jene Sektierer, die sich Christen nennen, haben sich allesamt
davongemacht. Josef hat wenig übrig für die saftlose Frommheit der
einen und für die kahle Klugheit der andern.
Die heilige Handlung war zu Ende.
Josef schob sich durch die Massen, die den riesigen Tempelbezirk
füllten. Die meisten trugen Binden mit dem Abzeichen der »Rächer
Israels«, dem Wort Makkabi. In dicken Haufen stand man um die
erbeuteten Kriegsmaschinen, betastete sie, die mauerbrechenden
Sturmböcke, die leichten Katapulte und die schweren Ballisten, die
ihre mächtigen Geschosse weithin schleudern konnten. Überall
ringsum in der angenehmen Novembersonne war fröhliches,
gutgelauntes Gefeilsche um Stücke der römischen Beute, Kleider,
Waffen, Zelte, Pferde, Maultiere, Hausrat, Schmuck, Andenken jeder
Art, Rutenbündel, Beile der Liktoren. Neugierig, schadenfroh zeigte
man sich das Riemenzeug, wie es jeder römische Soldat zum Binden
der Gefangenen bei sich trug. Die Bankiers des Tempels hatten viel
zu tun mit dem Einwechseln der fremden Münzen, die man den
Erschlagenen abgenommen hatte.
Josef gerät an eine erregte,
heftig diskutierende Gruppe: Soldaten, Bürger, Priester. Es geht um
den Goldenen Adler mit dem Kaiserporträt, das Feldzeichen der
Zwölften Legion, das man erbeutet hat. Die Offiziere der
Freischärler wollten, daß der Adler an den Außenmauern des Tempels
angebracht werde, neben den Trophäen des Juda Makkabi und des
Herodes, an sichtbarster Stelle, ein Wahrzeichen für Stadt und
Land. Aber die »Wahrhaft Schriftgläubigen« wollten das nicht
dulden; Tierfiguren, unter welchem Vorwand immer, waren im Gesetz
verboten. Man schlug einen Mittelweg vor; der Adler sollte in den
Tempelschatz gebracht werden zur Verfügung des Doktor Eleasar, des
Chefs der Tempelverwaltung, der doch selber zu den »Rächern«
gehörte. Nein, das gaben die Offiziere nicht zu. Die Leute, die den
Adler transportierten, standen zögernd; auch ihnen wäre es lieber
gewesen, die Trophäe wäre nicht im Tempelschatz verschwunden. Sie
hatten die dicke Stange mit dem Adler niedergelegt. Das gefürchtete
Zeichen der Armee sah in der Nähe plump und ungefüg aus, auch das
Bild des Kaisers in dem Medaillon darunter war roh und häßlich,
keineswegs furchterregend. Heftig stritten die Männer hin und her.
Da kam der Geist über Josef, seine junge Stimme drang voll,
Gehorsam fordernd, durch den Wirrwarr. Weder soll der Adler an die
Mauer noch in den Tempelschatz. Zertrümmert soll er werden, in
Stücke gehauen. Verschwinden soll er. Das war ein Vorschlag nach
dem Herzen aller. Die Ausführung war freilich nicht einfach. Der
Adler war solid, es dauerte eine gute Stunde, bis er ganz
zertrümmert war und jeder mit seinem Stückchen Gold abziehen
konnte. Josef, der Held der drei Unschuldigen von Cäsarea, hatte
sich neue Sympathien erworben.
Josef ist müde, aber er kann
jetzt nicht nach Hause gehen, es treibt ihn weiter durch den
Tempelbezirk. Wer ist es, der da kommt und vor dem sich die Haufen
willig teilen? Ein junger Offizier, nicht groß, über dem kurzen,
gepflegten Bart steht eine starke, gerade Nase und enge, braune
Augen. Es ist Simon Bar Giora, der Freischärlerführer aus Galiläa,
der Sieger. Vor ihm her wird ein makelloses, schneeweißes Tier
geführt, ein Dankopfer offenbar. Aber, Josef sieht es mit
unbehaglichem Erstaunen, Simon Bar Giora ist in Waffen. Will er in
Eisen zum Altar gehen, den Eisen nie berührt hat, nicht während des
Baus und niemals später? Das soll er nicht. Josef tritt ihm in den
Weg. »Ich heiße Josef Ben Matthias«, sagt er. Der junge Offizier
weiß, wer er ist, er begrüßt ihn achtungsvoll, herzlich. »Sie gehen
zum Opfer?« fragt Josef. Simon bejaht. Er lächelt, ernst, eine
tiefe Zufriedenheit und Zuversicht geht von ihm aus. Allein Josef
fragt weiter: »In Waffen?« Simon errötet. »Sie haben recht«, sagt
er. Er heißt die Leute mit dem Tier warten, er wird die Waffen
ablegen. Aber dann wendet er sich nochmals an Josef. Herzlich,
freimütig, daß alle es hören, sagt er: »Sie, Doktor Josef, waren
der erste. Als Sie die drei Unschuldigen aus dem Kerker der Römer
herausholten, spürte ich, daß das Unmögliche möglich ist. Gott ist
mit uns, Doktor Josef.« Er grüßt ihn, die Hand an der Stirn; aus
seinen Augen strahlt Frommheit, Kühnheit, Glück.
Josef ging durch die sacht ansteigenden
Straßen der Neustadt, durch die Basare der Kleiderhändler, über den
Markt der Schmiede, durch die Töpferstraße. Wieder nahm er mit
Wohlgefallen wahr, wie sich die Neustadt zu einem Viertel voll
Handel, Industrie, Leben entwickelte. Er besaß Terrains hier, die
ihm der Glasfabrikant Nachum Ben Nachum gern abgekauft hätte. Er
hatte sich schon entschlossen, sie ihm zu überlassen. Jetzt, nach
dem großen Sieg, wollte er das nicht mehr. Der Glasbläser Nachum
wartet auf Bescheid. Josef wird jetzt hingehen und ihm absagen. Er
wird sich hier in der Neustadt selber ein Haus bauen.
