Mit eifervollem Bemühen versucht
er, sich den Leuten von Galiläa verständlich zu machen. Er will
nicht für Jerusalem hiersein, sondern für sie. Sein Mitkommissar,
der alte Doktor Jannai, läßt ihn gewähren, kommt ihm nie in die
Quer. Ihn interessiert nichts als seine Finanzverwaltung. Er hat
sich mit einem ungeheuren Haufen Akten in Sepphoris hingesetzt, der
gemächlichen, ruhigen Hauptstadt des Landes, und betreibt jovial,
aber zäh und beharrlich die Neuordnung der Finanzen. Alles andere
überläßt er seinem jüngeren Kollegen. Aber trotzdem Josef tun und
lassen kann, was er will, kommt er nicht weiter. Er tut allen
gelehrten Hochmut von sich ab, allen Aristokraten- und
Priesterstolz; er spricht mit Fischern, Werftarbeitern, Bauern,
Handwerkern wie mit seinesgleichen. Die Leute sind freundlich,
geehrt, aber durch ihre Worte und ihr Gehabe hindurch spürt er den
inneren Vorbehalt.
Das Land Galiläa hat andere
Führer. Josef will es nicht wahrhaben, er will mit diesen Männern
nichts zu tun haben, aber er weiß gut ihre Namen. Es sind die
Führer der Wehrverbände, die Jerusalem nicht anerkennt, der
Bauernführer Johann von Gischala und ein gewisser Sapita aus
Tiberias. Josef sieht, wie die Augen der Leute hell werden, wenn
man diese Namen nennt. Er möchte mit den beiden Männern
zusammenkommen, sie reden hören, erkunden, wie sie es angefangen
haben. Aber er fühlt sich unerfahren, unfähig, unfruchtbar. Er hat
sein Amt und seinen großen Titel, vielleicht auch die Macht: aber
die Kraft haben die andern.
Er arbeitet sich ab. Immer
heftiger stachelt ihn der Wunsch, gerade dieses Galiläa zu
gewinnen. Aber das Land versperrt sich ihm. Seit fünf Wochen jetzt
sitzt er hier, aber er ist nicht weiter als am ersten
Tag.
An einem dieser Winterabende streicht Josef
durch die Straßen der kleinen Stadt Kapernaum, eines Zentrums der
»Rächer Israels«. An einem armen, vernachlässigten Haus sieht er
eine Fahne herausgesteckt, das Zeichen des Kneipenwirts, daß neuer
Wein eingetroffen ist. In Ratsversammlungen, Kommissionssitzungen,
Synagogen, Lehrhäusern hat Josef seine Galiläer oft genug gesehen.
Er möchte sie beim Wein sehen, er tritt ein.
Es ist ein niedriger Raum,
dürftig, durch ein einfaches Becken, in dem man Mist verbrennt,
primitiv erwärmt. In dem übelduftenden Rauch erkennt Josef ein
reichliches Dutzend Männer. Man sieht auf, wie der gutgekleidete
Herr eintritt, mustert ihn zurückhaltend, nicht unfreundlich. Der
Wirt kommt, fragt nach seinen Wünschen, erklärt, wie gut es der
Herr heute trifft. Ein Kaufmann mit einer Karawane ist
durchgekommen, hat sich üppig aufkochen lassen, es ist noch etwas
Geflügelbraten mit Milch übriggeblieben. Fleisch mit Milch zu essen
ist streng verboten; aber die Landbevölkerung Galiläas findet,
Geflügel sei kein Fleisch, und läßt sich nicht von der Sitte
abbringen, es in Milch zu kochen und zu braten. Man macht gutmütige
Witze, wie Josef den Leckerbissen höflich ablehnt. Man fragt ihn,
wer er sei, bei wem er nächtige, man findet aus seinem Dialekt den
Jerusalemer heraus. Josef gibt freundlich, aber etwas unklar
Auskunft; er weiß nicht, ob man ihn erkennt.
Der Wirt setzt sich zu ihm,
erzählt ihm redselig. Er heißt Theophil, aber er nennt sich jetzt
Giora, der Fremde, weil er nämlich ein Sympathisierender ist und
die Absicht hat, zum Judentum überzutreten. In Galiläa ist die
Bevölkerung stark mit Nichtjuden gemischt, es gibt viele
Sympathisierende, die sich von dem unsichtbaren Gott Jahve
angezogen fühlen. Auch diesem Theophil-Giora haben die Doktoren
vorschriftsmäßig abgeraten, zum Judentum überzutreten; denn solange
er Nichtjude sei, gehe er nicht des Heils verlustig, auch wenn er
die sechshundertdreizehn Gebote nicht halte. Habe er aber einmal
die Verpflichtung auf sich genommen, dann sei seine Seele bedroht,
wenn er das Gesetz nicht erfülle, und das Gesetz sei schwierig und
streng. Theophil-Giora war noch nicht beschnitten, die Worte der
Doktoren hatten Eindruck auf ihn gemacht; aber gerade ihre Strenge
zog ihn an.
Die andern, breit, langsam, etwas
täppisch, angeregt durch die Anwesenheit des Jerusalemer Herrn,
fangen wieder einmal an, von ihrer Hauptsorge zu reden, von dem
harten Druck der Regierung. Der Tischler Chalafta hat seinen
letzten Weinberg verkaufen müssen. Er hat Ziegen eingeführt von
jenseits des Jordan; die Römer haben hohen Zoll darauf gelegt, er
hat die Ziegen durchschmuggeln wollen, aber er wurde ertappt. Wie
man’s macht, macht man’s falsch mit den Zöllnern. Weh dem, der die
Ware angibt, weh dem, der sie nicht angibt. Jetzt haben sie ihn mit
dem Zehnfachen bestraft, weil es das zweitemal war, und er mußte
den Weinberg verkaufen. Dem Tuchwirker Asarja hat der Marktaufseher
von Magdala seinen dritten Webstuhl pfänden lassen, weil er mit der
Gewerbeabgabe im Rückstand ist. Alle die Männer in diesem reichen
Land sahen abgerissen aus, sie lebten kümmerlich. Es gab viel
Geflügel in Galiläa, die Ziegenmilch war billig; aber sie
schnalzten gierig, als der Wirt Giora von seinem milchgekochten
Geflügelbraten erzählte. Sie bekamen dergleichen nur an hohen
Feiertagen. Man rackerte sich ab, nicht für den eigenen Bauch, nur
für den Wanst von Cäsarea und Jerusalem. Es waren harte
Zeiten.
War die Zeit erfüllt? Schon der
Agitator Juda hatte es verkündet hier in Galiläa und hatte die
Partei der »Rächer Israels« gegründet, aber er war von den Römern
gekreuzigt worden. Jetzt wanderte sein Sohn Nachum durch das Land
und verkündete es. Auch der Prophet Theuda war aufgestanden in
Galiläa, hatte Wunder getan, war dann vor Jerusalem gezogen und
hatte erklärt, er werde die Fluten des Jordan spalten. Aber die
Römer haben ihn gekreuzigt, und die Herren vom Großen Rat haben
zugestimmt.
Der Ölbauer Teradjon meinte,
vielleicht sei dieser Prophet Theuda wirklich ein Schwindler
gewesen. Der Tischler Chalafta wiegte schwer und bekümmert den
Kopf: »Schwindler? Schwindler? Vielleicht hätte sich der Jordan
wirklich nicht geteilt auf das Geheiß des Mannes. Aber auch dann
nicht war er ein Schwindler. Dann war er ein Vorläufer. Denn wann
soll die Zeit erfüllt sein, wenn nicht jetzt, da Gog und Magog sich
von neuem aufmachen, über Israel herzufallen, wie es geschrieben
steht bei Ezechiel und im Targum Jonathan?«
Der Tuchwirker Asarja meinte
schlau: jener Theuda könne bestimmt nicht der rechte Messias
gewesen sein; denn wie er zuverlässig gehört habe, sei Theuda ein
Ägypter gewesen, und unmöglich doch könne ein Ägypter der Messias
sein.
Der Wein war gut, und es war viel
Wein. Die Männer vergaßen den Herrn aus Jerusalem, und umwölkt von
dem stinkenden Rauch des Mistes im Heizbecken, redeten sie langsam,
eifrig und gewichtig von dem Messias, der kommen mußte, heute oder
morgen, aber bestimmt noch in diesem Jahr. Gewiß konnte der Messias
ein Ägypter sein, behauptete dumpf und hartnäckig der Tischler
Chalafta. Denn steht nicht geschrieben von dem eisernen Besen, der
das Faule aus Israel und der Welt auskehrt? Und ist nicht der
Erlöser dieser eiserne Besen? Wenn er es aber ist, wird Jahve einen
Juden schicken, die Juden zu schlagen, wird er nicht lieber einen
Unbeschnittenen schicken? Warum also sollte der Messias nicht ein
Unbeschnittener sein?
Der Krämer Tarfon aber klagte in
dem dunkeln, schweren Gegurgel des Dialekts: »Ach und oj, gewiß
wird er ein Jude sein. Denn lehrt nicht der Doktor Dossa Ben Natan,
daß er sammeln wird alle Zerstreuten und daß er dann, oj und ach,
erschlagen liegen wird, unbeerdigt, in den Straßen Jerusalems und
daß sein Name sein wird Messias Ben Josef? Wie aber kann der Name
eines Nichtjuden Messias Ben Josef sein?«
Nun aber mischte sich der Wirt
Theophil-Giora ein, und er sprang dem Tischler Chalafta bei. Es
kränkte ihn, daß ein Fremder nicht sollte der Messias sein können.
Finster und hartnäckig beharrte er: nur ein Nichtjude könne der
Erlöser sein. Denn heißt es nicht in der Schrift, daß er den Himmel
zusammenrollen werde wie eine Buchrolle und daß erst die Strafe
sein werde und das große Schlachten und das Feuer in der
mörderischen Stadt?
Mehrere stimmten ihm zu, andere
widersprachen. Alle waren sie aufgewühlt. Langsam, düster klagend,
empört redeten sie aufeinander ein, diskutierten inbrünstig die
dunklen und widerspruchsvollen Botschaften. Sie waren fest im
Glauben an den Erlöser, diese galiläischen Männer. Nur hatte jeder
ein anderes Bild von ihm, und jeder verteidigte sein Bild, er sah
es genau, er wußte, daß er recht hatte und der andere unrecht, und
jeder suchte sich eifrig für sein Bild die Belege aus der
Schrift.
Josef hörte gespannt zu. Seine
Augen und seine Nase waren empfindlich, aber er kümmerte sich nicht
um den beizenden, widerwärtig stinkenden Rauch. Er schaute auf die
Männer, wie sie in ihren harten Schädeln ihre Argumente wälzten.
Man sah ordentlich, wie sie sie ausgruben, mühselig in Worte
umschmolzen. Einstmals, als er bei dem Einsiedler Banus in der
Wüste lebte, waren die Heilsbotschaften der Propheten groß und
ständig um ihn gewesen, er hatte sie eingeatmet mit der Luft, die
ihn umgab. Aber in Jerusalem waren die Verheißungen verblaßt, und
von den Sätzen der Schrift waren ihm diejenigen, die vom Erlöser
sprachen, die dünnsten, fremdesten geworden. Die Doktoren der
Quadernhalle sahen es nicht gern, wenn man diese Weissagungen auf
die Gegenwart anwenden wollte; viele schlossen sich der Meinung des
großen Gesetzeslehrers Hillel an, der Messias sei längst
erschienen, in Gestalt des Königs Hiskia, sie strichen aus den
Achtzehn Bitten die um das Erscheinen des Erlösers, und wenn Josef
sich prüfte, dann hatte seit langen Jahren die Hoffnung auf den
Erlöser weder in seinen Gedanken noch in seinen Taten einen Platz
gehabt: jetzt, an diesem Abend, in der dunkeln, rauchigen Kneipe,
wurde ihm die Erwartung des Erretters wieder körperhaft, Glück und
Bedrängnis, Eckstein des ganzen Lebens. Offenen Ohres und vollen
Herzens hörte er den Männern zu, und die Anschauungen dieser
Einfältigen, dieser Tuchwirker, Krämer, Tischler, Ölbauern,
schienen ihm wichtiger als die scharfsinnigen Kommentare der
Jerusalemer Doktoren. Wird der Erlöser den Ölzweig bringen oder das
Schwert? Er verstand gut, daß sich die Männer an den Widersprüchen
ihres gewalttätigen Glaubens immer mehr erhitzten und in aller
Frommheit immer bedrohlicher gegeneinander wurden.
Schließlich war es so weit, daß
der Tischler Chalafta mit Fäusten gegen den Krämer Tarfon losgehen
wollte. Da sagte auf einmal, gepreßt und hastig, einer von den
Jüngeren: »Laßt doch, wartet doch, paßt auf, er ›sieht‹.« Da
schauten sie alle hin auf den Platz neben dem Heizbecken. Dort saß
ein Buckliger, fahl, dürr und, wie es schien, auch kurzsichtig.
Bisher hatte er kaum den Mund aufgetan. Jetzt blinzelte er
angestrengt durch den Rauch, machte die Augen eng, als ob er am
Rand seiner Sehweite etwas erkennen wolle, riß sie wieder auf und
blinzelte.
Die Männer redeten auf ihn ein:
»Siehst du, Akawja? Sag uns, was du siehst.« Der Sandalenmacher
Akawja, immer angestrengt schauend, die Stimme heiser vom Wein und
Rauch, sagte nüchtern und sehr dialektisch: »Ja, ich sehe ihn.« –
»Wie sieht er aus?« fragten die Männer. »Er ist nicht groß«, sagte
der Schauende, »aber er ist breit.« – »Ist er ein Jude?« fragten
sie. »Ich glaube nicht«, sagte er. »Er hat keinen Bart. Aber wer
will einem Gesicht ablesen, ob einer ein Jude ist?« – »Ist er
bewaffnet?« – »Ich sehe kein Schwert«, erwiderte der Schauende,
»aber ich glaube, er hat eine Rüstung.« – »Wie spricht er?« fragte
Josef. »Er bewegt den Mund«, erwiderte der Sandalenmacher Akawja,
»aber ich kann ihn nicht hören. Ich glaube, er lacht«, fügte er
wichtig hinzu. »Wie kann er lachen, wenn er der Messias ist?«
fragte unzufrieden der Tischler Chalafta. Der Schauende erwiderte:
»Er lacht und ist dennoch furchtbar.«
Dann wischte er sich über die
Augen, erklärte, jetzt sehe er nichts mehr. Er fühlte sich müde und
hungrig, gab sich mürrisch, trank viel Wein, verlangte auch von dem
milchgekochten Geflügel. Der Wirt gab Josef Auskunft über den
Sandalenmacher Akawja. Der war sehr arm, aber er machte trotzdem
jedes Jahr seine Wallfahrt nach Jerusalem und brachte sein Lamm zum
Tempel. Die inneren Höfe durfte er nicht betreten, weil er ein
Krüppel war. Aber er hing sehr an dem Tempel, mit ganzem Herzen und
ganzem Vermögen, und wußte auch genauer Bescheid um die inneren
Höfe als manche, die darin waren. Vielleicht war es gerade, weil er
den Tempel nicht sehen durfte, daß Jahve ihn anderes sehen
ließ.
Die Männer blieben noch lange
zusammen, aber sie sprachen nicht mehr von dem Erlöser. Vielmehr
sprachen sie davon, wie sehr die Makkabi-Leute an Zahl gewachsen
waren, und von ihrer Organisation und Bewaffnung. Der Tag des
Losschlagens werde bald da sein. Der Sandalenmacher Akawja, wieder
munter geworden, zog den unbeschnittenen Wirt auf, daß er, wenn
dieser Tag gekommen sei, bei dem großen Aufwasch auch werde dran
glauben müssen. Dann wandten sie sich wieder dem Herrn aus
Jerusalem zu und hänselten ihn auf ihre täppische, doch nicht
unfreundliche Art. Josef ließ es sich gefallen und lachte mit.
Schließlich verlangten sie, er solle ihr Gast sein und von dem
milchgekochten Geflügel essen. Vor allem der Sandalenmacher Akawja,
der Schauende, bestand darauf. Eigensinnig, hartnäckig plärrte er:
»Essen, Mann, Sie sollen essen.« Josef hatte sich in Rom um die
Beachtung der Bräuche nicht viel gekümmert, in Jerusalem hatte er
Gebote und Verbote streng geachtet. Hier war Galiläa. Er bedachte
sich eine Weile. Dann aß er.
Josef hat sich zum Hauptquartier Magdala
gewählt, einen angenehmen, großen Ort am See Genezareth. Wenn er
ein wenig auf dem See herumfährt, dann sieht er im Süden weiß und
prunkvoll eine Stadt liegen, die schönste Stadt des Landes, aber
sie gehört nicht zu seinem Bereich, sie untersteht dem König
Agrippa. Sie heißt Tiberias. Und in ihr sitzt, von dem König als
Gouverneur eingesetzt, Justus. Die Stadt ist nicht leicht zu
regieren, mehr als ein Drittel ihrer Einwohner sind Griechen und
Römer, vom König verwöhnt, aber der Doktor Justus, das läßt sich
nicht bestreiten, hält gute Ordnung. Er hat, als Josef nach Galiläa
kam, seinen Antrittsbesuch höflich erwidert. Aber von Politik hat
er kein Wort gesprochen. Er nimmt den Jerusalemer Bevollmächtigten
offensichtlich nicht für voll. Den Josef kratzt das im Innersten.
Eine bittere Sehnsucht erfüllt ihn, es dem andern zu
zeigen.
Auf der Höhe über Tiberias
schimmert breit und stattlich das Palais des Königs Agrippa, in dem
Justus residiert. An den Kais gibt es stattliche Villen und
Geschäftshäuser. Aber es gibt auch viele Arme in Tiberias, Fischer
und Schiffer, Lastträger, Industriearbeiter. In Tiberias sind die
Griechen und Römer die Reichen und die Juden die Proletarier. Die
Arbeit ist viel, die Steuern sind hoch, in der Stadt spürt der Arme
noch bitterer als auf dem Land, was alles er entbehrt. Es gibt
viele Mißvergnügte in Tiberias. In allen Kneipen hört man
aufsässige Reden gegen die Römer und gegen den König Agrippa, der
sich von ihnen aushalten läßt. Wortführer dieser Unzufriedenen ist
jener Sapita, der Sekretär der Fischereigenossenschaft. Er beruft
sich auf Jesaja: »Wehe über diejenigen, welche Haus an Haus reihen
und Acker zu Acker schlagen.« Justus versucht mit allen Mitteln die
Bewegung niederzuhalten, aber seine Macht endet an den Grenzen des
Stadtgebiets von Tiberias, und er kann nicht verhindern, daß der
Wehrverband des Sapita sich im übrigen Galiläa Stützpunkte schafft
und daß ihm aus diesen Bezirken immer mehr Leute
zulaufen.
Josef sieht nicht ungern, wie der
Anhang des Sapita stärker wird und wie seine Banden sich auch im
Hoheitsbereich der Jerusalemer Regierung überall ausbreiten. Leute
des Sapita verlangen von Gemeinden, die dem Josef unterstehen,
Beiträge für die nationale Sache, veranstalten im Fall der
Weigerung Strafexpeditionen, die bedenklich nach Raub und
Plünderung ausschauen. Josefs Polizei greift selten ein, seine
Gerichte behandeln die Abgefaßten mit Milde.
Josef freut sich stürmisch, als
Sapita zu ihm kommt. Galiläa beginnt ihm zu vertrauen, Galiläa
kommt zu ihm. Jetzt, das spürt er, wird es nicht mehr lange dauern,
bis er auch den hochmütigen Justus aus seiner Zurückhaltung
herausgekitzelt haben wird. Aber er verbirgt klug seine Freude. Er
schaut sich Sapita an. Der ist kräftig, gedrungen von Wuchs, eine
seiner Schultern hängt. Er hat einen schüttern, zweispitzigen Bart,
kleine, besessene Augen. Josef unterhält sich mit ihm, unterhandelt
mit ihm, alles in halben Worten. Mit ihm sich zu verständigen ist
leichter als mit Justus. Es wird nichts Schriftliches festgelegt;
aber als Sapita geht, wissen beide, daß eine Vereinbarung zustande
gekommen ist, wirkungsvoller als ein umständlicher Vertrag. Wer von
den Leuten des Sapita sich in Tiberias nicht mehr sicher fühlt,
kann ruhig in das Gebiet des Josef flüchten; man wird dort
glimpflich mit ihm verfahren. Und Josef braucht in Zukunft nicht
mehr soviel Schweiß daran zu wenden, Gelder für seinen Kriegsfonds
aus dem knauserigen Doktor Jannai herauszuquetschen; was ihm der
verweigert, bekommt er von Sapita.
So wird es auch gehalten. Und
jetzt hat Josef den Justus wirklich so weit, daß er von Politik
spricht. In einem Schreiben fordert er dringlich, die Jerusalemer
Herren sollten seine Bemühungen, das Bandenwesen in Galiläa zu
unterdrücken, nicht länger sabotieren. Der alte Doktor Jannai
stellt einige ungemütliche Fragen an Josef. Aber der gibt sich
erstaunt, Justus hat offenbar Halluzinationen. Sowie er allein ist,
lächelt er befriedigt. Er freut sich auf den Kampf.
Es wird eine mündliche Aussprache
mit Justus vereinbart. Zusammen mit dem alten Doktor Jannai reitet
Josef auf seinem schönen arabischen Pferd Pfeil durch die
gepflegten Straßen von Tiberias, von der Bevölkerung neugierig
angestaunt. Er weiß, daß er zu Pferd eine gute Figur macht, er
sieht unbeteiligt, ein wenig hochfahrend geradeaus. Man reitet den
Hügel hinauf, zum Palais des Königs Agrippa. Weiß und prunkvoll vor
dem Eingang spreizt sich die Kolossalstatue des Kaisers Tiber, nach
dem die Stadt genannt ist. Auch die Arkaden davor sind bevölkert
mit Statuen. Den Josef wurmt das. Er hängt nicht an den alten
Bräuchen, aber sein Herz ist voll von dem unsichtbaren Gott Jahve,
es bringt ihn im tiefsten auf, wenn er im Lande Jahves die
verbotenen Bilder sehen muß. Die Gestalt zu bilden bleibt das
alleinige Recht des schöpferischen Gottes. Dem Menschen hat er
erlaubt, diesen Gestalten Namen zu geben: sie selber bilden zu
wollen ist Vermessenheit und Frevel. Die Standbilder ringsum
schänden den unsichtbaren Gott. Die leise, schuldbewußte Unruhe,
mit der Josef die Reise zu Justus antrat, ist fort; jetzt ist er
voll von einer reinen Erregung, fühlt sich dem Justus überlegen.
Der vertritt eine wassernüchterne Politik: er, Josef, kommt als
Soldat Jahves.
Justus, erklärter Gegner alles
Feierlichen, bemüht sich, der Unterredung das Amtliche zu nehmen.
Die drei Herren liegen einander gegenüber, frühstückend. Justus hat
zuerst griechisch gesprochen, hat dann aber höflich ins Aramäische
hin übergewechselt, trotzdem ihm diese Sprache sichtlich schwerer
fällt. Langsam gleitet man ins Politische. Doktor Jannai ist
betulich, jovial wie immer. Josef verteidigt seine eigene Politik;
er wird heftiger, als er möchte. Gerade um die Kriegspartei vor
unüberlegten Angriffen zurückzuhalten, muß man ihr entgegenkommen.
»Sie meinen, man müsse den Frieden aktivieren?« fragte Justus, es
klang unangenehm ironisch. »Ich kann nicht umhin, dem Autor des
Makkabäerbuches zu versichern, daß mir in der praktischen Politik
die Makkabäergesten, zu welchem Zwecke immer, auch heute noch fehl
am Ort scheinen.« – »Sitzen die unangenehmsten Makkabäer nicht hier
in Ihrem Tiberias?« fragte gemütlich Doktor Jannai. »Leider habe
ich nicht die Macht«, gestand Justus freimütig zu, »meinen Sapita
zu verhaften. Sie könnten das eher, meine Herren. Aber wie ich
Ihnen schon schrieb, es ist ja gerade die Milde Ihrer Gerichte, die
mir meine ›Rächer Israels‹ so üppig macht.« – »Es ist auch für uns
nicht ganz so einfach«, entschuldigte sich Doktor Jannai.
»Schließlich sind diese Leute keine gemeinen Räuber.«
Josef griff ein: »Diese Leute
berufen sich auf Jesaja. Sie glauben«, fügte er stark und streitbar
hinzu, »daß die Zeit erfüllt ist und daß sehr bald der Messias
kommt.« – »Jesaja lehrte«, erwiderte nicht laut, aber verbissen
Justus, »haltet still vor der Macht. Haltet still und vertraut,
lehrte Jesaja.« Den Josef kratzte das Zitat. Wollte dieser Justus
ihn zurückweisen? »Der Herd der Unruhen ist Ihr Tiberias«, sagte er
scharf. »Der Herd der Unruhen ist Ihr Magdala, Doktor Josef«,
erwiderte verbindlich Justus. »Ich kann nichts dagegen tun, wenn
Ihre Gerichte meine Diebe freisprechen. Aber wenn Sie weiterhin
Ihren Kriegsfonds aus dem Ertrag dieser Diebereien mästen, Doktor
Josef«, er sprach jetzt besonders höflich, »dann stehe ich nicht
dafür, daß nicht mein König sich diese Beträge einmal mit Gewalt
wieder hereinholt.«
Doktor Jannai fuhr hoch. »Haben
Sie Geld des Sapita in Ihrer Kasse, Doktor Josef?« Josef wütete.
Dieser verdammte Justus mußte einen großartigen Spionagedienst
unterhalten; die Geldsendungen waren auf jede Art verschleiert
worden. Er wich aus, es seien ihm allerdings für die galiläischen
Heimwehren Gelder auch aus Tiberias zugeflossen, aber er könne sich
nicht vorstellen, daß sie aus der Beute der Sapita-Bande stammen.
»Glauben Sie mir, sie stammen daraus«, erklärte freundlich Justus.
»Ich muß Sie sehr bitten, das Gesindel nicht weiter auf diese Art
zu unterstützen. Ich halte es nicht für vereinbar mit meiner
Amtspflicht, wenn ich mein Tiberias länger von Ihnen aufputschen
lasse.« Er sprach noch immer sehr höflich; mehr daran, daß er jetzt
wieder ins Griechische überging, merkte man seine Erregung. Von dem
alten Doktor Jannai aber war auf einmal alle Betulichkeit
abgefallen. Er war aufgesprungen und gestikulierte auf Josef ein.
»Haben Sie Geld von Sapita?« schrie er. »Haben Sie Geld von
Sapita?« Und ohne eine Antwort Josefs abzuwarten, wandte er sich an
Justus. »Falls Gelder aus Tiberias gekommen sind, wird man die
Beträge an Sie zurückleiten«, versprach er.
Kaum aus der Stadt, trennten sich
die beiden Kommissare. »Ich mache Sie darauf aufmerksam«, sagte
Jannai, und seine Stimme war eisig, »daß Sie nicht als einer der
›Rächer Israels‹ in Magdala sitzen, sondern als Kommissar von
Jerusalem. Ich verbitte mir Ihre Extravaganzen und pittoresken
Abenteuer«, schrie er. Josef, blaß vor Wut, konnte nichts dagegen
sagen. Er sah klar, er hatte seine Kraft überschätzt. Dieser Doktor
Jannai hatte gute Witterung dafür, was feststand und was nicht.
Wenn der es wagte, ihn wie einen kleinen Schuljungen
herunterzuputzen, dann mußte seine Stellung verdammt wacklig sein.
Er hätte noch zuwarten müssen, er hätte sich in diesen Kampf mit
Justus noch nicht einlassen dürfen. Jerusalem wird ihn bei nächster
Gelegenheit abberufen, und Justus wird lächeln, wird dieses infame
Lächeln aufsetzen, das Josef gut kennt.
Er soll nicht lächeln. Josef wird
zu verhindern wissen, daß er lächelt. Was versteht dieser Justus
von Galiläa? Aber jetzt fühlt er sich erfahren genug. Er hat keine
Angst und Hemmung mehr vor den galiläischen Führern. Sapita ist von
selber zu ihm gekommen, den andern, Johann von Gischala, wird er
rufen. Es wird sich erweisen, daß nicht Jerusalem, sondern das
Triumvirat Johann, Sapita und Josef die wahre Macht im Land hat.
Soll man sie dann Räuberbanden oder Gesindel oder wie immer nennen.
Er denkt gar nicht daran, die Verbindung mit Sapita fahrenzulassen.
Im Gegenteil, er wird alle bewaffneten Organisationen, anerkannt
oder nicht, im Gebiet der Jerusalemer Regierung und darüber hinaus
zu einem einzigen Verband zusammenschließen. Nicht als Kommissar
von Jerusalem, sondern als Parteiführer der »Rächer
Israels«.
Johann von Gischala, der Chef der
gutbewaffneten galiläischen Bauernwehr, freute sich sichtlich, als
Josef ihn zu sich berief. Er besaß in der Nähe seiner Heimatstadt,
des kleinen Bergortes Gischala, nach dem er sich nannte – in den
Registern hieß er Johann Ben Levi –, ein nicht sehr rentables
Gütchen, das vor allem Öl und Feigen produzierte. Er war breit,
langsam, gutmütig, sehr pfiffig, ein Mann so recht für die Herzen
der Galiläer. Während des Feldzugs des Cestius hatte er in
Obergaliläa einen listigen, erbitterten Kleinkrieg gegen die Römer
organisiert. Er war viel unterwegs, kannte jeden Winkel im Land.
Josef, als Johann jetzt endlich zu ihm kam, verstand nicht recht,
daß er sich nicht schon früher mit ihm eingelassen hatte. Nicht
groß, aber ausgiebig und kräftig von Figur, saß Johann vor ihm, das
Gesicht braun, breit, mit kurzem Knebel bart, die Nase eingedrückt,
die Augen grau, verschmitzt. Bei aller Schlauheit ein gutmütiger,
offener Mann.
Er rückte sogleich mit einem
eindeutigen Vorschlag heraus. Überall im Land habe König Agrippa
Getreide gestapelt, zweifellos für die Römer. Johann wollte dieses
Getreide für seine Wehrverbände requirieren, eine Notmaßnahme, für
die er die Genehmigung Josefs erbat. Unter dem Einfluß der
Geldsäcke und der Aristokraten, klagte er, verleugne Jerusalem den
Zusammenhang mit seinen Wehrverbänden. Von Josef habe er den
Eindruck, daß er anders sei als die leisetreterischen Herren im
Tempel. »Sie, Doktor Josef, gehören im Herzen zu den ›Rächern
Israels‹. Das riecht man auf drei Meilen im voraus. Ihnen möchte
ich meine Wehrverbände unterstellen«, sagte er treuherzig und gab
ihm eine genaue Liste seiner Organisation. Es waren achtzehntausend
Mann. Josef gab seine Zustimmung, daß das Getreide requiriert
werde.
Er fürchtete nicht den Sturm, den
die Requirierung erregen mußte. Wenn er seine Stellung
rücksichtslos ausnützte, wenn er die reale Macht in Galiläa in die
Hand bekam, vielleicht, daß dann Jerusalem nicht mehr wagte, ihn
abzuberufen. Und wenn, dann stand es bei ihm, ob er sich abberufen
ließ. In einer fast fröhlichen Spannung wartete er, was geschehen
werde.
Auch Johann von Gischala war von
der Unterredung mit Josef befriedigt. Er war ein mutiger Mann und
nicht ohne Humor. Ganz Galiläa wußte, daß er es war, der das
Getreide des Königs Agrippa beschlagnahmte. Er gab sich unschuldig,
wußte von nichts. Was sich ereignete, geschah auf Befehl des
Jerusalemer Kommissars. In aller Öffentlichkeit reiste er in das
Gebiet des Feindes nach Tiberias, um seinen Rheumatismus in den
dortigen heißen Quellen zu kurieren. Er wußte, sollte Justus etwas
gegen ihn unternehmen, dann würden seine Leute die Stadt Tiberias
stürmen. Justus lachte. So verderblich ihm die Taten dieses
Bauernführers erschienen, so gut gefiel ihm seine Art.
Nach Jerusalem aber und Sepphoris
schickte er eine empörte Note. Aufgebracht, japsend vor Wut, kam
der alte Doktor Jannai zu Josef. Das Getreide müsse natürlich
sogleich zurückgegeben werden. Josef empfing den Eifernden sehr
höflich. Das Getreide konnte leider nicht zurückgegeben werden, er
hatte es weiterverkauft. Jannai mußte sich unverrichteterdinge vor
dem höflich achselzuckenden Josef zurückziehen. Ein kleiner Trost
blieb: Josef führte einen ansehnlichen Teil des Erlöses nach
Jerusalem ab.
In der Stadt Tiberias gehörte zu den
beliebtesten Agitationsmitteln der »Rächer Israels« der Kampf gegen
die Gottlosigkeit der herrschenden Schicht, gegen ihren Hang, sich
den Römern und Griechen zu assimilieren. Als Sapita das nächstemal
bei Josef erschien, warf der ihm hin, wie auch er mit tiefstem
Ingrimm die Statuen gesehen habe, die sich so provozierend vor dem
Königspalast in der Sonne spreizten. Der finstere, gedrungene Mann
zog die eine Schulter noch höher, seine kleinen Augen schauten auf,
senkten sich wieder, er riß nervös an der einen Spitze seines
zweigeteilten Bartes. Josef wollte ihn weiterstoßen. Er zitierte
den Propheten: »Das Kalb ist im Lande, Jahve verwirft es.
Menschenhand hat es gemacht, und es kann kein Gott sein.« Er
wartete darauf, daß Sapita das berühmte Zitat weiterführe: »Darum
soll das Kalb zerpulvert werden.« Aber Sapita lächelte nur, er
überschlug diesen Teil und zitierte sehr leise, mehr in sich hinein
als gegen Josef, den späteren Satz: »Sie säen Wind, und sie werden
Ungewitter ernten.« Dann, sachlich, konstatierte er: »Wir
protestieren immerzu gegen den verbrecherischen Unfug. Wir wären
dem Kommissar von Jerusalem dankbar, wenn auch er in Tiberias
vorstellig würde.«
Sapita war nicht so offen wie
Johann von Gischala, aber auf seine leisen Andeutungen konnte man
sich verlassen. Wer Wind sät, wird Ungewitter ernten. Ohne sich
weiter mit Doktor Jannai zu verständigen, ersuchte Josef den Justus
um eine zweite Unterredung.
Schlicht, mit einem einzigen
Diener kam Josef diesmal nach Tiberias. Justus streckte ihm auf
römische Art den Arm mit der flachen Hand entgegen, ließ ihn aber
wieder sinken, lächelnd, sich korrigierend gewissermaßen, und gab
den hebräischen Gruß: »Friede.« Dann saßen sich die beiden Herren
gegenüber, ohne einen Dritten, jeder viel wissend um den andern, in
herz licher Feindschaft. Sie hatten beide etwas erreicht, seitdem
sie sich in Rom auseinandergesetzt hatten, sie besaßen Gewalt über
Menschen und Schicksale, sie waren älter geworden, ihre Züge
härter, aber immer noch sahen sie sich ähnlich, der blaßbraune
Josef und der gelbbraune Justus.
