Sosehr Agrippa und sein Haus ihm gefielen, so enttäuscht war er von der Prinzessin. Er wurde ihr vorgestellt, unmittelbar bevor man zu Tisch ging. Er war gewohnt, rasch Kontakt mit Frauen zu finden; sie hatte für seine ersten Sätze ein gleichmäßig höfliches Ohr und nicht mehr. Er fand sie kalt und hochfahrend, ihre dunkle, ein wenig heisere Stimme befremdete ihn. Er kümmerte sich während des Essens wenig um Berenike, dafür um so mehr um die übrige Gesellschaft. Er war heiter, ein amüsanter Erzähler, man hörte ihm mit Wärme und Aufmerksamkeit zu. Er vergaß die Prinzessin, und während des langen Mahls wechselten sie nur spärlich Rede und Antwort.
  Das Mahl war zu Ende. Berenike erhob sich; sie war eigenwillig angezogen, es war ein Kleid aus einem Stück wie hier zulande üblich, aus kostbarem, schwer fallendem Brokat. Sie nickte Titus zu, gleichgültig freundlich, begann die Treppen hinaufzusteigen, die Hand leicht auf die Schulter ihres Bruders gestützt. Titus schaute ihr mechanisch nach. Er hatte sich in eine scherzhaft erbitterte Debatte über Militärtechnisches eingelassen. Plötzlich, mitten im Satz, brach er ab, seine neugierigen, rastlosen Augen wurden scharf, stierten, starrten hinter der Schreitenden her. Der kleinzahnige Mund seines breiten Gesichts stand etwas töricht halboffen. Seine Knie zitterten. Unhöflich ließ er seine Gesprächspartner stehen, eilte den Geschwistern nach.
  Wie diese Frau ging. Nein, sie ging nicht, hier gab es nur ein Wort, das griechische, homerische: sie wandelte her. Es war gewiß lächerlich, das große, homerische Wort im Alltag zu gebrauchen, aber für das Schreiten dieser Frau gab es kein anderes. »Sie haben es aber eilig«, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. Bisher hatte diese ein wenig heisere Stimme ihn befremdet, fast abgestoßen, jetzt klang sie ihm erregend und voll von dunkeln Lockungen. Er sagte irgend etwas von der notwendigen Eile des Militärs, es war nicht sehr schlagend, er fand sonst bessere Antworten. Er gab sich knabenhaft, täppisch beflissen. Berenike merkte gut, welchen Eindruck sie ihm machte, und sie fand ihn angenehm, von einer gewissen viereckigen Anmut.
  Sie schwatzten von Physiognomik, von Graphologie. Das ist im Osten wie im Westen große Mode. Berenike möchte die Schrift des Titus sehen. Titus zieht sein goldgerändertes Wachstäfelchen vor, lächelt spitzbübisch, schreibt. Berenike wundert sich: das ist doch in jedem Schnörkel die Schrift seines Vaters. Titus gibt zu, er habe einen Scherz gemacht; eigentlich habe er keine eigene Schrift mehr, so oft sei er in den Schriften anderer spazierengegangen. Aber nun soll sie ihm ihre Schrift zeigen. Sie überliest, was er geschrieben hat. Es ist ein Vers aus einem modernen Epos: »Die Adler der Legionen und ihre Herzen breiten ihre Schwingen zum Flug.« Sie wird ernst, zögert einen Augenblick, dann glättet sie seine Buchstaben fort, schreibt: »Der Flug der Adler kann den Unsichtbaren im Allerheiligsten nicht zudecken.« Der junge General beschaut sich die Schrift; sie ist schulmäßig korrekt, ziemlich kindlich. Er überlegt, er wischt den Satz nicht weg, er schreibt darunter: »Titus möchte den Unsichtbaren im Allerheiligsten sehen.« Er reicht ihr Wachs und Griffel hinüber. Sie schreibt: »Der Tempel von Jerusalem soll nicht zerstört werden.« Nun ist nur mehr sehr wenig Raum auf der kleinen Tafel. Titus schreibt: »Der Tempel von Jerusalem wird nicht zerstört werden.«
  Er will das Täfelchen wegstecken. Sie bittet, er möge es ihr lassen. Sie legt ihm die Hand auf die Schulter, fragt, wann endlich der grauenvolle Krieg zu Ende sein werde. Das Schlimmste sei das herzzermürbende, aussichtslose Warten. Ein rasches Ende sei ein mildes Ende. Er möge doch endlich, endlich Jerusalem nehmen. Titus zögert, geschmeichelt: »Das steht nicht bei mir.« Berenike – wie hat er sie je für kalt und hochfahrend halten können? – spricht flehend und überzeugt auf ihn ein: »Doch, das steht bei Ihnen.«
  Vertraulich, nachdem Titus gegangen war, fragte Agrippa die Schwester nach ihrem Eindruck: »Er hat einen weichen, unangenehmen Mund, findest du nicht?« Berenike lächelte zurück: »Ich finde viel Unangenehmes an diesem Knaben. Er hat manche Ähnlichkeit mit seinem Vater. Aber es soll schon vorgekommen sein, daß jüdische Frauen mit Barbaren gut fertig wurden. Zum Beispiel Esther mit Ahasver. Oder Irene mit dem siebenten Ptolemäus.« Agrippa meinte, und Berenike erkannte gut die leise Warnung in seinem Scherz: »Aber unsre Urgroßmutter Mariamne zum Beispiel hat bei diesem Spiel den Kopf verloren.« Berenike erhob sich, schritt. »Sei unbesorgt, lieber Bruder«, sagte sie, ihre Stimme blieb leise, aber sie war sehr sicher und voll von Triumph, »dieser Knabe Titus wird mir nicht den Kopf abschlagen lassen.«

Sogleich nachdem er nach Cäsarea zurückgekehrt war, bestürmte Titus seinen Vater, nun endlich die Belagerung Jerusalems zu beginnen. Er wurde ungewohnt heftig. Er ertrage das nicht länger. Er schäme sich vor seinen Offizieren. So langes Zögern könne nicht anders ausgelegt werden denn als Schwäche. Das römische Prestige im Osten sei gefährdet, Ves pasians Vorsicht grenze an Feigheit. Die Dame Cänis hörte stattlich und mißbilligend zu. »Was wollen Sie eigentlich, Titus? Sind Sie so dumm, oder stellen Sie sich so?« Titus erwiderte heftig, der Dame Cänis könne man diese traurige Rechenhaftigkeit nicht verdenken; von ihr könne man nicht Sinn verlangen für soldatischen Anstand. Vespasian kam massig auf seinen Sohn zu. »Aber von dir, mein Junge, verlange ich, daß du dich schleunigst bei Cänis entschuldigst.« Cänis blieb gelassen. »Er hat recht, ich habe wirklich wenig Gefühl für Würde. Würde ist bei der Jugend immer populärer als Vernunft. Aber das sollte er eigentlich einsehen, daß nur ein Trottel in einer solchen Situation seine Armee abgibt.« Vespasian fragte: »Haben sie dich in Tiberias aufgehetzt, mein Junge? Einer nach dem andern. Ich bin erst sechzig. Zehn Jahre wirst du dich schon noch gedulden müssen.«

  Als Titus fort war, ereiferte sich Cänis gegen das Pack in Tiberias. Natürlich waren es diese Juden, die sich hinter Titus gesteckt hatten. Der leisetreterische König, die pfaueneitle Berenike, der schmierige, unheimliche Josef. Vespasian tue besser, das ganze orientalische Gesindel aus dem Spiel zu lassen, römisch und geradezu mit Mucian zu verhandeln. Der Marschall hörte ihr aufmerksam zu. Dann sagte er: »Du bist eine gescheite und resolute Dame, alter Hafen. Aber für den Osten hast du kein Organ. In diesem Osten komme ich ohne das Geld und die Geriebenheit meiner Juden nicht weiter. In diesem Osten sind die krümmsten Wege die geradesten.«
  Die Nachricht kam, daß die Nordarmee ihren Führer Vitell zum Kaiser ausgerufen habe. Otho war gestürzt, Senat und Volk von Rom hatten Vitell als den neuen Kaiser anerkannt. Gespannt schaute die Welt nach dem Osten, und der neue Herr, schlemmerisch und phlegmatisch, zuckte zusammen, sooft der östliche Führer genannt wurde. Aber Vespasian tat, als sähe er von alledem nichts. Gelassen, ohne Zögern, vereidigte er seine Legionen auf den neuen Kaiser, und zögernd, mißmutig folgten seinem Beispiel für Ägypten der Gouverneur Tiber Alexander, für Syrien der Gouverneur Mucian. Von allen Seiten drängte man in Vespasian. Er aber spielte den Verständnislosen, blieb mit jedem Wort loyal.
  Der westliche Kaiser, um sich zu sichern, mußte starke Abteilungen nach der Hauptstadt heranführen, die vier niederrheinischen, die zwei Mainzer Legionen, dazu sechsundvierzig Hilfsregimenter. Vespasian machte die Augen eng, lauerte. Er war ein guter Militär, er wußte, daß mit hunderttausend demoralisierten Berufssoldaten in einer Stadt wie Rom nicht gut hausen war. Diese Soldaten, die den Vitell zum Kaiser gemacht hatten, warteten auf Belohnung. Geld war wenig da, und mit Geld, Vespasian kannte die Sinnesart der Armee, würden sie sich auch nicht begnügen. Sie hatten den anstrengenden Dienst in Deutschland hinter sich, jetzt waren sie in Rom, und jetzt rechneten sie auf die kürzere Dienstzeit und den höheren Sold der hauptstädtischen Garde. Zwanzigtausend Mann, wenn es hoch kommt, kann Vitell in Rom garnisonieren, was aber will er mit den andern machen? In den östlichen Armeen tauchten immer bestimmtere Gerüchte auf, Vitell wolle diese Mannschaften zum Dank für ihre Leistungen nach dem schönen, warmen Osten versetzen. Die östlichen Legionen hatten schon bei der Vereidigung die vorgeschriebenen Hochrufe auf den neuen Herrn nur recht dünn ausgebracht: jetzt zeigten sie ihre Erbitterung öffentlich. Hielten Versammlungen ab, schimpften, man werde allerlei erleben, wenn man versuche, sie nach dem rauhen Deutschland oder nach dem verdammten England zu transportieren. Die Herren des Ostens hörten das mit Vergnügen. Von ihren Offizieren bedrängt, was an den Gerüchten über die Umgruppierung der Armee wahr sei, schwiegen sie, zuckten mit vieldeutigem Bedauern die Achseln. Von Rom her kamen immer wüstere Nachrichten. Die Finanzen waren in heilloser Unordnung, die Wirtschaft stockte, in ganz Italien, in der Hauptstadt selbst, kam es zu Plünderungen, der neue, schlechtorganisierte Hof gab sich lässig, schlemmerisch, üppig, das Reich drohte vor die Hunde zu gehen. Die Empörung im Osten wuchs. Tiber Alexander, König Agrippa schürten sie mit Geld und Gerüchten. Das ganze weite Land jetzt vom Nil bis zum Euphrat hallte wider von den Prophezeiungen über Vespasian; die wunderbare Voraussage, die der gefangene jüdische General Josef Ben Matthias dem Marschall in Gegenwart von Zeugen gemacht hatte, war in aller Mund: »Der Retter wird kommen aus Judäa.« Wenn Josef, immer noch in seiner Fessel, durch die Straßen Cäsareas ging, war um ihn Ehrfurcht und scheues Geraun.

Zauberhaft hell und herrlich war die Luft in diesem Frühsommer an der Küste des Jüdischen Meeres. Vespasian schaute mit seinen klaren, grauen Augen über die leuchtende See, lauerte, wartete. Er wurde immer schweigsamer in dieser Zeit, sein hartes Gesicht wurde härter, herrischer, der steife Körper straffte sich, der ganze Mann wuchs. Er studierte die Depeschen aus Rom. Wirren überall im Reich, die Finanzen zerrüttet, die Armee verlottert, die bürgerliche Sicherheit hin. Der Retter wird ausgehen von Judäa. Aber Vespasian preßte die langen Lippen zusammen, bezwang sich. Die Dinge sollen ausreifen, er läßt sie an sich herankommen.
  Cänis ging um den breiten Mann herum, beschaute ihn. Niemals bisher hatte er Geheimnisse vor ihr gehabt; jetzt war er hinterhältig, unverständlich. Sie war ratlos, und sie liebte ihn sehr.
  Sie schrieb einen täppischen, hausfraulich besorgten Brief an Mucian. Ganz Italien warte doch darauf, daß die Ostarmee sich aufmache, um das Vaterland zu retten. Aber Vespasian tue nichts, sage kein Wort, rühre sich nicht. In Italien wäre sie bestimmt gegen dieses sonderbare Phlegma aufgekommen; aber in diesem verfluchten, unheimlichen Judäa finde sich ja kein Mensch zurecht. Sie bitte Mucian dringend, die Römerin den Römer, er möge auf seine gescheite und energische Art den Vespasian aufrütteln.
  Dieser Brief wurde Ende Mai geschrieben. Anfang Juni kam Mucian nach Cäsarea. Auch er nahm sogleich die Veränderung des Marschalls wahr. Mit einem neidischen, betretenen Respekt sah er, wie dieser Mann größer wurde, je näher die großen Dinge an ihn herankamen. Nicht ohne Bewunderung machte er sich lustig über seine Festigkeit, Schwere, Breite. »Sie haben Philosophie, mein Freund«, sagte er. »Aber ich bitte Sie dringend, philosophieren Sie nicht zu lange.« Er stieß mit seinem Stock gegen einen unsichtbaren Gegner.
  Es lockte ihn, die dreiste Ruhe des Marschalls durch Quertreibereien zu stören. Die alte Eifersucht nagte ihn. Aber nun war es zu spät. Jetzt schwor die Armee auf den andern, jetzt konnte er nur mehr im Schatten des andern marschieren. Er erkannte das, bezwang sich, förderte den andern. Sorgte, daß die Gerüchte über den Austausch der syrischen und judäischen Truppen gegen westliche sich verdichteten. Schon wurden bestimmte Termine genannt. Anfang Juli sollten die Legionen in Marsch gesetzt werden.
  Um die Mitte des Juni stellte sich Agrippa bei Vespasian ein. Er war wieder in Alexandrien gewesen bei seinem Freunde und Verwandten Tiber Alexander. Der ganze Osten, erklärte er dem Marschall, lehne sich auf gegen Vitell. Bestürzt über die wüsten Nachrichten aus Rom, warte Ägypten und beide Asien in wilder, sehnlicher Spannung, daß der gottbegnadete Retter sich endlich ans Werk mache. Vespasian erwiderte nichts, schaute Agrippa an, schwieg beharrlich. Da sprach Agrippa, ungewohnt energisch, weiter: es gebe Männer, die des festen Willens seien, die göttliche Absicht zu fördern. Soviel er wisse, sei der ägyptische Generalgouverneur Tiber Alexander entschlossen, seine Truppen am 1. Juli auf Vespasian zu vereidigen.
  Vespasian bezwang sich, aber er konnte nicht verhindern, daß sein Schnaufen beängstigend hart und hastig wurde. Er ging ein paarmal auf und ab; schließlich sagte er, aber es klang eher wie ein Dank als wie eine Drohung: »Hören Sie, König Agrippa, ich würde dann Ihren Verwandten Tiber Alexander als Hochverräter betrachten müssen.« Er ging ganz nah an den König heran, legte ihm beide Hände auf die Schultern, blies ihm seinen harten Atem ins Gesicht, sagte ungewohnt herzlich: »Es tut mir leid, König Agrippa, daß ich Sie gehänselt habe, weil Sie die Fische aus dem See Genezareth nicht aßen.« Agrippa sagte: »Bitte, zählen Sie auf uns, Kaiser Vespasian, auf unser ganzes Herz und unser ganzes Vermögen.«
  Der Juli rückte vor. Überall im Osten kamen Gerüchte auf, Kaiser Otho habe, unmittelbar bevor er sich den Tod gab, Vespasian in einem Schreiben beschworen, seine Nachfolge anzutreten, das Reich zu retten. Eines Tages fand Vespasian diesen Brief auch wirklich in seinem Einlauf. Der tote Otho richtete große, dringliche Worte an den Feldherrn des Ostens, er solle ihn an dem Schlemmer Vitell rächen, solle Ordnung schaffen, Rom nicht versinken lassen. Vespasian las das Schreiben aufmerksam. Er sagte seinem Sohne Titus, er sei wirklich ein großer Künstler; man müsse geradezu Angst haben vor seiner Kunst. Er fürchte, eines Morgens werde er aufwachen und ein Dokument vorfinden, in welchem er den Titus zum Kaiser ernannt habe.
  Die vierte Juniwoche kam. Die Spannung wurde unerträglich. Cänis, Titus, Mucian, Agrippa, Berenike, alle verloren die Nerven, zerrten ungestüm an Vespasian, er möge sich endlich erklären. Der schwere Mann war nicht von der Stelle zu bringen. Er gab ausweichende Antworten, schmunzelte, machte Witze, wartete.

In der Nacht vom 27. zum 28. Juni berief Vespasian in großer Heimlichkeit den Jochanan Ben Sakkai zu sich. »Sie sind ein sehr gelehrter Herr«, sagte er. »Ich bitte Sie, mich noch weiter über das Wesen Ihres Volkes und Ihres Glaubens zu unterrichten. Gibt es bei euch ein Grundgesetz, eine Goldene Regel, auf die man eure unheimlich zahlreichen Gebote zurückführen kann?« Der Großdoktor wiegte den Kopf, schloß die Augen, erzählte: »Vor hundert Jahren gab es unter uns zwei weitberühmte Doktoren, Schammai und Hillel. Ein Nichtjude kam zu Schammai und sagte ihm, er wolle zu unserm Glauben übertreten, wenn Schammai ihm das Wesen dieses Glaubens beibringe in der Zeit, da er sich auf einem Fuß halten könne. Doktor Schammai schickte ihn erzürnt fort. Da ging der Nichtjude zu Hillel. Doktor Hillel willfuhr ihm. Er sagte ihm: ›Was du nicht willst, das man dir tue, das tue nicht an andern.‹ Das ist alles.« Vespasian dachte ernsthaft nach. Er meinte: »Solche Maximen sind gut; aber ein großes Reich kann man damit schwerlich in Ordnung halten. Da ihr solche Maximen habt, tätet ihr besser, gute Bücher zu schreiben und uns die Politik zu überlassen.« – »Sie sprechen eine Ansicht aus, Konsul Vespasian«, stimmte der Jude bei, »die Ihr Diener Jochanan Ben Sakkai von jeher vertrat.« – »Ich glaube, mein Doktor und Herr«, fuhr der Römer fort, »Sie sind der beste Mann in diesem Land. Mir liegt daran, daß Sie meine Motive begreifen. Glauben Sie mir, ich bin relativ selten ein Schuft, nur dann, wenn es unbedingt sein muß. Lassen Sie mich Ihnen sagen, ich habe gegen Ihr Land nicht das geringste. Nur: ein guter Bauer macht einen Zaun um seinen Besitz. Wir müssen einen Zaun um das Reich haben. Judäa ist unser Zaun gegen die Araber und die Parther. Leider seid ihr, wenn man euch allein läßt, ein schlechter Pfahl. Also müssen wir uns selber hierherstellen. Das ist alles. Was ihr im übrigen treibt, kümmert uns nicht. Laßt uns in Frieden, und wir lassen euch in Frieden.« Jochanans Augen schauten sehr hell und frisch aus dem welken, verrunzelten Gesicht. »Es ist unangenehm«, sagte er, »daß euer Zaun gerade über unser Gebiet läuft. Es ist ein sehr dicker Zaun, und viel von unserm Land bleibt nicht übrig. Aber schön, macht euern Zaun. Nur: wir brauchen auch einen Zaun. Einen andern, einen Zaun um das Gesetz. Worum ich Sie neulich bat, Konsul Vespasian, das ist dieser Zaun. Er ist bescheiden und kümmerlich, vergleicht man ihn mit dem euern: ein paar Gelehrte und eine kleine Universität. Wir behindern eure Soldaten nicht, ihr gebt uns die Universität Jabne. Eine so kleine Universität«, setzte er überredend hinzu, und wiederum mit seinen winzigen Händen malte er ihre Kleinheit.

