Mit eifervollem Bemühen versucht er, sich den Leuten von Galiläa verständlich zu machen. Er will nicht für Jerusalem hiersein, sondern für sie. Sein Mitkommissar, der alte Doktor Jannai, läßt ihn gewähren, kommt ihm nie in die Quer. Ihn interessiert nichts als seine Finanzverwaltung. Er hat sich mit einem ungeheuren Haufen Akten in Sepphoris hingesetzt, der gemächlichen, ruhigen Hauptstadt des Landes, und betreibt jovial, aber zäh und beharrlich die Neuordnung der Finanzen. Alles andere überläßt er seinem jüngeren Kollegen. Aber trotzdem Josef tun und lassen kann, was er will, kommt er nicht weiter. Er tut allen gelehrten Hochmut von sich ab, allen Aristokraten- und Priesterstolz; er spricht mit Fischern, Werftarbeitern, Bauern, Handwerkern wie mit seinesgleichen. Die Leute sind freundlich, geehrt, aber durch ihre Worte und ihr Gehabe hindurch spürt er den inneren Vorbehalt.
  Das Land Galiläa hat andere Führer. Josef will es nicht wahrhaben, er will mit diesen Männern nichts zu tun haben, aber er weiß gut ihre Namen. Es sind die Führer der Wehrverbände, die Jerusalem nicht anerkennt, der Bauernführer Johann von Gischala und ein gewisser Sapita aus Tiberias. Josef sieht, wie die Augen der Leute hell werden, wenn man diese Namen nennt. Er möchte mit den beiden Männern zusammenkommen, sie reden hören, erkunden, wie sie es angefangen haben. Aber er fühlt sich unerfahren, unfähig, unfruchtbar. Er hat sein Amt und seinen großen Titel, vielleicht auch die Macht: aber die Kraft haben die andern.
  Er arbeitet sich ab. Immer heftiger stachelt ihn der Wunsch, gerade dieses Galiläa zu gewinnen. Aber das Land versperrt sich ihm. Seit fünf Wochen jetzt sitzt er hier, aber er ist nicht weiter als am ersten Tag.

An einem dieser Winterabende streicht Josef durch die Straßen der kleinen Stadt Kapernaum, eines Zentrums der »Rächer Israels«. An einem armen, vernachlässigten Haus sieht er eine Fahne herausgesteckt, das Zeichen des Kneipenwirts, daß neuer Wein eingetroffen ist. In Ratsversammlungen, Kommissionssitzungen, Synagogen, Lehrhäusern hat Josef seine Galiläer oft genug gesehen. Er möchte sie beim Wein sehen, er tritt ein.
  Es ist ein niedriger Raum, dürftig, durch ein einfaches Becken, in dem man Mist verbrennt, primitiv erwärmt. In dem übelduftenden Rauch erkennt Josef ein reichliches Dutzend Männer. Man sieht auf, wie der gutgekleidete Herr eintritt, mustert ihn zurückhaltend, nicht unfreundlich. Der Wirt kommt, fragt nach seinen Wünschen, erklärt, wie gut es der Herr heute trifft. Ein Kaufmann mit einer Karawane ist durchgekommen, hat sich üppig aufkochen lassen, es ist noch etwas Geflügelbraten mit Milch übriggeblieben. Fleisch mit Milch zu essen ist streng verboten; aber die Landbevölkerung Galiläas findet, Geflügel sei kein Fleisch, und läßt sich nicht von der Sitte abbringen, es in Milch zu kochen und zu braten. Man macht gutmütige Witze, wie Josef den Leckerbissen höflich ablehnt. Man fragt ihn, wer er sei, bei wem er nächtige, man findet aus seinem Dialekt den Jerusalemer heraus. Josef gibt freundlich, aber etwas unklar Auskunft; er weiß nicht, ob man ihn erkennt.
  Der Wirt setzt sich zu ihm, erzählt ihm redselig. Er heißt Theophil, aber er nennt sich jetzt Giora, der Fremde, weil er nämlich ein Sympathisierender ist und die Absicht hat, zum Judentum überzutreten. In Galiläa ist die Bevölkerung stark mit Nichtjuden gemischt, es gibt viele Sympathisierende, die sich von dem unsichtbaren Gott Jahve angezogen fühlen. Auch diesem Theophil-Giora haben die Doktoren vorschriftsmäßig abgeraten, zum Judentum überzutreten; denn solange er Nichtjude sei, gehe er nicht des Heils verlustig, auch wenn er die sechshundertdreizehn Gebote nicht halte. Habe er aber einmal die Verpflichtung auf sich genommen, dann sei seine Seele bedroht, wenn er das Gesetz nicht erfülle, und das Gesetz sei schwierig und streng. Theophil-Giora war noch nicht beschnitten, die Worte der Doktoren hatten Eindruck auf ihn gemacht; aber gerade ihre Strenge zog ihn an.
  Die andern, breit, langsam, etwas täppisch, angeregt durch die Anwesenheit des Jerusalemer Herrn, fangen wieder einmal an, von ihrer Hauptsorge zu reden, von dem harten Druck der Regierung. Der Tischler Chalafta hat seinen letzten Weinberg verkaufen müssen. Er hat Ziegen eingeführt von jenseits des Jordan; die Römer haben hohen Zoll darauf gelegt, er hat die Ziegen durchschmuggeln wollen, aber er wurde ertappt. Wie man’s macht, macht man’s falsch mit den Zöllnern. Weh dem, der die Ware angibt, weh dem, der sie nicht angibt. Jetzt haben sie ihn mit dem Zehnfachen bestraft, weil es das zweitemal war, und er mußte den Weinberg verkaufen. Dem Tuchwirker Asarja hat der Marktaufseher von Magdala seinen dritten Webstuhl pfänden lassen, weil er mit der Gewerbeabgabe im Rückstand ist. Alle die Männer in diesem reichen Land sahen abgerissen aus, sie lebten kümmerlich. Es gab viel Geflügel in Galiläa, die Ziegenmilch war billig; aber sie schnalzten gierig, als der Wirt Giora von seinem milchgekochten Geflügelbraten erzählte. Sie bekamen dergleichen nur an hohen Feiertagen. Man rackerte sich ab, nicht für den eigenen Bauch, nur für den Wanst von Cäsarea und Jerusalem. Es waren harte Zeiten.
  War die Zeit erfüllt? Schon der Agitator Juda hatte es verkündet hier in Galiläa und hatte die Partei der »Rächer Israels« gegründet, aber er war von den Römern gekreuzigt worden. Jetzt wanderte sein Sohn Nachum durch das Land und verkündete es. Auch der Prophet Theuda war aufgestanden in Galiläa, hatte Wunder getan, war dann vor Jerusalem gezogen und hatte erklärt, er werde die Fluten des Jordan spalten. Aber die Römer haben ihn gekreuzigt, und die Herren vom Großen Rat haben zugestimmt.
  Der Ölbauer Teradjon meinte, vielleicht sei dieser Prophet Theuda wirklich ein Schwindler gewesen. Der Tischler Chalafta wiegte schwer und bekümmert den Kopf: »Schwindler? Schwindler? Vielleicht hätte sich der Jordan wirklich nicht geteilt auf das Geheiß des Mannes. Aber auch dann nicht war er ein Schwindler. Dann war er ein Vorläufer. Denn wann soll die Zeit erfüllt sein, wenn nicht jetzt, da Gog und Magog sich von neuem aufmachen, über Israel herzufallen, wie es geschrieben steht bei Ezechiel und im Targum Jonathan?«
  Der Tuchwirker Asarja meinte schlau: jener Theuda könne bestimmt nicht der rechte Messias gewesen sein; denn wie er zuverlässig gehört habe, sei Theuda ein Ägypter gewesen, und unmöglich doch könne ein Ägypter der Messias sein.
  Der Wein war gut, und es war viel Wein. Die Männer vergaßen den Herrn aus Jerusalem, und umwölkt von dem stinkenden Rauch des Mistes im Heizbecken, redeten sie langsam, eifrig und gewichtig von dem Messias, der kommen mußte, heute oder morgen, aber bestimmt noch in diesem Jahr. Gewiß konnte der Messias ein Ägypter sein, behauptete dumpf und hartnäckig der Tischler Chalafta. Denn steht nicht geschrieben von dem eisernen Besen, der das Faule aus Israel und der Welt auskehrt? Und ist nicht der Erlöser dieser eiserne Besen? Wenn er es aber ist, wird Jahve einen Juden schicken, die Juden zu schlagen, wird er nicht lieber einen Unbeschnittenen schicken? Warum also sollte der Messias nicht ein Unbeschnittener sein?
  Der Krämer Tarfon aber klagte in dem dunkeln, schweren Gegurgel des Dialekts: »Ach und oj, gewiß wird er ein Jude sein. Denn lehrt nicht der Doktor Dossa Ben Natan, daß er sammeln wird alle Zerstreuten und daß er dann, oj und ach, erschlagen liegen wird, unbeerdigt, in den Straßen Jerusalems und daß sein Name sein wird Messias Ben Josef? Wie aber kann der Name eines Nichtjuden Messias Ben Josef sein?«
  Nun aber mischte sich der Wirt Theophil-Giora ein, und er sprang dem Tischler Chalafta bei. Es kränkte ihn, daß ein Fremder nicht sollte der Messias sein können. Finster und hartnäckig beharrte er: nur ein Nichtjude könne der Erlöser sein. Denn heißt es nicht in der Schrift, daß er den Himmel zusammenrollen werde wie eine Buchrolle und daß erst die Strafe sein werde und das große Schlachten und das Feuer in der mörderischen Stadt?
  Mehrere stimmten ihm zu, andere widersprachen. Alle waren sie aufgewühlt. Langsam, düster klagend, empört redeten sie aufeinander ein, diskutierten inbrünstig die dunklen und widerspruchsvollen Botschaften. Sie waren fest im Glauben an den Erlöser, diese galiläischen Männer. Nur hatte jeder ein anderes Bild von ihm, und jeder verteidigte sein Bild, er sah es genau, er wußte, daß er recht hatte und der andere unrecht, und jeder suchte sich eifrig für sein Bild die Belege aus der Schrift.
  Josef hörte gespannt zu. Seine Augen und seine Nase waren empfindlich, aber er kümmerte sich nicht um den beizenden, widerwärtig stinkenden Rauch. Er schaute auf die Männer, wie sie in ihren harten Schädeln ihre Argumente wälzten. Man sah ordentlich, wie sie sie ausgruben, mühselig in Worte umschmolzen. Einstmals, als er bei dem Einsiedler Banus in der Wüste lebte, waren die Heilsbotschaften der Propheten groß und ständig um ihn gewesen, er hatte sie eingeatmet mit der Luft, die ihn umgab. Aber in Jerusalem waren die Verheißungen verblaßt, und von den Sätzen der Schrift waren ihm diejenigen, die vom Erlöser sprachen, die dünnsten, fremdesten geworden. Die Doktoren der Quadernhalle sahen es nicht gern, wenn man diese Weissagungen auf die Gegenwart anwenden wollte; viele schlossen sich der Meinung des großen Gesetzeslehrers Hillel an, der Messias sei längst erschienen, in Gestalt des Königs Hiskia, sie strichen aus den Achtzehn Bitten die um das Erscheinen des Erlösers, und wenn Josef sich prüfte, dann hatte seit langen Jahren die Hoffnung auf den Erlöser weder in seinen Gedanken noch in seinen Taten einen Platz gehabt: jetzt, an diesem Abend, in der dunkeln, rauchigen Kneipe, wurde ihm die Erwartung des Erretters wieder körperhaft, Glück und Bedrängnis, Eckstein des ganzen Lebens. Offenen Ohres und vollen Herzens hörte er den Männern zu, und die Anschauungen dieser Einfältigen, dieser Tuchwirker, Krämer, Tischler, Ölbauern, schienen ihm wichtiger als die scharfsinnigen Kommentare der Jerusalemer Doktoren. Wird der Erlöser den Ölzweig bringen oder das Schwert? Er verstand gut, daß sich die Männer an den Widersprüchen ihres gewalttätigen Glaubens immer mehr erhitzten und in aller Frommheit immer bedrohlicher gegeneinander wurden.
  Schließlich war es so weit, daß der Tischler Chalafta mit Fäusten gegen den Krämer Tarfon losgehen wollte. Da sagte auf einmal, gepreßt und hastig, einer von den Jüngeren: »Laßt doch, wartet doch, paßt auf, er ›sieht‹.« Da schauten sie alle hin auf den Platz neben dem Heizbecken. Dort saß ein Buckliger, fahl, dürr und, wie es schien, auch kurzsichtig. Bisher hatte er kaum den Mund aufgetan. Jetzt blinzelte er angestrengt durch den Rauch, machte die Augen eng, als ob er am Rand seiner Sehweite etwas erkennen wolle, riß sie wieder auf und blinzelte.
  Die Männer redeten auf ihn ein: »Siehst du, Akawja? Sag uns, was du siehst.« Der Sandalenmacher Akawja, immer angestrengt schauend, die Stimme heiser vom Wein und Rauch, sagte nüchtern und sehr dialektisch: »Ja, ich sehe ihn.« – »Wie sieht er aus?« fragten die Männer. »Er ist nicht groß«, sagte der Schauende, »aber er ist breit.« – »Ist er ein Jude?« fragten sie. »Ich glaube nicht«, sagte er. »Er hat keinen Bart. Aber wer will einem Gesicht ablesen, ob einer ein Jude ist?« – »Ist er bewaffnet?« – »Ich sehe kein Schwert«, erwiderte der Schauende, »aber ich glaube, er hat eine Rüstung.« – »Wie spricht er?« fragte Josef. »Er bewegt den Mund«, erwiderte der Sandalenmacher Akawja, »aber ich kann ihn nicht hören. Ich glaube, er lacht«, fügte er wichtig hinzu. »Wie kann er lachen, wenn er der Messias ist?« fragte unzufrieden der Tischler Chalafta. Der Schauende erwiderte: »Er lacht und ist dennoch furchtbar.«
  Dann wischte er sich über die Augen, erklärte, jetzt sehe er nichts mehr. Er fühlte sich müde und hungrig, gab sich mürrisch, trank viel Wein, verlangte auch von dem milchgekochten Geflügel. Der Wirt gab Josef Auskunft über den Sandalenmacher Akawja. Der war sehr arm, aber er machte trotzdem jedes Jahr seine Wallfahrt nach Jerusalem und brachte sein Lamm zum Tempel. Die inneren Höfe durfte er nicht betreten, weil er ein Krüppel war. Aber er hing sehr an dem Tempel, mit ganzem Herzen und ganzem Vermögen, und wußte auch genauer Bescheid um die inneren Höfe als manche, die darin waren. Vielleicht war es gerade, weil er den Tempel nicht sehen durfte, daß Jahve ihn anderes sehen ließ.
  Die Männer blieben noch lange zusammen, aber sie sprachen nicht mehr von dem Erlöser. Vielmehr sprachen sie davon, wie sehr die Makkabi-Leute an Zahl gewachsen waren, und von ihrer Organisation und Bewaffnung. Der Tag des Losschlagens werde bald da sein. Der Sandalenmacher Akawja, wieder munter geworden, zog den unbeschnittenen Wirt auf, daß er, wenn dieser Tag gekommen sei, bei dem großen Aufwasch auch werde dran glauben müssen. Dann wandten sie sich wieder dem Herrn aus Jerusalem zu und hänselten ihn auf ihre täppische, doch nicht unfreundliche Art. Josef ließ es sich gefallen und lachte mit. Schließlich verlangten sie, er solle ihr Gast sein und von dem milchgekochten Geflügel essen. Vor allem der Sandalenmacher Akawja, der Schauende, bestand darauf. Eigensinnig, hartnäckig plärrte er: »Essen, Mann, Sie sollen essen.« Josef hatte sich in Rom um die Beachtung der Bräuche nicht viel gekümmert, in Jerusalem hatte er Gebote und Verbote streng geachtet. Hier war Galiläa. Er bedachte sich eine Weile. Dann aß er.
Josef hat sich zum Hauptquartier Magdala gewählt, einen angenehmen, großen Ort am See Genezareth. Wenn er ein wenig auf dem See herumfährt, dann sieht er im Süden weiß und prunkvoll eine Stadt liegen, die schönste Stadt des Landes, aber sie gehört nicht zu seinem Bereich, sie untersteht dem König Agrippa. Sie heißt Tiberias. Und in ihr sitzt, von dem König als Gouverneur eingesetzt, Justus. Die Stadt ist nicht leicht zu regieren, mehr als ein Drittel ihrer Einwohner sind Griechen und Römer, vom König verwöhnt, aber der Doktor Justus, das läßt sich nicht bestreiten, hält gute Ordnung. Er hat, als Josef nach Galiläa kam, seinen Antrittsbesuch höflich erwidert. Aber von Politik hat er kein Wort gesprochen. Er nimmt den Jerusalemer Bevollmächtigten offensichtlich nicht für voll. Den Josef kratzt das im Innersten. Eine bittere Sehnsucht erfüllt ihn, es dem andern zu zeigen.
  Auf der Höhe über Tiberias schimmert breit und stattlich das Palais des Königs Agrippa, in dem Justus residiert. An den Kais gibt es stattliche Villen und Geschäftshäuser. Aber es gibt auch viele Arme in Tiberias, Fischer und Schiffer, Lastträger, Industriearbeiter. In Tiberias sind die Griechen und Römer die Reichen und die Juden die Proletarier. Die Arbeit ist viel, die Steuern sind hoch, in der Stadt spürt der Arme noch bitterer als auf dem Land, was alles er entbehrt. Es gibt viele Mißvergnügte in Tiberias. In allen Kneipen hört man aufsässige Reden gegen die Römer und gegen den König Agrippa, der sich von ihnen aushalten läßt. Wortführer dieser Unzufriedenen ist jener Sapita, der Sekretär der Fischereigenossenschaft. Er beruft sich auf Jesaja: »Wehe über diejenigen, welche Haus an Haus reihen und Acker zu Acker schlagen.« Justus versucht mit allen Mitteln die Bewegung niederzuhalten, aber seine Macht endet an den Grenzen des Stadtgebiets von Tiberias, und er kann nicht verhindern, daß der Wehrverband des Sapita sich im übrigen Galiläa Stützpunkte schafft und daß ihm aus diesen Bezirken immer mehr Leute zulaufen.
  Josef sieht nicht ungern, wie der Anhang des Sapita stärker wird und wie seine Banden sich auch im Hoheitsbereich der Jerusalemer Regierung überall ausbreiten. Leute des Sapita verlangen von Gemeinden, die dem Josef unterstehen, Beiträge für die nationale Sache, veranstalten im Fall der Weigerung Strafexpeditionen, die bedenklich nach Raub und Plünderung ausschauen. Josefs Polizei greift selten ein, seine Gerichte behandeln die Abgefaßten mit Milde.
  Josef freut sich stürmisch, als Sapita zu ihm kommt. Galiläa beginnt ihm zu vertrauen, Galiläa kommt zu ihm. Jetzt, das spürt er, wird es nicht mehr lange dauern, bis er auch den hochmütigen Justus aus seiner Zurückhaltung herausgekitzelt haben wird. Aber er verbirgt klug seine Freude. Er schaut sich Sapita an. Der ist kräftig, gedrungen von Wuchs, eine seiner Schultern hängt. Er hat einen schüttern, zweispitzigen Bart, kleine, besessene Augen. Josef unterhält sich mit ihm, unterhandelt mit ihm, alles in halben Worten. Mit ihm sich zu verständigen ist leichter als mit Justus. Es wird nichts Schriftliches festgelegt; aber als Sapita geht, wissen beide, daß eine Vereinbarung zustande gekommen ist, wirkungsvoller als ein umständlicher Vertrag. Wer von den Leuten des Sapita sich in Tiberias nicht mehr sicher fühlt, kann ruhig in das Gebiet des Josef flüchten; man wird dort glimpflich mit ihm verfahren. Und Josef braucht in Zukunft nicht mehr soviel Schweiß daran zu wenden, Gelder für seinen Kriegsfonds aus dem knauserigen Doktor Jannai herauszuquetschen; was ihm der verweigert, bekommt er von Sapita.
  So wird es auch gehalten. Und jetzt hat Josef den Justus wirklich so weit, daß er von Politik spricht. In einem Schreiben fordert er dringlich, die Jerusalemer Herren sollten seine Bemühungen, das Bandenwesen in Galiläa zu unterdrücken, nicht länger sabotieren. Der alte Doktor Jannai stellt einige ungemütliche Fragen an Josef. Aber der gibt sich erstaunt, Justus hat offenbar Halluzinationen. Sowie er allein ist, lächelt er befriedigt. Er freut sich auf den Kampf.
  Es wird eine mündliche Aussprache mit Justus vereinbart. Zusammen mit dem alten Doktor Jannai reitet Josef auf seinem schönen arabischen Pferd Pfeil durch die gepflegten Straßen von Tiberias, von der Bevölkerung neugierig angestaunt. Er weiß, daß er zu Pferd eine gute Figur macht, er sieht unbeteiligt, ein wenig hochfahrend geradeaus. Man reitet den Hügel hinauf, zum Palais des Königs Agrippa. Weiß und prunkvoll vor dem Eingang spreizt sich die Kolossalstatue des Kaisers Tiber, nach dem die Stadt genannt ist. Auch die Arkaden davor sind bevölkert mit Statuen. Den Josef wurmt das. Er hängt nicht an den alten Bräuchen, aber sein Herz ist voll von dem unsichtbaren Gott Jahve, es bringt ihn im tiefsten auf, wenn er im Lande Jahves die verbotenen Bilder sehen muß. Die Gestalt zu bilden bleibt das alleinige Recht des schöpferischen Gottes. Dem Menschen hat er erlaubt, diesen Gestalten Namen zu geben: sie selber bilden zu wollen ist Vermessenheit und Frevel. Die Standbilder ringsum schänden den unsichtbaren Gott. Die leise, schuldbewußte Unruhe, mit der Josef die Reise zu Justus antrat, ist fort; jetzt ist er voll von einer reinen Erregung, fühlt sich dem Justus überlegen. Der vertritt eine wassernüchterne Politik: er, Josef, kommt als Soldat Jahves.
  Justus, erklärter Gegner alles Feierlichen, bemüht sich, der Unterredung das Amtliche zu nehmen. Die drei Herren liegen einander gegenüber, frühstückend. Justus hat zuerst griechisch gesprochen, hat dann aber höflich ins Aramäische hin übergewechselt, trotzdem ihm diese Sprache sichtlich schwerer fällt. Langsam gleitet man ins Politische. Doktor Jannai ist betulich, jovial wie immer. Josef verteidigt seine eigene Politik; er wird heftiger, als er möchte. Gerade um die Kriegspartei vor unüberlegten Angriffen zurückzuhalten, muß man ihr entgegenkommen. »Sie meinen, man müsse den Frieden aktivieren?« fragte Justus, es klang unangenehm ironisch. »Ich kann nicht umhin, dem Autor des Makkabäerbuches zu versichern, daß mir in der praktischen Politik die Makkabäergesten, zu welchem Zwecke immer, auch heute noch fehl am Ort scheinen.« – »Sitzen die unangenehmsten Makkabäer nicht hier in Ihrem Tiberias?« fragte gemütlich Doktor Jannai. »Leider habe ich nicht die Macht«, gestand Justus freimütig zu, »meinen Sapita zu verhaften. Sie könnten das eher, meine Herren. Aber wie ich Ihnen schon schrieb, es ist ja gerade die Milde Ihrer Gerichte, die mir meine ›Rächer Israels‹ so üppig macht.« – »Es ist auch für uns nicht ganz so einfach«, entschuldigte sich Doktor Jannai. »Schließlich sind diese Leute keine gemeinen Räuber.«
  Josef griff ein: »Diese Leute berufen sich auf Jesaja. Sie glauben«, fügte er stark und streitbar hinzu, »daß die Zeit erfüllt ist und daß sehr bald der Messias kommt.« – »Jesaja lehrte«, erwiderte nicht laut, aber verbissen Justus, »haltet still vor der Macht. Haltet still und vertraut, lehrte Jesaja.« Den Josef kratzte das Zitat. Wollte dieser Justus ihn zurückweisen? »Der Herd der Unruhen ist Ihr Tiberias«, sagte er scharf. »Der Herd der Unruhen ist Ihr Magdala, Doktor Josef«, erwiderte verbindlich Justus. »Ich kann nichts dagegen tun, wenn Ihre Gerichte meine Diebe freisprechen. Aber wenn Sie weiterhin Ihren Kriegsfonds aus dem Ertrag dieser Diebereien mästen, Doktor Josef«, er sprach jetzt besonders höflich, »dann stehe ich nicht dafür, daß nicht mein König sich diese Beträge einmal mit Gewalt wieder hereinholt.«
  Doktor Jannai fuhr hoch. »Haben Sie Geld des Sapita in Ihrer Kasse, Doktor Josef?« Josef wütete. Dieser verdammte Justus mußte einen großartigen Spionagedienst unterhalten; die Geldsendungen waren auf jede Art verschleiert worden. Er wich aus, es seien ihm allerdings für die galiläischen Heimwehren Gelder auch aus Tiberias zugeflossen, aber er könne sich nicht vorstellen, daß sie aus der Beute der Sapita-Bande stammen. »Glauben Sie mir, sie stammen daraus«, erklärte freundlich Justus. »Ich muß Sie sehr bitten, das Gesindel nicht weiter auf diese Art zu unterstützen. Ich halte es nicht für vereinbar mit meiner Amtspflicht, wenn ich mein Tiberias länger von Ihnen aufputschen lasse.« Er sprach noch immer sehr höflich; mehr daran, daß er jetzt wieder ins Griechische überging, merkte man seine Erregung. Von dem alten Doktor Jannai aber war auf einmal alle Betulichkeit abgefallen. Er war aufgesprungen und gestikulierte auf Josef ein. »Haben Sie Geld von Sapita?« schrie er. »Haben Sie Geld von Sapita?« Und ohne eine Antwort Josefs abzuwarten, wandte er sich an Justus. »Falls Gelder aus Tiberias gekommen sind, wird man die Beträge an Sie zurückleiten«, versprach er.
  Kaum aus der Stadt, trennten sich die beiden Kommissare. »Ich mache Sie darauf aufmerksam«, sagte Jannai, und seine Stimme war eisig, »daß Sie nicht als einer der ›Rächer Israels‹ in Magdala sitzen, sondern als Kommissar von Jerusalem. Ich verbitte mir Ihre Extravaganzen und pittoresken Abenteuer«, schrie er. Josef, blaß vor Wut, konnte nichts dagegen sagen. Er sah klar, er hatte seine Kraft überschätzt. Dieser Doktor Jannai hatte gute Witterung dafür, was feststand und was nicht. Wenn der es wagte, ihn wie einen kleinen Schuljungen herunterzuputzen, dann mußte seine Stellung verdammt wacklig sein. Er hätte noch zuwarten müssen, er hätte sich in diesen Kampf mit Justus noch nicht einlassen dürfen. Jerusalem wird ihn bei nächster Gelegenheit abberufen, und Justus wird lächeln, wird dieses infame Lächeln aufsetzen, das Josef gut kennt.
  Er soll nicht lächeln. Josef wird zu verhindern wissen, daß er lächelt. Was versteht dieser Justus von Galiläa? Aber jetzt fühlt er sich erfahren genug. Er hat keine Angst und Hemmung mehr vor den galiläischen Führern. Sapita ist von selber zu ihm gekommen, den andern, Johann von Gischala, wird er rufen. Es wird sich erweisen, daß nicht Jerusalem, sondern das Triumvirat Johann, Sapita und Josef die wahre Macht im Land hat. Soll man sie dann Räuberbanden oder Gesindel oder wie immer nennen. Er denkt gar nicht daran, die Verbindung mit Sapita fahrenzulassen. Im Gegenteil, er wird alle bewaffneten Organisationen, anerkannt oder nicht, im Gebiet der Jerusalemer Regierung und darüber hinaus zu einem einzigen Verband zusammenschließen. Nicht als Kommissar von Jerusalem, sondern als Parteiführer der »Rächer Israels«.

Johann von Gischala, der Chef der gutbewaffneten galiläischen Bauernwehr, freute sich sichtlich, als Josef ihn zu sich berief. Er besaß in der Nähe seiner Heimatstadt, des kleinen Bergortes Gischala, nach dem er sich nannte – in den Registern hieß er Johann Ben Levi –, ein nicht sehr rentables Gütchen, das vor allem Öl und Feigen produzierte. Er war breit, langsam, gutmütig, sehr pfiffig, ein Mann so recht für die Herzen der Galiläer. Während des Feldzugs des Cestius hatte er in Obergaliläa einen listigen, erbitterten Kleinkrieg gegen die Römer organisiert. Er war viel unterwegs, kannte jeden Winkel im Land. Josef, als Johann jetzt endlich zu ihm kam, verstand nicht recht, daß er sich nicht schon früher mit ihm eingelassen hatte. Nicht groß, aber ausgiebig und kräftig von Figur, saß Johann vor ihm, das Gesicht braun, breit, mit kurzem Knebel bart, die Nase eingedrückt, die Augen grau, verschmitzt. Bei aller Schlauheit ein gutmütiger, offener Mann.

  Er rückte sogleich mit einem eindeutigen Vorschlag heraus. Überall im Land habe König Agrippa Getreide gestapelt, zweifellos für die Römer. Johann wollte dieses Getreide für seine Wehrverbände requirieren, eine Notmaßnahme, für die er die Genehmigung Josefs erbat. Unter dem Einfluß der Geldsäcke und der Aristokraten, klagte er, verleugne Jerusalem den Zusammenhang mit seinen Wehrverbänden. Von Josef habe er den Eindruck, daß er anders sei als die leisetreterischen Herren im Tempel. »Sie, Doktor Josef, gehören im Herzen zu den ›Rächern Israels‹. Das riecht man auf drei Meilen im voraus. Ihnen möchte ich meine Wehrverbände unterstellen«, sagte er treuherzig und gab ihm eine genaue Liste seiner Organisation. Es waren achtzehntausend Mann. Josef gab seine Zustimmung, daß das Getreide requiriert werde.
  Er fürchtete nicht den Sturm, den die Requirierung erregen mußte. Wenn er seine Stellung rücksichtslos ausnützte, wenn er die reale Macht in Galiläa in die Hand bekam, vielleicht, daß dann Jerusalem nicht mehr wagte, ihn abzuberufen. Und wenn, dann stand es bei ihm, ob er sich abberufen ließ. In einer fast fröhlichen Spannung wartete er, was geschehen werde.
  Auch Johann von Gischala war von der Unterredung mit Josef befriedigt. Er war ein mutiger Mann und nicht ohne Humor. Ganz Galiläa wußte, daß er es war, der das Getreide des Königs Agrippa beschlagnahmte. Er gab sich unschuldig, wußte von nichts. Was sich ereignete, geschah auf Befehl des Jerusalemer Kommissars. In aller Öffentlichkeit reiste er in das Gebiet des Feindes nach Tiberias, um seinen Rheumatismus in den dortigen heißen Quellen zu kurieren. Er wußte, sollte Justus etwas gegen ihn unternehmen, dann würden seine Leute die Stadt Tiberias stürmen. Justus lachte. So verderblich ihm die Taten dieses Bauernführers erschienen, so gut gefiel ihm seine Art.
  Nach Jerusalem aber und Sepphoris schickte er eine empörte Note. Aufgebracht, japsend vor Wut, kam der alte Doktor Jannai zu Josef. Das Getreide müsse natürlich sogleich zurückgegeben werden. Josef empfing den Eifernden sehr höflich. Das Getreide konnte leider nicht zurückgegeben werden, er hatte es weiterverkauft. Jannai mußte sich unverrichteterdinge vor dem höflich achselzuckenden Josef zurückziehen. Ein kleiner Trost blieb: Josef führte einen ansehnlichen Teil des Erlöses nach Jerusalem ab.