»Sie haben den Propheten Jesaja
zitiert«, sagte Josef, »als wir uns unlängst unterhielten.« – »Ja«,
sagte Justus. »Jesaja lehrte, daß das kleine Judäa sich nicht
einlassen solle in einen Kampf mit seinem weltmächtigen Gegner.« –
»Das lehrte er«, sagte Josef, »und am Ende seines Lebens flüchtete
er in eine hohle Zeder und wurde zersägt.« – »Besser ein Mann wird
zersägt als das ganze Land«, sagte Justus. »Was wollen Sie
eigentlich, Doktor Josef? Ich bemühe mich, einen sinnvollen
Zusammenhang zwischen Ihren Maßnahmen zu entdecken. Aber entweder
bin ich zu dumm, um sie zu verstehen, oder sie haben allesamt nur
den einen Zweck: Judäa erklärt Rom den Krieg unter Führung des
neuen Makkabäers Josef Ben Matthias.« Josef bezähmte sich. Er kenne
ja leider schon von Rom her diese fixe Idee des Justus, daß er ihn
für einen Kriegshetzer halte. Das sei er nicht. Er wolle den Krieg
nicht. Nur: er scheue ihn auch nicht. Im übrigen halte er, selbst
vom Standpunkt des Justus aus gesehen, dessen Methoden für falsch.
Ständiges Pochen auf Frieden führe mit der gleichen Notwendigkeit
zum Krieg wie ständiges Pochen auf Krieg. Man müsse im Gegenteil
der Kriegspartei durch kluges Entgegenkommen alle Vorwände nehmen.
»Wir in Tiberias tun das wohl nicht?« fragte Justus. »Nein«,
erwiderte Josef, »Sie in Tiberias tun das nicht.« – »Ich höre«,
sagte höflich Justus. »Sie in Tiberias«, erklärte Josef, »haben zum
Beispiel dieses königliche Palais mit seinen Bildern von Menschen
und Tieren, das ein ständiges Ärgernis für die ganze Provinz ist,
ein ständiger Anreiz zum Krieg.« Justus schaute ihn an, dann begann
er breit zu lächeln. »Sind Sie gekommen, um mir das mitzuteilen?«
fragte er. Josef füllte sich mit seinem ganzen Ingrimm gegen die
freche Bildnerei. »Ja«, sagte er.
Da bat ihn Justus, mit ihm zu
kommen. Er führte ihn durch den Palast. Es war aber der Palast mit
Recht berühmt, das schönste Bauwerk Galiläas. Justus führte ihn
durch die Säle, Höfe, Hallen, Gärten. Ja, es war Bildnerei überall,
sie war verwachsen mit dem Bau. König Agrippa, sein Vorgänger und
sein Vorvorgänger hatten mit Mühe, Geld und Geschmack schöne Dinge
aus aller Welt hierher zusammengetragen und zusammengepaßt, sehr
alte und berühmte Kunstwerke zum Teil. In einem Hof, der mit
bräunlichem Bruchstein belegt war, blieb Justus stehen vor einem
kleinen Bildwerk, das, verwitternd, alt, ägyptische Arbeit, einen
Zweig darstellte, und auf diesem Zweig einen Vogel. Es war ein sehr
strenges Werk, etwas steif sogar, aber trotzdem der kleine Vogel
noch ruhte, sah man an ihm schon die selige Leichtigkeit des Flugs,
zu dem er die Flügel hob. Justus stand eine kleine Zeit vor dem
Bildwerk, hingegeben. Dann, wie erwachend, zärtlich, sagte er:
»Soll ich das entfernen?« und, ringsum weisend: »Und das? Und das?
Dann ist der ganze Bau sinnlos.« – »Dann reißen Sie den Bau
nieder«, sagte Josef, und es war in seiner Stimme ein so maßloser
Haß, daß Justus nichts mehr sagte.
Schon für den nächsten Tag berief
Josef den Bandenführer Sapita. Der fragte, ob er etwas ausgerichtet
habe bei den Herrschenden in Tiberias. Nein, erwiderte Josef, ihr
Herz sei verstockt. Aber sein Machtbereich ende leider vor den
Grenzen der Stadt. Sapita zerrte heftig an dem einen Teil seines
Bartes. Diesmal sprach er den Satz aus, den er das letztemal nur
geschwiegen hatte: »Das Kalb Samarias soll zerpulvert werden.« Wenn
die Leute von Tiberias, erwiderte Josef, sich das Ärgernis aus den
Augen schaffen sollten, dann werde er Verständnis für diese Leute
haben. »Auch ein Asyl?« fragte Sapita. »Vielleicht auch ein Asyl«,
sagte Josef.
Zwiespältig stand Josef, als
Sapita gegangen war. Dieser Sapita ist trotz seiner hohen Schulter
ein kräftiger Bursche, er wird nicht sehr zart mit den Dingen
umgehen. Wenn er und seine Leute in den Palast eindringen, dann
werden wohl nicht nur die Statuen entfernt werden. Es ist ein
schöner Bau, seine Decken sind Zedernholz und Gold, er ist voll von
Kostbarkeiten. Er gehört unbestritten dem König Agrippa und steht
unbestritten unter dem Schutz der Römer. Es war jetzt einige Zeit
still im Land, und in Jerusalem hoffen sie, man werde mit Rom zu
einer Verständigung kommen. Der Sandalenma cher Akawja in der
verräucherten Kneipe von Kapernaum hat den Messias gesehen: und er
trug kein Schwert. Gewisse Leute in Rom warten nur darauf, daß die
Regierung von Jerusalem etwas unternehme, was als Angriff gedeutet
werden könnte. Was er jetzt gesagt hat, kann einen schweren Stein
ins Rollen bringen, den viele Hände bisher mit vieler Kraft
festgehalten haben.
In der Nacht darauf wurde das
Palais des Königs Agrippa gestürmt. Es war ein weitläufiger Bau,
sehr fest gefügt, und es war nicht leicht, ihn dem Erdboden
gleichzumachen. Es gelang auch nicht völlig. Alles vollzog sich bei
schwachem Mondschein und, merkwürdigerweise, ohne Geschrei. Die
vielen geschäftigen Leute schlugen verbissen auf die festen Steine
ein, zerrten daran mit den Händen, zertrampelten sie. Zertrampelten
auch die Blumenbeete des Gartens. Mit besonderem Ingrimm
zertrümmerten sie die Wasserkünste. Geschäftig liefen sie hin und
her, sich die kostbaren Teppiche und Gewebe, den Goldbelag der
Decken, die erlesenen Tischplatten zu sichern, alles ohne Geschrei.
Justus erkannte bald, daß seine Truppen zu schwach waren, um mit
Erfolg einzugreifen, und verbot jeden Widerstand. Aber die »Rächer
Israels« hatten bereits an hundert Soldaten und griechische
Einwohner der Stadt niedergemacht, die, als der Sturm begann, der
Plünderung hatten wehren wollen. Der Bau selbst brannte dann noch
fast einen ganzen Tag.
Die Erstürmung des Palastes von
Tiberias bewirkte, daß ganz Galiläa erstarrte. In Magdala
bedrängten die Behörden den Josef ängstlich um Richtlinien, um
Stellungnahme. Josef schwieg verbissen. Dann plötzlich, in großer
Eile, noch am Tag nach dem Brand, brach er nach Tiberias auf, um
dem Justus das Beileid der Jerusalemer Regierung zu dem großen
Unglück auszusprechen, ihm seine Hilfe zur Verfügung zu stellen. Er
fand ihn zwischen den Trümmern, stumpf und rastlos umhergehend.
Justus hatte keine Truppen von seinem König verlangt, hatte nichts
gegen Sapita und seine Leute unternommen. Hatte, der sonst so
tätige Mann, die Hände schlaff und verzweifelt fallen lassen. Auch
als er jetzt Josef sah, höhnte er nicht, hatte für ihn keine
einzige beißende Anmerkung. Er sagte ihm, und seine Stimme kam rauh
vor Erregung und Kummer aus dem sehr blassen Gesicht: »Sie wissen
gar nicht, was Sie angerichtet haben. Nicht die Einstellung des
Tempelopfers war das Schlimme, auch nicht der Angriff auf Cestius,
nicht einmal das Edikt von Cäsarea. Das, das, das hier bedeutet
endgültig den Krieg.« Er hatte Tränen in den Augen vor Wut und
Trauer. »Sie sind blind vor Ehrgeiz«, sagte er zu Josef.
Einen großen Teil der Beute aus
dem Palast stellte Sapita dem Josef zu. Gold, edles Holz,
Bruchstücke von Statuen. Josef suchte unwillkürlich, ob er den
Zweig mit dem Vogel aus bräunlichem Stein finde, aber er fand ihn
nicht; er war wohl aus wertlosem Material gewesen und leicht zu
zerstören.
Die Nachrichten aus Tiberias trafen die
Herren in Jerusalem wie ein Hieb ins Mark. Schon hatte man durch
Vermittlung des friedfertigen Obersts Paulin ein halbes Versprechen
der kaiserlichen Regierung erwirkt. Falls Judäa sich ruhig halte,
hatte Rom erklärt, dann werde es sich mit der Auslieferung einiger
weniger Führer begnügen, des Simon Bar Giora, des Doktor Eleasar.
In Jerusalem war man froh, die Hetzer loszuwerden. Jetzt, durch die
sinnlose Tat von Tiberias, war alles zerschlagen.
Die »Rächer Israels«, schon an
die Wand gedrängt, bekamen Luft. Ihr Versammlungsort, die Blaue
Halle, wurde zum Mittelpunkt Judäas. Sie setzten durch, daß ihr
Doktor Eleasar in die Regierung berufen wurde. Hochfahrend, die
Demütigung der andern ganz auskostend, ließ der junge, elegante
Herr sich bitten, ehe er die Wahl annahm. Den rebellischen
Gouverneur von Galiläa, der so offensichtlich gegen die Weisungen
seiner Regierung gehandelt hatte, konnte freilich auch die Blaue
Halle nicht im Amt halten. Doktor Jannai hatte dem Großen Rat
persönlich Bericht erstattet, die Absetzung und Bestrafung dieses
Verbrechers Josef Ben Matthias erbittert verlangt. Die »Rächer
Israels« wagten nicht, ihn zu verteidigen; sie enthielten sich der
Stimme. Es war unter den Herren der Regierung ein einziger, der ein
Wort zugunsten Josefs fand, der alte, milde Großdoktor Jochanan Ben
Sakkai. Er sagte: »Verurteilt niemand, ehe er an seinem Ende
ist.«
Josefs alter Vater, der dürre,
sanguinische Matthias, war jetzt ebenso verzweifelt, wie er bei der
Ernennung seines Sohnes beglückt gewesen war. Er beschwor ihn
dringlich, noch bevor das Abberufungsdekret Galiläa erreiche, nach
Jerusalem zu kommen, sich zu stellen, sich zu rechtfertigen. Bleibe
er in Galiläa, so bedeute das sichern Untergang für alle. Sein Herz
sei betrübt zum Tode. Er wolle nicht in die Grube fahren, ohne
seinen Sohn Josef nochmals gesehen zu haben.
Josef, als er diesen Brief
erhielt, lächelte. Sein Vater war ein alter Herr, den er sehr
liebte, der aber alles viel zu ängstlich und düster nahm. Sein
eigenes Herz war voll Zuversicht. Wieder sahen sich die Dinge
anders an in Galiläa als in Jerusalem. Galiläa, seit dem
Bildersturm in Tiberias, jubelt ihm zu; man weiß im ganzen Land,
daß ohne seine Zustimmung diese Tat nie hätte geschehen können. Er
hat die Wand niedergerissen, die zwischen ihm und dem Volk von
Galiläa war, er gilt dem Land jetzt wirklich als der zweite Juda
Makkabi, wie dieser Justus ihn höhnte. Die bewaffneten Verbände
hören auf ihn. Nicht er ist von Jerusalem, sondern Jerusalem von
ihm abhängig. Es steht bei ihm, das Absetzungsdekret Jerusalems
einfach zu zerreißen.
In dieser Nacht hatte er einen
schweren Traum. Auf allen Straßen kamen die Legionen der Römer, er
sah sie sich heranwälzen, langsam, unausweichlich, in strenger
Ordnung, in Reihen von sechs Mann, viele Tausende, aber wie ein
einziges Wesen. Das war der Krieg selber, was da auf ihn zukam, das
war die »Technik«, eine ungeheuer wuchtige Maschine von blinder
Sicherheit, es war sinnlos, sich dagegen zu wehren. Er sah den
Gleichtritt der Legionen, er sah ihn ganz deutlich, aber, das war
das Erschreckende, er hörte ihn nicht. Er stöhnte. Es war ein
einziger riesiger Fuß in einem Ungeheuern Soldatenstiefel, er hob
sich, trat, hob sich, trat, man konnte ihm nicht entgehen, in fünf
Minuten, in drei Minuten wird er einen zertreten. Josef saß auf
seinem Pferde Pfeil, Sapita, Johann von Gischala, alle schauten auf
ihn, finster und fordernd, und warteten, daß er das Schwert aus der
Scheide reiße. Er griff nach dem Schwert, aber es ging nicht
heraus, es war festgenagelt in der Scheide, er stöhnte, Justus von
Tiberias grinste, Sapita riß wild und wütend an der einen Strähne
seines zweigeteilten Bartes, der Tischler Chalafta hob seine
gewalttätigen Fäuste. Josef riß an dem Schwert, es dauerte eine
Ewigkeit, er riß und riß und brachte es nicht heraus. Der
Sandalenmacher Akawja plärrte: »Essen, Mann, Sie sollen essen«, und
der Fuß in dem riesigen Soldatenstiefel hob sich, trat, kam immer
näher.
Aber als Josef erwachte, war ein
strahlend klarer Wintermorgen, und die entsetzliche, wartende
Ewigkeit vor dem Soldatenstiefel war weggewischt. Alles war gut,
wie es gekommen war. Nicht Jerusalem, Gott selber hat ihn auf
diesen Platz gestellt. Gott will den Krieg.
Mit wilder Inbrunst machte er
sich daran, diesen Heiligen Krieg vorzubereiten. Wie hatte es sein
können, daß er in Rom mit den Fremden von einem Tische aß, in einem
Bett mit ihnen schlief? Jetzt wie die andern ekelte ihn vor der
Ausdünstung ihrer Haut, sie verpesteten das Land. Möglich, daß die
Verwaltung der Römer gut war, ihre Straßen, ihre Wasserleitungen:
aber dieses Heilige Land Judäa wurde aussätzig, wenn man anders
darin lebte als jüdisch. Die Besessenheit überkam ihn, aus der er
damals sein Buch über die Makkabäer geschrieben hatte. Seine eigene
Zukunft, vorausahnend, hatte er niedergeschrieben. Seine Kraft
wuchs. Tag und Nacht, unermüdlich, arbeitete er. Straffte die
Verwaltung, stapelte Vorräte, disziplinierte die Wehrverbände,
verstärkte die Befestigungen. Er zog durch die Städte Galiläas,
durch seine großen, stillen Landschaften, Berge und Täler,
Flußufer, See- und Meergestade, Reben, Oliven, Maulbeerfeigenbäume.
Er zog dahin auf seinem Pferde Pfeil, jung, kraftvoll, eine
glühende Heiterkeit und Zuversicht strahlte von ihm aus, vor ihm
wehte die Standarte mit den Buchstaben Makkabi, »Wer ist wie du, o
Herr?«, und seine Erscheinung, sein Wort und seine Fahne
entzündeten die Jugend Galiläas. Viele, wenn sie die Ansprachen
Josefs hörten, die glühend zuversichtlichen Worte der Vernichtung
gegen Edom, die aus ihm herausbrachen wie Steine und Feuer aus
einem Berg, riefen, ein neuer Prophet sei auferstanden in Israel.
»Marin, Marin, unser Herr, unser Herr«, schrien sie
leidenschaftlich ergeben, wohin er kam, und sie küßten seine Hände
und seinen Mantel.
Er ritt nach Meron in
Obergaliläa. Das war eine unbedeutende Stadt, berühmt nur wegen
ihrer Ölbäume, ihrer Universität und ihrer alten Gräber. Hier
ruhten die Gesetzeslehrer der Vorzeit, der strenge Großdoktor
Schammai und der milde Großdoktor Hillel. Die Leute von Meron
galten als besonders heiß im Glauben. Man sagte, aus den Gräbern
der Lehrer wachse ihnen tiefere Gottesweisheit zu. Vielleicht war
es deshalb, daß Josef nach Meron ging. Er sprach in der alten
Synagoge; die Leute hörten ihm still zu, Doktoren und Studenten
zumeist, sie waren hier stiller als sonstwo, sie schaukelten die
Körper, gespannt lauschend, und atmeten erregt. Und plötzlich, als
Josef nach einem großen, angestrengten Satze schwieg, in das
Schweigen hinein, gedrängt, gepreßt, raunte einer, ein blasser,
ganz junger Mensch: »Dieser ist es.« – »Wer soll ich sein?« fragte
zürnend Josef. Und der junge Mensch, mit hündisch ergebenen, etwas
törichten Augen, immer von neuem, wiederholte: »Du bist es, ja, du
bist es.« Es stellte sich heraus, daß die Leute der kleinen Stadt
diesen jungen Menschen für einen Propheten Jahves hielten und daß
sie, eine Woche zuvor, die Türen ihrer Häuser die Nacht über hatten
offenstehen lassen, weil er geweissagt hatte, in dieser Nacht werde
der Erlöser zu ihnen kommen.
Den Josef, wie er das Gerede
hörte, überfröstelte es. Er zürnte laut und schrie den jungen
Menschen heftig an. Auch in seinem heimlichsten Innern wies er den
Gedanken, er selber könnte es sein, weit und als Lästerung von
sich. Immer tiefer aber erfüllte ihn der Glaube an die Göttlichkeit
seiner Sendung. Die ihn selber den Erretter nannten, waren Kinder
und Narren. Wohl aber war er berufen, das Reich des Erlösers
vorzubereiten.
Die Leute von Meron ließen sich
nicht davon abbringen, daß sie den Messias gesehen hätten. Sie
ließen die Hufspuren des Pferdes Pfeil mit Kupfer ausgießen, und
diese Stätte galt ihnen heiliger als die Gräber der Gesetzeslehrer.
Josef zürnte, lachte und schalt über die Narren. Aber er spürte
sich selber immer enger verbunden mit dem, der da kommen sollte,
und immer sehnsüchtiger, lüstern geradezu, wartete er darauf, ihn
mit leiblichen Augen zu sehen.
Als die Kommission aus Jerusalem eintraf, die
ihm das Absetzungsdekret überbrachte, erklärte er lächelnd, es
müsse da ein Irrtum sein, und bis er sichern Bescheid aus Jerusalem
habe, müsse er, um das Land vor Unruhen zu bewahren, die Herren in
Schutzhaft nehmen. Die Jerusalemer fragten ihn, wer ihm Vollmacht
gegeben habe, den Krieg mit Rom zu verkünden. Er erwiderte, sein
Auftrag stamme von Gott. Die Jerusalemer zitierten das Gesetz: »Wer
ein Wort sich erdreistet zu reden in meinem Namen, und ich habe ihm
nicht geboten zu reden, selbiger soll sterben.« Immer lächelnd,
voll liebenswürdigen Übermuts, zuckte Josef die Achseln, man müsse
abwarten, wer im Namen des Herrn rede und wer nicht. Er strahlte,
er war seiner selbst und seines Gottes sicher.
Er vereinigte seine Miliz mit den
Mannschaften des Johann von Gischala und marschierte vor Tiberias.
Justus übergab ihm die Stadt ohne Verteidigung. Wiederum saßen sie
sich gegenüber; aber diesmal war an Stelle des alten Jannai der
kraftvolle, gutmütig-schlaue Johann von Gischala. »Gehen Sie ruhig
zu Ihrem König Agrippa«, sagte er zu Justus, »Sie sind ein
gescheiter Herr, für einen Freiheitskrieg sind Sie zu gescheit. Da
muß man den Glauben haben und das Ohr für den innern Ruf.« – »Sie
können alles mitnehmen, Doktor Justus«, sagte freundlich Josef,
»was dem König an Geld und Geldeswert gehört. Nur die
Regierungsakten bitte ich hierzulassen. Sie können unbehindert
gehen.« – »Ich habe nichts gegen Sie, Herr Johann«, sagte Justus.
»Ihnen glaube ich den innern Ruf. Aber Ihre Sache ist verloren,
ganz abgesehen von allen Vernunftgründen, schon weil dieser Mann
Ihr Führer ist.« Er schaute Josef nicht an, aber seine Stimme war
voll Verachtung. »Unser Doktor Josef«, sagte lächelnd Johann von
Gischala, »scheint nicht nach Ihrem Geschmack. Aber er ist ein
glänzender Organisator, ein herrlicher Redner, der geborene
Führer.« – »Ihr Doktor Josef ist ein Lump«, sagte Justus von
Tiberias. Josef erwiderte nichts. Der geschlagene Mann war
erbittert und ungerecht, es lohnte nicht, mit ihm zu rechten, ihn
zu widerlegen.
Josef wandelte hoch und glücklich
durch diesen galiläischen Winter. Jerusalem wagte nicht, mit Gewalt
gegen ihn vorzuge hen; ja, man ließ es stillschweigend zu, daß er
sich nach einigen Wochen wieder als Kommissar der Zentralregierung
bezeichnete. Mühelos hielt er seine Grenzen gegen die Römer, dehnte
sie aus in ihr Gebiet hinein, nahm auch aus dem Bereich des Königs
Agrippa das Westufer des Sees Genezareth und besetzte und
befestigte seine Städte. Er organisierte den Krieg. Aus der
heiligen Luft des Landes wehten ihm überraschende, große Einfälle
zu.
Rom schwieg, es kam keine
Nachricht aus Rom. Der Oberst Paulin hatte jeden Verkehr mit seinen
Jerusalemer Freunden abgebrochen. Dieser erste Sieg war sehr leicht
gefallen. Die Römer beschränkten sich auf Samaria und die
Küstenstädte, wo sie, gestützt auf die griechische Majorität der
Bevölkerung, im sichern Besitz der Macht waren. Auch die Truppen
des Königs Agrippa wichen jedem Geplänkel aus. Stille war im
Land.
Wer immer beweglichen Besitz
hatte, suchte, sofern er nicht im Herzen den »Rächern Israels«
anhing, sich mit seiner Habe in den Schutz römischen Gebiets zu
bringen. Bei einer solchen Flucht wurde die Frau eines gewissen
Ptolemäus, eines Intendanten des Königs Agrippa, von den Leuten des
Josef aufgegriffen. Es geschah dies in der Nähe des Dorfes
Dabarita. Die Dame hatte viel Gepäck bei sich, wertvolle Dinge,
offenbar auch aus dem Besitz des Königs, gute Beute, und die sie
gemacht hatten, freuten sich auf ihren Anteil. Sie wurden schwer
enttäuscht. Josef ließ die Sachen auf römisches Gebiet schaffen,
mit einem höflichen Brief, zu treuen Händen des Obersts
Paulin.
Es war nicht das erstemal, daß er
so verfuhr, und seine Leute murrten. Sie beschwerten sich bei
Johann von Gischala. Es kam zu einer erbitterten Unterredung
zwischen Johann, Sapita und Josef. Josef wies darauf hin, daß
oftmals in früheren Kriegen Römer und Griechen solche Beweise von
Ritterlichkeit gegeben hätten. Allein Johann raste. Seine grauen
Augen funkelten bösartig, blutunterlaufen, sein Knebelbart stieß
wild vor, der ganze Mann war ein Berg, der in Bewegung geraten ist.
Er schrie: »Sind Sie verrückt, Herr? Glauben Sie, wir machen hier
Olympische Spiele? Sie wagen es, einem Mann mit Ihrem Gesäusel von
Ritterlichkeit zu kommen, wenn es gegen die Römer geht? Das ist
hier ein Krieg, Herr, keine sportliche Veranstaltung. Hier geht es
nicht um einen Eichenkranz. Hier sind sechs Millionen Menschen, die
diese von den Römern verpestete Luft nicht mehr atmen können, die
daran ersticken. Verstehen Sie, Herr?« Josef kam nicht auf gegen
die wüste Erbitterung des Mannes, er war erstaunt, fühlte sich zu
Unrecht gekränkt. Er schaute auf Sapita. Allein der stand finster
daneben, er sagte nichts, aber es war klar: Johann sprach nur aus,
was er selber spürte.
Im übrigen waren die drei Männer
zu vernünftig, um ihre Aufgabe durch ihren Zwist zu gefährden. Sie
nützten den Winter, um die Verteidigung Galiläas nach Kräften
auszubauen.
Es blieb still im Land, aber die
Stille begann drückend zu werden. Josef hielt sein Glück und seine
Sicherheit fest. Allein manchmal durch diese frohe Sicherheit
hindurch hörte er die haßvollen Worte des Justus. Immer öfter,
trotzdem er seine Tage bis an den Rand mit Arbeit füllte, durch die
Sätze seiner Beamten und Offiziere, durch das Gebraus seiner
Volksversammlungen hörte er es klar, leise, bitter: Ihr Doktor
Josef ist ein Lump, und er verwahrte die Worte in seinem Herzen,
ihren Tonfall, ihre Verachtung, ihre Resignation, ihr mühsames
Aramäisch.
In der Mitte der Welt lag das Land Israel,
Jerusalem lag in der Mitte des Landes, der Tempel in der Mitte von
Jerusalem, das Allerheiligste in der Mitte des Tempels, der Nabel
der Erde. Bis zu König Davids Zeit war Jahve gewandert, im Zelt und
in einer provisorischen Hütte. König David beschloß, ihm ein Haus
zu bauen. Er kaufte die Tenne Arawna, den urheiligen Berg Zion.
Aber er durfte nur die Fundamente legen; den Tempel selbst zu bauen
blieb ihm versagt, weil er in seinen vielen Schlachten viel Blut
vergossen hatte. Erst sein Sohn Salomo wurde gewürdigt, das heilige
Werk auszuführen. Sieben Jahre baute er. Keiner der Arbeiter starb
während dieser Zeit, keiner erkrankte auch nur, kein Werkzeug wurde
beschädigt. Da Eisen zu dem heiligen Bau nicht verwendet werden
durfte, sandte Gott dem König einen wunderbaren Steinwurm, Schamir
genannt, der die Steine spaltete. Oft auch legten sie sich von
selbst an ihren Platz, ohne menschliches Zutun. Wild und heilig
prangte der Opferaltar, neben ihm das Waschbecken für die Priester,
das Eherne Meer, ruhend auf zwölf Stieren. In der Vorhalle ragten
zwei seltsame Bäume aus Bronze gegen den Himmel, Jachin und Boas
genannt. Das Innere war mit Zedernholz vertäfelt, der Boden mit
Zypressenbohlen ausgelegt, Mauerwerk und Stein vollständig
verdeckt. Fünf goldene Leuchter standen an jeder Wand, dazu die
Schaubrottische. Im Allerheiligsten aber, alle Augen durch einen
Vorhang verhüllt, standen riesige Flügelmenschen, Cherube,
geschnitzt aus dem Holz des wilden Ölbaums, grausig starrten ihre
Vogelköpfe. Mit den ungeheuren, goldbedeckten Flügeln überspannten
sie schützend die Lade Jahves, die die Juden durch die Wüste
begleitet hatte. Mehr als vierhundert Jahre stand dieses Haus, bis
König Nebukadnezar es zerstörte und die heiligen Geräte nach Babel
verschleppte.
Zurückgekehrt aus der
Gefangenschaft Babels, bauten die Juden einen neuen Tempel. Aber er
blieb kümmerlich, verglich man ihn mit dem ersten. Bis ein großer
König aufstand, Herodes mit Namen, und im achtzehnten Jahr seiner
Regierung den Tempel zu erneuern begann. Mit Tausenden von
Arbeitern verbreiterte er den Hügel, auf dem der Bau stand,
untermauerte ihn mit einer dreifachen Terrasse, verwandte so viel
Kunst und Arbeit an das Werk, daß sein Tempel unbestritten als der
schönste Bau Asiens, vielen als der schönste Bau der Welt galt. Die
Welt ist ein Augapfel, sagten sie in Jerusalem, das Weiße darin ist
das Meer, die Erde ist die Iris, Jerusalem die Pupille: das Bild
aber, das in der Pupille erscheint, ist der Tempel.
Nicht der Pinsel des Malers noch
der Meißel des Bildhauers schmückte ihn; nur der Harmonie seiner
großen Maße, der Erlesenheit des Materials dankte er seine Wirkung.
Mächtige Doppelhallen umgaben ihn von allen Seiten, sie boten
Schutz vor dem Regen und Schatten vor der Sonne, in ihnen erging
sich das Volk. Die schönste dieser Hallen war die Quadernhalle, wo
der Große Rat tagte. Auch eine Synagoge war da, viele Läden,
Verkaufsräume für die Opfertiere, für. heilige und unheilige
Parfüms, ein großer Schlachthof, ferner die Banken der
Geldwechsler.
Ein Steingitter trennte diese
profanen Räume von den heiligen. Griechische und lateinische
Inschriften drohten unübersehbar, bei Todesstrafe dürfe kein
Nichtjude weitergehen. Immer enger wurde der Kreis derer, die
vordringen durften. Kranken waren die heiligen Höfe verboten, auch
Krüppeln, auch solchen, die in der Nähe von Leichen geweilt hatten.
Den Frauen war ein einziger, großer Raum erlaubt; auch ihn durften
sie in der Zeit der Menstruation nicht betreten. Die inneren Höfe
waren den Priestern vorbehalten, auch unter ihnen nur den fehllos
Gewachsenen.
Weiß und golden hing der Tempel
auf seinen Terrassen über der Stadt; aus der Ferne erschien er wie
ein schneebedeckter Hügel. Seine Dächer starrten von scharfen,
goldenen Spießen, damit er nicht von Vögeln verunreinigt werde. Die
Höfe und Hallen waren mit Mosaik kunstvoll ausgelegt. Terrassen,
Tore, Säulen überall, marmorn die meisten, viele überkleidet mit
Gold und Silber oder mit dem edelsten Metall, korinthischem Erz,
jener einmaligen Legierung, die bei dem Brand von Korinth aus dem
Zusammenschmelzen kostbarer Metalle entstanden war. Über dem Tor,
das zum Heiligen Raum führte, hatte Herodes das Emblem Israels
anbringen lassen, die Weinrebe. Üppig strotzte sie, ganz aus Gold,
ihre Trauben waren mannsgroß.
Kunstwerke von Weltruf schmückten
das Innere des Tempelhauses. Da war der Leuchter mit den sieben
Armen, seine Lampen bedeuteten die sieben Planeten: Sonne, Mond,
Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Da war der Tisch mit den
zwölf Schaubroten, sie bedeuteten den Tierkreis und das Jahr. Da
war das Gefäß mit den dreizehn verschiedenen Arten Räucherwerk, aus
dem Meer, der unbewohnten Wüste, der bewohnten Erde, anzeigend, daß
alles von Gott komme und für Gott da sei.
Tief im Innern, an geschütztester
Stelle, unterirdisch, lagen die Tresore des Tempels, die den
Staatsschatz verwahrten, einen ansehnlichen Teil des Goldes und der
Kostbarkeiten der Erde. Auch der Ornat des Erzpriesters wurde hier
verwahrt, die heilige Brustbinde, die Tempeljuwelen, der goldene
Reif, der den Namen Jahve trug. Es war um diesen Ornat ein lang
dauernder Streit zwischen Rom und Jerusalem gewesen, ehe ihn der
Tempelschatz endgültig verwahren durfte, und es war viel Blut in
diesem Streit vergossen worden.
Im Herzen des Tempelhauses,
wiederum durch einen Purpurvorhang abgeschlossen, war das
Allerheiligste. Es war leer und dunkel, nur ein roher Stein ragte
aus dem nackten Boden, das Felsstück Schetijah. Hier, behaupteten
die Juden, wohnte Jahve. Niemand durfte den Raum betreten. Nur
einmal im Jahr, am Tage, da Jahve sich mit seinem Volke aussöhnte,
ging der Erzpriester in dieses Allerheiligste. Alle Juden des
Erdkreises fasteten an diesem Tag, die Hallen und Höfe des Tempels
waren gestopft mit Menschen. Sie warteten darauf, daß der
Erzpriester Jahve bei seinem Namen anrufe. Denn Jahves Name durfte
nicht genannt werden, schon der Versuch war todeswürdig. Nur an
diesem einen Tag rief der Erzpriester den Gott bei seinem Namen.
Nicht viele konnten den Namen hören, wenn er aus dem Munde des
Priesters kam, aber alle glaubten ihn zu hören, und hunderttausend
Knie krachten auf die Fliesen des Tempels.
Es war Geheimnis und Gerede in
der Welt, was wohl hinter dem Vorhang des Allerheiligsten verehrt
werde. Die Juden erklärten, Jahve sei unsichtbar, also sei auch
kein Bild von ihm da. Aber die Welt wollte nicht glauben, daß der
Raum einfach leer sei. Einem Gott opfere man, ein Gott war da,
sichtbarlich in seinem Bild. Bestimmt war auch dieser Gott Jahve
da, und die eigensüchtigen Juden verheimlichten ihn nur, auf daß
man ihn ihnen nicht abspenstig mache und für andere gewinne. Feinde
der Juden, vor allem die spottsüchtigen, aufgeklärten Griechen,
erklärten, in Wahrheit sei es ein Eselskopf, der im Allerheiligsten
verehrt werde. Aber der Spott wirkte nicht. Die hellen, klugen
Römer wie die finstern, unwissenden Barbaren, alle wurden still und
nachdenklich, wenn man vom Gott der Juden sprach, es blieb
Geheimnis und Furcht der Welt um das unheimliche Unsichtbare im
Allerheiligsten.
Den Juden des ganzen Erdkreises
galt ihr Tempel als wahre Heimat, als unversiegliche Quelle ihrer
Kraft. Ob am Ebro oder am Indus, ob am Britannischen Meer oder am
Oberlauf des Nil, immer wenn sie beteten, wandten sie ihr Gesicht
gegen Jerusalem, wo der Tempel stand. Alle zinsten sie dem Tempel
freudigen Herzens, alle wallfahrteten sie zu ihm, oder es lag fest
in ihrem Plan, einmal am Osterfest ihr Lamm in den Tempel zu
bringen. War ihnen ein Unternehmen geglückt, dann dankten sie es
dem Unsichtbaren im Tempel, waren sie schwach und in Not, dann
wollten sie Hilfe von ihm. Nur im Bereich des Tempels war die Erde
rein, und hierher schickten, die im Ausland wohnten, ihre Leichen,
auf daß sie im Tode wenigstens zurückfänden. So verstreut sie
waren, hier hatten sie eine
Heimat.
Der Kaiser war, als der Bericht über die
Erstürmung des Palastes von Tiberias in Rom eintraf, auf einer
Kunstreise in Griechenland. Er hatte für die Dauer seiner
Abwesenheit seinen Hausminister Claudius Hel mit der Führung der
Regierungsgeschäfte beauftragt. Der berief sogleich einen
Kabinettsrat ein. Da saßen sie zusammen, die siebenunddreißig
Herren, die die maßgebenden Hofämter bekleideten. Die Nachricht,
daß die Empörung in Judäa von neuem losgebrochen sei, erregte sie
tief. Zehn Jahre früher wäre diese Depesche eine unwichtige Meldung
aus einer unwichtigen Provinz gewesen. Jetzt traf sie die Regierung
an ihrer empfindlichsten Stelle, gefährdete ihr wichtigstes
Projekt, den neuen Alexanderzug.
Sie, diese siebenunddreißig
Herren, waren es, die das gewaltige Projekt auf eine solide Basis
gestellt hatten. Sie hatten Stützpunkte in Südarabien für den
Seeweg nach Indien geschaffen, die finanziellen Mittel für den
Feldzug nach Äthiopien und einen noch kühneren nach dem Kaspischen
Tor beschafft. Schon waren gemäß dem Kriegsplan der Marschälle
Corbulo und Tiberius Alexander die Truppen in Marsch gesetzt. Die
Zweiundzwanzigste Legion sowie alles, was an Truppen in
Deutschland, England, Dalmatien entbehrt werden konnte, war auf dem
Weg nach dem Osten, die Fünfzehnte Legion auf dem Weg nach Ägypten.