  »Ich glaube, Ihr Vorschlag ist nicht schlecht«, sagte langsam Vespasian. Er erhob sich, plötzlich sehr verändert. Jochanan mit sicherem Instinkt begriff sogleich diese Veränderung. Bisher hatte ein alter, verträglicher sabinischer Bauer mit einem alten, verträglichen Jerusalemer Gelehrten geredet: jetzt sprach Rom zu Judäa. »Seien Sie bereit«, sagte der Marschall, »übermorgen ein Dokument von mir entgegenzunehmen, das Ihre Forderung bewilligt. Wollen Sie, bitte, mein Doktor und Herr, mir dann Zug um Zug die Unterwerfungsurkunde mit dem Siegel des Großen Rats übergeben.«
  Für den zweiten Tag darauf berief Vespasian eine feierliche Versammlung auf das Forum von Cäsarea. Die Behörden des von Rom besetzten Gebiets, Deputationen aller Regimenter waren hinbeschieden. Allgemein erwartete man, jetzt endlich werde die von den Truppen ersehnte Akklamation Ves pasians zum Kaiser erfolgen. Statt dessen erschien auf der Rednerbühne des Forums der Marschall zusammen mit Jochanan Ben Sakkai. Ein hoher Justizbeamter sprach vor, und ein Herold mit schallender Stimme verkündete, die rebellische Provinz habe ihr Unrecht eingesehen, kehre reuig unter die Schutzherrschaft des Senats und Volks von Rom zurück. Des zum Zeichen werde jetzt der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai dem Marschall Dokument und Siegel der höchsten Behörde Jerusalems überreichen. Der jüdische Krieg, den zu führen das Reich den Feldherrn Titus Flavius Vespasian ausgesandt habe, sei damit zu Ende. Was noch zu tun bleibe, die Züchtigung der Stadt Jerusalem, sei eine polizeiliche Aktion. Die Soldaten schauten sich an, verwundert, enttäuscht. Sie hatten erwartet, ihren Feldherrn als Kaiser begrüßen zu können, Sicherheit über ihr zukünftiges Schicksal und vielleicht auch eine einmalige Gratifikation zu erhalten. Statt dessen sollten sie jetzt Zeugen eines juristischen Aktes sein. Sie wußten als Römer, daß Dokumente und Juristerei eine wichtige Sache waren, immerhin, den Sinn dieser Urkunde begriffen sie nicht. Nur sehr wenige, Mucian, Cänis, Agrippa, deuteten die Zeremonie richtig aus. Sie verstanden, daß dem Ordnungsmanne Vespasian, bevor er als Kaiser nach Rom zurückkehrte, daran lag, von der Gegenseite Brief und Siegel zu erhalten, er habe seine Aufgabe erfüllt.
  Die Soldaten also machten lange Gesichter, viel Unmut wurde laut. Aber Vespasian haue seine Truppen gut diszipliniert, und als man jetzt von ihnen verlangte, sie sollten den Friedensschluß mit großer Zeremonie begrüßen, brachten sie sogar das freudige Gesicht auf, das das Militärreglement für solche Gelegenheiten vorschrieb. Die Armee defilierte also vor dem kleinen Doktor aus Jerusalem. Die Feldzeichen und Standarten zogen an ihm vorbei. Die römischen Legionen grüßten ihn, den Arm mit der flachen Hand ausgestreckt.
  Hatte Josef nicht schon einmal Ähnliches gesehen? So sah er einmal einen östlichen König geehrt in der Stadt Rom vor dem Antlitz des Kaisers Nero, sein Säbel aber war festgenagelt in der Scheide. Jetzt ehrte die römische Armee die jüdische Gottesweisheit, doch erst nachdem sie das Schwert Judäas zer brochen hatte. Josef sah das Schauspiel von einem Winkel des großen Platzes aus, ganz hinten, unter kleinen Leuten und Leibeigenen, man stieß ihn, drängte ihn, schrie. Er starrte gerade vor sich hin, regte sich nicht.
  Der kleine Uralte aber stand auf der Tribüne; später, da er sichtlich ermüdete, brachte man ihm einen Sessel. Immer wieder führte er die Hand an die Stirn, dankte, grüßte. Wiegte ab und zu den welken Kopf, ganz leise lächelnd.

Die Armee, die Zeremonie vollendet, wütete. Mucian und Agrippa waren sicher, der Marschall habe mit Absicht die Empörung der Truppe gesteigert. Sie bestürmten ihn, die Frucht sei überreif, er solle endlich sich als Herrn proklamieren. Als er sich aber auch diesmal naiv und bedächtig gab wie stets, schickten sie Josef Ben Matthias vor.
  Es war eine kühle, angenehme Nacht mit frischem Wind vom Meer her, aber Josef war voll von einer heißen, zitternden Erregung. Es war an dem: sein Römer wird der Kaiser sein, und er hat ein Großteil dazu getan, das zu bewirken. Er zweifelte nicht, daß es ihm gelingen werde, den Zögernden zum Entschluß zu bringen. Natürlich war dieses Zögern nichts andres als klügliches Getändel. Wie wohl Wettläufer zehn Tage vor dem Spiel Schuhe aus Blei tragen, um den Fuß zu trainieren, so mochte sich der Anwärter auf den Thron mit Ausflucht und gespielter Weigerung den Lauf erschwert haben, damit er schließlich das Ziel um so schneller erreiche. Josef also breitete Ergebenheit, Zuversicht, Wissen um das Schicksal mit solcher Dringlichkeit vor Vespasian aus, daß der gar nicht anders konnte, als sich vor Gott und seinem Schicksal neigen und ja sagen.
  Aber Vespasian konnte doch anders. Dieser Mann war wirklich hochmütig und starr wie ein Felsblock. Keinen kleinsten Schritt wollte er von allein tun; bis zum letzten wollte er sich stoßen und schieben lassen. »Sie sind ein Narr, mein Jüdlein«, sagte er. »Eure östlichen Duodezkönige mögen sich ihre Kronen aus Blut und Dreck zusammenleimen; für mich ist das nichts. Ich bin ein römischer Bauer, ich denke nicht daran. Bei uns machen Armee, Senat und Volk den Kaiser, nicht Willkür. Der Kaiser Vitell hat die gesetzliche Bestätigung. Ich bin kein Rebell. Ich bin für Gesetz und Ordnung.« Josef preßte die Zähne aufeinander. Er hatte mit seiner ganzen Intensität gesprochen, sein Wort war an dem hartnäckigen Mann abgeprallt. Der wollte wirklich das Unmögliche, der wollte das Gesetzliche und das Ungesetzliche zugleich. Es war sinnlos, weiter auf ihn einzureden, es blieb nichts übrig als Verzicht.
  Josef konnte sich nicht entschließen zu gehen, und Vespasian schickte ihn nicht weg. Fünf lange Minuten saßen die beiden Männer stumm in der Nacht. Josef ausgehöhlt und resigniert, Vespasian sicher, gleichmäßig atmend.
  Plötzlich nahm der Marschall das Gespräch wieder auf, leise, doch jedes Wort wägend: »Sie können Ihrem Freunde Mucian sagen, daß ich mich nicht fügen werde, daß ich nur dem äußersten Zwang weichen würde.« Josef sah hoch, sah ihn an, atmete groß auf. Versicherte sich nochmals: »Aber dem Zwang würden Sie weichen?« Vespasian achselzuckte: »Totschlagen natürlich ließ ich mich ungern. Sechzig Jahre sind für einen robusten Bauern wie mich kein Alter.«
  Josef verabschiedete sich so rasch wie möglich. Vespasian wußte: der Jude wird sofort zu Mucian gehen, er selber wird morgen, leider, erfreulicherweise gezwungen werden, Kaiser zu sein. Er war ein nüchterner Herr, er hatte es Cänis und sich streng verwehrt, dieses Ziel zu schmecken, solange es nicht erreicht war. Jetzt also kostete er es aus. Hart den Atem durch die Nase stieß er. Er hatte noch keine Zeit gefunden, sich’s bequem zu machen; mit den schweren Soldatenstiefeln stapfte er über den kühlen Steinboden des Zimmers. »T. Fl. Vespasian, Kaiser, Herrscher, Gott«, schmunzelte er, grinste breit, machte das Gesicht wieder scharf. »Na ja«, sagte er. Er warf die lateinischen und die östlichen Worte durcheinander: Cäsar, Adir, Imperator, Messias. Eigentlich war es komisch, daß sein Jude ihn als erster akklamiert hatte. Ein klein wenig verdroß es ihn: er fühlte sich dem Menschen fester verkettet, als er wollte.
  Er spürte Lust, Cänis zu wecken, der Frau, die nun so lange Sturz und Aufstieg mit ihm geteilt hatte, zu sagen: »Ja, nun ist es an dem.« Aber dieses Verlangen dauerte nur einen kleinen Augenblick. Nein, er mußte jetzt allein sein, keinen einzigen Menschen konnte er sehen. Doch, einen. Einen ganz fremden, der von ihm nichts wußte und von dem er nichts wußte. Wieder faltete er das Gesicht auseinander, breit, böse, glücklich. Mitten in der Nacht schickte er nach Josefs Haus und befahl Josefs Frau zu sich, Mara, Tochter des Lakisch, aus Cäsarea.
  Josef war soeben von der Unterredung mit Mucian nach Hause gekommen, sehr hochgestimmt in dem Bewußtsein, einen wie großen Anteil er daran hatte, daß nun morgen sein Römer Kaiser sein wird. Um so tiefer jetzt stürzte er hinunter. Es war eine fressende Schmach und Enttäuschung, daß der Römer den Mann, der ihm die große Idee eingegeben hatte, auf solche Art demütigte. Der freche Unbeschnittene wird nicht zulassen, daß er sich je wieder aus dem Schlamm dieser Ehe heraushebt. In sich hinein knirschte er alle die höhnischen Namen, mit denen der Marschall genannt wurde: Spediteur, dreckiger, Pferdeäpfelbauer! Fügte die unflätigsten Schimpfworte zu, aramäische, griechische, was immer ihm beifiel.
  Das Mädchen Mara, nicht weniger erschreckt als er, fragte still: »Josef, mein Herr, soll ich sterben?« – »Närrin«, sagte Josef. Sie hockte vor ihm, mattweiß, jämmerlich, in einem dünnen Hemd. Sie sagte: »Das Blut, das vor drei Wochen hätte kommen sollen, ist nicht gekommen. Josef, mein Mann, den Jahve mir gegeben hat, höre: Jahve hat meinen Leib gesegnet.« Und da er schwieg, fügte sie ganz leise hinzu, demütig, erwartungsvoll: »Willst du mich nicht halten?« – »Geh!« sagte er. Sie fiel um. Nach einer Weile raffte sie sich hoch, schleppte sich zur Tür. Er aber, da sie gehen wollte, wie sie war, fügte unwirsch, befehlend hinzu: »Zieh deine besten Kleider an.« Sie gehorchte scheu, zögernd. Er musterte sie und sah, daß sie schlichte Schuhe trug. »Auch die parfümierten Sandalen«, herrschte er sie an.
  Vespasian, in der Stunde, da sie bei ihm war, fühlte sich sehr zufrieden, genoß sie mit allen Sinnen. Er wußte, morgen wird es sein, morgen wird man ihn akklamieren, und dann wird er für immer aus diesem Osten weggehen dahin, wohin er gehört, in seine Stadt Rom, um dort Ordnung und Zucht zu schaffen. Im Grund verachtete er ihn, diesen Osten, aber mit einer Art gönnerhafter Liebe. Dieses Judäa jedenfalls hat ihm gut geschmeckt, das fremdartige, glückbringende, vergewaltigte Land war ein brauchbarer Schemel für seine Füße gewesen, es hatte sich als sehr geeignet erwiesen, sich unterwerfen und profitieren zu lassen, und auch diese Mara, Tochter des Lakisch, gerade weil sie so still und voll verächtlicher Sanftmut war, sagte ihm zu. Er dämpfte seine knarrende Stimme, legte ihren mondlich schimmernden Kopf auf seine haarige Brust, spielte mit seinen gichtischen Händen in ihrem schwarzen Haar, sprach ihr gut zu mit den paar spärlichen aramäischen Worten, die er wußte: »Sei zärtlich, mein Mädchen! Sei nicht dumm, meine Taube!« Er sagte das mehrmals, möglichst mild, aber doch ein wenig abwesend und verächtlich. Er schnaufte, er war angenehm müde, er hieß sie sich waschen und anziehen, rief seinen Kammerdiener, ließ sie wegbringen, und eine Minute später hatte er sie vergessen und schlief befriedigt ein in Erwartung des kommenden Tages.
  Es war eine sehr kurze Nacht, und es war in der ersten Dämmerung, als Mara zu Josef zurückkehrte. Sie ging schwer, als trüge sie jeden ihrer Knochen einzeln, ihr Gesicht war verwischt, lappig, wie aus feuchtem, schlechtem Stoff. Sie zog das Kleid aus. Langsam, mit Mühe dröselte sie daran, dröselte es auf, zerriß es, umständlich, mit Mühe, in lauter kleine Fetzen. Dann nahm sie die Sandalen, die geliebten, parfümierten Sandalen, riß daran herum, mit Nägeln, mit Zähnen, alles langsam, lautlos. Josef haßte sie, weil sie nicht klagte, weil sie nicht gegen ihn aufbegehrte. In ihm war nur ein Gedanke: Weg von ihr, fort von ihr! Ich komme nicht hinauf, solange ich eine Luft mit ihr atme.

Den Vespasian, als er sein Schlafzimmer verließ, begrüßten die wachhabenden Soldaten mit der Ehrenbezeigung und dem Gruß, der dem Kaiser vorbehalten war. Vespasian grinste: »Verrückt geworden, Jungens?« Aber da war schon der diensttuende Offizier und andere Offiziere, und sie wiederholten den Kaiserlichen Gruß. Vespasian zeigte Zorn. Nun aber stellten sich auch einige Obersten und Generäle ein, an ihrer Spitze Mucian. Das ganze Gebäude war plötzlich voll von Soldaten, Soldaten füllten den weiten Platz davor, und immer wieder und immer lauter, während die ganze Stadt in stürmische Begeisterung geriet, wiederholten sie den Kaiserlichen Gruß. Mucian währenddes, in dringlicher und außerordentlich geschickter Rede, bestürmte den Marschall, das Vaterland nicht im Dreck verkommen zu lassen. Die andern unterstützten seine Rede mit wilden Zurufen, immer dreister drangen sie vor, ja, schließlich zückten sie die Schwerter und drohten, da sie nun doch einmal Rebellen seien, ihn zu ermorden, wenn er sich nicht an ihre Spitze stelle. Vespasian, mit seiner Lieblingswendung, sagte: »Na, na, na, nicht so heftig, Jungens. Wenn ihr durchaus darauf besteht, dann sag ich nicht nein.«

  Den elf Soldaten, die die Wache gehalten hatten, diktierte er wegen des unvorschriftsmäßigen Grußes eine Strafe von dreißig Hieben zu und eine Gratifikation von siebenhundert Sesterzien. Wenn sie wollten, konnten sie sich von den dreißig Hieben durch dreihundert Sesterzien loskaufen. Die fünf Soldaten, die die Hiebe und die Sesterzien nahmen, beförderte er zu Feldwebeln.
  Dem Josef sagte er: »Ich denke, mein Jüdlein, jetzt können Sie Ihre Kette ablegen.« Josef hob ohne großen Dank die Hand zur Stirn, das blaßbraune Gesicht unverhohlen mürrisch, voll Auflehnung. »Haben Sie sich mehr erwartet?« hänselte Vespasian. Und da Josef schwieg, fügte er barsch hinzu: »Machen Sie schon den Mund auf! Ich bin kein Prophet.« Er hatte wohl längst erraten, was Josef wollte, aber es machte ihm Spaß, den Juden selber darum bitten zu lassen. Allein der gutmütige Titus mischte sich ein: »Doktor Josef erwartet wohl, daß man ihm die Kette zerhaut.« Dies war die Art, wie man Männer befreite, die zu Unrecht gefangen waren. »Na schön«, achselzuckte Vespasian. Er ließ zu, daß die Zerschlagung der Kette in großer Zeremonie geschah.
  Josef, als freier Mann, bückte sich tief, fragte: »Darf ich fortan den Geschlechternamen des Kaisers führen?«
  »Wenn Sie sich davon etwas versprechen«, meinte Vespasian, »ich habe nichts dagegen.« Und Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe aus Jerusalem, nannte sich von da an Flavius Josephus.


VIERTES BUCH


Alexandrien





      in langes, schmales Rechteck, streckte sich die Hauptstadt des Ostens, das ägyptische Alexandrien, am Meer
      entlang, nach Rom die größte Stadt der bekannten Welt und sicherlich ihre modernste. Fünfundzwanzig Kilometer maß ihr Umfang. Sieben große Avenuen durchschnitten ihre Länge, zwölf ihre Breite; die Häuser waren hoch und weit, alle versehen mit fließendem Wasser.
  Im Angelpunkt dreier Weltteile, an der Kreuzung des Orients und des Okzidents, an der Straße nach Indien gelegen, hatte sich Alexandrien zum ersten Handelsplatz der Welt hochgeschwungen. Auf der ganzen neunhundert Kilometer langen Strecke der asiatischen und afrikanischen Küste zwischen Joppe und Parätonium war der Hafen dieser Stadt der einzige wettersichere. Hier stapelten sich Goldstaub, Elfenbein, Schildpatt, arabisches Gewürz, Perlen des persischen Meers, indische Edelsteine, chinesische Seide. Eine mit der modernsten Technik arbeitende Industrie lieferte berühmte Leinwand bis nach England, wirkte kostbare Teppiche und Gobelins, stellte für arabische und indische Volksstämme Nationaltrachten her. Fabrizierte edle Gläser, berühmte Parfüms. Versorgte die ganze Erde mit Papier, vom dünnsten Damenbriefpapier bis zum gröbsten Packpapier.
  Alexandrien war eine arbeitsame Stadt. Hier hatten selbst die Blinden zu tun, und die ausgemergelten Greise gingen nicht müßig. Es war fruchttragende Arbeit, und die Stadt versteckte diese Früchte nicht. Während in den engen Straßen Roms und in den hügeligen Straßen Jerusalems jeder Wagenverkehr tagsüber verboten war, hallten in Alexandrien die luftigen Boulevards wider vom Verkehr von Zehntausenden von Fahrzeugen, und eine nie abreißende Reihe von Luxusgefährten zog die beiden Korsostraßen auf und ab. Riesig hob sich inmitten weiter Parks die Residenz der alten Könige, das Museum, die stolze Bibliothek, das Mausoleum mit dem gläsernen Sarg und dem Leichnam Alexanders des Großen. Der Fremde brauchte Wochen für die vielen Sehenswürdigkeiten. Da war noch das Heiligtum des Serapis, die Theater, die Rennbahn, die Insel Pharus, gekrönt von ihrem weißen, berühmten Leuchtturm, die riesigen Industrie- und Hafenanlagen, die Basilika, die Börse, die die Warenpreise der Welt festsetzte, und nicht zuletzt das große Vergnügungsviertel, das in den üppigen Badeort Canopus ausmündete.
  Man lebte leicht und gut in Alexandrien. Zahllos waren die Garküchen und die Kneipen, in denen das berühmte einheimische Gerstenbier verzapft wurde. An allen Tagen, die das Gesetz dafür freigab, fanden in den Theatern, im Sportpalast, in der Arena Spiele statt. In ihren Stadtpalästen, in ihren Villen in Eleusis und Canopus, auf ihren Luxusjachten gaben die Reichen raffiniert ausgeklügelte Feste. Das Ufer des zwanzig Kilometer langen Kanals, der Alexandrien mit dem Badeort Canopus verband, war besetzt mit Speisehäusern. Man fuhr auf Barken den Kanal hinauf und hinunter; die Kajüten hatten Vorrichtungen, daß sie bequem verhängt werden konnten; überall am Ufer im Schatten des Geranks der ägyptischen Bohne lagen solche Schiffe verankert. Hier in Canopus lokalisierte man die elysäischen Gefilde Homers; in allen Provinzen träumten die Kleinbürger von canopischen Ausschweifungen, sparten für eine Reise nach Alexandrien.
  Auch edleren Genüssen diente der Reichtum der Stadt. Das Museum übertraf die Kunstsammlungen Roms und Athens, die lückenlose Bibliothek hatte neunhundert Schreiber in ständigem Dienst. Die Lehranstalten Alexandriens waren besser als die Schulen Roms. In der Kriegswissenschaft, vielleicht auch in Jurisprudenz und Nationalökonomie mochte die Reichshauptstadt überlegen sein; aber in den andern Disziplinen führte unbestritten die Akademie Alexandriens. Die römischen Familien der herrschenden Schicht bevorzugten die Ärzte, die an der alexandrinischen Anatomie studiert hatten. Auch pflegte die Stadt auf Betreiben ihrer Mediziner eine humane Art der Hinrichtung, indem sie den schnell wirkenden Biß einer zu diesem Zweck gezüchteten Giftnatter verwandte.
  Die Alexandriner, bei aller Modernität, hingen an der Tradition. Sie hielten ihre Tempel und Kultstätten im Ruf besonderer Heiligkeit und Wirksamkeit, ließen die von den Vätern ererbte altägyptische Magie nicht abreißen, klammerten sich an ihre überkommenen Bräuche. Wie in Urzeiten verehrten sie ihre heiligen Tiere, Stier, Sperber, Katze. Als ein römischer Soldat versehentlich eine Katze umgebracht hatte, konnte ihn keine Macht vor der Hinrichtung retten.
  So lebten diese zwölfmalhunderttausend Menschen, rastlos aus der Arbeit in den Genuß, aus dem Genuß in die Arbeit stürzend, immer nach Neuem süchtig und andächtig starr am Überkommenen hängend, sehr launisch, aus höchster Gunst jäh in wilde Abneigung umschlagend, geldgierig, geistreich, von beweglichem, bösartigem Witz, zügellos frech, musisch, politisiert bis in die Poren ihrer Haut. Aus allen Teilen der Erde waren sie in die Stadt zusammengeströmt; bald aber hatten sie ihre Heimat vergessen und fühlten sich nur mehr als Alexandriner. Alexandrien, das war die Stadt des Morgen- und des Abendlandes, der sinnenden Philosophie, der heitern Kunst, des rechnenden Handels, der rastlosen Arbeit, des überschäumenden Genusses, der ältesten Tradition, der modernsten Lebensform. Unbändig stolz waren sie auf ihre Stadt, und es kümmerte sie nicht, daß ihr maßloser, großschnäuziger Lokalpatriotismus überall Ärgernis gab.
  Inmitten dieser Gemeinschaft lebte eine Gruppe Menschen, noch älter, noch reicher, noch gebildeter, noch hochfahrender als die andern: die Juden. Sie hatten eine bewegte Geschichte hinter sich. Seitdem vor siebenhundert Jahren tapfere jüdische Landsknechte dem König Psammetich seinen großen Sieg erfochten hatten, saßen sie im Land. Später hatten der makedonische Alexander, die Ptolemäer sie zu Hunderttausenden angesiedelt. Jetzt lebten ihrer allein in der Stadt Alexandrien fast eine halbe Million. Ihre kultische Absonderung, ihr Reichtum, ihre Hoffart hatten immer wieder zu wüsten Pogromen geführt. Erst vor drei Jahren, als der Aufruhr in der Provinz Judäa ausbrach, waren in Alexandrien an fünfzigtausend Juden in einem wilden Gemetzel umgekommen. Noch heute lagen in dem Stadtteil Delta, ihrem Hauptwohnsitz, weite Bezirke verwüstet. Vieles Zerstörte ließen sie absichtlich liegen, auch wuschen sie von den Mauern ihrer Synagogen das Blut nicht weg, das damals verspritzte. Sie waren stolz selbst auf diese Angriffe, sie waren ihnen eine Bestätigung ihrer Macht. Denn sie regierten in Wahrheit das Land Ägypten, wie einst Josef, der Sohn des Jakob, unter seinem Pharao das Land beherrscht hatte. Der Feldmarschall Tiber Alexander, der Generalgouverneur Ägyptens, war jüdischer Abkunft, und die führenden Männer der Provinz, Anwälte, Textilfabrikanten, Steuerpächter, Waffenhändler, Bankiers, Korngroßhändler, Reeder, Papierfabrikanten, Ärzte, Lehrer der Akademie waren Juden.
  Die Hauptsynagoge in Alexandrien war eines der Wunderwerke der Welt. Sie bot Raum für mehr als hunderttausend Menschen; nächst dem Tempel von Jerusalem war sie das größte jüdische Bauwerk der Erde. Einundsiebzig Stühle aus reinem Gold standen da für den Großmeister und die Präsidenten des Gemeinderats. Keine noch so umfangreiche menschliche Stimme konnte das mächtige Haus durchdringen: man mußte mit Fahnen anzeigen, wenn die Gemeinde dem Vorbeter ihr Amen respondieren sollte.
  Stolz blickten die alexandrinischen Juden auf die römischen herab, auf diese Westjuden, die zumeist kärglich lebten und sich aus ihrer Proletarierexistenz nicht recht hochbringen konnten. Sie, die Alexandriner, hatten ihr Judentum klug und harmonisch mit der Lebensform und dem Weltbild des griechischen Orients ausgesöhnt. Schon vor hundertfünfzig Jahren hatten sie die Bibel ins Griechische übertragen, und sie fanden, diese ihre Bibel füge sich gut in die griechische Welt.
  Trotz alledem und trotzdem sie in Leontopolis ihren eigenen Tempel hatten, galt ihnen der Berg Zion als ihr Zentrum. Sie liebten Judäa, sie sahen mit tiefem Mitleid, wie infolge der politischen Unfähigkeit Jerusalems der jüdische Staat zu zerfallen drohte. Eine ganz große Sorge erfüllte sie: daß wenigstens der Tempel erhalten bleibe. Sie zinsten dem Tempel wie alle andern Juden, sie pilgerten nach Jerusalem, sie hatten dort ihre eigenen Hotels, Synagogen, Friedhöfe. Viele Weihgeschenke des Tempels, Tore, Säulen, Hallen, waren von ihnen errichtet worden. Ein Leben ohne den Tempel in Jerusalem war auch den alexandrinischen Juden nicht denkbar.
  Sie schritten hoch her, sie ließen sich nicht anmerken, wie sehr die Geschehnisse in Judäa an sie rührten. Die Geschäfte blühten, der neue Kaiser hatte Verständnis für sie. Glänzend in ihren Luxuswagen fuhren sie über den Korso, sie saßen fürstlich auf ihren hohen Stühlen innerhalb der Schranken der Basilika, der Börse, sie gaben ihre großen Feste in Canopus, auf der Insel Pharus. Aber wenn sie unter sich waren, dann, oft, verdüsterten sich ihre hochmütigen Gesichter. Ihr Atem preßte sich, ihre stolzen Schultern erschlafften.