In der Stadt Tiberias gehörte zu den beliebtesten Agitationsmitteln der »Rächer Israels« der Kampf gegen die Gottlosigkeit der herrschenden Schicht, gegen ihren Hang, sich den Römern und Griechen zu assimilieren. Als Sapita das nächstemal bei Josef erschien, warf der ihm hin, wie auch er mit tiefstem Ingrimm die Statuen gesehen habe, die sich so provozierend vor dem Königspalast in der Sonne spreizten. Der finstere, gedrungene Mann zog die eine Schulter noch höher, seine kleinen Augen schauten auf, senkten sich wieder, er riß nervös an der einen Spitze seines zweigeteilten Bartes. Josef wollte ihn weiterstoßen. Er zitierte den Propheten: »Das Kalb ist im Lande, Jahve verwirft es. Menschenhand hat es gemacht, und es kann kein Gott sein.« Er wartete darauf, daß Sapita das berühmte Zitat weiterführe: »Darum soll das Kalb zerpulvert werden.« Aber Sapita lächelte nur, er überschlug diesen Teil und zitierte sehr leise, mehr in sich hinein als gegen Josef, den späteren Satz: »Sie säen Wind, und sie werden Ungewitter ernten.« Dann, sachlich, konstatierte er: »Wir protestieren immerzu gegen den verbrecherischen Unfug. Wir wären dem Kommissar von Jerusalem dankbar, wenn auch er in Tiberias vorstellig würde.«
  Sapita war nicht so offen wie Johann von Gischala, aber auf seine leisen Andeutungen konnte man sich verlassen. Wer Wind sät, wird Ungewitter ernten. Ohne sich weiter mit Doktor Jannai zu verständigen, ersuchte Josef den Justus um eine zweite Unterredung.
  Schlicht, mit einem einzigen Diener kam Josef diesmal nach Tiberias. Justus streckte ihm auf römische Art den Arm mit der flachen Hand entgegen, ließ ihn aber wieder sinken, lächelnd, sich korrigierend gewissermaßen, und gab den hebräischen Gruß: »Friede.« Dann saßen sich die beiden Herren gegenüber, ohne einen Dritten, jeder viel wissend um den andern, in herz licher Feindschaft. Sie hatten beide etwas erreicht, seitdem sie sich in Rom auseinandergesetzt hatten, sie besaßen Gewalt über Menschen und Schicksale, sie waren älter geworden, ihre Züge härter, aber immer noch sahen sie sich ähnlich, der blaßbraune Josef und der gelbbraune Justus.
  »Sie haben den Propheten Jesaja zitiert«, sagte Josef, »als wir uns unlängst unterhielten.« – »Ja«, sagte Justus. »Jesaja lehrte, daß das kleine Judäa sich nicht einlassen solle in einen Kampf mit seinem weltmächtigen Gegner.« – »Das lehrte er«, sagte Josef, »und am Ende seines Lebens flüchtete er in eine hohle Zeder und wurde zersägt.« – »Besser ein Mann wird zersägt als das ganze Land«, sagte Justus. »Was wollen Sie eigentlich, Doktor Josef? Ich bemühe mich, einen sinnvollen Zusammenhang zwischen Ihren Maßnahmen zu entdecken. Aber entweder bin ich zu dumm, um sie zu verstehen, oder sie haben allesamt nur den einen Zweck: Judäa erklärt Rom den Krieg unter Führung des neuen Makkabäers Josef Ben Matthias.« Josef bezähmte sich. Er kenne ja leider schon von Rom her diese fixe Idee des Justus, daß er ihn für einen Kriegshetzer halte. Das sei er nicht. Er wolle den Krieg nicht. Nur: er scheue ihn auch nicht. Im übrigen halte er, selbst vom Standpunkt des Justus aus gesehen, dessen Methoden für falsch. Ständiges Pochen auf Frieden führe mit der gleichen Notwendigkeit zum Krieg wie ständiges Pochen auf Krieg. Man müsse im Gegenteil der Kriegspartei durch kluges Entgegenkommen alle Vorwände nehmen. »Wir in Tiberias tun das wohl nicht?« fragte Justus. »Nein«, erwiderte Josef, »Sie in Tiberias tun das nicht.« – »Ich höre«, sagte höflich Justus. »Sie in Tiberias«, erklärte Josef, »haben zum Beispiel dieses königliche Palais mit seinen Bildern von Menschen und Tieren, das ein ständiges Ärgernis für die ganze Provinz ist, ein ständiger Anreiz zum Krieg.« Justus schaute ihn an, dann begann er breit zu lächeln. »Sind Sie gekommen, um mir das mitzuteilen?« fragte er. Josef füllte sich mit seinem ganzen Ingrimm gegen die freche Bildnerei. »Ja«, sagte er.
  Da bat ihn Justus, mit ihm zu kommen. Er führte ihn durch den Palast. Es war aber der Palast mit Recht berühmt, das schönste Bauwerk Galiläas. Justus führte ihn durch die Säle, Höfe, Hallen, Gärten. Ja, es war Bildnerei überall, sie war verwachsen mit dem Bau. König Agrippa, sein Vorgänger und sein Vorvorgänger hatten mit Mühe, Geld und Geschmack schöne Dinge aus aller Welt hierher zusammengetragen und zusammengepaßt, sehr alte und berühmte Kunstwerke zum Teil. In einem Hof, der mit bräunlichem Bruchstein belegt war, blieb Justus stehen vor einem kleinen Bildwerk, das, verwitternd, alt, ägyptische Arbeit, einen Zweig darstellte, und auf diesem Zweig einen Vogel. Es war ein sehr strenges Werk, etwas steif sogar, aber trotzdem der kleine Vogel noch ruhte, sah man an ihm schon die selige Leichtigkeit des Flugs, zu dem er die Flügel hob. Justus stand eine kleine Zeit vor dem Bildwerk, hingegeben. Dann, wie erwachend, zärtlich, sagte er: »Soll ich das entfernen?« und, ringsum weisend: »Und das? Und das? Dann ist der ganze Bau sinnlos.« – »Dann reißen Sie den Bau nieder«, sagte Josef, und es war in seiner Stimme ein so maßloser Haß, daß Justus nichts mehr sagte.
  Schon für den nächsten Tag berief Josef den Bandenführer Sapita. Der fragte, ob er etwas ausgerichtet habe bei den Herrschenden in Tiberias. Nein, erwiderte Josef, ihr Herz sei verstockt. Aber sein Machtbereich ende leider vor den Grenzen der Stadt. Sapita zerrte heftig an dem einen Teil seines Bartes. Diesmal sprach er den Satz aus, den er das letztemal nur geschwiegen hatte: »Das Kalb Samarias soll zerpulvert werden.« Wenn die Leute von Tiberias, erwiderte Josef, sich das Ärgernis aus den Augen schaffen sollten, dann werde er Verständnis für diese Leute haben. »Auch ein Asyl?« fragte Sapita. »Vielleicht auch ein Asyl«, sagte Josef.
  Zwiespältig stand Josef, als Sapita gegangen war. Dieser Sapita ist trotz seiner hohen Schulter ein kräftiger Bursche, er wird nicht sehr zart mit den Dingen umgehen. Wenn er und seine Leute in den Palast eindringen, dann werden wohl nicht nur die Statuen entfernt werden. Es ist ein schöner Bau, seine Decken sind Zedernholz und Gold, er ist voll von Kostbarkeiten. Er gehört unbestritten dem König Agrippa und steht unbestritten unter dem Schutz der Römer. Es war jetzt einige Zeit still im Land, und in Jerusalem hoffen sie, man werde mit Rom zu einer Verständigung kommen. Der Sandalenma cher Akawja in der verräucherten Kneipe von Kapernaum hat den Messias gesehen: und er trug kein Schwert. Gewisse Leute in Rom warten nur darauf, daß die Regierung von Jerusalem etwas unternehme, was als Angriff gedeutet werden könnte. Was er jetzt gesagt hat, kann einen schweren Stein ins Rollen bringen, den viele Hände bisher mit vieler Kraft festgehalten haben.
  In der Nacht darauf wurde das Palais des Königs Agrippa gestürmt. Es war ein weitläufiger Bau, sehr fest gefügt, und es war nicht leicht, ihn dem Erdboden gleichzumachen. Es gelang auch nicht völlig. Alles vollzog sich bei schwachem Mondschein und, merkwürdigerweise, ohne Geschrei. Die vielen geschäftigen Leute schlugen verbissen auf die festen Steine ein, zerrten daran mit den Händen, zertrampelten sie. Zertrampelten auch die Blumenbeete des Gartens. Mit besonderem Ingrimm zertrümmerten sie die Wasserkünste. Geschäftig liefen sie hin und her, sich die kostbaren Teppiche und Gewebe, den Goldbelag der Decken, die erlesenen Tischplatten zu sichern, alles ohne Geschrei. Justus erkannte bald, daß seine Truppen zu schwach waren, um mit Erfolg einzugreifen, und verbot jeden Widerstand. Aber die »Rächer Israels« hatten bereits an hundert Soldaten und griechische Einwohner der Stadt niedergemacht, die, als der Sturm begann, der Plünderung hatten wehren wollen. Der Bau selbst brannte dann noch fast einen ganzen Tag.
  Die Erstürmung des Palastes von Tiberias bewirkte, daß ganz Galiläa erstarrte. In Magdala bedrängten die Behörden den Josef ängstlich um Richtlinien, um Stellungnahme. Josef schwieg verbissen. Dann plötzlich, in großer Eile, noch am Tag nach dem Brand, brach er nach Tiberias auf, um dem Justus das Beileid der Jerusalemer Regierung zu dem großen Unglück auszusprechen, ihm seine Hilfe zur Verfügung zu stellen. Er fand ihn zwischen den Trümmern, stumpf und rastlos umhergehend. Justus hatte keine Truppen von seinem König verlangt, hatte nichts gegen Sapita und seine Leute unternommen. Hatte, der sonst so tätige Mann, die Hände schlaff und verzweifelt fallen lassen. Auch als er jetzt Josef sah, höhnte er nicht, hatte für ihn keine einzige beißende Anmerkung. Er sagte ihm, und seine Stimme kam rauh vor Erregung und Kummer aus dem sehr blassen Gesicht: »Sie wissen gar nicht, was Sie angerichtet haben. Nicht die Einstellung des Tempelopfers war das Schlimme, auch nicht der Angriff auf Cestius, nicht einmal das Edikt von Cäsarea. Das, das, das hier bedeutet endgültig den Krieg.« Er hatte Tränen in den Augen vor Wut und Trauer. »Sie sind blind vor Ehrgeiz«, sagte er zu Josef.
  Einen großen Teil der Beute aus dem Palast stellte Sapita dem Josef zu. Gold, edles Holz, Bruchstücke von Statuen. Josef suchte unwillkürlich, ob er den Zweig mit dem Vogel aus bräunlichem Stein finde, aber er fand ihn nicht; er war wohl aus wertlosem Material gewesen und leicht zu zerstören.

Die Nachrichten aus Tiberias trafen die Herren in Jerusalem wie ein Hieb ins Mark. Schon hatte man durch Vermittlung des friedfertigen Obersts Paulin ein halbes Versprechen der kaiserlichen Regierung erwirkt. Falls Judäa sich ruhig halte, hatte Rom erklärt, dann werde es sich mit der Auslieferung einiger weniger Führer begnügen, des Simon Bar Giora, des Doktor Eleasar. In Jerusalem war man froh, die Hetzer loszuwerden. Jetzt, durch die sinnlose Tat von Tiberias, war alles zerschlagen.
  Die »Rächer Israels«, schon an die Wand gedrängt, bekamen Luft. Ihr Versammlungsort, die Blaue Halle, wurde zum Mittelpunkt Judäas. Sie setzten durch, daß ihr Doktor Eleasar in die Regierung berufen wurde. Hochfahrend, die Demütigung der andern ganz auskostend, ließ der junge, elegante Herr sich bitten, ehe er die Wahl annahm. Den rebellischen Gouverneur von Galiläa, der so offensichtlich gegen die Weisungen seiner Regierung gehandelt hatte, konnte freilich auch die Blaue Halle nicht im Amt halten. Doktor Jannai hatte dem Großen Rat persönlich Bericht erstattet, die Absetzung und Bestrafung dieses Verbrechers Josef Ben Matthias erbittert verlangt. Die »Rächer Israels« wagten nicht, ihn zu verteidigen; sie enthielten sich der Stimme. Es war unter den Herren der Regierung ein einziger, der ein Wort zugunsten Josefs fand, der alte, milde Großdoktor Jochanan Ben Sakkai. Er sagte: »Verurteilt niemand, ehe er an seinem Ende ist.«
  Josefs alter Vater, der dürre, sanguinische Matthias, war jetzt ebenso verzweifelt, wie er bei der Ernennung seines Sohnes beglückt gewesen war. Er beschwor ihn dringlich, noch bevor das Abberufungsdekret Galiläa erreiche, nach Jerusalem zu kommen, sich zu stellen, sich zu rechtfertigen. Bleibe er in Galiläa, so bedeute das sichern Untergang für alle. Sein Herz sei betrübt zum Tode. Er wolle nicht in die Grube fahren, ohne seinen Sohn Josef nochmals gesehen zu haben.
  Josef, als er diesen Brief erhielt, lächelte. Sein Vater war ein alter Herr, den er sehr liebte, der aber alles viel zu ängstlich und düster nahm. Sein eigenes Herz war voll Zuversicht. Wieder sahen sich die Dinge anders an in Galiläa als in Jerusalem. Galiläa, seit dem Bildersturm in Tiberias, jubelt ihm zu; man weiß im ganzen Land, daß ohne seine Zustimmung diese Tat nie hätte geschehen können. Er hat die Wand niedergerissen, die zwischen ihm und dem Volk von Galiläa war, er gilt dem Land jetzt wirklich als der zweite Juda Makkabi, wie dieser Justus ihn höhnte. Die bewaffneten Verbände hören auf ihn. Nicht er ist von Jerusalem, sondern Jerusalem von ihm abhängig. Es steht bei ihm, das Absetzungsdekret Jerusalems einfach zu zerreißen.
  In dieser Nacht hatte er einen schweren Traum. Auf allen Straßen kamen die Legionen der Römer, er sah sie sich heranwälzen, langsam, unausweichlich, in strenger Ordnung, in Reihen von sechs Mann, viele Tausende, aber wie ein einziges Wesen. Das war der Krieg selber, was da auf ihn zukam, das war die »Technik«, eine ungeheuer wuchtige Maschine von blinder Sicherheit, es war sinnlos, sich dagegen zu wehren. Er sah den Gleichtritt der Legionen, er sah ihn ganz deutlich, aber, das war das Erschreckende, er hörte ihn nicht. Er stöhnte. Es war ein einziger riesiger Fuß in einem Ungeheuern Soldatenstiefel, er hob sich, trat, hob sich, trat, man konnte ihm nicht entgehen, in fünf Minuten, in drei Minuten wird er einen zertreten. Josef saß auf seinem Pferde Pfeil, Sapita, Johann von Gischala, alle schauten auf ihn, finster und fordernd, und warteten, daß er das Schwert aus der Scheide reiße. Er griff nach dem Schwert, aber es ging nicht heraus, es war festgenagelt in der Scheide, er stöhnte, Justus von Tiberias grinste, Sapita riß wild und wütend an der einen Strähne seines zweigeteilten Bartes, der Tischler Chalafta hob seine gewalttätigen Fäuste. Josef riß an dem Schwert, es dauerte eine Ewigkeit, er riß und riß und brachte es nicht heraus. Der Sandalenmacher Akawja plärrte: »Essen, Mann, Sie sollen essen«, und der Fuß in dem riesigen Soldatenstiefel hob sich, trat, kam immer näher.
  Aber als Josef erwachte, war ein strahlend klarer Wintermorgen, und die entsetzliche, wartende Ewigkeit vor dem Soldatenstiefel war weggewischt. Alles war gut, wie es gekommen war. Nicht Jerusalem, Gott selber hat ihn auf diesen Platz gestellt. Gott will den Krieg.
  Mit wilder Inbrunst machte er sich daran, diesen Heiligen Krieg vorzubereiten. Wie hatte es sein können, daß er in Rom mit den Fremden von einem Tische aß, in einem Bett mit ihnen schlief? Jetzt wie die andern ekelte ihn vor der Ausdünstung ihrer Haut, sie verpesteten das Land. Möglich, daß die Verwaltung der Römer gut war, ihre Straßen, ihre Wasserleitungen: aber dieses Heilige Land Judäa wurde aussätzig, wenn man anders darin lebte als jüdisch. Die Besessenheit überkam ihn, aus der er damals sein Buch über die Makkabäer geschrieben hatte. Seine eigene Zukunft, vorausahnend, hatte er niedergeschrieben. Seine Kraft wuchs. Tag und Nacht, unermüdlich, arbeitete er. Straffte die Verwaltung, stapelte Vorräte, disziplinierte die Wehrverbände, verstärkte die Befestigungen. Er zog durch die Städte Galiläas, durch seine großen, stillen Landschaften, Berge und Täler, Flußufer, See- und Meergestade, Reben, Oliven, Maulbeerfeigenbäume. Er zog dahin auf seinem Pferde Pfeil, jung, kraftvoll, eine glühende Heiterkeit und Zuversicht strahlte von ihm aus, vor ihm wehte die Standarte mit den Buchstaben Makkabi, »Wer ist wie du, o Herr?«, und seine Erscheinung, sein Wort und seine Fahne entzündeten die Jugend Galiläas. Viele, wenn sie die Ansprachen Josefs hörten, die glühend zuversichtlichen Worte der Vernichtung gegen Edom, die aus ihm herausbrachen wie Steine und Feuer aus einem Berg, riefen, ein neuer Prophet sei auferstanden in Israel. »Marin, Marin, unser Herr, unser Herr«, schrien sie leidenschaftlich ergeben, wohin er kam, und sie küßten seine Hände und seinen Mantel.
  Er ritt nach Meron in Obergaliläa. Das war eine unbedeutende Stadt, berühmt nur wegen ihrer Ölbäume, ihrer Universität und ihrer alten Gräber. Hier ruhten die Gesetzeslehrer der Vorzeit, der strenge Großdoktor Schammai und der milde Großdoktor Hillel. Die Leute von Meron galten als besonders heiß im Glauben. Man sagte, aus den Gräbern der Lehrer wachse ihnen tiefere Gottesweisheit zu. Vielleicht war es deshalb, daß Josef nach Meron ging. Er sprach in der alten Synagoge; die Leute hörten ihm still zu, Doktoren und Studenten zumeist, sie waren hier stiller als sonstwo, sie schaukelten die Körper, gespannt lauschend, und atmeten erregt. Und plötzlich, als Josef nach einem großen, angestrengten Satze schwieg, in das Schweigen hinein, gedrängt, gepreßt, raunte einer, ein blasser, ganz junger Mensch: »Dieser ist es.« – »Wer soll ich sein?« fragte zürnend Josef. Und der junge Mensch, mit hündisch ergebenen, etwas törichten Augen, immer von neuem, wiederholte: »Du bist es, ja, du bist es.« Es stellte sich heraus, daß die Leute der kleinen Stadt diesen jungen Menschen für einen Propheten Jahves hielten und daß sie, eine Woche zuvor, die Türen ihrer Häuser die Nacht über hatten offenstehen lassen, weil er geweissagt hatte, in dieser Nacht werde der Erlöser zu ihnen kommen.
  Den Josef, wie er das Gerede hörte, überfröstelte es. Er zürnte laut und schrie den jungen Menschen heftig an. Auch in seinem heimlichsten Innern wies er den Gedanken, er selber könnte es sein, weit und als Lästerung von sich. Immer tiefer aber erfüllte ihn der Glaube an die Göttlichkeit seiner Sendung. Die ihn selber den Erretter nannten, waren Kinder und Narren. Wohl aber war er berufen, das Reich des Erlösers vorzubereiten.
  Die Leute von Meron ließen sich nicht davon abbringen, daß sie den Messias gesehen hätten. Sie ließen die Hufspuren des Pferdes Pfeil mit Kupfer ausgießen, und diese Stätte galt ihnen heiliger als die Gräber der Gesetzeslehrer. Josef zürnte, lachte und schalt über die Narren. Aber er spürte sich selber immer enger verbunden mit dem, der da kommen sollte, und immer sehnsüchtiger, lüstern geradezu, wartete er darauf, ihn mit leiblichen Augen zu sehen.
Als die Kommission aus Jerusalem eintraf, die ihm das Absetzungsdekret überbrachte, erklärte er lächelnd, es müsse da ein Irrtum sein, und bis er sichern Bescheid aus Jerusalem habe, müsse er, um das Land vor Unruhen zu bewahren, die Herren in Schutzhaft nehmen. Die Jerusalemer fragten ihn, wer ihm Vollmacht gegeben habe, den Krieg mit Rom zu verkünden. Er erwiderte, sein Auftrag stamme von Gott. Die Jerusalemer zitierten das Gesetz: »Wer ein Wort sich erdreistet zu reden in meinem Namen, und ich habe ihm nicht geboten zu reden, selbiger soll sterben.« Immer lächelnd, voll liebenswürdigen Übermuts, zuckte Josef die Achseln, man müsse abwarten, wer im Namen des Herrn rede und wer nicht. Er strahlte, er war seiner selbst und seines Gottes sicher.
  Er vereinigte seine Miliz mit den Mannschaften des Johann von Gischala und marschierte vor Tiberias. Justus übergab ihm die Stadt ohne Verteidigung. Wiederum saßen sie sich gegenüber; aber diesmal war an Stelle des alten Jannai der kraftvolle, gutmütig-schlaue Johann von Gischala. »Gehen Sie ruhig zu Ihrem König Agrippa«, sagte er zu Justus, »Sie sind ein gescheiter Herr, für einen Freiheitskrieg sind Sie zu gescheit. Da muß man den Glauben haben und das Ohr für den innern Ruf.« – »Sie können alles mitnehmen, Doktor Justus«, sagte freundlich Josef, »was dem König an Geld und Geldeswert gehört. Nur die Regierungsakten bitte ich hierzulassen. Sie können unbehindert gehen.« – »Ich habe nichts gegen Sie, Herr Johann«, sagte Justus. »Ihnen glaube ich den innern Ruf. Aber Ihre Sache ist verloren, ganz abgesehen von allen Vernunftgründen, schon weil dieser Mann Ihr Führer ist.« Er schaute Josef nicht an, aber seine Stimme war voll Verachtung. »Unser Doktor Josef«, sagte lächelnd Johann von Gischala, »scheint nicht nach Ihrem Geschmack. Aber er ist ein glänzender Organisator, ein herrlicher Redner, der geborene Führer.« – »Ihr Doktor Josef ist ein Lump«, sagte Justus von Tiberias. Josef erwiderte nichts. Der geschlagene Mann war erbittert und ungerecht, es lohnte nicht, mit ihm zu rechten, ihn zu widerlegen.
  Josef wandelte hoch und glücklich durch diesen galiläischen Winter. Jerusalem wagte nicht, mit Gewalt gegen ihn vorzuge hen; ja, man ließ es stillschweigend zu, daß er sich nach einigen Wochen wieder als Kommissar der Zentralregierung bezeichnete. Mühelos hielt er seine Grenzen gegen die Römer, dehnte sie aus in ihr Gebiet hinein, nahm auch aus dem Bereich des Königs Agrippa das Westufer des Sees Genezareth und besetzte und befestigte seine Städte. Er organisierte den Krieg. Aus der heiligen Luft des Landes wehten ihm überraschende, große Einfälle zu.
  Rom schwieg, es kam keine Nachricht aus Rom. Der Oberst Paulin hatte jeden Verkehr mit seinen Jerusalemer Freunden abgebrochen. Dieser erste Sieg war sehr leicht gefallen. Die Römer beschränkten sich auf Samaria und die Küstenstädte, wo sie, gestützt auf die griechische Majorität der Bevölkerung, im sichern Besitz der Macht waren. Auch die Truppen des Königs Agrippa wichen jedem Geplänkel aus. Stille war im Land.
  Wer immer beweglichen Besitz hatte, suchte, sofern er nicht im Herzen den »Rächern Israels« anhing, sich mit seiner Habe in den Schutz römischen Gebiets zu bringen. Bei einer solchen Flucht wurde die Frau eines gewissen Ptolemäus, eines Intendanten des Königs Agrippa, von den Leuten des Josef aufgegriffen. Es geschah dies in der Nähe des Dorfes Dabarita. Die Dame hatte viel Gepäck bei sich, wertvolle Dinge, offenbar auch aus dem Besitz des Königs, gute Beute, und die sie gemacht hatten, freuten sich auf ihren Anteil. Sie wurden schwer enttäuscht. Josef ließ die Sachen auf römisches Gebiet schaffen, mit einem höflichen Brief, zu treuen Händen des Obersts Paulin.
  Es war nicht das erstemal, daß er so verfuhr, und seine Leute murrten. Sie beschwerten sich bei Johann von Gischala. Es kam zu einer erbitterten Unterredung zwischen Johann, Sapita und Josef. Josef wies darauf hin, daß oftmals in früheren Kriegen Römer und Griechen solche Beweise von Ritterlichkeit gegeben hätten. Allein Johann raste. Seine grauen Augen funkelten bösartig, blutunterlaufen, sein Knebelbart stieß wild vor, der ganze Mann war ein Berg, der in Bewegung geraten ist. Er schrie: »Sind Sie verrückt, Herr? Glauben Sie, wir machen hier Olympische Spiele? Sie wagen es, einem Mann mit Ihrem Gesäusel von Ritterlichkeit zu kommen, wenn es gegen die Römer geht? Das ist hier ein Krieg, Herr, keine sportliche Veranstaltung. Hier geht es nicht um einen Eichenkranz. Hier sind sechs Millionen Menschen, die diese von den Römern verpestete Luft nicht mehr atmen können, die daran ersticken. Verstehen Sie, Herr?« Josef kam nicht auf gegen die wüste Erbitterung des Mannes, er war erstaunt, fühlte sich zu Unrecht gekränkt. Er schaute auf Sapita. Allein der stand finster daneben, er sagte nichts, aber es war klar: Johann sprach nur aus, was er selber spürte.
  Im übrigen waren die drei Männer zu vernünftig, um ihre Aufgabe durch ihren Zwist zu gefährden. Sie nützten den Winter, um die Verteidigung Galiläas nach Kräften auszubauen.
  Es blieb still im Land, aber die Stille begann drückend zu werden. Josef hielt sein Glück und seine Sicherheit fest. Allein manchmal durch diese frohe Sicherheit hindurch hörte er die haßvollen Worte des Justus. Immer öfter, trotzdem er seine Tage bis an den Rand mit Arbeit füllte, durch die Sätze seiner Beamten und Offiziere, durch das Gebraus seiner Volksversammlungen hörte er es klar, leise, bitter: Ihr Doktor Josef ist ein Lump, und er verwahrte die Worte in seinem Herzen, ihren Tonfall, ihre Verachtung, ihre Resignation, ihr mühsames Aramäisch.

In der Mitte der Welt lag das Land Israel, Jerusalem lag in der Mitte des Landes, der Tempel in der Mitte von Jerusalem, das Allerheiligste in der Mitte des Tempels, der Nabel der Erde. Bis zu König Davids Zeit war Jahve gewandert, im Zelt und in einer provisorischen Hütte. König David beschloß, ihm ein Haus zu bauen. Er kaufte die Tenne Arawna, den urheiligen Berg Zion. Aber er durfte nur die Fundamente legen; den Tempel selbst zu bauen blieb ihm versagt, weil er in seinen vielen Schlachten viel Blut vergossen hatte. Erst sein Sohn Salomo wurde gewürdigt, das heilige Werk auszuführen. Sieben Jahre baute er. Keiner der Arbeiter starb während dieser Zeit, keiner erkrankte auch nur, kein Werkzeug wurde beschädigt. Da Eisen zu dem heiligen Bau nicht verwendet werden durfte, sandte Gott dem König einen wunderbaren Steinwurm, Schamir genannt, der die Steine spaltete. Oft auch legten sie sich von selbst an ihren Platz, ohne menschliches Zutun. Wild und heilig prangte der Opferaltar, neben ihm das Waschbecken für die Priester, das Eherne Meer, ruhend auf zwölf Stieren. In der Vorhalle ragten zwei seltsame Bäume aus Bronze gegen den Himmel, Jachin und Boas genannt. Das Innere war mit Zedernholz vertäfelt, der Boden mit Zypressenbohlen ausgelegt, Mauerwerk und Stein vollständig verdeckt. Fünf goldene Leuchter standen an jeder Wand, dazu die Schaubrottische. Im Allerheiligsten aber, alle Augen durch einen Vorhang verhüllt, standen riesige Flügelmenschen, Cherube, geschnitzt aus dem Holz des wilden Ölbaums, grausig starrten ihre Vogelköpfe. Mit den ungeheuren, goldbedeckten Flügeln überspannten sie schützend die Lade Jahves, die die Juden durch die Wüste begleitet hatte. Mehr als vierhundert Jahre stand dieses Haus, bis König Nebukadnezar es zerstörte und die heiligen Geräte nach Babel verschleppte.

  Zurückgekehrt aus der Gefangenschaft Babels, bauten die Juden einen neuen Tempel. Aber er blieb kümmerlich, verglich man ihn mit dem ersten. Bis ein großer König aufstand, Herodes mit Namen, und im achtzehnten Jahr seiner Regierung den Tempel zu erneuern begann. Mit Tausenden von Arbeitern verbreiterte er den Hügel, auf dem der Bau stand, untermauerte ihn mit einer dreifachen Terrasse, verwandte so viel Kunst und Arbeit an das Werk, daß sein Tempel unbestritten als der schönste Bau Asiens, vielen als der schönste Bau der Welt galt. Die Welt ist ein Augapfel, sagten sie in Jerusalem, das Weiße darin ist das Meer, die Erde ist die Iris, Jerusalem die Pupille: das Bild aber, das in der Pupille erscheint, ist der Tempel.
  Nicht der Pinsel des Malers noch der Meißel des Bildhauers schmückte ihn; nur der Harmonie seiner großen Maße, der Erlesenheit des Materials dankte er seine Wirkung. Mächtige Doppelhallen umgaben ihn von allen Seiten, sie boten Schutz vor dem Regen und Schatten vor der Sonne, in ihnen erging sich das Volk. Die schönste dieser Hallen war die Quadernhalle, wo der Große Rat tagte. Auch eine Synagoge war da, viele Läden, Verkaufsräume für die Opfertiere, für. heilige und unheilige Parfüms, ein großer Schlachthof, ferner die Banken der Geldwechsler.
  Ein Steingitter trennte diese profanen Räume von den heiligen. Griechische und lateinische Inschriften drohten unübersehbar, bei Todesstrafe dürfe kein Nichtjude weitergehen. Immer enger wurde der Kreis derer, die vordringen durften. Kranken waren die heiligen Höfe verboten, auch Krüppeln, auch solchen, die in der Nähe von Leichen geweilt hatten. Den Frauen war ein einziger, großer Raum erlaubt; auch ihn durften sie in der Zeit der Menstruation nicht betreten. Die inneren Höfe waren den Priestern vorbehalten, auch unter ihnen nur den fehllos Gewachsenen.
  Weiß und golden hing der Tempel auf seinen Terrassen über der Stadt; aus der Ferne erschien er wie ein schneebedeckter Hügel. Seine Dächer starrten von scharfen, goldenen Spießen, damit er nicht von Vögeln verunreinigt werde. Die Höfe und Hallen waren mit Mosaik kunstvoll ausgelegt. Terrassen, Tore, Säulen überall, marmorn die meisten, viele überkleidet mit Gold und Silber oder mit dem edelsten Metall, korinthischem Erz, jener einmaligen Legierung, die bei dem Brand von Korinth aus dem Zusammenschmelzen kostbarer Metalle entstanden war. Über dem Tor, das zum Heiligen Raum führte, hatte Herodes das Emblem Israels anbringen lassen, die Weinrebe. Üppig strotzte sie, ganz aus Gold, ihre Trauben waren mannsgroß.
  Kunstwerke von Weltruf schmückten das Innere des Tempelhauses. Da war der Leuchter mit den sieben Armen, seine Lampen bedeuteten die sieben Planeten: Sonne, Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Da war der Tisch mit den zwölf Schaubroten, sie bedeuteten den Tierkreis und das Jahr. Da war das Gefäß mit den dreizehn verschiedenen Arten Räucherwerk, aus dem Meer, der unbewohnten Wüste, der bewohnten Erde, anzeigend, daß alles von Gott komme und für Gott da sei.
  Tief im Innern, an geschütztester Stelle, unterirdisch, lagen die Tresore des Tempels, die den Staatsschatz verwahrten, einen ansehnlichen Teil des Goldes und der Kostbarkeiten der Erde. Auch der Ornat des Erzpriesters wurde hier verwahrt, die heilige Brustbinde, die Tempeljuwelen, der goldene Reif, der den Namen Jahve trug. Es war um diesen Ornat ein lang dauernder Streit zwischen Rom und Jerusalem gewesen, ehe ihn der Tempelschatz endgültig verwahren durfte, und es war viel Blut in diesem Streit vergossen worden.
  Im Herzen des Tempelhauses, wiederum durch einen Purpurvorhang abgeschlossen, war das Allerheiligste. Es war leer und dunkel, nur ein roher Stein ragte aus dem nackten Boden, das Felsstück Schetijah. Hier, behaupteten die Juden, wohnte Jahve. Niemand durfte den Raum betreten. Nur einmal im Jahr, am Tage, da Jahve sich mit seinem Volke aussöhnte, ging der Erzpriester in dieses Allerheiligste. Alle Juden des Erdkreises fasteten an diesem Tag, die Hallen und Höfe des Tempels waren gestopft mit Menschen. Sie warteten darauf, daß der Erzpriester Jahve bei seinem Namen anrufe. Denn Jahves Name durfte nicht genannt werden, schon der Versuch war todeswürdig. Nur an diesem einen Tag rief der Erzpriester den Gott bei seinem Namen. Nicht viele konnten den Namen hören, wenn er aus dem Munde des Priesters kam, aber alle glaubten ihn zu hören, und hunderttausend Knie krachten auf die Fliesen des Tempels.
  Es war Geheimnis und Gerede in der Welt, was wohl hinter dem Vorhang des Allerheiligsten verehrt werde. Die Juden erklärten, Jahve sei unsichtbar, also sei auch kein Bild von ihm da. Aber die Welt wollte nicht glauben, daß der Raum einfach leer sei. Einem Gott opfere man, ein Gott war da, sichtbarlich in seinem Bild. Bestimmt war auch dieser Gott Jahve da, und die eigensüchtigen Juden verheimlichten ihn nur, auf daß man ihn ihnen nicht abspenstig mache und für andere gewinne. Feinde der Juden, vor allem die spottsüchtigen, aufgeklärten Griechen, erklärten, in Wahrheit sei es ein Eselskopf, der im Allerheiligsten verehrt werde. Aber der Spott wirkte nicht. Die hellen, klugen Römer wie die finstern, unwissenden Barbaren, alle wurden still und nachdenklich, wenn man vom Gott der Juden sprach, es blieb Geheimnis und Furcht der Welt um das unheimliche Unsichtbare im Allerheiligsten.
  Den Juden des ganzen Erdkreises galt ihr Tempel als wahre Heimat, als unversiegliche Quelle ihrer Kraft. Ob am Ebro oder am Indus, ob am Britannischen Meer oder am Oberlauf des Nil, immer wenn sie beteten, wandten sie ihr Gesicht gegen Jerusalem, wo der Tempel stand. Alle zinsten sie dem Tempel freudigen Herzens, alle wallfahrteten sie zu ihm, oder es lag fest in ihrem Plan, einmal am Osterfest ihr Lamm in den Tempel zu bringen. War ihnen ein Unternehmen geglückt, dann dankten sie es dem Unsichtbaren im Tempel, waren sie schwach und in Not, dann wollten sie Hilfe von ihm. Nur im Bereich des Tempels war die Erde rein, und hierher schickten, die im Ausland wohnten, ihre Leichen, auf daß sie im Tode wenigstens zurückfänden. So verstreut sie waren, hier hatten sie eine Heimat.