Der Glasfabrikant Nachum Ben
Nachum hockte vor seiner Werkstatt, auf Polstern, die Beine
gekreuzt. Zu seinen Häupten, über dem Eingang, hing aus buntem Glas
eine große Traube, das Emblem Israels. Er stand auf, um Josef zu
begrüßen, lud ihn ein, zu sitzen. Josef hockte nieder auf die
Polster, ein wenig mühevoll, er hatte sich diese Art zu sitzen
abgewöhnt.
Nachum Ben Nachum war ein
stattlicher, beleibter Herr von etwa fünfzig Jahren. Er hatte die
schönen, lebendigen Augen, um derentwillen die Jerusalemer berühmt
waren, sein frischfarbiges Gesicht war gerahmt von einem dichten,
viereckigen, schwarzen Bart, der nur mit wenigen grauen Haaren
gesprenkelt war. Er war neugierig auf Josefs Bescheid, aber er ließ
nichts von dieser Neugier merken, sondern begann ein abgewogenes
Gespräch über Politik. Es sei vielleicht gut, wenn auch die jungen
Leute einmal ans Steuer kämen. Nachdem die »Rächer« diesen Sieg
errungen hätten, müßten sich die regierenden Herren in der
Quadernhalle mit ihnen einigen. Er sprach lebhaft, aber gleichwohl
würdig und bestimmt.
Josef hörte ihn aufmerksam an. Zu
erfahren, wie Nachum
Ben Nachum sich nach dem großen Sieg bei Beth
Horon zu den Dingen stellte, war interessant. Was er sagte, war
wohl die Meinung der meisten Bürger Jerusalems. Noch vor acht Tagen
waren sie alle gegen die »Rächer Israels« gewesen; jetzt hatten sie
das vergessen, jetzt waren sie überzeugt, man hätte die
Makkabi-Leute schon lange an die Macht lassen sollen.
Doktor Nittai kam aus dem Haus,
ein älterer, mürrischer Herr, mit dem Josef von Mutterseite her
weitläufig verwandt war. Doktor Nittai war auch mit dem
Glasfabrikanten verwandt, und der hatte ihn ins Geschäft genommen.
Doktor Nittai verstand zwar nichts vom Geschäft; aber es erhöhte
das Ansehen einer Firma, wenn sie einen Gelehrten aufnahm und ihn
an ihren Einkünften teilnehmen ließ, »ihm in den Mund gab«, wie man
fromm und ein wenig verächtlich sagte. So lebte also der Doktor und
Herr Nittai wortkarg und verdrießlich im Hause des Glasbläsers. Er
hielt es für eine große Wohltat, daß er dem Fabrikanten erlaubte,
die Firma unter dem Namen Doktor Nittai und Nachum zu führen, und
daß er seinen Lebensunterhalt von ihm annahm. Wenn er nicht auf der
Tempeluniversität diskutierte, saß er schaukelnd vor dem Haus in
der Sonne, eine Rolle der Heiligen Schrift vor sich, im Singsang
Gründe und Gegengründe der Ausdeutung abwägend. Niemand durfte ihn
dann stören; denn wer das Studium der Schrift unterbricht, um zu
sagen: Siehe, wie schön ist dieser Baum, der ist der Ausrottung
schuldig.
Diesmal aber war er nicht mit dem
Studium beschäftigt, und so fragte ihn Nachum, ob nicht auch er
dafür sei, daß man die »Rächer Israels« in die Regierung aufnehme.
Doktor Nittai runzelte die Stirn. »Machet die Lehre nicht zu einem
Spaten«, sagte er unwirsch, »um damit zu graben. Die Schrift ist
nicht dazu da, Politik aus ihr herauszulesen.«
Es war viel Betrieb in Nachums
Laden und Fabrik. Die römische Beute spülte Geld in die Stadt, und
man kaufte gern Nachums weitgerühmte Gläser. Nachum begrüßte würdig
die Käufer, bot ihnen schneegekühlte Getränke an, ein wenig
Konfekt. Ein großer, herrlicher Sieg, nicht wahr? Die Geschäfte
gehen ausgezeichnet, Gott sei gedankt. Wenn das so bleibt, wird man
sich bald Magazine anlegen können, groß wie die Magazine der Brüder
Chanan unter den Zedern des Ölbergs. Wer sich von seiner Hände
Arbeit nährt, steht höher als der Gottesfürchtige, zitierte er,
nicht ganz passend. Aber er erreichte seinen Zweck: Doktor Nittai
ärgerte sich.
Er hätte manches Gegenzitat
gewußt, aber er schluckte es hinunter; denn wenn er sich erregte,
dann machte sich sein babylonischer Akzent bemerkbar, und Josef
pflegte ihn wegen dieses Akzents in aller Ehrfurcht aufzuziehen.
»Ihr Babylonier habt den Tempel zerstört«, pflegte er zu sagen, und
Doktor Nittai vertrug keine Neckerei. Er nahm nicht am Gespräch
teil, er studierte auch nicht, er hockte in der angenehmen Sonne
und träumte vor sich hin. Oftmals jetzt, seitdem er von seiner
babylonischen Heimatstadt Nehardea nach Jerusalem gezogen war, war
die Achte Priesterreihe, der er angehörte, die Reihe Abija, zum
Tempeldienst ausgelost worden. Oftmals hatte er es erlost, Teile
des Opfertiers zum Altar zu bringen. Aber sein höchster Traum, den
Weihrauch aus der goldenen Schale auf den Altar zu schütten, war
nie in Erfüllung gegangen. Immer wenn die Magrepha ertönte, die
hunderttonige Schaufelpfeife, die anzeigte, daß jetzt das
Räucheropfer dargebracht wurde, faßte ihn tiefer Neid auf den
Priester, dem dieser Segen zugefallen war. Er hatte alle
Voraussetzungen, er hatte keinen von den hundertsiebenundvierzig
Leibesfehlern, die den Priester zum Dienst untauglich machten.