Und nun wurde der ganze großartige Plan umgeworfen durch diese
immer wieder aufflackernde Rebellion gerade mitten im Auf
marschgebiet. Ach, man hätte gern den Versicherungen der
Lokalbehörden geglaubt, die Provinz werde sich bald von selber
beruhigen. Aber jetzt zeigte sich ja, daß es so nicht ging, daß man
an die Niederwerfung des Aufstands sehr viele Menschen und sehr
viel kostbare Zeit wird wenden müssen.
Die Mehrzahl der Minister waren
Nichtrömer, leidenschaftliche Griechen; ihr Herz hing daran, daß
ihr Griechenland, ihr Orient zur Basis des Reichs werde. Sie
schäumten vor Wut, diese Räte und Feldherren des Neuen Alexander,
daß jetzt ihr herrlicher Feldzug durch diese Läpperei übel
verzögert oder gar für immer vereitelt werden sollte.
Äußerlich aber blieben sie still
und feierlich. Manche von ihnen, die meisten, waren Söhne und Enkel
von Leibeigenen, gerade deshalb zeigten sie, nun sie an der Macht
waren, die eisige Würde altrömischer Senatoren.
Claudius Hel erläutert die
Unglücksnachricht aus Judäa, ihre Bedeutung für die großen
Orientprojekte. Claudius Hel selber ist als Leibeigener geboren. Er
ist fehllos gewachsen, finster und herrlich anzuschauen, das
Gesicht ebenmäßig, voll Energie. Er trägt den Siegelring des
Kaisers. Jeder andere in seiner Lage hätte den Kaiser nach
Griechenland begleitet, es ist gefährlich, ihn so lange fremden
Einflüssen preiszugeben. Claudius Hel hat es vorgezogen, in Rom zu
bleiben. Fast sicher wird irgendeine Maßregel, die er trifft, dem
Kaiser mißfallen. Wahrscheinlich wird Claudius Hel jung sterben,
Goldplättchen einatmend oder mit geöffneten Adern. Aber das ist
kein zu teurer Preis, wenn man die Welt beherrschte.
Er spricht ruhig, knapp, ohne
Beschönigung. Man hat den Aufruhr viel zu leicht genommen, jetzt
müsse man ihn um so schwerer nehmen. »Alle haben wir uns geirrt«,
gibt er unumwunden zu. »Mit einer einzigen Ausnahme. Ich bitte
diesen Mann, der sich nicht geirrt hat, um seine
Meinung.«
Die Herren, wiewohl sie den
dürren, geiernäsigen Philipp Talaß nicht leiden mochten, schauten
mit Achtung auf den Chef der Orientabteilung. Er hatte von Anfang
an gewarnt, man solle sich nicht einlullen lassen von dem listigen,
fadsüßen Versöhnlichkeitsgerede Jerusalems. Er war ein wenig
lächerlich gewesen mit seiner ewigen Angst vor den Juden, seinem
grei senhaften Haß. Jetzt erwies es sich, das Aug des Hasses hatte
besser gesehen als der tolerante Skeptizismus der andern.
Der Minister Philipp Talaß zeigte
nichts von seiner Genugtuung. Klein, krumm, unscheinbar saß er wie
immer. Aber innerlich war er geschwellt von einem großen Glück; ihm
war, als sei sogar die Narbe aus seiner Leibeigenenzeit nicht mehr
so sichtbar. Jetzt, nach dieser von freundlichen Göttern
beschiedenen Plünderung des Palastes von Tiberias, nach diesem
neuen, maßlos dreisten Bruch aller Versprechungen, war die Zeit
reif für die große Abrechnung. Man konnte es nicht mehr bewenden
lassen bei einem gelinden Strafgericht, Hinrichtung von einigen
tausend Meuterern, ein paar Millionen Buße oder so. Das mußten
jetzt auch die andern einsehen. Der Minister Philipp Talaß sagte:
»Jerusalem muß zerstört werden.«
Er erhob nicht die Stimme, sie
zitterte ihm auch nicht. Aber dies war die größte Minute seines
Lebens, und wann immer er in die Grube muß, jetzt kann er zufrieden
sterben. In seinem Innern jubilierte es: Nablion, und trotz dem
Dolmetsch Zachäus: Nablion. Er träumte davon, wie die Regimenter
herfallen werden über das freche Jerusalem, wie sie die Einwohner
an ihren Bärten zerren und totschlagen, wie sie die Häuser
verbrennen, die Mauern schleifen, den eitel sich spreizenden Tempel
dem Erdboden gleichmachen. Aber nichts von alledem war in seiner
Stimme, als er selbstverständlich, fast ein wenig mürrisch,
konstatierte: »Jerusalem muß zerstört werden.«
Ein Schweigen war, und durch das
Schweigen ein Seufzer. Claudius Hel wandte sein schönes, dunkles
Gesicht dem Regin zu und fragte, ob der Direktor der kaiserlichen
Perlfischereien etwas zu bemerken habe. Claudius Regin hatte nichts
zu bemerken. Diese Galiläer hatten sich zu dumm aufgeführt. Jetzt
blieb wirklich nichts mehr übrig, als die Armee
einzusetzen.
Claudius Hel faßte zusammen. Er
werde also, das Einver- ständnis der Herren vorausgesetzt, den
Kaiser ersuchen, möglichst rasch den Feldzug gegen Judäa zu
eröffnen. Bisher hat man die Kuriere nach Griechenland stets mit
dem glückkündenden Lorbeerkranz an der Lanze ausstatten können;
diesmal, um der Majestät darzutun, wie ernst man in
Rom die Lage nehme, wird er dem Kurier die
unheilkündende Feder an der Lanze mitgeben.
Der Senat, auf Betreiben des Claudius Hel,
ließ den JanusTempel eröffnen zum Zeichen, daß Krieg sei im Reich.
Der amtierende Senator Marull sprach dem Claudius Hel nicht ohne
Ironie sein Bedauern aus, daß er die Zeremonie nicht aus einem
glänzenderen Anlaß vornehmen könne. Ein Jahr hatte die Welt Frieden
gehabt. Die Stadt Rom war überrascht, als jetzt die schweren
Türflügel des Janus-Tempels auseinanderknarrten und das Bild des
zweigesichtigen Gottes erschien, des Zweifelgottes, man kennt den
Anfang, aber niemand kennt das Ende. Viele überschauerte Unbehagen,
als sie erfuhren, daß nun der sehr gute, sehr große Jupiter ihres
Capitols Krieg begonnen habe gegen den unheimlichen, gestaltlosen
Gott im Osten.
In den Vierteln der Kleinbürger
gönnte man es den Juden, daß der Kaiser endlich einmal forsch gegen
sie vorging. Überall nisteten sie sich ein, schon war das ganze
Geschäftsviertel von ihnen durchsetzt, man freute sich, dem Haß
gegen die Konkurrenz patriotisch Luft zu machen. In den Kneipen
erzählte man sich die alten, verbürgten Geschichten, die Juden
verehrten einen Eselskopf in ihrem Allerheiligsten, an ihrem
Passahfest opferten sie diesem heiligen Esel griechische Kinder.
Man bekritzelte die Synagogen mit unflätigen, drohenden
Inschriften. Im Florabad verprügelte man die Beschnittenen, warf
sie hinaus. In einer Garküche der Straße Subura verlangte man von
einigen Juden, sie sollten Schweinefleisch essen, riß den
Widerstrebenden den Mund auf, stopfte ihnen den greulichen,
verbotenen Fraß hinein. In der Nähe des Drei-Straßen-Tors stürmte
man ein Lager koscherer Fischsaucen, zerbrach die Flaschen,
beschmierte den Juden Haar und Bart mit ihrem Inhalt. Übrigens
machte die Polizei dem Unfug bald ein Ende.
Die Herren des Senats, der
Diplomatie, der Hochfinanz hatten es wichtig. Zahllose neue Stellen
mußten geschaffen und besetzt werden, der Geruch von Beute war in
der Luft. Die alten, ausgedienten Generäle belebten sich. Schlichen
umeinander herum, belauerten sich, Glanz in den Augen. Das Forum
hallte von angeregtem Gelächter, in den Kolonnaden der Livia, des
Marsfelds, in den Bädern war Betrieb. Jeder hatte seine Kandidaten,
seine Sonderinteressen; selbst die Äbtissin der Vestalinnen ließ
sich täglich auf den Palatin tragen, um bei den Ministern ihre
Wünsche anzubringen.
Der Preis des Goldes, der
kostbaren Gewebe, der Preis der Leibeigenen auf den Börsen von
Delos und Rom fiel, denn man wird in Judäa dergleichen in Masse
erbeuten. Der Preis des Getreides zog an, die operierenden Truppen
werden viel Nachschub an Proviant benötigen. In den Reedereien war
Geschäft, fieberhaft arbeitete man auf den Werften von Ravenna,
Puteoli, Ostia. In den Häusern der Herren Claudius Regin und Junius
Thrax, im Palais des Senators Marull jagten sich die Kuriere. Diese
Herren sahen den Krieg in Judäa mit aufrichtiger Betrübnis. Aber da
nun einmal Geschäfte zu machen waren, warum sollten andere den
Profit einstreichen?
Unter den Juden herrschte
Verwirrung und Trauer. Man hatte genaue Nachrichten aus Jerusalem,
wußte um die Rolle Josefs. War es denkbar, daß dieser Mann, der mit
ihnen gelebt hatte, der sich angezogen hatte wie sie, gesprochen
wie sie, der wußte, was Rom ist, war es denkbar, daß dieser Doktor
Josef Ben Matthias sich an die Spitze eines so aussichtslosen
Abenteuers sollte gestellt haben? Claudius Regin ärgerte sich am
bittersten über die Herren vom Großen Rat. Wie konnten sie diesen
kleinen Essayisten nach Galiläa schicken? Solche Leute läßt man
sich in der Literatur austoben, aber nicht in der großen Politik.
Mehrere prominente Juden in Rom beeilten sich, der Regierung ihren
Abscheu über die Haltung dieser fanatischen Verbrecher in Galiläa
auszudrücken. Die Regierung gab den sich abzappelnden Herren
beruhigende Versicherungen. Die fünf Millionen Juden außerhalb
Judäas, die zerstreut über das Reich wohnten, waren loyale
Untertanen, zahlten ihre fetten Steuern. Die Regierung dachte gar
nicht daran, sie zu behelligen.
Schwer trafen die Berichte aus
Galiläa den Schauspieler Demetrius Liban. Er war betrübt und
gehoben zugleich. Er lud ein paar vertraute jüdische Freunde ein
und rezitierte hinter sorgfältig versperrten Türen mehrere Kapitel
aus dem Makkabäerbuch. Er hatte immer gewußt, welch großes, inneres
Feuer in dem jungen Doktor Josef brannte. Aber niemand auch wußte
besser als er, wie töricht und aussichtslos ein Kampf gegen Rom
war. Übrigens war vorläufig in Rom er der einzige, der ernstlich
unter den Unruhen in Judäa zu leiden hatte. Denn von neuem jetzt
erklang durch die Straßen Roms das Hetzwort vom Juden Apella. Schon
drang man in ihn, er solle endlich auch öffentlich diese Rolle
spielen. Im Fall einer Weigerung wird man ihn ebenso
leidenschaftlich beschimpfen, wie man ihn bisher
akklamierte.
Die große Masse der römischen
Juden war erschüttert, verstört, verzweifelt. Sie lasen in den
Büchern der Propheten: »Ich höre ein Geschrei von einer, die
gebiert, ein Gezeter von einer, die in Wehen liegt. Es ist die
Tochter Zion, sie schreit und klagt und windet die Hände: Wehe mir,
ich muß vergehen vor den Würgern.« Sie lasen, und ihr Herz war voll
Angst. Die Häuser schlossen sich, Fasten wurde angesetzt, in allen
Synagogen beteten sie. Niemand von den Römern störte den
Dienst.
Einige wenige gab es unter den
Juden Roms, die sahen in der Erhebung Judäas das Heil, die
Erfüllung der alten Weissagungen vom Erlöser. Zu ihnen gehörte das
Mädchen Irene, die Frau des Doktor Licin. Sie hörte stumm mit an,
wenn ihr Mann seinen Abscheu äußerte vor diesen verrückten
Verbrechern, aber im Innern jubelte sie. Sie hatte sich nicht an
ein unwürdiges Gefühl weggeworfen, sie hatte immer gewußt: Josef
war ein Großer in Israel, einer aus der Schar der Propheten, ein
Soldat Jahves.
Den Kaiser erreichte der Kurier mit der
unheilverkündenden Feder an der Lanze in der Hauptstadt der Provinz
Griechenland, in dem heitern, jetzt von Festen hallenden
Korinth.
Der junge Weltherrscher hatte
sich nie in seinem Leben so glücklich gefühlt. Griechenland, dies
kultivierteste Land der Welt, jubelte ihm zu, ehrlich begeistert
von seiner Kunst, seiner Liebenswürdigkeit, seiner Leutseligkeit.
Und zu wissen, daß diese ganze griechische Reise nur die Einleitung
eines viel größeren Unternehmens ist. Jetzt wird er die andere
Hälfte der Welt, die edlere, weisere, seiner Hälfte zufügen. Das
Werk des größten Mannes vollenden, der je gelebt hat. Beide Hälften
der Welt reich machen und glücklich im Zeichen seines kaiserlichen
Namens.
Heute hat er die griechische
Reise mit einem großen Unternehmen gekrönt. Hat mit goldenem Spaten
den ersten Stich getan, den Isthmus von Korinth zu durchstechen.
Morgen wird er die Erbauung dieses Kanals durch ein Festspiel
feiern. Er selber hat die Schlußverse geschrieben, in denen der
Gott mächtig herschreitet und dem Adler befiehlt, die Flügel zu
breiten zu dem großen Flug.
An diesem Tag, unmittelbar
nachdem der Kaiser von der Grundlegung des Kanals in das Palais von
Korinth zurückgekehrt war, traf der Kurier ein mit den judäischen
Nachrichten. Der Kaiser überlas den Bericht, warf das Schriftstück
auf den Tisch, so daß es das Manuskript des Festspiels halb
überdeckte. Sein Blick fiel auf die Verse: »Der den Ozean kreisen
läßt / Und die Sonne wendet nach seinem Willen.«
Er stand auf, die Unterlippe
vorgeschoben. Es ist der Neid der Götter. Sie gönnen ihm nicht den
Alexanderzug. »Der den Ozean kreisen läßt / Und die Sonne wendet
nach seinem Willen.« Die ganzen Schlußverse haben nur Sinn als
Prolog zum Alexanderzug. Jetzt haben sie keinen Sinn.
Gessius Flor, der Gouverneur von
Judäa, hat sich’s leicht gemacht. Er ist gefallen. Den Cestius Gall
wird er natürlich in Ungnaden abberufen. Für dieses freche Judäa
taugt kein solcher Schlappschwanz.
Der Kaiser überlegt. Wen schickt
er nach Judäa? Jerusalem ist die stärkste Festung des gesamten
Orients, das Volk dort, er weiß es von Poppäa, ist fanatisch,
starrsinnig. Der Krieg muß scharf geführt werden. Er darf nicht
lange dauern. Länger als um ein Jahr läßt er sich den Alexanderzug
unter keinen Umständen hinausschieben. Er braucht für Judäa einen
Mann, hart und klar. Und ohne Phantasie. Der Mann muß so sein, daß
er die ihm anvertraute Macht nur gegen Jerusalem kehrt, nicht am
Ende gegen den Kaiser.
Wo findet er einen solchen Mann?
Man nennt ihm Namen. Sehr wenige. Prüft man sie schärfer, werden es
noch weniger. Zuletzt bleibt ein einziger: Mucian. Der Kaiser
zwickt mißmutig die Augen zusammen. Auch der Senator Mucian ist nur
mit Vorsicht zu gebrauchen. Der Kaiser erinnert sich gut. Ein
kleiner Herr, ausgemergelt von vielen Vergnügungen, scharffaltiges
Gesicht, sehr gepflegt. Da er leicht hinkt, trägt er einen Stock;
gewöhnlich aber hält er ihn mit der einen Hand hinterm Rücken, was
dem Kaiser auf die Nerven geht. Auch sein ständiges Gesichtszucken
kann der Kaiser nicht vertragen. Gewiß, Mucian hat einen hellen,
scharfen Verstand, er wird mit der aufrührerischen Provinz rasch
fertig werden. Aber der hemmungslos ehrgeizige Mann, schon einmal
gestürzt und wieder hochgekommen, jetzt an der Schwelle des Alters,
kann sich, gibt man ihm Macht, leicht verführen lassen, gefährliche
Experimente anzustellen.
Der Kaiser seufzt unbehaglich,
setzt sich wieder vor das Manuskript des Festspiels. Streicht
mißmutig darin herum. Der die Sonne wendet. Gerade die besten Verse
müssen fallen. Er kann es jetzt nicht mehr darauf ankommen lassen,
den Schluß einem Schauspieler anzuvertrauen, er muß selber den Gott
spielen. Nein, er darf diesem Mucian nicht zuviel Macht geben, man
soll niemand versuchen. Es ist spät in der Nacht geworden. Er
findet die Konzentration nicht, um die Bruchstellen zurechtzulöten,
die durch die Streichungen in den Schlußversen des Gottes
entstanden sind. Er schiebt das Manuskript zur Seite. Im Schlafrock
schlurft er hinüber ins Zimmer seiner Freundin Calvia.
Verdrießlich, das gedunsene Gesicht schweißüberdeckt, leicht
seufzend, hockt er an ihrem Bett. Wägt nochmals das Für und Wider.
Das und jenes spricht für Mucian. Also schick ihn, sagt Calvia. Das
und jenes spricht gegen Mucian. Also schick ihn nicht. Vielleicht
findet man doch noch einen andern. Der Kaiser will nicht länger
darüber nachdenken. Er hat die Argumente zur Genüge gewälzt; jetzt
bleibt es Sache der Erleuchtung, des Glückes, seines Glückes. Er
wird sich jetzt nur mehr mit dem Festspiel beschäftigen. Morgen,
nach dem Festspiel, wird er sich entscheiden.
In Rom warten sie gespannt auf
die Entscheidung.
Sie fiel schon, bevor das
Festspiel zu Ende war. In seiner Garderobe, während der Kaiser in
der schweren Maske und in den hohen Schuhen des Gottes dasaß und
auf seinen Auftritt wartete, kam ihm die Erleuchtung. Ja, er wird
den Mucian ernennen: aber er wird ihn nicht allein ernennen, er
wird ihm einen zweiten Mann beigeben, damit der ihn kontrolliere.
Er weiß auch schon, wen. Da treibt sich die ganze Zeit ein alter
General in seiner Umgebung herum, der immer nur an die höchsten
Ämter hingerochen hat, um dann, kaum oben, sogleich wieder
herunterzupurzeln; es hängt wegen seines ständigen Pechs schon ein
leiser Geruch von Komik um ihn. Vespasian heißt er. Er sieht mehr
einem Geschäftsmann vom Lande gleich als einem General; aber er hat
sich im englischen Feldzug bewährt und gilt als ausgezeichneter
Militär.
Der Bursche hat dem Kaiser
allerdings Ärgernis gegeben. Immer schon hat er nur mühsam
versteckt, wie schwer ihm bei den Rezitationen des Kaisers das
Zuhören fiel, und unlängst, vor drei Tagen, ist er einfach
eingeschlafen; ja, während der Kaiser die schönen Verse der Danae
von den windgeschaukelten Blättern sprach, hat er unmißverständlich
geschnarcht. Der Kaiser hat erst daran gedacht, ihn zu bestrafen,
aber eigentlich hat er mehr Mitleid mit dem Wicht, dem die Götter
die Organe für das Höhere versagt haben. Er hat bis jetzt nichts
gegen ihn unternommen. Nur nicht mehr vorgelassen hat man den
Burschen. Heute und gestern hat der Kaiser ihn an seinem Weg stehen
sehen, fern, bedrückt und beflissen. Ja, das ist sein Mann. Der
wird schwerlich auf allzu dreiste Gedanken kommen. Den schickt er
nach Judäa. Erstens hat er dann die Fratze des Kerls auf lange Zeit
aus den Augen, und zweitens ist dieser pfiffig vierschrötige Mensch
gerade der richtige, um dem eleganten Mucian scharf auf die Finger
zu sehen. Er wird die Vollmachten teilen, den Mucian zum
Generalgouverneur von Syrien, den Vespasian zum Feldmarschall in
Judäa ernennen. Der eine wird keine militärischen, der andere keine
politischen Befugnisse haben, und sie werden jeder der Spion des
andern sein.
Der Kaiser, trotz der schweren,
heißen Maske des Gottes, lächelt. Wirklich, das ist eine
ausgezeichnete Lösung, das ist die Erleuchtung. Er tritt auf die
Bühne, er spricht die hallenden Verse des Gottes. Die Rolle ist
kurz geworden: aber noch
nie, scheint ihm, hat er so vollendet
gesprochen wie heute. Er hat seinen Beifall verdient.
Der General T. Fl. Vespasian kam
von dem Festspiel zurück in das Vorstadthäuschen, das er dem
Kaufmann Laches für die Dauer seines Aufenthalts in Korinth
abgemietet hatte. Er legte den Mantel ab und die Galatracht,
fluchte, weil der Diener das sorgsam geschonte Kleid nicht
vorsichtig genug zusammenfaltete, zog einen saubern, etwas
abgetragenen Hausanzug an, darunter dicke Unterwäsche; denn es war
ein ziemlich kalter Vorfrühlingstag, und er war immerhin
achtundfünfzig Jahre alt und spürte schon wieder seinen
Rheumatismus.
Unmutig, die starken Falten der
breiten Stirn vertieft, das ganze runde Bauerngesicht finster,
trotz des zusammengepreßten langen Mundes laut und verdrießlich
atmend, stapfte er hin und her. Die Festvorstellung war für ihn
sehr unfestlich verlaufen. Eisiges Schweigen war, wohin er sich
wandte, kaum daß man seine Grüße erwidert hatte, und der Kammerherr
Gortyn, dieser geleckte Schweinehund, hatte auf seine Frage, ob er
Aussicht habe, der Majestät in den nächsten Tagen seine Aufwartung
machen zu dürfen, in seinem frechen Provinzgriechisch erwidert:
»Fressen Sie Ihren eigenen Mist.«
Wenn er sich’s überlegte, blieb
ihm wirklich nichts anderes übrig. Daß ihm diese blöde Geschichte
vor drei Tagen hatte passieren müssen. Jetzt war die ganze
kostspielige griechische Reise zwecklos. Dabei war die Geschichte
bei der kaiserlichen Rezitation nur halb so schlimm gewesen.
Eingeschlafen war er, das gab er zu. Aber geschnarcht hat er nicht,
das ist eine freche Verleumdung dieses Hundesohns von Kammerherrn.
Er hat nur von Natur einen so lauten Atem.
Der alte General schlug mit den
Armen um sich, um warm zu werden. Wie immer, zum Kaiser vorgelassen
wurde er bestimmt nie mehr, das hat er heute im Theater auch ohne
Brille erlinsen können. Er durfte froh sein, wenn man ihm keinen
Majestätsbeleidigungsprozeß an seinen angeblichen Schnarchhals
hängte. Es war schon das beste, still auf sein italienisches
Besitztum zurückzureisen.
An sich ist es ihm nicht einmal
unwillkommen, daß er jetzt seine Tage in Ruhe beschließen soll. Von
allein hätte er niemals seine alten Knochen zusammengerissen und
wäre dem Kaiser nach Griechenland nachgefahren, um es ein letztes
Mal zu versuchen. Es war nur, weil die Dame Cänis, seine Freundin,
keine Ruhe gegeben hat. Nie haben sie ihm seinen guten, bäuerlichen
Frieden gelassen. Immer wieder haben sie auf ihn eingehetzt, bis er
hinaufgeklettert und glücklich wieder heruntergefallen
war.
Begonnen hat das schon in seiner
Jugend, und schuld daran war der verfluchte Bauernaberglaube seiner
Mutter. Daß bei seiner Geburt eine alte, heilige Eiche des Mars
einen neuen, unwahrscheinlich üppigen Wurzelschößling trieb, hatte
die handfeste Dame als sicheres Glückszeichen genommen: ihr Sohn,
das war vom Schicksal bestimmt, wird mehr erreichen als die
Steuerpächter, Provinzbankiers und Linienoffiziere, von denen er
abstammt. Er selber hatte von Kind auf Freude an ländlicher
Ökonomie gehabt, er wäre am liebsten sein ganzes Leben lang auf dem
Gut seiner Eltern geblieben, mit bäuerlich ausgeprägtem Finanzsinn
die Produkte dieses Besitztums verwertend. Aber seine resolute
Mutter hatte nicht abgelassen, bis sie auch ihm ihren
unverwüstlichen Glauben an seine große Zukunft einpflanzte und ihn
gegen seinen Willen in die politisch-militärische Karriere
hineintrieb.
Der alte General, wenn er an alle
die Fehlschläge dachte, die diese Karriere ihm gebracht hat,
schnaubte heftiger, preßte die langen Lippen fester zusammen.
Dreimal hintereinander war er durchgefallen. Schließlich, mit Ach
und Krach, hatte er es zum Bürgermeister der Hauptstadt gebracht.
Zwei Monate ging alles vortrefflich. Seine Polizei funktionierte,
der Sicherheitsdienst bei den sportlichen Veranstaltungen und in
den Theatern klappte ausgezeichnet, Nahrungszufuhr und Märkte waren
gut geregelt, die Straßen Roms waren mustergültig gehalten. Aber
ausgerechnet bei der Straßenhaltung erwischte es ihn. Den Kaiser
Claudius, und zwar gerade da, als er auswärtigen Gesandten seine
Hauptstadt zeigen wollte, trieb eine unselige Laune, eine der
wenigen schlechtgepflegten Nebenstraßen zu nehmen, und der ganze
feierliche Zug blieb im Schmutz stecken. Kurzerhand und
exemplarisch ließ der Kaiser dem Bürgermeister Vespasian, den er
unter sein Gefolge befohlen hatte, das Galakleid über und über mit
Kot und Pferdeäpfeln beschmieren.
Der General Vespasian, wie er an
jene Sache dachte, verzog das schlaue Bauerngesicht, schmunzelte.
Die Affäre damals war dennoch günstig abgelaufen. Er mußte, vor
allem wohl durch die Haltung seiner kotgefüllten Ärmel, einen
kläglich spaßhaften Eindruck gemacht haben, und offenbar hatte sich
dem Kaiser dieser jämmerlich komische Anblick als etwas
Erfreuliches ins Gehirn geprägt. Jedenfalls hatte er, Vespasian,
weiterhin nichts von Ungnade bemerkt, eher das Gegenteil. Für Würde
hatte er nie viel übrig gehabt, und von jetzt an stellte er
zielbewußt im höchsten Kollegium des Reichs, im Senat, mit
unschuldiger Miene Anträge von so clownhafter Servilität, daß
selbst diese abgebrühte Körperschaft nicht wußte, sollte sie lachen
oder weinen. Jedenfalls hatte sie seine Anträge
angenommen.
Wenn er heute, nach so vielen
Jahren, nachprüfte, was er getan und was er unterlassen hatte,
konnte er sich keine Inkonsequenz vorwerfen. Er hatte Domitilla
geheiratet, die abgelegte Freundin des Ritters Capella, und war
durch die Schiebungen und Beziehungen dieses sehr geschickten Herrn
mit dem Minister Narziß ins Geschäft gekommen, dem Favoriten des
Kaisers Claudius. Das war ein Mann nach seinem Herzen. Mit dem
konnte man gut lateinisch reden. Er verlangte Provision, aber er
ließ einen tüchtigen Mann auch verdienen. Es waren gute Zeiten
gewesen, als Narziß ihn als General nach dem unruhigen England
schickte. Dort waren die Feinde nicht snobistische Höflinge, die
einen mit dunkeln Intrigen bekämpften, sondern sehr reale Wilde,
auf die man schießen und einhauen konnte, und es waren
handgreifliche Dinge, Land, Küsten, Wälder, Inseln, die es zu
erobern galt und die man eroberte. Das war die Zeit gewesen, wo er
der Prophezeiung der heiligen Eiche am nächsten kam. Man
konzedierte ihm, als er zurückgekehrt war, einen offiziellen
Triumph und auf zwei Monate das höchste Ehrenamt des
Staates.
Der General hauchte sich die
Finger an, um sie warm zu
bekommen, rieb sich den Handrücken. Dann
natürlich, nach diesen zwei Monaten, da er sehr hoch
hinaufgeklettert war, war er um so tiefer heruntergestürzt. Das war
nun einmal Bestimmung. Ein neuer Kaiser, neue Minister kamen, er
fiel in Ungnade. Inzwischen war auch seine Mutter gestorben, und
jetzt, da ihr energischer Glaube ihn nicht mehr spornte, hatte er
gehofft, bis an sein Ende in tätiger Stille weiterzuleben.
Behaglich hatte er sich aufs Land gesetzt, ohne Neid auf seinen
Bruder Sabin, der hoch hinaufgelangt war und seine Höhe gleichmäßig
wahrte.
Da aber war die Dame Cänis in
sein Leben getreten. Sie war von unten heraufgekommen, die Tochter
von Leibeigenen, die Kaiserinmutter Antonia hatte das geweckte
Mädchen ausbilden lassen und zu ihrer Sekretärin gemacht. Sie hatte
Verständnis für das, was Vespasian vom Leben wollte, für seine Art.
Wie er gab sie keinen Strohhalm für Feierlichkeit und Würde, dafür
hatte sie wie er Spaß an derben Witzen und soldatisch grader
Schlauheit; wie er rechnete sie rasch und nüchtern, wie er lachte
sie und ärgerte sich über seinen steifen Bruder Sabin. In sie aber
hatte sich auch, seufzend und beglückt mußte er das bald
konstatieren, der starke Glaube seiner Mutter an seine Bestimmung
gesenkt, sehr viel tiefer als in ihn selber. Sie hetzte ihn, bis er
sich ächzend und fluchend nochmals aus seinem friedlichen Landleben
in den lärmvollen Betrieb Roms hineinschmiß. Diesmal erraffte er
sich das Gouvernement der Provinz Afrika. Ein Amt, das ihm unter
den nicht spärlichen bösen Jahren seines Lebens das böseste
brachte. Die reiche Provinz nämlich, die Massen nicht weniger als
die snobistischen großen Herren, wollten einen repräsentativen
Gouverneur haben, nicht ihn, den plumpen Bauern. Man sabotierte
seine Maßnahmen. Wo er sich zeigte, kam es zu Krawallen. In der
Stadt Hadrumet bewarf man ihn mit faulen Rüben. Er hätte die faulen
Rüben nicht mehr übelgenommen als seinerzeit unter Kaiser Claudius
die Pferdeäpfel, aber leider hatte diese Demonstration sehr
spürbare praktische Folgen: er wurde abberufen. Ein harter Schlag,
denn er hatte sein ganzes Vermögen in der Provinz investiert, in
dunkeln Geschäften, aus denen der Gouverneur der Provinz sehr viel
Geld hätte herausholen können, der Privatmann gar nichts. Da stand
er mit seinem Finanztalent. Zurückgekehrt auf die Güter, die ihm
und seinem Bruder gemeinsam gehörten, mußte er bei dem hochnäsigen
Sabin eine riesige Hypothek aufnehmen, um die drückendsten
Verpflichtungen loszuwerden. In jenem ganzen Jahr hatte der lustige
Mann ein einziges Mal Anlaß zum Lachen. Die Provinz Afrika setzte
ihm einen ironischen Denkstein: dem ehrlichen Gouverneur. Er
schmunzelte noch jetzt, wenn er an dieses einzig positive Resultat
seiner Tätigkeit in Afrika dachte.
Seither war alles schiefgegangen.
Er hatte das Speditionsgeschäft aufgemacht und sich, unterstützt
von der resoluten Cänis, mit der Vermittlung von Ämtern und
Adelstiteln befaßt. Er hatte sich aber über einer bedenklichen
Schiebung erwischen lassen und war wieder nur durch Eingreifen
seines unangenehmen Herrn Bruders schwerer Bestrafung entgangen. Er
war jetzt achtundfünfzig Jahre alt, kein Mensch mehr dachte daran,
daß er immerhin einmal auf einem Triumphwagen über das Forum
gezogen war und das Konsulat bekleidet hatte. Wo er sich zeigte,
grinste man und sprach von faulen Rüben. Man nannte ihn nur den
Spediteur. Sein Bruder Sabin, jetzt Polizeipräsident von Rom,
verzog das Gesicht, wenn sein Name fiel, und sagte sauer:
»Schweigen Sie. Es riecht nach Pferdeäpfeln, wenn man von diesem
Spediteur spricht.«
Jetzt, nach dem Fehlschlag in
Griechenland, war es wohl endgültig aus. Eigentlich war es gut, daß
er wenigstens den schäbigen Rest seines Lebens nach seinem
Wohlgefallen wird verbringen können. Gleich morgen wird er die
Rückreise antreten. Vorher noch wird er hier in Korinth mit dem
Kaufmann Laches abrechnen, der ihm das Haus vermietet hat. Der tut,
als sei es eine Gnade, wenn er den abgetakelten General gegen
teures Geld in seinem Hause duldet. Vespasian freut sich darauf, es
dem feinen, gezierten Griechen, der ihn hinten und vorn begaunert,
auf derbe, gutrömische Art zu zeigen. Dies besorgt, wird er
vergnügt nach Italien zurückfahren, wird ein halbes Jahr auf seinem
Gut bei Cosa wohnen, ein halbes Jahr auf seinem Gut bei Nursia,
wird Maultiere züchten und seine Oliven pflegen, wird mit den
Nachbarn Wein trinken und Witze machen, wird sich nachmittags mit
Cänis oder mit einer von seinen Mägden vergnügen. Und dann, in fünf
Jahren oder in zehn, wenn man seine Leiche verbrennt, wird Cänis
viele ehrliche Tränen weinen, Sabin wird froh sein, daß er seinen
kompromittierenden Bruder los ist, die übrigen Trauergäste werden
schmunzelnd von Pferdeäpfeln und faulen Rüben flüstern, und der
üppige junge Trieb der heiligen Eiche wird sich umsonst angestrengt
haben.
Titus Flavius Vespasian,
Exkommandant einer römischen Legion in England, Exkonsul von Rom,
Exgouverneur von Afrika, abgetakelt, bei Hof in Ungnade, ein Mann
mit einer Million einhunderttausend Sesterzien Schulden und von dem
Kammerherrn Gortyn aufgefordert, seinen eignen Mist zu fressen, war
mit seiner Bilanz fertig. Er war zufrieden. Er wird jetzt auf die
Reederei gehen und mit diesen betrügerischen Griechen um den Preis
der Rückreise herumfeilschen. Dann wird er Cänis vor den Hintern
stoßen und sagen: »Na, alter Hafen, jetzt ist es soweit. Von jetzt
an lockst du mich bestimmt nie wieder hinterm Ofen hervor, und wenn
du das Bein noch so hochhebst.« Ja, im Grunde war er froh. Mit
einem vergnügten Ächzen warf er sich den Mantel um.
In der Vorhalle kam ihm der
Kaufmann Laches entgegen, bestürzt geradezu, ungewöhnlich höflich,
voll Verbeugungen und Beflissenheit. Hinter ihm, gravitätisch, mit
feierlichem, offiziellem Gesicht, ein kaiserlicher Kurier, den
glückkündenden Lorbeer auf seinem Botenstab.