Die Juden Alexandriens nahmen Josef herzlich und mit Achtung auf, als er im Gefolg des neuen Kaisers aus dem Schiff stieg. Man schien genau zu wissen, welchen Anteil er an der Akklamation Vespasians hatte, ja, man überschätzte diesen Anteil. Josefs Jugend, seine verhaltene Spannkraft, die ernste Schönheit seines hagern, heftigen Gesichts packte die Herzen. Wie seinerzeit in Galiläa, so rief es jetzt in Alexandrien, wenn er in den Straßen der Juden sich zeigte: »Marin, Marin, unser Herr, unser Herr.«
  Nach dem finstern Fanatismus Judäas, nach der Derbheit des römischen Militärbetriebs pumpte er sich jetzt genießerisch voll mit der freien Helligkeit der Weltstadt. Sein dumpfes und wildes früheres Leben, sein Weib Mara hatte er in Galiläa zurückgelassen. Sein Bereich waren nicht die Intrigen aktueller Politik, nicht die groben Aufgaben militärischer Organisation, sein Bereich war das Geistige. Mit Stolz am Gürtel trug er das goldene Schreibzeug, das der junge General Titus, als man Judäa verließ, ihm als Ehrengabe geschenkt hatte.
  Prächtig an der Seite des Großmeisters Theodor Bar Daniel fuhr er über den Korso. Er zeigte sich in der Bibliothek, in den Bädern, in den Luxusrestaurants von Canopus. Der Jude mit dem goldenen Schreibzeug war bald überall bekannt. In manchen Lehrsälen bei seinem Eintritt erhoben sich Lehrer und Studenten. Die Fabrikanten, die Kaufherren waren stolz, wenn er ihre Werke, Lager, Warenspeicher besichtigte, die Literaten geehrt, wenn er ihren Vorlesungen beiwohnte. Er führte das Leben eines großen Herrn. Die Männer hörten auf ihn, die Frauen flogen ihm zu.
  Ja, er hatte recht gehabt mit seiner Prophezeiung. Vespasian war wirklich der Messias. Die Erlösung freilich durch diesen Messias vollzog sich anders, als er gedacht hatte, langsam, hell, nüchtern. Sie bestand darin, daß dieser Mann die Schale des Judentums zerschlug, auf daß ihr Inhalt über die Erde verströmte und Griechentum und Judentum ineinanderschmolzen. In Josefs Leben und Weltbild drang immer mehr von dem hellen, skeptischen Geist dieser östlichen Griechen. Er verstand nicht mehr, wie er früher hatte Abscheu spüren können vor allem Nichtjüdischen. Die Heroen des griechischen Mythos und die Propheten der Bibel schlossen einander nicht aus, es war kein Gegensatz zwischen den Himmeln Jahves und dem Olymp des Homer. Josef begann die Grenzen zu hassen, die ihm früher Auszeichnung, Auserwähltheit bedeutet hatten. Es kam darauf an, das eigene Gute überfließen zu lassen in die andern, das fremde Gute einzusaugen in sich selbst.
  Er war der erste Mensch, eine solche Weltanschauung beispielhaft vorzuleben. Er war eine neue Art Mensch, nicht mehr Jude, nicht Grieche, nicht Römer: ein Bürger des ganzen Erdkreises, soweit er gesittet war.


Von jeher war die Stadt Alexandrien der Hauptsitz der Judenfeinde gewesen. Hier hatten Apion, Apollonius Molo, Lysimach, der ägyptische Oberpriester Manetho gelehrt, die Juden stammten von Aussätzigen ab, sie verehrten in ihrem Allerheiligsten einen Eselskopf, sie mästeten in ihrem Tempel junge Griechen, schlachteten sie an ihrem Osterfest und schlössen alljährlich, das Blut dieser Opfer trinkend, ein jüdisches Geheimbündnis gegen alle andern Völker. Vor dreißig Jahren hatten zwei Direktoren der Sporthochschule, Dionys und Lampon, die judenfeindliche Bewegung fachmännisch organisiert. Der weiße Schuh der Sporthochschule war allmählich zum Symbol geworden, und jetzt nannten sich die Judenfeinde des ganzen Landes Ägypten »Die Weißbeschuhten«.
  Mit dem Juden Josef war den Weißbeschuhten eine neue Plage über Alexandrien gekommen. Wie er hochmütig in der Stadt herumfuhr und sich feiern ließ, galt er ihnen als der fleischgewordene jüdische Übermut. In ihren Klubs, bei ihren Zusammenkünften sang man Couplets, zum Teil recht witzige, über den jüdischen Freiheitshelden, der zu den Römern übergelaufen war, über den betriebsamen Makkabäer, der sich überall einschob und den Mantel nach jedem von den acht Winden hängte.
  Eines Tages nun, als Josef das Agrippabad betreten wollte, mußte er in der Vorhalle eine Gruppe junger weißbeschuhter Herren passieren. Kaum waren die Weißbeschuhten seiner ansichtig geworden, als sie einen widerlich näselnden, gurgelnden, quiekenden Singsang anstimmten: »Marin, Marin«, offenbar um die enthusiastischen Zurufe der Juden an Josef zu parodieren.
  Josefs blaßbraunes Gesicht erblaßte noch tiefer. Aber er ging gerade zu, den Kopf nicht rechts noch links drehend. Die Weißbeschuhten, als sie sahen, daß er ihrer nicht achtete, verdoppelten ihre Zurufe. Einige riefen: »Geht nicht zu nah an ihn heran, daß ihr euch nicht ansteckt.« Andere: »Wie schmeckt Ihnen unser Schweinefleisch, Herr Makkabäer?« Von allen Seiten jetzt johlte es, gellte es: »Josef, der Makkabäer! Der beschnittene Livius!«, und Josef sah vor sich eine Mauer hämischer, haßgeifernder Gesichter. »Wünschen Sie was?« fragte er in das nächste Gesicht, ein olivbraunes, und seine Stimme war sehr ruhig. Der Angeredete, mit übertrieben frecher Unterwürfigkeit, sagte: »Ich wollte Sie nur um eine Auskunft bitten, Herr Makkabäer. Ist Ihr Herr Vater auch aussätzig gewesen?« Josef schaute ihm in die Augen, sagte nichts. Ein zweiter Weißbeschuhter, auf Josefs goldenes Schreibzeug weisend, fiel ein: »Hat das einer Ihrer Herren Väter mitgehen lassen, als sie aus Ägypten hinausgejagt wurden?« Josef sagte noch immer nichts. Plötzlich, mit einer erschreckend jähen Bewegung, zog er das schwere Schreibzeug aus dem Gürtel, schlug es dem Frager auf den Kopf. Der brach zusammen. Es war lautlos still ringsum. Josef, hochmütig, ohne sich nach dem Gefallenen umzuwenden, ging in das Innere des Bades. Die Weißbeschuhten wollten ihm nach, Badediener, Gäste warfen sich dazwischen.
  Der Getroffene, es war ein gewisser Chäreas, aus angesehener Familie, war ernstlich verletzt. Untersuchung gegen Josef wurde eingeleitet, bald niedergeschlagen. Der Kaiser sagte zu Josef: »Na ja, mein Junge, ganz nett. Aber dazu haben wir Ihnen das Schreibzeug eigentlich nicht geschenkt.«
Alljährlich feierten die alexandrinischen Juden auf der Insel Pharus ein großes Fest zur Erinnerung an die Vollendung der griechischen Bibel. Der zweite Ptolemäus und der Chef seiner Bibliothek, Demetrius von Phaleron, hatten drei Jahrhunderte zuvor die Übersetzung der Heiligen Schrift ins Griechische angeregt. Zweiundsiebzig jüdische Doktoren, des Hebräischen und des Griechischen in gleicher Weise kundig, hatten das schwierige Werk vollendet, das den Juden Ägyptens, die den Urtext nicht mehr verstanden, das Wort Gottes vermittelte. Die zweiundsiebzig Doktoren hatten unter Klausur gearbeitet, jeder streng abgesondert; dennoch hatte der Text eines jeden am Ende wortwörtlich übereingestimmt mit dem Text aller andern. Dieses Wunder, durch das Jahve dartat, daß er die Versöhnlichkeit der Juden und ihr Zusammenleben mit den Griechen billigte, feierten die Alexandriner mit ihrem jährlichen Fest.
  Alle führenden Männer und Frauen der Stadt, auch die Nichtjuden, zeigten sich an diesem Tage auf der Insel Pharus; nur die Weißbeschuhten blieben fern. Auch der Kaiser nahm teil, der Prinz Titus, die vielen großen Herren aus Rom und allen Provinzen, die die Anwesenheit des Hofs nach Alexandrien gespült hatte.
  Josef war die Aufgabe zugefallen, den Dank der Fremden auszusprechen, die zu dem Fest geladen waren. Er tat das in einer heitern, doch nicht unbedeutenden Art, feierte in bewegten Worten das völkerverbindende Schrifttum, die völkerverbindende Weltstadt Alexandrien.
  Er mußte, um mit Erfolg sprechen zu können, die Wirkung auf den Gesichtern der Zuhörer wahrnehmen, und er pflegte, um den Eindruck abzulesen, wahllos ein Gesicht aus der Zuhörermenge auszusuchen. Diesmal fiel sein Auge auf einen fleischigen und doch strengen, sehr römischen Kopf. Aber der Kopf versperrte sich ihm und blieb während seiner ganzen Rede unbewegt. Säuerlich, sonderbar blicklos, schaute dieser römische Kopf durch ihn hindurch, über ihn hinweg, mit einem merkwürdig stumpfen Hochmut, der ihn beinahe aus dem Konzept brachte. Seine Rede vollendet, erkundigte sich Josef, wer der Herr sei, dem der Kopf gehörte. Es ergab sich, daß es Cajus Fabull war, Kaiser Neros Hofmaler, von dem die Fresken des Goldenen Hauses stammten. Josef sah sich den Mann genau an, der seine Rede mit so unhöflicher Gleichgültigkeit angehört hatte. Auf einem gedrungenen, dicken, fast unförmigen Körper saß ein starker, strenger Kopf. Im übrigen war Cajus Fabull besonders sorgfältig angezogen, er hielt sich steif und würdevoll, was bei seiner Beleibtheit ein bißchen komisch wirkte.
  Josef hatte in Rom viel von den Schrullen dieses Cajus Fabull gehört. Der Maler, überzeugter Hellenist, der eine leichte, sinnenfreudige Kunst übte, war in seinem Wesen betont gravitätisch; er malte nur im Galakleid, er war äußerst hochmütig, er sprach nicht mit seinen Leibeigenen, verständigte sich mit ihnen nur durch Zeichen und Winke. So berühmt und gesucht seine Kunst war – es gab keine noch so kleine Provinzstadt, die nicht Fresken und Bilder in seiner ‘ Manier aufwies –, war es ihm trotzdem nicht geglückt, in die großen römischen Familien einzudringen. Er hatte schließlich eine hellenisierte Ägypterin geehelicht und sich damit den Eintritt in die herrschende Schicht für immer verbaut.
  Josef wunderte sich, daß Fabull überhaupt hier war; man hatte ihm gesagt, er zähle zu den eifrigsten Anhängern der Weißbeschuhten. Dem Josef war alle Malerei zuwider, sie sprach nicht zu ihm. Die Vorschrift der Lehre: du sollst dir kein Abbild machen, hatte sich tief in ihn eingefressen. Man schätzte auch in Rom den Schriftsteller sehr hoch, den Maler aber als ein Wesen niedriger Kaste; diesen eiteln Künstler Fabull betrachtete Josef mit doppelt verächtlicher Abneigung.
  Der Kaiser sprach Josef an. Er hatte in einem besonders schönen Exemplar der griechischen Bibel, das man ihm als Ehrengeschenk ausgehändigt hatte, mit sicherm Blick gewisse erotische Partien herausgefunden und erbat sich jetzt mit knarrender Stimme von Josef Erläuterungen. »Sie haben ja ein wenig Fett angesetzt, mein Jüdlein«, sagte er unvermittelt, erstaunt. Er wandte sich an Fabuli, der in der Nähe stand. »In Galiläa hätten Sie meinen Juden sehen sollen, Meister. Damals war er großartig. Stoppelig, hundsmager, verwahrlost. Wirklich ein Prophet zum Malen.« Fabull stand steif, säuerlich; Josef lächelte höflich. »Ich habe mir hier«, fuhr Vespasian fort, »den Arzt Hekatäus zugelegt. Der läßt mich jede Woche einmal fasten. Das bekommt mir ausgezeichnet. Was meinen Sie, Fabull? Wenn wir den Burschen eine Woche fasten lassen, wollen Sie ihn mir dann malen?« Fabull stand stocksteif, das Gesicht ein wenig verzerrt. Josef sagte geschmeidig: »Es freut mich, Majestät, daß Sie heute in der Lage sind, so vergnügt über Jotapat zu scherzen.« Der Kaiser lachte. »Wenn das Wetter umschlägt«, sagte er, »spüre ich immer noch den Fuß, auf den mir Ihre Leute die Steinkugel gepfeffert haben.« Er wies auf die Dame, die neben dem Maler stand. »Ihre Tochter, Fabull?« – »Ja«, sagte der Maler trocken, zurückhaltend, »meine Tochter Dorion.« Alle beschauten das Mädchen. Dorion war ziemlich groß, schmal und zart, die Haut gelbbraun, langer, dünner Kopf, die Stirn schräg und hoch, die Augen meerfarben. Die Jochbogen betont, die Nase stumpf, ein wenig breit, das Profil leicht und rein; groß, frech sprang der Mund aus dem zarten, hochfahrenden Gesicht. »Nettes Mädchen«, sagte der Kaiser. Und, sich verabschiedend: »Na ja. Überlegen Sie sich’s, Fabull, ob Sie mir meinen Juden malen wollen.« Er brach auf.
  Die andern standen eine kleine Weile stumm und betreten zusammen. Fabull war nur aus Rücksicht auf das neue Regime auf das Fest gegangen. Er hatte Dorion mit Mühe bewogen, mitzukommen. Jetzt bereute er, daß er da war. Er dachte nicht daran, den faulen, eiteln jüdischen Literaten zu porträtieren. Josef seinesteils dachte nicht daran, sich von dem überheblichen, verständnislosen Maler porträtieren zu lassen. Immerhin war nicht zu leugnen, das Mädchen Dorion war eine auffallende Erscheinung. Nettes Mädchen, hatte der Kaiser gesagt. Das war platt ausgedrückt und überdies schief. Wie sie dastand, zart bis zur Gebrechlichkeit, locker und doch streng in der Haltung, ein ganz kleines, triumphierendes und obszönes Lächeln um den großen Mund. Josef schmeckte mit Widerwillen ihre etwas wilde Anmut.
  »Naja«, wiederholte ein wenig spöttisch das Mädchen Dorion die Lieblingsworte des Kaisers. »Wollen wir nicht auch gehen, Vater?« Sie hatte eine hohe, dünne, bösartige Stimme. Josef machte den Mund auf, sie anzusprechen, aber dem sonst so Gewandten fiel nichts Rechtes ein. In diesem Augenblick spürte er, daß sich etwas an seinen Füßen rieb. Er sah an sich herunter, es war eine große, rotbraune Katze. Die Katzen, heilige Tiere, wurden in Ägypten verhätschelt, Römer und Juden mochten sie nicht. Josef suchte sie wegzuscheuchen. Sie blieb, sie belästigte ihn. Er beugte sich nieder, packte das Tier. Plötzlich sprang ihn die Stimme des Mädchens an: »Lassen Sie die Katze!« Es war eine schrille, unangenehme Stimme. Merkwürdig, wie sanft sie wurde, als sie sich jetzt an die Katze wandte: »Komm, mein Tierchen! Meine Liebe, meine kleine Göttin! Er versteht nichts von dir, der Mann. Hat er dich erschreckt?« Und sie streichelte die Katze. Das häßliche Tier schnurrte.
  »Entschuldigen Sie«, sagte Josef, »ich wollte Ihrer Katze nicht zu nahe treten. Es sind nützliche Tiere, in Mäusejahren.« Dorion hörte gut seinen Spott. Sie hatte eine ägyptische Mutter gehabt und eine ägyptische Bonne. Die Katze ist göttlich, in ihr ist noch ein Teil der Löwengöttin Bastet, Kraft und Gewalt der Urzeit. Der Jude wollte ihren Gott herabwürdigen, der Jude war ihr zu gering, ihm zu erwidern. Man hätte nicht zu diesem Fest gehen sollen. Die Kunst ihres Vaters war einzigartig, keine Regierung, kein Kaiser kam ohne ihn aus, er hätte es nicht nötig gehabt, dem neuen Regime die Konzession zu machen. Sie sagte nichts, sie stand still da, die Katze auf dem Arm, und stellte ein hübsches Bild: geschmücktes Mädchen, mit einer Katze spielend. Während sie, angenehm überrieselt, viele Blicke auf sich fühlte, überlegte sie. Ein nettes Mädchen, hat der Kaiser gesagt. Ihr Vater soll diesen Juden malen. Was für ein klobiger, witzloser Spaß. Der Kaiser ist plump, ein echter Römer. Schade, daß ihr Vater nicht Geistesgegenwart genug hat, sich gegen solche Späße zu wehren. Er hat ihnen nichts entgegenzusetzen als seine etwas säuerliche Gravität. Da hat sich der Jude mit seiner servilen Ironie besser aus der Affäre gezogen. Sie nahm gut wahr, daß Josef trotz der frechen Anmerkung über die Katze Gefallen an ihr fand. Wenn sie jetzt einen Satz sagt, dann wird er viele und sicher sehr schmeichelhafte und versöhnliche Sätze erwidern. Aber sie beschließt, nichts zu sagen. Wenn er von neuem spricht, dann, vielleicht, wird es ihr gefallen, zu antworten. Wenn er nicht spricht, dann wird sie gehen, und es wird ihre letzte Begegnung mit dem Juden gewesen sein.
  Josef seinesteils überlegte: dieses Mädchen Dorion ist spöttisch und hochfahrend. Wenn er sich mit ihr einläßt, wird es bald Weiterungen geben, Unannehmlichkeiten. Das beste wäre, sie stehenzulassen mit ihrer dummen, häßlichen Katze. Wie merkwürdig braun das Braun ihrer Hände ist gegen das häßliche Braun der Katze. Ungemein dünne, lange Hände hat sie. Sie ist wie aus einem der alten, eckigen, harten Bilder, mit denen hier alles vollbekleckst ist. »Finden Sie es nicht übertrieben, wenn ich noch dünner werden soll, um mich von Ihrem Vater malen zu lassen?« sagt er, und während er spricht, bereut er schon, nicht weggegangen zu sein. »Ich denke, ein wenig Fasten ist kein zu hoher Preis, um für die Ewigkeit fortzuleben«, sagt mit ihrer hohen Kinderstimme Dorion. »Ich glaube«, erwidert Josef, »wenn ich weiterleben werde, dann lebe ich in meinen Büchern weiter.«
  Dorion ärgerte sich über diese Antwort. Da war sie wieder, die berühmte jüdische Überheblichkeit. Sie suchte nach einer Antwort, die den Mann treffen sollte; aber bevor sie sie gefunden hatte, sagte trocken und lateinisch Fabull: »Gehen wir, meine Tochter. Es hängt nicht von uns ab und nicht von ihm, ob ich ihn malen werde. Wenn der Kaiser befiehlt, dann male ich auch das Aas eines verwesenden Schweines.«
  Josef sah den beiden nach, wie sie in der Säulenhalle verschwanden, die den Damm nach dem Festland säumte. Er hatte nicht sehr gut abgeschnitten, aber er bereute nicht, daß er gesprochen hatte.