Allein er war nicht mehr jung. Wird Jahve es fügen, daß er sich das
Räucheropfer noch erlost?
Josef hatte mittlerweile dem
Glasbläser seinen Entschluß mitgeteilt, die Terrains zu behalten.
Nachum nahm die Mitteilung ohne das kleinste Zeichen von Ärger auf.
»Möge Ihr Entschluß uns beiden zum Glück sein, mein Doktor und
Herr«, sagte er höflich.
Der junge Ephraim kam, der
Vierzehnjährige, Nachums jüngster Sohn. Er trug das Abzeichen mit
den Initialen Makkabi. Er war ein schöner, frischer Junge, und
heute glühte er von doppeltem Leben. Er hatte Simon Bar Giora
gesehen, den Helden. Begeistert strahlten seine langen Augen aus
dem warmen, dunkeln Gesicht. Es war vielleicht unrecht gewesen, daß
er heute aus der Werkstatt fortlief. Aber er konnte doch das große
Hallel im Tempel nicht versäumen. Und er war ja auch belohnt
worden, er hatte Simon Bar Giora gesehen.
Josef war schon im Begriff zu
gehen, als auch Nachums ältester Sohn kam, Alexas. Alexas war
stattlich und beleibt wie der Vater, er hatte den gleichen dicken,
viereckigen Bart und das frischfarbige Gesicht; aber seine Augen
waren trüber, er wiegte viel den Kopf, strich sich oft mit der
rauhen, vom Anfassen heißer Masse zerschrundeten Hand den Bart. Er
war nicht ruhevoll wie der Vater, er sah immer bekümmert aus,
beschäftigt. Er belebte sich, als er Josef erblickte. Josef durfte
jetzt nicht gehen. Er mußte ihm helfen, den Vater überzeugen, daß
man jetzt noch, solange vielleicht noch Zeit sei, Jerusalem
verlasse. »Sie waren in Rom«, redete er auf ihn ein, »Sie kennen
Rom. Sagen Sie selbst, was die Makkabi-Leute jetzt treiben, muß das
nicht zum Zusammenbruch führen? Ich habe die besten Beziehungen,
ich habe Geschäftsfreunde in Nehardea, in Antiochien, in Batna. Ich
verpflichte mich beim Leben meiner Kinder, in jeder beliebigen
Stadt des Auslands binnen drei Jahren ein Geschäft aufzumachen, das
hinter unserm hier nicht zurückbleibt. Reden Sie meinem Vater zu,
daß er sich von diesem gefährlichen Boden fortmacht.«
Der Knabe Ephraim fuhr auf den
Bruder los, seine schönen Augen waren schwarz vor Wut. »Du
verdienst nicht, in dieser Zeit zu leben. Alle schauen mich schief
an, weil ich so einen Bruder habe. Geh nur zu den Schweinefressern,
du! Jahve hat dich ausgespien aus seinem Mund.« Nachum wehrte dem
Knaben, aber nur sachte. Er selber hörte die Reden seines Sohnes
Alexas nicht gern. Wohl war ihm manchmal bange geworden bei dem
wilden Treiben der »Rächer Israels«, und er wie die andern streng
Rechtgläubigen hatte sie abgelehnt; aber nachdem jetzt fast ganz
Jerusalem den Makkabi-Leuten recht gab, führte man keine solchen
Reden wie Alexas. »Hören Sie nicht auf meinen Sohn Alexas, Doktor
Josef«, sagte er. »Er ist ein guter Sohn, aber er muß immer alles
anders haben als die andern. Immer steckt er voll von querköpfigen
Ideen.«
Josef wußte, daß es grade diese
querköpfigen Ideen des Alexas waren, denen die Fabrik des Nachum
ihren Aufschwung verdankte. Nachum Ben Nachum betrieb seine
Werkstatt, wie sein Vater und sein Großvater sie betrieben hatten.
Er fabrizierte immer das gleiche, verkaufte immer das gleiche.
Beschränkte sich auf den Jerusalemer Markt. Ging auf die Börse, auf
die Kippa, setzte mit Hilfe der zuständigen Notare die
zeremoniellen, umständlichen Kaufverträge auf und sorgte dafür, daß
sie im Stadtarchiv hinterlegt wurden. Mehr zu tun erschien ihm von
Übel. Als eine zweite Glasfabrik in Jerusalem errichtet wurde,
hätte er sich mit so schlichten Prinzipien gegen die rührige
Konkurrenz nicht halten können. Da hatte Alexas eingegriffen.
Während man bisher in Nachums Werkstatt zumeist mit der Hand
gearbeitet hatte, hatte Alexas den Betrieb modernisiert, so daß man
jetzt ausschließlich die lange Glasmacherpfeife anwandte und aus
ihr schöne, runde Gefäße herausblies, so wie Gott den Atem in den
menschlichen Leib einbläst. Alexas hatte ferner große Quantitäten
pulverisierten Quarzkiesels eingeführt, die sehr rentable Filiale
in der Oberstadt errichtet, in der nur Prunk- und Luxusgläser
verkauft wurden. Hatte die großen Warenmärkte von Gaza, Cäsarea und
die Jahresmesse von Batna in Mesopotamien beschickt. Alle diese
Neuerungen hatte der kaum Dreißigjährige in ständigem Kampf gegen
den Vater durchsetzen müssen.
Auch heute ereiferte sich Nachum
gegen den Sohn und seine übervorsichtigen, siebenklugen Reden.
Niemals wieder nach dieser Schlappe werden die Römer nach Jerusalem
ziehen. Und wenn sie kommen, wird man sie übers Meer zurückwerfen.
Er jedenfalls, Nachum Ben Nachum, der Großhändler, wird niemals
diese seine Glasfabrik verlassen und von Jerusalem fortgehen. Man
hat Glas mit der Hand geformt, und man hat Glas mit der Pfeife
geblasen, und Jahve hat das Werk gesegnet. Durch Jahrhunderte waren
wir Glasbläser in Jerusalem, und Glasbläser in Jerusalem werden wir
bleiben.