Der Kurier streckte die Lanze
vor, erwies die Ehrenbezeigung. Sagte: »Botschaft Seiner Majestät
an den Konsul Vespasian.«
Vespasian hatte seinen verblaßten
Titel lange nicht mehr gehört, überrascht nahm er das versiegelte
Schreiben, schaute nochmals nach dem Stab des Boten. Es war der
Lorbeer, nicht die Feder; es konnte sich nicht um jenes unselige
Einschlafen bei der Rezitation handeln. Sehr unfeierlich, in
Gegenwart des neugierigen Laches und des Kuriers, erbrach er das
Siegel. Seine langen Lippen gingen auseinander, der ganze, runde,
breite Bauernschädel verfältelte sich, grinste. Er schlug dem
Kurier derb auf die Schulter, schrie: »Laches, alter Gauner, geben
Sie dem Kerl drei Drachmen Trinkgeld. Oder halt, zwei genügen.« Er
lief, den Brief schwenkend, hinauf ins obere Stockwerk, haute
seiner Freundin Cänis den Hintern, dröhnte: »Cänis, alter Hafen,
wir haben’s geschafft.«
Die Dame Cänis und er pflegten
auch ohne Worte aufs Haar genau zu wissen, was jeweils der andere
dachte und spürte. Dennoch, jetzt schwatzten sie aufeinander ein.
Packten sich bei den Schultern, lachten sich ins Gesicht, lösten
sich wieder, stapften durchs Zimmer, jetzt jeder für sich, jetzt
wieder zusammen. Mochte sie hören, wer wollte, unbekümmert stülpten
sie ihr Inneres heraus.
Donner und Jupiter! Diese Reise
hat gelohnt. Niederwerfung der aufrührerischen Provinz Judäa, das
war eine handliche Sache, wie zugeschnitten für Vespasians
Begabung. Mit so utopischem Zeug wie dem Alexanderzug mochten sich
geniale Strategen abgeben, Corbulo oder Tiber Alexander. Er,
Vespasian, zog sich den Mantel über die Ohren, wenn von so
windigen, imperialistischen Projekten die Rede war. Aber bei so
einer deftigen Sache wie diesem Feldzug in Judäa, da ging einem
alten General das Herz auf. Jetzt konnten die Herren Marschälle
warten, und er war der Dotter im Ei. Diese gesegneten Juden. Ein
Bravo für sie, und nochmals bravo! Schon längst hätten sie
aufbegehren müssen.
Er ist ungeheuer vergnügt. Die
Dame Cänis beauftragt den Kaufmann Laches, Vespasians
Lieblingsspeisen aufzutreiben, und wenn sie noch so teuer sind.
Auch soll er für den Nachmittag ein besonders leckeres, nicht zu
mageres Mädchen beschaffen, mit dem sich Vespasian vergnügen kann.
Aber es scheint, Vespasian hat für diese Aufmerksamkeiten kaum mehr
Sinn, er hat sich an die Arbeit gemacht. Schon ist er nicht mehr
der alte Bauer, sondern der General, der Feldherr, der mit
nüchternem Sinn an die Lösung seiner Aufgabe herangeht. Die
syrischen Regimenter sind schweinemäßig verlottert; er wird den
Kerls beibringen, was römische Disziplin heißt. Wahrscheinlich wird
ihm die Regierung die Fünfzehnte Legion aufhängen wollen, die man
jetzt nach Ägypten geworfen hat. Oder die Zweiundzwanzigste, weil
sie ohnedies für diesen windigen Alexanderzug in Marsch gesetzt
ist. Aber damit wird er sich nicht abspei sen lassen. Man wird mit
dem Militärkabinett um jeden einzelnen Mann feilschen müssen. Aber
er wird sich nicht scheuen, wenn es nötig ist, auf den Tisch zu
hauen und den Herren klar und deutlich Bescheid zu sagen. Meine
Herren, wird er sagen, hier geht es nicht gegen primitive Wilde wie
die Deutschen, hier geht es gegen ein militärisch
durchorganisiertes Volk.
Er wird noch heute im Palais
vorsprechen. Schmunzelnd steckt er seine alten Knochen in die
Galauniform, von der er noch vor drei Stunden glaubte, er werde sie
niemals mehr benötigen.
In der kaiserlichen Residenz
empfängt ihn der Kammerherr Gortyn. Er streckt ihm den Arm mit der
flachen Hand entgegen, offiziell grüßend. Ein kurzes, steifes
Gespräch. Ja, der Herr General kann Seine Majestät sehen, in einer
Stunde etwa. Und der Gardepräfekt? Der Herr Gardepräfekt steht ihm
sogleich zur Verfügung. Leichthin, gemütlich, wie er an dem
Kammerherrn Gortyn vorbeigeht, um mit dem Gardepräfekten zu
konferieren, meint Vespasian: »Na, mein Junge, wer frißt jetzt
seinen eigenen Mist?«
Zu schnell verging der Winter, ein guter
Winter für Josef. Er arbeitete fieberhaft. Er verhöhnte die Technik
der Römer, aber er verschmähte nicht, sie nachzuahmen. Er hatte mit
hellem Kopf in Rom Erfahrungen gesammelt, er hatte Ideen. Er riß
alles Kleinliche aus seinem Herzen, es galt ihm nur eines: die
Verteidigung vorzubereiten. Sein Glaube wuchs. Babel, Ägypten, das
Königtum der Seleukiden, waren sie nicht ebenso mächtige Reiche
gewesen wie Rom? Und dennoch hatte Judäa ihnen standhalten können.
Was ist die stärkste Armee vor dem Atem Gottes? Er bläst sie übers
Land wie leere Spreu und ihre Kriegsmaschinen ins Meer wie taube
Nüsse.
In den Städten, in den Hallen der
Synagogen, an den großen Versammlungsorten, in den Rennbahnen von
Tiberias und Sepphoris oder auch unter freiem Himmel sammelte Josef
die Massen um sich. »Marin, Marin! Unser Herr, unser Herr«, riefen
sie ihm zu. Und er, hager und schmal stand er vor der großen
Landschaft, stieß das Gesicht mit den glühenden Augen vor, riß
sich, die Hände hochgeworfen, dunkle, mächtige Worte der Zuversicht
aus der Brust. Dieses Land hat Jahve geheiligt, jetzt ist der
römische Aussatz und Würmerfraß darübergekommen. Er muß zertreten,
zertilgt, ausgemerzt muß er werden. Worauf vertrauen diese Römer,
daß sie so frech herwandeln? Sie haben ihre Armee, ihre lächerliche
»Technik«. Man kann sie genau messen, ihre Legionen, sie haben
zehntausend Mann eine jede, zehn Kohorten, sechzig Kompanien, dazu
fünfundsechzig Geschütze. Israel hat seinen Gott Jahve. Der ist
gestaltlos, man kann ihn nicht messen. Aber vor seinem Haus
zerknicken die Belagerungsmaschinen, und die Legionen schmelzen in
den Wind. Rom hat Macht. Aber seine Macht ist schon vorbei, denn es
hat die dreiste Hand ausgestreckt gegen Jahve und seinen Erwählten,
an dem er so lange Wohlgefallen hat, gegen seinen Erstgeborenen,
seinen Erben: Israel. Die Zeit ist erfüllt, Rom ist gewesen, das
Reich des Messias aber wird sein, es steigt herauf. Er wird kommen,
heute, morgen; vielleicht ist er schon da. Es ist unausdenkbar, daß
ihr, mit denen Jahve den Bund geschlossen hat, in diesem seinem
Land die Geduldeten sein sollt und die Schweinefresser die Herren.
Laßt sie ihre Legionen heranbringen auf Meerschiffen und durch die
Wüste. Glaubt und kämpft. Sie haben ihre Kompanien und ihre
Maschinen: ihr habt Jahve und seine Heerscharen.
Der Winter verging, ein herrliches Frühjahr
strahlte über den Weinbergen, den Oliventerrassen, den
Maulbeerfeigenhainen Galiläas. Der Strand des Sees Genezareth um
die Stadt Magdala, wo Josef noch immer sein Hauptquartier hatte,
war schwer von Blüte und Duft. Die Menschen atmeten leicht und gut.
In diesen strahlenden Frühlingstagen kamen die Römer.
Erst lugten ihre Vorhuten ins
Land, vom Norden her und von den Küstenstädten her, nicht mehr
wichen sie den plänkelnden Vortruppen des Josef aus, und dann
wälzte es sich heran, drei ganze Legionen mit Roß und Wagen und
starken Kontingenten der Vasallenstaaten. Voraus Leichtbewaffnete,
Schützenregimenter, Erkundungstruppen. Dann die ersten Abteilungen
Schwerbewaffneter. Dann Pioniere, um höckerige Stellen der Straße
abzutragen, schwierige Stellen zu ebnen, Buschwerk zu entfernen,
auf daß die marschierende Truppe nicht behindert sei. Dann der
Train des Marschalls und des Generalstabs, die Garde des Feldherrn
und er selber. Dann die Kavallerie und die Artillerie, die
gewaltigen Belagerungsmaschinen, die Widder, die vielbestaunten
Geschütze, die Ballisten und die Katapulte. Dann die Feldzeichen,
die göttlich verehrten Adler. Dann das Gros der Armee in Reihen zu
sechs Mann. Schließlich die riesige Bagage der Truppen, ihre
Proviantkolonnen, ihre Juristen und Kassenbeamten. Und ganz am Ende
ein Troß von Zivilisten: Diplomaten, Bankiers, zahllose Kaufleute,
Juweliere vornehmlich und Makler der Leibeigenen, Auktionatoren für
die Beute, Privatkuriere für die Diplomaten und Großkaufleute des
Reichs, Weiber.
Es wurde sehr still im Land, als
die Römer heranrückten. Viele Freiwillige verliefen sich. Langsam,
unausweichlich marschierte die Armee vor. Planmäßig säuberte
Vespasian Galiläa, das Land, die Küste und das Meer.
Das Westufer des Sees Genezareth
zu befrieden wäre eigentlich Sache des Königs Agrippa gewesen; denn
dieser Landstrich mit den Städten Tiberias und Magdala gehörte ihm.
Aber der elegante König war von bequemer Gutmütigkeit; es ging ihm
gegen den Strich, die Gewalttaten, die die notwendige Züchtigung
der Aufständischen mit sich bringen mußte, selber vorzunehmen.
Vespasian erfüllte also die Bitte des befreundeten, Rom tatkräftig
ergebenen Fürsten und übertrug seiner eigenen Armee die
Strafexpedition. Tiberias unterwarf sich ohne Widerstand. Die
wohlbefestigte Stadt Magdala versuchte, sich zu verteidigen. Aber
sie konnte sich gegen die Artillerie der Römer nicht lange halten;
Verrat im Innern tat das übrige. Viele der Aufständischen
flüchteten, als die Römer in die Stadt drangen, hinaus auf den
großen See Genezareth. Sie okkupierten die ganze kleine
Fischerflotte, so daß die Römer gezwungen waren, sie auf Flößen zu
verfolgen. Das war eine groteske Seeschlacht, bei der es auf seiten
der Römer viel Gelächter, auf seiten der Juden sehr viele Tote gab;
denn rings die Ufer waren besetzt. Die Römer brachten die leichten
Kähne zum Kentern, und es gab interessante Jagden der
schwerfälligen Flöße auf die Ertrinkenden. Die Soldaten beschauten
sich mit Interesse das Gezappel der Schiffbrüchigen, sie schlossen
Wetten ab, ob einer es vorziehe, im See unterzugehen oder sich von
ihnen umbringen zu lassen. Und sollte man sie mit Pfeilen töten
oder abwarten, bis sie sich doch an das Floß anklammern, und ihnen
dann die Hände abhauen? Der schöne See, berühmt um seines
Farbenspiels willen, war an diesem Tag einfarbig rot, seine Ufer,
berühmt um ihres Wohlgeruchs willen, stanken viele Wochen hindurch
nach Leichen, sein gutes Wasser war verdorben, seine Fische aber
wurden fett in den nächsten Monaten und schmeckten den Römern gut.
Die Juden hingegen, auch der König Agrippa, versagten es sich Jahre
hindurch, Fische aus dem See Genezareth zu essen. Auch sang man
später ein Lied unter den Juden, das begann: Weithin ist der See
rot von Blut in der Nähe von Magdala, weithin ist der Strand voll
Leichen in der Nähe von Magdala. Eine genaue Zählung ergab
schließlich, daß bei diesem Seegefecht viertausendzweihundert Juden
umgekommen waren. Was dem Hauptmann Sulpiz viertausendzweihundert
Sesterzien einbrachte. Denn er hatte gewettet, daß die Zahl der
Toten mehr als viertausend betragen werde. Wäre sie darunter
geblieben, dann hätte er viertausend Sesterzien zahlen müssen und
dazu so viele Sesterzien, als die Zahl der Toten unter viertausend
blieb.
Zwei Tage später berief Vespasian
seine Herren zu einem Kriegsrat. Von den meisten Einwohnern der
Stadt konnte man eindeutig feststellen, ob sie sich friedfertig
gehalten hatten oder nicht. Was aber sollte mit den vielen
gefangenen Flüchtlingen geschehen, die sich von außerhalb,
überallher aus Galiläa, in die wohlbefestigte Stadt geworfen
hatten? Es waren ihrer an achtunddreißigtausend. Zu ermitteln,
wieweit jeder einzelne ein Rebell war, machte zuviel Umstände. Sie
einfach freizulassen, waren sie zu verdächtig. Sie in langer
Gefangenschaft zu halten war zu beschwerlich. Andernteils hatten
sie sich den Römern ohne Widerstand auf Treu und Glauben ergeben,
und sie ohne weiteres niederzumetzeln, fand Vespasian nicht
fair.
Die Herren seines Kriegsrats aber
kamen nach einigem Hin und Her zu der einmütigen Überzeugung, den
Juden gegenüber sei alles erlaubt, und wenn sich nicht beides ver
binden lasse, müsse man das Nützliche dem Anständigen vorziehen.
Vespasian machte sich nach einigem Zögern diese Ansicht zu eigen.
Er bewilligte den Gefangenen in zweideutigem, schwer verständlichem
Griechisch Schonung, gab ihnen aber für den Abzug nur die Straße
nach Tiberias frei. Die Gefangenen glaubten gern, was sie
wünschten, und zogen auf dem vorgeschriebenen Wege ab. Die Römer
aber hatten die Straße nach Tiberias besetzt und duldeten nicht,
daß einer einen Nebenweg einschlage. Als die achtunddreißigtausend
die Stadt erreicht hatten, wurden sie in die Große Rennbahn
gewiesen. Gespannt hockten sie und warteten, was der römische
Feldherr ihnen sagen werde. Alsbald erschien Vespasian. Er gab
Weisung, diejenigen, die über fünfundfünfzig Jahre waren, sowie die
Kranken auszusondern. Viele drängten sich unter diese
Ausgesonderten, denn sie glaubten, die andern würden zu Fuß, sie
aber auf Wagen in ihre Heimat transportiert werden. Das war ein
Irrtum. Vespasian ließ sie, als die Auslese vollzogen war,
niederhauen; zu anderem waren sie unverwendbar. Aus den übrigen
ließ er die sechstausend Kräftigsten aussuchen und schickte sie mit
einem höflichen Brief dem Kaiser nach Griechenland für die Arbeiten
an dem Kanal von Korinth. Den Rest ließ er für Rechnung der Armee
als Leibeigene verauktionieren. Einige Tausend auch schenkte er dem
Agrippa.
Es waren nun im Lauf der Unruhen
schon hundertneuntausend Juden als Leibeigene verauktioniert
worden, und der Preis der Leibeigenen begann bedenklich zu sinken;
in den östlichen Provinzen sank er von durchschnittlich zweitausend
Sesterzien auf dreizehnhundert pro Stück.
Von einem Mauerturm der kleinen, starken
Bergfestung Jotapat aus sah Josef, wie nun auch die Zehnte Legion
anrückte. Schon vermaßen die Militärgeometer den Platz für das
Lager. Josef kannte sie, diese römischen Lager. Wußte, wie die
Legionen durch die Übung von Jahrhunderten gelernt hatten, an jedem
Tag, da sie haltmachten, solche Lager zu schlagen. Wußte, zwei
Stunden nach Beginn der Arbeit wird das Ganze fertig dastehen.
Zwölfhundert Zelte für je eine Legion, Straßen dazwischen, Wälle,
Tore und Türme ringsum, eine gutbefestigte Stadt für sich.
Finster und in Bereitschaft hatte
Josef zugeschaut, wie die Römer langsam in großem Kreis angerückt
waren, wie sie die Berge ringsum besetzt hatten, vorsichtig in die
Schluchten und Täler vorgestoßen waren. Nun also hatten sie die
Zange geschlossen.
Es waren jetzt außer diesem
Jotapat von ganz Galiläa nur mehr zwei feste Plätze in der Hand der
Juden: der Berg Tabor und Gischala, wo Johann kommandierte. Nahmen
die Römer diese drei Plätze, dann stand ihnen der Weg nach
Jerusalem offen. Die Führer hatten beschlossen, die Festungen so
lange wie möglich zu halten, sich selber aber im letzten Augenblick
nach der Hauptstadt durchzuschlagen; dort hatte man große Mengen
von Miliz, aber wenig Führer und Organisatoren.
Josef, als er sah, daß jetzt auch
die Zehnte Legion vor seiner Festung stand, spürte eine Art
grimmiger Freude. Der General Vespasian war kein nervöser Cestius
Gall, er hatte nicht eine, sondern drei Legionen bei sich,
vollwertige, die Fünfte, die Zehnte und die Fünfzehnte, schwerlich
wird Josef einen der drei Goldenen Adler erbeuten, die diese
Legionen mit sich führen. Aber auch seine Festung Jotapat hat gute
Mauern und Türme, sie liegt hoch und erfreulich steil, er hat
gewaltige Massen von Lebensmitteln, seine Leute, vor allem die
Mannschaften des Sapita, sind gut in Form. Der Marschall Vespasian
wird sich anstrengen müssen, ehe er die Mauern dieser Festung
schleifen und die Gesetzesrollen ihres Bethauses fortschleppen
kann.
Vespasian unternahm keine
Attacke. Sein Heer lagerte untätig wie ein Klotz, allerdings auch
fest wie ein Klotz. Vermutlich wollte er warten, bis Josef
verzweifelt aus seinem Loch herausbrechen oder an Entkräftung
verrecken würde.
Auf Schleichwegen gelangte ein
Schreiben aus Jerusalem an Josef. Die Hauptstadt, teilte sein Vater
Matthias mit, werde ihm keine Entsatztruppen schicken. Doktor
Eleasar Ben Simon zwar habe die Sendung von Entsatz dringlich
verlangt. Aber es gebe Leute in Jerusalem, die Jotapat nicht ungern
fallen sähen, wenn nur auch Josef mit umkomme. Er solle die Festung
übergeben, die sich ohne Hilfe von außen keine zwei Wochen halten
könne. Josef überlegte trotzig. Man war im Mai. Wenn Jotapat sich
bis in den Juli hinein halten kann, dann wird es vielleicht für die
Römer zu spät im Jahr sein, vor Jerusalem zu rücken. Begreifen sie
das nicht, die in der Quadernhalle? Dann wird eben er die
verblendete Stadt gegen ihren Willen retten. Er schrieb seinem
Vater zurück, nicht zwei Wochen, sondern sieben mal sieben Tage
werde er Jotapat halten. Sieben mal sieben Tage: die Worte waren
ihm wie von selbst gekommen. Mit so traumhafter Sicherheit mochten
vordem die Propheten ihre Gesichte verkündet haben. Aber Josefs
Brief gelangte nicht an seinen Vater. Die Römer fingen ihn ab, und
die Herren des Generalstabs lachten über den großmäuligen jüdischen
Kommandanten: es war ausgeschlossen, daß Jotapat sich so lange
halten konnte.
Die zweite Woche kam, und die
Römer griffen noch immer nicht an. Die Stadt war gut mit
Lebensmitteln verproviantiert, aber das Zisternenwasser wurde
knapp, Josef mußte es scharf rationieren. Es war ein heißer Sommer,
die Belagerten litten Tag für Tag schlimmer unter dem Durst. Viele
stahlen sich, um Wasser zu suchen, auf unterirdischen Wegen aus der
Stadt; denn die Bergkuppe war durchzogen von einem wilden und
wirren System unterirdischer Gänge. Aber solche Versuche waren
tollkühne Unternehmungen. Wer dabei den Römern in die Hände fiel,
den exekutierten sie am Kreuz.
Das Kommando über die Exekutionen
hatte der Hauptmann Lukian. Er war im Grund ein gutmütiger Herr,
aber er litt sehr unter der Hitze und war infolgedessen oft
schlechter Laune. Bei solcher Laune gab er Befehl, die zu
Exekutierenden ans Kreuz zu binden, was einen langsameren,
peinvolleren Tod bedeutete. Bei besserer Laune ließ er zu, daß die
Profose ihren Verurteilten die Hände festnagelten, so daß der
schnell ausbrechende Wundbrand einen rascheren Tod
herbeiführte.
Abend für Abend bewegten sich die
jämmerlichen Prozessionen die Höhen hinauf, die Verurteilten trugen
die Querbalken ihrer Kreuze auf dem Nacken, die ausgereckten Arme
waren ihnen bereits daran festgebunden. Die Nacht kühlte die
hängenden Leiber, aber die Nächte waren kurz, und sowie die Sonne
aufging, kamen Fliegen und anderes Geziefer. Ringsum sammelten sich
Vögel und herrenlose Hunde und warteten auf den Fraß. Die Männer am
Kreuz sagten das Sterbebekenntnis: Höre, Israel, Jahve ist unser
Gott, Jahve ist einzig. Sie sagten es, solange noch Worte aus ihrem
Mund kamen, sie sagten es hinüber einer zum Kreuz des andern. Bald
war die hebräische Formel auch im römischen Lager geläufig,
willkommener Anlaß zu allerhand Witzen. Die Militärärzte machten
Statistiken, wie lange es dauerte, bis einer starb, der angenagelt,
wie lange, bis einer starb, der angebunden war. Sie baten sich
besonders kräftige und besonders schwächliche Gefangene für ihre
Beobachtungen aus und konstatierten, wie sehr die hochsommerliche
Hitze zur Beschleunigung des letalen Ausgangs beitrug. Auf allen
Höhen ringsum standen die Kreuze, und die an ihnen hingen, wurden
Abend für Abend ausgewechselt. Die Römer konnten nicht jedem sein
Sonderkreuz geben, sie mußten, trotzdem die Gegend waldreich war,
mit Holz sparen.
Sie benötigten es, um kunstvolle
Wälle und Laufgänge gegen die hartnäckige Stadt heranzuführen. Alle
Wälder ringsum holzten sie ab und machten solche Wälle daraus. Sie
arbeiteten unter dem Schutz sinnreicher Konstruktionen aus Tierfell
und feuchtem Leder, die die Brandgeschosse der Belagerten
wirkungslos machten. Die Leute von Jotapat beneideten die Römer,
die Wasser zu solchem Zweck verwenden konnten. Sie machten
Ausfälle, mehrmals gelang es ihnen, die feindlichen Werke
anzuzünden. Aber rasch wurde das Zerstörte ergänzt, und die Wälle
und Gänge krochen näher.
Abend für Abend hielt Josef von
den Mauertürmen nach ihnen Ausschau. Wenn die Laufgänge einen
gewissen Punkt im Norden erreicht hatten, dann war Jotapat
verloren, selbst wenn Jerusalem noch Truppen zum Entsatz schicken
sollte. Langsam ging Josefs Blick in die Runde. Überall auf den
Bergkuppen waren Kreuze, die Bergstraßen waren gesäumt mit Kreuzen.
Die Exekutierten hatten die Köpfe nach vorn geneigt, schräg, den
Mund hängend. Josef schaute, mechanisch suchte er die Kreuze zu
zählen. Seine Lippen waren trocken und gesprungen, sein Gaumen
gedörrt, seine Augen gerötet; er nahm für sich keine größere Ration
Wasser als für die andern. Am 20. Juni, am 18. Siwan jüdischer
Rechnung, hatten die Wälle jenen gefährlichen Punkt im Norden
erreicht. Josef setzte für den Tag darauf einen Gottesdienst an. Er
ließ die Versammelten das Sündenbekenntnis sprechen. Eingehüllt in
die Mäntel mit den purpurblauen Gebetfäden, standen die Männer,
schlugen sich wild die Brust, schrien inbrünstig: O Adonai!
Gesündigt hab ich, gefehlt hab ich, gefrevelt hab ich vor deinem
Angesicht. Josef stand vorn, als Priester der Ersten Reihe, mit
Inbrunst wie die andern einbekannte er dem Gott: O Adonai!
Gesündigt hab ich, gefehlt hab ich, gefrevelt hab ich, und er
fühlte sich schmutzig, niedrig und zerknirscht. Da, als er den
dritten Satz des Sündenbekenntnisses anhub, riß es ihm den Kopf
hoch, er spürte aus den rückwärtigen Reihen aus kleinen, besessenen
Augen einen Blick bösartig und beharrlich auf sich gerichtet, und
er sah einen Mund, der nicht im Chor der andern mitsprach: Gefehlt
hab ich, gesündigt hab ich, sondern der scharf und wild die Worte
bildete: Gesündigt hast du, gefehlt hast du. Es war der Mund des
Sapita. Und als Josef am Schluß des Dienstes mit den andern
Priestern den Segen sprach, als er mit gehobenen Händen, die Finger
gespreizt, vor der Versammlung stand, die die Köpfe zu Boden
senkte, denn über den segnenden Priestern schwebte der Geist
Gottes, da war es wieder ein Augenpaar, das sich frech erhob und
bösartig und beharrlich gegen ihn richtete, und das Gesicht des
Sapita höhnte deutlich: Sperr deinen Mund zu, Josef Ben Matthias.
Wir verrecken lieber ohne deinen Segen, Josef Ben
Matthias.
Josef war voll von einer großen
Verwunderung. Er hatte sich keiner Gefahr versagt, er nahm Durst
und Bedrängnis auf sich wie der Geringste seiner Soldaten, seine
Maßnahmen erwiesen sich als gut und wirksam, Gott war sichtbarlich
mit ihm, schon hielt er die Stadt länger, als irgend jemand es für
möglich gehalten hätte. Was wollte dieser Sapita? Josef zürnte ihm
nicht. Der Mann war verblendet, was er tat, Lästerung.
Der Ausfall, den Josef am andern
Tag gegen den Wall im Norden machte, geschah mit wildem Fanatismus.
Im Kampf zu sterben war besser als am Kreuz, und diese finstere
Sehnsucht nach einem Tod im Kampf ließ die Juden trotz des dich ten
Geschoßregens bis zu dem gefährdeten Punkt vordringen. Sie machten
die Verteidigungsmannschaften nieder, setzten Dämme und Maschinen
in Brand. Die Römer wichen. Wichen nicht nur an dieser Stelle,
sondern auch im Süden, wo sie kaum bedrängt waren. Bald auch wußten
die Leute von Jotapat den Grund: Vespasian war getroffen, der
römische Marschall war verwundet. Jubel war in der Stadt, Josef
ließ die doppelte Ration Wasser verteilen. Es war die fünfte Woche.
Wenn es ihm gelingt, die siebente Woche zu erreichen, dann wird der
Sommer zu weit vorgeschritten, dann wird Jerusalem für dieses Jahr
gerettet sein.
Es dauerte fast eine Woche, bis
die Römer den Punkt im Norden wieder gesichert hatten. Inzwischen
aber hatten sie auch ihre Belagerungsmaschinen, die Widder, an drei
Seiten der Mauer in Stellung gebracht. Es waren dies gewaltige
Balken, Schiffsmasten ähnlich, vorne mit einem mächtigen Eisenblock
in Form eines Widderkopfes versehen. In der Mitte waren die Masten
mit Seilen an einem waagrechten Balken aufgehängt, der auf starken
Pfählen ruhte. Eine große Anzahl Artilleristen zog den Balken mit
dem Widderkopf nach rückwärts und ließ ihn wieder vorschnellen.
Keine noch so dicke Mauer konnte auf lange Zeit der Stoßkraft
dieser Maschine widerstehen.
Jetzt endlich, nachdem die Widder
eine Zeitlang gearbeitet hatten, fand Vespasian die Festung reif
für einen Generalangriff. Der Angriff begann am frühen Morgen. Der
Himmel wurde finster von den Geschossen, grauenvoll und beharrlich
gellten die Trompeten der Legionen, aus allen Wurfmaschinen
zugleich flogen die großen Steinkugeln, dumpf dröhnten, von den
Bergen widerhallend, die Stoßmaschinen. Auf den Wällen arbeiteten
drei eisenbeschlagene Türme, je siebzehn Meter hoch, besetzt mit
Speerwerfern, Bogenschützen, Schleuderern, auch mit leichten
Wurfmaschinen. Die Belagerten waren wehrlos gegen diese gepanzerten
Ungeheuer. Unter ihrem Schutz kroch es aus den Laufgängen hervor,
unheimliche, riesige Schildkröten, gebildet aus je hundert Mann
römischer Elitetruppen, die ihre Schilde über den Köpfen
ziegelförmig ineinanderschuppten, so daß sie keinem Geschoß
erreichbar waren. Die Panzertürme arbeiteten präzis zusammen mit
diesen Schildkröten, richteten ihre Geschosse gegen die Stellen der
Mauer, die die Schildkröten sich erwählt hatten, so daß die
Verteidiger sie räumen mußten. Schon hatten die Angreifer an fünf
Stellen gleichzeitig die Mauer erreicht, warfen die Sturmbrücken.
Allein in dieser Minute, da die Römer nicht schießen konnten, ohne
ihre eigenen Leute zu gefährden, gossen die Verteidiger auf die
Stürmenden siedendes Öl, das unter das Eisen der Rüstungen drang,
und schütteten auf die Sturmbrücken einen glitschigen Absud aus
griechischem Heu, so daß die Angreifer abrutschten.
Die Nacht kam, aber der Sturm der
Römer ließ nicht nach. Dumpf, die ganze Nacht hindurch, dröhnten
die Stöße der Widder, gleichmäßig arbeiteten die Panzertürme, die
Wurfmaschinen. Die Getroffenen polterten grotesk von den Mauern
herab. Geschrei war, Ächzen und Gestöhn. So voll von grausigem Lärm
war die Nacht, daß die jüdischen Führer die Soldaten auf den Mauern
anwiesen, sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen. Josef selber
hörte das Gedröhn mit einer beinah wilden Befriedigung. Es war der
sechsundvierzigste Tag: sieben mal sieben Tage wird er die Stadt
halten. Dann wird der fünfzigste Tag kommen, und es wird Stille
sein. Vielleicht wird diese Stille der Tod sein. Wie immer, selig
inmitten des wüsten Getöses schmeckte er die Stille dieses
fünfzigsten Tages voraus, und er dachte an das Wort der
Überlieferung: Erst ist der Sturm und das große Getöse, aber dann
in der Stille kommt Gott.
Einem der Verteidiger gelang es
in dieser Nacht, von der Mauer herab einen Ungeheuern Block mit
solcher Wucht auf einen der Widder zu schleudern, daß der Eisenkopf
der Maschine sich löste. Der Jude sprang von der Mauer herunter,
holte den Widderkopf mitten aus den Feinden heraus, trug ihn
zurück, umschwirrt von Geschossen, erstieg die Mauer und stürzte,
fünfmal getroffen, sich krümmend auf der Innenseite herab. Der Mann
war Sapita.
Über den Sterbenden neigte sich
Josef. Sapita durfte nicht dahingehen, die Lästerung ungesühnt im
Herzen. Ringsum standen zehn Männer. Sie sprachen dem Sterbenden
vor: Höre, Israel, eins und ewig ist unser Gott Jahve, auf daß er
in den Tod eingehe mit den Worten des Bekenntnisses. Sapita riß
peinvoll an der einen Strähne seines zweigeteilten Bartes. Er
bewegte die Lippen, aber Josef sah gut, es waren nicht die Worte
des Bekenntnisses, die er sprach. Josef neigte sich tiefer zu ihm.
Die kleinen, besessenen Augen des Sterbenden zwinkerten bösartig
und schmerzhaft, er bemühte sich, etwas zu sagen. Josef brachte das
Ohr ganz nah an seine trockenen Lippen, er konnte ihn nicht
verstehen, aber es war deutlich, daß Sapita etwas Verächtliches
sagen wollte. Josef war erstaunt und voll Kummer, daß dieser
Verblendete so dahinfahren sollte. Mit raschem Entschluß, leise und
leidenschaftlich, sprach er auf ihn ein: »Hören Sie, Sapita, ich
werde verhindern, daß die Römer in diesem Sommer vor Jerusalem
rücken. Ich werde die Stadt noch drei Tage halten. Und ich werde
mich nicht nach Jerusalem durchschlagen, wie wir vereinbart haben.
Ich werde bis zum vierten Morgen in der Stadt bleiben.« Die Männer,
gleichmäßig, im Chor, auf daß es das Ohr des Sterbenden erreiche,
gellten: Höre, Israel. Josef starrte dringlich, flehentlich fast
auf Sapita. Der mußte sein Unrecht einsehen, versöhnt sterben. Aber
Sapitas blutunterlaufene Augen hatten sich verdreht, sein Kiefer
war herabgefallen: Josef hatte sein Versprechen einem Toten
gegeben.
Von diesem Tag an gönnte sich
Josef kaum mehr Schlaf. Er war überall auf den Mauern. Sein Gesicht
brannte, seine Lider schmerzten, sein Gaumen war geschwollen, seine
Ohren taub vom Lärm der Belagerungsmaschinen, seine Stimme rauh und
heiser. Aber er schonte sich nicht, er sparte sich nicht. So hielt
er es drei Tage durch, bis die Mitternacht des neunundvierzigsten
Tages erreicht war. Dann fiel er in einen steintiefen
Schlaf.
Im grauenden Morgen des ersten
Juli, am fünfzigsten Tag nach dem Beginn der Belagerung, nahmen die
Römer die Festung Jotapat.
Es waren noch nicht zwei Stunden, daß Josef
sich hingelegt hatte, als man ihn hochriß und ihm zuschrie: sie
sind da. Er torkelte aus seinem Schlaf, raffte an sich, was ihm
unter die Hände kam, Fleisch, Brot, den blumenbestickten
Priestergürtel, die Urkunde, die ihn zum Kommissar bestellte, die
Würfel, die einmal in Rom der Schauspieler Demetrius Liban ihm
geschenkt hatte. Er stolperte auf die Straße, in den grauenden
Morgen hinein. Einige aus seiner Umgebung rissen ihn mit sich,
hinunter in einen unterirdischen Gang, einer verlassenen Zisterne
zu, die sich in eine ziemlich geräumige Höhle ausweitete.
Sie waren ein gutes Dutzend in
dieser Höhle, ein Schwerverwundeter darunter, sie hatten
Lebensmittel, aber einen einzigen kleinen Eimer Wasser. Tagsüber
blieben sie zuversichtlich, aber in der Nacht zeigte sich, daß an
ein Entkommen nicht zu denken war. Der unterirdische Gang war
verästelt und verwinkelt, allein er mündete immer wieder in diese
Höhle und hatte nur den Ausgang in die Stadt, wo die Römer scharfe
Wacht hielten.
Am zweiten Tag starb der
Verwundete. Am dritten Tag ging ihnen das Wasser aus, am vierten
Tag waren die durch die lange Belagerung geschwächten Männer krank
und irr vor Durst.
Am fünften Tag lag Josef Ben
Matthias in einem Winkel der Höhle, er hatte den blauen
Priestergürtel unter den Kopf gelegt, das Kleid übers Gesicht
gezogen und wartete, daß die Römer kämen und ihn erschlügen. Seine
Eingeweide brannten, immer wieder versuchte er zu schlucken,
trotzdem er wußte, wie peinvoll und unmöglich das war, seine Pulse
flatterten, all sein Gebein stach und prickelte. Die geschlossenen
Lider rieben seine entzündeten Augen, durch die Dunkelheit tanzten
Punkte und Kreise, vergrößerten sich wild, schrumpften, funkelten,
verschlangen sich. Süß und lockend war es, den Tod zu
beschleunigen, sich umzubringen; aber eine
Hoffnung blieb: vielleicht kann man vorher trinken. Vielleicht,
wenn die Römer kommen, geben sie ihm zu trinken, bevor sie ihn ans
Kreuz hängen. In Jerusalem gibt es eine Vereinigung wohltätiger
Damen, die den zum Kreuz Verurteilten einen Trank aus Wein und
Myrrhen auf ihren Weg mitgeben. Das wäre ein guter Tod. Er schiebt
das Kleid zurück vom Kopf und lächelt mit seinen trockenen
Lippen.