Der Kaiser war, als der Bericht über die Erstürmung des Palastes von Tiberias in Rom eintraf, auf einer Kunstreise in Griechenland. Er hatte für die Dauer seiner Abwesenheit seinen Hausminister Claudius Hel mit der Führung der Regierungsgeschäfte beauftragt. Der berief sogleich einen Kabinettsrat ein. Da saßen sie zusammen, die siebenunddreißig Herren, die die maßgebenden Hofämter bekleideten. Die Nachricht, daß die Empörung in Judäa von neuem losgebrochen sei, erregte sie tief. Zehn Jahre früher wäre diese Depesche eine unwichtige Meldung aus einer unwichtigen Provinz gewesen. Jetzt traf sie die Regierung an ihrer empfindlichsten Stelle, gefährdete ihr wichtigstes Projekt, den neuen Alexanderzug.
  Sie, diese siebenunddreißig Herren, waren es, die das gewaltige Projekt auf eine solide Basis gestellt hatten. Sie hatten Stützpunkte in Südarabien für den Seeweg nach Indien geschaffen, die finanziellen Mittel für den Feldzug nach Äthiopien und einen noch kühneren nach dem Kaspischen Tor beschafft. Schon waren gemäß dem Kriegsplan der Marschälle Corbulo und Tiberius Alexander die Truppen in Marsch gesetzt. Die Zweiundzwanzigste Legion sowie alles, was an Truppen in Deutschland, England, Dalmatien entbehrt werden konnte, war auf dem Weg nach dem Osten, die Fünfzehnte Legion auf dem Weg nach Ägypten. Und nun wurde der ganze großartige Plan umgeworfen durch diese immer wieder aufflackernde Rebellion gerade mitten im Auf marschgebiet. Ach, man hätte gern den Versicherungen der Lokalbehörden geglaubt, die Provinz werde sich bald von selber beruhigen. Aber jetzt zeigte sich ja, daß es so nicht ging, daß man an die Niederwerfung des Aufstands sehr viele Menschen und sehr viel kostbare Zeit wird wenden müssen.
  Die Mehrzahl der Minister waren Nichtrömer, leidenschaftliche Griechen; ihr Herz hing daran, daß ihr Griechenland, ihr Orient zur Basis des Reichs werde. Sie schäumten vor Wut, diese Räte und Feldherren des Neuen Alexander, daß jetzt ihr herrlicher Feldzug durch diese Läpperei übel verzögert oder gar für immer vereitelt werden sollte.
  Äußerlich aber blieben sie still und feierlich. Manche von ihnen, die meisten, waren Söhne und Enkel von Leibeigenen, gerade deshalb zeigten sie, nun sie an der Macht waren, die eisige Würde altrömischer Senatoren.
  Claudius Hel erläutert die Unglücksnachricht aus Judäa, ihre Bedeutung für die großen Orientprojekte. Claudius Hel selber ist als Leibeigener geboren. Er ist fehllos gewachsen, finster und herrlich anzuschauen, das Gesicht ebenmäßig, voll Energie. Er trägt den Siegelring des Kaisers. Jeder andere in seiner Lage hätte den Kaiser nach Griechenland begleitet, es ist gefährlich, ihn so lange fremden Einflüssen preiszugeben. Claudius Hel hat es vorgezogen, in Rom zu bleiben. Fast sicher wird irgendeine Maßregel, die er trifft, dem Kaiser mißfallen. Wahrscheinlich wird Claudius Hel jung sterben, Goldplättchen einatmend oder mit geöffneten Adern. Aber das ist kein zu teurer Preis, wenn man die Welt beherrschte.
  Er spricht ruhig, knapp, ohne Beschönigung. Man hat den Aufruhr viel zu leicht genommen, jetzt müsse man ihn um so schwerer nehmen. »Alle haben wir uns geirrt«, gibt er unumwunden zu. »Mit einer einzigen Ausnahme. Ich bitte diesen Mann, der sich nicht geirrt hat, um seine Meinung.«
  Die Herren, wiewohl sie den dürren, geiernäsigen Philipp Talaß nicht leiden mochten, schauten mit Achtung auf den Chef der Orientabteilung. Er hatte von Anfang an gewarnt, man solle sich nicht einlullen lassen von dem listigen, fadsüßen Versöhnlichkeitsgerede Jerusalems. Er war ein wenig lächerlich gewesen mit seiner ewigen Angst vor den Juden, seinem grei senhaften Haß. Jetzt erwies es sich, das Aug des Hasses hatte besser gesehen als der tolerante Skeptizismus der andern.
  Der Minister Philipp Talaß zeigte nichts von seiner Genugtuung. Klein, krumm, unscheinbar saß er wie immer. Aber innerlich war er geschwellt von einem großen Glück; ihm war, als sei sogar die Narbe aus seiner Leibeigenenzeit nicht mehr so sichtbar. Jetzt, nach dieser von freundlichen Göttern beschiedenen Plünderung des Palastes von Tiberias, nach diesem neuen, maßlos dreisten Bruch aller Versprechungen, war die Zeit reif für die große Abrechnung. Man konnte es nicht mehr bewenden lassen bei einem gelinden Strafgericht, Hinrichtung von einigen tausend Meuterern, ein paar Millionen Buße oder so. Das mußten jetzt auch die andern einsehen. Der Minister Philipp Talaß sagte: »Jerusalem muß zerstört werden.«
  Er erhob nicht die Stimme, sie zitterte ihm auch nicht. Aber dies war die größte Minute seines Lebens, und wann immer er in die Grube muß, jetzt kann er zufrieden sterben. In seinem Innern jubilierte es: Nablion, und trotz dem Dolmetsch Zachäus: Nablion. Er träumte davon, wie die Regimenter herfallen werden über das freche Jerusalem, wie sie die Einwohner an ihren Bärten zerren und totschlagen, wie sie die Häuser verbrennen, die Mauern schleifen, den eitel sich spreizenden Tempel dem Erdboden gleichmachen. Aber nichts von alledem war in seiner Stimme, als er selbstverständlich, fast ein wenig mürrisch, konstatierte: »Jerusalem muß zerstört werden.«
  Ein Schweigen war, und durch das Schweigen ein Seufzer. Claudius Hel wandte sein schönes, dunkles Gesicht dem Regin zu und fragte, ob der Direktor der kaiserlichen Perlfischereien etwas zu bemerken habe. Claudius Regin hatte nichts zu bemerken. Diese Galiläer hatten sich zu dumm aufgeführt. Jetzt blieb wirklich nichts mehr übrig, als die Armee einzusetzen.
  Claudius Hel faßte zusammen. Er werde also, das Einver- ständnis der Herren vorausgesetzt, den Kaiser ersuchen, möglichst rasch den Feldzug gegen Judäa zu eröffnen. Bisher hat man die Kuriere nach Griechenland stets mit dem glückkündenden Lorbeerkranz an der Lanze ausstatten können; diesmal, um der Majestät darzutun, wie ernst man in


Rom die Lage nehme, wird er dem Kurier die unheilkündende Feder an der Lanze mitgeben.


Der Senat, auf Betreiben des Claudius Hel, ließ den JanusTempel eröffnen zum Zeichen, daß Krieg sei im Reich. Der amtierende Senator Marull sprach dem Claudius Hel nicht ohne Ironie sein Bedauern aus, daß er die Zeremonie nicht aus einem glänzenderen Anlaß vornehmen könne. Ein Jahr hatte die Welt Frieden gehabt. Die Stadt Rom war überrascht, als jetzt die schweren Türflügel des Janus-Tempels auseinanderknarrten und das Bild des zweigesichtigen Gottes erschien, des Zweifelgottes, man kennt den Anfang, aber niemand kennt das Ende. Viele überschauerte Unbehagen, als sie erfuhren, daß nun der sehr gute, sehr große Jupiter ihres Capitols Krieg begonnen habe gegen den unheimlichen, gestaltlosen Gott im Osten.
  In den Vierteln der Kleinbürger gönnte man es den Juden, daß der Kaiser endlich einmal forsch gegen sie vorging. Überall nisteten sie sich ein, schon war das ganze Geschäftsviertel von ihnen durchsetzt, man freute sich, dem Haß gegen die Konkurrenz patriotisch Luft zu machen. In den Kneipen erzählte man sich die alten, verbürgten Geschichten, die Juden verehrten einen Eselskopf in ihrem Allerheiligsten, an ihrem Passahfest opferten sie diesem heiligen Esel griechische Kinder. Man bekritzelte die Synagogen mit unflätigen, drohenden Inschriften. Im Florabad verprügelte man die Beschnittenen, warf sie hinaus. In einer Garküche der Straße Subura verlangte man von einigen Juden, sie sollten Schweinefleisch essen, riß den Widerstrebenden den Mund auf, stopfte ihnen den greulichen, verbotenen Fraß hinein. In der Nähe des Drei-Straßen-Tors stürmte man ein Lager koscherer Fischsaucen, zerbrach die Flaschen, beschmierte den Juden Haar und Bart mit ihrem Inhalt. Übrigens machte die Polizei dem Unfug bald ein Ende.
  Die Herren des Senats, der Diplomatie, der Hochfinanz hatten es wichtig. Zahllose neue Stellen mußten geschaffen und besetzt werden, der Geruch von Beute war in der Luft. Die alten, ausgedienten Generäle belebten sich. Schlichen umeinander herum, belauerten sich, Glanz in den Augen. Das Forum hallte von angeregtem Gelächter, in den Kolonnaden der Livia, des Marsfelds, in den Bädern war Betrieb. Jeder hatte seine Kandidaten, seine Sonderinteressen; selbst die Äbtissin der Vestalinnen ließ sich täglich auf den Palatin tragen, um bei den Ministern ihre Wünsche anzubringen.
  Der Preis des Goldes, der kostbaren Gewebe, der Preis der Leibeigenen auf den Börsen von Delos und Rom fiel, denn man wird in Judäa dergleichen in Masse erbeuten. Der Preis des Getreides zog an, die operierenden Truppen werden viel Nachschub an Proviant benötigen. In den Reedereien war Geschäft, fieberhaft arbeitete man auf den Werften von Ravenna, Puteoli, Ostia. In den Häusern der Herren Claudius Regin und Junius Thrax, im Palais des Senators Marull jagten sich die Kuriere. Diese Herren sahen den Krieg in Judäa mit aufrichtiger Betrübnis. Aber da nun einmal Geschäfte zu machen waren, warum sollten andere den Profit einstreichen?
  Unter den Juden herrschte Verwirrung und Trauer. Man hatte genaue Nachrichten aus Jerusalem, wußte um die Rolle Josefs. War es denkbar, daß dieser Mann, der mit ihnen gelebt hatte, der sich angezogen hatte wie sie, gesprochen wie sie, der wußte, was Rom ist, war es denkbar, daß dieser Doktor Josef Ben Matthias sich an die Spitze eines so aussichtslosen Abenteuers sollte gestellt haben? Claudius Regin ärgerte sich am bittersten über die Herren vom Großen Rat. Wie konnten sie diesen kleinen Essayisten nach Galiläa schicken? Solche Leute läßt man sich in der Literatur austoben, aber nicht in der großen Politik. Mehrere prominente Juden in Rom beeilten sich, der Regierung ihren Abscheu über die Haltung dieser fanatischen Verbrecher in Galiläa auszudrücken. Die Regierung gab den sich abzappelnden Herren beruhigende Versicherungen. Die fünf Millionen Juden außerhalb Judäas, die zerstreut über das Reich wohnten, waren loyale Untertanen, zahlten ihre fetten Steuern. Die Regierung dachte gar nicht daran, sie zu behelligen.
  Schwer trafen die Berichte aus Galiläa den Schauspieler Demetrius Liban. Er war betrübt und gehoben zugleich. Er lud ein paar vertraute jüdische Freunde ein und rezitierte hinter sorgfältig versperrten Türen mehrere Kapitel aus dem Makkabäerbuch. Er hatte immer gewußt, welch großes, inneres Feuer in dem jungen Doktor Josef brannte. Aber niemand auch wußte besser als er, wie töricht und aussichtslos ein Kampf gegen Rom war. Übrigens war vorläufig in Rom er der einzige, der ernstlich unter den Unruhen in Judäa zu leiden hatte. Denn von neuem jetzt erklang durch die Straßen Roms das Hetzwort vom Juden Apella. Schon drang man in ihn, er solle endlich auch öffentlich diese Rolle spielen. Im Fall einer Weigerung wird man ihn ebenso leidenschaftlich beschimpfen, wie man ihn bisher akklamierte.
  Die große Masse der römischen Juden war erschüttert, verstört, verzweifelt. Sie lasen in den Büchern der Propheten: »Ich höre ein Geschrei von einer, die gebiert, ein Gezeter von einer, die in Wehen liegt. Es ist die Tochter Zion, sie schreit und klagt und windet die Hände: Wehe mir, ich muß vergehen vor den Würgern.« Sie lasen, und ihr Herz war voll Angst. Die Häuser schlossen sich, Fasten wurde angesetzt, in allen Synagogen beteten sie. Niemand von den Römern störte den Dienst.
  Einige wenige gab es unter den Juden Roms, die sahen in der Erhebung Judäas das Heil, die Erfüllung der alten Weissagungen vom Erlöser. Zu ihnen gehörte das Mädchen Irene, die Frau des Doktor Licin. Sie hörte stumm mit an, wenn ihr Mann seinen Abscheu äußerte vor diesen verrückten Verbrechern, aber im Innern jubelte sie. Sie hatte sich nicht an ein unwürdiges Gefühl weggeworfen, sie hatte immer gewußt: Josef war ein Großer in Israel, einer aus der Schar der Propheten, ein Soldat Jahves.

Den Kaiser erreichte der Kurier mit der unheilverkündenden Feder an der Lanze in der Hauptstadt der Provinz Griechenland, in dem heitern, jetzt von Festen hallenden Korinth.
  Der junge Weltherrscher hatte sich nie in seinem Leben so glücklich gefühlt. Griechenland, dies kultivierteste Land der Welt, jubelte ihm zu, ehrlich begeistert von seiner Kunst, seiner Liebenswürdigkeit, seiner Leutseligkeit. Und zu wissen, daß diese ganze griechische Reise nur die Einleitung eines viel größeren Unternehmens ist. Jetzt wird er die andere Hälfte der Welt, die edlere, weisere, seiner Hälfte zufügen. Das Werk des größten Mannes vollenden, der je gelebt hat. Beide Hälften der Welt reich machen und glücklich im Zeichen seines kaiserlichen Namens.
  Heute hat er die griechische Reise mit einem großen Unternehmen gekrönt. Hat mit goldenem Spaten den ersten Stich getan, den Isthmus von Korinth zu durchstechen. Morgen wird er die Erbauung dieses Kanals durch ein Festspiel feiern. Er selber hat die Schlußverse geschrieben, in denen der Gott mächtig herschreitet und dem Adler befiehlt, die Flügel zu breiten zu dem großen Flug.
  An diesem Tag, unmittelbar nachdem der Kaiser von der Grundlegung des Kanals in das Palais von Korinth zurückgekehrt war, traf der Kurier ein mit den judäischen Nachrichten. Der Kaiser überlas den Bericht, warf das Schriftstück auf den Tisch, so daß es das Manuskript des Festspiels halb überdeckte. Sein Blick fiel auf die Verse: »Der den Ozean kreisen läßt / Und die Sonne wendet nach seinem Willen.«
  Er stand auf, die Unterlippe vorgeschoben. Es ist der Neid der Götter. Sie gönnen ihm nicht den Alexanderzug. »Der den Ozean kreisen läßt / Und die Sonne wendet nach seinem Willen.« Die ganzen Schlußverse haben nur Sinn als Prolog zum Alexanderzug. Jetzt haben sie keinen Sinn.
  Gessius Flor, der Gouverneur von Judäa, hat sich’s leicht gemacht. Er ist gefallen. Den Cestius Gall wird er natürlich in Ungnaden abberufen. Für dieses freche Judäa taugt kein solcher Schlappschwanz.
  Der Kaiser überlegt. Wen schickt er nach Judäa? Jerusalem ist die stärkste Festung des gesamten Orients, das Volk dort, er weiß es von Poppäa, ist fanatisch, starrsinnig. Der Krieg muß scharf geführt werden. Er darf nicht lange dauern. Länger als um ein Jahr läßt er sich den Alexanderzug unter keinen Umständen hinausschieben. Er braucht für Judäa einen Mann, hart und klar. Und ohne Phantasie. Der Mann muß so sein, daß er die ihm anvertraute Macht nur gegen Jerusalem kehrt, nicht am Ende gegen den Kaiser.
  Wo findet er einen solchen Mann? Man nennt ihm Namen. Sehr wenige. Prüft man sie schärfer, werden es noch weniger. Zuletzt bleibt ein einziger: Mucian. Der Kaiser zwickt mißmutig die Augen zusammen. Auch der Senator Mucian ist nur mit Vorsicht zu gebrauchen. Der Kaiser erinnert sich gut. Ein kleiner Herr, ausgemergelt von vielen Vergnügungen, scharffaltiges Gesicht, sehr gepflegt. Da er leicht hinkt, trägt er einen Stock; gewöhnlich aber hält er ihn mit der einen Hand hinterm Rücken, was dem Kaiser auf die Nerven geht. Auch sein ständiges Gesichtszucken kann der Kaiser nicht vertragen. Gewiß, Mucian hat einen hellen, scharfen Verstand, er wird mit der aufrührerischen Provinz rasch fertig werden. Aber der hemmungslos ehrgeizige Mann, schon einmal gestürzt und wieder hochgekommen, jetzt an der Schwelle des Alters, kann sich, gibt man ihm Macht, leicht verführen lassen, gefährliche Experimente anzustellen.
  Der Kaiser seufzt unbehaglich, setzt sich wieder vor das Manuskript des Festspiels. Streicht mißmutig darin herum. Der die Sonne wendet. Gerade die besten Verse müssen fallen. Er kann es jetzt nicht mehr darauf ankommen lassen, den Schluß einem Schauspieler anzuvertrauen, er muß selber den Gott spielen. Nein, er darf diesem Mucian nicht zuviel Macht geben, man soll niemand versuchen. Es ist spät in der Nacht geworden. Er findet die Konzentration nicht, um die Bruchstellen zurechtzulöten, die durch die Streichungen in den Schlußversen des Gottes entstanden sind. Er schiebt das Manuskript zur Seite. Im Schlafrock schlurft er hinüber ins Zimmer seiner Freundin Calvia. Verdrießlich, das gedunsene Gesicht schweißüberdeckt, leicht seufzend, hockt er an ihrem Bett. Wägt nochmals das Für und Wider. Das und jenes spricht für Mucian. Also schick ihn, sagt Calvia. Das und jenes spricht gegen Mucian. Also schick ihn nicht. Vielleicht findet man doch noch einen andern. Der Kaiser will nicht länger darüber nachdenken. Er hat die Argumente zur Genüge gewälzt; jetzt bleibt es Sache der Erleuchtung, des Glückes, seines Glückes. Er wird sich jetzt nur mehr mit dem Festspiel beschäftigen. Morgen, nach dem Festspiel, wird er sich entscheiden.
  In Rom warten sie gespannt auf die Entscheidung.
  Sie fiel schon, bevor das Festspiel zu Ende war. In seiner Garderobe, während der Kaiser in der schweren Maske und in den hohen Schuhen des Gottes dasaß und auf seinen Auftritt wartete, kam ihm die Erleuchtung. Ja, er wird den Mucian ernennen: aber er wird ihn nicht allein ernennen, er wird ihm einen zweiten Mann beigeben, damit der ihn kontrolliere. Er weiß auch schon, wen. Da treibt sich die ganze Zeit ein alter General in seiner Umgebung herum, der immer nur an die höchsten Ämter hingerochen hat, um dann, kaum oben, sogleich wieder herunterzupurzeln; es hängt wegen seines ständigen Pechs schon ein leiser Geruch von Komik um ihn. Vespasian heißt er. Er sieht mehr einem Geschäftsmann vom Lande gleich als einem General; aber er hat sich im englischen Feldzug bewährt und gilt als ausgezeichneter Militär.
  Der Bursche hat dem Kaiser allerdings Ärgernis gegeben. Immer schon hat er nur mühsam versteckt, wie schwer ihm bei den Rezitationen des Kaisers das Zuhören fiel, und unlängst, vor drei Tagen, ist er einfach eingeschlafen; ja, während der Kaiser die schönen Verse der Danae von den windgeschaukelten Blättern sprach, hat er unmißverständlich geschnarcht. Der Kaiser hat erst daran gedacht, ihn zu bestrafen, aber eigentlich hat er mehr Mitleid mit dem Wicht, dem die Götter die Organe für das Höhere versagt haben. Er hat bis jetzt nichts gegen ihn unternommen. Nur nicht mehr vorgelassen hat man den Burschen. Heute und gestern hat der Kaiser ihn an seinem Weg stehen sehen, fern, bedrückt und beflissen. Ja, das ist sein Mann. Der wird schwerlich auf allzu dreiste Gedanken kommen. Den schickt er nach Judäa. Erstens hat er dann die Fratze des Kerls auf lange Zeit aus den Augen, und zweitens ist dieser pfiffig vierschrötige Mensch gerade der richtige, um dem eleganten Mucian scharf auf die Finger zu sehen. Er wird die Vollmachten teilen, den Mucian zum Generalgouverneur von Syrien, den Vespasian zum Feldmarschall in Judäa ernennen. Der eine wird keine militärischen, der andere keine politischen Befugnisse haben, und sie werden jeder der Spion des andern sein.
  Der Kaiser, trotz der schweren, heißen Maske des Gottes, lächelt. Wirklich, das ist eine ausgezeichnete Lösung, das ist die Erleuchtung. Er tritt auf die Bühne, er spricht die hallenden Verse des Gottes. Die Rolle ist kurz geworden: aber noch


nie, scheint ihm, hat er so vollendet gesprochen wie heute. Er hat seinen Beifall verdient.



  Der General T. Fl. Vespasian kam von dem Festspiel zurück in das Vorstadthäuschen, das er dem Kaufmann Laches für die Dauer seines Aufenthalts in Korinth abgemietet hatte. Er legte den Mantel ab und die Galatracht, fluchte, weil der Diener das sorgsam geschonte Kleid nicht vorsichtig genug zusammenfaltete, zog einen saubern, etwas abgetragenen Hausanzug an, darunter dicke Unterwäsche; denn es war ein ziemlich kalter Vorfrühlingstag, und er war immerhin achtundfünfzig Jahre alt und spürte schon wieder seinen Rheumatismus.
  Unmutig, die starken Falten der breiten Stirn vertieft, das ganze runde Bauerngesicht finster, trotz des zusammengepreßten langen Mundes laut und verdrießlich atmend, stapfte er hin und her. Die Festvorstellung war für ihn sehr unfestlich verlaufen. Eisiges Schweigen war, wohin er sich wandte, kaum daß man seine Grüße erwidert hatte, und der Kammerherr Gortyn, dieser geleckte Schweinehund, hatte auf seine Frage, ob er Aussicht habe, der Majestät in den nächsten Tagen seine Aufwartung machen zu dürfen, in seinem frechen Provinzgriechisch erwidert: »Fressen Sie Ihren eigenen Mist.«
  Wenn er sich’s überlegte, blieb ihm wirklich nichts anderes übrig. Daß ihm diese blöde Geschichte vor drei Tagen hatte passieren müssen. Jetzt war die ganze kostspielige griechische Reise zwecklos. Dabei war die Geschichte bei der kaiserlichen Rezitation nur halb so schlimm gewesen. Eingeschlafen war er, das gab er zu. Aber geschnarcht hat er nicht, das ist eine freche Verleumdung dieses Hundesohns von Kammerherrn. Er hat nur von Natur einen so lauten Atem.
  Der alte General schlug mit den Armen um sich, um warm zu werden. Wie immer, zum Kaiser vorgelassen wurde er bestimmt nie mehr, das hat er heute im Theater auch ohne Brille erlinsen können. Er durfte froh sein, wenn man ihm keinen Majestätsbeleidigungsprozeß an seinen angeblichen Schnarchhals hängte. Es war schon das beste, still auf sein italienisches Besitztum zurückzureisen.
  An sich ist es ihm nicht einmal unwillkommen, daß er jetzt seine Tage in Ruhe beschließen soll. Von allein hätte er niemals seine alten Knochen zusammengerissen und wäre dem Kaiser nach Griechenland nachgefahren, um es ein letztes Mal zu versuchen. Es war nur, weil die Dame Cänis, seine Freundin, keine Ruhe gegeben hat. Nie haben sie ihm seinen guten, bäuerlichen Frieden gelassen. Immer wieder haben sie auf ihn eingehetzt, bis er hinaufgeklettert und glücklich wieder heruntergefallen war.
  Begonnen hat das schon in seiner Jugend, und schuld daran war der verfluchte Bauernaberglaube seiner Mutter. Daß bei seiner Geburt eine alte, heilige Eiche des Mars einen neuen, unwahrscheinlich üppigen Wurzelschößling trieb, hatte die handfeste Dame als sicheres Glückszeichen genommen: ihr Sohn, das war vom Schicksal bestimmt, wird mehr erreichen als die Steuerpächter, Provinzbankiers und Linienoffiziere, von denen er abstammt. Er selber hatte von Kind auf Freude an ländlicher Ökonomie gehabt, er wäre am liebsten sein ganzes Leben lang auf dem Gut seiner Eltern geblieben, mit bäuerlich ausgeprägtem Finanzsinn die Produkte dieses Besitztums verwertend. Aber seine resolute Mutter hatte nicht abgelassen, bis sie auch ihm ihren unverwüstlichen Glauben an seine große Zukunft einpflanzte und ihn gegen seinen Willen in die politisch-militärische Karriere hineintrieb.
  Der alte General, wenn er an alle die Fehlschläge dachte, die diese Karriere ihm gebracht hat, schnaubte heftiger, preßte die langen Lippen fester zusammen. Dreimal hintereinander war er durchgefallen. Schließlich, mit Ach und Krach, hatte er es zum Bürgermeister der Hauptstadt gebracht. Zwei Monate ging alles vortrefflich. Seine Polizei funktionierte, der Sicherheitsdienst bei den sportlichen Veranstaltungen und in den Theatern klappte ausgezeichnet, Nahrungszufuhr und Märkte waren gut geregelt, die Straßen Roms waren mustergültig gehalten. Aber ausgerechnet bei der Straßenhaltung erwischte es ihn. Den Kaiser Claudius, und zwar gerade da, als er auswärtigen Gesandten seine Hauptstadt zeigen wollte, trieb eine unselige Laune, eine der wenigen schlechtgepflegten Nebenstraßen zu nehmen, und der ganze feierliche Zug blieb im Schmutz stecken. Kurzerhand und exemplarisch ließ der Kaiser dem Bürgermeister Vespasian, den er unter sein Gefolge befohlen hatte, das Galakleid über und über mit Kot und Pferdeäpfeln beschmieren.
  Der General Vespasian, wie er an jene Sache dachte, verzog das schlaue Bauerngesicht, schmunzelte. Die Affäre damals war dennoch günstig abgelaufen. Er mußte, vor allem wohl durch die Haltung seiner kotgefüllten Ärmel, einen kläglich spaßhaften Eindruck gemacht haben, und offenbar hatte sich dem Kaiser dieser jämmerlich komische Anblick als etwas Erfreuliches ins Gehirn geprägt. Jedenfalls hatte er, Vespasian, weiterhin nichts von Ungnade bemerkt, eher das Gegenteil. Für Würde hatte er nie viel übrig gehabt, und von jetzt an stellte er zielbewußt im höchsten Kollegium des Reichs, im Senat, mit unschuldiger Miene Anträge von so clownhafter Servilität, daß selbst diese abgebrühte Körperschaft nicht wußte, sollte sie lachen oder weinen. Jedenfalls hatte sie seine Anträge angenommen.
  Wenn er heute, nach so vielen Jahren, nachprüfte, was er getan und was er unterlassen hatte, konnte er sich keine Inkonsequenz vorwerfen. Er hatte Domitilla geheiratet, die abgelegte Freundin des Ritters Capella, und war durch die Schiebungen und Beziehungen dieses sehr geschickten Herrn mit dem Minister Narziß ins Geschäft gekommen, dem Favoriten des Kaisers Claudius. Das war ein Mann nach seinem Herzen. Mit dem konnte man gut lateinisch reden. Er verlangte Provision, aber er ließ einen tüchtigen Mann auch verdienen. Es waren gute Zeiten gewesen, als Narziß ihn als General nach dem unruhigen England schickte. Dort waren die Feinde nicht snobistische Höflinge, die einen mit dunkeln Intrigen bekämpften, sondern sehr reale Wilde, auf die man schießen und einhauen konnte, und es waren handgreifliche Dinge, Land, Küsten, Wälder, Inseln, die es zu erobern galt und die man eroberte. Das war die Zeit gewesen, wo er der Prophezeiung der heiligen Eiche am nächsten kam. Man konzedierte ihm, als er zurückgekehrt war, einen offiziellen Triumph und auf zwei Monate das höchste Ehrenamt des Staates.
  Der General hauchte sich die Finger an, um sie warm zu
bekommen, rieb sich den Handrücken. Dann natürlich, nach diesen zwei Monaten, da er sehr hoch hinaufgeklettert war, war er um so tiefer heruntergestürzt. Das war nun einmal Bestimmung. Ein neuer Kaiser, neue Minister kamen, er fiel in Ungnade. Inzwischen war auch seine Mutter gestorben, und jetzt, da ihr energischer Glaube ihn nicht mehr spornte, hatte er gehofft, bis an sein Ende in tätiger Stille weiterzuleben. Behaglich hatte er sich aufs Land gesetzt, ohne Neid auf seinen Bruder Sabin, der hoch hinaufgelangt war und seine Höhe gleichmäßig wahrte.
  Da aber war die Dame Cänis in sein Leben getreten. Sie war von unten heraufgekommen, die Tochter von Leibeigenen, die Kaiserinmutter Antonia hatte das geweckte Mädchen ausbilden lassen und zu ihrer Sekretärin gemacht. Sie hatte Verständnis für das, was Vespasian vom Leben wollte, für seine Art. Wie er gab sie keinen Strohhalm für Feierlichkeit und Würde, dafür hatte sie wie er Spaß an derben Witzen und soldatisch grader Schlauheit; wie er rechnete sie rasch und nüchtern, wie er lachte sie und ärgerte sich über seinen steifen Bruder Sabin. In sie aber hatte sich auch, seufzend und beglückt mußte er das bald konstatieren, der starke Glaube seiner Mutter an seine Bestimmung gesenkt, sehr viel tiefer als in ihn selber. Sie hetzte ihn, bis er sich ächzend und fluchend nochmals aus seinem friedlichen Landleben in den lärmvollen Betrieb Roms hineinschmiß. Diesmal erraffte er sich das Gouvernement der Provinz Afrika. Ein Amt, das ihm unter den nicht spärlichen bösen Jahren seines Lebens das böseste brachte. Die reiche Provinz nämlich, die Massen nicht weniger als die snobistischen großen Herren, wollten einen repräsentativen Gouverneur haben, nicht ihn, den plumpen Bauern. Man sabotierte seine Maßnahmen. Wo er sich zeigte, kam es zu Krawallen. In der Stadt Hadrumet bewarf man ihn mit faulen Rüben. Er hätte die faulen Rüben nicht mehr übelgenommen als seinerzeit unter Kaiser Claudius die Pferdeäpfel, aber leider hatte diese Demonstration sehr spürbare praktische Folgen: er wurde abberufen. Ein harter Schlag, denn er hatte sein ganzes Vermögen in der Provinz investiert, in dunkeln Geschäften, aus denen der Gouverneur der Provinz sehr viel Geld hätte herausholen können, der Privatmann gar nichts. Da stand er mit seinem Finanztalent. Zurückgekehrt auf die Güter, die ihm und seinem Bruder gemeinsam gehörten, mußte er bei dem hochnäsigen Sabin eine riesige Hypothek aufnehmen, um die drückendsten Verpflichtungen loszuwerden. In jenem ganzen Jahr hatte der lustige Mann ein einziges Mal Anlaß zum Lachen. Die Provinz Afrika setzte ihm einen ironischen Denkstein: dem ehrlichen Gouverneur. Er schmunzelte noch jetzt, wenn er an dieses einzig positive Resultat seiner Tätigkeit in Afrika dachte.
  Seither war alles schiefgegangen. Er hatte das Speditionsgeschäft aufgemacht und sich, unterstützt von der resoluten Cänis, mit der Vermittlung von Ämtern und Adelstiteln befaßt. Er hatte sich aber über einer bedenklichen Schiebung erwischen lassen und war wieder nur durch Eingreifen seines unangenehmen Herrn Bruders schwerer Bestrafung entgangen. Er war jetzt achtundfünfzig Jahre alt, kein Mensch mehr dachte daran, daß er immerhin einmal auf einem Triumphwagen über das Forum gezogen war und das Konsulat bekleidet hatte. Wo er sich zeigte, grinste man und sprach von faulen Rüben. Man nannte ihn nur den Spediteur. Sein Bruder Sabin, jetzt Polizeipräsident von Rom, verzog das Gesicht, wenn sein Name fiel, und sagte sauer: »Schweigen Sie. Es riecht nach Pferdeäpfeln, wenn man von diesem Spediteur spricht.«
  Jetzt, nach dem Fehlschlag in Griechenland, war es wohl endgültig aus. Eigentlich war es gut, daß er wenigstens den schäbigen Rest seines Lebens nach seinem Wohlgefallen wird verbringen können. Gleich morgen wird er die Rückreise antreten. Vorher noch wird er hier in Korinth mit dem Kaufmann Laches abrechnen, der ihm das Haus vermietet hat. Der tut, als sei es eine Gnade, wenn er den abgetakelten General gegen teures Geld in seinem Hause duldet. Vespasian freut sich darauf, es dem feinen, gezierten Griechen, der ihn hinten und vorn begaunert, auf derbe, gutrömische Art zu zeigen. Dies besorgt, wird er vergnügt nach Italien zurückfahren, wird ein halbes Jahr auf seinem Gut bei Cosa wohnen, ein halbes Jahr auf seinem Gut bei Nursia, wird Maultiere züchten und seine Oliven pflegen, wird mit den Nachbarn Wein trinken und Witze machen, wird sich nachmittags mit Cänis oder mit einer von seinen Mägden vergnügen. Und dann, in fünf Jahren oder in zehn, wenn man seine Leiche verbrennt, wird Cänis viele ehrliche Tränen weinen, Sabin wird froh sein, daß er seinen kompromittierenden Bruder los ist, die übrigen Trauergäste werden schmunzelnd von Pferdeäpfeln und faulen Rüben flüstern, und der üppige junge Trieb der heiligen Eiche wird sich umsonst angestrengt haben.
  Titus Flavius Vespasian, Exkommandant einer römischen Legion in England, Exkonsul von Rom, Exgouverneur von Afrika, abgetakelt, bei Hof in Ungnade, ein Mann mit einer Million einhunderttausend Sesterzien Schulden und von dem Kammerherrn Gortyn aufgefordert, seinen eignen Mist zu fressen, war mit seiner Bilanz fertig. Er war zufrieden. Er wird jetzt auf die Reederei gehen und mit diesen betrügerischen Griechen um den Preis der Rückreise herumfeilschen. Dann wird er Cänis vor den Hintern stoßen und sagen: »Na, alter Hafen, jetzt ist es soweit. Von jetzt an lockst du mich bestimmt nie wieder hinterm Ofen hervor, und wenn du das Bein noch so hochhebst.« Ja, im Grunde war er froh. Mit einem vergnügten Ächzen warf er sich den Mantel um.
  In der Vorhalle kam ihm der Kaufmann Laches entgegen, bestürzt geradezu, ungewöhnlich höflich, voll Verbeugungen und Beflissenheit. Hinter ihm, gravitätisch, mit feierlichem, offiziellem Gesicht, ein kaiserlicher Kurier, den glückkündenden Lorbeer auf seinem Botenstab.
  Der Kurier streckte die Lanze vor, erwies die Ehrenbezeigung. Sagte: »Botschaft Seiner Majestät an den Konsul Vespasian.«
  Vespasian hatte seinen verblaßten Titel lange nicht mehr gehört, überrascht nahm er das versiegelte Schreiben, schaute nochmals nach dem Stab des Boten. Es war der Lorbeer, nicht die Feder; es konnte sich nicht um jenes unselige Einschlafen bei der Rezitation handeln. Sehr unfeierlich, in Gegenwart des neugierigen Laches und des Kuriers, erbrach er das Siegel. Seine langen Lippen gingen auseinander, der ganze, runde, breite Bauernschädel verfältelte sich, grinste. Er schlug dem Kurier derb auf die Schulter, schrie: »Laches, alter Gauner, geben Sie dem Kerl drei Drachmen Trinkgeld. Oder halt, zwei genügen.« Er lief, den Brief schwenkend, hinauf ins obere Stockwerk, haute seiner Freundin Cänis den Hintern, dröhnte: »Cänis, alter Hafen, wir haben’s geschafft.«
  Die Dame Cänis und er pflegten auch ohne Worte aufs Haar genau zu wissen, was jeweils der andere dachte und spürte. Dennoch, jetzt schwatzten sie aufeinander ein. Packten sich bei den Schultern, lachten sich ins Gesicht, lösten sich wieder, stapften durchs Zimmer, jetzt jeder für sich, jetzt wieder zusammen. Mochte sie hören, wer wollte, unbekümmert stülpten sie ihr Inneres heraus.
  Donner und Jupiter! Diese Reise hat gelohnt. Niederwerfung der aufrührerischen Provinz Judäa, das war eine handliche Sache, wie zugeschnitten für Vespasians Begabung. Mit so utopischem Zeug wie dem Alexanderzug mochten sich geniale Strategen abgeben, Corbulo oder Tiber Alexander. Er, Vespasian, zog sich den Mantel über die Ohren, wenn von so windigen, imperialistischen Projekten die Rede war. Aber bei so einer deftigen Sache wie diesem Feldzug in Judäa, da ging einem alten General das Herz auf. Jetzt konnten die Herren Marschälle warten, und er war der Dotter im Ei. Diese gesegneten Juden. Ein Bravo für sie, und nochmals bravo! Schon längst hätten sie aufbegehren müssen.
  Er ist ungeheuer vergnügt. Die Dame Cänis beauftragt den Kaufmann Laches, Vespasians Lieblingsspeisen aufzutreiben, und wenn sie noch so teuer sind. Auch soll er für den Nachmittag ein besonders leckeres, nicht zu mageres Mädchen beschaffen, mit dem sich Vespasian vergnügen kann. Aber es scheint, Vespasian hat für diese Aufmerksamkeiten kaum mehr Sinn, er hat sich an die Arbeit gemacht. Schon ist er nicht mehr der alte Bauer, sondern der General, der Feldherr, der mit nüchternem Sinn an die Lösung seiner Aufgabe herangeht. Die syrischen Regimenter sind schweinemäßig verlottert; er wird den Kerls beibringen, was römische Disziplin heißt. Wahrscheinlich wird ihm die Regierung die Fünfzehnte Legion aufhängen wollen, die man jetzt nach Ägypten geworfen hat. Oder die Zweiundzwanzigste, weil sie ohnedies für diesen windigen Alexanderzug in Marsch gesetzt ist. Aber damit wird er sich nicht abspei sen lassen. Man wird mit dem Militärkabinett um jeden einzelnen Mann feilschen müssen. Aber er wird sich nicht scheuen, wenn es nötig ist, auf den Tisch zu hauen und den Herren klar und deutlich Bescheid zu sagen. Meine Herren, wird er sagen, hier geht es nicht gegen primitive Wilde wie die Deutschen, hier geht es gegen ein militärisch durchorganisiertes Volk.
  Er wird noch heute im Palais vorsprechen. Schmunzelnd steckt er seine alten Knochen in die Galauniform, von der er noch vor drei Stunden glaubte, er werde sie niemals mehr benötigen.
  In der kaiserlichen Residenz empfängt ihn der Kammerherr Gortyn. Er streckt ihm den Arm mit der flachen Hand entgegen, offiziell grüßend. Ein kurzes, steifes Gespräch. Ja, der Herr General kann Seine Majestät sehen, in einer Stunde etwa. Und der Gardepräfekt? Der Herr Gardepräfekt steht ihm sogleich zur Verfügung. Leichthin, gemütlich, wie er an dem Kammerherrn Gortyn vorbeigeht, um mit dem Gardepräfekten zu konferieren, meint Vespasian: »Na, mein Junge, wer frißt jetzt seinen eigenen Mist?«