Sie hockten auf den Polstern,
äußerlich ruhig, aber beide waren sie erregt, und beide strichen
sie heftig den viereckigen, schwarzen Bart. Der Knabe Ephraim
schaute mit wilden Augen auf den Bruder; es war offensichtlich, daß
nur die Ehrfurcht vor dem Vater ihn hinderte, gegen ihn loszugehen.
Josef schaute von einem zum andern. Alexas saß ruhig und
beherrscht, er lächelte sogar, aber Josef sah gut, wie bitter und
traurig er war. Sicherlich hatte Alexas recht, aber seine Vorsicht
wirkte kahl und kümmerlich vor der Beharrlichkeit des Vaters und
vor der Zuversicht des Knaben.
Von neuem kam Alexas mit
Vernunft. »Wenn die Römer unsere Sandtransporte vom Flusse Belus
nicht mehr hereinlassen, dann können wir unsere Glasbläserei
zusperren. Sie natürlich, Doktor Josef, Sie sind Politiker, Sie
müssen in Jerusalem bleiben. Aber einfache Kaufleute wie wir« –
»Großkaufleute«, korrigierte mild Nachum und streichelte seinen
Bart –, »tun wir nicht am besten, schleunigst von Jerusalem
wegzuziehen?«
Allein Nachum wollte von diesen
Dingen nichts mehr hören. Ohne Übergang wechselte er das Thema.
»Unsere Familie«, erklärte er dem Josef, »ist in allen Dingen
beharrlich. Als mein Großvater, das Andenken des Gerechten zum
Segen, starb, hatte er noch achtundzwanzig Zähne, und als mein
Vater, das Andenken des Gerechten zum Segen, starb, hatte er noch
dreißig Zähne. Ich bin heute über fünfzig, und ich habe noch meine
zweiunddreißig Zähne, und meine Haare sind noch fast schwarz und
gehen mir nicht aus.«
Als Josef sich entfernen wollte,
forderte Nachum ihn auf, mit in die Werkstatt zu kommen und sich
ein Geschenk auszusuchen. Denn noch ist das Fest des Sieges von
Beth Horon, und kein Fest ohne Geschenke.
Der Ofen glühte eine
unerträgliche Hitze aus, und der Rauch lag dick in der Werkstatt.
Nachum wollte dem Josef durchaus ein Prunkglas aufdrängen, einen
großen, eiförmigen Becher, die Außenseite durchbrochene Arbeit, so
daß das Ganze wie von einem gläsernen Netz gleichsam umwirkt war.
Nachum sang die Verse des alten Liedchens: »Wenn ich nur einmal,
heute nur, mein Prunkglas hab, morgen mag es zerbrechen.« Allein
Josef wies das kostbare Geschenk zurück, wie es der Anstand
erforderte, und begnügte sich mit etwas Einfacherem.
Der Knabe Ephraim konnte sich’s
nicht versagen, mit seinem Bruder Alexas im Rauch und in der Hitze
der Werkstatt eine neue, wilde, politische Debatte anzufangen.
»Warst du bei dem großen Hallel?« stürmte er auf ihn ein.
»Natürlich nicht. Jahve hat dich mit Blindheit geschlagen. Aber
jetzt lasse ich mir nichts mehr einreden. Ich trete in die
Bürgerwehr ein.« Alexas verzog den Mund. Er hatte für den glühenden
Knaben nichts als ein Schweigen und ein verlegenes Lächeln. Er
hätte so gern mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern
Jerusalem verlassen. Aber er hing mit ganzem Herzen an seiner
Familie, an seinem schönen, törichten Vater Nachum und an seinem
schönen, törichten Bruder Ephraim. Er war der einzige, der hier
Vernunft hatte. Er mußte bleiben, um sie vor dem Äußersten zu
bewahren.
Endlich konnte Josef gehen. Er
ließ die Tür unter der großen Glastraube hinter sich, atmete nach
der Hitze und dem Rauch der Werkstatt wohlig die angenehm frische
Luft. Alexas begleitete ihn ein Stück Weges. »Sie sehen«, sagte er,
«wie die Unvernunft reißend um sich greift. Vor einer Woche noch
war mein Vater ein überzeugter Gegner der Makkabi-Leute. Bleiben
Sie uns wenigstens vernünftig, Doktor Josef. Sie haben Sympathien.
Setzen Sie einige Sympathien aufs Spiel und behalten Sie Ihren
Verstand. Sie sind eine große Hoffnung. Ich wünschte herzlich, man
beriefe morgen in der Quadernhalle Sie in die Regierung.« Josef, im
stillen, dachte: Er will mich so unsympathisch haben, wie er selber
ist. Alexas, als er sich verabschiedete, sagte trüb: »Ich wollte,
dieser Sieg wäre uns erspart geblieben.«
Eine halbe Stunde vor dem angesetzten Beginn
der Versammlung ging Josef in die Quadernhalle. Aber schon hatten
sich die Herren der gesetzgebenden Körperschaften fast alle
eingefunden. In ihrer blauen Amtstracht die Herren vom Kollegium
des Erzpriesters, in ihren weiß und blauen Festkleidern die Herren
vom Großen Rat, weiß und rot die Herren vom Obersten Gericht.
Sonderbar dazwischen stand in seinen Waffen Simon Bar Giora mit
einigen seiner Offiziere.
Josef war kaum eingetreten, als
sein Freund Amram sich auf ihn stürzte. Früher ein fanatischer
Anhänger der »Unentwegt Rechtlichen«, hatte er sich seit einiger
Zeit den »Rächern Israels« angeschlossen. Seitdem Josef die
Befreiung der drei Märtyrer durchgesetzt hatte, hing er ihm mit
doppelter Leidenschaft an.