In diesen Tagen schrieb Josef den Psalm, der späterhin der Psalm des Weltbürgers genannt wurde:

O Jahve, gib mir mehr Ohr und mehr Auge,
Die Weite deiner Welt zu sehen und zu hören.
O Jahve, gib mir mehr Herz,
Die Vielfalt deiner Welt zu begreifen.
O Jahve, gib mir mehr Stimme,
Die Größe deiner Welt zu bekennen.
Merkt auf, Völker, und hört gut zu, Nationen.
Spart nicht, spricht Jahve, mit dem Geist, den ich
über euch ausgoß.
Verschwendet euch, geht die Stimme des Herrn,
Denn ich speie aus denjenigen, der knausert.
Und wer eng hält sein Herz und sein Vermögen,
Von dem wende ich mein Antlitz.

Reiße dich los von deinem Anker, spricht Jahve.
Ich liebe nicht, die im Hafen verschlammen.
Ein Greuel sind mir, die verfaulen im Gestank ihrer
Trägheit.
Ich habe dem Menschen Schenkel gegeben, ihn zu tragen
über die Erde,
Und Beine zum Laufen,
Daß er nicht stehen bleibe wie ein Baum in seinen Wurzeln.

Denn ein Baum hat nur eine Nahrung. Aber der Mensch nähret sich von allem,
Was ich geschaffen habe unter dem Himmel. Ein Baum kennt immer nur das gleiche,
Aber der Mensch hat Augen, daß er das Fremde in sich einschlinge,
Und eine Haut, das andere zu tasten und zu schmecken.

Lobet Gott und verschwendet euch über die Länder. Lobet Gott und vergeudet euch über die Meere. Ein Knecht ist, wer sich festbindet an ein einziges Land. Nicht Zion heißt das Reich, das ich euch gelobte, Sein Name heißt: Erdkreis.

So machte sich Josef aus einem Bürger Judäas zum Bürger der Welt und aus dem Priester Josef Ben Matthias zu dem Schriftsteller Flavius Josephus.

Es gab auch in Alexandrien Anhänger der »Rächer Israels«. Trotz der damit verbundenen Gefahr ließen sich selbst auf den Straßen Leute mit der verpönten Feldbinde sehen, die die Initialen Makkabi trug: »Wer ist wie du, o Herr?« Die Makkabi-Leute hatten Josef, dem Verräter ihrer Sache, seit seiner Ankunft auf jede Art ihre Verachtung bezeigt. Nach seinem Zusammenstoß mit dem Weißbeschuhten Chäreas waren sie ein wenig stiller geworden. Jetzt aber nach dem Psalm des Weltbürgers eiferten sie mit doppeltem Geschrei gegen den zweideutigen, vielbemakelten Mann.

  Josef lachte zunächst. Bald aber mußte er merken, wie die Agitation der »Rächer Israels« auch die Gemäßigten ergriff, wie sogar die Herren des Großen Gemeinderats von ihm abzurücken begannen. Wohl dachten die jüdischen Führer Alexandriens in ihrem Herzen wie er: aber für die Majorität der Gemeinde war der Psalm des Weltbürgers wüste Ketzerei, und kaum zwei Wochen nach der Veröffentlichung dieses Psalms kam es in der Hauptsynagoge zum Skandal.
  Wenn ein Jude Alexandriens glaubte, der Großmeister und seine Beamten hätten in einer wichtigen Sache ein ungerechtes Urteil gefällt, dann erlaubte ihm ein alter Brauch, an die ganze Gemeinde zu appellieren, und zwar am Sabbat, vor der geöffneten Rolle der Schrift. Die heilige Handlung des Sabbats, die Vorlesung aus der Schrift, mußte so lange inhibiert werden, bis die ganze Gemeinde in sofortigem Entscheid über eine solche Klage befunden hatte. Diesen Entscheid anzurufen aber war gefährlich; denn gab die Gemeinde dem Kläger nicht statt, dann wurde er auf drei Jahre in den Großen Bann getan. Infolge solcher Strenge wurde von dem Recht nur selten Gebrauch gemacht; in den letzten zwei Jahrzehnten war es nur dreimal geschehen.
  Jetzt, als Josef sich nach der Veröffentlichung seiner Verse zum erstenmal in der großen Hauptsynagoge zeigte, geschah es ein viertes Mal. Es war der Sabbat, an dem der Abschnitt verlesen werden sollte, der mit den Worten beginnt: »Und es erschien ihm Jahve unter den Terebinthen Mamres.« Kaum war die Schriftrolle auf die große Kanzel gebracht worden, von der aus die Vorlesung statthaben sollte, kaum war die Rolle ihres kostbaren Mantels entkleidet und geöffnet worden, da stürmte der Führer der Makkabi-Leute mit einigen seiner Anhänger die Kanzel, und sie verboten die Vorlesung. Sie erho ben Klage gegen Josef Ben Matthias. Wohl hätten die Juristen in der Gemeinde unter Zitierung allerlei verzwickter Klauseln erklärt, der Bann Jerusalems sei jetzt für Alexandrien nicht wirksam. Die weitaus meisten unter den Juden Alexandriens aber dächten anders. Dieser Mann Josef Ben Matthias sei schuld an dem Unheil in Galiläa und Jerusalem, er sei ein doppelter Verräter. Allein seine schimpfliche, knechtische Ehe mit der Beischläferin des Vespasian genüge, ihn aus der Gemeinschaft der Synagoge auszuschließen. Unter stürmischer Zustimmung verlangte der Redner, daß Josef aus dem heiligen Raum hinausgewiesen werde.
  Josef stand sehr still, die Lippen fest geschlossen. Die Hunderttausend hier in der Synagoge, das waren doch die gleichen, die ihm vor wenigen Wochen zugejubelt hatten: Marin, Marin. Waren es jetzt so wenige, die sich für ihn rührten? Er schaute auf den Großmeister Theodor Bar Daniel und die siebzig Herren auf den goldenen Stühlen. Die saßen, blasser als ihre Gebetmäntel, und taten den Mund nicht auf. Nein, die konnten ihn nicht schützen und schützten ihn nicht. Auch daß er der Freund des Kaisers war, schützte ihn nicht. Er wurde mit Schande aus der Synagoge ausgewiesen.
  Manche, als sie ihn so kahl hinausgehen sahen, sagten sich: Das ist, weil ein Rad in der Welt ist. Es ist ein Schöpfrad, es geht hoch und sinkt, und den leeren Eimer füllt es und den vollen leert es aus. Und diesen hat es jetzt getroffen; denn gestern war er noch stolz, und heute ist er überdeckt mit Schande.

Josef selber schien die Sache nicht sehr ernst zu nehmen. Er lebte weiter sein glänzendes Leben wie bisher, mit Frauen, mit Literaten und Schauspielern, ein hochgeehrter Gast in den verschwenderischen Zirkeln von Canopus. Prinz Titus zeichnete ihn noch sichtbarer aus als bisher und zeigte sich fast immer in seiner Gesellschaft.
  Aber wenn Josef allein war, in seinen Nächten, war er krank vor Bitterkeit und Schmach. Seine Gedanken kehrten sich gegen ihn selber. Er war unrein, er war voll Aussatz innen und außen, kein Titus konnte ihm seinen Grind abkratzen. Seine Schande war greifbar, jeder konnte sie sehen. Sie hatte einen Namen, sie hieß Mara. Er mußte diesen Quell seines Übels zuschütten und für immer.
  Nach einigen Wochen, ohne mit irgendwem Rates darüber gepflogen zu haben, ging er zum Oberrichter der Gemeinde, dem Doktor Basilid. Josef hatte sich seit seiner Austreibung bei keinem der großen jüdischen Herren sehen lassen. Dem Oberrichter war der Besuch unbehaglich. Er suchte nach irgendwelchen vermittelnden Worten, wand sich, machte ein paar lahme Redensarten. Aber Josef zog den zerrissenen Priesterhut heraus, wie es der Ritus für seinen Fall vorschrieb, legte ihn vor dem Oberrichter nieder, riß das Kleid ein und sagte: »Mein Doktor und Herr, ich bin Ihr Knecht und Untergebener Josef Ben Matthias, früher Priester der Ersten Reihe in Jerusalem. Ich habe begangen die Sünde des bösen Triebs. Ich habe ein Weib geheiratet, das zu heiraten mir verboten war, eine Kriegsgefangene, die gehurt hatte mit den Römern. Ich bin schuldig der Strafe der Ausrottung.« Doktor Basilid, der Oberrichter, wurde blaß, als Josef diese Worte sprach; er wußte gut, was sie zu bedeuten hatten. Es dauerte eine Weile, ehe er die Antwort gab, die die Formel vorschrieb: »Die Strafe der Ausrottung, Sündiger, steht nicht bei den Menschen, sie steht bei Gott.« Und Josef ging weiter und fragte gemäß der Formel: »Gibt es ein Mittel, mein Doktor und Herr, durch das der Sündiger die Strafe der Ausrottung von sich und seinem Geschlecht abwenden kann?« Der Oberrichter erwiderte: »Wenn der Sündiger die Strafe der vierzig Schläge auf sich nimmt, dann übt Jahve Gnade. Aber der Sündiger muß um diese Strafe bitten.« Josef sagte: »Ich bitte, mein Doktor und Herr, um die Strafe der vierzig Schläge.«
  Als bekannt wurde, daß Josef die Strafe der Geißelung auf sich nehmen wollte, gab es ein ungeheures Aufsehen in der Stadt Alexandrien; die Geißelung wurde nicht oft vollzogen, gewöhnlich nur an Leibeigenen. Die Makkabi-Leute zogen die Brauen hoch und verstummten, und manche, die in der Synagoge bei der Austreibung Josefs mit am lautesten geschrien hatten, bereuten es in ihrem Herzen. Die Weißbeschuhten aber beschmierten alle Hauswände mit Karikaturen des gegeißelten Josef, und in den Kneipen sang man Couplets.
  Die jüdischen Behörden gaben den Termin der Exekution nicht bekannt. Dennoch war am festgesetzten Tag der Hof der Augustäer-Synagoge voll von Menschen, und die Straßen ringsum gurgelten von Neugierigen. Blaßbraun und hager, die heftigen Augen gradaus, ging Josef den Weg zum Oberrichter. Er legte die Hand auf die Stirn; sehr laut, daß man es bis in den letzten Winkel hören konnte, sagte er: »Mein Doktor und Herr, ich habe begangen die Sünde des bösen Triebs. Ich bitte um die Strafe der vierzig Schläge.« Der Oberrichter erwiderte: »So übergebe ich dich dem Gerichtsdiener, Sündiger.«
  Der Büttel Ananias Bar Akaschja winkte seinen beiden Gehilfen, und sie rissen Josef die Kleider vom Leib. Der Arzt trat hinzu, untersuchte ihn, ob er fähig sei, die Geißelung derart zu überstehen, daß ihm nicht unter der Geißel Harn und Kot abgingen; denn das war Entwürdigung, und das Gesetz schrieb vor: »Dein Bruder soll nicht entwürdigt werden in deinen Augen.« Es war der Oberarzt der Gemeinde, der Josef untersuchte, Julian. Er tastete ihn ab, prüfte besonders Herz und Lunge. Viele unter den Zuschauern glaubten, der Arzt werde den Josef für unfähig erklären, die ganze Geißelung durchzuhalten, oder höchstens für fähig weniger Hiebe. In seinem Innern hoffte selbst Josef auf einen ähnlichen Befund. Aber der Arzt wusch sich die Hände und erklärte: »Der Sündiger ist fähig der vierzig Hiebe.«
  Der Büttel hieß Josef niederknien. Die Gehilfen banden seine beiden Hände an einen Pfahl, so daß seine Knie Abstand von dem Pfahl hielten, und alle sahen, wie die glatte, blasse Haut seines Rückens sich dehnte. Dann banden sie ihm einen schweren Stein um die Brust, so daß der Oberkörper niedergezogen wurde. Der Büttel Ananias Bar Akaschja ergriff die Geißel. Umständlich, während man sah, wie Josefs Herz gegen die Rippen schlug, befestigte der Büttel den breiten Riemen aus Ochsenleder am Griff, prüfte ihn, machte ihn loser, straffer, wieder loser. Die Spitze des Riemens mußte den Bauch des Gezüchtigten erreichen. Das war Vorschrift.
  Der Oberrichter begann, die beiden Schriftverse zu lesen über die Geißelung. »So soll es geschehen: wenn Schläge verdient der Sündiger, so läßt der Richter ihn hinlegen, und man schlägt ihn vor seinem Angesicht nach Maßgabe seiner Sünde an Zahl. Vierzig Schläge schlägt man ihn, nicht mehr. Daß er nicht mehr gebe als diese, der Schläge zuviel, und dein Bruder entwürdigt werde in deinen Augen.« Der Büttel hieb dreizehn Streiche auf den Rücken. Der zweite Richter zählte, dann netzten die Gehilfen den Sündiger. Dann sagte der dritte Richter: schlage, und der Büttel hieb dreizehn Schläge auf die Brust. Dann wieder netzten die Gehilfen den Sündiger. Zuletzt hieb der Büttel nochmals dreizehn Streiche auf den Rücken. Es war sehr still, während er zuschlug. Man hörte die Hiebe scharf aufklatschen, man hörte den gepreßten, pfeifenden Atem Josefs, sah sein flatterndes Herz.
  Josef lag gebunden und rang unter der Geißel nach Atem. Die Hiebe waren kurz und scharf, aber der Schmerz war wie ein endloses, bewegtes Meer; er kam in hohen Wellen, nahm Josef weg, verebbte, ließ Josef hochtauchen, kam wieder und brach über ihm zusammen. Josef keuchte, pfiff, roch den Geruch des Blutes. Dies alles geschah um Maras willen, der Tochter des Lakisch, er hatte sie begehrt, er haßte sie, jetzt ließ er sie aus seinem Blut herauspeitschen. Er betete: Aus den Tiefen schrei ich zu dir, o Herr. Er zählte die Schläge, aber die Zahlen verwirrten sich ihm, es waren schon viele hundert Schläge, und sie schlugen ihn immer weiter. Das Gesetz schreibt vor, es sollten nicht vierzig Schläge sein, sondern neununddreißig; denn es stand geschrieben: »an Zahl«, und das ist gleich: »ungefähr«, und somit sollten es nur neununddreißig sein. Oh, wie mild war das Gesetz der Doktoren. Oh, wie hart war die Schrift. Wenn sie jetzt nicht aufhören, dann wird er sterben. Es war ihm, Jochanan Ben Sakkai werde sagen, daß sie aufhören sollten. Der Großdoktor war in Judäa, in Jerusalem oder in Jabne, aber trotzdem, er wird dasein, er wird seinen Mund auftun. Es kommt nur darauf an, daß Josef aushält bis dahin. Der Boden und der Pfahl vor ihm verschwimmt, allein Josef reißt sich zusammen. Es ist ihm geboten, klar zu sehen, Boden und Pfahl genau zu erkennen, bis Jochanan Ben Sakkai kommt. Aber Jochanan Ben Sakkai kam nicht, und schließlich verlor Josef doch Gesicht und Erkenntnis. Ja, beim vierundzwanzigsten Streich wurde er ohnmächtig und lag leblos in den Stricken. Aber nachdem man ihn genetzt hatte, kam er wieder zu sich, und der Arzt sagte: er ist fähig, und der Richter sagte: schlage weiter.
  Unter den Zuschauern war die Prinzessin Berenike. Es gab keine Tribünen, keine gesonderten Plätze. Aber sie hatte schon in der Nacht zuvor ihren kräftigsten kappadokischen Leibeigenen geschickt, ihr einen Platz frei zu halten. Nun stand sie in der zweiten Reihe, gepreßt zwischen vielen andern, die langen Lippen halb offen, hart atmend, die dunkeln Augen beharrlich auf den Gegeißelten gerichtet. Im Hof war es lautlos still. Man hörte nur die Stimme des Oberrichters, der die Schriftverse verlas, sehr langsam, dreimal im ganzen, und von weit her aus den Straßen das Gejohl der Massen. Sehr aufmerksam sah Berenike zu, wie dieser hochmütige Josef die Hiebe auf sich nahm, um von der Hure loszukommen, an die er seinen Namen hatte binden müssen. Ja, er war in Wahrheit ihr Vetter. Er befaßte sich nicht mit kleinen Sünden und nicht mit kleinen Tugenden. Sich tief demütigen, um dann um so stolzer hochzutauchen, das begriff sie. Sie hatte selber in der Wüste die Wollust solcher Demütigungen gekostet. Sie stand sehr blaß; es war nicht leicht, zuzuschauen, aber sie schaute zu. Sie bewegte lautlos die Lippen, zählte mechanisch mit. Sie war froh, als der letzte Schlag gefallen war; aber sie hätte noch länger stehen und es mit ansehen können. Ihre Zähne waren trocken geworden unter ihren langen Lippen.
  Josef wurde bewußtlos und blutig in das Gemeindehaus getragen. Man wusch ihn, unter der Aufsicht des Arztes Julian, salbte ihn, flößte ihm einen Trank ein aus Wein und Myrrhen. Als er zu sich kam, sagte er: »Gebt dem Büttel zweihundert Sesterzien.«

Mara, die Tochter des Lakisch, indes ging beglückt umher, sich freuend auf das Kind, das sie gebären sollte, es mit tausend Sorgen hütend. Sie war sehr arbeitsam, aber jetzt drehte sie nicht die Handmühle, auf daß das Kind kein Trunkenbold werde. Sie aß keine unreifen Datteln, auf daß es nicht Triefaugen bekomme, trank kein Bier, auf daß sein Teint nicht schlecht werde, aß keinen Senf, um es vor Schlemmerei zu behüten. Hingegen aß sie Eier, auf daß die Augen des Kindes sich vergrößerten, Meerbarben, auf daß es den Menschen wohlgefällig werde, und Zitronat, auf daß es angenehm rieche. Ängstlich ging sie allem Häßlichen aus dem Weg, um sich nicht zu versehen, beflissen suchte sie den Anblick schöner Menschen. Mit Mühe verschaffte sie sich einen zauberkräftigen Adlerstein, der, von Natur innen hohl, einen kleineren Stein in sich schloß, ein Bild der Gebärmutter, die, obzwar nach innen geöffnet, die Frucht nicht herausfallen läßt.