Zu schnell verging der Winter, ein guter Winter für Josef. Er arbeitete fieberhaft. Er verhöhnte die Technik der Römer, aber er verschmähte nicht, sie nachzuahmen. Er hatte mit hellem Kopf in Rom Erfahrungen gesammelt, er hatte Ideen. Er riß alles Kleinliche aus seinem Herzen, es galt ihm nur eines: die Verteidigung vorzubereiten. Sein Glaube wuchs. Babel, Ägypten, das Königtum der Seleukiden, waren sie nicht ebenso mächtige Reiche gewesen wie Rom? Und dennoch hatte Judäa ihnen standhalten können. Was ist die stärkste Armee vor dem Atem Gottes? Er bläst sie übers Land wie leere Spreu und ihre Kriegsmaschinen ins Meer wie taube Nüsse.
  In den Städten, in den Hallen der Synagogen, an den großen Versammlungsorten, in den Rennbahnen von Tiberias und Sepphoris oder auch unter freiem Himmel sammelte Josef die Massen um sich. »Marin, Marin! Unser Herr, unser Herr«, riefen sie ihm zu. Und er, hager und schmal stand er vor der großen Landschaft, stieß das Gesicht mit den glühenden Augen vor, riß sich, die Hände hochgeworfen, dunkle, mächtige Worte der Zuversicht aus der Brust. Dieses Land hat Jahve geheiligt, jetzt ist der römische Aussatz und Würmerfraß darübergekommen. Er muß zertreten, zertilgt, ausgemerzt muß er werden. Worauf vertrauen diese Römer, daß sie so frech herwandeln? Sie haben ihre Armee, ihre lächerliche »Technik«. Man kann sie genau messen, ihre Legionen, sie haben zehntausend Mann eine jede, zehn Kohorten, sechzig Kompanien, dazu fünfundsechzig Geschütze. Israel hat seinen Gott Jahve. Der ist gestaltlos, man kann ihn nicht messen. Aber vor seinem Haus zerknicken die Belagerungsmaschinen, und die Legionen schmelzen in den Wind. Rom hat Macht. Aber seine Macht ist schon vorbei, denn es hat die dreiste Hand ausgestreckt gegen Jahve und seinen Erwählten, an dem er so lange Wohlgefallen hat, gegen seinen Erstgeborenen, seinen Erben: Israel. Die Zeit ist erfüllt, Rom ist gewesen, das Reich des Messias aber wird sein, es steigt herauf. Er wird kommen, heute, morgen; vielleicht ist er schon da. Es ist unausdenkbar, daß ihr, mit denen Jahve den Bund geschlossen hat, in diesem seinem Land die Geduldeten sein sollt und die Schweinefresser die Herren. Laßt sie ihre Legionen heranbringen auf Meerschiffen und durch die Wüste. Glaubt und kämpft. Sie haben ihre Kompanien und ihre Maschinen: ihr habt Jahve und seine Heerscharen.

Der Winter verging, ein herrliches Frühjahr strahlte über den Weinbergen, den Oliventerrassen, den Maulbeerfeigenhainen Galiläas. Der Strand des Sees Genezareth um die Stadt Magdala, wo Josef noch immer sein Hauptquartier hatte, war schwer von Blüte und Duft. Die Menschen atmeten leicht und gut. In diesen strahlenden Frühlingstagen kamen die Römer.
  Erst lugten ihre Vorhuten ins Land, vom Norden her und von den Küstenstädten her, nicht mehr wichen sie den plänkelnden Vortruppen des Josef aus, und dann wälzte es sich heran, drei ganze Legionen mit Roß und Wagen und starken Kontingenten der Vasallenstaaten. Voraus Leichtbewaffnete, Schützenregimenter, Erkundungstruppen. Dann die ersten Abteilungen Schwerbewaffneter. Dann Pioniere, um höckerige Stellen der Straße abzutragen, schwierige Stellen zu ebnen, Buschwerk zu entfernen, auf daß die marschierende Truppe nicht behindert sei. Dann der Train des Marschalls und des Generalstabs, die Garde des Feldherrn und er selber. Dann die Kavallerie und die Artillerie, die gewaltigen Belagerungsmaschinen, die Widder, die vielbestaunten Geschütze, die Ballisten und die Katapulte. Dann die Feldzeichen, die göttlich verehrten Adler. Dann das Gros der Armee in Reihen zu sechs Mann. Schließlich die riesige Bagage der Truppen, ihre Proviantkolonnen, ihre Juristen und Kassenbeamten. Und ganz am Ende ein Troß von Zivilisten: Diplomaten, Bankiers, zahllose Kaufleute, Juweliere vornehmlich und Makler der Leibeigenen, Auktionatoren für die Beute, Privatkuriere für die Diplomaten und Großkaufleute des Reichs, Weiber.
  Es wurde sehr still im Land, als die Römer heranrückten. Viele Freiwillige verliefen sich. Langsam, unausweichlich marschierte die Armee vor. Planmäßig säuberte Vespasian Galiläa, das Land, die Küste und das Meer.
  Das Westufer des Sees Genezareth zu befrieden wäre eigentlich Sache des Königs Agrippa gewesen; denn dieser Landstrich mit den Städten Tiberias und Magdala gehörte ihm. Aber der elegante König war von bequemer Gutmütigkeit; es ging ihm gegen den Strich, die Gewalttaten, die die notwendige Züchtigung der Aufständischen mit sich bringen mußte, selber vorzunehmen. Vespasian erfüllte also die Bitte des befreundeten, Rom tatkräftig ergebenen Fürsten und übertrug seiner eigenen Armee die Strafexpedition. Tiberias unterwarf sich ohne Widerstand. Die wohlbefestigte Stadt Magdala versuchte, sich zu verteidigen. Aber sie konnte sich gegen die Artillerie der Römer nicht lange halten; Verrat im Innern tat das übrige. Viele der Aufständischen flüchteten, als die Römer in die Stadt drangen, hinaus auf den großen See Genezareth. Sie okkupierten die ganze kleine Fischerflotte, so daß die Römer gezwungen waren, sie auf Flößen zu verfolgen. Das war eine groteske Seeschlacht, bei der es auf seiten der Römer viel Gelächter, auf seiten der Juden sehr viele Tote gab; denn rings die Ufer waren besetzt. Die Römer brachten die leichten Kähne zum Kentern, und es gab interessante Jagden der schwerfälligen Flöße auf die Ertrinkenden. Die Soldaten beschauten sich mit Interesse das Gezappel der Schiffbrüchigen, sie schlossen Wetten ab, ob einer es vorziehe, im See unterzugehen oder sich von ihnen umbringen zu lassen. Und sollte man sie mit Pfeilen töten oder abwarten, bis sie sich doch an das Floß anklammern, und ihnen dann die Hände abhauen? Der schöne See, berühmt um seines Farbenspiels willen, war an diesem Tag einfarbig rot, seine Ufer, berühmt um ihres Wohlgeruchs willen, stanken viele Wochen hindurch nach Leichen, sein gutes Wasser war verdorben, seine Fische aber wurden fett in den nächsten Monaten und schmeckten den Römern gut. Die Juden hingegen, auch der König Agrippa, versagten es sich Jahre hindurch, Fische aus dem See Genezareth zu essen. Auch sang man später ein Lied unter den Juden, das begann: Weithin ist der See rot von Blut in der Nähe von Magdala, weithin ist der Strand voll Leichen in der Nähe von Magdala. Eine genaue Zählung ergab schließlich, daß bei diesem Seegefecht viertausendzweihundert Juden umgekommen waren. Was dem Hauptmann Sulpiz viertausendzweihundert Sesterzien einbrachte. Denn er hatte gewettet, daß die Zahl der Toten mehr als viertausend betragen werde. Wäre sie darunter geblieben, dann hätte er viertausend Sesterzien zahlen müssen und dazu so viele Sesterzien, als die Zahl der Toten unter viertausend blieb.
  Zwei Tage später berief Vespasian seine Herren zu einem Kriegsrat. Von den meisten Einwohnern der Stadt konnte man eindeutig feststellen, ob sie sich friedfertig gehalten hatten oder nicht. Was aber sollte mit den vielen gefangenen Flüchtlingen geschehen, die sich von außerhalb, überallher aus Galiläa, in die wohlbefestigte Stadt geworfen hatten? Es waren ihrer an achtunddreißigtausend. Zu ermitteln, wieweit jeder einzelne ein Rebell war, machte zuviel Umstände. Sie einfach freizulassen, waren sie zu verdächtig. Sie in langer Gefangenschaft zu halten war zu beschwerlich. Andernteils hatten sie sich den Römern ohne Widerstand auf Treu und Glauben ergeben, und sie ohne weiteres niederzumetzeln, fand Vespasian nicht fair.
  Die Herren seines Kriegsrats aber kamen nach einigem Hin und Her zu der einmütigen Überzeugung, den Juden gegenüber sei alles erlaubt, und wenn sich nicht beides ver binden lasse, müsse man das Nützliche dem Anständigen vorziehen. Vespasian machte sich nach einigem Zögern diese Ansicht zu eigen. Er bewilligte den Gefangenen in zweideutigem, schwer verständlichem Griechisch Schonung, gab ihnen aber für den Abzug nur die Straße nach Tiberias frei. Die Gefangenen glaubten gern, was sie wünschten, und zogen auf dem vorgeschriebenen Wege ab. Die Römer aber hatten die Straße nach Tiberias besetzt und duldeten nicht, daß einer einen Nebenweg einschlage. Als die achtunddreißigtausend die Stadt erreicht hatten, wurden sie in die Große Rennbahn gewiesen. Gespannt hockten sie und warteten, was der römische Feldherr ihnen sagen werde. Alsbald erschien Vespasian. Er gab Weisung, diejenigen, die über fünfundfünfzig Jahre waren, sowie die Kranken auszusondern. Viele drängten sich unter diese Ausgesonderten, denn sie glaubten, die andern würden zu Fuß, sie aber auf Wagen in ihre Heimat transportiert werden. Das war ein Irrtum. Vespasian ließ sie, als die Auslese vollzogen war, niederhauen; zu anderem waren sie unverwendbar. Aus den übrigen ließ er die sechstausend Kräftigsten aussuchen und schickte sie mit einem höflichen Brief dem Kaiser nach Griechenland für die Arbeiten an dem Kanal von Korinth. Den Rest ließ er für Rechnung der Armee als Leibeigene verauktionieren. Einige Tausend auch schenkte er dem Agrippa.
  Es waren nun im Lauf der Unruhen schon hundertneuntausend Juden als Leibeigene verauktioniert worden, und der Preis der Leibeigenen begann bedenklich zu sinken; in den östlichen Provinzen sank er von durchschnittlich zweitausend Sesterzien auf dreizehnhundert pro Stück.


Von einem Mauerturm der kleinen, starken Bergfestung Jotapat aus sah Josef, wie nun auch die Zehnte Legion anrückte. Schon vermaßen die Militärgeometer den Platz für das Lager. Josef kannte sie, diese römischen Lager. Wußte, wie die Legionen durch die Übung von Jahrhunderten gelernt hatten, an jedem Tag, da sie haltmachten, solche Lager zu schlagen. Wußte, zwei Stunden nach Beginn der Arbeit wird das Ganze fertig dastehen. Zwölfhundert Zelte für je eine Legion, Straßen dazwischen, Wälle, Tore und Türme ringsum, eine gutbefestigte Stadt für sich.

  Finster und in Bereitschaft hatte Josef zugeschaut, wie die Römer langsam in großem Kreis angerückt waren, wie sie die Berge ringsum besetzt hatten, vorsichtig in die Schluchten und Täler vorgestoßen waren. Nun also hatten sie die Zange geschlossen.
  Es waren jetzt außer diesem Jotapat von ganz Galiläa nur mehr zwei feste Plätze in der Hand der Juden: der Berg Tabor und Gischala, wo Johann kommandierte. Nahmen die Römer diese drei Plätze, dann stand ihnen der Weg nach Jerusalem offen. Die Führer hatten beschlossen, die Festungen so lange wie möglich zu halten, sich selber aber im letzten Augenblick nach der Hauptstadt durchzuschlagen; dort hatte man große Mengen von Miliz, aber wenig Führer und Organisatoren.
  Josef, als er sah, daß jetzt auch die Zehnte Legion vor seiner Festung stand, spürte eine Art grimmiger Freude. Der General Vespasian war kein nervöser Cestius Gall, er hatte nicht eine, sondern drei Legionen bei sich, vollwertige, die Fünfte, die Zehnte und die Fünfzehnte, schwerlich wird Josef einen der drei Goldenen Adler erbeuten, die diese Legionen mit sich führen. Aber auch seine Festung Jotapat hat gute Mauern und Türme, sie liegt hoch und erfreulich steil, er hat gewaltige Massen von Lebensmitteln, seine Leute, vor allem die Mannschaften des Sapita, sind gut in Form. Der Marschall Vespasian wird sich anstrengen müssen, ehe er die Mauern dieser Festung schleifen und die Gesetzesrollen ihres Bethauses fortschleppen kann.
  Vespasian unternahm keine Attacke. Sein Heer lagerte untätig wie ein Klotz, allerdings auch fest wie ein Klotz. Vermutlich wollte er warten, bis Josef verzweifelt aus seinem Loch herausbrechen oder an Entkräftung verrecken würde.
  Auf Schleichwegen gelangte ein Schreiben aus Jerusalem an Josef. Die Hauptstadt, teilte sein Vater Matthias mit, werde ihm keine Entsatztruppen schicken. Doktor Eleasar Ben Simon zwar habe die Sendung von Entsatz dringlich verlangt. Aber es gebe Leute in Jerusalem, die Jotapat nicht ungern fallen sähen, wenn nur auch Josef mit umkomme. Er solle die Festung übergeben, die sich ohne Hilfe von außen keine zwei Wochen halten könne. Josef überlegte trotzig. Man war im Mai. Wenn Jotapat sich bis in den Juli hinein halten kann, dann wird es vielleicht für die Römer zu spät im Jahr sein, vor Jerusalem zu rücken. Begreifen sie das nicht, die in der Quadernhalle? Dann wird eben er die verblendete Stadt gegen ihren Willen retten. Er schrieb seinem Vater zurück, nicht zwei Wochen, sondern sieben mal sieben Tage werde er Jotapat halten. Sieben mal sieben Tage: die Worte waren ihm wie von selbst gekommen. Mit so traumhafter Sicherheit mochten vordem die Propheten ihre Gesichte verkündet haben. Aber Josefs Brief gelangte nicht an seinen Vater. Die Römer fingen ihn ab, und die Herren des Generalstabs lachten über den großmäuligen jüdischen Kommandanten: es war ausgeschlossen, daß Jotapat sich so lange halten konnte.
  Die zweite Woche kam, und die Römer griffen noch immer nicht an. Die Stadt war gut mit Lebensmitteln verproviantiert, aber das Zisternenwasser wurde knapp, Josef mußte es scharf rationieren. Es war ein heißer Sommer, die Belagerten litten Tag für Tag schlimmer unter dem Durst. Viele stahlen sich, um Wasser zu suchen, auf unterirdischen Wegen aus der Stadt; denn die Bergkuppe war durchzogen von einem wilden und wirren System unterirdischer Gänge. Aber solche Versuche waren tollkühne Unternehmungen. Wer dabei den Römern in die Hände fiel, den exekutierten sie am Kreuz.
  Das Kommando über die Exekutionen hatte der Hauptmann Lukian. Er war im Grund ein gutmütiger Herr, aber er litt sehr unter der Hitze und war infolgedessen oft schlechter Laune. Bei solcher Laune gab er Befehl, die zu Exekutierenden ans Kreuz zu binden, was einen langsameren, peinvolleren Tod bedeutete. Bei besserer Laune ließ er zu, daß die Profose ihren Verurteilten die Hände festnagelten, so daß der schnell ausbrechende Wundbrand einen rascheren Tod herbeiführte.
  Abend für Abend bewegten sich die jämmerlichen Prozessionen die Höhen hinauf, die Verurteilten trugen die Querbalken ihrer Kreuze auf dem Nacken, die ausgereckten Arme waren ihnen bereits daran festgebunden. Die Nacht kühlte die hängenden Leiber, aber die Nächte waren kurz, und sowie die Sonne aufging, kamen Fliegen und anderes Geziefer. Ringsum sammelten sich Vögel und herrenlose Hunde und warteten auf den Fraß. Die Männer am Kreuz sagten das Sterbebekenntnis: Höre, Israel, Jahve ist unser Gott, Jahve ist einzig. Sie sagten es, solange noch Worte aus ihrem Mund kamen, sie sagten es hinüber einer zum Kreuz des andern. Bald war die hebräische Formel auch im römischen Lager geläufig, willkommener Anlaß zu allerhand Witzen. Die Militärärzte machten Statistiken, wie lange es dauerte, bis einer starb, der angenagelt, wie lange, bis einer starb, der angebunden war. Sie baten sich besonders kräftige und besonders schwächliche Gefangene für ihre Beobachtungen aus und konstatierten, wie sehr die hochsommerliche Hitze zur Beschleunigung des letalen Ausgangs beitrug. Auf allen Höhen ringsum standen die Kreuze, und die an ihnen hingen, wurden Abend für Abend ausgewechselt. Die Römer konnten nicht jedem sein Sonderkreuz geben, sie mußten, trotzdem die Gegend waldreich war, mit Holz sparen.
  Sie benötigten es, um kunstvolle Wälle und Laufgänge gegen die hartnäckige Stadt heranzuführen. Alle Wälder ringsum holzten sie ab und machten solche Wälle daraus. Sie arbeiteten unter dem Schutz sinnreicher Konstruktionen aus Tierfell und feuchtem Leder, die die Brandgeschosse der Belagerten wirkungslos machten. Die Leute von Jotapat beneideten die Römer, die Wasser zu solchem Zweck verwenden konnten. Sie machten Ausfälle, mehrmals gelang es ihnen, die feindlichen Werke anzuzünden. Aber rasch wurde das Zerstörte ergänzt, und die Wälle und Gänge krochen näher.
  Abend für Abend hielt Josef von den Mauertürmen nach ihnen Ausschau. Wenn die Laufgänge einen gewissen Punkt im Norden erreicht hatten, dann war Jotapat verloren, selbst wenn Jerusalem noch Truppen zum Entsatz schicken sollte. Langsam ging Josefs Blick in die Runde. Überall auf den Bergkuppen waren Kreuze, die Bergstraßen waren gesäumt mit Kreuzen. Die Exekutierten hatten die Köpfe nach vorn geneigt, schräg, den Mund hängend. Josef schaute, mechanisch suchte er die Kreuze zu zählen. Seine Lippen waren trocken und gesprungen, sein Gaumen gedörrt, seine Augen gerötet; er nahm für sich keine größere Ration Wasser als für die andern. Am 20. Juni, am 18. Siwan jüdischer Rechnung, hatten die Wälle jenen gefährlichen Punkt im Norden erreicht. Josef setzte für den Tag darauf einen Gottesdienst an. Er ließ die Versammelten das Sündenbekenntnis sprechen. Eingehüllt in die Mäntel mit den purpurblauen Gebetfäden, standen die Männer, schlugen sich wild die Brust, schrien inbrünstig: O Adonai! Gesündigt hab ich, gefehlt hab ich, gefrevelt hab ich vor deinem Angesicht. Josef stand vorn, als Priester der Ersten Reihe, mit Inbrunst wie die andern einbekannte er dem Gott: O Adonai! Gesündigt hab ich, gefehlt hab ich, gefrevelt hab ich, und er fühlte sich schmutzig, niedrig und zerknirscht. Da, als er den dritten Satz des Sündenbekenntnisses anhub, riß es ihm den Kopf hoch, er spürte aus den rückwärtigen Reihen aus kleinen, besessenen Augen einen Blick bösartig und beharrlich auf sich gerichtet, und er sah einen Mund, der nicht im Chor der andern mitsprach: Gefehlt hab ich, gesündigt hab ich, sondern der scharf und wild die Worte bildete: Gesündigt hast du, gefehlt hast du. Es war der Mund des Sapita. Und als Josef am Schluß des Dienstes mit den andern Priestern den Segen sprach, als er mit gehobenen Händen, die Finger gespreizt, vor der Versammlung stand, die die Köpfe zu Boden senkte, denn über den segnenden Priestern schwebte der Geist Gottes, da war es wieder ein Augenpaar, das sich frech erhob und bösartig und beharrlich gegen ihn richtete, und das Gesicht des Sapita höhnte deutlich: Sperr deinen Mund zu, Josef Ben Matthias. Wir verrecken lieber ohne deinen Segen, Josef Ben Matthias.
  Josef war voll von einer großen Verwunderung. Er hatte sich keiner Gefahr versagt, er nahm Durst und Bedrängnis auf sich wie der Geringste seiner Soldaten, seine Maßnahmen erwiesen sich als gut und wirksam, Gott war sichtbarlich mit ihm, schon hielt er die Stadt länger, als irgend jemand es für möglich gehalten hätte. Was wollte dieser Sapita? Josef zürnte ihm nicht. Der Mann war verblendet, was er tat, Lästerung.
  Der Ausfall, den Josef am andern Tag gegen den Wall im Norden machte, geschah mit wildem Fanatismus. Im Kampf zu sterben war besser als am Kreuz, und diese finstere Sehnsucht nach einem Tod im Kampf ließ die Juden trotz des dich ten Geschoßregens bis zu dem gefährdeten Punkt vordringen. Sie machten die Verteidigungsmannschaften nieder, setzten Dämme und Maschinen in Brand. Die Römer wichen. Wichen nicht nur an dieser Stelle, sondern auch im Süden, wo sie kaum bedrängt waren. Bald auch wußten die Leute von Jotapat den Grund: Vespasian war getroffen, der römische Marschall war verwundet. Jubel war in der Stadt, Josef ließ die doppelte Ration Wasser verteilen. Es war die fünfte Woche. Wenn es ihm gelingt, die siebente Woche zu erreichen, dann wird der Sommer zu weit vorgeschritten, dann wird Jerusalem für dieses Jahr gerettet sein.
  Es dauerte fast eine Woche, bis die Römer den Punkt im Norden wieder gesichert hatten. Inzwischen aber hatten sie auch ihre Belagerungsmaschinen, die Widder, an drei Seiten der Mauer in Stellung gebracht. Es waren dies gewaltige Balken, Schiffsmasten ähnlich, vorne mit einem mächtigen Eisenblock in Form eines Widderkopfes versehen. In der Mitte waren die Masten mit Seilen an einem waagrechten Balken aufgehängt, der auf starken Pfählen ruhte. Eine große Anzahl Artilleristen zog den Balken mit dem Widderkopf nach rückwärts und ließ ihn wieder vorschnellen. Keine noch so dicke Mauer konnte auf lange Zeit der Stoßkraft dieser Maschine widerstehen.
  Jetzt endlich, nachdem die Widder eine Zeitlang gearbeitet hatten, fand Vespasian die Festung reif für einen Generalangriff. Der Angriff begann am frühen Morgen. Der Himmel wurde finster von den Geschossen, grauenvoll und beharrlich gellten die Trompeten der Legionen, aus allen Wurfmaschinen zugleich flogen die großen Steinkugeln, dumpf dröhnten, von den Bergen widerhallend, die Stoßmaschinen. Auf den Wällen arbeiteten drei eisenbeschlagene Türme, je siebzehn Meter hoch, besetzt mit Speerwerfern, Bogenschützen, Schleuderern, auch mit leichten Wurfmaschinen. Die Belagerten waren wehrlos gegen diese gepanzerten Ungeheuer. Unter ihrem Schutz kroch es aus den Laufgängen hervor, unheimliche, riesige Schildkröten, gebildet aus je hundert Mann römischer Elitetruppen, die ihre Schilde über den Köpfen ziegelförmig ineinanderschuppten, so daß sie keinem Geschoß erreichbar waren. Die Panzertürme arbeiteten präzis zusammen mit diesen Schildkröten, richteten ihre Geschosse gegen die Stellen der Mauer, die die Schildkröten sich erwählt hatten, so daß die Verteidiger sie räumen mußten. Schon hatten die Angreifer an fünf Stellen gleichzeitig die Mauer erreicht, warfen die Sturmbrücken. Allein in dieser Minute, da die Römer nicht schießen konnten, ohne ihre eigenen Leute zu gefährden, gossen die Verteidiger auf die Stürmenden siedendes Öl, das unter das Eisen der Rüstungen drang, und schütteten auf die Sturmbrücken einen glitschigen Absud aus griechischem Heu, so daß die Angreifer abrutschten.
  Die Nacht kam, aber der Sturm der Römer ließ nicht nach. Dumpf, die ganze Nacht hindurch, dröhnten die Stöße der Widder, gleichmäßig arbeiteten die Panzertürme, die Wurfmaschinen. Die Getroffenen polterten grotesk von den Mauern herab. Geschrei war, Ächzen und Gestöhn. So voll von grausigem Lärm war die Nacht, daß die jüdischen Führer die Soldaten auf den Mauern anwiesen, sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen. Josef selber hörte das Gedröhn mit einer beinah wilden Befriedigung. Es war der sechsundvierzigste Tag: sieben mal sieben Tage wird er die Stadt halten. Dann wird der fünfzigste Tag kommen, und es wird Stille sein. Vielleicht wird diese Stille der Tod sein. Wie immer, selig inmitten des wüsten Getöses schmeckte er die Stille dieses fünfzigsten Tages voraus, und er dachte an das Wort der Überlieferung: Erst ist der Sturm und das große Getöse, aber dann in der Stille kommt Gott.
  Einem der Verteidiger gelang es in dieser Nacht, von der Mauer herab einen Ungeheuern Block mit solcher Wucht auf einen der Widder zu schleudern, daß der Eisenkopf der Maschine sich löste. Der Jude sprang von der Mauer herunter, holte den Widderkopf mitten aus den Feinden heraus, trug ihn zurück, umschwirrt von Geschossen, erstieg die Mauer und stürzte, fünfmal getroffen, sich krümmend auf der Innenseite herab. Der Mann war Sapita.
  Über den Sterbenden neigte sich Josef. Sapita durfte nicht dahingehen, die Lästerung ungesühnt im Herzen. Ringsum standen zehn Männer. Sie sprachen dem Sterbenden vor: Höre, Israel, eins und ewig ist unser Gott Jahve, auf daß er in den Tod eingehe mit den Worten des Bekenntnisses. Sapita riß peinvoll an der einen Strähne seines zweigeteilten Bartes. Er bewegte die Lippen, aber Josef sah gut, es waren nicht die Worte des Bekenntnisses, die er sprach. Josef neigte sich tiefer zu ihm. Die kleinen, besessenen Augen des Sterbenden zwinkerten bösartig und schmerzhaft, er bemühte sich, etwas zu sagen. Josef brachte das Ohr ganz nah an seine trockenen Lippen, er konnte ihn nicht verstehen, aber es war deutlich, daß Sapita etwas Verächtliches sagen wollte. Josef war erstaunt und voll Kummer, daß dieser Verblendete so dahinfahren sollte. Mit raschem Entschluß, leise und leidenschaftlich, sprach er auf ihn ein: »Hören Sie, Sapita, ich werde verhindern, daß die Römer in diesem Sommer vor Jerusalem rücken. Ich werde die Stadt noch drei Tage halten. Und ich werde mich nicht nach Jerusalem durchschlagen, wie wir vereinbart haben. Ich werde bis zum vierten Morgen in der Stadt bleiben.« Die Männer, gleichmäßig, im Chor, auf daß es das Ohr des Sterbenden erreiche, gellten: Höre, Israel. Josef starrte dringlich, flehentlich fast auf Sapita. Der mußte sein Unrecht einsehen, versöhnt sterben. Aber Sapitas blutunterlaufene Augen hatten sich verdreht, sein Kiefer war herabgefallen: Josef hatte sein Versprechen einem Toten gegeben.
  Von diesem Tag an gönnte sich Josef kaum mehr Schlaf. Er war überall auf den Mauern. Sein Gesicht brannte, seine Lider schmerzten, sein Gaumen war geschwollen, seine Ohren taub vom Lärm der Belagerungsmaschinen, seine Stimme rauh und heiser. Aber er schonte sich nicht, er sparte sich nicht. So hielt er es drei Tage durch, bis die Mitternacht des neunundvierzigsten Tages erreicht war. Dann fiel er in einen steintiefen Schlaf.
  Im grauenden Morgen des ersten Juli, am fünfzigsten Tag nach dem Beginn der Belagerung, nahmen die Römer die Festung Jotapat.


Es waren noch nicht zwei Stunden, daß Josef sich hingelegt hatte, als man ihn hochriß und ihm zuschrie: sie sind da. Er torkelte aus seinem Schlaf, raffte an sich, was ihm unter die Hände kam, Fleisch, Brot, den blumenbestickten Priestergürtel, die Urkunde, die ihn zum Kommissar bestellte, die Würfel, die einmal in Rom der Schauspieler Demetrius Liban ihm geschenkt hatte. Er stolperte auf die Straße, in den grauenden Morgen hinein. Einige aus seiner Umgebung rissen ihn mit sich, hinunter in einen unterirdischen Gang, einer verlassenen Zisterne zu, die sich in eine ziemlich geräumige Höhle ausweitete.