Greifbar vor sich sieht er die
große Zisterne mit dem rationierten Wasser, mit dem vielen, vielen
rationierten Wasser. Da jetzt die Römer da sind, braucht man doch
mit dem Wasser nicht mehr zu sparen. Daß er bis jetzt nicht
daraufkam. Er sieht sich auf dem Weg zur Zisterne. Viele sind auf
diesem Weg. Aber er geht mitten durch die schreienden Juden und die
Römer, die sich die Straße hinauftasten, er ist ja der Feldherr,
und die Leute teilen sich vor ihm, immer geradewegs der Zisterne zu
geht er, unbeirrbar, gierig. Trinken! An der Zisterne sind keine
Wächter mehr. Aber da steht einer und will ihn nicht trinken
lassen. Gehen Sie gefälligst weg, Sapita. Ich schlage Sie nieder,
wenn Sie mich nicht trinken lassen. Bin ich feige gewesen? Habe ich
mich kostbar gemacht, wenn es Schwerter gab, fliegende Eisen,
Feuerbrände, von der Mauer polternde Männer? Stemmen Sie nicht so
blöd den Widderkopf hoch mit Ihrem gesunden Arm. Ich weiß ganz
genau, daß Sie tot sind. Sie sind ein hundsgemeiner Lügner, Sapita,
und wenn Sie hundertmal tot sind. Sie haben da
wegzugehen.
Das peinvolle, vergebliche
Schlucken kratzt Josef den geschwollenen Rachen auf, reißt ihn aus
seinen Phantasien. Er zieht wieder das Kleid übers Gesicht. Er will
das alles weghaben. Wie er in der Wüste war, bei dem Essäer Banus,
und sich kasteit hat, damals hat er Gesichte gebraucht, aber jetzt
will er Klarheit in seinem Hirn, Ordnung. Er denkt gar nicht daran,
zu verrecken, weil er einige Tage kein Wasser getrunken hat. Gewiß,
wenn man einige Tage nichts getrunken hat, dann geht man ein, das
ist eine bekannte Tatsache. Aber er nicht. Die andern, ja, die
werden schließlich verdursten. Aber er selber, das ist unmöglich.
Er hat noch viel zu tun, er hat viel zuviel versäumt. Wo sind die
Frauen, die er nicht gehabt, der Wein, den er nicht getrunken, die
Herrlichkeiten der Erde, die er nicht gesehen, die Bücher, die er
nicht geschrieben hat? Warum eigentlich hat er Poppäa nicht
gepackt, damals? Ihr Kleid war aus koischem Flor, hauchdünn, und
man sah die Haare durchschimmern. Sicher waren sie bernsteingelb.
So viele Frauen waren, die er versäumt hat. Er sieht die Schenkel,
die Brüste, die Gesichter.
Aber das sind gar keine
Gesichter, das sind Haufen von Früchten, wie sie auf den Märkten
feilgeboten werden, runde, saftige Früchte, Feigen, Äpfel,
riesiggroße Trauben. Er will hineinbeißen, malmen, schlürfen; aber
wie er sie packen will, hat jede das gleiche, infame, gelbbraune
Gesicht, das er gut kennt. Nein, Sie verfluchter Hund, ich sterbe
nicht, diesen Gefallen tue ich Ihnen nicht. Überhaupt Sie. Sie
trauriger Pedant, Sie Affe der Vernunft mit Ihren Statuen und Ihrer
ganzen Symmetrie und Ihrem System. Sie wollen von Judäa reden? Was
verstehen Sie davon? Waren Sie einmal dabei? Haben Sie einmal
mitgetan? Sie haben ja kein Blut in den Adern, Sie Schuft. Wenn
Judäa Ihr verdammtes Götzenpalais kaputt haut, dann hat es recht,
zehnmal recht, und ich hau mit.
Ich phantasiere nicht, Herr. Ich
bin sehr durstig, aber ich weiß ganz genau: es ist eine Gemeinheit,
sich von Rom aus über die Makkabi-Leute lustig zu machen. Es ist
kahl und schäbig. Sie sind eine kümmerliche Erscheinung, Justus von
Tiberias.
In seinem Kopf dröhnt es, viele
Stimmen: Marin, Marin. Und eine dünne, hartnäckig ergebene Stimme
immer dazwischen: dieser ist es.
Nein, er hat diese Stimme nie
Gewalt über sich gewinnen lassen, er hat sich nie überhoben, er hat
die Lästerung immer weit von sich abgetan. Es ist der Versucher,
der jetzt seine Schwäche mißbraucht und ihn auf einmal jene Stimme
wieder hören läßt. Ja, sicherlich ist es nichts als eine freche
Schiebung des Versuchers, der das Antlitz Jahves von ihm abwenden
will.
Mit großer Mühe richtete er sich
auf die Knie, schlug die Stirn gegen die Erde, qualvoll, sprach das
Sündenbekenntnis, qualvoll. Sprach groß und stolz: O Adonai, nicht
gesündigt hab ich, nicht gefehlt hab ich. Du mußt mich trinken
lassen, ich habe deinen Namen geheiligt. Ich will Wasser. Laß
deinen Knecht nicht verdursten, denn ich habe dir gut gedient, und
du mußt mir Wasser geben.
Auf einmal war eine Stimme in der
Höhle, eine knarrende, dem Josef bekannte römische Offiziersstimme.
Die andern rüttelten ihn. Es war eine sehr wirkliche Stimme, das
war klar. Die Stimme sprach griechisch und sagte, man wisse, daß
der galiläische Feldherr in der Höhle sei, und wenn sich die
Eingeschlossenen ergäben, dann wolle man sie schonen. »Geben Sie
mir zu trinken«, sagte Josef. »Sie haben eine Stunde Bedenkzeit«,
erwiderte die Stimme, »dann werden wir die Höhle
ausräuchern.«
Ein seliges Lächeln zog Josefs
Gesicht weit auseinander. Er hat gesiegt. Er hat den toten Sapita
überlistet und den frechen, lebendigen Justus, der ihn nicht an die
Früchte heranlassen wollte. Jetzt wird er doch trinken und wird
leben.
Aber da waren unter den Gefährten
des Josef einige, die wollten von Übergabe nichts wissen. Sie
dachten an die Vorgänge von Magdala, sie nahmen an, wenn die Römer
sie packten, dann würden sie bestenfalls den Josef für den
Triumphzug aufsparen, die andern aber ans Kreuz schlagen oder als
Leibeigene verauktionieren. Sie beschlossen zu kämpfen. Halb irr
vor Durst stellten sie sich dem Josef in den Weg. Eher wollten sie
ihn umbringen, ehe sie duldeten, daß er sich den Römern
ergebe.
Josef wollte nur eins: trinken.
Ob die Römer sie wirklich schonen werden oder nicht, das kam
später. Auf alle Fälle werden sie ihnen zu trinken geben, und diese
Narren wollten nicht. Das waren ja Verrückte, tolle Hunde. Es wäre
ja lächerlich, wenn er nach soviel Qualen sich selber umbrächte,
ohne getrunken zu haben. Aus allen Winkeln seines erschöpften Hirns
holte er Kraft zusammen, um sich gegen die andern zu behaupten, zu
trinken, zu leben.
Lange sprach er vergeblich auf
sie ein. Kaum mehr reichte seine rauhe, heisere Stimme, ihnen einen
letzten Vorschlag zu machen: sie sollten nicht jeder sich selber
töten, sondern wenigstens einer den andern; das sei die kleinere
Sünde. Das sahen sie ein, sie nahmen den Vorschlag an, und das war
die Rettung. Sie ließen nämlich das Los entscheiden, wer von ihnen
jedesmal den andern niederstoßen sollte, und sie würfelten mit den
Würfeln, die Josef sich von dem Schauspieler Demetrius Liban hatte
schenken lassen. Sie baten einer den andern um Verzeihung und
starben, das Bekenntnis auf den Lippen. Als Josef mit dem letzten
übrigblieb, ging er einfach
den Weg aus der Höhle zurück, zu den Römern.
Der andere stand eine Weile schlaff, dann kroch er ihm nach.
Es war der Oberst Paulin, der Josef in
Empfang nahm. Er streckte ihm den Arm mit der flachen Hand
entgegen, wie ein Sportsmann dem besiegten Gegner, fröhlich
grüßend. Josef dankte nicht. Er fiel hin und sagte: Wasser. Sie
brachten ihm zu trinken, und er, dies war die frömmste Tat seines
Lebens, er bezwang sich und sagte den Segensspruch: Gelobt seist
du, unser Gott Jahve, der alles entstehen ließ durch sein Wort, und
dann erst trank er. Selig ließ er das Nasse über die Lippen rinnen,
durch den Mund, den Schlund hinab, verlangte neues Wasser und
nochmals neues und bedauerte, daß er absetzen mußte und Atem holen,
und trank. Lächelte breit, töricht übers ganze Gesicht und trank.
Die Soldaten standen herum, grinsten gutmütig, schauten
zu.
Man ließ Josef flüchtig sich
säubern, gab ihm zu essen, führte ihn gefesselt nach dem Quartier
des Feldherrn. Der Weg ging durchs ganze Lager. Überall drängten
sich die Soldaten, alle wollten den feindlichen Führer sehen. Viele
feixten wohlwollend: das war also der Mann, der ihnen sieben Wochen
zu schaffen gemacht hatte. Ein tüchtiger Bursche. Manche, erbittert
über den Tod von Kameraden, drohten, schimpften wüst. Andere rissen
Witze, weil er so jung, dünn und hager ausschaute: na, Jüdlein,
wenn du am Kreuz hängst, ‘ werden die Vögel und die Fliegen wenig
zu fressen haben. Josef, so verwahrlost er war, mit verfilzten
Haaren, schmutzigen Flaum um die Wangen, ging still durch den
ganzen Aufruhr, Drohungen und Witze fielen von ihm ab, mancher
senkte den Blick vor seinen traurigen, entzündeten Augen. Als einer
gar ihn anspie, hatte er kein Wort für den Beleidiger, er bat nur,
der Gefesselte, die Begleitmannschaften, den Speichel abzuwischen,
da es unziemlich sei, so vor den Feldherrn zu treten.
Es war aber ein weiter Weg durch
das Lager. Zelte, Zelte, neugierige Soldaten. Dann der Altar des
Lagers. Davor, plump, golden, feindselig und gewalttätig, die Adler
der drei Legionen. Dann wieder Zelte, Zelte. Es kostete den
geschwächten Mann viel Mühe, sich aufrecht zu halten, aber er riß
sich zusammen
und ging aufrecht den langen Weg der
Schmach.
Als man das Zelt des Marschalls
endlich erreicht hatte, sah Josef zunächst außer dem Oberst Paulin
nur einen jungen Herrn mit den Generalsabzeichen, nicht groß, doch
breit und fest von Figur, mit rundem, offenem Gesicht, das kurze
Kinn kräftig vorgestoßen, so daß es scharf dreieckig einzackte.
Josef wußte sogleich, das war Titus, der Sohn des Feldherrn. Der
junge General kam ihm entgegen. »Es tut mir leid«, sagte er
freimütig, liebenswürdig, »daß Sie Pech gehabt haben. Sie haben
sich ausgezeichnet geschlagen. Wir haben euch Juden unterschätzt,
ihr seid vortreffliche Soldaten.« Er sah seine Erschöpfung, hieß
ihn sitzen. »Heiße Sommer habt ihr hier«, sagte er. »Aber hier im
Zelt haben wir es angenehm kühl.«
Unterdes war aus dem Vorhang, der
das Zelt teilte, Vespasian selbst hereingekommen, sehr bequem
angezogen, mit einer statiösen, resoluten Dame. Josef erhob sich,
versuchte, auf römische Art zu grüßen. Der Marschall aber winkte
gemütlich ab. »Geben Sie sich keine Mühe. Verdammt jung sehen Sie
aus, mein Jüdlein. Wie alt sind Sie?« – »Dreißig«, erwiderte Josef.
»Siehst du, Cänis«, schmunzelte Vespasian, »wie weit man es mit
dreißig Jahren bringen kann.« Die Dame Cänis betrachtete Josef ohne
Wohlwollen. »Der Jude gefällt mir wenig«, äußerte sie unverhohlen.
»Sie kann Sie nicht leiden«, erklärte Vespasian dem Josef, »weil
sie sich so erschreckte, wie ihr mir die Steinkugel auf den Fuß
gepfeffert habt. Es war übrigens blinder Alarm, man merkt schon
nichts mehr.« Als er aber jetzt auf Josef zukam, sah man deutlich,
daß er noch ein wenig hinkte. »Lassen Sie sich anfühlen«, sagte er
und betastete ihn wie einen Leibeigenen. »Mager, mager«,
konstatierte er, stark atmend. »Ihr habt allerhand aushalten
müssen. Ihr hättet es billiger haben können. Sie scheinen überhaupt
eine kräftig bewegte Vergangenheit zu haben, junger Herr. Ich habe
mir erzählen lassen. Die Geschichte mit Ihren drei sogenannten
Unschuldigen, die dann unserm Cestius Gall so auf die Nerven
gingen: wie gesagt, allerhand.« Er war vergnügt. Er dachte daran,
daß ohne die drei Greise dieses smarten Burschen der Gouverneur
Cestius schwerlich abberufen worden wäre und daß dann er nicht hier
stünde.
»Was meinen Sie, junger Herr«,
fragte er jovial, »soll ich noch heuer vor Jerusalem rücken? Ich
habe Lust, mir euern Großen Sabbat im Tempel anzuschauen. Aber Sie
mit Ihrem Jotapat haben mich so lang aufgehalten. Es ist spät im
Jahr geworden. Und wenn die in Jerusalem so querköpfig sind wie ihr
hier, dann wird das eine langwierige Angelegenheit.«
Das war beiläufig hingesprochen,
spaßhaft. Aber Josef sah die hellen, aufmerksamen Augen des Mannes
in dem breiten, hartfaltigen Bauerngesicht, er hörte sein starkes
Atmen, und plötzlich, mit blitzheller Intuition, ging ihm auf:
dieser Römer, in seinem heimlichen Innern, will gar nicht nach Jerusalem, dem liegt nichts an einem schnellen Sieg über Judäa. Der
sieht nicht so aus, als ob er, was er einmal hat, rasch wieder
hergäbe. Der will seine Armee behalten,
seine drei großartigen, aufeinander eingearbeiteten Legionen. Ist
aber der Feldzug erst zu Ende, dann werden sie ihm ohne weiteres
wieder abgenommen, dann ist es aus mit seinem Kommando. Josef sah
klar: dieser General Vespasian will heuer
nicht mehr vor Jerusalem.
Diese Erkenntnis gab ihm neuen
Auftrieb. Die Erregungen der Höhle waren noch in seinen
Eingeweiden. Er wußte, jetzt erst und endgültig hatte er um sein
Leben zu rennen, und für dieses Rennen gab ihm die Erkenntnis, daß
der Römer gar nicht vor Jerusalem wollte, eine unerhörte Vorgabe.
Leise, doch mit großer Bestimmtheit sprach er: »Ich sage Ihnen,
General Vespasian, Sie werden in diesem Jahr nicht vor Jerusalem
ziehen. Wahrscheinlich auch nicht im nächsten.« Angestrengt
schauend, langsam, die Worte aus sich herausgrabend, fuhr er fort:
»Sie sind zu Größerem bestimmt.«
Alle waren betroffen von der
unerwarteten Antwort: dieser jüdische Offizier, der sich so
tadellos geschlagen hatte, beliebte eine absonderliche Diktion.
Vespasian machte die Augen eng, beschaute sich seinen Gefangenen.
»Sieh mal an«, zog er ihn auf, »die Propheten sind also nicht
ausgestorben in Judäa?« Aber der Spott in seiner alten, knarrenden
Stimme war leise, es war mehr Aufmunterung darin, Wohlwollen. Es
gab viele merkwürdige Dinge in diesem Land Judäa. Im See Genezareth
gab es einen Fisch, der schrie; was auf den sodomitischen Feldern
gepflanzt wurde, schwärzte sich und zerfiel in Asche; das Tote Meer
trug jeden, mochte er schwimmen können oder nicht. Alles hier war
fremdartiger als sonstwo. Warum sollte nicht auch in diesem jungen
jüdischen Menschen, wiewohl er ein guter Politiker und Soldat war,
ein Teil Narrheit und Priestertum stecken?
In Josef unterdes arbeitete es in
rasender Eile. Angesichts dieses Römers, der sein Leben in der Hand
hielt, kamen plötzlich Sätze wieder herauf, die er seit langem
hinunter hatte sinken lassen, die Sätze der schweren, einfältigen
Männer aus der Schenke von Kapernaum. Fiebrig spannte er sich, es
ging um sein Leben, und was jene dumpf geahnt hatten, das sah er
auf einmal blitzhaft klar und scharf. »Es gibt nicht viele
Propheten in Judäa«, erwiderte er, »und ihre Sprüche sind dunkel.
Sie haben uns verkündet, der Messias gehe aus von Judäa. Wir haben
sie mißverstanden und den Krieg begonnen. Jetzt, wo ich vor Ihnen
stehe, Konsul Vespasian, in diesem Ihrem Zelt, weiß ich die
richtige Deutung.« Er verneigte sich voll großer Ehrerbietung, aber
seine Stimme blieb nüchtern und voll Maß. »Der Messias geht aus von
Judäa: aber er ist kein Jude. Sie sind es, Konsul
Vespasian.«
Diese abenteuerlich freche Lüge
verblüffte alle im Zelt. Vom Messias hatten sie gehört, der ganze
Osten war voll von dem Gerede. Der Messias, das war der Halbgott,
von dem dieser Teil der Erde träumte, daß er auferstehen werde, um
den unterjochten Orient an Rom zu rächen. Ein dunkles Wesen,
geheimnisvoll, überirdisch, ein bißchen zum Spott reizend wie alle
Erzeugnisse östlichen Aberglaubens, aber doch voll Lockung und voll
Drohung.
Cänis war aufgestanden, sie hatte
den Mund halb offen. Ihr Vespasian der Messias? Sie dachte an die
Sache mit dem Trieb der heiligen Eiche. Davon konnte der Jude
schwerlich etwas wissen. Sie starrte Josef an, mißtrauisch,
befangen. Was er sagte, war groß und erfreulich und durchaus in der
Richtung ihrer Hoffnung: aber dieser östliche Mensch blieb ihr
unheimlich.
Der junge General Titus, ein
Fanatiker der Präzision, liebte es, Leute auf ihre genauen
Äußerungen festzulegen; er hatte es sich zur mechanischen
Gewohnheit gemacht, Gespräche mitzustenographieren. Auch jetzt
hatte er mitgeschrieben. Nun aber sah er verwundert auf. Es wäre
ihm eine Enttäuschung gewesen, wenn dieser junge, tapfere Soldat
sich als Schwindler erwiesen hätte. Nein, er schaute wahrhaftig
nicht aus wie ein Schwindler. Vielleicht war er trotz seines
einfachen und natürlichen Gehabes ein Besessener, wie so viele im
Orient. Vielleicht hatten langer Hunger und Durst ihn verrückt
gemacht.
Vespasian schaute mit seinen
hellen, schlauen Bauernaugen in die ehrfurchtsvollen des Josef. Der
hielt seinen Blick aus, lange. Er schwitzte, trotzdem es im Zelt
wirklich nicht allzu heiß war, die Fesseln scheuerten ihn, die
Kleider kratzten ihn. Aber er hielt den Blick aus. Er wußte, dies
war der entscheidende Moment. Vielleicht wird der Römer sich
einfach umdrehen, erzürnt oder auch angewidert, und ihn
wegschleppen lassen, zum Kreuz oder auf ein Leibeigenenschiff für
die ägyptischen Bergwerke. Vielleicht aber auch wird der Römer ihm
glauben. Er muß ihm glauben. Hastig, in
seinem Innern, während er auf Antwort wartete, betete er: Gott,
mach, daß der Römer mir glaubt. Wenn du’s nicht um meinetwillen
tust, dann tu es um deines Tempels willen. Denn wenn der Römer
glaubt, wenn er wirklich in diesem Jahr nicht mehr vor die Stadt
zieht, dann, bis zum nächsten Jahr, läßt sich deine Stadt und dein
Tempel vielleicht noch retten. Du mußt machen, Gott, daß der Römer
glaubt. Du mußt, du mußt. So stand er, betend, bang um sein Leben,
den Blick des Römers aushaltend, in ungeheurer Spannung die Antwort
des Römers erwartend.
Der Römer sagte nur: »Na, na, na.
Nicht so heftig, junger Herr.«
Josef atmete hoch. Der Mann hatte
sich nicht abgewandt, der Mann hatte ihn nicht wegschleppen lassen,
er hatte gewonnen. Leise, rasch, voll Zuversicht, dringlich fuhr er
fort: »Bitte, glauben Sie mir. Nur deshalb, weil ich bestimmt war,
Ihnen das zu sagen, habe ich mich nicht nach Jerusalem
durchgeschlagen, wie es unser Plan war, sondern mich bis zum Schluß
in Jotapat gehalten.«
»Unsinn«, knurrte Vespasian. »Sie
hätten sich nie nach Jeru salem durchschlagen können.« – »Ich habe
Briefe von Jerusalem bekommen und Briefe hingeschickt«, wandte
Josef ein, »also hätte ich auch selber durchkommen können.« Titus,
vom Tisch her, sagte lächelnd: »Ihre Briefe haben wir aufgefangen,
Doktor Josef.« Bescheiden jetzt mischte sich Oberst Paulin ein: »In
einem der aufgefangenen Briefe heißt es: ›Ich werde die Festung
Jotapat sieben mal sieben Tage halten.‹ Wir haben darüber gelacht.
Aber die Juden haben die Festung sieben Wochen gehalten.«
Alle wurden nachdenklich.
Vespasian grinste hinüber zu Cänis. »Na, Cänis«, sagte er.
»Eigentlich ist dieser junge Bursche mit seinen drei Unschuldigen
die Ursache, daß sich, gerade noch vor Torschluß, Gott Mars mit
seinem Eichentrieb nicht heftig blamiert hat. Der Marschall ist ein
aufgeklärter Mann. Immerhin, warum soll er, wenn es seine Pläne
nicht stört, nicht an Vorzeichen glauben? Manchmal hat man sich in
der Deutung dieser Vorzeichen geirrt, aber andernteils gibt es gut
verbürgte Geschichten von der verblüffenden Zuverlässigkeit
gewisser Hellseher. Und was den gestaltlosen Gott der Juden
anlangt, der in seinem dunkeln Allerheiligsten in Jerusalem wohnt:
warum soll er es in den Wind schlagen, wenn dieser jüdische Gott
ihm Dinge mitteilen läßt, die sich so gut zu den eigenen Plänen
schicken? Er hat bisher selber nicht genau gewußt, ob er eigentlich
nach Jerusalem will oder nicht. Die Regierung drängt, er müsse mit
dem Feldzug noch im Sommer zu Ende sein. Aber es wäre wirklich ein
Jammer, nicht nur für ihn, sondern auch für den Staat, wenn diese
Ostarmee, die er jetzt so gut gedrillt hat, nach einem zu schnellen
Sieg wieder zerschlagen würde und in zweifelhafte Hände käme.
Eigentlich hat der Bursche da mit seinem harten Jotapat ihm einen
guten Dienst getan, und der Gott, der aus ihm spricht, ist kein
schlechter Ratgeber.«
Josef aber blühte auf wie ein
verdorrtes Feld unterm Regen. Gott war gnädig gewesen; es war
augenscheinlich, daß der Feldherr ihm glaubte. Und warum auch
nicht? Dieser, der da vor ihm stand, war wirklich der Mann, von dem
es hieß, daß er ausgehen werde von Judäa, die Welt zu richten. Hieß
es nicht in der Schrift: »Der Libanon wird in eines Mächtigen Hand
fallen«? Adir, das hebräische Wort für mächtig, bedeutete es nicht
genau das gleiche wie Cäsar, Imperator? Gab es ein besseres,
deckenderes Wort für diesen breiten, schlauen, klaren Mann? Er
neigte den Kopf vor dem Römer, tief, die Hand an der Stirn. Das
Wort vom Messias und das alte, finstere Wort, daß Jahve Israel
schlagen werde, um es zu entsühnen, war eines, und dieser Römer war gekommen, es zu
erfüllen. Wie die Olive ihr Öl nur hergibt, wenn man sie preßt, so
gibt Israel sein Bestes nur, wenn es gedrückt wird, und der es
keltert und preßt, heißt Vespasian. Ja, Josef hatte das letzte,
abschließende Argument gefunden. Eine tiefe Sicherheit überkam ihn,
er fühlte die Kraft in sich, mit seiner Ausdeutung vor dem
kniffligsten Doktor der Tempelhochschule zu bestehen. Die Höhle von
Jotapat war voll Krampf und Schmach gewesen, aber wie des Menschen
Frucht hervorgestoßen wird aus Blut und Kot, so war aus ihr gute
Frucht hervorgegangen. Er war bis an die Poren seiner Haut voll von
Zuversicht.
Cänis aber ging unbehaglich um
den Gefangenen herum. »Es ist die Angst vor dem Kreuz«, maulte sie,
»die aus dem Menschen redet. Ich würde ihn nach Rom öder Korinth
schikken. Der Kaiser soll ihn richten.«
»Schicken Sie mich nicht nach
Rom«, bat dringlich Josef. »Sie sind es, der über mein und unser
aller Schicksal zu bestimmen haben wird.«
Er war ausgehöhlt vor
Erschöpfung; aber es war eine glückliche Erschöpfung, er hatte
keine Angst mehr. Ja, im Innersten fühlte er sich dem Römer bereits
überlegen. Er stand vor dem Römer, er sprach seine kühnen,
schmeichlerischen Worte, er neigte sich vor ihm, aber schon hatte
er das Gefühl, den andern zu leiten. Der Römer war unbewußt eine
Zuchtrute in der Hand Gottes: er, Josef, war bewußt und fromm
Jahves Instrument. Was er gespürt hat, als er zum erstenmal vom
Capitol über Rom hinschaute, hat sich auf seltsame Art erfüllt. Er
hat die Hand am Schicksal Roms. Vespasian ist der Mann, den Gott
erwählt hat, aber er, Josef, ist der Mann, ihn nach dem Willen
Gottes zu lenken.
Der Marschall sagte, und in
seiner knarrenden Stimme war eine leise Drohung: »Jüdlein, nimm
dich in acht. Stenogra phier gut mit, Titus, mein Sohn. Wir werden
vielleicht einmal Lust haben, diesen Herrn beim Wort zu nehmen.
Können Sie mir auch sagen«, wandte er sich an Josef, »wann das sein
wird mit meiner Messiasherrlichkeit?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte
Josef. Und plötzlich, unerwartet stürmisch: »Halten Sie mich in
Ketten bis dahin. Lassen Sie mich exekutieren, wenn es Ihnen zu
lange dauert. Aber es wird nicht lange dauern. Ich war ein guter
Diener der ›Rächer Israels‹, solange ich glaubte, Gott sei in
Jerusalem und diese Männer seine Beauftragten. Ich werde Ihnen ein
guter Diener sein, Konsul Vespasian, nun ich weiß, Gott ist in
Italien, und Sie sind sein Beauftragter.«
Vespasian sagte: »Ich nehme Sie
aus der Beute in meine privaten Dienste.« Und, da Josef sprechen
wollte: »Gratulieren Sie sich nicht zu rasch, mein Jüdlein. Ihren
Priestergürtel können Sie weitertragen, aber auch Ihre Fesseln
werden Sie tragen, bis sich herausgestellt hat, was an Ihrer
Prophezeiung stimmt.«
An Kaiser und Senat schrieb der
Feldherr, er müsse sich für dieses Jahr damit begnügen, das
Erreichte zu sichern.
Noch immer warteten die
Telegrafisten an den Posten, die Cestius Gall vorbereitet hatte,
auf die Nachricht, Jerusalem sei gefallen. Vespasian zog die Posten
zurück.
DRITTES
BUCH
CÄSAREA
osef wurde in
der näheren Umgebung Vespasians einfach, aber nicht schlecht
gehalten. Der Feldherr hörte
ihn als
Ratgeber in Dingen, die jüdische Gebräuche und persönliche
Verhältnisse einzelner Juden anlangten, er hatte ihn gern um sich.
Aber er zeigte, daß er seinen Angaben nie ganz traute, ließ sie oft
nachprüfen, hänselte und demütigte ihn zuweilen empfindlich. Josef
nahm Hohn und Demütigung mit schmiegsamer Bescheidenheit hin und
machte sich auf jede Art nützlich. Er stilisierte die Erlasse des
Feldherrn an die jüdische Bevölkerung, fungierte als
Sachverständiger bei Streitigkeiten zwischen der Besatzungsbehörde
und den jüdischen Autoritäten, bald wurde seine Tätigkeit
unentbehrlich.
Den Juden Galiläas galt Josef,
trotzdem er sich nach Kräften um sie mühte, als feiger Überläufer.
In Jerusalem gar mußten sie ihn auf den Tod hassen. Es drangen zwar
nur vage Nachrichten aus der Hauptstadt in das von den Römern
besetzte Gebiet; aber so viel war gewiß: die Makkabi-Leute waren
dort die unumschränkten Herren geworden, sie hatten eine
Schreckensherrschaft aufgerichtet und bewirkt, daß der Große Bann
über Josef verhängt wurde. Unter Posaunenstößen war verkündet
worden: »Verflucht, zerschmettert, gebannt sei Josef Ben Matthias,
früher Priester der Ersten Reihe aus Jerusalem. Niemand pflege
Umgang mit ihm. Niemand rette ihn aus Feuer, Einsturz, Wasser, aus
irgend etwas, was ihn vernichten kann. Jeder weise seine Hilfe
zurück. Seine Bücher seien als die eines falschen Propheten
geächtet, seine Kinder als Bastarde. An ihn denke jeder, wenn die
zwölfte, die Fluchbitte, aus den Achtzehn Bitten gesprochen wird,
und wenn er des Weges kommt, dann halte jeder sieben Schritte
Abstand von ihm wie vor einem Aussätzigen.«
Auf besonders eindrucksvolle Art
bezeigte die Gemeinde Meron in Obergaliläa ihren Abscheu vor Josef,
trotzdem sie in dem von den Römern besetzten Gebiet lag und solches
Tun nicht ungefährlich war. Hier in Meron hatte einmal einer
gerufen: »Dieser ist es«, und die Leute von Meron hatten die
Hufspuren des Pferdes Pfeil mit Kupfer ausgießen lassen und die
Stätte heiliggehalten. Jetzt legten sie ihre Hauptstraße über einen
Umweg, weil sie sie einmal zur Begrüßung Josefs mit Blumen und Laub
bestreut hatten. In feierlicher Zeremonie säten sie Gras aus über
das, was einmal ihre Hauptstraße gewesen war, auf daß Gras wachse
über den Weg, den der Verräter getreten hatte, und sein Andenken
vergessen werde.
Josef kniff die Lippen zusammen,
machte die Augen eng. Die Kränkung steifte nur sein Selbstgefühl.
Im Gefolge des Vespasian kam er nach Tiberias. Hier hatte er die
entscheidende Tat seines Lebens getan, durch diese Straßen war er
groß und glühend hingezogen, auf seinem Pferde Pfeil, der Held, der
Führer seines Landes. Er machte sich hart. Er trug seine Ketten mit
Stolz durch die Straßen von Tiberias, achtete nicht der Menschen,
die vor ihm ausspuckten, ihm voll Haß und Ekel in weitem Bogen
auswichen. Er schämte sich nicht des Schicksals, das ihn aus dem
Diktator Galiläas zum verächtlich gehätschelten Leibeigenen der
Römer gemacht hatte.
Vor einem aber hielt sein
künstlicher Stolz nicht stand, vor Justus und seiner blicklosen
Verachtung. Justus brach mitten im Satz ab, wenn Josef ins Zimmer
trat, kehrte peinlich das gelbbraune Gesicht weg. Josef wollte sich
rechtfertigen. Dieser Mann wußte soviel um das menschliche Herz, er
mußte ihn verstehen. Doch Justus ließ es nicht zu, daß Josef das
Wort an ihn richtete.
König Agrippa hatte sich daran
gemacht, seinen zerstörten Palast neu aufzurichten. Josef erfuhr,
daß Justus fast den ganzen Tag in den weitläufigen Bauanlagen
herumstrich. Immer wieder erstieg auch er den Hügel, auf dem der
neue Palast errichtet wurde, suchte eine Gelegenheit, den Justus zu
stellen. Endlich einmal fand er ihn allein. Es war ein klarer Tag
frühen Winters. Justus hockte auf dem Vorsprung einer Mauer, er
schaute hoch, als Josef zu sprechen anfing. Aber gleich zog er den
Mantel über den Kopf, als ob ihn friere, und Josef wußte nicht, ob
er ihn hörte. Er redete ihm zu, bat, beschwor, suchte sich ihm
klarzumachen. Ist nicht ein kraftvoller Irrtum besser als eine
schwächliche Wahrheit? Muß man nicht durch die Gefühle der
Makkabi-Leute durchgegangen sein, ehe man sie verwerfen
darf?
Allein Justus schwieg. Als Josef
zu Ende war, erhob er sich, hastig, ein wenig ungeschickt. Wortlos
an dem bittend Daste henden vorbei ging er, durch den starken
Geruch von Mörtel und frischem Holz, ging fort. Gedemütigt,
erbittert schaute Josef ihm nach, wie er ein wenig müde und mühsam
über die großen Steine kletterte, den nächsten Weg aus dem Neubau
hinaus.
Es gab in der Stadt Tiberias viele, die den
Justus nicht leiden mochten. Vernunft war in diesen Kriegsläuften
weder bei der einheimischen griechisch-römischen Bevölkerung Judäas
noch bei den Juden populär. Justus aber war vernünftig. Mit
leidenschaftlicher Vernunft hatte er, solange er Kommissar der
Stadt war, zwischen Juden und Nichtjuden vermittelt, um den Frieden
aufrechtzuerhalten. Ohne Glück. Die Juden fanden ihn zu griechisch,
die Griechen zu jüdisch. Die Griechen verübelten ihm, daß er nicht
schärfer gegen Sapita vorgegangen war und daß er die Zerstörung des
Palastes nicht verhindert hatte. Sie wußten, daß König Agrippa
seinen Sekretär in hohem Ansehen hielt, und sie hatten nach der
Wiedereinnahme der Stadt geschwiegen. Jetzt aber, durch die
Anwesenheit des römischen Marschalls ermutigt, reichten sie Klage
ein, der Jude Justus trage die Hauptschuld, daß der Aufruhr in
Galiläa und in ihrer Stadt sich so habe ausbreiten
können.
König Agrippa, in diesen
zweideutigen Zeiten doppelt beflissen, den Römern seine Ergebenheit
zu beweisen, wagte nicht, sich schützend vor seinen Beamten zu
stellen. Der Oberst Longin andernteils, der höchste Richter in der
Armee Vespasians, hatte sich’s zur Maxime gemacht, es sei besser,
einen Unschuldigen hinzurichten als einen Schuldigen
laufenzulassen. Die Sache sah also für Justus nicht gut aus. Justus
selber, voll Menschenverachtung, hochmütig, bitter, verteidigte
sich ohne Schwung. Mochte sein König ihn im Stich lassen. Er wußte,
wen die Schuld traf an allem Übel, das in Galiläa geschehen war.
Dem schillernden, oberflächlichen Burschen schlug alles, was er
tat, zum Glück aus. Mochten ihn jetzt die Römer hätscheln. Es ist
alles eitel. Justus war voll bis in die Poren seiner Haut von
bitterm Fatalismus.