  Als es soweit war, setzte man Mara in den Gebärstuhl, ein Gestell aus Lattenwerk, in dem sie halb sitzen, halb liegen konnte, und band eine Henne an das Gestell, damit ihr Geflatter die Geburt beschleunige. Es war eine schmerzhafte Geburt, noch Tage später verspürte Mara die bittere Kälte an den Hüften. Die Hebamme sprach beschwörend auf sie ein, zählte, rief sie bei Namen, zählte.
  Dann aber war das Kind da, und siehe, es war ein Knabe. Blauschwarz, schmutzig, voll Schleim und Blut war seine Haut, aber er schrie, und er schrie so, daß sein Schrei von der Wand widerhallte. Das war ein gutes Zeichen, und auch daß das Kind an einem Sabbat zur Welt kam, war ein gutes Zeichen. Man nahm warmes Wasser zum Bad, trotz des Sabbats, und man goß Wein in das Badewasser, kostbaren Wein von Eschkol. Vorsichtig renkte man die Glieder des Kindes aus, und man bestrich seinen weichen Schädel mit einem Brei aus unreifen Trauben, um Geziefer zu verscheuchen. Man salbte es mit warmem Öl, bestreute es mit dem Pulver von zerstoßenen Myrrhen, wickelte es in feines Linnen; Mara hatte an ihren Kleidern gespart, um das beste Linnen für das Kind zu erwerben.
  Janik, Janiki, oder wohl auch Jildi, mein Kind, mein Kindchen, mein Baby, sagte Mara, und stolz am andern Tag ließ sie eine Zeder pflanzen, weil es ein Knabe war.
  Die ganzen neun Monate hindurch hatte sie darüber nachgedacht, welchen Namen sie dem Knaben geben sollte. Aber jetzt, in der Woche vor der Beschneidung, da sie sich entscheiden mußte, schwankte sie lange. Endlich entschied sie sich. Sie ließ den Schreiber kommen und diktierte ihm einen Brief:
  »Mara, Tochter des Lakisch, grüßt ihren Herrn, Josef, den
Sohn des Matthias, Priester der Ersten Reihe, den Freund des Kaisers.
  O Josef, mein Herr, Jahve hat gesehen, daß Deine Magd mißfällig war vor Deinem Angesicht, und er hat meinen Leib gesegnet und hat mich gewürdigt, daß ich Dir einen Sohn gebäre. Er ist an einem Sabbat geboren, und er wiegt sieben Litra und fünfundsechzig Zuz, und sein Schrei kam von der Wand zurück. Ich habe ihn Simeon genannt, das ist der Sohn der Erhörung, denn Jahve hat mich erhört, als ich mißfällig war. Josef, mein Herr, sei gegrüßt und werde groß in der Sonne des Kaisers, und der Herr lasse sein Antlitz leuchten über Dir.
  Und iß keinen Palmkohl, weil es Dich dann gegen die Brust drückt.«

Um die gleiche Zeit, noch bevor er diesen Brief erhalten hatte, stand Josef im Zeremoniensaal der Gemeinde von Alexandrien. Er war noch blaß und sehr mitgenommen von der Geißelung, aber er hielt sich aufrecht. Neben ihm standen als Zeugen der Großmeister Theodor Bar Daniel und der Präsident der Augustäer-Gemeinde, Nikodem. Der Oberrichter Basilid selber führte den Vorsitz, und drei Doktoren fungierten als Richter. Der erste Sekretär der Gemeinde schrieb nach dem Diktat des Oberrichters, er schrieb vorschriftsmäßig auf Pergament aus Kalbshaut, er schrieb mit dem Gänsekiel und tiefschwarzer Tinte, und sah zu, daß das Dokument genau zwölf Zeilen umfaßte nach dem Ziffernwert des Wortes Get, des hebräischen Wortes für Scheidebrief.
  Josef, während der Gänsekiel über das Pergament knirschte, hörte in seinem Herzen ein Geräusch, lauter als dieses Knirschen. Es war aber jenes scharfe Geräusch, mit dem Mara, Tochter des Lakisch, ihr Kleid zerrissen hatte und ihre Sandalen, wortlos, umständlich, als sie in jenem grauen Morgen zurückkam von dem Römer Vespasian. Josef glaubte, er habe dieses Geräusch vergessen, jetzt aber war es wieder da und war sehr laut, lauter als das Knirschen des Kiels. Aber er machte sein Ohr taub und sein Herz stumpf.
  Der Sekretär aber schrieb folgendes: »Am siebzehnten Tag des Monats Kislew im Jahre dreitausendachthundertdreißig nach Erschaffung der Welt in der Stadt Alexandrien am Ägyptischen Meer.
  Ich, Josef Ben Matthias, genannt Flavius Josephus, der Jude, der ich mich heute in der Stadt Alexandrien am Ägyptischen Meer befinde, habe eingewilligt aus freiem Willen und ohne Zwang, Dich zu entlassen, loszulösen und zu scheiden, Dich, meine Ehefrau Mara, Tochter des Lakisch, die sich heute in der Stadt Cäsarea am Jüdischen Meer befindet. Du warst bisher mein Weib. Jetzt ab sei frei, entlassen, geschieden von mir, so daß Dir erlaubt ist, über Dich in Zukunft zu verfügen, und so daß Du in Zukunft erlaubt bist für jedermann.
  Hierdurch erhältst Du von mir die Urkunde der Entlassung und den Scheidebrief nach dem Gesetz Mosis und Israels.«
  Das Dokument wurde einem besonderen Vertreter übergeben mit dem schriftlichen Auftrag, es der Mara, der Tochter des Lakisch, zu überbringen und es ihr in Gegenwart des Gemeindepräsidenten von Cäsarea sowie von neun andern erwachsenen jüdischen Männern zu überreichen.
  Schon am Tag, nachdem der Kurier in Cäsarea angelangt war, wurde Mara vorgeladen. Sie hatte keine Ahnung, worum es sich handeln könne. In Gegenwart des Gemeindepräsidenten überreichte ihr Josefs Vertreter das Schriftstück. Sie konnte nicht lesen, sie bat, man möge es ihr vorlesen. Man las, sie begriff nicht, man las nochmals, erklärte ihr, sie fiel um. Der Gemeindesekretär riß die Urkunde ein, zum Zeichen, daß sie vorschriftsmäßig übergeben und verlesen war, nahm sie zu seinen Akten und stellte dem Kurier ein Zertifikat darüber aus.
  Mara kam nach Hause. Sie begriff, sie hatte nicht Gunst gefunden vor Josefs Augen. Wenn ein Weib nicht Gunst findet vor des Mannes Augen, dann hat der Mann das Recht, sie wegzuschicken. Keiner ihrer Gedanken ging gegen Josef.
  Von jetzt an widmete sie ihre Tage mit ängstlicher Sorgfalt dem kleinen Simeon, Josefs Erstgeborenem. Peinlich enthielt sie sich aller Dinge, die ihrer Milch hätten schaden können, vermied Salzfische, Zwiebeln, gewisse Gemüse. Sie nannte ihr Kind nicht mehr Simeon, sie nannte es erst Bar Mëir, das ist Sohn des Leuchtenden, dann Bar Adir, das ist Sohn des Gewaltigen, dann Bar Niphli, das ist Sohn der Wolke. Aber der Gemeindepräsident ließ sie ein zweites Mal kommen und untersagte ihr, ihrem Kind solche Namen zu geben, denn Wolke und Gewaltiger und Leuchtender waren Beinamen des Messias. Sie führte ihre Hand an die niedrige Stirn, neigte sich, versprach Gehorsam. Aber wenn sie allein war, in der Nacht, wenn niemand sie hörte, dann nannte sie den kleinen Simeon weiter mit diesen Namen.
  Mit Treue hütete sie die Gegenstände, die Josef einmal angerührt, die Tücher, mit denen er sich getrocknet, den Teller, aus dem er gegessen hatte. Sie wollte ihr Kind des Vaters würdig machen. Sie sah voraus, daß da große Schwierigkeiten sein werden. Denn der Sohn aus der Ehe eines Priesters mit einer Kriegsgefangenen war nicht anerkannt, er war ein Bastard, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft. Aber dennoch, sie mußte einen Weg finden. An Sabbaten, an Festtagen zeigte sie dem kleinen Simeon die Überbleibsel seines Vaters, die Tücher, den Teller, und sie erzählte ihm von der Größe seines Vaters und beschwor ihn, ein Doktor und Herr zu werden wie er.
  Josef, nachdem er das Zertifikat der Scheidung dem zuständigen Gemeindebeamten in Alexandrien übergeben hatte, wurde in der Hauptsynagoge feierlich zur Vorlesung aus der Schrift aufgerufen. Seinem priesterlichen Rang zufolge als Erster. Zum erstenmal seit langer Zeit wieder trug er den Priesterhut und den blauen, blumendurchwirkten Gürtel der Priester der Ersten Reihe. Er trat auf die große Kanzel vor die geöffnete Rolle der Schrift, von der er vor wenigen Wochen weggewiesen worden war. Unter lautloser Stille der Hunderttausend sprach er den Segensspruch: »Gelobt seist du, Jahve, unser Gott, der du uns die wahre Lehre gabst und ewiges Leben uns einpflanztest.« Dann las er selber mit lauter Stimme den Abschnitt aus der Schrift, der für diesen Sabbat vorgeschrieben war.

Auf der Höhe des Winters, um den Beginn des neuen Jahres herum, wußte Vespasian, daß das Reich fest in seiner Hand sei. Die Arbeit des Soldaten war getan: jetzt begann die schwie rigere, die des Verwalters. Was vorläufig in Rom in seinem Namen geschah, war schlecht und unvernünftig. Mucian preßte aus Italien mit kalter Gier heraus, was immer an Geld vorhanden war, und des Kaisers jüngerer Sohn, Domitian, den er nie hatte leiden mögen, ein Liederjan, ein Früchtchen, verteilte als Statthalter des Kaisers wahllos Sonne und Gewitter. Vespasian schrieb dem Mucian, er möge dem Land nicht zuviel Purgative verabreichen, es sei einer auch schon an Diarrhöe gestorben. An das Früchtchen schrieb er, ob das Früchtchen die Gnade habe, ihn für das nächste Jahr im Amt zu belassen. Dann beorderte er drei Männer von Rom nach Alexandrien, den uralten Finanzminister Etrusk, den Hofjuwelier und Direktor der Kaiserlichen Perlfischereien Claudius Regin und den Verwalter seiner sabinischen Güter.

  Die drei Sachverständigen tauschten ihre Ziffern aus, prüften sie. Die imperialistische Orientpolitik des Kaisers Nero und die Wirren nach seinem Tod hatten riesige Werte zerstört, die Summe der Reichsschulden, die die drei Männer errechneten, war hoch. Regin übernahm die wenig dankbare Aufgabe, dem Kaiser diese Summe zu nennen.
  Vespasian und der Finanzmann hatten sich nie gesehen. Jetzt saßen sie sich in bequemen Sesseln gegenüber. Regin blinzelte, er sah schläfrig aus, er hatte das eine der fetten Beine über das andere gelegt, seine losen Schuhbänder baumelten. Er hatte früh auf diesen Vespasian gesetzt, als mit ihm nur sehr magere Geschäfte zu machen waren. Er war mit der Dame Cänis in Verbindung getreten, hatte ihr dann, als es um große Lieferungen für die judäische und für die europäischen Armeen Vespasians ging, ansehnliche Provisionen gezahlt. Vespasian wußte, daß sich der Finanzmann in seinen Abrechnungen als anständiger Kerl erwiesen hatte. Mit seinen hellen, harten Augen schaute er in das fleischige, traurige, verhängte Gesicht Regins. Die beiden Männer berochen einander, sie rochen sich nicht schlecht.
  Regin nannte dem Kaiser seine Ziffer. Vierzig Milliarden. Vespasian zuckte nicht zurück. Vielleicht schnaufte er etwas härter, aber seine Stimme klang ruhig, als er erwiderte: »Vierzig Milliarden. Sie sind ein mutiger Mann, und haben Sie nicht einige Posten zu hoch angeschlagen?« Claudius Regin, gelassen, mit seiner fettigen Stimme, beharrte: »Vierzig Milliarden. Man muß der Ziffer ins Auge schauen.« – »Ich schaue ihr ins Auge«, sagte hart schnaufend der Kaiser.
  Sie besprachen die notwendigen geschäftlichen Maßnahmen. Man könnte riesige Gelder hereinbekommen, wenn man das Vermögen derjenigen konfiszierte, die dem früheren Kaiser noch nach der Akklamation Vespasians angehangen hatten. Es war der Tag, an dem der Kaiser nach der Diätvorschrift des Arztes Hekatäus zu fasten pflegte, und an diesem Tag hatte er den Sinn für Geschäfte besonders offen. »Sind Sie Jude?« fragte er unvermittelt. »Halbjude«, erwiderte Regin, »aber ich sehe jedes Jahr jüdischer aus.« – »Ich wüßte ein Mittel«, Vespasian verengerte die Augen, »die Hälfte der vierzig Milliarden auf einmal loszuwerden.« – »Ich bin neugierig«, sagte Claudius Regin. »Wenn ich anordnete«, überlegte Vespasian, »daß in der Hauptsynagoge ein Standbild von mir aufgestellt werden muß ...« – »Dann würden die Juden aufbegehren«, ergänzte Claudius Regin. »Richtig«, sagte der Kaiser. »Dann könnte ich ihnen ihr Geld abnehmen.« – »Richtig«, sagte Claudius Regin. »Das ergäbe schätzungsweise zwanzig Milliarden.« – »Sie sind ein schneller Rechner«, lobte der Kaiser. »Sie hätten dann die erste Hälfte der Schulden gedeckt«, meinte Claudius Regin. »Aber die zweite würden Sie niemals decken können; denn Wirtschaft und Kredit, nicht nur im Orient, wären für immer zerstört.« – »Ich fürchte, Sie haben recht«, seufzte Vespasian. »Aber Sie müssen zugeben, der Gedanke ist verlockend.« – »Ich gebe es zu«, lächelte Claudius Regin. »Schade, daß wir beide zu gescheit dafür sind.«
  Regin mochte die alexandrinischen Juden nicht leiden. Sie waren ihm zu protzig, zu elegant. Auch verdroß ihn, daß sie auf die römischen Juden wie auf kompromittierende arme Verwandte herabschauten. Allein, was der Kaiser vorschlug, erschien ihm zu radikal. Er wird später für die alexandrinischen Juden andere Abzapfungen aussinnen, nicht solche, daß sie daran verbluten, aber immerhin solche, daß sie an ihn denken sollen.
  Vorläufig empfahl er dem Kaiser eine andere Steuer, die alle traf und die bisher im Osten noch keiner gewagt hatte: eine Steuer auf gesalzene Fische und Fischkonserven. Er verhehlte nicht das Gefährliche einer solchen Steuer. Die Alexandriner hatten Schnauzen wie die Schwertfische, und der Kaiser wird von ihnen allerhand zu hören bekommen. Allein Vespasian hatte keine Angst vor Couplets.
  Die Sympathie der Alexandriner für den Kaiser schlug, als die Salzfischsteuer ausgeschrieben wurde, jäh um. Sie schimpften wild über die Verteuerung dieses sehr geliebten Nahrungsmittels, und einmal, bei einer Ausfahrt, bewarfen sie ihn mit faulen Fischen. Der Kaiser lachte schallend. Kot, Pferdeäpfel, Rüben, jetzt faule Fische. Es amüsierte ihn, daß er auch als Kaiser aus dieser Materie nicht herauskam. Er ordnete eine Untersuchung an, und die Unruhstifter mußten an seine Vermögensverwaltung ebenso viele goldene Fische liefern, als sich faule Fische in seinem Wagen vorgefunden hatten.
  Den Josef sah Vespasian selten in diesen Tagen. Er war gewachsen mit seinem Amt, er war seinem Juden ferner gerückt, war fremd geworden, westlich, ein Römer. Gelegentlich sagte er zu ihm: »Ich höre, Sie haben sich wegen irgendeines Aberglaubens vierzig Schläge aufpfeffern lassen. Ich wollte«, seufzte er, »ich könnte meine vierzig Milliarden auch durch vierzig Schläge ablösen.«