  Sie waren ein gutes Dutzend in dieser Höhle, ein Schwerverwundeter darunter, sie hatten Lebensmittel, aber einen einzigen kleinen Eimer Wasser. Tagsüber blieben sie zuversichtlich, aber in der Nacht zeigte sich, daß an ein Entkommen nicht zu denken war. Der unterirdische Gang war verästelt und verwinkelt, allein er mündete immer wieder in diese Höhle und hatte nur den Ausgang in die Stadt, wo die Römer scharfe Wacht hielten.
  Am zweiten Tag starb der Verwundete. Am dritten Tag ging ihnen das Wasser aus, am vierten Tag waren die durch die lange Belagerung geschwächten Männer krank und irr vor Durst.
  Am fünften Tag lag Josef Ben Matthias in einem Winkel der Höhle, er hatte den blauen Priestergürtel unter den Kopf gelegt, das Kleid übers Gesicht gezogen und wartete, daß die Römer kämen und ihn erschlügen. Seine Eingeweide brannten, immer wieder versuchte er zu schlucken, trotzdem er wußte, wie peinvoll und unmöglich das war, seine Pulse flatterten, all sein Gebein stach und prickelte. Die geschlossenen Lider rieben seine entzündeten Augen, durch die Dunkelheit tanzten Punkte und Kreise, vergrößerten sich wild, schrumpften, funkelten, verschlangen sich. Süß und lockend war es, den Tod zu beschleunigen, sich umzubringen; aber eine Hoffnung blieb: vielleicht kann man vorher trinken. Vielleicht, wenn die Römer kommen, geben sie ihm zu trinken, bevor sie ihn ans Kreuz hängen. In Jerusalem gibt es eine Vereinigung wohltätiger Damen, die den zum Kreuz Verurteilten einen Trank aus Wein und Myrrhen auf ihren Weg mitgeben. Das wäre ein guter Tod. Er schiebt das Kleid zurück vom Kopf und lächelt mit seinen trockenen Lippen.
  Greifbar vor sich sieht er die große Zisterne mit dem rationierten Wasser, mit dem vielen, vielen rationierten Wasser. Da jetzt die Römer da sind, braucht man doch mit dem Wasser nicht mehr zu sparen. Daß er bis jetzt nicht daraufkam. Er sieht sich auf dem Weg zur Zisterne. Viele sind auf diesem Weg. Aber er geht mitten durch die schreienden Juden und die Römer, die sich die Straße hinauftasten, er ist ja der Feldherr, und die Leute teilen sich vor ihm, immer geradewegs der Zisterne zu geht er, unbeirrbar, gierig. Trinken! An der Zisterne sind keine Wächter mehr. Aber da steht einer und will ihn nicht trinken lassen. Gehen Sie gefälligst weg, Sapita. Ich schlage Sie nieder, wenn Sie mich nicht trinken lassen. Bin ich feige gewesen? Habe ich mich kostbar gemacht, wenn es Schwerter gab, fliegende Eisen, Feuerbrände, von der Mauer polternde Männer? Stemmen Sie nicht so blöd den Widderkopf hoch mit Ihrem gesunden Arm. Ich weiß ganz genau, daß Sie tot sind. Sie sind ein hundsgemeiner Lügner, Sapita, und wenn Sie hundertmal tot sind. Sie haben da wegzugehen.
  Das peinvolle, vergebliche Schlucken kratzt Josef den geschwollenen Rachen auf, reißt ihn aus seinen Phantasien. Er zieht wieder das Kleid übers Gesicht. Er will das alles weghaben. Wie er in der Wüste war, bei dem Essäer Banus, und sich kasteit hat, damals hat er Gesichte gebraucht, aber jetzt will er Klarheit in seinem Hirn, Ordnung. Er denkt gar nicht daran, zu verrecken, weil er einige Tage kein Wasser getrunken hat. Gewiß, wenn man einige Tage nichts getrunken hat, dann geht man ein, das ist eine bekannte Tatsache. Aber er nicht. Die andern, ja, die werden schließlich verdursten. Aber er selber, das ist unmöglich. Er hat noch viel zu tun, er hat viel zuviel versäumt. Wo sind die Frauen, die er nicht gehabt, der Wein, den er nicht getrunken, die Herrlichkeiten der Erde, die er nicht gesehen, die Bücher, die er nicht geschrieben hat? Warum eigentlich hat er Poppäa nicht gepackt, damals? Ihr Kleid war aus koischem Flor, hauchdünn, und man sah die Haare durchschimmern. Sicher waren sie bernsteingelb. So viele Frauen waren, die er versäumt hat. Er sieht die Schenkel, die Brüste, die Gesichter.
  Aber das sind gar keine Gesichter, das sind Haufen von Früchten, wie sie auf den Märkten feilgeboten werden, runde, saftige Früchte, Feigen, Äpfel, riesiggroße Trauben. Er will hineinbeißen, malmen, schlürfen; aber wie er sie packen will, hat jede das gleiche, infame, gelbbraune Gesicht, das er gut kennt. Nein, Sie verfluchter Hund, ich sterbe nicht, diesen Gefallen tue ich Ihnen nicht. Überhaupt Sie. Sie trauriger Pedant, Sie Affe der Vernunft mit Ihren Statuen und Ihrer ganzen Symmetrie und Ihrem System. Sie wollen von Judäa reden? Was verstehen Sie davon? Waren Sie einmal dabei? Haben Sie einmal mitgetan? Sie haben ja kein Blut in den Adern, Sie Schuft. Wenn Judäa Ihr verdammtes Götzenpalais kaputt haut, dann hat es recht, zehnmal recht, und ich hau mit.
  Ich phantasiere nicht, Herr. Ich bin sehr durstig, aber ich weiß ganz genau: es ist eine Gemeinheit, sich von Rom aus über die Makkabi-Leute lustig zu machen. Es ist kahl und schäbig. Sie sind eine kümmerliche Erscheinung, Justus von Tiberias.
  In seinem Kopf dröhnt es, viele Stimmen: Marin, Marin. Und eine dünne, hartnäckig ergebene Stimme immer dazwischen: dieser ist es.
  Nein, er hat diese Stimme nie Gewalt über sich gewinnen lassen, er hat sich nie überhoben, er hat die Lästerung immer weit von sich abgetan. Es ist der Versucher, der jetzt seine Schwäche mißbraucht und ihn auf einmal jene Stimme wieder hören läßt. Ja, sicherlich ist es nichts als eine freche Schiebung des Versuchers, der das Antlitz Jahves von ihm abwenden will.
  Mit großer Mühe richtete er sich auf die Knie, schlug die Stirn gegen die Erde, qualvoll, sprach das Sündenbekenntnis, qualvoll. Sprach groß und stolz: O Adonai, nicht gesündigt hab ich, nicht gefehlt hab ich. Du mußt mich trinken lassen, ich habe deinen Namen geheiligt. Ich will Wasser. Laß deinen Knecht nicht verdursten, denn ich habe dir gut gedient, und du mußt mir Wasser geben.
  Auf einmal war eine Stimme in der Höhle, eine knarrende, dem Josef bekannte römische Offiziersstimme. Die andern rüttelten ihn. Es war eine sehr wirkliche Stimme, das war klar. Die Stimme sprach griechisch und sagte, man wisse, daß der galiläische Feldherr in der Höhle sei, und wenn sich die Eingeschlossenen ergäben, dann wolle man sie schonen. »Geben Sie mir zu trinken«, sagte Josef. »Sie haben eine Stunde Bedenkzeit«, erwiderte die Stimme, »dann werden wir die Höhle ausräuchern.«
  Ein seliges Lächeln zog Josefs Gesicht weit auseinander. Er hat gesiegt. Er hat den toten Sapita überlistet und den frechen, lebendigen Justus, der ihn nicht an die Früchte heranlassen wollte. Jetzt wird er doch trinken und wird leben.
  Aber da waren unter den Gefährten des Josef einige, die wollten von Übergabe nichts wissen. Sie dachten an die Vorgänge von Magdala, sie nahmen an, wenn die Römer sie packten, dann würden sie bestenfalls den Josef für den Triumphzug aufsparen, die andern aber ans Kreuz schlagen oder als Leibeigene verauktionieren. Sie beschlossen zu kämpfen. Halb irr vor Durst stellten sie sich dem Josef in den Weg. Eher wollten sie ihn umbringen, ehe sie duldeten, daß er sich den Römern ergebe.
  Josef wollte nur eins: trinken. Ob die Römer sie wirklich schonen werden oder nicht, das kam später. Auf alle Fälle werden sie ihnen zu trinken geben, und diese Narren wollten nicht. Das waren ja Verrückte, tolle Hunde. Es wäre ja lächerlich, wenn er nach soviel Qualen sich selber umbrächte, ohne getrunken zu haben. Aus allen Winkeln seines erschöpften Hirns holte er Kraft zusammen, um sich gegen die andern zu behaupten, zu trinken, zu leben.
  Lange sprach er vergeblich auf sie ein. Kaum mehr reichte seine rauhe, heisere Stimme, ihnen einen letzten Vorschlag zu machen: sie sollten nicht jeder sich selber töten, sondern wenigstens einer den andern; das sei die kleinere Sünde. Das sahen sie ein, sie nahmen den Vorschlag an, und das war die Rettung. Sie ließen nämlich das Los entscheiden, wer von ihnen jedesmal den andern niederstoßen sollte, und sie würfelten mit den Würfeln, die Josef sich von dem Schauspieler Demetrius Liban hatte schenken lassen. Sie baten einer den andern um Verzeihung und starben, das Bekenntnis auf den Lippen. Als Josef mit dem letzten übrigblieb, ging er einfach


den Weg aus der Höhle zurück, zu den Römern. Der andere stand eine Weile schlaff, dann kroch er ihm nach.


Es war der Oberst Paulin, der Josef in Empfang nahm. Er streckte ihm den Arm mit der flachen Hand entgegen, wie ein Sportsmann dem besiegten Gegner, fröhlich grüßend. Josef dankte nicht. Er fiel hin und sagte: Wasser. Sie brachten ihm zu trinken, und er, dies war die frömmste Tat seines Lebens, er bezwang sich und sagte den Segensspruch: Gelobt seist du, unser Gott Jahve, der alles entstehen ließ durch sein Wort, und dann erst trank er. Selig ließ er das Nasse über die Lippen rinnen, durch den Mund, den Schlund hinab, verlangte neues Wasser und nochmals neues und bedauerte, daß er absetzen mußte und Atem holen, und trank. Lächelte breit, töricht übers ganze Gesicht und trank. Die Soldaten standen herum, grinsten gutmütig, schauten zu.
  Man ließ Josef flüchtig sich säubern, gab ihm zu essen, führte ihn gefesselt nach dem Quartier des Feldherrn. Der Weg ging durchs ganze Lager. Überall drängten sich die Soldaten, alle wollten den feindlichen Führer sehen. Viele feixten wohlwollend: das war also der Mann, der ihnen sieben Wochen zu schaffen gemacht hatte. Ein tüchtiger Bursche. Manche, erbittert über den Tod von Kameraden, drohten, schimpften wüst. Andere rissen Witze, weil er so jung, dünn und hager ausschaute: na, Jüdlein, wenn du am Kreuz hängst, ‘ werden die Vögel und die Fliegen wenig zu fressen haben. Josef, so verwahrlost er war, mit verfilzten Haaren, schmutzigen Flaum um die Wangen, ging still durch den ganzen Aufruhr, Drohungen und Witze fielen von ihm ab, mancher senkte den Blick vor seinen traurigen, entzündeten Augen. Als einer gar ihn anspie, hatte er kein Wort für den Beleidiger, er bat nur, der Gefesselte, die Begleitmannschaften, den Speichel abzuwischen, da es unziemlich sei, so vor den Feldherrn zu treten.
  Es war aber ein weiter Weg durch das Lager. Zelte, Zelte, neugierige Soldaten. Dann der Altar des Lagers. Davor, plump, golden, feindselig und gewalttätig, die Adler der drei Legionen. Dann wieder Zelte, Zelte. Es kostete den geschwächten Mann viel Mühe, sich aufrecht zu halten, aber er riß sich zusammen
und ging aufrecht den langen Weg der Schmach.
  Als man das Zelt des Marschalls endlich erreicht hatte, sah Josef zunächst außer dem Oberst Paulin nur einen jungen Herrn mit den Generalsabzeichen, nicht groß, doch breit und fest von Figur, mit rundem, offenem Gesicht, das kurze Kinn kräftig vorgestoßen, so daß es scharf dreieckig einzackte. Josef wußte sogleich, das war Titus, der Sohn des Feldherrn. Der junge General kam ihm entgegen. »Es tut mir leid«, sagte er freimütig, liebenswürdig, »daß Sie Pech gehabt haben. Sie haben sich ausgezeichnet geschlagen. Wir haben euch Juden unterschätzt, ihr seid vortreffliche Soldaten.« Er sah seine Erschöpfung, hieß ihn sitzen. »Heiße Sommer habt ihr hier«, sagte er. »Aber hier im Zelt haben wir es angenehm kühl.«
  Unterdes war aus dem Vorhang, der das Zelt teilte, Vespasian selbst hereingekommen, sehr bequem angezogen, mit einer statiösen, resoluten Dame. Josef erhob sich, versuchte, auf römische Art zu grüßen. Der Marschall aber winkte gemütlich ab. »Geben Sie sich keine Mühe. Verdammt jung sehen Sie aus, mein Jüdlein. Wie alt sind Sie?« – »Dreißig«, erwiderte Josef. »Siehst du, Cänis«, schmunzelte Vespasian, »wie weit man es mit dreißig Jahren bringen kann.« Die Dame Cänis betrachtete Josef ohne Wohlwollen. »Der Jude gefällt mir wenig«, äußerte sie unverhohlen. »Sie kann Sie nicht leiden«, erklärte Vespasian dem Josef, »weil sie sich so erschreckte, wie ihr mir die Steinkugel auf den Fuß gepfeffert habt. Es war übrigens blinder Alarm, man merkt schon nichts mehr.« Als er aber jetzt auf Josef zukam, sah man deutlich, daß er noch ein wenig hinkte. »Lassen Sie sich anfühlen«, sagte er und betastete ihn wie einen Leibeigenen. »Mager, mager«, konstatierte er, stark atmend. »Ihr habt allerhand aushalten müssen. Ihr hättet es billiger haben können. Sie scheinen überhaupt eine kräftig bewegte Vergangenheit zu haben, junger Herr. Ich habe mir erzählen lassen. Die Geschichte mit Ihren drei sogenannten Unschuldigen, die dann unserm Cestius Gall so auf die Nerven gingen: wie gesagt, allerhand.« Er war vergnügt. Er dachte daran, daß ohne die drei Greise dieses smarten Burschen der Gouverneur Cestius schwerlich abberufen worden wäre und daß dann er nicht hier stünde.
  »Was meinen Sie, junger Herr«, fragte er jovial, »soll ich noch heuer vor Jerusalem rücken? Ich habe Lust, mir euern Großen Sabbat im Tempel anzuschauen. Aber Sie mit Ihrem Jotapat haben mich so lang aufgehalten. Es ist spät im Jahr geworden. Und wenn die in Jerusalem so querköpfig sind wie ihr hier, dann wird das eine langwierige Angelegenheit.«
  Das war beiläufig hingesprochen, spaßhaft. Aber Josef sah die hellen, aufmerksamen Augen des Mannes in dem breiten, hartfaltigen Bauerngesicht, er hörte sein starkes Atmen, und plötzlich, mit blitzheller Intuition, ging ihm auf: dieser Römer, in seinem heimlichen Innern, will gar nicht nach Jerusalem, dem liegt nichts an einem schnellen Sieg über Judäa. Der sieht nicht so aus, als ob er, was er einmal hat, rasch wieder hergäbe. Der will seine Armee behalten, seine drei großartigen, aufeinander eingearbeiteten Legionen. Ist aber der Feldzug erst zu Ende, dann werden sie ihm ohne weiteres wieder abgenommen, dann ist es aus mit seinem Kommando. Josef sah klar: dieser General Vespasian will heuer nicht mehr vor Jerusalem.
  Diese Erkenntnis gab ihm neuen Auftrieb. Die Erregungen der Höhle waren noch in seinen Eingeweiden. Er wußte, jetzt erst und endgültig hatte er um sein Leben zu rennen, und für dieses Rennen gab ihm die Erkenntnis, daß der Römer gar nicht vor Jerusalem wollte, eine unerhörte Vorgabe. Leise, doch mit großer Bestimmtheit sprach er: »Ich sage Ihnen, General Vespasian, Sie werden in diesem Jahr nicht vor Jerusalem ziehen. Wahrscheinlich auch nicht im nächsten.« Angestrengt schauend, langsam, die Worte aus sich herausgrabend, fuhr er fort: »Sie sind zu Größerem bestimmt.«
  Alle waren betroffen von der unerwarteten Antwort: dieser jüdische Offizier, der sich so tadellos geschlagen hatte, beliebte eine absonderliche Diktion. Vespasian machte die Augen eng, beschaute sich seinen Gefangenen. »Sieh mal an«, zog er ihn auf, »die Propheten sind also nicht ausgestorben in Judäa?« Aber der Spott in seiner alten, knarrenden Stimme war leise, es war mehr Aufmunterung darin, Wohlwollen. Es gab viele merkwürdige Dinge in diesem Land Judäa. Im See Genezareth gab es einen Fisch, der schrie; was auf den sodomitischen Feldern gepflanzt wurde, schwärzte sich und zerfiel in Asche; das Tote Meer trug jeden, mochte er schwimmen können oder nicht. Alles hier war fremdartiger als sonstwo. Warum sollte nicht auch in diesem jungen jüdischen Menschen, wiewohl er ein guter Politiker und Soldat war, ein Teil Narrheit und Priestertum stecken?
  In Josef unterdes arbeitete es in rasender Eile. Angesichts dieses Römers, der sein Leben in der Hand hielt, kamen plötzlich Sätze wieder herauf, die er seit langem hinunter hatte sinken lassen, die Sätze der schweren, einfältigen Männer aus der Schenke von Kapernaum. Fiebrig spannte er sich, es ging um sein Leben, und was jene dumpf geahnt hatten, das sah er auf einmal blitzhaft klar und scharf. »Es gibt nicht viele Propheten in Judäa«, erwiderte er, »und ihre Sprüche sind dunkel. Sie haben uns verkündet, der Messias gehe aus von Judäa. Wir haben sie mißverstanden und den Krieg begonnen. Jetzt, wo ich vor Ihnen stehe, Konsul Vespasian, in diesem Ihrem Zelt, weiß ich die richtige Deutung.« Er verneigte sich voll großer Ehrerbietung, aber seine Stimme blieb nüchtern und voll Maß. »Der Messias geht aus von Judäa: aber er ist kein Jude. Sie sind es, Konsul Vespasian.«
  Diese abenteuerlich freche Lüge verblüffte alle im Zelt. Vom Messias hatten sie gehört, der ganze Osten war voll von dem Gerede. Der Messias, das war der Halbgott, von dem dieser Teil der Erde träumte, daß er auferstehen werde, um den unterjochten Orient an Rom zu rächen. Ein dunkles Wesen, geheimnisvoll, überirdisch, ein bißchen zum Spott reizend wie alle Erzeugnisse östlichen Aberglaubens, aber doch voll Lockung und voll Drohung.
  Cänis war aufgestanden, sie hatte den Mund halb offen. Ihr Vespasian der Messias? Sie dachte an die Sache mit dem Trieb der heiligen Eiche. Davon konnte der Jude schwerlich etwas wissen. Sie starrte Josef an, mißtrauisch, befangen. Was er sagte, war groß und erfreulich und durchaus in der Richtung ihrer Hoffnung: aber dieser östliche Mensch blieb ihr unheimlich.
  Der junge General Titus, ein Fanatiker der Präzision, liebte es, Leute auf ihre genauen Äußerungen festzulegen; er hatte es sich zur mechanischen Gewohnheit gemacht, Gespräche mitzustenographieren. Auch jetzt hatte er mitgeschrieben. Nun aber sah er verwundert auf. Es wäre ihm eine Enttäuschung gewesen, wenn dieser junge, tapfere Soldat sich als Schwindler erwiesen hätte. Nein, er schaute wahrhaftig nicht aus wie ein Schwindler. Vielleicht war er trotz seines einfachen und natürlichen Gehabes ein Besessener, wie so viele im Orient. Vielleicht hatten langer Hunger und Durst ihn verrückt gemacht.
  Vespasian schaute mit seinen hellen, schlauen Bauernaugen in die ehrfurchtsvollen des Josef. Der hielt seinen Blick aus, lange. Er schwitzte, trotzdem es im Zelt wirklich nicht allzu heiß war, die Fesseln scheuerten ihn, die Kleider kratzten ihn. Aber er hielt den Blick aus. Er wußte, dies war der entscheidende Moment. Vielleicht wird der Römer sich einfach umdrehen, erzürnt oder auch angewidert, und ihn wegschleppen lassen, zum Kreuz oder auf ein Leibeigenenschiff für die ägyptischen Bergwerke. Vielleicht aber auch wird der Römer ihm glauben. Er muß ihm glauben. Hastig, in seinem Innern, während er auf Antwort wartete, betete er: Gott, mach, daß der Römer mir glaubt. Wenn du’s nicht um meinetwillen tust, dann tu es um deines Tempels willen. Denn wenn der Römer glaubt, wenn er wirklich in diesem Jahr nicht mehr vor die Stadt zieht, dann, bis zum nächsten Jahr, läßt sich deine Stadt und dein Tempel vielleicht noch retten. Du mußt machen, Gott, daß der Römer glaubt. Du mußt, du mußt. So stand er, betend, bang um sein Leben, den Blick des Römers aushaltend, in ungeheurer Spannung die Antwort des Römers erwartend.
  Der Römer sagte nur: »Na, na, na. Nicht so heftig, junger Herr.«
  Josef atmete hoch. Der Mann hatte sich nicht abgewandt, der Mann hatte ihn nicht wegschleppen lassen, er hatte gewonnen. Leise, rasch, voll Zuversicht, dringlich fuhr er fort: »Bitte, glauben Sie mir. Nur deshalb, weil ich bestimmt war, Ihnen das zu sagen, habe ich mich nicht nach Jerusalem durchgeschlagen, wie es unser Plan war, sondern mich bis zum Schluß in Jotapat gehalten.«
  »Unsinn«, knurrte Vespasian. »Sie hätten sich nie nach Jeru salem durchschlagen können.« – »Ich habe Briefe von Jerusalem bekommen und Briefe hingeschickt«, wandte Josef ein, »also hätte ich auch selber durchkommen können.« Titus, vom Tisch her, sagte lächelnd: »Ihre Briefe haben wir aufgefangen, Doktor Josef.« Bescheiden jetzt mischte sich Oberst Paulin ein: »In einem der aufgefangenen Briefe heißt es: ›Ich werde die Festung Jotapat sieben mal sieben Tage halten.‹ Wir haben darüber gelacht. Aber die Juden haben die Festung sieben Wochen gehalten.«
  Alle wurden nachdenklich. Vespasian grinste hinüber zu Cänis. »Na, Cänis«, sagte er. »Eigentlich ist dieser junge Bursche mit seinen drei Unschuldigen die Ursache, daß sich, gerade noch vor Torschluß, Gott Mars mit seinem Eichentrieb nicht heftig blamiert hat. Der Marschall ist ein aufgeklärter Mann. Immerhin, warum soll er, wenn es seine Pläne nicht stört, nicht an Vorzeichen glauben? Manchmal hat man sich in der Deutung dieser Vorzeichen geirrt, aber andernteils gibt es gut verbürgte Geschichten von der verblüffenden Zuverlässigkeit gewisser Hellseher. Und was den gestaltlosen Gott der Juden anlangt, der in seinem dunkeln Allerheiligsten in Jerusalem wohnt: warum soll er es in den Wind schlagen, wenn dieser jüdische Gott ihm Dinge mitteilen läßt, die sich so gut zu den eigenen Plänen schicken? Er hat bisher selber nicht genau gewußt, ob er eigentlich nach Jerusalem will oder nicht. Die Regierung drängt, er müsse mit dem Feldzug noch im Sommer zu Ende sein. Aber es wäre wirklich ein Jammer, nicht nur für ihn, sondern auch für den Staat, wenn diese Ostarmee, die er jetzt so gut gedrillt hat, nach einem zu schnellen Sieg wieder zerschlagen würde und in zweifelhafte Hände käme. Eigentlich hat der Bursche da mit seinem harten Jotapat ihm einen guten Dienst getan, und der Gott, der aus ihm spricht, ist kein schlechter Ratgeber.«
  Josef aber blühte auf wie ein verdorrtes Feld unterm Regen. Gott war gnädig gewesen; es war augenscheinlich, daß der Feldherr ihm glaubte. Und warum auch nicht? Dieser, der da vor ihm stand, war wirklich der Mann, von dem es hieß, daß er ausgehen werde von Judäa, die Welt zu richten. Hieß es nicht in der Schrift: »Der Libanon wird in eines Mächtigen Hand fallen«? Adir, das hebräische Wort für mächtig, bedeutete es nicht genau das gleiche wie Cäsar, Imperator? Gab es ein besseres, deckenderes Wort für diesen breiten, schlauen, klaren Mann? Er neigte den Kopf vor dem Römer, tief, die Hand an der Stirn. Das Wort vom Messias und das alte, finstere Wort, daß Jahve Israel schlagen werde, um es zu entsühnen, war eines, und dieser Römer war gekommen, es zu erfüllen. Wie die Olive ihr Öl nur hergibt, wenn man sie preßt, so gibt Israel sein Bestes nur, wenn es gedrückt wird, und der es keltert und preßt, heißt Vespasian. Ja, Josef hatte das letzte, abschließende Argument gefunden. Eine tiefe Sicherheit überkam ihn, er fühlte die Kraft in sich, mit seiner Ausdeutung vor dem kniffligsten Doktor der Tempelhochschule zu bestehen. Die Höhle von Jotapat war voll Krampf und Schmach gewesen, aber wie des Menschen Frucht hervorgestoßen wird aus Blut und Kot, so war aus ihr gute Frucht hervorgegangen. Er war bis an die Poren seiner Haut voll von Zuversicht.
  Cänis aber ging unbehaglich um den Gefangenen herum. »Es ist die Angst vor dem Kreuz«, maulte sie, »die aus dem Menschen redet. Ich würde ihn nach Rom öder Korinth schikken. Der Kaiser soll ihn richten.«
  »Schicken Sie mich nicht nach Rom«, bat dringlich Josef. »Sie sind es, der über mein und unser aller Schicksal zu bestimmen haben wird.«
  Er war ausgehöhlt vor Erschöpfung; aber es war eine glückliche Erschöpfung, er hatte keine Angst mehr. Ja, im Innersten fühlte er sich dem Römer bereits überlegen. Er stand vor dem Römer, er sprach seine kühnen, schmeichlerischen Worte, er neigte sich vor ihm, aber schon hatte er das Gefühl, den andern zu leiten. Der Römer war unbewußt eine Zuchtrute in der Hand Gottes: er, Josef, war bewußt und fromm Jahves Instrument. Was er gespürt hat, als er zum erstenmal vom Capitol über Rom hinschaute, hat sich auf seltsame Art erfüllt. Er hat die Hand am Schicksal Roms. Vespasian ist der Mann, den Gott erwählt hat, aber er, Josef, ist der Mann, ihn nach dem Willen Gottes zu lenken.
  Der Marschall sagte, und in seiner knarrenden Stimme war eine leise Drohung: »Jüdlein, nimm dich in acht. Stenogra phier gut mit, Titus, mein Sohn. Wir werden vielleicht einmal Lust haben, diesen Herrn beim Wort zu nehmen. Können Sie mir auch sagen«, wandte er sich an Josef, »wann das sein wird mit meiner Messiasherrlichkeit?«
  »Das weiß ich nicht«, erwiderte Josef. Und plötzlich, unerwartet stürmisch: »Halten Sie mich in Ketten bis dahin. Lassen Sie mich exekutieren, wenn es Ihnen zu lange dauert. Aber es wird nicht lange dauern. Ich war ein guter Diener der ›Rächer Israels‹, solange ich glaubte, Gott sei in Jerusalem und diese Männer seine Beauftragten. Ich werde Ihnen ein guter Diener sein, Konsul Vespasian, nun ich weiß, Gott ist in Italien, und Sie sind sein Beauftragter.«
  Vespasian sagte: »Ich nehme Sie aus der Beute in meine privaten Dienste.« Und, da Josef sprechen wollte: »Gratulieren Sie sich nicht zu rasch, mein Jüdlein. Ihren Priestergürtel können Sie weitertragen, aber auch Ihre Fesseln werden Sie tragen, bis sich herausgestellt hat, was an Ihrer Prophezeiung stimmt.«
  An Kaiser und Senat schrieb der Feldherr, er müsse sich für dieses Jahr damit begnügen, das Erreichte zu sichern.
  Noch immer warteten die Telegrafisten an den Posten, die Cestius Gall vorbereitet hatte, auf die Nachricht, Jerusalem sei gefallen. Vespasian zog die Posten zurück.






DRITTES BUCH


CÄSAREA





     osef wurde in der näheren Umgebung Vespasians einfach, aber nicht schlecht gehalten. Der Feldherr hörte
     ihn als Ratgeber in Dingen, die jüdische Gebräuche und persönliche Verhältnisse einzelner Juden anlangten, er hatte ihn gern um sich. Aber er zeigte, daß er seinen Angaben nie ganz traute, ließ sie oft nachprüfen, hänselte und demütigte ihn zuweilen empfindlich. Josef nahm Hohn und Demütigung mit schmiegsamer Bescheidenheit hin und machte sich auf jede Art nützlich. Er stilisierte die Erlasse des Feldherrn an die jüdische Bevölkerung, fungierte als Sachverständiger bei Streitigkeiten zwischen der Besatzungsbehörde und den jüdischen Autoritäten, bald wurde seine Tätigkeit unentbehrlich.
  Den Juden Galiläas galt Josef, trotzdem er sich nach Kräften um sie mühte, als feiger Überläufer. In Jerusalem gar mußten sie ihn auf den Tod hassen. Es drangen zwar nur vage Nachrichten aus der Hauptstadt in das von den Römern besetzte Gebiet; aber so viel war gewiß: die Makkabi-Leute waren dort die unumschränkten Herren geworden, sie hatten eine Schreckensherrschaft aufgerichtet und bewirkt, daß der Große Bann über Josef verhängt wurde. Unter Posaunenstößen war verkündet worden: »Verflucht, zerschmettert, gebannt sei Josef Ben Matthias, früher Priester der Ersten Reihe aus Jerusalem. Niemand pflege Umgang mit ihm. Niemand rette ihn aus Feuer, Einsturz, Wasser, aus irgend etwas, was ihn vernichten kann. Jeder weise seine Hilfe zurück. Seine Bücher seien als die eines falschen Propheten geächtet, seine Kinder als Bastarde. An ihn denke jeder, wenn die zwölfte, die Fluchbitte, aus den Achtzehn Bitten gesprochen wird, und wenn er des Weges kommt, dann halte jeder sieben Schritte Abstand von ihm wie vor einem Aussätzigen.«
  Auf besonders eindrucksvolle Art bezeigte die Gemeinde Meron in Obergaliläa ihren Abscheu vor Josef, trotzdem sie in dem von den Römern besetzten Gebiet lag und solches Tun nicht ungefährlich war. Hier in Meron hatte einmal einer gerufen: »Dieser ist es«, und die Leute von Meron hatten die Hufspuren des Pferdes Pfeil mit Kupfer ausgießen lassen und die Stätte heiliggehalten. Jetzt legten sie ihre Hauptstraße über einen Umweg, weil sie sie einmal zur Begrüßung Josefs mit Blumen und Laub bestreut hatten. In feierlicher Zeremonie säten sie Gras aus über das, was einmal ihre Hauptstraße gewesen war, auf daß Gras wachse über den Weg, den der Verräter getreten hatte, und sein Andenken vergessen werde.
  Josef kniff die Lippen zusammen, machte die Augen eng. Die Kränkung steifte nur sein Selbstgefühl. Im Gefolge des Vespasian kam er nach Tiberias. Hier hatte er die entscheidende Tat seines Lebens getan, durch diese Straßen war er groß und glühend hingezogen, auf seinem Pferde Pfeil, der Held, der Führer seines Landes. Er machte sich hart. Er trug seine Ketten mit Stolz durch die Straßen von Tiberias, achtete nicht der Menschen, die vor ihm ausspuckten, ihm voll Haß und Ekel in weitem Bogen auswichen. Er schämte sich nicht des Schicksals, das ihn aus dem Diktator Galiläas zum verächtlich gehätschelten Leibeigenen der Römer gemacht hatte.
  Vor einem aber hielt sein künstlicher Stolz nicht stand, vor Justus und seiner blicklosen Verachtung. Justus brach mitten im Satz ab, wenn Josef ins Zimmer trat, kehrte peinlich das gelbbraune Gesicht weg. Josef wollte sich rechtfertigen. Dieser Mann wußte soviel um das menschliche Herz, er mußte ihn verstehen. Doch Justus ließ es nicht zu, daß Josef das Wort an ihn richtete.
  König Agrippa hatte sich daran gemacht, seinen zerstörten Palast neu aufzurichten. Josef erfuhr, daß Justus fast den ganzen Tag in den weitläufigen Bauanlagen herumstrich. Immer wieder erstieg auch er den Hügel, auf dem der neue Palast errichtet wurde, suchte eine Gelegenheit, den Justus zu stellen. Endlich einmal fand er ihn allein. Es war ein klarer Tag frühen Winters. Justus hockte auf dem Vorsprung einer Mauer, er schaute hoch, als Josef zu sprechen anfing. Aber gleich zog er den Mantel über den Kopf, als ob ihn friere, und Josef wußte nicht, ob er ihn hörte. Er redete ihm zu, bat, beschwor, suchte sich ihm klarzumachen. Ist nicht ein kraftvoller Irrtum besser als eine schwächliche Wahrheit? Muß man nicht durch die Gefühle der Makkabi-Leute durchgegangen sein, ehe man sie verwerfen darf?
  Allein Justus schwieg. Als Josef zu Ende war, erhob er sich, hastig, ein wenig ungeschickt. Wortlos an dem bittend Daste henden vorbei ging er, durch den starken Geruch von Mörtel und frischem Holz, ging fort. Gedemütigt, erbittert schaute Josef ihm nach, wie er ein wenig müde und mühsam über die großen Steine kletterte, den nächsten Weg aus dem Neubau hinaus.