Oberst Longin nahm aus Rücksicht
auf König Agrippa die Sache sehr gewissenhaft. Er lud den Josef als
Zeugen. Josef, als er nun das Schicksal des Justus in die Hand
bekam, wurde hin und her gerissen vom Zwiespalt. Justus hatte in
die Winkel seines Herzens gesehen, wo es am schmutzigsten war: nun
stand es bei ihm, ob dieser Mann für immer verschwinden sollte oder
nicht. Für alles und für jeden wußte dieser Justus eine zureichende
Erklärung, eine Entschuldigung. Für ihn nicht. Für ihn hatte er nur
Schweigen und Verachtung. Josef hatte viel Würde von sich abgetan,
er hatte Geduld gelernt, er ging in Ketten, aber Verachtung dringt
selbst durch den Panzer einer Schildkröte. Es war so einfach, den
Beleidiger für alle Zeiten verschwinden zu lassen. Josef brauchte
nicht einmal zu lügen, es genügte, wenn seine Aussage lau
war.
Seine Aussage war
leidenschaftlich und für Justus günstig. Mit heftiger Überzeugung
und mit guten Gründen tat er dar, niemand habe je konsequenter die
Sache des Friedens und der Römer vertreten als dieser Doktor
Justus. Und die ihn verklagten, seien Lügner oder Narren.
Oberst Longin unterbreitete die
Aussage dem Feldherrn. Vespasian schnaufte. Er beobachtete seinen
Gefangenen gut und witterte wohl, daß Dinge sehr persönlicher Art
zwischen den beiden waren. Aber bis jetzt war er seinem klugen
Juden auf keine einzige falsche Angabe gekommen. Im übrigen war
dieser Doktor Justus ein typischer Literat und Philosoph und somit
ungefährlich. Der Marschall schlug die Untersuchung nieder, stellte
den Doktor Justus zur Verfügung seines Herrn, des Königs
Agrippa.
König Agrippa war vor seinem
vielgeprüften Sekretär höflich und schuldbewußt. Justus sah
deutlich, wie unbequem er ihm war. Er grinste, er kannte die
Menschen. Er erbot sich, für seinen Herrn nach Jerusalem zu gehen,
dort die Rechte Agrippas wahrzunehmen, während des Winters, da die
militärischen Handlungen stockten, für den Frieden zu wirken. Das
war, da jetzt die »Rächer Israels« in Jerusalem schrankenlos
herrschten, ein ebenso aussichtsloses wie gefährliches Unternehmen.
Niemand erwartete, der Sekretär des Königs werde lebend
zurückkommen. Justus reiste mit gefälschten Pässen. Josef stand an
seinem Weg, als er aufbrach. Justus fuhr an ihm vorbei, blicklos
wie bisher, schweigend.
In Cäsarea bei der großen Spätsommermesse sah
Josef den Glasbläser Alexas aus Jerusalem, den Sohn des Nachum.
Josef glaubte, er werde einen Bogen um ihn machen wie die meisten
Juden. Aber siehe, Alexas kam auf ihn zu, er begrüßte ihn. Josefs
Kette und der Große Bann hielten ihn nicht ab, mit ihm zu
sprechen.
Alexas ging neben Josef her,
stattlich und beleibt wie immer, aber seine Augen waren noch trüber
und bekümmerter. Er hatte sich nur mit Gefahr aus Jerusalem
fortstehlen können; denn die Makkabi-Leute verhinderten mit den
Waffen, daß irgendwer die Stadt verlasse und sich in die Gewalt der
Römer begebe. Ja, es herrschte jetzt Wahnsinn und krasse Gewalt in
Jerusalem. Nachdem die »Rächer Israels« die Gemäßigten fast alle
beseitigt hatten, zerfleischten sie sich untereinander. Simon Bar
Giora bekämpfte den Eleasar, und Eleasar den Johann von Gischala,
und Johann wieder den Simon, und zusammen hielten sie nur gegen
eines: gegen die Vernunft. Wenn man es nüchtern ansah, dann stand
die Gefahr dieser Reise nach Cäsarea in keinem rechten Verhältnis
zum Gewinn. Denn er, Alexas, hatte die feste Absicht, wieder nach
Jerusalem zurückzukehren. Er nahm es auf sich, in dieser Stadt
weiterzuleben, die im Unsinn und im blinden Haß der MakkabiLeute
erstickte. Das war eine Torheit von ihm. Aber er liebte seinen
Vater und seine Brüder, er konnte nicht leben ohne sie, er wollte
sie nicht im Stich lassen. Allein in den letzten Tagen hatte er die
Tollheit der Stadt nicht mehr ertragen können. Einmal wieder mußte
er freiere Luft atmen, mußte mit seinen eigenen Augen sehen, daß es
noch eine vernünftigere Welt gab.
Es war ja eigentlich verboten,
hier mit Josef zusammenzustehen und zu schwatzen, und wenn man es
in Jerusalem hört, dann werden es die Makkabi-Leute ihn entgelten
lassen. Josef trägt ja auch ein gerüttelt Maß Schuld daran, daß die
Dinge so gekommen sind. Er hätte in Galiläa viel verhüten können.
Aber Josef hat manches wiedergutgemacht. Er wenigstens, Alexas,
sieht es als ein großes Verdienst an, als einen Sieg der Vernunft,
daß Josef nicht mit den andern in Jotapat starb, sondern gebeugten
Hauptes zu den Römern überging. Besser ein lebendiger Hund denn ein
toter Löwe, zitierte er. In Jerusalem freilich denken sie anders,
fuhr er bitter fort, und er erzählte Josef, wie Jerusalem den Fall
der Festung Jotapat aufgenommen hatte. Zuerst war dort gemeldet
worden, Josef sei bei der Einnahme Jotapats mit umgekommen. Die
ganze Stadt habe teilgenommen an der wilden und großartigen
Trauerfeier für den Helden, der die Festung so unglaubhaft lange
gehalten hatte. Ausführlich berichtete Alexas, wie im Haus des
alten Matthias feierlich, in Gegenwart der Erzpriester und der
Mitglieder des Großen Rats, das Bett umgestürzt wurde, in dem Josef
geschlafen hatte. Sein eigener Vater dann, Nachum Ben Nachum, habe
im Auftrag der Bürgerschaft mit zerrissenem Gewand und Asche auf
dem Kopf dem alten Matthias in dem vorgeschriebenen
weidengeflochtenen Korb das Linsengericht der Trauer überbracht.
Und ganz Jerusalem war zugegen, als der alte Matthias zum erstenmal
das Kaddisch sprach, das Totengebet, jene drei Worte hinzufügend,
die nur gesagt werden durften, wenn ein Großer in Israel gestorben
war.
»Und dann?« fragte
Josef.
Alexas lächelte sein fatales
Lächeln. Dann freilich, erzählte er, als man erfuhr, Josef lebe und
habe sich der Gnade der Römer übergeben, sei der Umschwung um so
heftiger gewesen. Des Josef Jugendfreund, Doktor Amram, war es, der
die Bannung beantragt hatte, und nur ganz wenige von den Herren des
Großen Rats hatten gewagt, sich dagegen auszusprechen, unter ihnen
allerdings der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai. Die Hallen des
Tempels, als von den Stufen zum Heiligen Raum Verfluchung und Bann
gegen Josef verkündet wurde, waren so voll wie am Passahfest.
»Lassen Sie es sich nicht anfechten«, sagte er zu Josef und grinste
ihn herzlich an, wobei seine weißen Zähne groß und gesund aus
seinem viereckigen schwarzen Bart herauskamen. »Wer sich zur
Vernunft bekennt, muß leiden.«
Er trennte sich von Josef.
Stattlich, beleibt, das frischfarbige Gesicht bekümmert, schritt er
zwischen den Buden hin. Später sah Josef, wie er bei einem Händler
pulverisierten Quarz erstand und wie er zärtlich mit der Hand über
den feinen Staub strich; er hatte das kostbare Material seiner
geliebten
Kunst wohl lange entbehren müssen.
Josef dachte oft an diese
Unterredung, mit geteilten Empfindungen. Schon in Jerusalem war er
der Meinung gewesen, Alexas sei klarer von Urteil als sein Vater
Nachum, aber sein, Josefs, Herz war mit dem törichten Nachum
gewesen und gegen den klugen Alexas. Nun standen alle gegen ihn,
und nur der kluge Alexas war für ihn. Seine Kette, an die er sich
gewöhnt zu haben glaubte, drückte, scheuerte. Sicher hatte der
Prediger recht, besser ein lebendiger Hund denn ein toter Löwe.
Aber manchmal wünschte er, er wäre in Jotapat mit den andern
umgekommen.
Marcus Licinius Crassus Mucianus,
Generalgouverneur von Syrien, lief nervös durch die weiten Räume
seines Palais in Antiochia. Er war überzeugt gewesen, diesmal werde
Vespasian keine Ausrede mehr finden, den Feldzug länger
hinzuzögern. Nachdem der Terror der »Rächer Israels« die Gemäßigten
in Jerusalem ausgemerzt hatte, wüteten die Meuterer unter sich.
Bürgerkrieg war in Jerusalem, die Nachrichten waren klar und
zuverlässig. Es war sinnlos, diese Chance ungenützt vorbeigehen zu
lassen. Jetzt endlich mußte Vespasian vor die Stadt rücken, sie
nehmen, den Krieg beenden. Mit brennen-der Spannung hatte Mucian
den Bericht über den Kriegsrat erwartet, der jetzt zu Winterende
die Richtlinien für die Frühjahrskampagne festlegen sollte. Nun lag
er vor ihm, der Bericht. Die weitaus meisten Herren des Kriegsrats,
selbst der Sohn des Vespasian, der junge General Titus, waren der
Meinung gewesen, man müsse unverzüglich gegen Jerusalem
marschieren. Aber der Spediteur, der unverschämte, plumpe
Pferdeäpfelbauer, hatte einen neuen Dreh gefunden. Der innere Zwist
der Juden, hatte er ausgeführt, werde die Stadt in absehbarer Zeit
reif machen, mit sehr viel weniger Opfern genommen zu werden als
jetzt. Jetzt vor Jerusalem zu marschieren hieße das Blut guter
römischer Legionäre verschwenden, das man sparen könne. Er sei
dafür, zuzuwarten, vornächst den bisher nicht besetzten Süden zu
okkupieren. Er war schlau, dieser Vespasian. So filzig er war, mit
Ausreden war er nicht filzig. Der würde sein Kommando nicht so bald
abgeben.
Der schmächtige Mucian, den Stock
hinterm Rücken, den hagern Kopf schräg vorgestreckt, lief wütend
hin und her. Er war nicht mehr jung, er hatte die Fünfzig hinter
sich, ein Leben voll von herrlichen, nie bereuten Lastern, voll von
Studien über die nie erschöpfte Fülle der Merkwürdigkeiten der
Natur, ein Leben voll von Macht und Absturz, von Reichtum und
Niederbruch. Nun, gerade noch im Besitz seiner ganzen Kraft, war er
Herr in diesem tief erregenden, uralten Asien geworden, und er
kochte vor Wut, daß der abgefeimte junge Kaiser ihn den großartigen
Bissen gerade mit diesem widerwärtigen Bauern teilen hieß. Fast ein
ganzes Jahr hatte er den verschmitzten Spediteur als
Gleichgestellten neben sich dulden müssen. Aber jetzt war es genug.
Er durchschaute natürlich die Absichten des Marschalls ebensogut
wie die des Kaisers. Der Bursche durfte ihm nicht länger im Weg
stehen. Er mußte fort aus seinem Asien, er mußte, mußte! mit diesem
läppischen Judenkrieg endlich Schluß machen.
In Eile und großem Zorn diktierte
Mucian ein ganzes Bündel von Briefen, an den Kaiser, an die
Minister, an befreundete Senatoren. Es sei unverständlich, warum
der Feldherr auch zu Beginn dieses Sommers nach soviel
Vorbereitungen und nachdem der Gegner durch innere Zwistigkeiten
geschwächt sei, die Stadt Jerusalem noch immer nicht für sturmreif
halte. Er wolle nicht bittere Meditationen darüber anstellen, wie
sehr diese wenig energische Kriegführung die Pläne des
Alexanderzugs gefährdet habe. Aber so viel sei gewiß, daß, wenn die
Strategie des Zögerns fortgesetzt werde, das Prestige des Kaisers,
des Senats und der Armee im ganzen Osten auf dem Spiel
stehe.
Der Zeitpunkt, zu dem diese
Briefe in Rom eintrafen, war für die Absichten des Mucian recht
ungünstig. Die Westprovinzen hatten nämlich soeben viel wichtigere
und unangenehmere Dinge gemeldet. Der Gouverneur von Lyon, ein
gewisser Vindex, meuterte, er schien die Sympathien ganz Galliens
und Spaniens zu haben. Die Depeschen klangen bedenklich. Wirkliche,
volle Anteilnahme fand unter diesen Umständen der Bericht des
Mucian nur an einer einzigen Stelle, bei dem Minister Talaß. Der
alte Herr hielt es für einen ihm persönlich angetanen Tort des
Generals Vespasian, daß der die Zerstörung Jerusalems so lange
hinauszögerte. Er antwortete dem Mucian verständnisvoll, von ganzem
Herzen zustimmend.
Der Generalgouverneur, diese
Antwort in Händen, beschloß, den Spediteur selber zu stellen, fuhr
ins Hauptquartier Vespasians nach Cäsarea.
Der Marschall empfing ihn
schmunzelnd, sichtlich erfreut. Man lag bei Tische, zu dreien,
Vespasian, Titus, Mucian, unter herzlichen Gesprächen. Langsam,
beim Nachtisch, glitt man ins Politische. Mucian betonte, wie fern
es ihm liege, sich in die Dinge des andern zu mengen; es sei Rom,
es seien die römischen Minister, die auf Beendigung des Feldzugs
drängten. Er für sein Teil begreife durchaus die Motive des
Marschalls, aber anderseits erscheine ihm der Wunsch Roms so
wichtig, daß er bereit sei, aus seinen eigenen syrischen Legionen
Truppen abzugeben, falls nur Vespasian vor Jerusalem rücke. Der
junge General Titus, begierig, seine soldatischen Qualitäten
endlich zu zeigen, pflichtete stürmisch bei: »Tu es, Vater, tu es!
Meine Offiziere brennen darauf, die ganze Armee brennt darauf,
Jerusalem niederzuschlagen.«
Vespasian sah mit Vergnügen, wie
in dem gescheiten, von Lüsten, Geldgier und Ehrgeiz verwüsteten
Gesicht des Mucian ein großes Gefallen an seinem Sohn Titus
aufstieg, gemischt aus ehrlicher Sympathie und Begierde. Der
Marschall schmunzelte. Er hatte dem Sohn, sosehr er an ihm hing,
von seinen wirklichen Motiven nichts gesagt. Im Innern war er
überzeugt, der Junge wußte so gut darum wie dieser schlaue Mucian
oder sein Jude Josef; aber er freute sich, daß Titus so stürmisch
loslegte. Um so leichter fiel es ihm
selber, seine persönlichen Argumente durch sachliche zu
verdecken.
Später, als er mit Mucian allein
war, zog dieser den Brief des Ministers Talaß heraus. Vespasian
bekam geradezu Respekt vor seiner Zähigkeit. Der Mensch war
ekelhaft, aber gescheit: man konnte offen mit ihm reden. Vespasian
also winkte ab: »Lassen Sie nur, Exzellenz. Ich weiß, Sie wollen
mir jetzt die Meinung irgendeines einflußreichen Kackers aus Rom
versetzen, der Ihnen versichert, Rom gehe zugrunde, wenn ich nicht
augenblicklich vor Jerusalem rücke.« Er schob sich näher an Mucian
heran, blies ihm seinen starken Atem ins Gesicht, daß Mucians ganze
Höflichkeit dazu gehörte, nicht zurückzuweichen, und sagte
gemütlich: »Und wenn Sie mir noch zehn solcher Briefe zeigen,
Verehrter, ich denke gar nicht daran.« Er richtete sich hoch,
strich ächzend seinen gichtischen Arm, rückte ganz dicht neben den
andern, sagte vertraulich: »Hören Sie einmal, Mucian, wir haben uns
doch beide alle acht Winde um die Nase wehen lassen, wir brauchen
einander nichts vorzumachen. Mir wird der Wein sauer, wenn ich Sie
anschauen muß mit Ihrem zuckenden Gesicht und Ihrem Stock hinterm
Rücken, und Sie werden seekrank, wenn Sie meinen lauten Atem hören
und meine Haut riechen. Stimmt’s?« Mucian erwiderte verbindlich:
»Bitte, fahren Sie fort.« Vespasian fuhr fort: »Nun sind wir aber
einmal leider an die gleiche Deichsel gespannt. Es war ein verdammt
schlauer Einfall der Majestät. Nur: sollten wir nicht ebenso schlau
sein? Ein Dromedar und ein Büffel kommen schlecht miteinander aus
an der gleichen Deichsel, Griechen und Juden kann man mit Erfolg
gegeneinander ausspielen: aber zwei alte Eingeweide-Beschauer wie
wir, was meinen Sie?« Mucian zwinkerte heftig und nervös. »Ich
folge aufmerksam Ihren Gedankengängen, Konsul Vespasian«, sagte er.
»Haben Sie Nachrichten aus dem Westen?« fragte jetzt unumwunden
Vespasian, und seine hellen Augen ließen den andern nicht los. »Aus
Gallien, meinen Sie?« fragte Mucian zurück. »Ich sehe, Sie sind im
Bilde«, schmunzelte Vespasian. »Sie brauchen mir den Brief Ihres
römischen Hintermannes wirklich nicht zu versetzen. Rom hat jetzt
andere Sorgen.«
»Mit Ihren drei Legionen können
Sie wenig ausrichten«, sagte unbehaglich Mucian. Er hatte den Stock
beiseite gelegt, wischte sich mit dem Rücken der kleinen,
gepflegten Hand den Schweiß von der Oberlippe. »Richtig«,
konstatierte gemütlich Vespasian. »Darum schlage ich Ihnen ein
Abkommen vor. Ihre vier syrischen Legionen sind miserabel, aber
zusammen mit meinen drei guten sind es immerhin sieben. Halten wir
unsere sieben Legionen zusammen, bis man im Westen klarer sieht.«
Und da Mucian schwieg, redete er ihm vernünftig zu: »Bevor es im
Westen klar wird, werden Sie mich doch nicht los. Seien Sie
gescheit.« – »Ich danke Ihnen für Ihre offenen und konsequenten
Darlegungen«, erwiderte Mucian.
Es waren angeblich seine
wissenschaftlichen Interessen, die den Mucian in den nächsten
Wochen in Judäa festhielten; denn er arbeitete an einem großen
Werk, einer Darstellung der Geographie und Ethnographie des
Imperiums, und Judäa stak voller Merkwürdigkeiten. Der junge Titus
begleitete den Gouverneur auf seinen Exkursionen, sehr beflissen;
oft stenographierte er mit, was die Eingeborenen zu erzählen
hatten. Da war die Quelle von Jericho, die vor Zeiten nicht nur die
Erd- und Baumfrüchte, sondern auch die Leibesfrucht der Weiber
vernichtet und überhaupt allem Lebendigen Tod und Verderben
gebracht hatte, bis sie ein gewisser Prophet Elysseus durch
Gottesfurcht und Priesterkunst entsühnte, so daß sie jetzt das
Gegenteil bewirkte. Auch den Asphaltsee besichtigte Mucian, das
Tote Meer, das selbst die schwersten Gegenstände trägt und sie
sogleich wieder hochspült, wenn man sie mit Gewalt hineintaucht.
Mucian ließ sich das vorführen, ließ Personen, die des Schwimmens
unkundig waren, mit auf dem Rücken gebundenen Händen in die Tiefe
werfen und schaute mit Interesse zu, wie sie auf der Oberfläche
herumtrieben. Dann bereiste er die sodomitischen Gefilde, suchte
die Spuren des vom Himmel gesandten Feuers, sah im See die
schattenhaften Umrisse von fünf untergegangenen Städten, pflückte
Früchte, an Farbe und Gestalt eßbaren ähnlich, die aber noch
während des Pflückens zu Staub und Asche zerplatzten.
Er stellte Fragen über alles, er
war sehr wißbegierig, notierte und ließ notieren. Eines Tages fand
er solche Notizen niedergeschrieben in seiner eigenen Handschrift,
trotzdem er genau wußte, er hatte diese Notizen nicht gemacht. Es
stellte sich heraus, daß sie von Titus stammten. Ja, der junge Herr
hatte die Fähigkeit, sich rasch und so tief in die Handschrift
anderer einzuleben, daß diese andern seine Nachahmung von ihrer
eigenen Schrift nicht unterscheiden konnten. Mucian, nachdenklich,
bat den Titus, ihm einige Zeilen in der Schrift seines Vaters zu
schreiben. Titus tat es, und es war wirklich unmöglich, diese
Zeilen als Nachahmung zu erkennen. Aber das Merkwürdigste, was
Mucian in diesen judäischen Wochen sah und erlebte, blieb der
kriegsgefangene gelehrte General Josef Ben Matthias. Schon am
ersten Tag in Cäsarea war dem Gouverneur der gefangene Jude
aufgefallen, wie er bescheiden und dennoch überaus sichtbar mit
seiner Kette in den Straßen Cäsareas herumlief. Vespasian hatte
seine Fragen sonderbar beiläufig weggewischt. Aber er konnte nicht
verhindern, daß sich der neugierige Mucian trotzdem eingehend mit
diesem Priester Josef unterhielt. Er tat das oft; er merkte bald,
daß Vespasian seinen Gefangenen als eine Art Orakel verwandte, nach
dessen Aussprüchen er sich in Zweifelsfällen richtete, ohne
natürlich den Gefangenen diese seine Bedeutung merken zu lassen.
Den Mucian beschäftigte das; denn er hielt den Marschall für einen
wassernüchternen Rationalisten. Er sprach mit Josef über alle
möglichen Dinge zwischen Himmel und Erde und staunte immer wieder,
wie seltsam östliche Weisheit das griechische Weltwissen des Juden
veränderte. Er kannte Priester aller Art, Priester des Mithras und
des Aumu, barbarische Priester der englischen Sulis und der
deutschen Rosmerta: dieser Priester des Jahve, so wenig er sich
äußerlich von einem Römer unterschied, lockte ihn mehr als die
andern.
Bei alledem versäumte er nicht,
seine Beziehungen zu dem Marschall nach Möglichkeit zu klären.
Vespasian hatte recht: solange nicht im Westen und in Rom helle
Sicht geschaffen war, hatten die beiden Herren des Ostens, der
Gouverneur von Syrien und der Oberstkommandierende in Judäa, die
genau gleichen Interessen. Vespasian, mit seiner rüden Offenheit,
legte fest, wie weit diese Interessengemeinschaft sich in der
Praxis auswirken sollte. Keiner wird ohne Zustimmung des andern
wichtige politische oder militärische Handlungen vornehmen; in
ihren offiziellen Berichten nach Rom aber werden sie wie bisher
gegeneinander intrigieren, jetzt freilich auf eine genau
vereinbarte Art.
Der nicht sehr freigebige
Vespasian hatte Angst, was der verschwenderische und habgierige
Gouverneur sich als Gastgeschenk für die Rückreise ausbitten würde.
Mucian verlangte ein einziges: den kriegsgefangenen Juden Josef.
Der Marschall, zuerst überrascht von soviel Bescheidenheit, wollte
schon ja sagen. Aber dann überlegte er sich’s anders; nein, er gab
seinen Juden nicht weg. »Sie wissen doch«, lachte er gemütlich zu
Mucian, »der Spediteur ist geizig.«
So viel wenigstens erreichte der
Gouverneur, daß Vespasian ihm den Titus auf einige Zeit zu Besuch
nach Antiochia mitgab. Der Marschall hatte sogleich durchschaut,
daß Titus eine Art Geisel dafür sein sollte, daß Vespasian die
getroffenen Vereinbarungen auch einhalte. Aber das kränkte ihn
nicht. Er gab Mucian das Geleite bis zum Schiff nach Antiochia.
Mucian, sich verabschiedend, sagte in seiner höflichen Art: »Ihr
Sohn Titus, Konsul Vespasian, hat alle Ihre guten Eigenschaften
ohne Ihre schlechten.« Vespasian schnaufte stark, dann erwiderte
er: »Sie haben leider keinen Titus, Exzellenz.«
Vespasian besichtigte in den Docks von
Cäsarea die Kriegsgefangenen, die versteigert werden sollten. Der
Hauptmann Fronto, dem das Depot unterstand, hatte eine flüchtige
Liste der Gefangenen anfertigen lassen, es waren an dreitausend.
Jeder trug ein Täfelchen um den Hals, auf dem seine Nummer sowie
Alter, Gewicht, Krankheiten, auch allenfallsige besondere
Fähigkeiten vermerkt waren. Die Händler gingen herum, hießen die
Gefangenen aufstehen, niederhocken, die Glieder heben, öffneten
ihnen den Mund, betasteten sie. Die Händler mäkelten; es war keine
gute Ware, das wird morgen eine ziemlich magere Auktion
werden.
Vespasian hatte einige Offiziere
mit, auch Cänis, dazu seinen Juden Josef, den er benötigte, um sich
mit den Gefangenen besser zu verständigen. Er hatte aus der Beute
Anspruch auf zehn Leibeigene, die er sich aussuchen wollte, bevor
die gesamte Ware auf den Markt gebracht wurde. Cänis benötigte eine
Friseuse und einen gut aussehenden Jungen, der bei Tisch aufwarten
konnte. Der praktische Vespasian hingegen wollte sich ein paar
kräftige Burschen herausholen, um sie auf seinen italienischen
Besitzungen als Landarbeiter zu verwenden.
Er war guter Laune, machte Witze
über die jüdischen Leibeigenen. »Sie sind verdammt schwierig mit
ihren Sabbaten, Festtagen, verzwickten Speisevorschriften und dem
ganzen Kram. Duldet man es, daß sie ihre sogenannten religiösen
Vorschriften ausführen, dann muß man zusehen, wie sie ihr halbes
Leben faulenzen; duldet man’s nicht, dann werden sie störrisch.
Eigentlich sind sie nur dazu gut, daß man sie an die andern Juden
zurückverkauft. Ich habe mich gefragt«, wandte er sich plötzlich an
Josef, »ob ich Sie nicht an Ihre Landsleute zurückverkaufen soll.
Aber sie haben miserable Preise geboten, sie haben offenbar
Überfluß an Propheten.«
Josef lächelte still und
bescheiden. Innerlich lächelte er keineswegs. Aus Gesprächsbrocken,
die er aufgeschnappt hatte, folgerte er, daß die Dame Cänis, die
ihn nun einmal nicht leiden mochte, hinterm Rücken Vespasians
versucht hatte, ihn an den Generalgouverneur Mucian
weiterzuverkaufen. Der höfliche, literarisch interessierte Mucian
hätte sich bestimmt keine so derben Witze mit ihm erlaubt wie der
Marschall. Aber Josef fühlte sich nun einmal diesem Vespasian
verbunden. Gott hatte ihn an diesen geschmiedet, hier war seine
große Chance. Sein Lächeln, als Vespasian spaßte, ob er ihn
verkaufen solle, war dünn, ein wenig verzerrt.
Man geriet an einen Haufen
Weiber. Man hatte ihnen gerade zu essen gegeben; gierig und dennoch
sonderbar stumpf schlangen sie ihre Linsensuppe, kauten sie ihr
Johannisbrot. Es war der erste ganz heiße Tag, Schwüle und Gestank
war ringsum. Den älteren Weibern, die nur mehr zur Arbeit zu
brauchen waren, hatte man ihre Kleider gelassen, die jüngeren waren
nackt. Ein ganz junges Mädchen war darunter, schlank und doch nicht
mager. Sie aß nicht, sie kauerte mit gekreuzten Beinen, die
Schultern eingezogen, mit den Händen hatte sie die Fußknöchel
umfaßt, sie neigte sich vor, um ihre Nacktheit zu verbergen. So
hockte sie, sehr scheu, und schaute aus großen Augen aufmerksam,
gehetzt, voll Vorwurf auf die Männer.
Dem Vespasian fiel das Mädchen
auf. Durch die Weiber auf sie zu trat er, hart schnaufend in der
Hitze. An den Schultern packte er die Kauernde, bog ihr die
Schultern auseinander. Verschreckt, gräßlich verängstigt, sah sie
zu ihm hoch. »Steh auf«, herrschte der Hauptmann Fronto sie an.
»Lassen Sie sie hocken«, sagte Vespasian. Er beugte sich nieder,
hob die Holztafel, die ihr auf der Brust hing, las laut: »Mara,
Tochter des Lakisch, Theaterdieners aus Cäsarea, vierzehn Jahre,
Jungfrau. Na ja«, sagte er und richtete sich ächzend wieder hoch.
»Wirst du aufstehen, Hündin«, zischelte ein Aufseher. Sie verstand
offenbar nicht vor Angst. »Ich glaube, du solltest aufstehen,
Mara«, sagte sanft Josef. »Laßt sie doch«, sagte halblaut
Vespasian.
»Wollen wir nicht weitergehen?«
fragte die Dame Cänis. »Oder willst du sie nehmen? Ich weiß nicht,
ob sie sich zur Kuhmagd eignet.« Die Dame Cänis hatte nichts
dagegen, daß Vespasian sich vergnügte, aber sie liebte es, selber
die Objekte dieser Vergnügungen auszusuchen. Das Mädchen war jetzt
aufgestanden. Eirund, zart und klar hob sich das Gesicht aus den
langen, sehr schwarzen Haaren, der Mund, vollippig, mit großen
Zähnen, sprang leicht vor. Hilflos, nackt, jung, erbärmlich stand
sie, den Kopf hin und her ruckend. »Fragen Sie sie, ob sie was
Besonderes kann«, wandte sich Vespasian an Josef. »Der große Herr
fragt, ob du eine besondere Kunst kannst«, sagte Josef freundlich
und behutsam zu dem Mädchen. Mara atmete heftig, in Stößen, sie sah
Josef aus ihren langen Augen dringlich an. Plötzlich legte sie die
Hand an die Stirn und verneigte sich tief, aber sie antwortete
nicht. »Wollen wir nicht weitergehen?« fragte die Dame Cänis. »Ich
glaube, du solltest uns antworten, Mara«, redete Josef dem Mädchen
gut zu. »Der große Herr fragt, ob du eine besondere Kunst kannst«,
wiederholte er geduldig. »Ich kann sehr viele Gebete auswendig«,
sagte Mara. Sie sprach schüchtern, ihre Stimme klang merkwürdig
dunkel, angenehm. »Was sagt sie?« erkundigte sich Vespasian. »Sie
kann beten«, gab Josef Auskunft. Die Herren lachten. Vespasian
lachte nicht. »Na ja«, sagte er. »Darf ich Ihnen das Mädchen
schicken?« fragte der Hauptmann Fronto. Vespasian zögerte. »Nein«,
antwortete er schließlich, »ich brauche Arbeiter für meine
Güter.«
Am Abend fragte Vespasian den
Josef: »Beten eure Frauen viel?« – »Unsere Frauen sind nicht
gehalten zu beten«, klärte Josef ihn auf. »Sie sind verpflichtet,
die Verbote zu halten, aber nicht die Gebote. Wir haben
dreihundertfünfundsechzig Gebote, soviel wie die Tage des Jahres,
und zweihundertachtundvierzig Verbote, soviel wie die Knochen des
Menschen.« – »Das ist reichlich«, meinte Vespasian.
»Glaubst du, daß sie wirklich
Jungfrau ist?« fragte er nach einer Weile. »Unkeuschheit der Frau
straft unser Gesetz mit dem Tod«, sagte Josef. »Das Gesetz«,
achselzuckte Vespasian. »Um Ihr Gesetz, Doktor Josef«, meinte er,
»kümmert sich vielleicht das Mädchen, aber bestimmt nicht meine
Soldaten. Ich muß sagen, ich habe allerhand zuwege gebracht, wenn
die auch in diesem Falle Disziplin gehalten haben sollten. Es sind
ihre großen Kuhaugen. Sie schauen aus, als ob alles mögliche
dahintersteckte. Wahrscheinlich steckt gar nichts dahinter, wie
immer in euerm Land. Alles pathetische Aufmachung, und wenn man
näher hinsieht, nichts dahinter. Wie ist das mit Ihrem Orakel, Herr
Prophet?« wurde er unvermutet bösartig. »Wenn ich Sie nach Rom
geschickt hätte, dann wären Sie vermutlich längst abgeurteilt und
könnten in einem sardinischen Bergwerk schuften, statt sich hier
mit netten Judenmädchen zu unterhalten.«
Josef kümmerten die Scherze des
Marschalls wenig. Er hatte seit geraumer Zeit gemerkt, daß nicht
nur er gebunden war. »Der Generalgouverneur Mucian«, erwiderte er
mit dreister Höflichkeit, »hätte den Preis für mindestens zwei
Dutzend Bergarbeiter bezahlt, wenn Sie mich ihm überlassen hätten.
Ich glaube nicht, daß es mir in Antiochia schlecht ginge.« – »Ich
habe dich sehr frech werden lassen, mein Jüdlein«, sagte Vespasian.
Josef wechselte den Ton. »Mein Leben wäre zerschlagen gewesen«,
sagte er heftig, demütig und überzeugt, »wenn Sie mich
fortgeschickt hätten. Glauben Sie mir, Konsul Vespasian. Sie sind
der Retter, und Jahve hat mich zu Ihnen geschickt, Ihnen das zu
sagen, immer wieder. Sie sind der Retter«, wiederholte er
hartnäckig, glühend und verbissen. Vespasian schaute spöttisch,
leicht ablehnend. Er konnte nicht verhindern, daß ihm die feurigen
Versicherungen des Menschen in sein altes Blut gingen. Es ärgerte
ihn, daß er immer wieder aus dem Juden solche Prophezeiungen
herauskitzelte. Er hatte sich an die geheimnisvolle,
zuversichtliche Stimme zu sehr gewöhnt, hatte sich zu fest mit dem
Juden verknüpft. »Wenn dein Gott sich nicht sehr beeilt, mein
Jüdlein«, hänselte er, »dann wird der Messias etwas wackelig
ausschauen, bis er endlich arriviert.« Josef, er wußte selbst
nicht, woher er die Sicherheit nahm, erwiderte still und
unerschütterlich: »Wenn sich nicht, ehe noch der Sommer auf seiner
Höhe ist, etwas ereignet, was Ihre Situation von Grund auf ändert,
Konsul Vespasian, dann, bitte, verkaufen Sie mich nach
Antiochia.«
Vespasian schleckte diese Worte
mit Vergnügen. Aber er wollte es nicht zeigen und lenkte ab: »Euer
König David hat sich warme junge Mädchen ins Bett legen lassen. Er
war kein Kostverächter. Ich glaube, Kostverächter seid ihr alle
nicht. Wie ist das, mein Jüdlein, Sie können da wohl einiges
erzählen?« – »Bei uns sagt man«, erklärte Josef, »wenn ein Mann mit
einer Frau zusammen war, dann spricht Gott sieben Neumonde nicht
mehr aus ihm. Ich habe, solang ich an dem Makkabäerbuch schrieb,
keine Frau berührt. Ich habe, seitdem ich das Oberkommando in
Galiläa bekam, keine Frau angerührt.« – »Es hat Ihnen aber wenig
geholfen«, meinte Vespasian.