Josef und Titus lagen in der offenen Speisehalle der Villa in Canopus, in welcher der Prinz einen großen Teil seiner Zeit zuzubringen pflegte. Sie waren allein. Es war ein milder Wintertag; man brauchte, trotzdem es gegen Abend ging, die offene Halle noch nicht zu verlassen. Das Meer lag still, die Zypressen rührten sich nicht. Langsam stelzte der Lieblingspfau des Prinzen durch den Raum, Speisereste aufpickend.
  Josef konnte von seinem Sofa aus durch die weite Wandöffnung die tiefer liegende Terrasse und den Garten übersehen. »Sie lassen die Buchsbaumhecke in einen Buchstaben umformen, mein Prinz?« fragte er und wies mit dem Kopf auf die unten arbeitenden Gärtner. Titus kaute an einem Stückchen Konfekt. Er war in guter, freimütiger Laune; sein breites Knabengesicht über dem etwas zu kurzen Körper lächelte. »Jawohl, mein Jude«, sagte er, »ich lasse die Buchsbaumhecke in einen Buchstaben umformen. Ich lasse auch die Buchsbäume meiner alexandrinischen Villa in einen Buchstaben umformen, auch die Zypressen.« – »In den Buchstaben B?« lächelte Josef. »Du bist schlau, mein Prophet«, sagte Titus. Er rückte näher; Josef saß, Titus lag, die Arme überm Kopf, und schaute zu ihm auf. »Sie findet«, sagte er vertraulich, »ich sehe meinem Vater ähnlich. Sie mag meinen Vater nicht. Ich kann das verstehen; aber ich finde, ich sehe ihm immer weniger ähnlich. Ich habe es nicht leicht mit meinem Vater«, klagte er. »Er ist ein großer Mann, er kennt die Menschen, und wer, wenn er die Menschen kennt, sollte sich nicht über sie lustig machen? Aber er tut es ein bißchen gar zu üppig. Jüngst, bei Tafel, als der General Prisk sich dagegen verwahrte, zu dick zu sein, hieß er ihn glatt seinen Hintern entblößen. Es war großartig, wie die Prinzessin einfach vor sich hin schaute. Sie saß still, sah nichts, hörte nichts. Wir können das nicht«, seufzte er. »Wir werden da verlegen oder grob. Wie kann man das machen, daß einen so etwas Plumpes nicht anrührt?« – »Es ist nicht schwer«, sagte Josef, den Blick auf den Gärtnern, die an den Buchsbäumen beschäftigt waren. »Sie müssen nur dreihundert Jahre hindurch ein Reich beherrschen, dann kommt es von selbst.« Titus sagte: »Du bist sehr stolz auf deine Kusine, aber du hast Ursache. Ich kenne doch nun Frauen aus allen acht Windrichtungen. Im Grunde ist es immer das gleiche, und mit ein bißchen Routine hat man sie bald an dem Punkt, wo man sie haben will. Sie kriege ich nicht an den Punkt. Hast du gewußt, daß ein Mann in meinen Jahren und in meiner Stellung schüchtern sein kann? Vor ein paar Tagen habe ich ihr gesagt: ›Eigentlich sollte man Sie zur Kriegsgefangenen erklären; denn mit dem Herzen sind Sie bei den »Rächern Israels«.‹ Sie sagte einfach ja. Ich hätte weitergehen sollen, ich hätte sagen sollen: Da du also eine Kriegsgefangene bist, so nehme ich dich als meinen privaten Beuteanteil. Jeder andern Frau hätte ich das gesagt, und ich hätte sie genommen.« Sein verwöhntes Knabengesicht war geradezu bekümmert.
  Josef, sitzend, sah hinunter auf den Prinzen. Josefs Antlitz war härter geworden und zeigte, unbeobachtet, oft einen erschreckend finstern Hochmut. Er wußte jetzt wiederum ein gut Teil besser, was Macht ist, was Demut und was Demütigung, was Wollust ist, Schmerz, Tod, Erfolg, Aufstieg, Niederbruch, freier Wille und Gewalt. Es war ein wohlerworbenes Wissen, nicht unterm Preis bezahlt. Er hatte den Prinzen gern. Er stieß bei ihm rasch auf Verständnis und Gefühl, und er hatte ihm viel zu verdanken. Jetzt aber, bei allem Wohlwollen, sah er aus diesem seinem teuer erkauften Wissen heraus auf ihn hinunter. Er, Josef, wurde mit Frauen fertig, für ihn war Berenike nie ein Problem gewesen, und er an Stelle des Prinzen wäre längst mit dieser Sache zu Rande gekommen.
  Aber es war gut, daß es war, wie es war, und als nun der Prinz den Josef bat, knabenhaft, vertrauensvoll und ein wenig geniert, er möge ihm doch raten, wie er sich zu Berenike stellen solle, um voranzukommen, und er möge bei der Prinzessin für ihn wirken, da sagte er das erst nach einigem Nachdenken zu und tat, als sei es eine schwierige Aufgabe.
  Es war keine schwere Aufgabe. Berenike hatte sich seit seiner Geißelung verändert. Statt jenes Fließenden aus Haß und Neigung war jetzt zwischen ihnen eine ruhige Gemeinsamkeit, herrührend aus Verwandtschaft des Wesens und Ähnlichkeit des Ziels.
  Berenike machte sich vor Josef nicht kostbar; rückhaltlos ließ sie ihn in ihr Leben hineinschauen. Oh, sie hat sich nie lange geziert, wenn ihr ein Mann gefiel. Sie hat mit manchem Manne geschlafen, sie hat Erfahrungen. Aber lang gedauert hat eine solche Bindung nie. Es sind nur zwei Männer, die sie sich nicht aus ihrem Leben fortdenken könnte. Der eine ist Tiber Alexander, mit dem sie verwandt ist. Kein junger Mann mehr, nicht jünger als der Kaiser. Aber wie großartig biegsam, wie höflich und geschmeidig ist er bei aller Härte und Entschiedenheit. Ebenso fest wie der Kaiser und trotzdem niemals plump und bäurisch. Er ist ein großer Soldat, er hält seine Legionen in strengster Zucht und kann sich dennoch jeden Umweg der Höflichkeit und des Geschmacks leisten. Und dann ist da ihr Bruder. Die Ägypter sind weise, wenn sie von ihren Königen verlangen, daß Bruder und Schwester sich paaren. Ist Agrippa nicht der klügste Mann der Welt und der vornehm ste, mild und stark wie Wein später Lese? Man wird weise und gut, wenn man nur an ihn denkt, und die Zärtlichkeit für ihn macht einen reich. Josef nimmt nicht zum erstenmal wahr, wie ihr kühnes Gesicht sich sänftigt, wenn sie von ihm spricht, und ihre langen Augen sich verdunkeln. Er lächelt, er ist ohne Neid. Es gibt Frauen, die, auch wenn sie von ihm sprechen, sich so verändern.
  Vorsichtig lenkt er auf Titus. Gleich fragt sie: »Sollen Sie vorfühlen, mein Doktor Josef? Titus kann höllisch klug sein; aber wenn es um mich geht, wird er linkisch, und sein Ungeschick steckt sogar einen so geschickten Menschen wie Sie an. Er ist täppisch, mein Titus, ein riesiges Baby. Man kann wirklich nicht anders zu ihm sagen als Janik. Er hat sich für dieses Wort ein eigenes stenographisches Zeichen ausgedacht, so oft sage ich es. Er schreibt nämlich fast alles mit, was ich sage. Er hofft, Sätze zu finden, auf die er mich dann festlegen kann. Er ist ein Römer, ein guter Jurist. Sagen Sie, ist er eigentlich gutmütig? Die meiste Zeit des Tages ist er gutmütig. Dann plötzlich macht er, einfach aus Neugier, Experimente, bei denen Tausende von Existenzen draufgehen, ganze Städte. Er bekommt unangenehm kalte Augen dann, und ich wage nicht, ihm einzureden.« – »Er gefällt mir sehr, ich bin mit ihm befreundet«, sagte ernsthaft Josef.
  »Ich habe oft Angst um den Tempel«, sagte Berenike. »Wenn Gott ihm die Neigung zu mir eingeflößt hat, sagen Sie selbst, Josef, kann es zu anderm Zweck sein, als um seine Stadt zu retten? Ich bin sehr bescheiden geworden. Ich denke nicht mehr daran, daß von Jerusalem aus die Welt regiert werden soll. Aber bleiben muß die Stadt. Sie dürfen das Haus Jahves nicht zertreten.« Und still und angstvoll, mit schlichter, großer Gebärde die Handflächen nach außen drehend, fragte sie: »Ist das schon zuviel?«
  Josef verfinsterte sich. Er dachte an Demetrius Liban, er dachte an Justus. Aber er dachte auch an Titus, wie er neben ihm gelegen war, aus offenen, freundschaftlichen Knabenaugen zu ihm aufschauend. Nein, es war unmöglich, daß dieser junge, freundliche Mensch mit seinem Respekt vor altem, heiligem Gut seine Hand gegen den Tempel heben würde. »Vor Jerusalem wird Titus kein böses Experiment machen«, sagte er mit großer Bestimmtheit.
  »Sie sind sehr zuversichtlich«, sagte Berenike. »Ich bin es nicht. Ich weiß nicht, ob er mir nicht schon aus der Hand geglitten wäre, wenn ich ein Wort gegen seine Experimente gewagt hätte. Er schaut mir nach, wenn ich gehe, er findet mein Gesicht besser geschnitten als andere, nun ja, wer tut das nicht?« Sie trat ganz nahe an Josef heran, legte ihm ihre Hand auf die Schulter, eine weiße, gepflegte Hand, und man sah nichts mehr von den Rissen und Schrunden der Wüste. »Wir kennen die Welt, mein Vetter Josef. Wir wissen, daß der Trieb des Menschen immer da ist, daß er stark ist und daß ein Kluger viel erreichen kann, wenn er den Trieb des Menschen zu verwerten weiß. Ich danke Gott, daß er dem Römer diese Begier eingepflanzt hat. Aber, glauben Sie mir, wenn ich heute mit ihm schlafe, dann wird er, wenn er seine neugierigen Augen bekommt, auf mein Wort bestimmt nicht mehr achten.« Sie setzte sich; sie lächelte, und Josef erkannte, daß sie ihren Weg weit voraussah. »Ich werde ihn knapphalten«, schloß sie kühl, rechnerisch, »ich werde ihn nicht zu nah heranlassen.« – »Sie sind eine kluge Frau«, anerkannte Josef. »Ich will, daß der Tempel nicht zerstört werde«, sagte Berenike.
  »Was soll ich meinem Freunde Titus sagen?« überlegte laut Josef. »Hören Sie gut zu, mein Vetter Josef«, forderte Berenike ihn auf. »Ich warte auf ein Vorzeichen. Sie kennen das Dorf Thekoa, bei Bethlehem. Dort hat mein Vater bei meiner Geburt einen Pinienhain gepflanzt. Obwohl jetzt im Bürgerkrieg harte Kämpfe um Thekoa waren, hat der Hain nicht gelitten. Hören Sie gut zu. Wenn der Hain noch steht zur Zeit, da die Römer in Jerusalem einziehen, dann mag mir Titus ein Brautbett aus dem Holz meiner Pinien machen lassen.«
  Josef überlegte scharf. Soll dies ein Zeichen sein für das Wesen des Titus oder für das Schicksal des Landes? Will sie ihr Beilager mit Titus abhängig machen von der Schonung des Landes, oder will sie sich sichern vor der neugierigen Grausamkeit des Mannes? Und soll er ihre Mitteilung an Titus weitergeben? Was eigentlich will sie?
  Er setzte zu einer Frage an. Aber das lange, kühne Gesicht der Prinzessin war hochmütig zugesperrt, die Stunde der Offenheit war vorbei, und Josef wußte, es war sinnlos, weiter zu fragen.

Eines Morgens, als Josef sich zum Frühempfang im kaiserlichen Palais einfand, war im Schlafzimmer Vespasians ein Porträt der Dame Cänis ausgestellt, das der Maler Fabull im Auftrag des Kaisers in aller Heimlichkeit geschaffen hatte. Das Bild war für das Chefkabinett der Kaiserlichen Vermögensverwaltung bestimmt. Ursprünglich hatte Vespasian gewünscht, es solle neben der Dame Cänis als Schirmherr der Gott Merkur stehen, dazu eine Glücksgöttin mit dem Füllhorn, und vielleicht auch die drei Parzen, goldene Fäden spinnend. Aber der Maler Fabull hatte erklärt, er komme damit nicht zurecht, und hatte die Dame Cänis auf sehr realistische Art dargestellt, an ihrem Schreibtisch sitzend, Rechnungen überprüfend. Hart und genau spähten ihre braunen Augen aus dem breiten, kräftigen Gesicht. Still saß sie, dabei unheimlich lebendig; der Kaiser hatte gescherzt, man müsse das Bild nachts anbinden, daß ihm Cänis nicht durchgehe. So sollte sie sitzen über dem Schreibtisch seines obersten Kaisers, immer mit ihren scharfen Augen zur Stelle, auf daß keine Schlampereien und Durchstechereien passierten. Der Kaiser bedauerte, daß sein Merkur nicht auf dem Bild war, aber es gefiel ihm trotzdem. Auch die Dame Cänis war zufrieden; nur eines ärgerte sie, daß der Maler ihr keine pompösere Frisur hatte zubilligen wollen.
  Wer schärfer zusah, erkannte ohne Mühe, daß das Porträt von einem Meister gemalt war, aber nicht eben von einem Freund der Dame Cänis. Sie war eine große Geschäftsfrau, fähig, die Finanzen des ganzen Reiches zu überblicken und zu ordnen, mit einem warmen Herzen für Vespasian und für das Volk von Rom. Auf dem Bild des Malers Fabull wurde sie zu einer rechenhaften, kniffligen Hausmutter. Und war das Resolute, Stattliche der Frau auf dem Bild nicht bis über die Grenzen des Plumpen hinübergesteigert? Es war wohl so, daß der Maler Fabull, der Verehrer der alten Senatoren, seinen Haß gegen die hochgestiegenen Kleinbürger in das Bild mit hineingemalt hatte.
  Aus der weiten Empfangshalle führte eine mächtige, offene Tür in das Schlafzimmer des Kaisers. Hier ließ er sich, wie die Sitte es wollte, vor aller Augen ankleiden. Und hier saß neben der gemalten Cänis die lebendige. Ihr Freund, der Mann, an den sie geglaubt hatte, als er noch sehr gering einherging, war jetzt Kaiser geworden, und sie saß neben ihm. Ihr Wesentliches war auf dem Bild, und dafür stand sie ein. Langsam schoben sich die Aufwartenden aus der Empfangshalle in das Schlafzimmer, drängten sich vor dem Bild, passierten vorbei, langsam, eine endlose Reihe; jeder fand ein paar künstliche Worte der Bewunderung und der Verehrung. Die Dame Cänis kassierte sie streng ein, und Vespasian lächelte.
  Josef spürte vor dem Bild Unbehagen. Er fürchtete die Dame Cänis, und er sah gut, daß da Dinge mitgemalt waren, geeignet, seine Abneigung zu nähren und zu rechtfertigen. Trotzdem empfand er es wieder als einen Verstoß gegen die Schöpfung, Dinge neu schaffen zu wollen, die der unsichtbare Gott geschaffen hatte. Jahve war es, der dieser Frau ihre Plumpheit, ihre kalte Rechenhaftigkeit eingeblasen hatte; der Maler Fabull überhob sich, wenn er nun seinesteils ihr diese Eigenschaften verleihen wollte. Voll Widerwillen sah er auf den Maler. Der stand in der Nähe des Kaisers. Sein fleischiger, strenger, sehr römischer Kopf schaute durch die Besucher hindurch; säuerlich, hochmütig, unbeteiligt stand er, während er die Schmeichelworte der Besucher einsog.
  Auch das Mädchen Dorion war da. Die geschwungenen Lippen ihres großen, vorspringenden Mundes lächelten, ein heller Schein war um ihr zartes, hochfahrendes Gesicht. Ihr Vater hatte seine Schrullen, niemand wußte das besser als sie, aber das Bild war ein Meisterwerk, voll von Kunst und Erkenntnis, und diese Dame Cänis lebte nun für immer genau so, wie ihr Vater sie sah und wollte; ihre Plumpheit, ihr scharfer Geiz waren nun ins Licht gehoben, für ewig in die sichtbare Welt gestellt. Dorion liebte Bilder leidenschaftlich, sie verstand sich auf die Technik bis in die letzten Schattierungen. Ihr Vater hatte vielleicht noch Wirksameres gemalt, aber dies war sein bestes Porträt; hier hatte er seine Grenzen ganz ausgefüllt, und es waren weite Grenzen.
  Die Empfangshalle war gedrängt voll. Dorion lehnte an einer Säule, groß, schmal, zart, den gelbbraunen, dünnen Kopf nach hinten geworfen. Leicht mit der stumpfen Nase schnupperte sie, ihre kleinen Zähne lagen bloß, sie genoß die Wirkung des Bildes, sie genoß das etwas verblüffte Unbehagen der Beschauer nicht weniger als ihre Bewunderung. Sie freute sich, als sie Josef sah. Er war weit weg, aber sie hatte mit schrägem, raschem Blick erkannt, daß auch er sie wahrgenommen hatte, und sie wußte, daß er jetzt zu ihr vordringen werde.
  Sie hatte seit dem Fest auf der Insel Pharus den jungen Juden nicht wieder gesehen. Als man ihr von seiner Geißelung erzählte, hatte sie ein paar böse und leichtfertige Witze gemacht, aber in ihrem Innersten hatte sie sich damals gefühlt wie in einer Schaukel, wenn sie ganz oben ist und gerade vor dem Umkippen; denn sie war fest überzeugt, der freche, schöne und begabte Mensch habe die Geißelung auf sich genommen, nur um sich den Weg zu ihr frei zu machen.
  Gekitzelt von Erwartung sah sie, wie er sich näher an sie heranbahnte. Aber als er sie begrüßte, mußte sie sich erst erinnern, wer er sei. Dann wußte sie es: ach ja, der junge jüdische Herr, den der Kaiser von ihrem Vater porträtiert haben wollte. Jetzt seien ja die Vorbedingungen des Kaisers besser erfüllt; sie habe gehört, Josef habe sich mittlerweile freiwillig allerlei heftigen Kasteiungen unterzogen. Sein Gesicht jedenfalls sei viel hagerer geworden, und sie könne sich wohl vorstellen, daß man nicht viel dazutun müsse, um jenes Prophetische an ihm zu finden, das der Kaiser vermißte. Mit langsamer, aufreizender Neugier schaute sie ihn auf und ab, und mit heller, dünner Stimme fragte sie ihn, ob die Narben der Geißelung noch sehr sichtbar seien.
  Josef schaute auf ihre dünnen, braunen Hände, dann schaute er nach dem Bild der Dame Cänis, dann wieder auf Dorion, sichtlich einen Vergleich ziehend, und sagte: »Sie und die Dame Cänis sind hier in Alexandrien die einzigen Frauen, die mich nicht leiden mögen.« Dorion, wie er es beabsichtigt hatte, ärgerte sich über diese Zusammenstellung. »Ich glaube«, fuhr er fort, »das Bild von mir wird nicht zustande kommen. Ihr Herr Vater liebt mich nicht mehr als ein verwesendes Schweineaas, und Sie, Dorion, finden, ich brauchte Fasten und Geißelung, um ein würdiges Modell zu werden. Ich glaube, es wird den Späteren nichts übrigbleiben, als mich aus meinen Büchern kennenzulernen und nicht aus einem Werk des Fabull.« Aber er dämpfte seine Stimme, während er diese stacheligen Worte sprach, daß sie fast wie eine Schmeichelei klangen, und dem Mädchen Dorion schien die Tönung seiner Rede wichtiger als ihr Inhalt. »Ja, Sie haben recht«, erwiderte sie, »mein Vater mag Sie nicht. Aber Sie sollten sich bemühen, gegen diese Antipathie anzugehen. Glauben Sie mir, es lohnt. Ein Mann wie Sie, Doktor Josef, der die vierzig Schläge auf sich genommen hat, sollte dem Maler Fabull ein verärgertes Wort nicht zu lange nachtragen.« Ihre Stimme klang nicht mehr schrill, sie wurde so sanft wie seinerzeit, als sie mit der Katze gesprochen hatte.
  Josef, infolge des Gedränges, stand so nahe an ihr, daß er sie fast berührte. Er sprach leise, als sollten es die andern nicht hören, vertraulich. Er wurde ernsthaft. »Ihr Vater mag ein großer Mann sein, Dorion«, sagte er, »aber wir Juden hassen seine Kunst. Das ist kein Vorurteil, wir haben gute Gründe.« Sie schaute ihn spöttisch an aus ihren meerfarbenen Augen und sagte ebenso leise und vertraulich: »Sie sollten nicht so feig sein, Doktor Josef. Denn es ist nur, weil ihr feig seid. Ihr wißt sehr gut, daß es kein besseres Mittel gibt, den Dingen auf den Grund zu kommen, als die Kunst. Ihr wagt es nicht, euch der Kunst zu stellen, das ist alles.« Josef lächelte mitleidig aus der Höhe seiner Überzeugung. »Wir sind vorgedrungen bis zum Unsichtbaren hinter dem Sichtbaren. Nur deshalb glauben wir nicht mehr an das Sichtbare, weil es zu billig ist.« Aber das Mädchen Dorion, aus der Tiefe ihres Gemütes heraus, und ihre Stimme wurde vor Eifer ganz schrill, redete auf ihn ein. »Die Kunst ist das Sichtbare und Unsichtbare zugleich. Die Wirklichkeit stümpert der Kunst nach, sie ist nur eine unfertige, fehlerhafte Nachahmung der Kunst. Glauben Sie mir, der große Künstler schreibt der Wirklichkeit ihre Gesetze vor. Mehrmals hat mein Vater das getan, willentlich oder nicht.« Ihr großer Kinderkopf kam ihm ganz nahe, sie sprach ihm fast ins Ohr vor Geheimnis. »Erinnern Sie sich, wie die Senatorin Drusilla starb? An einem Stich durch die linke Schulter ins Herz. Niemand weiß, wer den Stich geführt hat. Ein Jahr zuvor hatte mein Vater ihr Bild gemalt. Er hatte ihr einen Fleck auf die entblößte Schulter gemalt, eine Art Narbe; es war ein technischer Grund, er mußte den Fleck haben. Es war diese Stelle der Schulter, durch die der Stich ging.« Sie standen in dem hellen, hohen Raum, rings um sie waren gut angezogene, schwatzende Damen und Herren, es war ein nüchterner Dienstag, aber um die beiden jungen Menschen war Schleier und Geheimnis. Lächelnd glitt Dorion aus diesem Dämmerigen heraus. »Eigentlich«, meinte sie in verbindlichem, konventionellem Ton, »müßten solche Dinge den Propheten Josef mit dem Maler Fabull verbinden.«
  Josef, gerade weil ihn die Argumente des Mädchens angerührt hatten, behauptete hartnäckig die Überlegenheit des Wortes über das Bild. Die Überlegenheit des gottgedrängten jüdischen Wortes vor allem. Das Mädchen Dorion krümmte die Lippen, lächelte, lachte laut heraus, ein hohes, schepperndes, bösartiges Lachen. Was sie von hebräischen Büchern kenne, erklärte sie, damit könne sie wenig anfangen; es sei voll von törichtem Aberglauben. Sie habe sich aus seinem Makkabäerbuch vorlesen lassen. Sie bedaure, es seien leere, tönende Worte. Wenn der Mann Josef so leer wäre wie das Buch, läge ihr nichts daran, daß ein Porträt von ihm zustande käme. Josef selber hatte in letzter Zeit das Makkabäerbuch nach Kräften verleugnet. Jetzt fand er ihr Urteil dreist und albern, es verdroß ihn. Er schlug zurück und erkundigte sich freundlich nach ihren Göttern, gewissen Tiergöttern, ob sie auch eifrig Teller leckten und Milch stählen. Sie erwiderte heftig, geradezu grob; das Gespräch der beiden war wahrscheinlich das unhöflichste, das in der weiten Halle geführt wurde.

Da der Prinz Titus bei Fabull ein Bild der Berenike bestellt hatte, kam das Mädchen Dorion in den festfreudigen Kreis der Villa in Canopus. Nun war sie beinahe täglich mit Josef zusammen. Er sah, wie die andern sie behandelten, sehr höflich, sehr galant und im Grunde verächtlich, wie eben alexandrinische Herren hübsche Frauen zu behandeln pflegten. In andern Fällen machte er es ebenso; bei ihr wollte es ihm nicht glücken. Das reizte ihn. Er warf sich besinnungslos in seine Leidenschaft. Scharf, in Gegenwart anderer, verspottete er sie, um sie dann ebenso maßlos vor andern anzubeten. Mit der Sicherheit eines klugen Kindes durchschaute sie ihn, seine Sucht zu glänzen, seine Eitelkeit, seine Würdelosigkeit. Sie hatte gelernt, was Würde ist. Sie sah, wie es an ihrem Vater fraß, daß die Aristokratie ihn nicht gelten ließ, sie sah, wie die Römer auf die Ägypter herabschauten. Ihre ägyptische Mutter, ihre Bonne hatten ihr beigebracht, aus wie uraltem, heiligem Blut sie sei, ihre Väter schliefen unter spitzen, hohen, dreieckigen Bergen. Und waren die Juden nicht die verächtlichsten der Menschen, lächerlich wie Affen, nicht viel besser als unreine Tiere? Nun konnte sie gerade von diesem Juden nicht loskommen, und gerade seine Würdelosigkeit zog sie an, seine uferlose Hingabe an das, was ihn im Augenblick fesselte, der jähe Wechsel, wie er sich aus einer Wallung in die andere schmiß, die Schamlosigkeit, mit der er seine Gefühle heraussagte. Sie streichelte ihre Katze Immutfru: »Er ist stumpf vor dir. Er hat kein Herz, er weiß nicht, was du bist und was Bilder sind und was das Land Kernet ist. Immutfru, mein kleiner Gott, kralle mich, daß mein Blut herausrinnt, denn mein Blut muß schlecht sein, weil ich an ihm hänge, und ich bin lächerlich, weil ich an ihm hänge.« Die Katze saß auf ihrem Schoß, schaute sie aus ihren runden, leuchtenden Augen an.