Es gab in der Stadt Tiberias viele, die den Justus nicht leiden mochten. Vernunft war in diesen Kriegsläuften weder bei der einheimischen griechisch-römischen Bevölkerung Judäas noch bei den Juden populär. Justus aber war vernünftig. Mit leidenschaftlicher Vernunft hatte er, solange er Kommissar der Stadt war, zwischen Juden und Nichtjuden vermittelt, um den Frieden aufrechtzuerhalten. Ohne Glück. Die Juden fanden ihn zu griechisch, die Griechen zu jüdisch. Die Griechen verübelten ihm, daß er nicht schärfer gegen Sapita vorgegangen war und daß er die Zerstörung des Palastes nicht verhindert hatte. Sie wußten, daß König Agrippa seinen Sekretär in hohem Ansehen hielt, und sie hatten nach der Wiedereinnahme der Stadt geschwiegen. Jetzt aber, durch die Anwesenheit des römischen Marschalls ermutigt, reichten sie Klage ein, der Jude Justus trage die Hauptschuld, daß der Aufruhr in Galiläa und in ihrer Stadt sich so habe ausbreiten können.
  König Agrippa, in diesen zweideutigen Zeiten doppelt beflissen, den Römern seine Ergebenheit zu beweisen, wagte nicht, sich schützend vor seinen Beamten zu stellen. Der Oberst Longin andernteils, der höchste Richter in der Armee Vespasians, hatte sich’s zur Maxime gemacht, es sei besser, einen Unschuldigen hinzurichten als einen Schuldigen laufenzulassen. Die Sache sah also für Justus nicht gut aus. Justus selber, voll Menschenverachtung, hochmütig, bitter, verteidigte sich ohne Schwung. Mochte sein König ihn im Stich lassen. Er wußte, wen die Schuld traf an allem Übel, das in Galiläa geschehen war. Dem schillernden, oberflächlichen Burschen schlug alles, was er tat, zum Glück aus. Mochten ihn jetzt die Römer hätscheln. Es ist alles eitel. Justus war voll bis in die Poren seiner Haut von bitterm Fatalismus.
  Oberst Longin nahm aus Rücksicht auf König Agrippa die Sache sehr gewissenhaft. Er lud den Josef als Zeugen. Josef, als er nun das Schicksal des Justus in die Hand bekam, wurde hin und her gerissen vom Zwiespalt. Justus hatte in die Winkel seines Herzens gesehen, wo es am schmutzigsten war: nun stand es bei ihm, ob dieser Mann für immer verschwinden sollte oder nicht. Für alles und für jeden wußte dieser Justus eine zureichende Erklärung, eine Entschuldigung. Für ihn nicht. Für ihn hatte er nur Schweigen und Verachtung. Josef hatte viel Würde von sich abgetan, er hatte Geduld gelernt, er ging in Ketten, aber Verachtung dringt selbst durch den Panzer einer Schildkröte. Es war so einfach, den Beleidiger für alle Zeiten verschwinden zu lassen. Josef brauchte nicht einmal zu lügen, es genügte, wenn seine Aussage lau war.
  Seine Aussage war leidenschaftlich und für Justus günstig. Mit heftiger Überzeugung und mit guten Gründen tat er dar, niemand habe je konsequenter die Sache des Friedens und der Römer vertreten als dieser Doktor Justus. Und die ihn verklagten, seien Lügner oder Narren.
  Oberst Longin unterbreitete die Aussage dem Feldherrn. Vespasian schnaufte. Er beobachtete seinen Gefangenen gut und witterte wohl, daß Dinge sehr persönlicher Art zwischen den beiden waren. Aber bis jetzt war er seinem klugen Juden auf keine einzige falsche Angabe gekommen. Im übrigen war dieser Doktor Justus ein typischer Literat und Philosoph und somit ungefährlich. Der Marschall schlug die Untersuchung nieder, stellte den Doktor Justus zur Verfügung seines Herrn, des Königs Agrippa.
  König Agrippa war vor seinem vielgeprüften Sekretär höflich und schuldbewußt. Justus sah deutlich, wie unbequem er ihm war. Er grinste, er kannte die Menschen. Er erbot sich, für seinen Herrn nach Jerusalem zu gehen, dort die Rechte Agrippas wahrzunehmen, während des Winters, da die militärischen Handlungen stockten, für den Frieden zu wirken. Das war, da jetzt die »Rächer Israels« in Jerusalem schrankenlos herrschten, ein ebenso aussichtsloses wie gefährliches Unternehmen. Niemand erwartete, der Sekretär des Königs werde lebend zurückkommen. Justus reiste mit gefälschten Pässen. Josef stand an seinem Weg, als er aufbrach. Justus fuhr an ihm vorbei, blicklos wie bisher, schweigend.
In Cäsarea bei der großen Spätsommermesse sah Josef den Glasbläser Alexas aus Jerusalem, den Sohn des Nachum. Josef glaubte, er werde einen Bogen um ihn machen wie die meisten Juden. Aber siehe, Alexas kam auf ihn zu, er begrüßte ihn. Josefs Kette und der Große Bann hielten ihn nicht ab, mit ihm zu sprechen.
  Alexas ging neben Josef her, stattlich und beleibt wie immer, aber seine Augen waren noch trüber und bekümmerter. Er hatte sich nur mit Gefahr aus Jerusalem fortstehlen können; denn die Makkabi-Leute verhinderten mit den Waffen, daß irgendwer die Stadt verlasse und sich in die Gewalt der Römer begebe. Ja, es herrschte jetzt Wahnsinn und krasse Gewalt in Jerusalem. Nachdem die »Rächer Israels« die Gemäßigten fast alle beseitigt hatten, zerfleischten sie sich untereinander. Simon Bar Giora bekämpfte den Eleasar, und Eleasar den Johann von Gischala, und Johann wieder den Simon, und zusammen hielten sie nur gegen eines: gegen die Vernunft. Wenn man es nüchtern ansah, dann stand die Gefahr dieser Reise nach Cäsarea in keinem rechten Verhältnis zum Gewinn. Denn er, Alexas, hatte die feste Absicht, wieder nach Jerusalem zurückzukehren. Er nahm es auf sich, in dieser Stadt weiterzuleben, die im Unsinn und im blinden Haß der MakkabiLeute erstickte. Das war eine Torheit von ihm. Aber er liebte seinen Vater und seine Brüder, er konnte nicht leben ohne sie, er wollte sie nicht im Stich lassen. Allein in den letzten Tagen hatte er die Tollheit der Stadt nicht mehr ertragen können. Einmal wieder mußte er freiere Luft atmen, mußte mit seinen eigenen Augen sehen, daß es noch eine vernünftigere Welt gab.
  Es war ja eigentlich verboten, hier mit Josef zusammenzustehen und zu schwatzen, und wenn man es in Jerusalem hört, dann werden es die Makkabi-Leute ihn entgelten lassen. Josef trägt ja auch ein gerüttelt Maß Schuld daran, daß die Dinge so gekommen sind. Er hätte in Galiläa viel verhüten können. Aber Josef hat manches wiedergutgemacht. Er wenigstens, Alexas, sieht es als ein großes Verdienst an, als einen Sieg der Vernunft, daß Josef nicht mit den andern in Jotapat starb, sondern gebeugten Hauptes zu den Römern überging. Besser ein lebendiger Hund denn ein toter Löwe, zitierte er. In Jerusalem freilich denken sie anders, fuhr er bitter fort, und er erzählte Josef, wie Jerusalem den Fall der Festung Jotapat aufgenommen hatte. Zuerst war dort gemeldet worden, Josef sei bei der Einnahme Jotapats mit umgekommen. Die ganze Stadt habe teilgenommen an der wilden und großartigen Trauerfeier für den Helden, der die Festung so unglaubhaft lange gehalten hatte. Ausführlich berichtete Alexas, wie im Haus des alten Matthias feierlich, in Gegenwart der Erzpriester und der Mitglieder des Großen Rats, das Bett umgestürzt wurde, in dem Josef geschlafen hatte. Sein eigener Vater dann, Nachum Ben Nachum, habe im Auftrag der Bürgerschaft mit zerrissenem Gewand und Asche auf dem Kopf dem alten Matthias in dem vorgeschriebenen weidengeflochtenen Korb das Linsengericht der Trauer überbracht. Und ganz Jerusalem war zugegen, als der alte Matthias zum erstenmal das Kaddisch sprach, das Totengebet, jene drei Worte hinzufügend, die nur gesagt werden durften, wenn ein Großer in Israel gestorben war.
  »Und dann?« fragte Josef.
  Alexas lächelte sein fatales Lächeln. Dann freilich, erzählte er, als man erfuhr, Josef lebe und habe sich der Gnade der Römer übergeben, sei der Umschwung um so heftiger gewesen. Des Josef Jugendfreund, Doktor Amram, war es, der die Bannung beantragt hatte, und nur ganz wenige von den Herren des Großen Rats hatten gewagt, sich dagegen auszusprechen, unter ihnen allerdings der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai. Die Hallen des Tempels, als von den Stufen zum Heiligen Raum Verfluchung und Bann gegen Josef verkündet wurde, waren so voll wie am Passahfest. »Lassen Sie es sich nicht anfechten«, sagte er zu Josef und grinste ihn herzlich an, wobei seine weißen Zähne groß und gesund aus seinem viereckigen schwarzen Bart herauskamen. »Wer sich zur Vernunft bekennt, muß leiden.«
  Er trennte sich von Josef. Stattlich, beleibt, das frischfarbige Gesicht bekümmert, schritt er zwischen den Buden hin. Später sah Josef, wie er bei einem Händler pulverisierten Quarz erstand und wie er zärtlich mit der Hand über den feinen Staub strich; er hatte das kostbare Material seiner geliebten
Kunst wohl lange entbehren müssen.
  Josef dachte oft an diese Unterredung, mit geteilten Empfindungen. Schon in Jerusalem war er der Meinung gewesen, Alexas sei klarer von Urteil als sein Vater Nachum, aber sein, Josefs, Herz war mit dem törichten Nachum gewesen und gegen den klugen Alexas. Nun standen alle gegen ihn, und nur der kluge Alexas war für ihn. Seine Kette, an die er sich gewöhnt zu haben glaubte, drückte, scheuerte. Sicher hatte der Prediger recht, besser ein lebendiger Hund denn ein toter Löwe. Aber manchmal wünschte er, er wäre in Jotapat mit den andern umgekommen.


Marcus Licinius Crassus Mucianus, Generalgouverneur von Syrien, lief nervös durch die weiten Räume seines Palais in Antiochia. Er war überzeugt gewesen, diesmal werde Vespasian keine Ausrede mehr finden, den Feldzug länger hinzuzögern. Nachdem der Terror der »Rächer Israels« die Gemäßigten in Jerusalem ausgemerzt hatte, wüteten die Meuterer unter sich. Bürgerkrieg war in Jerusalem, die Nachrichten waren klar und zuverlässig. Es war sinnlos, diese Chance ungenützt vorbeigehen zu lassen. Jetzt endlich mußte Vespasian vor die Stadt rücken, sie nehmen, den Krieg beenden. Mit brennen-der Spannung hatte Mucian den Bericht über den Kriegsrat erwartet, der jetzt zu Winterende die Richtlinien für die Frühjahrskampagne festlegen sollte. Nun lag er vor ihm, der Bericht. Die weitaus meisten Herren des Kriegsrats, selbst der Sohn des Vespasian, der junge General Titus, waren der Meinung gewesen, man müsse unverzüglich gegen Jerusalem marschieren. Aber der Spediteur, der unverschämte, plumpe Pferdeäpfelbauer, hatte einen neuen Dreh gefunden. Der innere Zwist der Juden, hatte er ausgeführt, werde die Stadt in absehbarer Zeit reif machen, mit sehr viel weniger Opfern genommen zu werden als jetzt. Jetzt vor Jerusalem zu marschieren hieße das Blut guter römischer Legionäre verschwenden, das man sparen könne. Er sei dafür, zuzuwarten, vornächst den bisher nicht besetzten Süden zu okkupieren. Er war schlau, dieser Vespasian. So filzig er war, mit Ausreden war er nicht filzig. Der würde sein Kommando nicht so bald abgeben.

  Der schmächtige Mucian, den Stock hinterm Rücken, den hagern Kopf schräg vorgestreckt, lief wütend hin und her. Er war nicht mehr jung, er hatte die Fünfzig hinter sich, ein Leben voll von herrlichen, nie bereuten Lastern, voll von Studien über die nie erschöpfte Fülle der Merkwürdigkeiten der Natur, ein Leben voll von Macht und Absturz, von Reichtum und Niederbruch. Nun, gerade noch im Besitz seiner ganzen Kraft, war er Herr in diesem tief erregenden, uralten Asien geworden, und er kochte vor Wut, daß der abgefeimte junge Kaiser ihn den großartigen Bissen gerade mit diesem widerwärtigen Bauern teilen hieß. Fast ein ganzes Jahr hatte er den verschmitzten Spediteur als Gleichgestellten neben sich dulden müssen. Aber jetzt war es genug. Er durchschaute natürlich die Absichten des Marschalls ebensogut wie die des Kaisers. Der Bursche durfte ihm nicht länger im Weg stehen. Er mußte fort aus seinem Asien, er mußte, mußte! mit diesem läppischen Judenkrieg endlich Schluß machen.
  In Eile und großem Zorn diktierte Mucian ein ganzes Bündel von Briefen, an den Kaiser, an die Minister, an befreundete Senatoren. Es sei unverständlich, warum der Feldherr auch zu Beginn dieses Sommers nach soviel Vorbereitungen und nachdem der Gegner durch innere Zwistigkeiten geschwächt sei, die Stadt Jerusalem noch immer nicht für sturmreif halte. Er wolle nicht bittere Meditationen darüber anstellen, wie sehr diese wenig energische Kriegführung die Pläne des Alexanderzugs gefährdet habe. Aber so viel sei gewiß, daß, wenn die Strategie des Zögerns fortgesetzt werde, das Prestige des Kaisers, des Senats und der Armee im ganzen Osten auf dem Spiel stehe.
  Der Zeitpunkt, zu dem diese Briefe in Rom eintrafen, war für die Absichten des Mucian recht ungünstig. Die Westprovinzen hatten nämlich soeben viel wichtigere und unangenehmere Dinge gemeldet. Der Gouverneur von Lyon, ein gewisser Vindex, meuterte, er schien die Sympathien ganz Galliens und Spaniens zu haben. Die Depeschen klangen bedenklich. Wirkliche, volle Anteilnahme fand unter diesen Umständen der Bericht des Mucian nur an einer einzigen Stelle, bei dem Minister Talaß. Der alte Herr hielt es für einen ihm persönlich angetanen Tort des Generals Vespasian, daß der die Zerstörung Jerusalems so lange hinauszögerte. Er antwortete dem Mucian verständnisvoll, von ganzem Herzen zustimmend.
  Der Generalgouverneur, diese Antwort in Händen, beschloß, den Spediteur selber zu stellen, fuhr ins Hauptquartier Vespasians nach Cäsarea.
  Der Marschall empfing ihn schmunzelnd, sichtlich erfreut. Man lag bei Tische, zu dreien, Vespasian, Titus, Mucian, unter herzlichen Gesprächen. Langsam, beim Nachtisch, glitt man ins Politische. Mucian betonte, wie fern es ihm liege, sich in die Dinge des andern zu mengen; es sei Rom, es seien die römischen Minister, die auf Beendigung des Feldzugs drängten. Er für sein Teil begreife durchaus die Motive des Marschalls, aber anderseits erscheine ihm der Wunsch Roms so wichtig, daß er bereit sei, aus seinen eigenen syrischen Legionen Truppen abzugeben, falls nur Vespasian vor Jerusalem rücke. Der junge General Titus, begierig, seine soldatischen Qualitäten endlich zu zeigen, pflichtete stürmisch bei: »Tu es, Vater, tu es! Meine Offiziere brennen darauf, die ganze Armee brennt darauf, Jerusalem niederzuschlagen.«
  Vespasian sah mit Vergnügen, wie in dem gescheiten, von Lüsten, Geldgier und Ehrgeiz verwüsteten Gesicht des Mucian ein großes Gefallen an seinem Sohn Titus aufstieg, gemischt aus ehrlicher Sympathie und Begierde. Der Marschall schmunzelte. Er hatte dem Sohn, sosehr er an ihm hing, von seinen wirklichen Motiven nichts gesagt. Im Innern war er überzeugt, der Junge wußte so gut darum wie dieser schlaue Mucian oder sein Jude Josef; aber er freute sich, daß Titus so stürmisch loslegte. Um so leichter fiel es ihm selber, seine persönlichen Argumente durch sachliche zu verdecken.
  Später, als er mit Mucian allein war, zog dieser den Brief des Ministers Talaß heraus. Vespasian bekam geradezu Respekt vor seiner Zähigkeit. Der Mensch war ekelhaft, aber gescheit: man konnte offen mit ihm reden. Vespasian also winkte ab: »Lassen Sie nur, Exzellenz. Ich weiß, Sie wollen mir jetzt die Meinung irgendeines einflußreichen Kackers aus Rom versetzen, der Ihnen versichert, Rom gehe zugrunde, wenn ich nicht augenblicklich vor Jerusalem rücke.« Er schob sich näher an Mucian heran, blies ihm seinen starken Atem ins Gesicht, daß Mucians ganze Höflichkeit dazu gehörte, nicht zurückzuweichen, und sagte gemütlich: »Und wenn Sie mir noch zehn solcher Briefe zeigen, Verehrter, ich denke gar nicht daran.« Er richtete sich hoch, strich ächzend seinen gichtischen Arm, rückte ganz dicht neben den andern, sagte vertraulich: »Hören Sie einmal, Mucian, wir haben uns doch beide alle acht Winde um die Nase wehen lassen, wir brauchen einander nichts vorzumachen. Mir wird der Wein sauer, wenn ich Sie anschauen muß mit Ihrem zuckenden Gesicht und Ihrem Stock hinterm Rücken, und Sie werden seekrank, wenn Sie meinen lauten Atem hören und meine Haut riechen. Stimmt’s?« Mucian erwiderte verbindlich: »Bitte, fahren Sie fort.« Vespasian fuhr fort: »Nun sind wir aber einmal leider an die gleiche Deichsel gespannt. Es war ein verdammt schlauer Einfall der Majestät. Nur: sollten wir nicht ebenso schlau sein? Ein Dromedar und ein Büffel kommen schlecht miteinander aus an der gleichen Deichsel, Griechen und Juden kann man mit Erfolg gegeneinander ausspielen: aber zwei alte Eingeweide-Beschauer wie wir, was meinen Sie?« Mucian zwinkerte heftig und nervös. »Ich folge aufmerksam Ihren Gedankengängen, Konsul Vespasian«, sagte er. »Haben Sie Nachrichten aus dem Westen?« fragte jetzt unumwunden Vespasian, und seine hellen Augen ließen den andern nicht los. »Aus Gallien, meinen Sie?« fragte Mucian zurück. »Ich sehe, Sie sind im Bilde«, schmunzelte Vespasian. »Sie brauchen mir den Brief Ihres römischen Hintermannes wirklich nicht zu versetzen. Rom hat jetzt andere Sorgen.«
  »Mit Ihren drei Legionen können Sie wenig ausrichten«, sagte unbehaglich Mucian. Er hatte den Stock beiseite gelegt, wischte sich mit dem Rücken der kleinen, gepflegten Hand den Schweiß von der Oberlippe. »Richtig«, konstatierte gemütlich Vespasian. »Darum schlage ich Ihnen ein Abkommen vor. Ihre vier syrischen Legionen sind miserabel, aber zusammen mit meinen drei guten sind es immerhin sieben. Halten wir unsere sieben Legionen zusammen, bis man im Westen klarer sieht.« Und da Mucian schwieg, redete er ihm vernünftig zu: »Bevor es im Westen klar wird, werden Sie mich doch nicht los. Seien Sie gescheit.« – »Ich danke Ihnen für Ihre offenen und konsequenten Darlegungen«, erwiderte Mucian.
  Es waren angeblich seine wissenschaftlichen Interessen, die den Mucian in den nächsten Wochen in Judäa festhielten; denn er arbeitete an einem großen Werk, einer Darstellung der Geographie und Ethnographie des Imperiums, und Judäa stak voller Merkwürdigkeiten. Der junge Titus begleitete den Gouverneur auf seinen Exkursionen, sehr beflissen; oft stenographierte er mit, was die Eingeborenen zu erzählen hatten. Da war die Quelle von Jericho, die vor Zeiten nicht nur die Erd- und Baumfrüchte, sondern auch die Leibesfrucht der Weiber vernichtet und überhaupt allem Lebendigen Tod und Verderben gebracht hatte, bis sie ein gewisser Prophet Elysseus durch Gottesfurcht und Priesterkunst entsühnte, so daß sie jetzt das Gegenteil bewirkte. Auch den Asphaltsee besichtigte Mucian, das Tote Meer, das selbst die schwersten Gegenstände trägt und sie sogleich wieder hochspült, wenn man sie mit Gewalt hineintaucht. Mucian ließ sich das vorführen, ließ Personen, die des Schwimmens unkundig waren, mit auf dem Rücken gebundenen Händen in die Tiefe werfen und schaute mit Interesse zu, wie sie auf der Oberfläche herumtrieben. Dann bereiste er die sodomitischen Gefilde, suchte die Spuren des vom Himmel gesandten Feuers, sah im See die schattenhaften Umrisse von fünf untergegangenen Städten, pflückte Früchte, an Farbe und Gestalt eßbaren ähnlich, die aber noch während des Pflückens zu Staub und Asche zerplatzten.
  Er stellte Fragen über alles, er war sehr wißbegierig, notierte und ließ notieren. Eines Tages fand er solche Notizen niedergeschrieben in seiner eigenen Handschrift, trotzdem er genau wußte, er hatte diese Notizen nicht gemacht. Es stellte sich heraus, daß sie von Titus stammten. Ja, der junge Herr hatte die Fähigkeit, sich rasch und so tief in die Handschrift anderer einzuleben, daß diese andern seine Nachahmung von ihrer eigenen Schrift nicht unterscheiden konnten. Mucian, nachdenklich, bat den Titus, ihm einige Zeilen in der Schrift seines Vaters zu schreiben. Titus tat es, und es war wirklich unmöglich, diese Zeilen als Nachahmung zu erkennen. Aber das Merkwürdigste, was Mucian in diesen judäischen Wochen sah und erlebte, blieb der kriegsgefangene gelehrte General Josef Ben Matthias. Schon am ersten Tag in Cäsarea war dem Gouverneur der gefangene Jude aufgefallen, wie er bescheiden und dennoch überaus sichtbar mit seiner Kette in den Straßen Cäsareas herumlief. Vespasian hatte seine Fragen sonderbar beiläufig weggewischt. Aber er konnte nicht verhindern, daß sich der neugierige Mucian trotzdem eingehend mit diesem Priester Josef unterhielt. Er tat das oft; er merkte bald, daß Vespasian seinen Gefangenen als eine Art Orakel verwandte, nach dessen Aussprüchen er sich in Zweifelsfällen richtete, ohne natürlich den Gefangenen diese seine Bedeutung merken zu lassen. Den Mucian beschäftigte das; denn er hielt den Marschall für einen wassernüchternen Rationalisten. Er sprach mit Josef über alle möglichen Dinge zwischen Himmel und Erde und staunte immer wieder, wie seltsam östliche Weisheit das griechische Weltwissen des Juden veränderte. Er kannte Priester aller Art, Priester des Mithras und des Aumu, barbarische Priester der englischen Sulis und der deutschen Rosmerta: dieser Priester des Jahve, so wenig er sich äußerlich von einem Römer unterschied, lockte ihn mehr als die andern.
  Bei alledem versäumte er nicht, seine Beziehungen zu dem Marschall nach Möglichkeit zu klären. Vespasian hatte recht: solange nicht im Westen und in Rom helle Sicht geschaffen war, hatten die beiden Herren des Ostens, der Gouverneur von Syrien und der Oberstkommandierende in Judäa, die genau gleichen Interessen. Vespasian, mit seiner rüden Offenheit, legte fest, wie weit diese Interessengemeinschaft sich in der Praxis auswirken sollte. Keiner wird ohne Zustimmung des andern wichtige politische oder militärische Handlungen vornehmen; in ihren offiziellen Berichten nach Rom aber werden sie wie bisher gegeneinander intrigieren, jetzt freilich auf eine genau vereinbarte Art.
  Der nicht sehr freigebige Vespasian hatte Angst, was der verschwenderische und habgierige Gouverneur sich als Gastgeschenk für die Rückreise ausbitten würde. Mucian verlangte ein einziges: den kriegsgefangenen Juden Josef. Der Marschall, zuerst überrascht von soviel Bescheidenheit, wollte schon ja sagen. Aber dann überlegte er sich’s anders; nein, er gab seinen Juden nicht weg. »Sie wissen doch«, lachte er gemütlich zu Mucian, »der Spediteur ist geizig.«
  So viel wenigstens erreichte der Gouverneur, daß Vespasian ihm den Titus auf einige Zeit zu Besuch nach Antiochia mitgab. Der Marschall hatte sogleich durchschaut, daß Titus eine Art Geisel dafür sein sollte, daß Vespasian die getroffenen Vereinbarungen auch einhalte. Aber das kränkte ihn nicht. Er gab Mucian das Geleite bis zum Schiff nach Antiochia. Mucian, sich verabschiedend, sagte in seiner höflichen Art: »Ihr Sohn Titus, Konsul Vespasian, hat alle Ihre guten Eigenschaften ohne Ihre schlechten.« Vespasian schnaufte stark, dann erwiderte er: »Sie haben leider keinen Titus, Exzellenz.«

Vespasian besichtigte in den Docks von Cäsarea die Kriegsgefangenen, die versteigert werden sollten. Der Hauptmann Fronto, dem das Depot unterstand, hatte eine flüchtige Liste der Gefangenen anfertigen lassen, es waren an dreitausend. Jeder trug ein Täfelchen um den Hals, auf dem seine Nummer sowie Alter, Gewicht, Krankheiten, auch allenfallsige besondere Fähigkeiten vermerkt waren. Die Händler gingen herum, hießen die Gefangenen aufstehen, niederhocken, die Glieder heben, öffneten ihnen den Mund, betasteten sie. Die Händler mäkelten; es war keine gute Ware, das wird morgen eine ziemlich magere Auktion werden.
  Vespasian hatte einige Offiziere mit, auch Cänis, dazu seinen Juden Josef, den er benötigte, um sich mit den Gefangenen besser zu verständigen. Er hatte aus der Beute Anspruch auf zehn Leibeigene, die er sich aussuchen wollte, bevor die gesamte Ware auf den Markt gebracht wurde. Cänis benötigte eine Friseuse und einen gut aussehenden Jungen, der bei Tisch aufwarten konnte. Der praktische Vespasian hingegen wollte sich ein paar kräftige Burschen herausholen, um sie auf seinen italienischen Besitzungen als Landarbeiter zu verwenden.
  Er war guter Laune, machte Witze über die jüdischen Leibeigenen. »Sie sind verdammt schwierig mit ihren Sabbaten, Festtagen, verzwickten Speisevorschriften und dem ganzen Kram. Duldet man es, daß sie ihre sogenannten religiösen Vorschriften ausführen, dann muß man zusehen, wie sie ihr halbes Leben faulenzen; duldet man’s nicht, dann werden sie störrisch. Eigentlich sind sie nur dazu gut, daß man sie an die andern Juden zurückverkauft. Ich habe mich gefragt«, wandte er sich plötzlich an Josef, »ob ich Sie nicht an Ihre Landsleute zurückverkaufen soll. Aber sie haben miserable Preise geboten, sie haben offenbar Überfluß an Propheten.«
  Josef lächelte still und bescheiden. Innerlich lächelte er keineswegs. Aus Gesprächsbrocken, die er aufgeschnappt hatte, folgerte er, daß die Dame Cänis, die ihn nun einmal nicht leiden mochte, hinterm Rücken Vespasians versucht hatte, ihn an den Generalgouverneur Mucian weiterzuverkaufen. Der höfliche, literarisch interessierte Mucian hätte sich bestimmt keine so derben Witze mit ihm erlaubt wie der Marschall. Aber Josef fühlte sich nun einmal diesem Vespasian verbunden. Gott hatte ihn an diesen geschmiedet, hier war seine große Chance. Sein Lächeln, als Vespasian spaßte, ob er ihn verkaufen solle, war dünn, ein wenig verzerrt.
  Man geriet an einen Haufen Weiber. Man hatte ihnen gerade zu essen gegeben; gierig und dennoch sonderbar stumpf schlangen sie ihre Linsensuppe, kauten sie ihr Johannisbrot. Es war der erste ganz heiße Tag, Schwüle und Gestank war ringsum. Den älteren Weibern, die nur mehr zur Arbeit zu brauchen waren, hatte man ihre Kleider gelassen, die jüngeren waren nackt. Ein ganz junges Mädchen war darunter, schlank und doch nicht mager. Sie aß nicht, sie kauerte mit gekreuzten Beinen, die Schultern eingezogen, mit den Händen hatte sie die Fußknöchel umfaßt, sie neigte sich vor, um ihre Nacktheit zu verbergen. So hockte sie, sehr scheu, und schaute aus großen Augen aufmerksam, gehetzt, voll Vorwurf auf die Männer.
  Dem Vespasian fiel das Mädchen auf. Durch die Weiber auf sie zu trat er, hart schnaufend in der Hitze. An den Schultern packte er die Kauernde, bog ihr die Schultern auseinander. Verschreckt, gräßlich verängstigt, sah sie zu ihm hoch. »Steh auf«, herrschte der Hauptmann Fronto sie an. »Lassen Sie sie hocken«, sagte Vespasian. Er beugte sich nieder, hob die Holztafel, die ihr auf der Brust hing, las laut: »Mara, Tochter des Lakisch, Theaterdieners aus Cäsarea, vierzehn Jahre, Jungfrau. Na ja«, sagte er und richtete sich ächzend wieder hoch. »Wirst du aufstehen, Hündin«, zischelte ein Aufseher. Sie verstand offenbar nicht vor Angst. »Ich glaube, du solltest aufstehen, Mara«, sagte sanft Josef. »Laßt sie doch«, sagte halblaut Vespasian.
  »Wollen wir nicht weitergehen?« fragte die Dame Cänis. »Oder willst du sie nehmen? Ich weiß nicht, ob sie sich zur Kuhmagd eignet.« Die Dame Cänis hatte nichts dagegen, daß Vespasian sich vergnügte, aber sie liebte es, selber die Objekte dieser Vergnügungen auszusuchen. Das Mädchen war jetzt aufgestanden. Eirund, zart und klar hob sich das Gesicht aus den langen, sehr schwarzen Haaren, der Mund, vollippig, mit großen Zähnen, sprang leicht vor. Hilflos, nackt, jung, erbärmlich stand sie, den Kopf hin und her ruckend. »Fragen Sie sie, ob sie was Besonderes kann«, wandte sich Vespasian an Josef. »Der große Herr fragt, ob du eine besondere Kunst kannst«, sagte Josef freundlich und behutsam zu dem Mädchen. Mara atmete heftig, in Stößen, sie sah Josef aus ihren langen Augen dringlich an. Plötzlich legte sie die Hand an die Stirn und verneigte sich tief, aber sie antwortete nicht. »Wollen wir nicht weitergehen?« fragte die Dame Cänis. »Ich glaube, du solltest uns antworten, Mara«, redete Josef dem Mädchen gut zu. »Der große Herr fragt, ob du eine besondere Kunst kannst«, wiederholte er geduldig. »Ich kann sehr viele Gebete auswendig«, sagte Mara. Sie sprach schüchtern, ihre Stimme klang merkwürdig dunkel, angenehm. »Was sagt sie?« erkundigte sich Vespasian. »Sie kann beten«, gab Josef Auskunft. Die Herren lachten. Vespasian lachte nicht. »Na ja«, sagte er. »Darf ich Ihnen das Mädchen schicken?« fragte der Hauptmann Fronto. Vespasian zögerte. »Nein«, antwortete er schließlich, »ich brauche Arbeiter für meine Güter.«
  Am Abend fragte Vespasian den Josef: »Beten eure Frauen viel?« – »Unsere Frauen sind nicht gehalten zu beten«, klärte Josef ihn auf. »Sie sind verpflichtet, die Verbote zu halten, aber nicht die Gebote. Wir haben dreihundertfünfundsechzig Gebote, soviel wie die Tage des Jahres, und zweihundertachtundvierzig Verbote, soviel wie die Knochen des Menschen.« – »Das ist reichlich«, meinte Vespasian.
  »Glaubst du, daß sie wirklich Jungfrau ist?« fragte er nach einer Weile. »Unkeuschheit der Frau straft unser Gesetz mit dem Tod«, sagte Josef. »Das Gesetz«, achselzuckte Vespasian. »Um Ihr Gesetz, Doktor Josef«, meinte er, »kümmert sich vielleicht das Mädchen, aber bestimmt nicht meine Soldaten. Ich muß sagen, ich habe allerhand zuwege gebracht, wenn die auch in diesem Falle Disziplin gehalten haben sollten. Es sind ihre großen Kuhaugen. Sie schauen aus, als ob alles mögliche dahintersteckte. Wahrscheinlich steckt gar nichts dahinter, wie immer in euerm Land. Alles pathetische Aufmachung, und wenn man näher hinsieht, nichts dahinter. Wie ist das mit Ihrem Orakel, Herr Prophet?« wurde er unvermutet bösartig. »Wenn ich Sie nach Rom geschickt hätte, dann wären Sie vermutlich längst abgeurteilt und könnten in einem sardinischen Bergwerk schuften, statt sich hier mit netten Judenmädchen zu unterhalten.«
  Josef kümmerten die Scherze des Marschalls wenig. Er hatte seit geraumer Zeit gemerkt, daß nicht nur er gebunden war. »Der Generalgouverneur Mucian«, erwiderte er mit dreister Höflichkeit, »hätte den Preis für mindestens zwei Dutzend Bergarbeiter bezahlt, wenn Sie mich ihm überlassen hätten. Ich glaube nicht, daß es mir in Antiochia schlecht ginge.« – »Ich habe dich sehr frech werden lassen, mein Jüdlein«, sagte Vespasian. Josef wechselte den Ton. »Mein Leben wäre zerschlagen gewesen«, sagte er heftig, demütig und überzeugt, »wenn Sie mich fortgeschickt hätten. Glauben Sie mir, Konsul Vespasian. Sie sind der Retter, und Jahve hat mich zu Ihnen geschickt, Ihnen das zu sagen, immer wieder. Sie sind der Retter«, wiederholte er hartnäckig, glühend und verbissen. Vespasian schaute spöttisch, leicht ablehnend. Er konnte nicht verhindern, daß ihm die feurigen Versicherungen des Menschen in sein altes Blut gingen. Es ärgerte ihn, daß er immer wieder aus dem Juden solche Prophezeiungen herauskitzelte. Er hatte sich an die geheimnisvolle, zuversichtliche Stimme zu sehr gewöhnt, hatte sich zu fest mit dem Juden verknüpft. »Wenn dein Gott sich nicht sehr beeilt, mein Jüdlein«, hänselte er, »dann wird der Messias etwas wackelig ausschauen, bis er endlich arriviert.« Josef, er wußte selbst nicht, woher er die Sicherheit nahm, erwiderte still und unerschütterlich: »Wenn sich nicht, ehe noch der Sommer auf seiner Höhe ist, etwas ereignet, was Ihre Situation von Grund auf ändert, Konsul Vespasian, dann, bitte, verkaufen Sie mich nach Antiochia.«
  Vespasian schleckte diese Worte mit Vergnügen. Aber er wollte es nicht zeigen und lenkte ab: »Euer König David hat sich warme junge Mädchen ins Bett legen lassen. Er war kein Kostverächter. Ich glaube, Kostverächter seid ihr alle nicht. Wie ist das, mein Jüdlein, Sie können da wohl einiges erzählen?« – »Bei uns sagt man«, erklärte Josef, »wenn ein Mann mit einer Frau zusammen war, dann spricht Gott sieben Neumonde nicht mehr aus ihm. Ich habe, solang ich an dem Makkabäerbuch schrieb, keine Frau berührt. Ich habe, seitdem ich das Oberkommando in Galiläa bekam, keine Frau angerührt.« – »Es hat Ihnen aber wenig geholfen«, meinte Vespasian.
  Den Tag darauf ließ der Marschall auf der Auktion das Mädchen Mara, Tochter des Lakisch, für sich ersteigern. Am gleichen Abend wurde sie ihm zugeführt. Sie trug noch den Kranz derer, die nach Kriegsrecht unter der Lanze versteigert wurden, aber sie war auf Anordnung des Hauptmanns Fronto gebadet, gesalbt und in ein Gewand von durchsichtigem, koischem Flor gekleidet. Vespasian schaute sie aus seinen hellen, harten Augen auf und ab. »Dummköpfe«, schimpfte er, »Fetthirne! Sie haben sie zugerichtet wie eine spanische Hure. Für so was hätte ich keine hundert Sesterzien gezahlt.« Das Mädchen begriff nicht, was der alte Mann sagte. Es war soviel auf sie niedergegangen, jetzt stand sie scheu und stumpf. Josef sprach in ihrem heimatlichen Aramäisch auf sie ein, sanft, behutsam, sie antwortete zaghaft mit ihrer dunkeln Stimme. Vespasian hörte dem fremdartigen, gurgelnden Gespräch der beiden geduldig zu. Endlich erklärte ihm Josef: »Sie schämt sich, weil sie nackt ist. Nacktheit ist eine arge Sünde bei uns. Eine Frau darf sich nicht nackt zeigen, selbst wenn es ihr nach Aussage des Arztes das Leben rettet.« – »Blöd«, konstatierte Vespasian. Josef fuhr fort: »Mara bittet den Fürsten, daß er ihr ein Kleid aus einem Stück geben lasse und viereckig. Mara bittet den Fürsten, daß er ihr ein Netz für ihre Haare geben lasse und parfümierte Sandalen für ihre Füße.« – »Mir riecht sie gut genug«, meinte Vespasian. »Aber schön. Kann sie haben.«
  Er schickte sie fort, sie brauchte heute nicht wiederzukommen. »Ich kann warten«, erklärte er vertraulich dem Josef. »Ich habe warten gelernt. Ich hebe mir gute Dinge gern eine Zeit auf, bevor ich sie genieße. Fürs Essen und fürs Bett und in jeder Hinsicht. Ich habe ja auch einige Zeit warten müssen, bis ich hier ans Amt gelangte.« Er rieb sich ächzend den gichtischen Arm, wurde noch vertraulicher. »Findest du eigentlich etwas daran an diesem Judenmädchen? Scheu ist sie, blöd ist sie, sprechen mit ihr kann ich auch nicht. Das Ungeweckte ist ja ganz nett, aber man kann hier, verdammt noch eins, hübschere Frauen finden. Weiß der Himmel, was einem an so einem kleinen Tier reizt.« Auch den Josef reizte das Mädchen Mara. Er kannte sie, diese Frauen aus Galiläa, sie waren langsam, scheu, wohl auch traurig, aber wenn sie sich auftaten, üppig und reich. »Sie sagte«, erklärte er mit ungewohnter Offenheit dem Römer, »sie sei aufs Johannisbrot gekommen. Sie hat wohl recht. Diese Mara, Tochter des Lakisch, hat nicht viel Ursache, den Segensspruch zu sprechen, wenn sie jetzt ihr neues, viereckiges Kleid bekommt.« Vespasian ärgerte sich. »Sentimental, mein Jüdlein? Ihr fangt an, mir Ärgernis zu geben. Ihr habt euch zu wichtig. Wenn man ein kleines Mädchen ins Bett will, verlangt ihr Vorbereitungen wie für einen Feldzug. Ich sag dir was, mein Prophet. Bring du ihr ein wenig Latein bei. Sprich mit ihr morgen vormittag. Aber schmeck mir nicht vor, daß dein Prophetentum keinen Schaden leidet.«
  Am andern Tag wurde Mara zu Josef gebracht. Sie trug das landesübliche viereckige Kleid aus einem Stück, dunkelbraun, rotgestreift. Der Marschall hatte guten Instinkt gehabt. Die Reinheit ihres eirunden Gesichts, die niedrige, schimmernde Stirn, die langen Augen, der üppig vorspringende Mund wurden durch die schlichte Tracht viel augenscheinlicher als durch die aufgeputzte Nacktheit.
  Josef befragte sie behutsam. Ihr Vater, ihre ganze Familie war umgekommen. Es war, glaubte das Mädchen Mara, weil er sein Leben in Sünden verbracht hatte, und auch an ihr, glaubte sie, würden seine Sünden gestraft. Lakisch Ben Simon war als Diener am Theater von Cäsarea angestellt gewesen. Er hatte, bevor er den Posten annahm, mehrere Priester und Doktoren befragt, man hatte ihm, zögernd freilich, erlaubt, auf diese Art sein Brot zu verdienen. Aber andere hatten gegen ihn um seiner Tätigkeit willen fromm geeifert. Mara glaubte diesen Frommen, sie hatte die Reden der Makkabi-Leute gehört, das Tagewerk ihres Vaters war Sünde gewesen, sie war verworfen. Nun hat sie nackt gestanden vor den Unbeschnittenen, die Römer hatten sich an ihrer Nacktheit ergötzt. Warum hat sie Jahve nicht vorher sterben lassen? Still klagte sie mit ihrer dunkeln Stimme, demütig kamen die Worte aus ihrem üppigen Mund, jung, süß und reif saß sie vor Josef. Ihr Weinberg blüht, dachte er. Er spürte plötzlich ein großes Verlangen, die Knie wurden ihm schwach, es war wie damals, als er in der Höhle von Jotapat lag. Er sah das Mädchen an, sie wandte ihre langen, dringlichen Augen nicht ab von seinem Blick, ihr Mund öffnete sich halb, ihr guter, frischer Atem kam herüber zu ihm, er begehrte sie sehr. Sie fuhr fort: »Was soll ich tun, mein Doktor und Herr? Es ist ein großer Trost, eine große Gnade, daß Gott mich Ihre Stimme hören läßt.« Und sie lächelte.
  Dies Lächeln machte, daß in Josef eine wilde, grenzenlose Wut gegen den Römer aufstieg. Er riß an seinen Fesseln, fügte sich, riß, fügte sich. Er mußte selber mithelfen, diese da dem gefräßigen Römer hinzuwerfen, dem Tier.
  Mara erhob sich plötzlich. Immer lächelnd, leichtfüßig, in den geflochtenen, parfümierten Sandalen, ging sie auf und ab. »Am Sabbat habe ich immer parfümierte Sandalen getragen. Es ist ein Verdienst und wird einem von Gott angerechnet, wenn man sich am Sabbat gut anzieht. War es richtig, daß ich von dem Römer parfümierte Sandalen verlangte?« Josef sagte: »Hör zu, Mara, Tochter des Lakisch, Jungfrau, mein Mädchen«, und vorsichtig suchte er ihr zu erklären, daß sie beide, er und sie, zum gleichen Zweck von Gott zu diesem Römer geschickt seien. Er sprach mit ihr von dem Mädchen Esther, das Gott zu dem König Ahasver gesandt habe, um ihr Volk zu retten, und von dem Mädchen Irene vor dem König Ptolemäus. »Es ist deine Aufgabe, Mara, daß du dem Römer gefällst.« Aber Mara fürchtete sich. Der Unbeschnittene, der Frevler, der im Tale Hinom gerichtet werden wird, der alte Mann, ihr ekelte, ihr grauste. Josef, Wut im Herzen gegen sich und gegen den andern, sprach ihr zu mit behutsamen, zärtlichen Worten, bereitete dies Gericht für den Römer.
  Vespasian, am andern Morgen, schilderte derb und offen, wie es mit Mara gewesen war. Ein wenig Angst und Scham waren ihm ganz recht; aber diese da hatte am ganzen Leib gezittert, geradezu ohnmächtig war sie gewesen, hinterher war sie eine lange Zeit starr und steif gelegen. Er sei ein alter Herr, leicht rheumatisch, sie sei für ihn zu anstrengend. »Sie scheint«, meinte er, »randvoll von abergläubischen Vorstellungen: wenn ich sie anrühre, fressen sie die Dämonen oder dergleichen. Du mußt das ja besser wissen, mein Jüdlein. Hör einmal, mach du sie mir zahm. Willst du? Übrigens, was heißt auf aramäisch: sei zärtlich, mein Mädchen, sei nicht dumm, meine Taube, oder so was?«
  Mara, als Josef sie wiedersah, war in Wahrheit starr und zugesperrt. Die Worte kamen mechanisch aus ihrem Mund, sie war wie eine geschminkte Tote. Als Josef sich ihr nähern wollte, wich sie zurück und schrie gleich einer Aussätzigen hilflos und entsetzt: »Unrein! Unrein!«