Den Tag darauf ließ der Marschall
auf der Auktion das Mädchen Mara, Tochter des Lakisch, für sich
ersteigern. Am gleichen Abend wurde sie ihm zugeführt. Sie trug
noch den Kranz derer, die nach Kriegsrecht unter der Lanze
versteigert wurden, aber sie war auf Anordnung des Hauptmanns
Fronto gebadet, gesalbt und in ein Gewand von durchsichtigem,
koischem Flor gekleidet. Vespasian schaute sie aus seinen hellen,
harten Augen auf und ab. »Dummköpfe«, schimpfte er, »Fetthirne! Sie
haben sie zugerichtet wie eine spanische Hure. Für so was hätte ich
keine hundert Sesterzien gezahlt.« Das Mädchen begriff nicht, was
der alte Mann sagte. Es war soviel auf sie niedergegangen, jetzt
stand sie scheu und stumpf. Josef sprach in ihrem heimatlichen
Aramäisch auf sie ein, sanft, behutsam, sie antwortete zaghaft mit
ihrer dunkeln Stimme. Vespasian hörte dem fremdartigen, gurgelnden
Gespräch der beiden geduldig zu. Endlich erklärte ihm Josef: »Sie
schämt sich, weil sie nackt ist. Nacktheit ist eine arge Sünde bei
uns. Eine Frau darf sich nicht nackt zeigen, selbst wenn es ihr
nach Aussage des Arztes das Leben rettet.« – »Blöd«, konstatierte
Vespasian. Josef fuhr fort: »Mara bittet den Fürsten, daß er ihr
ein Kleid aus einem Stück geben lasse und
viereckig. Mara bittet den Fürsten, daß er ihr ein Netz für ihre
Haare geben lasse und parfümierte Sandalen für ihre Füße.« – »Mir
riecht sie gut genug«, meinte Vespasian. »Aber schön. Kann sie
haben.«
Er schickte sie fort, sie
brauchte heute nicht wiederzukommen. »Ich kann warten«, erklärte er
vertraulich dem Josef. »Ich habe warten gelernt. Ich hebe mir gute
Dinge gern eine Zeit auf, bevor ich sie genieße. Fürs Essen und
fürs Bett und in jeder Hinsicht. Ich habe ja auch einige Zeit
warten müssen, bis ich hier ans Amt gelangte.« Er rieb sich ächzend
den gichtischen Arm, wurde noch vertraulicher. »Findest du
eigentlich etwas daran an diesem Judenmädchen? Scheu ist sie, blöd
ist sie, sprechen mit ihr kann ich auch nicht. Das Ungeweckte ist
ja ganz nett, aber man kann hier, verdammt noch eins, hübschere
Frauen finden. Weiß der Himmel, was einem an so einem kleinen Tier
reizt.« Auch den Josef reizte das Mädchen Mara. Er kannte sie,
diese Frauen aus Galiläa, sie waren langsam, scheu, wohl auch
traurig, aber wenn sie sich auftaten, üppig und reich. »Sie sagte«,
erklärte er mit ungewohnter Offenheit dem Römer, »sie sei aufs
Johannisbrot gekommen. Sie hat wohl recht. Diese Mara, Tochter des
Lakisch, hat nicht viel Ursache, den Segensspruch zu sprechen, wenn
sie jetzt ihr neues, viereckiges Kleid bekommt.« Vespasian ärgerte
sich. »Sentimental, mein Jüdlein? Ihr fangt an, mir Ärgernis zu
geben. Ihr habt euch zu wichtig. Wenn man ein kleines Mädchen ins
Bett will, verlangt ihr Vorbereitungen wie für einen Feldzug. Ich
sag dir was, mein Prophet. Bring du ihr ein wenig Latein bei.
Sprich mit ihr morgen vormittag. Aber schmeck mir nicht vor, daß
dein Prophetentum keinen Schaden leidet.«
Am andern Tag wurde Mara zu Josef
gebracht. Sie trug das landesübliche viereckige Kleid aus einem Stück, dunkelbraun, rotgestreift. Der
Marschall hatte guten Instinkt gehabt. Die Reinheit ihres eirunden
Gesichts, die niedrige, schimmernde Stirn, die langen Augen, der
üppig vorspringende Mund wurden durch die schlichte Tracht viel
augenscheinlicher als durch die aufgeputzte Nacktheit.
Josef befragte sie behutsam. Ihr
Vater, ihre ganze Familie war umgekommen. Es war, glaubte das
Mädchen Mara, weil er sein Leben in Sünden verbracht hatte, und
auch an ihr, glaubte sie, würden seine Sünden gestraft. Lakisch Ben
Simon war als Diener am Theater von Cäsarea angestellt gewesen. Er
hatte, bevor er den Posten annahm, mehrere Priester und Doktoren
befragt, man hatte ihm, zögernd freilich, erlaubt, auf diese Art
sein Brot zu verdienen. Aber andere hatten gegen ihn um seiner
Tätigkeit willen fromm geeifert. Mara glaubte diesen Frommen, sie
hatte die Reden der Makkabi-Leute gehört, das Tagewerk ihres Vaters
war Sünde gewesen, sie war verworfen. Nun hat sie nackt gestanden
vor den Unbeschnittenen, die Römer hatten sich an ihrer Nacktheit
ergötzt. Warum hat sie Jahve nicht vorher sterben lassen? Still
klagte sie mit ihrer dunkeln Stimme, demütig kamen die Worte aus
ihrem üppigen Mund, jung, süß und reif saß sie vor Josef. Ihr
Weinberg blüht, dachte er. Er spürte plötzlich ein großes
Verlangen, die Knie wurden ihm schwach, es war wie damals, als er
in der Höhle von Jotapat lag. Er sah das Mädchen an, sie wandte
ihre langen, dringlichen Augen nicht ab von seinem Blick, ihr Mund
öffnete sich halb, ihr guter, frischer Atem kam herüber zu ihm, er
begehrte sie sehr. Sie fuhr fort: »Was soll ich tun, mein Doktor
und Herr? Es ist ein großer Trost, eine große Gnade, daß Gott mich
Ihre Stimme hören läßt.« Und sie lächelte.
Dies Lächeln machte, daß in Josef
eine wilde, grenzenlose Wut gegen den Römer aufstieg. Er riß an
seinen Fesseln, fügte sich, riß, fügte sich. Er mußte selber
mithelfen, diese da dem gefräßigen Römer hinzuwerfen, dem
Tier.
Mara erhob sich plötzlich. Immer
lächelnd, leichtfüßig, in den geflochtenen, parfümierten Sandalen,
ging sie auf und ab. »Am Sabbat habe ich immer parfümierte Sandalen
getragen. Es ist ein Verdienst und wird einem von Gott angerechnet,
wenn man sich am Sabbat gut anzieht. War es richtig, daß ich von
dem Römer parfümierte Sandalen verlangte?« Josef sagte: »Hör zu,
Mara, Tochter des Lakisch, Jungfrau, mein Mädchen«, und vorsichtig
suchte er ihr zu erklären, daß sie beide, er und sie, zum gleichen
Zweck von Gott zu diesem Römer geschickt seien. Er sprach mit ihr
von dem Mädchen Esther, das Gott zu dem König Ahasver gesandt habe,
um ihr Volk zu retten, und von dem Mädchen Irene vor dem König
Ptolemäus. »Es ist deine Aufgabe, Mara, daß du dem Römer gefällst.«
Aber Mara fürchtete sich. Der Unbeschnittene, der Frevler, der im
Tale Hinom gerichtet werden wird, der alte Mann, ihr ekelte, ihr
grauste. Josef, Wut im Herzen gegen sich und gegen den andern,
sprach ihr zu mit behutsamen, zärtlichen Worten, bereitete dies
Gericht für den Römer.
Vespasian, am andern Morgen,
schilderte derb und offen, wie es mit Mara gewesen war. Ein wenig
Angst und Scham waren ihm ganz recht; aber diese da hatte am ganzen
Leib gezittert, geradezu ohnmächtig war sie gewesen, hinterher war
sie eine lange Zeit starr und steif gelegen. Er sei ein alter Herr,
leicht rheumatisch, sie sei für ihn zu anstrengend. »Sie scheint«,
meinte er, »randvoll von abergläubischen Vorstellungen: wenn ich
sie anrühre, fressen sie die Dämonen oder dergleichen. Du mußt das
ja besser wissen, mein Jüdlein. Hör einmal, mach du sie mir zahm.
Willst du? Übrigens, was heißt auf aramäisch: sei zärtlich, mein
Mädchen, sei nicht dumm, meine Taube, oder so was?«
Mara, als Josef sie wiedersah,
war in Wahrheit starr und zugesperrt. Die Worte kamen mechanisch
aus ihrem Mund, sie war wie eine geschminkte Tote. Als Josef sich
ihr nähern wollte, wich sie zurück und schrie gleich einer
Aussätzigen hilflos und entsetzt: »Unrein! Unrein!«
Bevor der Sommer auf seiner Höhe war, kamen
große Nachrichten aus Rom. Der Aufstand im Westen war geglückt, der
Senat hatte den Kaiser abgesetzt, Nero, der fünfte Augustus, hatte
sich selber getötet, nicht unwürdig, seiner Umgebung ein großes
Schauspiel bietend. Herren der Welt jetzt waren die Führer der
Armeen. Vespasian lächelte. Er war ein unpathetischer Mann, aber er
reckte sich höher. Es war gut, daß er seiner innern Stimme gefolgt
war und den Feldzug nicht so rasch beendet hatte. Er hatte drei
starke Legionen jetzt, mit denen des Mucian sieben. Er packte Cänis
an den Schultern, er sagte: »Nero ist tot. Mein Jude ist kein
Dummkopf, Cänis.« Sie schauten sich an, ihre schweren Leiber
schaukelten hin und her, leise, gleichmäßig, beide lächelten.
Josef, als er die Nachricht vom
Tode des Kaisers Nero hörte, stand ganz langsam auf. Er war ein
noch junger Mann, einunddreißig Jahre war er alt, und er hatte mehr
Auf und Ab erlebt als gemeinhin ein Mensch mit einunddreißig
Jahren. Jetzt stand er, atmete, griff sich nach der Brust, den Mund
leicht offen. Er hatte vertraut darauf, daß Jahve in ihm sei, er
hatte ein sehr hohes Spiel gespielt, er hatte es nicht verloren.
Mühsam mit der gefesselten Hand setzte er den Priesterhut auf,
sprach den Segensspruch: »Gelobt seist du, Jahve, unser Gott, der
du uns hast erleben und erreichen und erlangen lassen diesen Tag.«
Dann, langsam, schwer, hob er den rechten Fuß, dann den linken, er
tanzte, so wie die großen Herren dem Volke vortanzten im Tempel
beim Feste des Wasserschöpfens. Er stampfte auf, die Kette klirrte,
er sprang, hüpfte, stampfte, versuchte in die Hände zu klatschen,
sich auf die Hüfte zu schlagen. Das Mädchen Mara kam in sein Zelt,
sie stand ungeheuer verblüfft, erschreckt. Er hörte nicht auf, er
tanzte weiter, er raste, er schrie: »Lache mich aus, Mara, Tochter
des Lakisch. Lache, wie die Feindin den Tänzer David verlachte. Hab
keine Angst. Es ist nicht Satan, der Erztänzer, es ist König David,
der tanzt, vor der Bundeslade.« So also feierte der Doktor und Herr
Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe, daß Gott seine
Prophezeiung nicht hatte zuschanden werden lassen.
Am Abend sagte Vespasian zu
Josef: »Sie können die Kette jetzt ablegen, Doktor Josef.« Josef
erwiderte: »Wenn Sie erlauben, Konsul Vespasian, werde ich die
Kette weiter tragen. Ich will sie tragen, bis der Kaiser Vespasian
sie mir zerhaut.« Vespasian grinste. »Sie sind ein kühner Mann,
mein Jude«, sagte er. Josef, wie er nach Hause ging, pfiff lautlos
vor sich hin, zwischen Lippen und Zähnen. Das tat er sehr selten,
nur wenn ihm besonders wohl zumute war. Es war aber das Couplet des
Leibeigenen Isidor, das er pfiff: »Wer ist der Herr hier? Wer zahlt
die Butter?«
Kuriere jagten von Antiochia nach Cäsarea, von
Cäsarea nach Antiochia. Eilbotschaften kamen von Italien, aus
Ägypten. Senat und Garde hatten den sehr alten General Galba zum
Kaiser ausgerufen, einen gichtbrüchigen, mürrischen, launischen
Herrn. Der wird nicht lange Kaiser bleiben. Wer der neue Kaiser
sein wird, bestimmen die Armeen, die Rheinarmee, die Donauarmee,
die Ostarmee. Der Generalgouverneur Ägyptens, Tiber Alexander,
schlug eine engere Verbindung vor zwischen sich und den beiden
Herren Asiens. Selbst der säuerliche Bruder Vespasians, der
Polizeipräsident Sabin, kam in Bewegung, meldete sich, machte
dunkle Angebote.
Es gab viel zu tun, und Vespasian
hatte keine Zeit, für das Mädchen Mara aramäische Studien zu
treiben. Donner und Jupiter! Die Nutte soll endlich lernen, auf
lateinisch zärtlich zu sein. Aber Mara lernte es nicht. Vielmehr
konnte man sie gerade noch verhindern, sich mit einem Haarpfeil zu
erstechen.
Soviel Unverständnis verdroß den
Feldherrn. Er fühlte sich dem jüdischen Gott auf eine dunkle Art
verpflichtet, er wollte nicht, daß das Mädchen ihn und den Gott
auseinanderbringe. Dem Josef traute er nicht in dieser
Angelegenheit; so versuchte er durch einen andern Mittler aus ihr
herauszulocken, was eigentlich sie so im Herzen kümmere. Er war
überrascht, als er es erfuhr. Dieses Stückchen Nichts war voll von
dem gleichen naiven Hochmut wie sein Jude. Vespasian schmunzelte
breit, ein bißchen boshaft. Er wußte, wie er sich, dem Mädchen und
Josef helfen wird.
»Ihr Juden«, erklärte er Josef
noch am gleichen Tag in Gegenwart der Dame Cänis, »seid wirklich
randvoll von frechem, barbarischem Aberglauben. Stellen Sie sich
vor, Doktor Josef, diese kleine Mara ist fest überzeugt, sie sei
unrein, weil ich sie ins Bett genommen habe. Verstehen Sie das?« –
»Ja«, sagte Josef. »Da sind Sie schlauer als ich«, meinte
Vespasian. »Gibt es ein Mittel, sie wieder rein zu machen?« –
»Nein«, gab Josef Bescheid. Vespasian trank von dem guten Weine von
Eschkol; dann erklärte er behaglich: »Aber sie weiß ein Mittel.
Wenn ein Jude sie heiratet, dann, versichert sie, werde sie wieder
rein.« – »Das ist kindisches Geschwätz«, erklärte Josef. »Das ist
kein schlechterer Aberglaube als der erste«, meinte konziliant
Vespasian. »Sie werden schwerlich«, sagte Josef, »einen Juden
finden, der sie heiratet. Das Gesetz verbietet es.« – »Ich werde
einen finden«, erwiderte gemütlich Vespasian. Josef schaute fragend
auf. »Dich, Jüdlein«, schmunzelte der Römer.
Josef erblaßte. Vespasian wies
ihn behaglich zurecht: »Sie sind unmanierlich, mein Prophet.
Wenigstens ›Danke schön!‹ könnten Sie sagen.« – »Ich bin Priester
der Ersten Reihe«, sagte Josef, seine Stimme klang heiser,
merkwürdig ausgelöscht. »Verdammt heikel sind diese Juden«, sagte
Vespasian zu Cänis. »Was unsereiner angerührt hat, schmeckt ihnen
nicht mehr. Dabei haben Kaiser Nero und ich selber abgelegte Frauen
geheiratet. Was, Cänis, alter Hafen?« – »Ich stamme ab von den
Hasmonäern«, sagte sehr leise Josef, »mein Geschlecht geht auf
König David zurück. Wenn ich diese Frau heirate, dann verliere ich
meine Priesterrechte für immer, und die Kinder aus solcher
Vereinigung sind illegitim, rechtlos. Ich bin Priester der Ersten
Reihe«, wiederholte er leise, beharrlich. »Du bist ein Haufen
Dreck«, sagte schlicht und abschließend Vespasian. »Wenn du ein
Kind kriegst, will ich es in zehn Jahren sehen. Dann wollen wir
untersuchen, ob es dein Sohn ist oder meiner.« – »Werden Sie sie
heiraten?« erkundigte sich interessiert die Dame Cänis. Josef
schwieg. »Ja oder nein?« fragte, unvermittelt heftig, Vespasian.
»Ich sage weder ja noch nein«, erwiderte Josef. »Gott, der bestimmt
hat, daß der Feldherr Kaiser sein soll, hat dem Feldherrn diesen
Wunsch eingegeben. Ich neige mich vor Gott.« Und er neigte sich
tief.
Josef schlief schlecht in den
folgenden Nächten; seine Kette scheuerte ihn. So hoch ihn das
Eintreffen seiner Prophezeiung erhoben hatte, so tief stürzte ihn
der freche Spaß des Römers. Er erinnerte sich der Lehren des
Essäers Banus in der Wüste. Fleischliche Begier vertrieb den Geist
Gottes; es war ihm selbstverständlich gewesen, daß er sich der
Weiber enthalten müsse, solange seine Prophezeiung nicht erfüllt
war. Das Mädchen Mara war seinem Herzen und seiner Haut
wohlgefällig, das mußte er jetzt bezahlen. Wenn er dieses Mädchen
heiratete, das durch Kriegsgefangenschaft und die Buhlerei mit dem
Römer zur Hure geworden war, dann war er verworfen vor Gott und
hatte die Strafe der öffentlichen Geißelung verwirkt. Er kannte
genau die Bestimmungen; hier gab es keine Ausnahme, kein Ausbiegen
und kein Deuteln. »Die Weinrebe soll sich nicht um den Dornstrauch
ranken«, das war die Grundstelle. Und zu dem Satze »Verflucht, der
bei einem Tiere schläft« sagt der authentische Kommentar der
Doktoren, daß der Priester, der sich mit einer Hure mischt, nicht
besser sei als der, der mit einem Tiere schläft.
Allein Josef schluckte das ganze
Gift hinunter. Hohes Spiel erfordert hohen Einsatz. Er ist mit
diesem Römer verknüpft, er wird die Schande auf sich
nehmen.
Vespasian wandte Zeit und
Intensität daran, den Spaß ganz auszukosten. Er ließ sich genau
über das umständliche, verzwickte jüdische Eherecht unterrichten,
auch über das Zeremoniell bei Verlobung und Hochzeit, das in
Galiläa anders war als in Judäa. Er sah darauf, daß alles streng
nach dem Ritus vor sich ging.
Der Ritus verlangte, daß an
Stelle des toten Vaters der Vormund über den Kaufpreis der Braut
mit dem Bräutigam verhandelte. Vespasian erklärte sich zum Vormund.
Es war Usus, daß der Bräutigam zweihundert Zuz zahlte, wenn die
Braut Jungfrau, hundert Zuz, wenn sie Witwe war. Vespasian ließ für
Mara, Tochter des Lakisch, hundertfünfzig Zuz als Kaufpreis in das
Dokument setzen und bestand darauf, daß Josef ihm persönlich eine
Schuldverschreibung über diesen Betrag ausstellte. Er berief
Doktoren und Studenten der Schulen von Tiberias, Magdala, Sepphoris
und sonstige Notabeln des besetzten Gebiets als Zeugen der
Hochzeit. Viele weigerten sich, bei dem Greuel mitzuwirken. Der
Feldherr legte ihnen Strafen, ihren Gemeinden Kontributionen
auf.
Die ganze Bevölkerung wurde durch
Herolde zur Teilnahme an dem Fest aufgefordert. Für den
Hochzeitszug mußte der kostbarste Brautstuhl von Tiberias
herbeigeschafft werden, wie das bei der Vermählung großer Herren
der Brauch war. An Stelle des Vaters sagte, als Mara auf dem
myrtenbekränzten Brautstuhl sein Haus verließ, Vespasian: »Gebe
Gott, daß du hierher nicht zurückkommst.« Dann wurde sie durch die
Stadt geführt, die vornehmsten Juden Galiläas, auch sie mit Myrten
geschmückt, trugen den Brautstuhl. Mädchen mit Fak keln gingen
voran, dazu Studenten, die Alabasterkrüge mit Wohlgerüchen
schwenkten. Wein und Öl wurde auf den Weg ausgeschüttet, Nüsse,
geröstete Ähren ausgeworfen. Gesang war ringsum: »Der Schminke, der
Salbe, des Heilkrauts bedarfst du nicht, du liebliche Gazelle.«
Tanz war auf allen Straßen; die sechzigjährige Matrone mußte zur
Sackpfeife springen genau wie das sechsjährige Mädchen, und selbst
die alten Doktoren mußten tanzen, Myrtenzweige in den Händen, denn
Vespasian wünschte sein Brautpaar nach altem Herkommen
geehrt.
So wurde Josef durch die Stadt
Cäsarea geführt, einen langen Weg, nicht weniger qualvoll als der
durch das römische Lager, als er das erstemal zu Vespasian gebracht
wurde. Dann endlich stand er mit Mara im Brautzelt, in der Chuppa.
Das Brautzelt war aus weißem, golddurchwirktem Linnen, von der
Decke hingen Weintrauben, Feigen und Oliven. Vespasian und eine
Reihe seiner Offiziere sowie die jüdischen Notabeln Galiläas waren
Zeugen, wie Josef das Mädchen Mara heiratete. Sie hörten es, wie er
deutlich und verbissen die Formel sprach, die verbrecherisch war in
seinem Munde: »Hiermit erkläre ich, du bist mir angetraut nach dem
Gesetz Mosis und Israels.« Der Boden stürzte nicht ein, als der
Priester diese ihm verbotenen Worte sprach. Die Früchte schaukelten
leicht von der Decke des Brautzelts. Ringsum sangen sie: »Meine
Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten, eine
verschlossene Quelle, ein versiegelter Brunnen.« Das Mädchen Mara
aber, schamlos und lieblich, hing ihre langen, dringlichen Augen an
das blasse Gesicht Josefs und gab den Vers zurück: »Mein Freund
komme in seinen Garten und esse von seinen guten Früchten.«
Vespasian ließ sich alles übersetzen, schmunzelte vergnügt. »Eines
möchte ich mir ausgebeten haben, mein Lieber«, sagte er zu Josef,
»daß du dich nicht zu rasch wieder aus dem Garten
verdrückst.«
Die Prinzessin Berenike, Tochter des ersten,
Schwester des zweiten Königs Agrippa, tauchte auf aus ihren
Meditationen in der Wüste, kehrte zurück nach Judäa.
Leidenschaftlich jedem Gefühl hingegeben, hatte sie, als die Römer
die Städte Galiläas verheerten, körperlich mitgelitten, war in die
südliche Wüste geflohen. Sie fieberte, wies angeekelt Speise und
Trank zurück, kasteite sich, ließ ihr Haar verfilzen, ihren Körper
von einem härenen Gewand zerkratzen, gab ihn der Mittagshitze und
dem nächtlichen Frost preis. So lebte sie Wochen, Monate, allein,
in heilloser Zerknirschung, niemand sah sie als die Einsiedler, die
essäischen Brüder und Schwestern.
Allein als das Gerücht von den
wüsten Dingen, die in Rom geschahen, vom Tode Neros und den Wirren
unter Galba auf unerklärliche Weise auch in die Wüste drang, warf
sich die Prinzessin mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie sich
in das grundlose Meer der Buße gestürzt hatte, in die Politik. Von
jeher schon schlugen ihre Neigungen jäh um; bald versank sie in den
heiligen Schriften, gebieterisch und wild Gott suchend, bald
richtete sie die ganze Kraft ihres kühnen und wendigen Geistes auf
die Wirrungen im Regiment des Reichs und der Provinzen.
Schon auf der Reise begann sie zu
arbeiten, zettelte, sandte und empfing unzählige Briefe, Depeschen.
Lange bevor sie Judäa wieder erreichte, war sie sich klar über die
Fäden, die vom Osten zum Westen liefen, über die Verteilung der
Macht im Reich, hatte Pläne entworfen, Stellung genommen. Viele
Faktoren waren gegeneinander abzuwägen: die Rheinarmee, die
Donauarmee, das Heer im Osten; der Senat, die reichen Herren in Rom
und in den Provinzen; Wesensart und Macht der Gouverneure von
England, Gallien, Spanien, Afrika, der leitenden Beamten in
Griechenland, am Schwarzen Meer; die geizige, mürrische, uralte
Person des Kaisers; die zahlreichen stillen und auch lauten
Kandidaten für die Nachfolge. Je mehr Verwirrung in der Welt, um so
besser. Schon haben diese Wirren bewirkt, daß Jerusalem und der
Tempel heil und unversehrt dastehen. Vielleicht glückt es, den
Schwerpunkt des Weltregiments wieder nach dem Osten zu rücken, so
daß die Welt nicht von Rom, sondern von Jerusalem aus geordnet
wird.
Die Prinzessin wägt ab, zählt,
sucht den Punkt, wo sie eingreifen kann. Im Osten, in ihrem Osten,
haben drei Männer die Macht: der Herr von Ägypten, Tiberius
Alexander; der Herr von Syrien, Mucian; der Feldmarschall von
Judäa, Vespa sian. Jetzt also ist sie nach seinem Hauptquartier
gekommen, um sich diesen Feldmarschall einmal anzuschauen. Sie ist
voll von Vorurteil gegen ihn. Man nennt ihn den Spediteur, den
Pferdeäpfelmann, er soll hinterhältig sein, ein verschlagener
Bauer, grob und plump, ihr Land Judäa jedenfalls hat er roh und
blutig angepackt. Sie verzieht angewidert die langen, starken
Lippen, wenn sie an ihn denkt. Man muß leider oft an ihn denken, er
ist sehr in Sicht gekommen, er hat Glück. Der ganze Osten ist voll
von Geraun über göttliche Vorzeichen und Prophezeiungen, die auf
ihn weisen.
Vespasian zögert unhöflich lange,
ehe er der Prinzessin seine Aufwartung macht. Auch er kommt voll
von Vorurteilen. Er hat von der preziösen Dame gehört, von ihren
modischen Launen, ihren überhitzten Liebschaften, den keineswegs
geschwisterlichen Beziehungen zu ihrem Bruder. Das snobistische,
verschnörkelte Gehabe dieser östlichen Dame ist ihm zuwider. Aber
es wäre Unsinn, sie sich ohne Not zur Feindin zu machen. Sie hat
zahlreiche Beziehungen zu Rom, sie gilt als sehr schön, sie ist
ungeheuer reich. Selbst ihre wilde Bauwut, sie und ihr Bruder haben
den ganzen Osten mit Palästen übersät, hat ihren Reichtum nicht
merklich angeknabbert.
Berenike hat sich zu seinem
Empfang ernsthaft und zeremoniös angezogen. Ihr großer, edler Kopf,
verbrannt noch von der Sonne, kommt königlich aus dem vielfaltigen
Gewand, das kurze, widerspenstige Haar ist ohne Schmuck, brokatne
Ärmel fallen über die schönen, langen, noch von der Wüste
zerschrundeten Hände. Schon nach wenigen einleitenden Worten
steuert sie auf ihr Ziel los: »Ich danke Ihnen, Konsul Vespasian,
daß Sie die Stadt Jerusalem so lange verschont haben.« Ihre Stimme
ist tief, voll, dunkel, aber immer ist ein kleines, nervöses
Zittern darin, auch klingt sie ein wenig gebrochen, belegt von
einer leisen, erregenden Heiserkeit. Kühl, aus seinen harten,
hellen Augen schaut Vespasian die Frau auf und ab, dann sagt er,
schnaufend, reserviert: »Ich habe offen gestanden nicht Ihr
Jerusalem, ich habe meine Soldaten geschont. Wenn Ihre Landsleute
so weitermachen, dann, hoffe ich, werde ich die Stadt ohne große
Opfer nehmen können.« Berenike erwidert höflich: »Bitte, sprechen
Sie weiter, Konsul Vespasian. Ihr sabinischer Dialekt ist angenehm
zu hören.« Sie selber spricht ein leichtes, völlig akzentfreies
Latein. »Ja«, sagt Vespasian gemütlich, »ich bin ein alter Bauer.
Das hat seine Vorteile, aber auch seine Nachteile. Für Sie, meine
ich.«
Die Prinzessin Berenike erhob
sich; leise federnd, mit ihrem berühmten Schritt, ging sie ganz
nahe an den Feldmarschall heran: »Warum sind Sie eigentlich so
kratzbürstig? Wahrscheinlich hat man Ihnen tolle Dinge über mich
erzählt. Sie sollten sie nicht glauben. Ich bin eine Jüdin, eine
Enkelin des Herodes und der Hasmonäer. Das ist eine etwas
schwierige Situation, während Ihre Legionen im Lande stehen.« –
»Ich kann es begreifen, Prinzessin Berenike«, erwiderte Vespasian,
»daß Sie sich in allerlei reizvolle Verwicklungen hineinträumen,
solange ein sehr alter Kaiser in Rom ist, der keinen Nachfolger
designiert hat. Ich würde es bedauern, wenn ich genötigt sein
sollte, Sie als Feindin zu betrachten.« – »Mein Bruder Agrippa ist
in Rom, um Kaiser Galba zu huldigen.« – »Mein Sohn Titus ist zum
gleichen Zweck nach Rom gefahren.« – »Ich weiß es«, sagte gelassen
Berenike. »Ihr Sohn huldigt dem Kaiser Galba, trotzdem Sie aus
aufgefangenen Briefen zuverlässig erfahren haben, daß dieser Kaiser
Sie durch gedungene Leute erledigen lassen wollte.« – »Wenn ein
sehr alter Herr«, erwiderte noch gelassener Vespasian, »auf einem
sehr wackeligen Thron sitzt, dann schlägt er ein wenig um sich, um
das Gleichgewicht zu halten. Das ist natürlich. Wenn wir beide
einmal so alt sind, werden wir es vermutlich genauso machen.
Wohinaus wollen Sie eigentlich, Prinzessin Berenike?« – »Wohinaus
wollen Sie, Konsul Vespasian?« – »Ihr Leute aus dem Osten wollt
immer erst den Preis des andern herauslocken.« Das belebte,
veränderliche Gesicht der Prinzessin strahlte plötzlich in einer
großen, kühnen Zuversicht. »Ich will«, sagte sie mit ihrer tiefen,
erregenden Stimme, »daß dieser uralte, heilige Osten seinen
gemessenen Anteil nimmt an der Herrschaft der Welt.« – »Das ist
etwas zu allgemein ausgedrückt für meinen sabinischen
Bauernschädel. Aber ich fürchte, wir wollen jeder so ziemlich das
Gegenteil. Ich will nämlich, daß die großzügige Schlamperei
aufhört, die vom Osten her in das Reich eingedrungen ist. Ich sehe,
daß die Orientpläne des Kaisers Nero und seine östlich betonte
Sinnesart dem Reich mehrere Milliarden Schulden gebracht hat. Damit
finde ich die uralte Heiligkeit etwas überbezahlt.« – »Wenn der
Kaiser Galba stirbt«, fragte Berenike geradezu, »wird dann die
Ostarmee nicht versuchen, auf die Ernennung des neuen Kaisers
einzuwirken?« – »Ich bin für Gesetz und Recht«, erklärte Vespasian.
»Das sind wir alle«, erwiderte Berenike, »aber die Meinungen, was
Gesetz und Recht ist, gehen manchmal auseinander.« – »Ich wäre
Ihnen wirklich dankbar, meine Dame, wenn Sie mir klar sagten, was
Sie eigentlich wollen.«
Berenike sammelte sich; ihr
Gesicht wurde ganz still. Mit einer leisen, wilden Innigkeit sagte
sie: »Ich will, daß der Tempel Jahves nicht zerstört
wird.«
Vespasian war hierhergesandt mit
dem Mandat, Judäa mit allen Mitteln, die ihm recht dünkten, zu
zähmen. Einen kleinen Augenblick hatte er Lust zu erwidern: Die
Erhaltung der Weltherrschaft erlaubt leider nicht immer
architektonische Rücksichten. Aber er sah ihr regloses, innig
gespanntes Gesicht, und er knarrte nur ablehnend: »Wir sind keine
Barbaren.«
Sie erwiderte nichts. Langsam,
voll traurigem Zweifel, tauchte sie ihre langen, erfüllten Augen in
die seinen, und es wurde ihm unbehaglich. War es nicht vollkommen
gleichgültig, ob diese Jüdin ihn für einen Barbaren hielt? Es war
ihm merkwürdigerweise nicht gleichgültig. Er spürte vor ihr jene
kleine Benommenheit wie manchmal in Gegenwart seines Juden Josef.
Er suchte darüber wegzukommen: »Sie sollten mich nicht bei meinem
Ehrgeiz packen wollen. Dazu bin ich nicht mehr jung
genug.«
Berenike fand, daß der Spediteur
ein harter, schwieriger Bursche war, verflucht hinterhältig bei
aller Offenheit. Sie lenkte ab. »Zeigen Sie mir ein Bild Ihres
Sohnes Titus«, bat sie. Er schickte einen Läufer, um das Bild holen
zu lassen. Sie betrachtete es interessiert und sagte vieles, was
dem Herzen des Vaters wohltun sollte. Aber Vespasian war alt und
menschenkennerisch und sah gut, daß ihr das Bild durchaus nicht
gefiel. Man trennte sich freundlich, und der Römer und die Jüdin
wußten, daß sie einander unausstehlich waren. Berenike, als Josef
Ben Matthias sie auf ihren Wunsch aufsuchte, streckte abwehrend die
Hand aus, rief: »Kommen Sie nicht näher. Bleiben Sie stehen. Es
sollen sieben Schritte sein zwischen Ihnen und mir.« Josef
erblaßte, weil sie sich entfernt von ihm hielt wie von einem
Aussätzigen.
Berenike begann: »Ich habe Ihr
Buch gelesen, zweimal.« Josef erwiderte: »Wer schriebe nicht gern
und begeistert, wenn er von Vorfahren zu berichten hat wie den
unsern?« Berenike strich heftig das kurze, widerspenstige Haar
zurück. Es war richtig, der Mann war mit ihr verwandt. »Ich bedaure
es, mein Vetter Josef«, sagte sie, »daß wir mit Ihnen verwandt
sind.« Sie sprach sehr ruhig, nur ganz leise lag die vibrierende
Heiserkeit über ihrer Stimme. »Ich verstehe nicht, daß Sie am Leben
bleiben konnten, als Jotapat fiel. Seither gibt es in Judäa
niemanden, den es nicht anekelte, wenn er den Namen Josef Ben
Matthias hört.« Josef dachte daran, wie Justus von Tiberias erklärt
hatte: »Ihr Doktor Josef ist ein Lump.« Aber Frauenrede erbitterte
ihn nicht. »Es wird sicher sehr viel Schlechtes über mich erzählt«,
sagte er, »aber ich glaube nicht, daß jemand Ihnen erzählt hat, ich
sei feig. Bedenken Sie, bitte, daß es manchmal nicht sehr schwer
ist, zu sterben. Sterben war leicht und eine große Verlockung. Es
gehörte Entschluß dazu, zu leben. Es gehörte Tapferkeit dazu. Ich
bin am Leben geblieben, weil ich wußte, ich bin ein Instrument
Jahves.« Berenikes lange Lippen krümmten sich, ihr ganzes Gesicht
war Spott und Verachtung. »Es geht ein Gerücht durch den Osten«,
sagte sie, »ein jüdischer Prophet habe verkündet, der Römer sei der
Messias. Sind Sie dieser Prophet?« – »Ich weiß«, sagte Josef still,
»daß Vespasian der Mann ist, von dem die Schrift redet.«
Berenike beugte sich vor über die
Sieben-Schritt-Grenze, die sie sich gesteckt hatte. Es war der
ganze Raum des Zimmers zwischen ihnen, auch das Kohlenbecken, denn
es war ein kalter Wintertag. Sie betrachtete den Mann; er trug noch
immer seine Kette, aber er sah gepflegt aus. »Ich muß ihn mir genau
anschauen, diesen Propheten«, höhnte sie, »der willig das
Ausgespiene des Römers hinunterschlang, als der es ihn hieß. Mir
wurde übel vor Verachtung, als ich hörte, wie die Doktoren von
Sepphoris Ihrer ›Hochzeit‹ zuschauen mußten.« – »Ja«, sagte still
Josef, »ich habe auch dieses geschluckt.«
Er sah mit einemmal klein und
gedrückt aus. Mehr als daß er das Mädchen geehelicht hatte, drückte
und erniedrigte ihn ein anderes. Damals unterm Brautzelt hatte er
gelobt, er werde Mara nicht anrühren. Allein dann war Mara zu ihm
gekommen, sie war auf dem Bett gehockt, jung, glatthäutig, heiß,
voll Erwartung. Er hatte sie genommen, hatte sie nehmen müssen, wie
er damals hatte trinken müssen, als er aus der Höhle kam. Das
Mädchen Mara war um ihn seither. Ihre großen Augen hingen mit der
gleichen Inbrunst an ihm, wenn er sie nahm und wenn er sie hernach
wild und voll Verachtung wegschickte. Berenike hatte mehr als
recht. Er hatte den Wegwurf des Römers nicht nur
hinuntergeschlungen, er fand Geschmack daran.