  Einmal, bei einem heftigen Streit mit Josef, im Beisein anderer, sagte sie zu ihm, voll Haß und Triumph: »Warum, wenn Sie mich für so töricht halten, haben Sie sich geißeln lassen, um sich für mich frei zu machen?« Er war verblüfft, er wollte sie verlachen, aber sogleich hatte er sich wieder in der Gewalt, schwieg.
  Als er allein war, riß es ihn hin und her. War es ein Hin- weis des Schicksals, ein Vorzeichen, daß die Ägypterin seine Geißelung so deutete? Er hatte sich richtig verhalten, als er diese Deutung zuließ; einer Frau gegenüber, die man haben wollte, war eine solche schweigende Lüge erlaubt. Aber war es denn eine Lüge? Immer hatte er diese Frau haben wollen, und hatte er je daran denken können, daß sie ohne Opfer und Zeremonie mit ihm schlafen werde? Es war eine große Lockung, sie zu seiner Frau zu machen. Sie war ihm, dem Priester, verboten, selbst wenn sie zum Judentum übertrat. Wozu hatte er die Geißelung auf sich genommen, wenn er gleich darauf von neuem das Gesetz verletzte? Die Makkabi-Leute werden schreien, schlimmer, sie werden lachen. Mögen sie. Es wird süß sein, es wird eine Lust sein, für die Ägypterin Opfer zu bringen. Die Sünde, jene zu heiraten, die der Römer ausgespien hatte, war ekel gewesen, schmutzig. Diese Sünde schimmerte prächtig. Es war eine sehr große Sünde. Du sollst dich nicht vergatten mit den Töchtern der Fremden, hieß es in der Schrift, und Pinchas, als er sah, daß einer aus der Gemeinde Israel hurte mit einer Midianitin, nahm einen Spieß und ging dem Manne nach in den Hurenwinkel und durchstach beide, den Mann und das Weib, durch ihren Bauch. Ja, es war eine sehr große Sünde. Andernteils: sein Namensvetter Josef hatte die Tochter eines ägyptischen Priesters geheiratet, Moses eine Midianitin, Salomo eine Ägypterin. Die Kleinen mußten sich kleine Maße gefallen lassen, denn sie liefen Gefahr, sich bei den Töchtern der Fremden zu verliegen und ihre Götter anzunehmen. Er, Josef, gehörte zu jenen, die stark genug waren, das Fremde in sich aufzunehmen, ohne darin unterzugehen. Reiße dich los von deinem Anker, spricht Jahve. Er verstand plötzlich den dunkeln Spruch, man solle Gott mit beiden Trieben lieben, dem bösen und dem guten.
  Bei der nächsten Zusammenkunft mit Dorion sprach er von Verlöbnis und Heirat wie von einem alten, oft erörterten Projekt. Sie lachte nur, ihr dünnes, schepperndes Lachen. Aber er tat, als höre er es nicht, er war besessen von seinem Plan, von der Andacht zu seiner Sünde. Schon besprach er die Einzelheiten, das Datum, die Formalitäten ihres Übertritts zum Judentum. Waren nicht oft in Rom wie in Alexandrien Frauen auch der höchsten Schicht zum Judentum übergetreten? Das Ganze ist etwas verwickelt, dennoch wird es nicht allzu lange dauern. Sie lachte nicht einmal, sie schaute ihn an wie einen Verrückten.
  Vielleicht war es gerade die Verrücktheit seines Projekts, die sie anzog. Sie dachte an das Gesicht ihres Vaters, den sie liebte und verehrte. Sie dachte an die Väter ihrer Mutter, die einbalsamiert unter den spitzen Bergen schliefen. Aber dieser Jude wischte mit dem Fanatismus eines Irren alle Einwände fort. Es gab keine Schwierigkeiten für ihn, alle Gegengründe der Vernunft waren Luft. Glückstrahlend, mit heftigen Augen, erzählte er dem Titus und den Gästen der Villa in Canopus von seinem Verlöbnis mit dem Mädchen Dorion.
  Das Mädchen Dorion lachte. Das Mädchen Dorion sagte: er ist toll. Aber den Josef kümmerte das nicht. War nicht alles Große und Wichtige zuerst für toll gehalten worden? Allmählich unter seiner Heftigkeit, unter seiner querköpfigen Zähigkeit gab sie nach. Widersprach, wenn die andern das Projekt für wahnwitzig erklärten. Kam mit den Argumenten Josefs. Schon fand sie die Idee nicht mehr absurd. Schon hörte sie genau zu, wenn Josef die Einzelheiten erörterte, begann mit Josef um diese Einzelheiten zu feilschen.
  Der Übertritt zum Judentum war nicht schwierig. Frauen waren zur Einhaltung der zahlreichen Gebote nicht verpflichtet, nur an die Verbote waren sie gebunden. Josef war bereit zu weiteren Zugeständnissen. Wollte sich mit der Versicherung begnügen, sie werde nicht die Sieben Gebote für Nichtjuden übertreten. Sie lachte, trotzte. Was, sie soll ihre Götter abschwören, Immutfru, ihren kleinen Katzengott? Josef redete ihr zu. Sagte sich, was man erweichen wolle, das müsse man zuerst richtig hart werden lassen, was man zusammendrücken wolle, das müsse man zuerst richtig sich ausdehnen lassen. Er hielt an sich, übte Geduld. Wurde nicht müde, immer die gleichen Gespräche zu führen.
  Vor Titus aber ließ er sich gehen, klagte heftig über die Halsstarrigkeit des Mädchens. Titus war ihm gewogen. Er hatte auch keine Abneigung gegen jüdische Lehren und Bräuche; eine Gemeinschaft, die Frauen wie Berenike hervorbrachte, verlangte mit Recht Achtung. Aber daß jemand, durch Geburt einem andern Glauben verhaftet, die sichtbaren Götter seiner Ahnen abschwören und sich dem unsichtbaren Judengott zuneigen sollte, war das nicht etwas viel verlangt? Der Prinz kramte in seinen stenographischen Notizen, er hatte sich einige besonders abstruse Glaubenssätze und Lehrmeinungen der jüdischen Doktoren aufnotiert. Nein, sich zu solchem Aberglauben zu bekennen, das war dem Mädchen Dorion nicht zuzumuten. Sie lagen bei Tisch, zu dreien, Josef, der Prinz, das Mädchen Dorion, und diskutierten eifrig, ernsthaft, was man füglich von einem Proselyten fordern dürfe, was nicht. Der kleine Gott Immutfru lag auf Dorions Schulter, klappte seine leuchtenden Augen auf, zu, gähnte. Immutfru abschaffen, nein, auch Titus war der Meinung, das ginge zuweit. Nach vielem Hin und Her war Josef damit einverstanden, daß das Judentum des Mädchens Dorion sich auf eine formale Erklärung des Übertritts vor den zuständigen Gemeindebeamten beschränken solle.
  Nun aber kamen die Gegenforderungen der Ägypterin. Sie lag da, lang, locker, zart bis zur Gebrechlichkeit; unter der stumpfen Nase sprang groß der Mund vor. Sie lächelte, sie strengte sich nicht an, ihre Stimme blieb dünn und höflich, aber sie ging von ihrer Forderung nicht ab. Sie dachte an ihren Vater, an seinen lebenslangen Kampf um gesellschaftliche Geltung, und sie verlangte kindlich, still, dünn und eigensinnig, Josef müsse sich das römische Bürgerrecht erwirken.
  Josef, unterstützt von Titus, hielt ihr entgegen, ein wie schweres und langwieriges Unternehmen das sei. Sie zuckte die Achseln. »Es ist unmöglich«, rief er zuletzt, erbittert. Sie zuckte die Achseln, sie erblaßte, sehr langsam, wie das ihre Art war, zuerst um den Mund herum, dann ergriff die Blässe ihr ganzes Gesicht. Und sie beharrte: »Ich will die Frau eines römischen Bürgers sein.« Sie sah Josefs finstere Augen, und mit ihrer dünnen, hohen Stimme formulierte sie: »Ich bitte Sie, Doktor Josef, binnen zehn Tagen römischer Bürger zu sein. Dann bin ich bereit, vor Ihren Gemeindebeamten meinen Übertritt zu Ihrem Gott zu erklären. Wenn Sie aber nicht binnen zehn Tagen römischer Bürger sind, dann halte ich es für besser, wir sehen uns nicht mehr.« Josef sah ihre dünnen, braunen Hände, die die langen, rotbraunen Haare der Katze Immutfru kraulten, er sah ihre schräge Kinderstirn, ihr leichtes, reines Profil. Er war erbittert, und er begehrte sie sehr. Er wußte mit großer Gewißheit: ja, so wird es sein. Wenn er nicht in zehn Tagen das Bürgerrecht hat, dann wird er dieses gelbbraune Mädchen, das so gelassen mit gelockerten Gliedern daliegt, wirklich nie mehr zu Gesicht bekommen.
  Titus griff ein. Er fand die Forderung Dorions hoch, aber war Josefs Forderung niedrig? Er wog sachlich Josefs Chancen ab, er betrachtete das Ganze sportlich, als eine Art Wette. Es war nicht ausgeschlossen, daß der Kaiser, der Josef wohlwollte, ihm das Bürgerrecht verlieh. Billig freilich wird die Sache nicht werden. Vermutlich wird die Dame Cänis die Gebühren festsetzen, und die Dame Cänis, das weiß jeder, gibt es nicht billig. Zehn Tage sind eine kurze Zeit. »Du mußt dich gut daranhalten, mein Jude«, sagte er, und: »Gürte dich! Das Blei aus den Schuhen!« spornte er ihn lächelnd mit dem Zuruf an die Läufer der sportlichen Spiele.
  Das Mädchen Dorion hörte sich die Überlegungen der beiden mit an. Ihre meerfarbenen Augen gingen von einem zum andern. »Es soll ihm nicht leichter gemacht werden als mir«, sagte sie. »Ich bitte Sie sehr, Prinz Titus, unparteiisch zu bleiben und weder für noch gegen ihn einzugreifen.«

Josef ging zu Claudius Regin. In zehn Tagen das Bürgerrecht zu erwerben, wenn das überhaupt jemand möglich machen konnte, dann war es er. Claudius Regin ist in Alexandrien noch leiser geworden, noch unscheinbarer, noch verwahrloster. Nicht viele wissen um die Rolle, die er spielt. Aber Josef weiß darum. Er weiß, daß dieser Regin die Ursache ist, wenn jetzt zum Beispiel die Herren der jüdischen Gemeinde mit sehr andern Blicken auf die Westjuden schauen als früher. Er weiß, daß diesem Regin, wenn kein anderer mehr helfen kann, immer noch ein letzter Trick einfällt. Mit wie schlichten Mitteln etwa hat er bewirkt, daß Vespasian, seit der Salzfischsteuer in Alexandrien überaus unpopulär, plötzlich von neuem zum Liebling des Volkes wurde. Er hat den Kaiser einfach Wunder tun lassen. Wunder waren im Osten immer geeignet, den Täter beliebt zu machen, aber erst dieser Mann aus dem Westen mußte kommen, ehe man das alterprobte Mittel anwandte. Josef war selbst zugegen, wie der Kaiser einen stadtbekann ten Lahmen gehen machte und einem Blinden die Sehkraft wiedergab, indem er ihnen die Hand auflegte. Seither ist Josef noch unbehaglicher überzeugt von den Fähigkeiten Regins.

  Fett, schmuddelig, aus schläfrigen Augen von der Seite her blinzelnd, hörte der Verleger zu, wie Josef ihm ein wenig steif und behindert auseinandersetzte, er müsse das Bürgerrecht haben. Er schwieg eine Weile, als Josef zu Ende war. Dann, mißbilligend, meinte er, Josef habe immer so kostspielige Bedürfnisse. Die Einkünfte aus der Verleihung des Bürgerrechts seien eine der wichtigsten Einnahmequellen der Provinz. Man müsse, schon um das Bürgerrecht nicht zu entwerten, sparsam damit umgehen und die Gebühren hoch halten. Josef, hartnäckig, erwiderte: »Ich muß das Bürgerrecht rasch haben.« – »Wie rasch?« fragte Regin. »In neun Tagen«, sagte Josef. Regin saß faul in seinem Sessel, seine Hände baumelten feist von der Lehne. »Ich brauche das Bürgerrecht, weil ich heiraten will«, sagte verbissen Josef. »Wen?« fragte Regin. »Dorion Fabulla, die Tochter des Malers«, sagte Josef. Regin wiegte den Kopf ablehnend: »Eine Ägypterin. Und gleich heiraten. Und das Bürgerrecht muß es auch sein.« Josef saß da, hochmütig, mit zugesperrtem Gesicht. »Erst haben Sie den Psalm des Weltbürgers geschrieben«, dachte Regin laut nach, »das war gut. Dann haben Sie sich mit sehr heftigen Mitteln Ihren Priestergürtel zurückgeholt, das war besser. Jetzt wollen Sie ihn wieder hinwerfen. Sie sind ein stürmischer junger Herr«, konstatierte er. »Ich will diese Frau haben«, sagte Josef. »Sie müssen immer von allem haben«, tadelte mit seiner fettigen Stimme Regin. »Sie wollen immer alles zugleich, Judäa und die Welt, Bücher und Festungen, das Gesetz und die Lust. Ich mache Sie höflich darauf aufmerksam, daß man sehr zahlungskräftig sein muß, um für das alles zahlen zu können.« – »Ich will diese Frau haben«, beharrte eng, wild und töricht Josef. Er wurde dringlich. »Helfen Sie mir, Claudius Regin. Schaffen Sie mir das Bürgerrecht. Ein wenig Dank sind auch Sie mir schuldig. Ist es nicht ein Segen für uns alle und für Sie besonders, daß dieser Mann der Kaiser ist? Habe ich nicht auch das Meine dazu getan? War ich ein falscher Prophet, als ich ihn den Adir nannte?«
  Regin beschaute seine Handflächen, drehte die Hände um, beschaute wieder seine Handflächen. »Ein Segen für uns alle«, sagte er, »richtig. Ein anderer Kaiser hätte vielleicht mehr auf den Minister Talaß gehört als auf den alten Etrusk und mich. Aber glauben Sie«, und er packte Josef plötzlich mit einem überraschend scharfen Blick, »daß, weil er Kaiser ist, Jerusalem stehen bleiben wird?« – »Ich glaube es«, sagte Josef. »Ich glaube es nicht«, sagte müde Claudius Regin. »Wenn ich es glaubte, dann würde ich Ihnen nicht dazu helfen, diese Dame zu heiraten und Ihren Priestergürtel wegzugeben.« Den Josef überfröstelte es. »Der Kaiser ist kein Barbar«, wehrte er sich. »Der Kaiser ist ein Politiker«, erwiderte Claudius Regin. »Vermutlich haben Sie recht«, fuhr er fort, »vermutlich ist es wirklich ein Segen für uns alle, daß er der Kaiser ist. Vermutlich hat er wirklich den guten Willen, Jerusalem zu retten. Aber«, er winkte den Josef näher, er machte seine fettige Stimme ganz leise, schlau, geheimnisvoll, »ich will Ihnen einmal ganz im Vertrauen etwas sagen. Im Grund ist es gleichgültig, wer der Kaiser ist. Von zehn politischen Entscheidungen, die ein Mann treffen muß, sind ihm, er sei an welcher Stelle immer, neun durch die Umstände vorgeschrieben. Und je höher einer steht, um so beschränkter ist seine Entschlußfreiheit. Es ist eine Pyramide, der Kaiser ist die Spitze, und die ganze Pyramide dreht sich; aber es ist nicht er, der sie dreht, sie dreht sich von unten her. Es sieht aus, als handle der Kaiser freiwillig. Aber seine fünfzig Millionen Untertanen schreiben ihm seine Handlungen vor. Neun Handlungen von zehn müßte jeder andre Kaiser genau ebenso machen wie dieser Vespasian.«
  Das hörte Josef nicht gern. Unwirsch fragte er: »Wollen Sie mir helfen, das Bürgerrecht zu erwirken?« Regin ließ ab von ihm, ein wenig enttäuscht. »Schade, daß Sie für ein ernsthaftes Männergespräch nicht zu haben sind«, meinte er. »Ich vermisse sehr Ihren Kollegen Justus von Tiberias.«
  Im übrigen sagte er ihm zu, den Vespasian auf Josefs Angelegenheiten vorzubereiten.

Vespasian, nun seine Herrschaft gesichert schien und die Zeit seiner Abreise nach Italien näherrückte, sperrte sich gegen den Osten mehr und mehr zu. Er war ein großer, römischer Bauer, der von Rom aus römische Ordnung in die Welt bringen wird. Sein Boden hieß Italien, sein Gewissen Cänis. Er freute sich auf die Rückkehr. Er fühlte sich kräftig, stand gut auf seinen Beinen. Es ist von Rom nicht weit nach seinen satanischen Besitzungen. Bald wird er die gute satanische Erde riechen, seine Felder, seine Reben und Oliven beschauen.