Was er ihm jetzt mitteilen
konnte, mußte Josef eine gro- ße Genugtuung sein. Galiläische
Freischärler hatten einen römischen Kurier abgefangen und ihm einen
anscheinend bedeutungsvollen Brief abgenommen. Simon Bar Giora
hatte dem Doktor Amram, den er schätzte, den Brief gezeigt. In
diesem Schreiben berichtete Oberst Paulin, der Adjutant des
Cestius, einem Freunde eilig und vertraulich über die Niederlage
der Zwölften Legion. Es lag, schrieb er, für den unseligen
Rückzugsbefehl kein vernünftiger Grund vor. Sein Chef hatte einfach
die Nerven verloren. Und schuld an dieser Nervenkrisis, eine
seltsame und erbitterte Laune des Schicksals, war eine Lappalie:
der Selbstmord jener drei verrückten Zwangsarbeiter von Tibur. Der
alte Herr hatte zeitlebens nur an Vernunft geglaubt. Der alberne
und heroische Tod der drei warf ihn um. Gegen ein solches Volk von
Fanatikern und Verrückten eine reguläre Armee einzusetzen war
sinnlos. Er kämpfte nicht weiter. Er gab es auf.
Josef las den Bericht, es wurde
ihm heiß unter seinem Priesterhut, trotzdem es ein frischer
Novembertag war. Der Brief war eine große, herrliche Bestätigung.
Manchmal in diesen Zeiten hatte er gezweifelt, ob seine römische
Tat gut war. Als die Römer, als gar die »Unentwegt Rechtlichen« die
Amnestierung der drei immer wieder als Beweis für die Milde der
kaiserlichen Verwaltung anführten, schien es, daß wirklich Justus
mit seiner kahlen Mathematik recht behalten sollte. Jetzt aber
wurde es offenbar, daß seine Tat sich dennoch zum Heil auswirkte.
Ja, mein Herr Doktor Justus von Tiberias, meine Haltung war
vielleicht unvernünftig, aber ist sie nicht durch die Folgen
herrlich gerechtfertigt?
Der Erzpriester Anan eröffnete
die Sitzung. Er hatte es heute nicht leicht. Er stand an der Spitze
der »Unentwegt Rechtlichen«, führte den Flügel der extremen
Aristokraten, die im Schutz der römischen Waffen den Kleinbürgern,
Bauern und Proletariern hart und hochmütig alle Erleichterungen
versagt hatten. Sein Vater und drei seiner Brüder hatten, einer
nach dem andern, das Erzpriestertum, das erste Amt des Tem pels und
des Staates, bekleidet. Klar, kühl und fair, war er der rechte Mann
gewesen, mit den Römern zu verhandeln: jetzt war seine
Verständigungspolitik schmählich gescheitert, man stand unmittelbar
vor dem Krieg, war man nicht schon mitten darin? Und was wird der
Erzpriester Anan jetzt tun und sagen? Ruhig wie stets stand er in
seinem hyazinthfarbenen Kleid, er strengte seine tiefe Stimme nicht
an, es wurde sogleich still, als er zu sprechen anhub. Er war
wahrlich ein mutiger Mann. Als wäre nichts geschehen, sagte er:
»Ich bin befremdet, Herrn Simon Bar Giora hier in der Quadernhalle
wahrzunehmen. Mir scheint, nur im Feld hat der Soldat zu
entscheiden. Wie es weiter mit diesem Tempel und diesem Lande
Israel gehalten werden soll, steht vorläufig noch beim Kollegium
der Erzpriester, beim Großen Rat und beim Obersten Gerichtshof. Ich
ersuche also Herrn Simon Bar Giora und seine Offiziere, sich zu
entfernen.« Von allen Seiten rief es los gegen den Erzpriester. Der
Freischärlerführer schaute um sich, als habe er nicht verstanden.
Anan aber fuhr fort, immer mit der gleichen, nicht lauten, aber
tiefen Stimme: »Da aber Herr Simon Bar Giora einmal hier ist,
möchte ich ihn fragen: an welche Behörde hat er die von den Römern
erbeuteten Gelder abgeführt?« Die Sachlichkeit dieser Frage wirkte
ernüchternd. Der Offizier, das Gesicht dunkelrot, erwiderte knapp:
»Die Gelder sind in Händen des Chefs der Tempelverwaltung.« Alle
Köpfe drehten sich nach diesem, dem jungen, eleganten Doktor
Eleasar, der gradaus und unbeteiligt vor sich hin sah. Dann, mit
einem kurzen Gruß, entfernte sich Simon Bar Giora.
Kaum war er gegangen, brach
Doktor Eleasar los. Niemand im Volk werde verstehen, wie der
Erzpriester den Helden von Beth Horon so hochfahrend von der
Sitzung habe ausschließen können. Die »Rächer Israels« seien nicht
mehr gewillt, den schalen Rationalismus der Herren länger zu
dulden. Da hätten sie immer erklärt, kleingläubig, rechnerisch, es
sei unmöglich, gegen römische Truppen aufzukommen. Nun aber: wo sei
die Zwölfte Legion jetzt? Gott habe sich sichtbarlich für die
erklärt, die nicht länger warten wollten; er habe ein Wunder getan.
»Rom hat sechsundzwanzig Legionen«, rief einer der jüngeren
Aristokraten dazwischen, »glauben Sie, daß Gott noch weitere
fünfundzwanzig Wunder tun wird?« – »Lassen Sie so etwas nicht
außerhalb dieser Mauern hören«, drohte Eleasar. »Das Volk hat keine
Laune mehr für so kümmerliche Witze. Die Lage verlangt, daß die
Gewalten neu verteilt werden. Sie werden weggefegt, alle hier, die
Sie nicht zu den ›Rächern Israels‹ gehören, wenn Sie nicht Simon
Bar Giora in der zu bildenden Regierung der nationalen Verteidigung
Sitz und Stimme anbieten.« – »Ich beabsichtige nicht, Herrn Simon
einen Sitz in der Regierung anzubieten«, sagte der Erzpriester
Anan. »Denkt einer von den Doktoren und Herren daran?« Langsam
gingen seine grauen Augen im Kreis, das schmale, hohe Gesicht unter
der blau und goldenen Erzpriesterbinde schien unbeteiligt. Niemand
sprach. »Wie denken Sie sich die Verwendung der Gelder, die Herr
Simon Ihnen übergeben hat?« fragte Anan den Chef der
Tempelverwaltung. »Die Gelder sind ausschließlich für Zwecke der
nationalen Verteidigung bestimmt«, sagte Doktor Eleasar. »Nicht
auch für andere Zwecke der Regierung?« fragte Anan. »Ich kenne
keine andern Aufgaben der Regierung«, erwiderte Doktor Eleasar.