Bevor der Sommer auf seiner Höhe war, kamen große Nachrichten aus Rom. Der Aufstand im Westen war geglückt, der Senat hatte den Kaiser abgesetzt, Nero, der fünfte Augustus, hatte sich selber getötet, nicht unwürdig, seiner Umgebung ein großes Schauspiel bietend. Herren der Welt jetzt waren die Führer der Armeen. Vespasian lächelte. Er war ein unpathetischer Mann, aber er reckte sich höher. Es war gut, daß er seiner innern Stimme gefolgt war und den Feldzug nicht so rasch beendet hatte. Er hatte drei starke Legionen jetzt, mit denen des Mucian sieben. Er packte Cänis an den Schultern, er sagte: »Nero ist tot. Mein Jude ist kein Dummkopf, Cänis.« Sie schauten sich an, ihre schweren Leiber schaukelten hin und her, leise, gleichmäßig, beide lächelten.

  Josef, als er die Nachricht vom Tode des Kaisers Nero hörte, stand ganz langsam auf. Er war ein noch junger Mann, einunddreißig Jahre war er alt, und er hatte mehr Auf und Ab erlebt als gemeinhin ein Mensch mit einunddreißig Jahren. Jetzt stand er, atmete, griff sich nach der Brust, den Mund leicht offen. Er hatte vertraut darauf, daß Jahve in ihm sei, er hatte ein sehr hohes Spiel gespielt, er hatte es nicht verloren. Mühsam mit der gefesselten Hand setzte er den Priesterhut auf, sprach den Segensspruch: »Gelobt seist du, Jahve, unser Gott, der du uns hast erleben und erreichen und erlangen lassen diesen Tag.« Dann, langsam, schwer, hob er den rechten Fuß, dann den linken, er tanzte, so wie die großen Herren dem Volke vortanzten im Tempel beim Feste des Wasserschöpfens. Er stampfte auf, die Kette klirrte, er sprang, hüpfte, stampfte, versuchte in die Hände zu klatschen, sich auf die Hüfte zu schlagen. Das Mädchen Mara kam in sein Zelt, sie stand ungeheuer verblüfft, erschreckt. Er hörte nicht auf, er tanzte weiter, er raste, er schrie: »Lache mich aus, Mara, Tochter des Lakisch. Lache, wie die Feindin den Tänzer David verlachte. Hab keine Angst. Es ist nicht Satan, der Erztänzer, es ist König David, der tanzt, vor der Bundeslade.« So also feierte der Doktor und Herr Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe, daß Gott seine Prophezeiung nicht hatte zuschanden werden lassen.
  Am Abend sagte Vespasian zu Josef: »Sie können die Kette jetzt ablegen, Doktor Josef.« Josef erwiderte: »Wenn Sie erlauben, Konsul Vespasian, werde ich die Kette weiter tragen. Ich will sie tragen, bis der Kaiser Vespasian sie mir zerhaut.« Vespasian grinste. »Sie sind ein kühner Mann, mein Jude«, sagte er. Josef, wie er nach Hause ging, pfiff lautlos vor sich hin, zwischen Lippen und Zähnen. Das tat er sehr selten, nur wenn ihm besonders wohl zumute war. Es war aber das Couplet des Leibeigenen Isidor, das er pfiff: »Wer ist der Herr hier? Wer zahlt die Butter?«

Kuriere jagten von Antiochia nach Cäsarea, von Cäsarea nach Antiochia. Eilbotschaften kamen von Italien, aus Ägypten. Senat und Garde hatten den sehr alten General Galba zum Kaiser ausgerufen, einen gichtbrüchigen, mürrischen, launischen Herrn. Der wird nicht lange Kaiser bleiben. Wer der neue Kaiser sein wird, bestimmen die Armeen, die Rheinarmee, die Donauarmee, die Ostarmee. Der Generalgouverneur Ägyptens, Tiber Alexander, schlug eine engere Verbindung vor zwischen sich und den beiden Herren Asiens. Selbst der säuerliche Bruder Vespasians, der Polizeipräsident Sabin, kam in Bewegung, meldete sich, machte dunkle Angebote.

  Es gab viel zu tun, und Vespasian hatte keine Zeit, für das Mädchen Mara aramäische Studien zu treiben. Donner und Jupiter! Die Nutte soll endlich lernen, auf lateinisch zärtlich zu sein. Aber Mara lernte es nicht. Vielmehr konnte man sie gerade noch verhindern, sich mit einem Haarpfeil zu erstechen.
  Soviel Unverständnis verdroß den Feldherrn. Er fühlte sich dem jüdischen Gott auf eine dunkle Art verpflichtet, er wollte nicht, daß das Mädchen ihn und den Gott auseinanderbringe. Dem Josef traute er nicht in dieser Angelegenheit; so versuchte er durch einen andern Mittler aus ihr herauszulocken, was eigentlich sie so im Herzen kümmere. Er war überrascht, als er es erfuhr. Dieses Stückchen Nichts war voll von dem gleichen naiven Hochmut wie sein Jude. Vespasian schmunzelte breit, ein bißchen boshaft. Er wußte, wie er sich, dem Mädchen und Josef helfen wird.
  »Ihr Juden«, erklärte er Josef noch am gleichen Tag in Gegenwart der Dame Cänis, »seid wirklich randvoll von frechem, barbarischem Aberglauben. Stellen Sie sich vor, Doktor Josef, diese kleine Mara ist fest überzeugt, sie sei unrein, weil ich sie ins Bett genommen habe. Verstehen Sie das?« – »Ja«, sagte Josef. »Da sind Sie schlauer als ich«, meinte Vespasian. »Gibt es ein Mittel, sie wieder rein zu machen?« – »Nein«, gab Josef Bescheid. Vespasian trank von dem guten Weine von Eschkol; dann erklärte er behaglich: »Aber sie weiß ein Mittel. Wenn ein Jude sie heiratet, dann, versichert sie, werde sie wieder rein.« – »Das ist kindisches Geschwätz«, erklärte Josef. »Das ist kein schlechterer Aberglaube als der erste«, meinte konziliant Vespasian. »Sie werden schwerlich«, sagte Josef, »einen Juden finden, der sie heiratet. Das Gesetz verbietet es.« – »Ich werde einen finden«, erwiderte gemütlich Vespasian. Josef schaute fragend auf. »Dich, Jüdlein«, schmunzelte der Römer.
  Josef erblaßte. Vespasian wies ihn behaglich zurecht: »Sie sind unmanierlich, mein Prophet. Wenigstens ›Danke schön!‹ könnten Sie sagen.« – »Ich bin Priester der Ersten Reihe«, sagte Josef, seine Stimme klang heiser, merkwürdig ausgelöscht. »Verdammt heikel sind diese Juden«, sagte Vespasian zu Cänis. »Was unsereiner angerührt hat, schmeckt ihnen nicht mehr. Dabei haben Kaiser Nero und ich selber abgelegte Frauen geheiratet. Was, Cänis, alter Hafen?« – »Ich stamme ab von den Hasmonäern«, sagte sehr leise Josef, »mein Geschlecht geht auf König David zurück. Wenn ich diese Frau heirate, dann verliere ich meine Priesterrechte für immer, und die Kinder aus solcher Vereinigung sind illegitim, rechtlos. Ich bin Priester der Ersten Reihe«, wiederholte er leise, beharrlich. »Du bist ein Haufen Dreck«, sagte schlicht und abschließend Vespasian. »Wenn du ein Kind kriegst, will ich es in zehn Jahren sehen. Dann wollen wir untersuchen, ob es dein Sohn ist oder meiner.« – »Werden Sie sie heiraten?« erkundigte sich interessiert die Dame Cänis. Josef schwieg. »Ja oder nein?« fragte, unvermittelt heftig, Vespasian. »Ich sage weder ja noch nein«, erwiderte Josef. »Gott, der bestimmt hat, daß der Feldherr Kaiser sein soll, hat dem Feldherrn diesen Wunsch eingegeben. Ich neige mich vor Gott.« Und er neigte sich tief.
  Josef schlief schlecht in den folgenden Nächten; seine Kette scheuerte ihn. So hoch ihn das Eintreffen seiner Prophezeiung erhoben hatte, so tief stürzte ihn der freche Spaß des Römers. Er erinnerte sich der Lehren des Essäers Banus in der Wüste. Fleischliche Begier vertrieb den Geist Gottes; es war ihm selbstverständlich gewesen, daß er sich der Weiber enthalten müsse, solange seine Prophezeiung nicht erfüllt war. Das Mädchen Mara war seinem Herzen und seiner Haut wohlgefällig, das mußte er jetzt bezahlen. Wenn er dieses Mädchen heiratete, das durch Kriegsgefangenschaft und die Buhlerei mit dem Römer zur Hure geworden war, dann war er verworfen vor Gott und hatte die Strafe der öffentlichen Geißelung verwirkt. Er kannte genau die Bestimmungen; hier gab es keine Ausnahme, kein Ausbiegen und kein Deuteln. »Die Weinrebe soll sich nicht um den Dornstrauch ranken«, das war die Grundstelle. Und zu dem Satze »Verflucht, der bei einem Tiere schläft« sagt der authentische Kommentar der Doktoren, daß der Priester, der sich mit einer Hure mischt, nicht besser sei als der, der mit einem Tiere schläft.
  Allein Josef schluckte das ganze Gift hinunter. Hohes Spiel erfordert hohen Einsatz. Er ist mit diesem Römer verknüpft, er wird die Schande auf sich nehmen.
  Vespasian wandte Zeit und Intensität daran, den Spaß ganz auszukosten. Er ließ sich genau über das umständliche, verzwickte jüdische Eherecht unterrichten, auch über das Zeremoniell bei Verlobung und Hochzeit, das in Galiläa anders war als in Judäa. Er sah darauf, daß alles streng nach dem Ritus vor sich ging.
  Der Ritus verlangte, daß an Stelle des toten Vaters der Vormund über den Kaufpreis der Braut mit dem Bräutigam verhandelte. Vespasian erklärte sich zum Vormund. Es war Usus, daß der Bräutigam zweihundert Zuz zahlte, wenn die Braut Jungfrau, hundert Zuz, wenn sie Witwe war. Vespasian ließ für Mara, Tochter des Lakisch, hundertfünfzig Zuz als Kaufpreis in das Dokument setzen und bestand darauf, daß Josef ihm persönlich eine Schuldverschreibung über diesen Betrag ausstellte. Er berief Doktoren und Studenten der Schulen von Tiberias, Magdala, Sepphoris und sonstige Notabeln des besetzten Gebiets als Zeugen der Hochzeit. Viele weigerten sich, bei dem Greuel mitzuwirken. Der Feldherr legte ihnen Strafen, ihren Gemeinden Kontributionen auf.
  Die ganze Bevölkerung wurde durch Herolde zur Teilnahme an dem Fest aufgefordert. Für den Hochzeitszug mußte der kostbarste Brautstuhl von Tiberias herbeigeschafft werden, wie das bei der Vermählung großer Herren der Brauch war. An Stelle des Vaters sagte, als Mara auf dem myrtenbekränzten Brautstuhl sein Haus verließ, Vespasian: »Gebe Gott, daß du hierher nicht zurückkommst.« Dann wurde sie durch die Stadt geführt, die vornehmsten Juden Galiläas, auch sie mit Myrten geschmückt, trugen den Brautstuhl. Mädchen mit Fak keln gingen voran, dazu Studenten, die Alabasterkrüge mit Wohlgerüchen schwenkten. Wein und Öl wurde auf den Weg ausgeschüttet, Nüsse, geröstete Ähren ausgeworfen. Gesang war ringsum: »Der Schminke, der Salbe, des Heilkrauts bedarfst du nicht, du liebliche Gazelle.« Tanz war auf allen Straßen; die sechzigjährige Matrone mußte zur Sackpfeife springen genau wie das sechsjährige Mädchen, und selbst die alten Doktoren mußten tanzen, Myrtenzweige in den Händen, denn Vespasian wünschte sein Brautpaar nach altem Herkommen geehrt.
  So wurde Josef durch die Stadt Cäsarea geführt, einen langen Weg, nicht weniger qualvoll als der durch das römische Lager, als er das erstemal zu Vespasian gebracht wurde. Dann endlich stand er mit Mara im Brautzelt, in der Chuppa. Das Brautzelt war aus weißem, golddurchwirktem Linnen, von der Decke hingen Weintrauben, Feigen und Oliven. Vespasian und eine Reihe seiner Offiziere sowie die jüdischen Notabeln Galiläas waren Zeugen, wie Josef das Mädchen Mara heiratete. Sie hörten es, wie er deutlich und verbissen die Formel sprach, die verbrecherisch war in seinem Munde: »Hiermit erkläre ich, du bist mir angetraut nach dem Gesetz Mosis und Israels.« Der Boden stürzte nicht ein, als der Priester diese ihm verbotenen Worte sprach. Die Früchte schaukelten leicht von der Decke des Brautzelts. Ringsum sangen sie: »Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Brunnen.« Das Mädchen Mara aber, schamlos und lieblich, hing ihre langen, dringlichen Augen an das blasse Gesicht Josefs und gab den Vers zurück: »Mein Freund komme in seinen Garten und esse von seinen guten Früchten.« Vespasian ließ sich alles übersetzen, schmunzelte vergnügt. »Eines möchte ich mir ausgebeten haben, mein Lieber«, sagte er zu Josef, »daß du dich nicht zu rasch wieder aus dem Garten verdrückst.«

Die Prinzessin Berenike, Tochter des ersten, Schwester des zweiten Königs Agrippa, tauchte auf aus ihren Meditationen in der Wüste, kehrte zurück nach Judäa. Leidenschaftlich jedem Gefühl hingegeben, hatte sie, als die Römer die Städte Galiläas verheerten, körperlich mitgelitten, war in die südliche Wüste geflohen. Sie fieberte, wies angeekelt Speise und Trank zurück, kasteite sich, ließ ihr Haar verfilzen, ihren Körper von einem härenen Gewand zerkratzen, gab ihn der Mittagshitze und dem nächtlichen Frost preis. So lebte sie Wochen, Monate, allein, in heilloser Zerknirschung, niemand sah sie als die Einsiedler, die essäischen Brüder und Schwestern.

  Allein als das Gerücht von den wüsten Dingen, die in Rom geschahen, vom Tode Neros und den Wirren unter Galba auf unerklärliche Weise auch in die Wüste drang, warf sich die Prinzessin mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie sich in das grundlose Meer der Buße gestürzt hatte, in die Politik. Von jeher schon schlugen ihre Neigungen jäh um; bald versank sie in den heiligen Schriften, gebieterisch und wild Gott suchend, bald richtete sie die ganze Kraft ihres kühnen und wendigen Geistes auf die Wirrungen im Regiment des Reichs und der Provinzen.
  Schon auf der Reise begann sie zu arbeiten, zettelte, sandte und empfing unzählige Briefe, Depeschen. Lange bevor sie Judäa wieder erreichte, war sie sich klar über die Fäden, die vom Osten zum Westen liefen, über die Verteilung der Macht im Reich, hatte Pläne entworfen, Stellung genommen. Viele Faktoren waren gegeneinander abzuwägen: die Rheinarmee, die Donauarmee, das Heer im Osten; der Senat, die reichen Herren in Rom und in den Provinzen; Wesensart und Macht der Gouverneure von England, Gallien, Spanien, Afrika, der leitenden Beamten in Griechenland, am Schwarzen Meer; die geizige, mürrische, uralte Person des Kaisers; die zahlreichen stillen und auch lauten Kandidaten für die Nachfolge. Je mehr Verwirrung in der Welt, um so besser. Schon haben diese Wirren bewirkt, daß Jerusalem und der Tempel heil und unversehrt dastehen. Vielleicht glückt es, den Schwerpunkt des Weltregiments wieder nach dem Osten zu rücken, so daß die Welt nicht von Rom, sondern von Jerusalem aus geordnet wird.
  Die Prinzessin wägt ab, zählt, sucht den Punkt, wo sie eingreifen kann. Im Osten, in ihrem Osten, haben drei Männer die Macht: der Herr von Ägypten, Tiberius Alexander; der Herr von Syrien, Mucian; der Feldmarschall von Judäa, Vespa sian. Jetzt also ist sie nach seinem Hauptquartier gekommen, um sich diesen Feldmarschall einmal anzuschauen. Sie ist voll von Vorurteil gegen ihn. Man nennt ihn den Spediteur, den Pferdeäpfelmann, er soll hinterhältig sein, ein verschlagener Bauer, grob und plump, ihr Land Judäa jedenfalls hat er roh und blutig angepackt. Sie verzieht angewidert die langen, starken Lippen, wenn sie an ihn denkt. Man muß leider oft an ihn denken, er ist sehr in Sicht gekommen, er hat Glück. Der ganze Osten ist voll von Geraun über göttliche Vorzeichen und Prophezeiungen, die auf ihn weisen.
  Vespasian zögert unhöflich lange, ehe er der Prinzessin seine Aufwartung macht. Auch er kommt voll von Vorurteilen. Er hat von der preziösen Dame gehört, von ihren modischen Launen, ihren überhitzten Liebschaften, den keineswegs geschwisterlichen Beziehungen zu ihrem Bruder. Das snobistische, verschnörkelte Gehabe dieser östlichen Dame ist ihm zuwider. Aber es wäre Unsinn, sie sich ohne Not zur Feindin zu machen. Sie hat zahlreiche Beziehungen zu Rom, sie gilt als sehr schön, sie ist ungeheuer reich. Selbst ihre wilde Bauwut, sie und ihr Bruder haben den ganzen Osten mit Palästen übersät, hat ihren Reichtum nicht merklich angeknabbert.
  Berenike hat sich zu seinem Empfang ernsthaft und zeremoniös angezogen. Ihr großer, edler Kopf, verbrannt noch von der Sonne, kommt königlich aus dem vielfaltigen Gewand, das kurze, widerspenstige Haar ist ohne Schmuck, brokatne Ärmel fallen über die schönen, langen, noch von der Wüste zerschrundeten Hände. Schon nach wenigen einleitenden Worten steuert sie auf ihr Ziel los: »Ich danke Ihnen, Konsul Vespasian, daß Sie die Stadt Jerusalem so lange verschont haben.« Ihre Stimme ist tief, voll, dunkel, aber immer ist ein kleines, nervöses Zittern darin, auch klingt sie ein wenig gebrochen, belegt von einer leisen, erregenden Heiserkeit. Kühl, aus seinen harten, hellen Augen schaut Vespasian die Frau auf und ab, dann sagt er, schnaufend, reserviert: »Ich habe offen gestanden nicht Ihr Jerusalem, ich habe meine Soldaten geschont. Wenn Ihre Landsleute so weitermachen, dann, hoffe ich, werde ich die Stadt ohne große Opfer nehmen können.« Berenike erwidert höflich: »Bitte, sprechen Sie weiter, Konsul Vespasian. Ihr sabinischer Dialekt ist angenehm zu hören.« Sie selber spricht ein leichtes, völlig akzentfreies Latein. »Ja«, sagt Vespasian gemütlich, »ich bin ein alter Bauer. Das hat seine Vorteile, aber auch seine Nachteile. Für Sie, meine ich.«
  Die Prinzessin Berenike erhob sich; leise federnd, mit ihrem berühmten Schritt, ging sie ganz nahe an den Feldmarschall heran: »Warum sind Sie eigentlich so kratzbürstig? Wahrscheinlich hat man Ihnen tolle Dinge über mich erzählt. Sie sollten sie nicht glauben. Ich bin eine Jüdin, eine Enkelin des Herodes und der Hasmonäer. Das ist eine etwas schwierige Situation, während Ihre Legionen im Lande stehen.« – »Ich kann es begreifen, Prinzessin Berenike«, erwiderte Vespasian, »daß Sie sich in allerlei reizvolle Verwicklungen hineinträumen, solange ein sehr alter Kaiser in Rom ist, der keinen Nachfolger designiert hat. Ich würde es bedauern, wenn ich genötigt sein sollte, Sie als Feindin zu betrachten.« – »Mein Bruder Agrippa ist in Rom, um Kaiser Galba zu huldigen.« – »Mein Sohn Titus ist zum gleichen Zweck nach Rom gefahren.« – »Ich weiß es«, sagte gelassen Berenike. »Ihr Sohn huldigt dem Kaiser Galba, trotzdem Sie aus aufgefangenen Briefen zuverlässig erfahren haben, daß dieser Kaiser Sie durch gedungene Leute erledigen lassen wollte.« – »Wenn ein sehr alter Herr«, erwiderte noch gelassener Vespasian, »auf einem sehr wackeligen Thron sitzt, dann schlägt er ein wenig um sich, um das Gleichgewicht zu halten. Das ist natürlich. Wenn wir beide einmal so alt sind, werden wir es vermutlich genauso machen. Wohinaus wollen Sie eigentlich, Prinzessin Berenike?« – »Wohinaus wollen Sie, Konsul Vespasian?« – »Ihr Leute aus dem Osten wollt immer erst den Preis des andern herauslocken.« Das belebte, veränderliche Gesicht der Prinzessin strahlte plötzlich in einer großen, kühnen Zuversicht. »Ich will«, sagte sie mit ihrer tiefen, erregenden Stimme, »daß dieser uralte, heilige Osten seinen gemessenen Anteil nimmt an der Herrschaft der Welt.« – »Das ist etwas zu allgemein ausgedrückt für meinen sabinischen Bauernschädel. Aber ich fürchte, wir wollen jeder so ziemlich das Gegenteil. Ich will nämlich, daß die großzügige Schlamperei aufhört, die vom Osten her in das Reich eingedrungen ist. Ich sehe, daß die Orientpläne des Kaisers Nero und seine östlich betonte Sinnesart dem Reich mehrere Milliarden Schulden gebracht hat. Damit finde ich die uralte Heiligkeit etwas überbezahlt.« – »Wenn der Kaiser Galba stirbt«, fragte Berenike geradezu, »wird dann die Ostarmee nicht versuchen, auf die Ernennung des neuen Kaisers einzuwirken?« – »Ich bin für Gesetz und Recht«, erklärte Vespasian. »Das sind wir alle«, erwiderte Berenike, »aber die Meinungen, was Gesetz und Recht ist, gehen manchmal auseinander.« – »Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, meine Dame, wenn Sie mir klar sagten, was Sie eigentlich wollen.«
  Berenike sammelte sich; ihr Gesicht wurde ganz still. Mit einer leisen, wilden Innigkeit sagte sie: »Ich will, daß der Tempel Jahves nicht zerstört wird.«
  Vespasian war hierhergesandt mit dem Mandat, Judäa mit allen Mitteln, die ihm recht dünkten, zu zähmen. Einen kleinen Augenblick hatte er Lust zu erwidern: Die Erhaltung der Weltherrschaft erlaubt leider nicht immer architektonische Rücksichten. Aber er sah ihr regloses, innig gespanntes Gesicht, und er knarrte nur ablehnend: »Wir sind keine Barbaren.«
  Sie erwiderte nichts. Langsam, voll traurigem Zweifel, tauchte sie ihre langen, erfüllten Augen in die seinen, und es wurde ihm unbehaglich. War es nicht vollkommen gleichgültig, ob diese Jüdin ihn für einen Barbaren hielt? Es war ihm merkwürdigerweise nicht gleichgültig. Er spürte vor ihr jene kleine Benommenheit wie manchmal in Gegenwart seines Juden Josef. Er suchte darüber wegzukommen: »Sie sollten mich nicht bei meinem Ehrgeiz packen wollen. Dazu bin ich nicht mehr jung genug.«
  Berenike fand, daß der Spediteur ein harter, schwieriger Bursche war, verflucht hinterhältig bei aller Offenheit. Sie lenkte ab. »Zeigen Sie mir ein Bild Ihres Sohnes Titus«, bat sie. Er schickte einen Läufer, um das Bild holen zu lassen. Sie betrachtete es interessiert und sagte vieles, was dem Herzen des Vaters wohltun sollte. Aber Vespasian war alt und menschenkennerisch und sah gut, daß ihr das Bild durchaus nicht gefiel. Man trennte sich freundlich, und der Römer und die Jüdin wußten, daß sie einander unausstehlich waren. Berenike, als Josef Ben Matthias sie auf ihren Wunsch aufsuchte, streckte abwehrend die Hand aus, rief: »Kommen Sie nicht näher. Bleiben Sie stehen. Es sollen sieben Schritte sein zwischen Ihnen und mir.« Josef erblaßte, weil sie sich entfernt von ihm hielt wie von einem Aussätzigen.
  Berenike begann: »Ich habe Ihr Buch gelesen, zweimal.« Josef erwiderte: »Wer schriebe nicht gern und begeistert, wenn er von Vorfahren zu berichten hat wie den unsern?« Berenike strich heftig das kurze, widerspenstige Haar zurück. Es war richtig, der Mann war mit ihr verwandt. »Ich bedaure es, mein Vetter Josef«, sagte sie, »daß wir mit Ihnen verwandt sind.« Sie sprach sehr ruhig, nur ganz leise lag die vibrierende Heiserkeit über ihrer Stimme. »Ich verstehe nicht, daß Sie am Leben bleiben konnten, als Jotapat fiel. Seither gibt es in Judäa niemanden, den es nicht anekelte, wenn er den Namen Josef Ben Matthias hört.« Josef dachte daran, wie Justus von Tiberias erklärt hatte: »Ihr Doktor Josef ist ein Lump.« Aber Frauenrede erbitterte ihn nicht. »Es wird sicher sehr viel Schlechtes über mich erzählt«, sagte er, »aber ich glaube nicht, daß jemand Ihnen erzählt hat, ich sei feig. Bedenken Sie, bitte, daß es manchmal nicht sehr schwer ist, zu sterben. Sterben war leicht und eine große Verlockung. Es gehörte Entschluß dazu, zu leben. Es gehörte Tapferkeit dazu. Ich bin am Leben geblieben, weil ich wußte, ich bin ein Instrument Jahves.« Berenikes lange Lippen krümmten sich, ihr ganzes Gesicht war Spott und Verachtung. »Es geht ein Gerücht durch den Osten«, sagte sie, »ein jüdischer Prophet habe verkündet, der Römer sei der Messias. Sind Sie dieser Prophet?« – »Ich weiß«, sagte Josef still, »daß Vespasian der Mann ist, von dem die Schrift redet.«
  Berenike beugte sich vor über die Sieben-Schritt-Grenze, die sie sich gesteckt hatte. Es war der ganze Raum des Zimmers zwischen ihnen, auch das Kohlenbecken, denn es war ein kalter Wintertag. Sie betrachtete den Mann; er trug noch immer seine Kette, aber er sah gepflegt aus. »Ich muß ihn mir genau anschauen, diesen Propheten«, höhnte sie, »der willig das Ausgespiene des Römers hinunterschlang, als der es ihn hieß. Mir wurde übel vor Verachtung, als ich hörte, wie die Doktoren von Sepphoris Ihrer ›Hochzeit‹ zuschauen mußten.« – »Ja«, sagte still Josef, »ich habe auch dieses geschluckt.«
  Er sah mit einemmal klein und gedrückt aus. Mehr als daß er das Mädchen geehelicht hatte, drückte und erniedrigte ihn ein anderes. Damals unterm Brautzelt hatte er gelobt, er werde Mara nicht anrühren. Allein dann war Mara zu ihm gekommen, sie war auf dem Bett gehockt, jung, glatthäutig, heiß, voll Erwartung. Er hatte sie genommen, hatte sie nehmen müssen, wie er damals hatte trinken müssen, als er aus der Höhle kam. Das Mädchen Mara war um ihn seither. Ihre großen Augen hingen mit der gleichen Inbrunst an ihm, wenn er sie nahm und wenn er sie hernach wild und voll Verachtung wegschickte. Berenike hatte mehr als recht. Er hatte den Wegwurf des Römers nicht nur hinuntergeschlungen, er fand Geschmack daran.
  Josef atmete auf, da Berenike nicht auf dem Thema beharrte. Sie sprach von Politik, sie eiferte gegen den Marschall: »Ich will nicht, daß dieser Bauer sich in die Mitte der Welt setzt. Ich will es nicht.« Ihre dunkle Stimme war heiß von Leidenschaft. Josef stand still, beherrscht. Aber er war voll von Ironie über ihre Ohnmacht. Sie sah es gut. »Gehen Sie hin, mein Vetter Josef«, höhnte sie, »sagen Sie es ihm. Verraten Sie mich ihm. Vielleicht bekommen Sie eine noch reichere Belohnung als die Leibeigene Mara.«
  Sie standen, getrennt durch den Raum, die beiden jüdischen Menschen, jung beide, schön beide, getrieben beide von dem heißen Willen nach ihren Zielen. Aug in Aug standen sie, voll Hohn einer gegen den andern, und doch im Innersten verwandt. »Wenn ich es dem Feldherrn sagte«, spottete Josef zurück, »daß Sie sein Gegner sind, Kusine Berenike, er würde lachen.« – »Also machen Sie ihn lachen, Ihren römischen Herrn«, sagte Berenike. »Wahrscheinlich hält er Sie zu diesem Zweck. Ich, mein Vetter Josef, werde mir die Hände gut waschen und ein langes Bad nehmen, nun ich mit Ihnen zusammen war.«
  Josef, auf dem Rückweg, lächelte. Er ließ sich von einer Frau wie Berenike lieber beschimpfen als gleichgültig anschauen. Im Hauptquartier des Vespasian in Cäsarea erschien, von den römischen Behörden mit Ehrfurcht empfangen, ein uralter jüdischer Herr, sehr klein, sehr angesehen, Jochanan Ben Sakkai, Rektor der Tempeluniversität, Oberrichter von Judäa, Großdoktor von Jerusalem. Mit seiner welken Stimme, im Kreis der Juden von Cäsarea, berichtete er von den Greueln, die die jüdische Hauptstadt erfüllten. Wie die leitenden Männer der Gemäßigten fast allesamt niedergemetzelt worden seien, der Erzpriester Anan, die meisten Aristokraten, auch viele von den »Wahrhaft Schriftgläubigen«; wie jetzt die Makkabi-Leute mit Brand und Schwert gegeneinander wüteten. Selbst in den Vorhallen des Tempels hatten sie Geschütz aufgefahren, und Leute, die ihr Opfer zum Altar bringen wollten, waren von ihren Geschossen getroffen worden. Manchmal, auf altmodische Art, bekräftigte der Alte: »Meine Augen haben es gesehen.« Auch er hatte sich nur mit Gefahr aus Jerusalem wegstehlen können. Er hatte aussprengen lassen, er sei tot, seine Schüler hatten ihn in einem Sarg zur Bestattung aus den Mauern Jerusalems herausgetragen.
  Er ersuchte den Marschall um eine Unterredung, und Vespasian bat ihn sogleich zu sich. Uralt, vergilbt, stand der jüdische Großdoktor vor dem Römer; die blauen Augen stachen auffallend frisch aus dem zerknitterten, von einem kleinen, entfärbten Bart umrahmten Gesicht. Er sagte: »Ich bin gekommen, Konsul Vespasian, um mit Ihnen über Frieden und Unterwerfung zu reden. Es steht keine Macht hinter mir. Die Macht in Jerusalem haben die ›Rächer Israels‹; allein das Gesetz ist nicht tot, und ich bringe mit das Siegel des Oberrichters. Das ist nicht viel. Aber niemand weiß besser als Rom, daß ein großes Reich auf die Dauer nur zusammengehalten werden kann durch Recht, Gesetz und Siegel, und darum ist es vielleicht auch nicht wenig.« Vespasian erwiderte: »Ich freue mich, mit dem Manne zu reden, der in Judäa den ehrwürdigsten Namen trägt. Aber ich bin lediglich gesandt, das Schwert zu führen. Über Frieden verhandeln kann nur der Kaiser in Rom und sein Senat.« Jochanan Ben Sakkai wiegte den alten, kleinen Kopf. Listig, leise, mit dem Singsang orientalischen Dozierens, führte er aus: »Es sind manche, die sich nennen Kaiser. Aber es ist nur einer, mit dem ich austauschen möchte Siegel und Dokument. Ist der Libanon gefallen durch Galba? Nur der, durch den fällt der Libanon, ist der Mächtige, der Adir. Der Libanon ist nicht gefallen durch Galba.« Vespasian schaute den Alten mißtrauisch an. Fragte: »Haben Sie mit meinem Gefangenen Josef Ben Matthias gesprochen?« Jochanan Ben Sakkai verneinte, ein wenig erstaunt. Reumütig, täppisch, sagte Vespasian: »Verzeihen Sie, Sie haben wirklich nicht mit ihm gesprochen.«
  Er setzte sich, machte sich klein, so daß er nicht auf den Alten hinabschauen mußte: »Bitte, teilen Sie mir mit, was Sie geben und was Sie nehmen wollen.« Jochanan streckte seine welken Hände hin, bot dar: »Ich gebe Ihnen Brief und Siegel, daß der Große Rat und die Doktoren von Jerusalem sich Senat und Volk von Rom unterwerfen. Ich bitte Sie dagegen um eines: lassen Sie mir eine kleine Stadt, daß ich eine Universität dort gründe, und geben Sie mir Lehrfreiheit.« – »Daß ihr mir von neuem die finstersten Rezepte gegen Rom zusammenbraut«, schmunzelte Vespasian. Jochanan Ben Sakkai machte sich noch kleiner und geringer: »Was wollen Sie? Ich werde pflanzen ein winziges Reis von dem mächtigen Baume Jerusalem. Geben Sie mir, sagen wir, das Städtchen Jabne. Jabne, es wird eine so kleine Universität sein.« Betulich redete er dem Römer zu, malte mit Gesten die Geringfügigkeit seiner Universität: ach, sie wird so klein sein, seine Universität Jabne, und er schloß und öffnete seine winzige Hand.
  Vespasian erwiderte: »Schön, ich werde Ihren Vorschlag nach Rom übermitteln.« – »Übermitteln Sie nicht«, bat Jochanan. »Ich möchte nur mit Ihnen zu tun haben, Konsul Vespasian.« Hartnäckig wiederholte er: »Sie sind der Adir.«
  Vespasian erhob sich; breit, bäurisch fest stand er vor dem sitzenden Großdoktor. »Offen gestanden«, sagte er, »ganz verstehe ich es nicht, was ihr gerade an mir für einen Narren gefressen habt. Sie sind ein alter, weiser und, wie es scheint, relativ ehrlicher Herr. Wollen Sie es mir nicht erklären? Ist es nicht schwer erträglich, wenn in dem Land, das euer Gott Jahve euch zugesagt hat, ausgerechnet ich der Adir sein soll? Ich höre, daß von allen Völkern ihr am heftigsten vor der Berührung mit andern zurückscheut.« Jochanan hatte die Augen geschlossen. »Als die Engel Gottes«, dozierte er, »nach dem Untergang der Ägypter im Schilfmeer ein Jubellied anstimmen wollten, sprach Jahve: ›Meine Geschöpfe ertrinken, und ihr wollt ein Jubellied singen?‹« Der Marschall trat ganz nahe an den winzigen Gelehrten heran, rührte ihm leicht, vertraulich die Schulter, fragte listig: »Aber soviel stimmt doch: als richtige, vollwertige Menschen anerkennt ihr uns nicht?« Jochanan, immer die Augen geschlossen, erwiderte still, wie von weit her: »Wir opfern am Laubhüttenfest siebzig Stiere zur Sühnung der Nichtjuden vor Gott.«
  Vespasian sagte ungewohnt höflich: »Wenn Sie nicht zu müde sind, mein Doktor und Herr Jochanan, dann bitte ich noch um eine Belehrung.« – »Ich antworte Ihnen gern, Konsul Vespasian«, sagte der Großdoktor.
  Vespasian stützte die Hände auf den Tisch. Über den Tisch hinüber, gespannt, fragte er: »Hat ein Nichtjude eine unsterbliche Seele?« Jochanan erwiderte: »Es gibt sechshundertdreizehn Gebote, die zu halten wir Juden verpflichtet sind. Der Nichtjude ist nur auf sieben Gebote verpflichtet. Hält er sie, dann läßt sich auch in ihm der Heilige Geist nieder.« – »Welches sind diese sieben Gebote?« fragte der Römer. Jochanan zog die runzligen Brauen hoch, seine blauen Augen schauten hell und sehr jung in die grauen des Vespasian. »Es ist ein Ja und sechs Nein«, sagte er. »Er muß Gerechtigkeit üben, er darf Gott nicht leugnen, Götzen nicht dienen, darf nicht morden, nicht stehlen, nicht Unzucht treiben und nicht Tiere quälen.« Vespasian dachte ein wenig nach, dann sagte er bedauernd: »Da habe ich leider wenig Aussicht, daß sich in mir der Heilige Geist niederläßt.«
  Der Großdoktor schmeichelte: »Finden Sie es sehr gefährlich für Rom, wenn wir in meiner kleinen Universität Jabne solche Dinge lehren?« Breit, ein wenig protzig, sagte Vespasian: »Gefährlich oder nicht, groß oder klein, welche Ursache überhaupt sollte ich haben, euch entgegenzukommen?« Der Alte machte ein pfiffiges Gesicht, hob die winzige Hand, führte sie einmal durch die Luft, legte dar, wieder im Singsang orientalischen Dozierens: »Solange Sie nicht der Adir sind, haben Sie keinen Grund, Jerusalem zu erobern; denn Sie brauchen vielleicht Ihre Truppen, um der Adir zu werden. Sowie Sie aber ernannt sind, haben Sie vielleicht keine Zeit mehr, Jerusalem zu erobern. Vielleicht dann aber ist es für Sie von Interesse, wenn nicht das eroberte Jerusalem, so doch einen Rechtstitel mit nach Rom zu bringen. Vielleicht ist Ihnen dieser Rechtstitel die kleine Konzession wert, um die ich Sie bitte.«
  Er schwieg, er schien erschöpft. Vespasian hatte seinen Darlegungen mit großer Aufmerksamkeit zugehört. »Wenn Ihre andern Herren so schlau wären wie Sie«, schloß er lächelnd die Unterhaltung, »dann wäre ich wahrscheinlich nie in die Lage gekommen, von Ihnen als der Adir bezeichnet zu werden.«