Josef atmete auf, da Berenike
nicht auf dem Thema beharrte. Sie sprach von Politik, sie eiferte
gegen den Marschall: »Ich will nicht, daß dieser Bauer sich in die
Mitte der Welt setzt. Ich will es nicht.« Ihre dunkle Stimme war
heiß von Leidenschaft. Josef stand still, beherrscht. Aber er war
voll von Ironie über ihre Ohnmacht. Sie sah es gut. »Gehen Sie hin,
mein Vetter Josef«, höhnte sie, »sagen Sie es ihm. Verraten Sie
mich ihm. Vielleicht bekommen Sie eine noch reichere Belohnung als
die Leibeigene Mara.«
Sie standen, getrennt durch den
Raum, die beiden jüdischen Menschen, jung beide, schön beide,
getrieben beide von dem heißen Willen nach ihren Zielen. Aug in Aug
standen sie, voll Hohn einer gegen den andern, und doch im
Innersten verwandt. »Wenn ich es dem Feldherrn sagte«, spottete
Josef zurück, »daß Sie sein Gegner sind, Kusine Berenike, er würde
lachen.« – »Also machen Sie ihn lachen, Ihren römischen Herrn«,
sagte Berenike. »Wahrscheinlich hält er Sie zu diesem Zweck. Ich,
mein Vetter Josef, werde mir die Hände gut waschen und ein langes
Bad nehmen, nun ich mit Ihnen zusammen war.«
Josef, auf dem Rückweg, lächelte.
Er ließ sich von einer Frau wie Berenike lieber beschimpfen als
gleichgültig anschauen. Im Hauptquartier des Vespasian in Cäsarea
erschien, von den römischen Behörden mit Ehrfurcht empfangen, ein
uralter jüdischer Herr, sehr klein, sehr angesehen, Jochanan Ben
Sakkai, Rektor der Tempeluniversität, Oberrichter von Judäa,
Großdoktor von Jerusalem. Mit seiner welken Stimme, im Kreis der
Juden von Cäsarea, berichtete er von den Greueln, die die jüdische
Hauptstadt erfüllten. Wie die leitenden Männer der Gemäßigten fast
allesamt niedergemetzelt worden seien, der Erzpriester Anan, die
meisten Aristokraten, auch viele von den »Wahrhaft
Schriftgläubigen«; wie jetzt die Makkabi-Leute mit Brand und
Schwert gegeneinander wüteten. Selbst in den Vorhallen des Tempels
hatten sie Geschütz aufgefahren, und Leute, die ihr Opfer zum Altar
bringen wollten, waren von ihren Geschossen getroffen worden.
Manchmal, auf altmodische Art, bekräftigte der Alte: »Meine Augen
haben es gesehen.« Auch er hatte sich nur mit Gefahr aus Jerusalem
wegstehlen können. Er hatte aussprengen lassen, er sei tot, seine
Schüler hatten ihn in einem Sarg zur Bestattung aus den Mauern
Jerusalems herausgetragen.
Er ersuchte den Marschall um eine
Unterredung, und Vespasian bat ihn sogleich zu sich. Uralt,
vergilbt, stand der jüdische Großdoktor vor dem Römer; die blauen
Augen stachen auffallend frisch aus dem zerknitterten, von einem
kleinen, entfärbten Bart umrahmten Gesicht. Er sagte: »Ich bin
gekommen, Konsul Vespasian, um mit Ihnen über Frieden und
Unterwerfung zu reden. Es steht keine Macht hinter mir. Die Macht
in Jerusalem haben die ›Rächer Israels‹; allein das Gesetz ist
nicht tot, und ich bringe mit das Siegel des Oberrichters. Das ist
nicht viel. Aber niemand weiß besser als Rom, daß ein großes Reich
auf die Dauer nur zusammengehalten werden kann durch Recht, Gesetz
und Siegel, und darum ist es vielleicht auch nicht wenig.«
Vespasian erwiderte: »Ich freue mich, mit dem Manne zu reden, der
in Judäa den ehrwürdigsten Namen trägt. Aber ich bin lediglich
gesandt, das Schwert zu führen. Über Frieden verhandeln kann nur
der Kaiser in Rom und sein Senat.« Jochanan Ben Sakkai wiegte den
alten, kleinen Kopf. Listig, leise, mit dem Singsang orientalischen
Dozierens, führte er aus: »Es sind manche, die sich nennen Kaiser.
Aber es ist nur einer, mit dem ich austauschen möchte Siegel und
Dokument. Ist der Libanon gefallen durch Galba? Nur der, durch den
fällt der Libanon, ist der Mächtige, der Adir. Der Libanon ist
nicht gefallen durch Galba.« Vespasian schaute den Alten
mißtrauisch an. Fragte: »Haben Sie mit meinem Gefangenen Josef Ben
Matthias gesprochen?« Jochanan Ben Sakkai verneinte, ein wenig
erstaunt. Reumütig, täppisch, sagte Vespasian: »Verzeihen Sie, Sie
haben wirklich nicht mit ihm gesprochen.«
Er setzte sich, machte sich
klein, so daß er nicht auf den Alten hinabschauen mußte: »Bitte,
teilen Sie mir mit, was Sie geben und was Sie nehmen wollen.«
Jochanan streckte seine welken Hände hin, bot dar: »Ich gebe Ihnen
Brief und Siegel, daß der Große Rat und die Doktoren von Jerusalem
sich Senat und Volk von Rom unterwerfen. Ich bitte Sie dagegen um
eines: lassen Sie mir eine kleine Stadt, daß ich eine Universität
dort gründe, und geben Sie mir Lehrfreiheit.« – »Daß ihr mir von
neuem die finstersten Rezepte gegen Rom zusammenbraut«, schmunzelte
Vespasian. Jochanan Ben Sakkai machte sich noch kleiner und
geringer: »Was wollen Sie? Ich werde pflanzen ein winziges Reis von
dem mächtigen Baume Jerusalem. Geben Sie mir, sagen wir, das
Städtchen Jabne. Jabne, es wird eine so kleine Universität sein.«
Betulich redete er dem Römer zu, malte mit Gesten die
Geringfügigkeit seiner Universität: ach, sie wird so klein sein,
seine Universität Jabne, und er schloß und öffnete seine winzige
Hand.
Vespasian erwiderte: »Schön, ich
werde Ihren Vorschlag nach Rom übermitteln.« – »Übermitteln Sie
nicht«, bat Jochanan. »Ich möchte nur mit Ihnen zu tun haben,
Konsul Vespasian.« Hartnäckig wiederholte er: »Sie sind der
Adir.«
Vespasian erhob sich; breit,
bäurisch fest stand er vor dem sitzenden Großdoktor. »Offen
gestanden«, sagte er, »ganz verstehe ich es nicht, was ihr gerade
an mir für einen Narren gefressen habt. Sie sind ein alter, weiser
und, wie es scheint, relativ ehrlicher Herr. Wollen Sie es mir
nicht erklären? Ist es nicht schwer erträglich, wenn in dem Land,
das euer Gott Jahve euch zugesagt hat, ausgerechnet ich der Adir
sein soll? Ich höre, daß von allen Völkern ihr am heftigsten vor
der Berührung mit andern zurückscheut.« Jochanan hatte die Augen
geschlossen. »Als die Engel Gottes«, dozierte er, »nach dem
Untergang der Ägypter im Schilfmeer ein Jubellied anstimmen
wollten, sprach Jahve: ›Meine Geschöpfe ertrinken, und ihr wollt
ein Jubellied singen?‹« Der Marschall trat ganz nahe an den
winzigen Gelehrten heran, rührte ihm leicht, vertraulich die
Schulter, fragte listig: »Aber soviel stimmt doch: als richtige,
vollwertige Menschen anerkennt ihr uns nicht?« Jochanan, immer die
Augen geschlossen, erwiderte still, wie von weit her: »Wir opfern
am Laubhüttenfest siebzig Stiere zur Sühnung der Nichtjuden vor
Gott.«
Vespasian sagte ungewohnt
höflich: »Wenn Sie nicht zu müde sind, mein Doktor und Herr
Jochanan, dann bitte ich noch um eine Belehrung.« – »Ich antworte
Ihnen gern, Konsul Vespasian«, sagte der Großdoktor.
Vespasian stützte die Hände auf
den Tisch. Über den Tisch hinüber, gespannt, fragte er: »Hat ein
Nichtjude eine unsterbliche Seele?« Jochanan erwiderte: »Es gibt
sechshundertdreizehn Gebote, die zu halten wir Juden verpflichtet
sind. Der Nichtjude ist nur auf sieben Gebote verpflichtet. Hält er
sie, dann läßt sich auch in ihm der Heilige Geist nieder.« –
»Welches sind diese sieben Gebote?« fragte der Römer. Jochanan zog
die runzligen Brauen hoch, seine blauen Augen schauten hell und
sehr jung in die grauen des Vespasian. »Es ist ein Ja und sechs
Nein«, sagte er. »Er muß Gerechtigkeit üben, er darf Gott nicht
leugnen, Götzen nicht dienen, darf nicht morden, nicht stehlen,
nicht Unzucht treiben und nicht Tiere quälen.« Vespasian dachte ein
wenig nach, dann sagte er bedauernd: »Da habe ich leider wenig
Aussicht, daß sich in mir der Heilige Geist niederläßt.«
Der Großdoktor schmeichelte:
»Finden Sie es sehr gefährlich für Rom, wenn wir in meiner kleinen
Universität Jabne solche Dinge lehren?« Breit, ein wenig protzig,
sagte Vespasian: »Gefährlich oder nicht, groß oder klein, welche
Ursache überhaupt sollte ich haben, euch entgegenzukommen?« Der
Alte machte ein pfiffiges Gesicht, hob die winzige Hand, führte sie
einmal durch die Luft, legte dar, wieder im Singsang orientalischen
Dozierens: »Solange Sie nicht der Adir sind, haben Sie keinen
Grund, Jerusalem zu erobern; denn Sie brauchen vielleicht Ihre
Truppen, um der Adir zu werden. Sowie Sie aber ernannt sind, haben
Sie vielleicht keine Zeit mehr, Jerusalem zu erobern. Vielleicht
dann aber ist es für Sie von Interesse, wenn nicht das eroberte
Jerusalem, so doch einen Rechtstitel mit nach Rom zu bringen.
Vielleicht ist Ihnen dieser Rechtstitel die kleine Konzession wert,
um die ich Sie bitte.«
Er schwieg, er schien erschöpft.
Vespasian hatte seinen Darlegungen mit großer Aufmerksamkeit
zugehört. »Wenn Ihre andern Herren so schlau wären wie Sie«, schloß
er lächelnd die Unterhaltung, »dann wäre ich wahrscheinlich nie in
die Lage gekommen, von Ihnen als der Adir bezeichnet zu
werden.«
Es gab Sünden, für die der Großdoktor bei
aller Milde Nachsicht nicht kannte, und dem Josef schlug das Herz,
als er zu ihm entboten wurde. Aber Jochanan hielt nicht die sieben
Schritte Abstand. Josef beugte sich herab, die Hand an der Stirn,
und der Alte segnete seinen Lieblingsschüler.
Josef sagte: »Ich habe das Wort
des Propheten zweideutig gebraucht, ich bin schuldig der schlechten
Zunge. Daraus ist viel Unheil entstanden.« Der Alte sagte:
»Jerusalem und der Tempel waren fallreif vor Ihrer Tat. Die Tore
des Tempels springen auf, wenn einer nur hinbläst. Sie sind
überheblich selbst in Ihrer Schuld. Ich will mit Ihnen reden,
Doktor Josef, mein Schüler«, fuhr er fort. »In Jerusalem glaubt
man, Sie hätten ein schaukelndes Herz, und man hat Sie in den Bann
getan. Ich aber glaube an Sie und will zu Ihnen reden.« Diese Worte
erquickten den Josef wie Tau das Feld in der rechten Jahreszeit,
und er machte sein Herz weit auf.
»Das Reich ist verloren«,
wiederholte Jochanan. »Aber es ist nicht das Reich, was uns
zusammenhält. Reiche haben auch andere gegründet, sie sind
zerfallen, es werden neue Reiche kommen, auch sie werden zerfallen.
Das Reich ist nicht das Wichtigste.«
»Was ist das Wichtigste, mein
Vater?«
»Nicht Volk und Staat schaffen
die Gemeinschaft. Unserer Gemeinschaft Sinn ist nicht das Reich,
unserer Gemeinschaft Sinn ist das Gesetz. Solange Lehre und Gesetz
dauert, haben wir Zusammenhalt, festeren als durch den Staat. Das
Gesetz dauert, solange eine Stimme da ist, es zu verkünden. Solange
die Stimme Jakobs ertönt, bleiben die Arme Esaus
kraftlos.«
Josef fragte zaghaft: »Habe ich
die Stimme, mein Vater?« – »Die andern glauben«, erwiderte
Jochanan, »daß Sie Ihr Judentum eingebüßt haben, Josef Ben
Matthias. Aber wenn auch das Salz im Wasser sich löst, es ist doch
immer da, und wenn das Wasser verdunstet, bleibt das Salz zurück.
»
Dieses Wort des Alten erhob den
Josef und demütigte ihn, daß er eine lange Zeit nicht sprechen
konnte. Dann, leise, schüchtern erinnerte er seinen Lehrer: »Wollen
Sie mir sagen, was Ihre Pläne sind, mein Vater?«
»Ja«, erwiderte Jochanan, »jetzt
will ich es dir sagen. Wir geben den Tempel preis. Wir wollen
setzen an Stelle des sichtbaren Gotteshauses ein unsichtbares, wir
wollen umgeben den wehenden Atem Gottes mit Mauern aus Worten an
Stelle der Mauern aus Granit. Was ist der wehende Atem Gottes?
Lehre und Gesetz. Man kann uns nicht auseinanderreißen, solange wir
Zungen haben oder Papier für das Gesetz. Darum habe ich den Römer
um die Stadt Jabne gebeten, daß ich dort eine Universität
einrichten kann. Ich glaube, er wird sie mir geben.«
»Ihr Plan, mein Vater, braucht
die Arbeit von vielen Geschlechtern.«
»Wir haben Zeit«, erwiderte der
Alte.
»Aber werden uns die Römer nicht
hindern?« fragte Josef.
»Gewiß wird man versuchen, uns zu
hindern; die Macht hat immer Mißtrauen gegen den Geist. Aber der
Geist ist elastisch. So dicht kann man nichts verschließen, daß er
nicht doch durchdringen könnte. Sie zerschlagen uns Staat und
Tempel: wir bauen an seine Stelle Lehre und Gesetz. Sie verbieten
uns das Wort: wir verständigen uns durch Zeichen. Sie verbieten uns
die Schrift: wir denken uns Chiffren aus. Sie versperren uns die
grade Straße: Gott wird nicht kleiner, auch wenn seine Bekenner auf
listigen Umwegen zu ihm gehen müssen.« Der Alte schloß die Augen,
öffnete sie, sagte: »Es ist uns nicht gegeben, das Werk zu
vollenden, aber es ist uns auferlegt, nicht davon abzulassen. Das
ist es, wozu wir auserwählt sind.«
»Und der Messias?« fragte Josef
mit einer letzten Hoffnung. Das Sprechen begann dem Großdoktor
schwerzufallen, aber er riß sich zusammen, es war wichtig, daß er
seinem Lieblingsschüler Josef das Wissen weitergab. Er winkte
Josef, sich niederzubeugen, mit dem welken Mund flüsterte er in
sein junges Ohr: »Es ist fraglich«, flüsterte er, »ob der Messias
jemals kommen wird. Aber glauben muß man es. Man darf nie damit
rechnen, daß der Messias kommt, aber man muß immer glauben, daß er
kommen wird.«
Josef auf dem Rückweg war
beklommen. Der Glaube dieses großen Alten war also nichts
Strahlendes, was ihm half, sondern etwas Mühevolles, Listiges,
immer verbunden mit Ketzerei, immer sich wehrend gegen Ketzerei,
eine Last. So verschieden die beiden aussahen, es war kein sehr
weiter Weg von Jochanan Ben Sakkai zu Justus von Tiberias. Josef
fühlte sich bedrückt.
Der Großdoktor hatte vieles und Übles gehört
von der Ehe des Josef. Er ließ Mara, die Tochter des Lakisch, zu
sich kommen und sprach mit ihr. Er roch das Parfüm ihrer Sandalen.
Sie sagte: »Wenn ich bete, dann ziehe ich immer diese Sandalen an.
Ich will in gutem Geruch vor Gott treten.« Sie kannte viele Gebete
auswendig; es war nicht erlaubt, Gebete aufzuzeichnen, sie mußten
vom Herzen kommen, und man mußte sie im Herzen tragen. Zutraulich
sprach sie zu ihm: »Ich habe gehört, von der Erde bis zum Himmel
sind fünfhundert Jahre, und von einem Himmel bis zum andern sind
wieder fünfhundert Jahre, und die Dicke jedes Himmels sind
fünfhundert Jahre. Und dennoch: ich stelle mich hinter eine Säule
der Synagoge und flüstere, und es ist, wie wenn ich Jahve ins Ohr
flüstere. Ist es vermessen und Sünde, mein Doktor und Herr, wenn
ich glaube, daß Jahve mir so nahe ist wie das Ohr dem Mund?«
Jochanan Ben Sakkai hörte interessiert auf die Gedanken, die sie
hinter ihrer niedrigen Kinderstirn bewegte, und diskutierte
ernsthaft mit ihr wie mit einem der Doktoren der Quadernhalle. Als
sie wegging, legte er ihr die milde, welke Hand auf den Scheitel
und segnete sie mit dem alten Spruch: Jahve mache dich wie Rahel
und Lea.
Er hörte, daß Josef, sowie er den
Einspruch Vespasians nicht mehr fürchten müsse, sich von Mara
scheiden lassen wolle. Es war nicht schwer, sich scheiden zu
lassen. In der Schrift hieß es klar und einfach: »Wenn jemandes
Weib nicht Gunst findet vor seinen Augen, weil er etwas
Schändliches an ihr entdeckt hat, dann mag er einen Scheidebrief
schreiben und sie aus seinem Hause schicken.« Jochanan sagte: »Zwei
Dinge gibt es, man hört ihren Schall mit Ohren nicht eine Meile,
und doch geht ihr Klang von einem Ende der Welt zum andern. Das
ist, wenn ein Baum niederbricht, den man fällt, solange er Frucht
trägt, und das ist, wenn eine Frau seufzt, die ihr Mann wegschickt,
und sie liebt ihn.« Josef sagte eigensinnig: »Habe ich nicht
Schändliches an ihr gefunden?« Jochanan sagte: »Sie haben nicht
Schändliches gefunden: das Schändliche war,
bevor Sie sie nahmen. Prüfen Sie sich, Doktor Josef. Ich werde
nicht den Zeugen machen, wenn Sie dieser Frau den Scheidebrief
ausstellen.«
Die Beziehungen Vespasians zu Kaiser Galba
waren nicht ganz so einfach, wie er sie der Prinzessin Berenike
dargestellt hatte. Titus war nicht nur aus Gründen der Huldigung
nach Rom gefahren, sondern vor allem, um die ihm noch fehlenden
hohen Staatsstellen zu erlangen. Der letzte Zweck lag noch höher.
Des Vespasian Bruder, der steife, mürrische Sabin, hatte
angedeutet, es sei nicht ausgeschlossen, daß der alte, kinderlose
Kaiser, um sich die Armeen des Ostens zu verbinden, den Sohn des
Vespasian an Kindes Statt annehmen werde. Dieser Brief hatte den
schwierigen Verhandlungen zwischen Vespasian und Mucian ein
vorläufiges Ende bereitet. Großmütig hatte immer wieder der eine
dem andern versichert, er denke nicht daran, die Macht zu erobern;
wenn einer in der Lage sei, dies zu tun, dann sei jeweils der
andere dieser eine. In Wahrheit wußten beide genau, daß keiner sich
stark genug fühlte für den Kampf mit dem andern, und so hatte jetzt
der Brief des Sabin ihnen einen willkommenen Ausweg
gezeigt.
Allein noch im hohen Winter kam
eine Nachricht, die allen diesen Plänen ein Ende machte. Gestützt
auf die römische Garde und auf den Senat, hatte einer die
Herrschaft an sich gerissen, den der Osten nicht in seine Rechnung
gezogen hatte: Otho, der erste Mann der Poppäa. Der alte Kaiser war
ermordet, dieser junge Kaiser hatte Mut, Begabung, Ansehen, viele
Sympathien. Ob Titus seine Reise fortsetzen und dem neuen Herrn
huldigen oder ob er zurückkehren werde, wußte man nicht. Hier im
Osten jedenfalls fühlte man sich nicht soweit, sich mit einiger
Aussicht gegen den jungen Kaiser aufzulehnen, und wer auch sollte
der Erwählte des Ostens sein? Die Erledigung des alten Galba war zu
schnell gekommen, man hatte sich noch nicht geeinigt; sowohl
Vespasian wie Mucian vereidigten ihre Truppen auf den neuen Kaiser
Otho.
An den Bestand dieser neuen
Herrschaft indes glaubte niemand. Otho konnte sich auf die
italienischen Truppen verlassen, aber er hatte keine Fühlung mit
den Armeen der Provinzen. Der Thron dieses jungen Kaisers stand
nicht fester als der des alten.
Die Prinzessin Berenike bekam
täglich ausführlichen Bericht aus Rom. Nach den Entbehrungen der
Wüste warf sie sich mit doppelter Leidenschaft in die Politik.
Zettelte mit den kaiserlichen Ministern, den Senatoren, mit den
Gouverneuren und Generälen des Ostens. Ein zweites Mal soll sich
der Osten nicht vor vollendete Tatsachen gestellt sehen. Jetzt, in
diesem Frühjahr noch, muß er schlagbereit gemacht werden, die
Hauptstadt zu erobern. Nicht zersplittert darf er sein, einen Herrn muß er haben, und Mucian soll dieser
Herr heißen. Es gilt zunächst einmal, sich des klaren
Einverständnisses des Mucian zu versichern, wenn man ihn gegen den
Marschall als Prätendenten aufstellen will.
Glänzend, mit großem Gefolge,
fuhr Berenike nach Antiochia. Behutsam strich sie um Mucian herum.
Der erfahrene Herr wußte kennerisch die Vorzüge der jüdischen
Prinzessin zu schätzen, Schönheit, Geist, Geschmack, Reichtum,
wilde Hingabe an die Politik. Die beiden musischen Menschen
verstanden sich sehr schnell. Aber Berenike konnte Mucian nicht
dahin bringen, wo sie ihn haben wollte. Mit großer Offenheit ließ
der schmächtige Herr sie in sein Inneres hineinschauen. Ja, er ist
ehrgeizig. Er ist auch nicht feig, aber er ist ein wenig müde. Rom
vom Osten her zu erobern ist ein verdammt kitzli ges Unternehmen.
Er ist nicht der Mann für diese Aufgabe. Er kann mit Diplomaten
verhandeln, mit Senatoren, Gouverneuren, Wirtschaftsführern. Aber
heute geben leider die Militärs den Ausschlag, und mit diesen
hochgekommenen Feldwebeln zu paktieren ist ihm widerwärtig. Er hing
seinen gescheiten, traurigen, unersättlichen Blick an die
Prinzessin. »Diesen Polyphemen ihr Aug auszubrennen verliert auf
die Dauer seinen Reiz. Gefahr und Gewinn stehen nicht im rechten
Verhältnis. Wie die Situation heute liegt, ist wirklich Vespasian
der gegebene Mann. Er hat die nötige Grobheit und Roheit, um in
unseren Zeiten populär zu sein. Ich gebe zu, im Grunde ist er mir
genauso widerwärtig wie Ihnen, Prinzessin Berenike. Aber er ist
eine so reine Inkarnation des Zeitgeistes, daß er fast schon wieder
sympathisch wird. Machen Sie ihn zum Kaiser, Prinzessin Berenike,
und lassen Sie mich meine Naturgeschichte des Imperiums in Ruhe zu
Ende schreiben.«
Berenike ließ nicht ab. Sie
kämpfte nicht nur mit Worten, sie streute mit verschwenderischen
Händen Geld aus, um Stimmung für ihren Kandidaten zu machen. Sprach
immer heftiger auf Mucian ein, spornte, schmeichelte. Ein Mann, so
innerlich lebendig wie er, dürfe sich nicht zieren, dürfe nicht
faul sein. Er erwiderte lächelnd: »Wenn eine Dame wie Sie, Hoheit,
wirklich für mich wäre, dann könnte mich das reizen, das freche
Spiel trotz aller Bedenken zu wagen. Aber Sie sind ja gar nicht für
mich, Sie sind nur gegen Vespasian.« Berenike rötete sich, wollte
es nicht wahrhaben, sprach viel und geschickt, um ihm seine Meinung
auszureden. Er hörte höflich zu, tat so, als ließe er sich
überzeugen. Aber während er vertraulich und nicht ohne Wärme mit
ihr weitersprach, sah sie, wie er mit seinem Stock Worte in den
Sand kritzelte, griechische Worte, sicherlich nicht für sie
bestimmt, aber sie konnte sie enträtseln: »Dem einen geben die
Götter die Begabung, dem andern das Glück.« Sie las, und ihre Rede
wurde matt.
Als gar Josef Ben Matthias in
Antiochia eintraf, wußte Berenike mit Sicherheit, daß ihre Reise zu
Mucian ohne Erfolg bleiben werde. Sie witterte sogleich und mit
Recht, daß Josef von Vespasian vorgeschickt war, um ihre Arbeit zu
vereiteln.
Josef ging seine Aufgabe nicht
plump an. Er ließ den
andern an sich herankommen. Mucian freute
sich, die seltsame, heftige, dringliche Stimme des jüdischen
Propheten wiederzuhören. Er verbrachte Stunden damit, ihn über
Sitten, Bräuche, Altertümer seines Volkes zu befragen. Bei dieser
Gelegenheit kamen sie auch auf die jüdischen Könige zu sprechen,
und Josef erzählte Mucian die Geschichte von Saul und David. »Saul
war der erste König in Israel«, sagte Josef; »aber bei uns heißen
wenige Saul und sehr viele Samuel. Wir halten den Samuel für größer
als den Saul.« – »Warum?« fragte Mucian. »Wer die Macht vergibt«,
erwiderte Josef, »ist größer, als wer die Macht hat. Wer den König
macht, ist größer als der König.« Mucian lächelte: »Ihr seid
hochmütige Leute.« – »Vielleicht sind wir hochmütig«, gab Josef
bereitwillig zu. »Aber scheint nicht auch Ihnen die Macht, die aus
dem Hintergrund lenkt, feiner, geistiger, reizvoller als die Macht,
die sich vor den Augen aller Welt spreizt?« Mucian sagte nicht ja
noch nein. Josef fuhr fort, und seine Worte waren eine mit vielen
bösen Erfahrungen bezahlte Erkenntnis. »Macht verdummt. Ich war nie
dümmer als zu der Zeit, da ich an der Macht war. Samuel ist größer
als Saul.« – »Ich finde«, sagte lächelnd Mucian, »in Ihrer
Geschichte am sympathischsten den jungen David. Schade«, seufzte
er, »daß das Projekt mit dem jungen Titus gescheitert
ist.«
Sehr bald, nachdem Josef in
Antiochia eingetroffen war, verabschiedete sich Berenike von
Mucian. Sie gab ihre Hoffnungen auf. Sie fuhr ihrem Bruder
entgegen, der in den nächsten Tagen in Galiläa erwartet wurde. Er
war bis jetzt in Rom geblieben, aber nun gab er der Herrschaft
Othos nur mehr wenige Wochen und wollte sich rechtzeitig und
unauffällig aus Rom fortmachen, um sich nicht einem neuen Kaiser
verpflichten zu müssen. Berenike atmete auf, als sie ihren
heißersehnten Bruder wiedersehen sollte; die Bitterkeit des
Mißerfolgs wurde gemildert durch diese Freude. »Süße Prinzessin«,
sagte zum Abschied Mucian, »nun ich Sie vermissen soll, begreife
ich nicht, warum ich nicht Ihretwegen den Prätendenten mache.« –
»Auch mir fällt es schwer, das zu begreifen«, antwortete
Berenike.
Sie traf ihren Bruder in
Tiberias. Der Neubau des Palastes war fertiggestellt. Schöner als
zuvor strahlte er über Stadt und See. Einzelne fensterlose Säle
waren aus einem kappadokischen Stein gebaut, so durchscheinend, daß
sie auch bei geschlossenen Türen hell blieben. Alles war leicht,
luftig, nichts überladen, wie es jetzt in Rom Mode war. Ihr
Meisterstück hatten die Architekten mit dem Speisesaal geliefert.
Seine Kuppel war so hoch, daß der ermüdete Blick kaum ihre
elfenbeinernen Deckenfelder erreichte; diese Felder waren drehbar,
so daß man Blumen und wohlriechende Wasser auf die Speisenden
regnen lassen konnte.
Die Geschwister gingen durch das
Haus, sie hielten sich an den Händen, voll tiefer Freude einer am
andern. Das Frühjahr hatte begonnen, schon wurden die Tage länger,
mit weiter Brust schritten die beiden schönen Menschen durch die
luftigen Säle; kennerisch genossen sie die beschwingten Maße des
Baus, seine Erlesenheit. Agrippa erzählte mit einem ganz leisen
Hohn von den neuen Palästen, die er in Rom gesehen hatte, von ihren
leer-monströsen Dimensionen, ihrer geschmacklos gehäuften Pracht.
Otho hat fünfzig Millionen für die Fertigstellung des Goldenen
Hauses des Nero bewilligt; auch er wird die Vollendung des Baus
kaum erleben. Berenike krümmte die Lippen. »Sie können nur raffen,
diese römischen Barbaren. Sie glauben, wenn sie einen besonders
seltenen Marmor in einen andern ebenso seltenen hineinschneiden und
möglichst viel Gold darübersetzen, dann sei das der Gipfel der
Baukunst. Sie haben kein Talent außer dem zur Macht.« – »Ein ganz
vorteilhaftes Talent immerhin«, meinte Agrippa. Berenike blieb
stehen. »Muß ich wirklich diesen Vespasian ertragen?« klagte sie.
»Kannst du mir das auferlegen, mein Bruder? Er ist so plump und
roh, er schnauft wie ein Hund außer Atem.« Agrippa erzählte
finster: »Als ich jetzt in Cäsarea bei ihm war, ließ er mir Fische
vorsetzen und betonte immer wieder, sie seien aus dem See
Genezareth. Als ich die Leichenfische nicht aß, hänselte er mich
bitter. Ich hätte manche gute Antwort gewußt, aber ich habe sie
hinuntergeschluckt.«
»Er reizt mich bis aufs Blut«,
empörte sich Berenike. »Wenn ich seine klobigen Witze höre, stehe
ich wie in einem Schwarm von Stechmücken. Und daß dieser Mann
Kaiser werde, dazu sollen wir helfen.« Agrippa redete ihr zu: »Ein
Kaiser, den der Westen aufstellt, wird uns hier alles blind
zerschlagen. Der Marschall ist klug und maßvoll. Er wird nehmen,
was er brauchen kann, den Rest wird er uns lassen.« Er zuckte die
Achseln: »Die Armee macht den Kaiser, die Armee schwört auf
Vespasian. Sei meine kluge Schwester«, bat er.
Den jungen Titus hatte die Nachricht von der
Ermordung Galbas in Korinth erreicht, noch vor seiner Ankunft in
Rom. Es wäre sinnlos gewesen, weiterzufahren. Er war überzeugt
gewesen, daß die Adoption durch Galba zustande kommen werde, es war
ein schwerer Schlag für ihn, daß der Kaiser vorzeitig erledigt war.
Er wollte nicht diesem Otho huldigen, an dessen Platz er sich
selber geträumt hatte. Er blieb in Korinth, verbrachte in der
leichtlebigen Stadt vierzehn wüste Tage, voll von Frauen, Knaben,
Ausschweifungen jeder Art. Dann riß er sich los und kehrte trotz
der schlechten Jahreszeit nach Cäsarea zurück.
Auf dem Schiff brannten ihn wild
und heftig die ehrgeizigen Träume seiner Großmutter. Der General
Titus, so jung er war, hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Das
Auf und Ab seines Vaters, der Wechsel vom Konsul zum Spediteur, von
prunkender Ehrenstellung in drückende Armut, hatten an seinem
Schicksal mitgezerrt. Er war zusammen mit dem Prinzen Britannicus
erzogen worden, hatte mit diesem jungen, strahlenden Anwärter auf
den Thron an einem Tisch gelegen, hatte vom
gleichen Gericht gegessen, als Kaiser Nero ihn vergiftete, und war
selber erkrankt. Er kannte den Glanz des Palatins und das kahle
Stadthaus seines Vaters, das stille Leben auf dem Land und die
abenteuerlichen Feldzüge an der deutschen und der englischen
Grenze. Er liebte seinen Vater, seine nüchterne Klugheit, seine
Genauigkeit, seinen gesunden Menschenverstand; aber oft auch haßte
er ihn wegen seines bäurischen Wesens, seiner Bedächtigkeit, seiner
Würdelosigkeit. Titus konnte wochenlang, monatelang Strapazen und
Dürftigkeit ertragen, dann, unversehens, überfiel ihn ein wüster
Drang nach Luxus und Ausschweifung. Er war empfänglich für die
gelassene Würde altrömischer Adelsfamilien, und der hiera tisch
üppige Prunk der uralten Königsgeschlechter des Orients erregte
sein Herz. Er hatte auf Betreiben seines Onkels Sabin sehr jung
geheiratet, ein dürres, strenges Mädchen aus großer Familie, Marcia
Furnilla, sie hatte ihm eine Tochter geboren, aber sie war ihm
dadurch nicht lieber geworden; kahl und kümmerlich saß sie in Rom,
er sah sie nicht, er schrieb ihr nicht.
Der alte Vespasian empfing seinen
Sohn grinsend, mit vergnügtem Bedauern: »Wir haben offenbar
eine Linie, mein Sohn Titus, die Linie
rauf, runter. Wir müssen sehen, daß wir das nächstemal früher
aufstehen und es auf gescheitere Art deichseln. Der Retter kommt
aus Judäa. Du bist jung, mein Sohn, du darfst meinen Juden nicht
blamieren.«
Agrippa und seine Schwester luden zu einem
Fest, um den Neubau ihres Palais in Tiberias einzuweihen. Dem
Marschall war die Prinzessin unsympathisch, er schickte seinen
Sohn.
Dem Titus kam der Auftrag nicht
unwillkommen. Er liebte das Land Judäa. Das Volk war alt und weise,
und so hirnlose Sachen es anstellte, es hatte Instinkt für das
Jenseitige, für das Ewige. Der seltsame, unsichtbare Gott Jahve
lockte und bedrängte den jungen Römer. Auch imponierte ihm König
Agrippa, seine Eleganz, seine melancholische Gescheitheit. Titus
ging gern nach Tiberias.