»Durch den kühnen Handstreich Ihres Freundes«, sagte der
Erzpriester, »haben sich Verhältnisse herausgebildet, die es uns
wünschenswert erscheinen ließen, einige unserer Befugnisse an die
Tempelverwaltung abzutreten. Aber Sie werden begreifen, daß wir,
wenn Sie unsere Aufgaben so eng sehen, unsere Kompetenzen nicht mit
Ihnen teilen können.« – »Das Volk verlangt eine Regierung der
nationalen Verteidigung«, sagte hartnäckig der junge Eleasar. »Eine
solche Regierung wird sein, Doktor Eleasar«, erwiderte der
Erzpriester, »aber ich fürchte, sie wird auf die Mitwirkung Doktor
Eleasar Ben Simons verzichten müssen. Es hat in Israel in Notzeiten
Regierungen gegeben«, fuhr er fort, »in denen weder ein Finanzmann
saß noch ein Soldat, nur Priester und Staatsmänner. Es waren dies
nicht die schlechtesten Regierungen in Israel.« Er wandte sich an
die Versammlung: »Das Gesetz räumt dem Doktor Eleasar Ben Simon
selbständige Entscheidung ein über die Geldbestände der
Tempelverwaltung. Die Kassen der Regierung sind leer, die
Geldbestände Doktor Eleasars durch die Beute von Beth Horon um
mindestens zehn Mil lionen Sesterzien vermehrt. Wünschen Sie, meine
Doktoren und Herren, daß wir den Doktor Eleasar in die Regierung
aufnehmen?« Viele erhoben sich, mahnten unmutig, drohten zur
Mäßigung. »Ich habe nichts zurückzunehmen und nichts zuzufügen«,
kam nicht laut die tiefe Stimme des Erzpriesters. »Geld ist wichtig
in diesen schweren Zeiten, die Aufnahme des temperamentvollen
Doktor Simon in die Regierung halte ich für eine Belastung. Das Für
und Wider ist klar. Wir schreiten zur Abstimmung.« – »Die
Abstimmung ist nicht notwendig«, sagte grau vor Erregung Doktor
Eleasar. »Ich würde den Eintritt in diese Regierung ablehnen.« Er
stand auf, ging ohne Gruß aus der schweigenden Versammlung. »Wir
haben weder Geld noch Soldaten«, sagte nachdenklich Doktor Jannai,
der Finanzverwalter des Großen Rats. »Wir haben für uns«, sagte der
Erzpriester, »Gott, das Recht und die Vernunft.«
Es wurde das Aktionsprogramm der
Regierung für die nächsten Wochen festgelegt. Das
Priesterkollegium, der Große Rat, der Oberste Gerichtshof kamen bei
genauer Prüfung der Sachlage zu dem Resultat: man befinde sich
nicht im Krieg mit Rom. Die aufrührerischen Handlungen waren von
einzelnen begangen worden, die Behörden trugen keine Verantwortung.
Die jüdische Zentralregierung in Jerusalem muß, wie die Dinge nun
einmal liegen, mobilisieren. Aber sie respektiert das der römischen
Verwaltung direkt unterstellte Gebiet, Samaria, den Küstenstrich.
Sie verbietet streng jede Handlung, die als ein Angriff gedeutet
werden könnte. Ihr Programm heißt: bewaffneter Friede.
Gegen die kühle, ruhige Haltung
der alten Herren war schwer aufzukommen. Es zeigte sich sogleich,
daß trotz des Sieges bei Beth Horon die »Unentwegt Rechtlichen« und
die »Wahrhaft Schriftgläubigen« an der Macht bleiben würden. Josef
war mit soviel Zuversicht in die Sitzung gekommen. Er wußte, das
Land wird verteilt werden, bestimmt wird ein Stück davon für ihn
abfallen, diesmal sicherlich wird er zwischen die satten und
dennoch gefräßigen Größeren springen können und sich ein Stück
erraffen. Wenn nichts anderes, so legitimierte ihn schon seine
ungeheure Begier. Jetzt aber, während dieser Debatte über das
Aktionsprogramm, entrann ihm jede Hoffnung wie der Wein aus
durchlöchertem Schlauch. Sein Gehirn war leer. Als er kam, war er
sicher gewesen, er werde etwas Bedeutsames zu sagen haben, was
diese Männer bewegen mußte, ihm eine Führerstelle zu übertragen.
Jetzt war er gewiß, auch dieser Tag, auch diese große Gelegenheit
wird vorbeigehen, und er wird weiter unten bleiben müssen wie
bisher, ein betriebsamer Streber.
Man ernannte zur Durchführung des
bewaffneten Friedens für die sieben Bezirke des Landes je zwei
Volkskommissare mit diktatorischen Vollmachten. Josef saß schlaff
auf seinem Platz in den hinteren Reihen. Was ging ihn das an? Ihn
vorzuschlagen, darauf wird niemand kommen.
Jerusalem Stadt und Land war
vergeben, Idumäa wurde vergeben, Tamna, Gophna wurden vergeben.
Jetzt ging es um den nördlichen Grenzbezirk, das reiche Bauernland
Galiläa. Hier hatten die »Rächer Israels« ihre meisten Anhänger.