Es gab Sünden, für die der Großdoktor bei aller Milde Nachsicht nicht kannte, und dem Josef schlug das Herz, als er zu ihm entboten wurde. Aber Jochanan hielt nicht die sieben Schritte Abstand. Josef beugte sich herab, die Hand an der Stirn, und der Alte segnete seinen Lieblingsschüler.
  Josef sagte: »Ich habe das Wort des Propheten zweideutig gebraucht, ich bin schuldig der schlechten Zunge. Daraus ist viel Unheil entstanden.« Der Alte sagte: »Jerusalem und der Tempel waren fallreif vor Ihrer Tat. Die Tore des Tempels springen auf, wenn einer nur hinbläst. Sie sind überheblich selbst in Ihrer Schuld. Ich will mit Ihnen reden, Doktor Josef, mein Schüler«, fuhr er fort. »In Jerusalem glaubt man, Sie hätten ein schaukelndes Herz, und man hat Sie in den Bann getan. Ich aber glaube an Sie und will zu Ihnen reden.« Diese Worte erquickten den Josef wie Tau das Feld in der rechten Jahreszeit, und er machte sein Herz weit auf.
  »Das Reich ist verloren«, wiederholte Jochanan. »Aber es ist nicht das Reich, was uns zusammenhält. Reiche haben auch andere gegründet, sie sind zerfallen, es werden neue Reiche kommen, auch sie werden zerfallen. Das Reich ist nicht das Wichtigste.«
  »Was ist das Wichtigste, mein Vater?«
  »Nicht Volk und Staat schaffen die Gemeinschaft. Unserer Gemeinschaft Sinn ist nicht das Reich, unserer Gemeinschaft Sinn ist das Gesetz. Solange Lehre und Gesetz dauert, haben wir Zusammenhalt, festeren als durch den Staat. Das Gesetz dauert, solange eine Stimme da ist, es zu verkünden. Solange die Stimme Jakobs ertönt, bleiben die Arme Esaus kraftlos.«
  Josef fragte zaghaft: »Habe ich die Stimme, mein Vater?« – »Die andern glauben«, erwiderte Jochanan, »daß Sie Ihr Judentum eingebüßt haben, Josef Ben Matthias. Aber wenn auch das Salz im Wasser sich löst, es ist doch immer da, und wenn das Wasser verdunstet, bleibt das Salz zurück. »
  Dieses Wort des Alten erhob den Josef und demütigte ihn, daß er eine lange Zeit nicht sprechen konnte. Dann, leise, schüchtern erinnerte er seinen Lehrer: »Wollen Sie mir sagen, was Ihre Pläne sind, mein Vater?«
  »Ja«, erwiderte Jochanan, »jetzt will ich es dir sagen. Wir geben den Tempel preis. Wir wollen setzen an Stelle des sichtbaren Gotteshauses ein unsichtbares, wir wollen umgeben den wehenden Atem Gottes mit Mauern aus Worten an Stelle der Mauern aus Granit. Was ist der wehende Atem Gottes? Lehre und Gesetz. Man kann uns nicht auseinanderreißen, solange wir Zungen haben oder Papier für das Gesetz. Darum habe ich den Römer um die Stadt Jabne gebeten, daß ich dort eine Universität einrichten kann. Ich glaube, er wird sie mir geben.«
  »Ihr Plan, mein Vater, braucht die Arbeit von vielen Geschlechtern.«
  »Wir haben Zeit«, erwiderte der Alte.
  »Aber werden uns die Römer nicht hindern?« fragte Josef.
  »Gewiß wird man versuchen, uns zu hindern; die Macht hat immer Mißtrauen gegen den Geist. Aber der Geist ist elastisch. So dicht kann man nichts verschließen, daß er nicht doch durchdringen könnte. Sie zerschlagen uns Staat und Tempel: wir bauen an seine Stelle Lehre und Gesetz. Sie verbieten uns das Wort: wir verständigen uns durch Zeichen. Sie verbieten uns die Schrift: wir denken uns Chiffren aus. Sie versperren uns die grade Straße: Gott wird nicht kleiner, auch wenn seine Bekenner auf listigen Umwegen zu ihm gehen müssen.« Der Alte schloß die Augen, öffnete sie, sagte: »Es ist uns nicht gegeben, das Werk zu vollenden, aber es ist uns auferlegt, nicht davon abzulassen. Das ist es, wozu wir auserwählt sind.«
  »Und der Messias?« fragte Josef mit einer letzten Hoffnung. Das Sprechen begann dem Großdoktor schwerzufallen, aber er riß sich zusammen, es war wichtig, daß er seinem Lieblingsschüler Josef das Wissen weitergab. Er winkte Josef, sich niederzubeugen, mit dem welken Mund flüsterte er in sein junges Ohr: »Es ist fraglich«, flüsterte er, »ob der Messias jemals kommen wird. Aber glauben muß man es. Man darf nie damit rechnen, daß der Messias kommt, aber man muß immer glauben, daß er kommen wird.«
  Josef auf dem Rückweg war beklommen. Der Glaube dieses großen Alten war also nichts Strahlendes, was ihm half, sondern etwas Mühevolles, Listiges, immer verbunden mit Ketzerei, immer sich wehrend gegen Ketzerei, eine Last. So verschieden die beiden aussahen, es war kein sehr weiter Weg von Jochanan Ben Sakkai zu Justus von Tiberias. Josef fühlte sich bedrückt.

Der Großdoktor hatte vieles und Übles gehört von der Ehe des Josef. Er ließ Mara, die Tochter des Lakisch, zu sich kommen und sprach mit ihr. Er roch das Parfüm ihrer Sandalen. Sie sagte: »Wenn ich bete, dann ziehe ich immer diese Sandalen an. Ich will in gutem Geruch vor Gott treten.« Sie kannte viele Gebete auswendig; es war nicht erlaubt, Gebete aufzuzeichnen, sie mußten vom Herzen kommen, und man mußte sie im Herzen tragen. Zutraulich sprach sie zu ihm: »Ich habe gehört, von der Erde bis zum Himmel sind fünfhundert Jahre, und von einem Himmel bis zum andern sind wieder fünfhundert Jahre, und die Dicke jedes Himmels sind fünfhundert Jahre. Und dennoch: ich stelle mich hinter eine Säule der Synagoge und flüstere, und es ist, wie wenn ich Jahve ins Ohr flüstere. Ist es vermessen und Sünde, mein Doktor und Herr, wenn ich glaube, daß Jahve mir so nahe ist wie das Ohr dem Mund?« Jochanan Ben Sakkai hörte interessiert auf die Gedanken, die sie hinter ihrer niedrigen Kinderstirn bewegte, und diskutierte ernsthaft mit ihr wie mit einem der Doktoren der Quadernhalle. Als sie wegging, legte er ihr die milde, welke Hand auf den Scheitel und segnete sie mit dem alten Spruch: Jahve mache dich wie Rahel und Lea.

  Er hörte, daß Josef, sowie er den Einspruch Vespasians nicht mehr fürchten müsse, sich von Mara scheiden lassen wolle. Es war nicht schwer, sich scheiden zu lassen. In der Schrift hieß es klar und einfach: »Wenn jemandes Weib nicht Gunst findet vor seinen Augen, weil er etwas Schändliches an ihr entdeckt hat, dann mag er einen Scheidebrief schreiben und sie aus seinem Hause schicken.« Jochanan sagte: »Zwei Dinge gibt es, man hört ihren Schall mit Ohren nicht eine Meile, und doch geht ihr Klang von einem Ende der Welt zum andern. Das ist, wenn ein Baum niederbricht, den man fällt, solange er Frucht trägt, und das ist, wenn eine Frau seufzt, die ihr Mann wegschickt, und sie liebt ihn.« Josef sagte eigensinnig: »Habe ich nicht Schändliches an ihr gefunden?« Jochanan sagte: »Sie haben nicht Schändliches gefunden: das Schändliche war, bevor Sie sie nahmen. Prüfen Sie sich, Doktor Josef. Ich werde nicht den Zeugen machen, wenn Sie dieser Frau den Scheidebrief ausstellen.«

Die Beziehungen Vespasians zu Kaiser Galba waren nicht ganz so einfach, wie er sie der Prinzessin Berenike dargestellt hatte. Titus war nicht nur aus Gründen der Huldigung nach Rom gefahren, sondern vor allem, um die ihm noch fehlenden hohen Staatsstellen zu erlangen. Der letzte Zweck lag noch höher. Des Vespasian Bruder, der steife, mürrische Sabin, hatte angedeutet, es sei nicht ausgeschlossen, daß der alte, kinderlose Kaiser, um sich die Armeen des Ostens zu verbinden, den Sohn des Vespasian an Kindes Statt annehmen werde. Dieser Brief hatte den schwierigen Verhandlungen zwischen Vespasian und Mucian ein vorläufiges Ende bereitet. Großmütig hatte immer wieder der eine dem andern versichert, er denke nicht daran, die Macht zu erobern; wenn einer in der Lage sei, dies zu tun, dann sei jeweils der andere dieser eine. In Wahrheit wußten beide genau, daß keiner sich stark genug fühlte für den Kampf mit dem andern, und so hatte jetzt der Brief des Sabin ihnen einen willkommenen Ausweg gezeigt.
  Allein noch im hohen Winter kam eine Nachricht, die allen diesen Plänen ein Ende machte. Gestützt auf die römische Garde und auf den Senat, hatte einer die Herrschaft an sich gerissen, den der Osten nicht in seine Rechnung gezogen hatte: Otho, der erste Mann der Poppäa. Der alte Kaiser war ermordet, dieser junge Kaiser hatte Mut, Begabung, Ansehen, viele Sympathien. Ob Titus seine Reise fortsetzen und dem neuen Herrn huldigen oder ob er zurückkehren werde, wußte man nicht. Hier im Osten jedenfalls fühlte man sich nicht soweit, sich mit einiger Aussicht gegen den jungen Kaiser aufzulehnen, und wer auch sollte der Erwählte des Ostens sein? Die Erledigung des alten Galba war zu schnell gekommen, man hatte sich noch nicht geeinigt; sowohl Vespasian wie Mucian vereidigten ihre Truppen auf den neuen Kaiser Otho.
  An den Bestand dieser neuen Herrschaft indes glaubte niemand. Otho konnte sich auf die italienischen Truppen verlassen, aber er hatte keine Fühlung mit den Armeen der Provinzen. Der Thron dieses jungen Kaisers stand nicht fester als der des alten.
  Die Prinzessin Berenike bekam täglich ausführlichen Bericht aus Rom. Nach den Entbehrungen der Wüste warf sie sich mit doppelter Leidenschaft in die Politik. Zettelte mit den kaiserlichen Ministern, den Senatoren, mit den Gouverneuren und Generälen des Ostens. Ein zweites Mal soll sich der Osten nicht vor vollendete Tatsachen gestellt sehen. Jetzt, in diesem Frühjahr noch, muß er schlagbereit gemacht werden, die Hauptstadt zu erobern. Nicht zersplittert darf er sein, einen Herrn muß er haben, und Mucian soll dieser Herr heißen. Es gilt zunächst einmal, sich des klaren Einverständnisses des Mucian zu versichern, wenn man ihn gegen den Marschall als Prätendenten aufstellen will.
  Glänzend, mit großem Gefolge, fuhr Berenike nach Antiochia. Behutsam strich sie um Mucian herum. Der erfahrene Herr wußte kennerisch die Vorzüge der jüdischen Prinzessin zu schätzen, Schönheit, Geist, Geschmack, Reichtum, wilde Hingabe an die Politik. Die beiden musischen Menschen verstanden sich sehr schnell. Aber Berenike konnte Mucian nicht dahin bringen, wo sie ihn haben wollte. Mit großer Offenheit ließ der schmächtige Herr sie in sein Inneres hineinschauen. Ja, er ist ehrgeizig. Er ist auch nicht feig, aber er ist ein wenig müde. Rom vom Osten her zu erobern ist ein verdammt kitzli ges Unternehmen. Er ist nicht der Mann für diese Aufgabe. Er kann mit Diplomaten verhandeln, mit Senatoren, Gouverneuren, Wirtschaftsführern. Aber heute geben leider die Militärs den Ausschlag, und mit diesen hochgekommenen Feldwebeln zu paktieren ist ihm widerwärtig. Er hing seinen gescheiten, traurigen, unersättlichen Blick an die Prinzessin. »Diesen Polyphemen ihr Aug auszubrennen verliert auf die Dauer seinen Reiz. Gefahr und Gewinn stehen nicht im rechten Verhältnis. Wie die Situation heute liegt, ist wirklich Vespasian der gegebene Mann. Er hat die nötige Grobheit und Roheit, um in unseren Zeiten populär zu sein. Ich gebe zu, im Grunde ist er mir genauso widerwärtig wie Ihnen, Prinzessin Berenike. Aber er ist eine so reine Inkarnation des Zeitgeistes, daß er fast schon wieder sympathisch wird. Machen Sie ihn zum Kaiser, Prinzessin Berenike, und lassen Sie mich meine Naturgeschichte des Imperiums in Ruhe zu Ende schreiben.«
  Berenike ließ nicht ab. Sie kämpfte nicht nur mit Worten, sie streute mit verschwenderischen Händen Geld aus, um Stimmung für ihren Kandidaten zu machen. Sprach immer heftiger auf Mucian ein, spornte, schmeichelte. Ein Mann, so innerlich lebendig wie er, dürfe sich nicht zieren, dürfe nicht faul sein. Er erwiderte lächelnd: »Wenn eine Dame wie Sie, Hoheit, wirklich für mich wäre, dann könnte mich das reizen, das freche Spiel trotz aller Bedenken zu wagen. Aber Sie sind ja gar nicht für mich, Sie sind nur gegen Vespasian.« Berenike rötete sich, wollte es nicht wahrhaben, sprach viel und geschickt, um ihm seine Meinung auszureden. Er hörte höflich zu, tat so, als ließe er sich überzeugen. Aber während er vertraulich und nicht ohne Wärme mit ihr weitersprach, sah sie, wie er mit seinem Stock Worte in den Sand kritzelte, griechische Worte, sicherlich nicht für sie bestimmt, aber sie konnte sie enträtseln: »Dem einen geben die Götter die Begabung, dem andern das Glück.« Sie las, und ihre Rede wurde matt.
  Als gar Josef Ben Matthias in Antiochia eintraf, wußte Berenike mit Sicherheit, daß ihre Reise zu Mucian ohne Erfolg bleiben werde. Sie witterte sogleich und mit Recht, daß Josef von Vespasian vorgeschickt war, um ihre Arbeit zu vereiteln.
  Josef ging seine Aufgabe nicht plump an. Er ließ den
andern an sich herankommen. Mucian freute sich, die seltsame, heftige, dringliche Stimme des jüdischen Propheten wiederzuhören. Er verbrachte Stunden damit, ihn über Sitten, Bräuche, Altertümer seines Volkes zu befragen. Bei dieser Gelegenheit kamen sie auch auf die jüdischen Könige zu sprechen, und Josef erzählte Mucian die Geschichte von Saul und David. »Saul war der erste König in Israel«, sagte Josef; »aber bei uns heißen wenige Saul und sehr viele Samuel. Wir halten den Samuel für größer als den Saul.« – »Warum?« fragte Mucian. »Wer die Macht vergibt«, erwiderte Josef, »ist größer, als wer die Macht hat. Wer den König macht, ist größer als der König.« Mucian lächelte: »Ihr seid hochmütige Leute.« – »Vielleicht sind wir hochmütig«, gab Josef bereitwillig zu. »Aber scheint nicht auch Ihnen die Macht, die aus dem Hintergrund lenkt, feiner, geistiger, reizvoller als die Macht, die sich vor den Augen aller Welt spreizt?« Mucian sagte nicht ja noch nein. Josef fuhr fort, und seine Worte waren eine mit vielen bösen Erfahrungen bezahlte Erkenntnis. »Macht verdummt. Ich war nie dümmer als zu der Zeit, da ich an der Macht war. Samuel ist größer als Saul.« – »Ich finde«, sagte lächelnd Mucian, »in Ihrer Geschichte am sympathischsten den jungen David. Schade«, seufzte er, »daß das Projekt mit dem jungen Titus gescheitert ist.«
  Sehr bald, nachdem Josef in Antiochia eingetroffen war, verabschiedete sich Berenike von Mucian. Sie gab ihre Hoffnungen auf. Sie fuhr ihrem Bruder entgegen, der in den nächsten Tagen in Galiläa erwartet wurde. Er war bis jetzt in Rom geblieben, aber nun gab er der Herrschaft Othos nur mehr wenige Wochen und wollte sich rechtzeitig und unauffällig aus Rom fortmachen, um sich nicht einem neuen Kaiser verpflichten zu müssen. Berenike atmete auf, als sie ihren heißersehnten Bruder wiedersehen sollte; die Bitterkeit des Mißerfolgs wurde gemildert durch diese Freude. »Süße Prinzessin«, sagte zum Abschied Mucian, »nun ich Sie vermissen soll, begreife ich nicht, warum ich nicht Ihretwegen den Prätendenten mache.« – »Auch mir fällt es schwer, das zu begreifen«, antwortete Berenike.
  Sie traf ihren Bruder in Tiberias. Der Neubau des Palastes war fertiggestellt. Schöner als zuvor strahlte er über Stadt und See. Einzelne fensterlose Säle waren aus einem kappadokischen Stein gebaut, so durchscheinend, daß sie auch bei geschlossenen Türen hell blieben. Alles war leicht, luftig, nichts überladen, wie es jetzt in Rom Mode war. Ihr Meisterstück hatten die Architekten mit dem Speisesaal geliefert. Seine Kuppel war so hoch, daß der ermüdete Blick kaum ihre elfenbeinernen Deckenfelder erreichte; diese Felder waren drehbar, so daß man Blumen und wohlriechende Wasser auf die Speisenden regnen lassen konnte.
  Die Geschwister gingen durch das Haus, sie hielten sich an den Händen, voll tiefer Freude einer am andern. Das Frühjahr hatte begonnen, schon wurden die Tage länger, mit weiter Brust schritten die beiden schönen Menschen durch die luftigen Säle; kennerisch genossen sie die beschwingten Maße des Baus, seine Erlesenheit. Agrippa erzählte mit einem ganz leisen Hohn von den neuen Palästen, die er in Rom gesehen hatte, von ihren leer-monströsen Dimensionen, ihrer geschmacklos gehäuften Pracht. Otho hat fünfzig Millionen für die Fertigstellung des Goldenen Hauses des Nero bewilligt; auch er wird die Vollendung des Baus kaum erleben. Berenike krümmte die Lippen. »Sie können nur raffen, diese römischen Barbaren. Sie glauben, wenn sie einen besonders seltenen Marmor in einen andern ebenso seltenen hineinschneiden und möglichst viel Gold darübersetzen, dann sei das der Gipfel der Baukunst. Sie haben kein Talent außer dem zur Macht.« – »Ein ganz vorteilhaftes Talent immerhin«, meinte Agrippa. Berenike blieb stehen. »Muß ich wirklich diesen Vespasian ertragen?« klagte sie. »Kannst du mir das auferlegen, mein Bruder? Er ist so plump und roh, er schnauft wie ein Hund außer Atem.« Agrippa erzählte finster: »Als ich jetzt in Cäsarea bei ihm war, ließ er mir Fische vorsetzen und betonte immer wieder, sie seien aus dem See Genezareth. Als ich die Leichenfische nicht aß, hänselte er mich bitter. Ich hätte manche gute Antwort gewußt, aber ich habe sie hinuntergeschluckt.«
  »Er reizt mich bis aufs Blut«, empörte sich Berenike. »Wenn ich seine klobigen Witze höre, stehe ich wie in einem Schwarm von Stechmücken. Und daß dieser Mann Kaiser werde, dazu sollen wir helfen.« Agrippa redete ihr zu: »Ein Kaiser, den der Westen aufstellt, wird uns hier alles blind zerschlagen. Der Marschall ist klug und maßvoll. Er wird nehmen, was er brauchen kann, den Rest wird er uns lassen.« Er zuckte die Achseln: »Die Armee macht den Kaiser, die Armee schwört auf Vespasian. Sei meine kluge Schwester«, bat er.

Den jungen Titus hatte die Nachricht von der Ermordung Galbas in Korinth erreicht, noch vor seiner Ankunft in Rom. Es wäre sinnlos gewesen, weiterzufahren. Er war überzeugt gewesen, daß die Adoption durch Galba zustande kommen werde, es war ein schwerer Schlag für ihn, daß der Kaiser vorzeitig erledigt war. Er wollte nicht diesem Otho huldigen, an dessen Platz er sich selber geträumt hatte. Er blieb in Korinth, verbrachte in der leichtlebigen Stadt vierzehn wüste Tage, voll von Frauen, Knaben, Ausschweifungen jeder Art. Dann riß er sich los und kehrte trotz der schlechten Jahreszeit nach Cäsarea zurück.
  Auf dem Schiff brannten ihn wild und heftig die ehrgeizigen Träume seiner Großmutter. Der General Titus, so jung er war, hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Das Auf und Ab seines Vaters, der Wechsel vom Konsul zum Spediteur, von prunkender Ehrenstellung in drückende Armut, hatten an seinem Schicksal mitgezerrt. Er war zusammen mit dem Prinzen Britannicus erzogen worden, hatte mit diesem jungen, strahlenden Anwärter auf den Thron an einem Tisch gelegen, hatte vom gleichen Gericht gegessen, als Kaiser Nero ihn vergiftete, und war selber erkrankt. Er kannte den Glanz des Palatins und das kahle Stadthaus seines Vaters, das stille Leben auf dem Land und die abenteuerlichen Feldzüge an der deutschen und der englischen Grenze. Er liebte seinen Vater, seine nüchterne Klugheit, seine Genauigkeit, seinen gesunden Menschenverstand; aber oft auch haßte er ihn wegen seines bäurischen Wesens, seiner Bedächtigkeit, seiner Würdelosigkeit. Titus konnte wochenlang, monatelang Strapazen und Dürftigkeit ertragen, dann, unversehens, überfiel ihn ein wüster Drang nach Luxus und Ausschweifung. Er war empfänglich für die gelassene Würde altrömischer Adelsfamilien, und der hiera tisch üppige Prunk der uralten Königsgeschlechter des Orients erregte sein Herz. Er hatte auf Betreiben seines Onkels Sabin sehr jung geheiratet, ein dürres, strenges Mädchen aus großer Familie, Marcia Furnilla, sie hatte ihm eine Tochter geboren, aber sie war ihm dadurch nicht lieber geworden; kahl und kümmerlich saß sie in Rom, er sah sie nicht, er schrieb ihr nicht.
  Der alte Vespasian empfing seinen Sohn grinsend, mit vergnügtem Bedauern: »Wir haben offenbar eine Linie, mein Sohn Titus, die Linie rauf, runter. Wir müssen sehen, daß wir das nächstemal früher aufstehen und es auf gescheitere Art deichseln. Der Retter kommt aus Judäa. Du bist jung, mein Sohn, du darfst meinen Juden nicht blamieren.«

Agrippa und seine Schwester luden zu einem Fest, um den Neubau ihres Palais in Tiberias einzuweihen. Dem Marschall war die Prinzessin unsympathisch, er schickte seinen Sohn.
  Dem Titus kam der Auftrag nicht unwillkommen. Er liebte das Land Judäa. Das Volk war alt und weise, und so hirnlose Sachen es anstellte, es hatte Instinkt für das Jenseitige, für das Ewige. Der seltsame, unsichtbare Gott Jahve lockte und bedrängte den jungen Römer. Auch imponierte ihm König Agrippa, seine Eleganz, seine melancholische Gescheitheit. Titus ging gern nach Tiberias.