Hier war die Freiheitsbewegung entstanden, hier waren die stärksten
Wehrverbände. Man schlug vor, den alten Doktor Jannai in diese
Provinz zu schicken, einen bedachtsamen, sachlichen Herrn, den
besten Finanzmann des Großen Rats. Den Josef riß es aus seiner
Leere. Dieses herrliche Land, mit seinen Reichtümern, mit seinen
langsamen, nachdenklichen Menschen. Diese wunderbare, schwierige,
verwickelte Provinz. Die wollte man dem alten Jannai geben? Ein
ausgezeichneter Theoretiker, gewiß, ein verdienter Nationalökonom:
aber doch kein Mann für Galiläa. Josef wollte »nein« schreien, er
stand halb auf, er beugte sich vor, seine Nachbarn sahen ihn an,
aber er sagte nichts, es war ja doch umsonst, er seufzte nur, mit
gepreßtem Atem, einer, der viel zu sagen hat und es
hinunterschluckt.
Die ihm nahe saßen, lächelten
über den unbeherrschten jungen Herrn. Noch einer hatte ihn gesehen,
seine Empörung und seinen Verzicht. Er lächelte nicht. Er saß sehr
viel weiter vorn als Josef. Es war ein Zufall, daß er die heftige
Geste des jungen Menschen beobachtet hatte; denn er hielt
gewohnheitsmäßig die meiste Zeit die gelben, zerfältelten Lider
über den Augen. Es war ein kleiner Herr, uralt, welk, der
Oberrichter des Landes, der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai, Rektor
der Tempeluniversität. Als man nach einmütiger Wahl des Kommissars
Jannai unschlüssig auf einen zweiten Vorschlag wartete, erhob er
sich. Auffallend hell und lebendig standen die Augen in seinem
kleinen, tausendfach zerknitterten Gesicht. Er sagte: »Ich schlage
als zweiten Kommissar für Galiläa vor den Doktor Josef Ben
Matthias.«
Josef, wie jetzt alle auf ihn
schauten, saß sonderbar reglos. Er hatte an diesem Tag Erwartung
und Verzicht zehnmal vorgeschmeckt, hatte in seiner Phantasie
Erfüllung und Enttäuschung ganz ausgekostet: jetzt traf es ihn
nicht mehr, daß man seinen Namen nannte. Er saß leer, als sei die
Rede von einem Dritten.
Den andern kam der Vorschlag
überraschend. Warum wohl schlug der milde und trockne Großdoktor
Jochanan Ben Sakkai, der angesehene Gesetzgeber, diesen jungen
Menschen vor? Der hatte sich bisher in keinem verantwortungsreichen
Amt bewährt, hatte vielmehr, seitdem er durch seinen belanglosen
Erfolg in der Sache der drei Unschuldigen bei den Massen Sympathien
genoß, großmäulig mit seinen Neigungen für die Blaue Halle
kokettiert. Hielt es der Großdoktor vielleicht für ratsam, dem
alten Jannai einen jungen Herrn mitzugeben, der auch bei den
»Rächern Israels« Namen hatte? Ja, so mußte es zusammenhängen. Der
Vorschlag war gut. Das Feuer der Makkabi-Leute pflegt, sitzen sie
erst in Amt und Würden, rasch abzuflauen. Doktor Josef wird
vermutlich in Galiläa zahmer sein als in Rom und Jerusalem, und die
wassernüchterne Klugheit des alten Finanztheoretikers Jannai konnte
eine kleine Beimischung von dem jungen Wein dieses heftigen Josef
ganz gut vertragen.
Josef war mittlerweile aus seiner
Starrheit aufgewacht. Hatte nicht eben jemand seinen Namen genannt?
Jemand? Jochanan Ben Sakkai, der Großdoktor. Er hatte manchmal, als
Kind, mit Scheu die leichte, segnende Hand des milden Mannes auf
seinem Kopf gespürt. In Rom hatte er erfahren, daß der Alte selbst
dort im Ruf eines der weisesten Menschen der Welt stand. Ganz ohne
eigenes Zutun hatte Jochanan das erlangt, einfach durch die Wirkung
seines Wesens. Solche stille, ehrgeizlose Art war dem Josef fremd,
unheimlich geradezu, sie kratzte und bedrückte ihn, er ging dem
Großdoktor am liebsten aus dem Weg. Und nun hatte der ihn
vorgeschlagen.
Er war ergriffen, als die
Versammlung den Vorschlag bestätigte. Die Männer, die ihn
beauftragten, waren weise und gut. Auch er wird weise und gut sein.
Er wird nicht als einer der »Rächer Israels« nach Galiläa gehen,
und ohne Ehrsucht. Er wird sich still und demütig halten und
vertrauen, daß der rechte Geist über ihn komme.
Zusammen mit dem alten Jannai
verabschiedete er sich von dem Erzpriester. Kühl und klar wie stets
steht Anan vor ihm. Seine Richtlinien sind eindeutig. Galiläa ist
am meisten gefährdet. Es gilt, die Ruhe in dieser Provinz unter
allen Umständen zu erhalten. »Tun Sie in zweifelhaften Fällen
lieber nichts als etwas Gewagtes. Warten Sie Weisungen von
Jerusalem ab. Richten Sie immer die Augen nach Jerusalem. Galiläa
hat starke Bürgerwehren. Sie, meine Doktoren und Herren, haben die
Aufgabe, diese Kräfte zur Verfügung Jerusalems zu halten.« Und zu
Josef sagte er noch, ihn ohne Wohlwollen musternd: »Man hat Ihnen
ein verantwortungsvolles Amt anvertraut. Ich hoffe, man hat sich
nicht geirrt.«
Josef hörte die Weisungen des
Erzpriesters höflich, fast demütig an. Aber sie erreichten nur sein
Ohr. Gewiß, solange er in Jerusalem ist, muß er auf den Erzpriester
hören. Sowie er aber die Grenzen Galiläas überschritten hat, ist er
nur mehr einem einzigen verantwortlich, sich selbst.
Am Abend sagte Anan zu Jochanan
Ben Sakkai: »Hoffentlich waren wir nicht voreilig, diesen Josef Ben
Matthias nach Galiläa zu schicken. Er kennt nichts als seinen
Ehrgeiz.« – »Mag sein«, erwiderte Jochanan Ben Sakkai, »daß es
Zuverlässigere gibt als ihn. Es wird vielleicht viele Jahre
hindurch scheinen, als ob er nur für sich handle. Aber solange er
nicht tot ist, werde ich glauben, daß er zuletzt dennoch für uns
gehandelt haben wird.«
Der neue Kommissar Josef Ben Matthias fuhr
durch seine Provinz, kreuz und quer. Es war eine gute Regenzeit in
diesem Jahr, Jahve war gnädig, die Zisternen füllten sich, auf den
Bergen Obergaliläas lag Schnee, fröhlich prasselten die Bergbäche
herunter. In der Ebene hockten die Bauern auf dem Boden, rochen an
der Erde nach dem Wetter. Ja, es war ein reiches Land, fruchtbar,
mannigfach mit seinen Tälern, Hügeln, Bergen, mit seinem See
Genezareth, dem Fluß Jordan, der Meeresküste, mit seinen
zweihundert Städten. Ein wahrer Garten Gottes, lag es in seiner
zauberisch hellen Luft. Josef dehnte die Brust. Er hat es erreicht,
er ist sehr hoch gestiegen, es ist herrlich, Herr dieser Provinz zu
sein. Wer mit Vollmachten wie er in dieses Land kommt, der muß
seinem Namen weithin und für immer Geltung verschaffen, oder er ist
ein Unfähiger.
Aber nach wenigen Tagen schon
begann ein tiefes Mißbehagen an ihm zu fressen, und es fraß weiter
mit jedem Tag. Er studierte die Akten, die Archive, er ließ die
Gauvorsteher kommen, verhandelte mit den Bürgermeistern, den
Priestern, den Vorstehern der Synagogen und Lehrhäuser. Er
versuchte zu organisieren, gab Weisungen, man pflichtete ihm
höflich bei, man führte seine Weisungen aus; aber er spürte
deutlich, man tat das ohne Glauben, seine Maßnahmen blieben ohne
Wirkung. Die gleichen Dinge sahen sich anders an in Jerusalem,
anders in Galiläa. Wenn nach Jerusalem immer wieder Klagen kamen,
wie sehr das Land unter den drückenden Steuern leide, dann zuckte
man dort die Achseln, führte Ziffern an, belächelte die Beschwerden
Galiläas als das übliche Gejammer und trieb, unter dem Schutz der
römischen Waffen, die Steuern weiter ein wie bisher. Jetzt
vergleicht Josef, die Lippen verpreßt, die galiläische Wirklichkeit
mit den Jerusalemer Ziffern. Mit finsteren Augen sieht er: die
Klagen dieser galiläischen Bauern, Fischer, Handwerker, Hafen- und
Fabrikarbeiter sind kein leeres Gejammer. Sie sitzen im Gelobten
Land, aber die Reben des Landes wachsen nicht für sie. Das Fett des
Landes geht, nach Cäsarea an die Römer, sein Öl an die großen
Herren nach Jerusalem. Da ist die Bodenabgabe: von der Kornfrucht
der dritte Teil, vom Wein und vom Öl die Hälfte, vom Obst der
vierte Teil. Dann der Tempelzehnt, die jährliche Kopfsteuer für den
Tempel, die Wallfahrtssteuern. Dann die Auktionsabgaben, die
Salzsteuer, die Wege- und Brückengelder. Hier Steuern, dort
Steuern, überall Steuern.
Je nun, diese finanziellen Dinge
sind Sache seines Kollegen Jannai. Aber Josef kann es den Leuten
von Galiläa nicht verdenken, wenn sie finster blicken auf die
Doktoren der Quadernhalle, die ihnen durch schlaue und verzwickte
Ausdeutung der Schrift ihr Bestes wegeskamotieren, und auf ihn,
ihren Vertreter. Er hat in Rom und Jerusalem gelernt, wie man
Mißvergnügte behandelt, mit kleinen Erleichterungen, mit ernsten
und milden Reden, mit feierlichen Kundgebungen und billigen Ehren.
Aber mit diesen Mitteln kommt er hier nicht weiter.
In Jerusalem hat man hochmütig
gekrümmte Lippen für die Leute von Galiläa: das ist Landvolk, das
sind Provinzler, ohne Bildung, von groben Manieren. Schon in der
ersten Woche muß Josef diese billige Hoffart abtun. Gewiß, die
Leute hier sind lax in der Erfüllung der Gebote, die gelehrte
Ausdeutung der Schrift gilt ihnen wenig. Aber dann wieder sind sie
sonderbar streng und fanatisch. Sie wollen sich durchaus nicht
zufriedengeben mit dem, was ist. Sie sagen, Staat und Leben müßten
in den Grundlagen geändert werden; erst dann könnten die Worte der
Schrift sich erfüllen. Alle hier im Land können sie das Buch des
Propheten Jesaja auswendig. Die Viehtreiber reden vom ewigen
Frieden, die Hafenarbeiter vom Reich Gottes auf Erden; unlängst hat
ihn ein Tuchwirker korrigiert, als er ein Zitat aus dem Ezechiel
nicht im Wortlaut brachte. Es sind langsame Leute, schwerfällig,
ruhig und friedlich im äußern Gehabe, aber in ihrem Innern sind sie
keineswegs friedlich, da sind sie gewalttätig, alles erwartend und
zu allem bereit. Josef spürt deutlich: das sind Leute für ihn. Ihr
dumpfer, wilder Glaube ist eine festere Basis für einen Mann und
ein großes Unternehmen als die kahle Gelehrsamkeit, die glatte
Skepsis Jerusalems.