  Mehr als je sah jetzt der Kaiser auch in seinem Privatleben auf Ordnung. Pedantisch hielt er den festgesetzten Tagesplan ein. Jeden Montag, nach der Vorschrift des Arztes Hekatäus, fastete er. Dreimal in der Woche, Sonntag, Dienstag, Freitag, immer unmittelbar nach dem Essen, ließ er sich ein Mädchen kommen, jedesmal ein anderes. In den Stunden darauf pflegte er guter Laune zu sein. Die Dame Cänis verlangte für Audienzen, die sie auf diese Stunden legte, ansehnliche Provisionen.
  Es war eine solche Stunde, und zwar an einem Freitag, zu der dem Josef durch Regin ein Empfang bei Vespasian erwirkt wurde. Dem Kaiser machte es Spaß, seinen Juden zu sehen; er liebte Züchtungsexperimente jeder Art. Er wird jetzt zum Beispiel versuchen, afrikanische Fasanen- und Flamingoarten, asiatische Zitronen- und Pflaumenspezialitäten auf seinen sabinischen Besitzungen fortzupflanzen. Warum soll er seinem Juden nicht das römische Bürgerrecht geben? Aber kräftig schwitzen soll der Junge darum. »Sie sind anspruchsvoll, Flavius Josephus«, tadelte er bedenklich. »Ihr Juden selber seid verdammt exklusiv. Wenn ich zum Beispiel die Absicht hätte, in euerm Tempel zu opfern, oder wenn ich nur hier in Alexandrien zur Vorlesung eurer Heiligen Schrift aufgerufen werden wollte, ihr würdet mir die größten Schwierigkeiten machen. Ich müßte mich zumindest beschneiden lassen und, Donner und Herakles!, was noch alles. Aber von mir verlangen Sie, daß ich Ihnen eins zwei drei das römische Bürgerrecht gebe. Glauben Sie, Ihre Verdienste um den Staat sind wirklich so groß?« – »Ich glaube«, erwiderte bescheiden Josef, »es ist ein Verdienst, als erster erklärt zu haben, daß Sie der Mann sind, dieses Reich zu retten.« – »Fuhrwerken Sie nicht etwas heftig herum, mein Jüdlein«, schmunzelte der Kaiser, »was Frauen anlangt? Was macht übrigens die Kleine? Ich habe ihren Namen vergessen.« Er suchte die aramäischen Worte zusammen: »Sei süß, meine Taube, sei zärtlich, mein Mädchen. Sie wissen schon. Hat sie ein Kind?« – »Ja«, sagte Josef. »Ist es ein Knabe?« – »Ja«, sagte Josef. »Vierzig Schläge«, schmunzelte der Kaiser. »Ihr Juden seid wirklich exklusiv. Ihr gebt es nicht billig.«
  Er saß bequem, schaute sich seinen Juden an, der ehrfurchtsvoll vor ihm stand. »Sie haben eigentlich kein Recht«, sagte er, »sich auf Ihre frühere Leistung zu berufen. Man sagt mir, Sie huren weidlich herum. Folglich müssen Sie nach Ihrer eigenen Theorie Ihre ganze Begabung verloren haben.« Josef schwieg. »Wir wollen einmal sehen«, fuhr Vespasian fort und schnaufte vergnügt, »ob von Ihrer Prophetengabe noch was da ist. Los. Prophezeien Sie einmal, ob ich Ihnen das Bürgerrecht geben werde oder nicht.« Josef zögerte nur ganz kurz, dann neigte er sich tief: »Ich wende nur Vernunft an, nicht Prophetengabe, wenn ich glaube, daß ein weiser und guter Herrscher keinen Anlaß hat, mir das Bürgerrecht zu verweigern.« – »Du drückst dich um die Antwort, du Aal von einem Juden«, beharrte der Kaiser. Josef sah, was er gesagt hatte, genügte nicht. Er mußte Besseres finden. Er suchte krampfig, fand. »Jetzt«, setzte er an, »da alle erkannt haben, wer der Retter ist, ist meine frühere Sendung erfüllt. Ich habe eine neue Aufgabe.« Der Kaiser sah hoch. Josef, ihn aus seinen heißen, dringlichen Augen anschauend, fuhr fort, kühn, mit jähem Entschluß: »Es ist mir auferlegt, nicht mehr die Zukunft, sondern das Vergangene für immer gegenwärtig zu machen.« Er schloß entschieden: »Ich will ein Buch schreiben über die Taten des Vespasian in Judäa.«
  Vespasian richtete überrascht den harten, klaren Blick auf den Bittsteller. Rückte nah an ihn heran, blies ihm seinen Atem ins Gesicht. »Hm, das ist keine schlechte Idee, mein Junge. Ich habe mir meinen Homer freilich anders vorgestellt.« Josef, den Handrücken an der Stirn, sagte demütig, doch voll Zuversicht: »Es wird kein unwürdiges Buch sein.« Er sah, daß den Kaiser der Gedanke reizte. Ungestüm trieb er weiter. Riß sich die Brust auf, beschwor ihn: »Geben Sie mir das Bürgerrecht. Es wäre eine große, tiefe Gnade, für die ich der Majestät auf den Knien meines Herzens Danklieder singen wollte bis an mein Ende.« Und, sich ganz öffnend, mit einer wilden und demütigen Vertraulichkeit flehte er: »Ich muß diese Frau haben. Alles mißlingt mir, wenn ich sie nicht habe. Ich kann nicht ans Werk gehen. Ich kann nicht leben.«
  Der Kaiser lachte. Nicht ohne Wohlwollen erwiderte er: »Sie gehen stürmisch vor, mein Jude. Sie betreiben Ihre Dinge intensiv, das habe ich schon gemerkt. Aufrührer, Soldat, Schreiber, Agitator, Priester, Büßer, Hurer, Prophet: was Sie machen, das machen Sie ganz. Sagen Sie übrigens, wie ist das? Schikken Sie wenigstens der Kleinen in Galiläa reichlich Geld? Daß Sie sich da nicht drücken, mein Jude. Ich will nicht, daß mein Sohn hungert.«
  Josef verlor seine Demut. Herausfordernd und töricht erwiderte er: »Ich bin nicht geizig.« Vespasian machte die Augen eng. Josef fürchtete, im nächsten Augenblick werde er wüst losbrechen, aber er hielt ihm stand. Doch schon hatte sich der Kaiser wieder in der Gewalt. »Du bist nicht geizig, mein Junge ? Das ist ein Fehler«, tadelte er väterlich. »Ein Fehler, der sich sogleich rächen wird. Ich bin nämlich geizig. Ich hatte die Absicht, von dir für das Bürgerrecht hunderttausend Sesterzien zu verlangen. Jetzt zahlst du mir diese hunderttausend, und außerdem schickst du fünfzigtausend an die Kleine nach Cäsarea.« – »Soviel Geld kann ich nie auftreiben«, sagte Josef schlaff.
  Vespasian kam auf ihn zu. »Sie wollten doch ein Buch schreiben. Ein vielversprechendes Buch. Verpfänden Sie das Buch«, riet er.
  Josef stand mutlos. Vespasian gab ihm einen kleinen Klaps, schmunzelte: »Das Herz hoch, mein Jude. In sechs oder sieben Jahren lassen wir uns den Jungen aus Cäsarea nach Rom schicken und schauen ihn uns an. Wenn er mir ähnlich sieht, dann kriegst du deine fünfzigtausend zurück.«
Josef hatte sich um Geld nie große Sorgen gemacht. Seine Terrains in der Neustadt von Jerusalem hatten freilich die Makkabi-Leute konfisziert; aber wenn die Römer der Unruhen Herr geworden sind, wird man sie ihm zurückgeben. Vorläufig lebte er von dem Gehalt, das er als Dolmetsch und Beamter des Kaiserlichen Sekretariats bezog. Einen Teil dieses Gehalts ließ er Mara überweisen. Er konnte, da er fast immer Gast des Titus war, in Alexandrien auch ohne viel Geld weit und behaglich leben. Aber aus eigenen Mitteln die hundertfünfzigtausend Sesterzien aufzubringen, die der Kaiser von ihm verlangte, daran war nicht zu denken.
  Er hätte vielleicht das Geld bei den großen Herren der jüdischen Gemeinde ausleihen können, aber er fürchtete das Gerede, die wüsten, pathetischen Beschimpfungen der Makkabi-Leute, den hurtigen, gemeinen Witz der Weißbeschuhten. Seine rasche Phantasie sah bereits an den Mauern der Häuser Zeichnungen, die ihn mit dem Mädchen Dorion auf schmutzige Art verknüpften. Nein, er mußte einen andern Weg suchen.
  Nach einer Nacht voll bitterer Gedanken nahm er es auf sich, zu Claudius Regin zu gehen. Der Verleger wiegte den Kopf. »Ich kann mir nicht denken«, bohrte er hartnäckig, »daß Ihr Herz noch an den Bestand des Tempels glaubt. Sonst würden Sie Ihren Priestergürtel nicht wegwerfen.« Josef erwiderte: »Mein Herz glaubt an den Bestand des Tempels, und mein Herz begehrt nach der Ägypterin.« – »Ich war sechsmal in Judäa«, sagte Regin. »Ich war sechsmal im Tempel, natürlich nur im Vorhof der Nichtjuden, und stand vor dem Tor, das Unbeschnittene nicht durchschreiten dürfen. Ich bin kein Jude, aber ich wäre gern ein siebentes Mal vor diesem Tor gestanden.« – »Sie werden dort stehen«, sagte Josef. »Ich vielleicht«, grinste fatal Regin. »Aber ob dann das Tor noch steht?« – »Wollen Sie mir die hundertfünfzigtausend Sesterzien geben?« fragte Josef. Regin schaute ihn mit seinem unangenehm verhängten Blick auf und ab. »Fahren Sie mit mir hinaus vor die Stadt«, schlug er vor. »Dort will ich es mir überlegen.«
  Die beiden Männer fuhren vor die Stadt. Regin entließ den Wagen, sie gingen zu Fuß weiter. Erst wußte Josef nicht, wo sie waren. Dann sah er ein Gehäuse aufragen, nicht groß, weiß, mit dreieckigem Giebel. Er war nie hier gewesen, aber er wußte von Bildern her, daß das das Grab des Propheten Jeremias war. Grell, kahl, beklemmend stand es auf dem öden Sandfeld in der weißen Sonne. Des Vormittags pflegten viele Wallfahrer das Grab des großen Mannes zu besuchen, der den Untergang des ersten Tempels geweissagt und so herzzerfressend beklagt hatte. Jetzt aber war es Nachmittag, und die beiden Männer waren allein. Gradewegs auf das Grabmal zu ging Regin, und Josef folgte ihm unbehaglich durch den Sand. Zwanzig Schritte vor dem Mal blieb Josef stehen; er durfte als Priester nicht weiter in die Nähe des Toten gehen. Regin aber ging weiter, und, angelangt, hockte er sich nieder auf die Erde, in der Stellung eines Trauernden. Josef stand seine zwanzig Schritte entfernt und wartete, was der andere tun oder sagen werde. Regin aber sagte nichts, er hockte da, der schwere Mann, in unbequemer Stellung, in Sand und weißem Staub, und er schaukelte ein wenig seinen feisten Oberkörper. Langsam begriff Josef, der Mann trauerte um Jerusalem und den Tempel. Wie der Prophet, der hier begraben lag, vor mehr als sechshundert Jahren, da der Tempel noch schimmerte und Judäa übermütig war, Unterwerfung gepredigt und jene Schriftrolle hatte verlesen lassen, voll der wildesten Trauer um die zerstörte Stadt, die doch noch in allem Glanze dastand, so hockte jetzt der große Finanzmann im Sand, ein Bündel Trauer und Nichts, in wortlosem Jammer um die Stadt und den Tempel. Die Sonne ging unter, es wurde empfindlich kalt, aber Regin blieb hocken. Josef stand und wartete. Er kniff die Lippen zusammen, er trat von einem Fuß auf den andern, er fror, er stand und wartete. Es war eine Frechheit von diesem Mann, daß er ihn zwang, mit anzusehen, wie er trauerte. Es sollte wohl eine Anklage sein. Josef lehnte sich auf gegen diese Anklage. Aber er stand hier um Geld, er durfte nicht reden. Allmählich kehrten sich seine Gedanken ab von dem Mann und dem Geld, und wider seinen Willen gingen durch sein Herz die Klagen, Beschwörungen, Verwünschungen des Propheten, der hier begraben lag, die wohlbekannten, immer wieder zitierten, die wildesten, peinvollsten, die jemals ein Mensch geklagt hatte. Der Frost wurde immer schärfer, seine Gedanken wurden immer bitterer, Frost und bittere Gedanken zerbrannten ihn und höhlten ihn ganz aus. Als endlich Regin sich erhob, war dem Josef, als müsse er seine Knochen einzeln weiterschleppen. Regin sagte noch immer nichts. Josef schlich hinter ihm her wie ein Hund, er war klein und verachtet vor dem andern und vor sich selber wie niemals in seinem Leben. Und als sie am Wagen angelangt waren und Regin ihn mit seiner gewöhnlichen, fettigen Stimme aufforderte, er solle mit in den Wagen steigen, lehnte er ab und ging allein die lange, staubige Straße zurück, bitter, peinvoll.
  Anderen Tages bat ihn Regin um seinen Besuch. Der Verleger war wie stets von einer etwas groben Umgänglichkeit. »Sie haben lange nichts mehr geschrieben«, sagte er. »Ich höre von dem Kaiser, Sie denken an ein Buch über den Krieg in Judäa. Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Flavius Josephus. Widmen Sie das Buch mir.«
  Josef sah hoch. Was Regin gesagt hatte, war die übliche Form eines Verlagsangebots, und so widerwärtig ihm der Mensch war, so schätzte er sein Urteil und war stolz auf diesen Antrag. Das Glück war mit ihm. Gott war mit ihm. Er war allen ein Ärgernis, dem Jochanan Ben Sakkai, dem Kaiser, dem Claudius Regin. Aber wenn es darauf ankam, glaubten sie an ihn und standen zu ihm.
  »Ich will das Buch schreiben«, sagte er. »Ich danke Ihnen.«
  »Das Geld steht zu Ihrer Verfügung«, sagte fettig, etwas unwirsch Claudius Regin.

Das Mädchen Dorion, nachdem sich erwies, Josef werde ihre Bedingung erfüllen, stand nun ihrerseits für ihren Entschluß ein, so lächerlich und unvorstellbar diese Ehe war. Mit gläserner Energie ging sie an die notwendigen Vorbereitungen der Heirat. Zunächst, und das war das schwerste, teilte sie ihrem Vater ihren Entschluß mit. Sie tat das in einem nebensächlichen, etwas albernen Ton, als ob sie sich über sich selber lustig machte. Der Maler Fabull schien den kleinen Teil einer Sekunde nicht zu begreifen. Dann begriff er. Seine Augen traten beängstigend rund aus seinem strengen Gesicht; aber er blieb sitzen, er preßte den Mund zu, daß er ganz dünn wurde. Dorion kannte ihn, sie hatte nicht erwartet, daß er schimpfen oder fluchen werde, aber sie hatte geglaubt, er werde irgendeine harte, höhnische Anmerkung machen. Daß er nun so dasaß, schweigend, mit dem ganz dünnen Mund, das war schlimmer, als sie erwartet hatte. Sie ging aus dem Haus, sehr schnell, es war geradezu eine Flucht, sie nahm nur ihre Katze Immutfru mit, sie ging zu Josef.

  Still und hochfahrend ließ sie die Formalitäten des Übertritts und der Trauung über sich ergehen. Begnügte sich, mit ihrer dünnen Kinderstimme ja und nein zu sagen, wo es nötig war. Der Kaiser hatte nicht übel Lust gezeigt, die Hochzeit seines Juden mit der Ägypterin wieder so groß aufzuziehen wie seinerzeit die mit Mara. Auch Titus hätte dem Josef gern eine prunkvolle Hochzeit ausgerichtet. Aber Josef wehrte ab. Still und ohne Aufsehen schlossen sie sich in das kleine, hübsche Haus in Canopus ein, das Titus für die Zeit seines Alexandriner Aufenthalts ihnen überließ. Sie gingen in das Obergeschoß des Hauses. Das war wie ein Zelt eingerichtet, und in diesem Zelt lagen sie, als sie zum erstenmal beisammenlagen. Josef spürte sehr stark, daß es Sünde war, als er bei dieser Frau lag. »Du sollst dich nicht mit ihnen vergatten.« Aber die Sünde war leicht und schmeckte sehr gut. Die Haut der Frau duftete wie Sandelholz, ihr Atem roch wie die Luft Galiläas im Frühling. Aber seltsamerweise wußte Josef nicht, wie sie hieß. Er lag mit geschlossenen Augen und konnte nicht daraufkommen. Mit Mühe öffnete er die Augen. Sie lag da, lang, schlank, gelbbraun, durch einen kleinen Spalt der Lider schauten ihre meerfarbenen Augen. Er liebte ihre Augen, ihre Brüste, ihren Schoß, den Atem, der aus ihrem halboffenen Munde kam, das ganze Mädchen, aber er konnte nicht auf ihren Namen kommen. Die Decke war leicht, die Nacht war kühl, ihre Haut war glatt und nicht heiß. Er streichelte sie sehr leise, seine Hände waren in Alexandrien weich und glatt geworden, und da er nicht wußte, wie sie hieß, flüsterte er Koseworte in ihren Leib, hebräisch, griechisch, aramäisch: meine Liebe, meine Schäferin, meine Braut, Janiki.
  Von unten kam leise, kehlig, gleichmäßig der Singsang ihrer ägyptischen Diener, wenige Töne, immer das gleiche. Denn diese Menschen brauchten nicht viel Schlaf, und sie hockten oft wach in den Nächten und wurden nicht müd, ihre paar Lieder zu singen. Sie sangen: O mein Geliebter, es ist süß, zum Teich zu gehen und vor dir zu baden. Laß mich dir meine Schönheit zeigen, mein Hemd von feinstem Königsleinen, wenn es feucht ist und dem Körper anliegt.
  Josef lag still, neben ihm lag die Frau, und er dachte: Die Ägypter zwangen uns, ihnen Städte zu errichten, die Städte Piton und Ramses. Die Ägypter zwangen uns, unsere Erstgeborenen lebendig in die Häusermauern einzubauen. Aber dann holte die Tochter des Pharao den Moses aus dem Nilfluß, und als wir aus Ägypten auszogen, da sprangen die Kinder aus den Mauern heraus und waren lebendig. Und er streichelte die Haut der Ägypterin.
  Dorion küßte die Narben auf seinem Rücken und auf seiner Brust. Er war ein Mann und voll Kraft, aber seine Haut war glatt wie die eines Mädchens. Vielleicht kann man die Narben wegheilen, daß sie unsichtbar werden; viele lassen solche Narben wegheilen, nach dem Rezept des Scribon Larg. Aber sie will nicht, daß er sich diese Narben wegheilen lasse. Er darf es nicht, niemals. Er hat sich die Narben für sie geholt, süße Narben sind eine Auszeichnung für sie, er muß sie behalten.
  Sie ließen niemand zu sich, keinen Diener, niemand, den ganzen Tag nicht. Sie wuschen ihre Haut nicht, daß einer nicht des Geruchs des andern verlustig gehe, sie aßen nichts, daß einer nicht des Geschmacks des andern verlustig gehe. Sie liebten sich, es gab nichts auf der Welt außer ihnen. Was außer ihrer Haut war, war nicht in der Welt.
  In der nächsten Nacht, vor dem Morgen, lagen sie wach, und alles war sehr verändert. Josef wog ab. Dorion stand auf den hassenswerten Bildern ihres Vaters mit ihrem tellerlekkenden, milchstehlenden Gott, und sie war ganz fremd. Mara war Wegwurf, Mara war das Ausgespiene des Römers, aber sie war nicht fremd, nie. Sie hat ihm einen Sohn geboren, einen Bastard freilich. Aber wenn man Mara umarmte, dann umarmte man ein pochendes Herz. Und was umarmt man, wenn man diese Ägypterin umarmt?
  Dorion lag, den vorspringenden, begehrlichen Mund halb offen; zwischen ihren ebenmäßigen Zähnen kam frisch und leicht der Atem heraus. Von unten, leise, stieg der gleichförmige, kehlige Singsang der ägyptischen Diener. Jetzt sangen sie: Wenn ich meine Geliebte küsse und ihre Lippen sind offen, dann wird mein Herz fröhlich auch ohne Wein. Manchmal, mechanisch, summte Dorion mit. Was alles hat sie diesem Mann geopfert, einem Juden, und großen Dank, Götter, es ist sehr gut. Sie hat sich kaufen lassen nach dem höchst lächerlichen und höchst verächtlichen jüdischen Recht, und großen Dank, Götter, es ist sehr gut. Sie hat ihren Vater verleugnet, den ersten Künstler der Epoche, um eines Mannes willen, der stumpf und blind ist und ein Bild nicht von einem Tisch unterscheiden kann, und großen Dank, Götter, es ist sehr gut. Sie hat dem albernen Jerusalemer Dämon zugeschworen, in dessen Allerheiligstem ein Eselskopf verehrt wird oder vielleicht, was noch schlimmer ist, gar nichts, und wenn sie von diesem Mann verlangen würde, er möge ihrem lieben, kleinen Gott Immutfru opfern, dann würde er einfach lachen, und doch, großen Dank, Götter, es ist sehr gut.
  Josef sah sie daliegen, nackt und in der Haltung eines ganz kleinen Mädchens, und ihr gelbbraunes Gesicht war schlaff von den Anstrengungen der Liebe. Sie war blaß, ihr Leib war kalt, ihre Augen waren meerfarben, und sie war sehr fremd.
  Ein strahlender Mittag kam. Sie hatten einige Stunden geschlafen, sie waren frisch, sie sahen sich an, sie gefielen einander, und sie waren sehr hungrig. Sie frühstückten stark, derbe Gerichte, die die Diener ihnen nach ihrem eigenen Geschmack bereiten mußten, einen Mehl- und Linsenbrei, eine Pastete aus verdächtigem Schabefleisch, dazu tranken sie Bier. Sie waren vergnügt, einverstanden mit sich und ihrem Schicksal.
  Am Nachmittag durchstöberten sie das ganze Haus. Unter den Sachen des Josef fand Dorion ein paar merkwürdige Würfel mit hebräischen Buchstaben. Josef wurde nachdenklich, als sie ihm die Würfel zeigte. Er sagte, das sei ein glückbringendes Amulett, aber jetzt, da er sie habe, brauche er dieses Amulett nicht. Im stillen beschloß er, nie mehr mit falschen Würfeln zu spielen. Noch um Dorion hatte er im Grund mit falschen Würfeln gespielt, denn hatte er sie nicht glauben lassen, er habe ihrethalben die Geißelung auf sich genommen? Lachend, vor ihren Augen, warf er die Würfel ins Meer. Vespasian hatte seinen Sohn sehr scharf beobachtet, auch die Dame Cänis hielt ihn gut im Auge. Viele Zungen und Hände arbeiteten daran, den Jungen an Stelle des Alten zu schieben. Der Junge hatte Mut und Besonnenheit, seine Truppen hingen an ihm. Auch zerrte an ihm unablässig diese hysterische, jüdische Prinzessin, deren Fanatismus sich von dem jungen, tollverliebten Prinzen viel mehr für Judäa versprach als von dem kalten Vespasian. Der Kaiser sah das alles sehr gut. Er fand es richtig, die Dinge beim Namen zu nennen. Oft zog er seinen Jungen auf, berechnete, wie lange der wohl noch werde warten müssen. Oft auch kam es zu scharfen Auseinandersetzungen. Titus, darauf hinweisend, welch weite Vollmachten sein Bruder, das Früchtchen Domitian, in Rom habe, bestand darauf, seinesteils hier im Osten mehr Befugnisse zu bekommen. Es war ein frischer, barscher Ton zwischen den beiden. Knarrig, witzig, väterlich warnte Vespasian den Sohn vor der Jüdin. Antonius, als er bei der Ägypterin verhurte und verkam, habe wenigstens zuvor Rom erobert; er, Titus, habe bislang nur ein paar Bergnester in Galiläa erobert und also noch nicht den Anspruch, sich bei östlichen Damen zu verliegen. Titus schlug zurück. Erklärte, die Neigung zu östlichen Damen sei ihm nicht plötzlich angeflogen, sie stecke im Blut. Er erinnerte den Vater an Mara. Vespasian freute sich schallend. Richtig, Mara hatte das Luder geheißen. Jetzt hatte er ja den Namen. Er hatte ihn vollkommen vergessen, und sein Jude Josef, der Hund, als unlängst die Rede darauf kam, habe ihn vergeblich zappeln lassen.
  Im übrigen verließ er sich auf des Sohnes Klugheit. Der wird nicht so dumm sein, jetzt mit zweifelhafter Chance nach der Macht zu langen, die ihm in einigen Jahren mit Bestimmtheit als reife Frucht zufallen muß. Er liebte seinen Sohn, er wollte die Dynastie sichern, er beschloß, seinem Sohne Ruhm zu schaffen. Er selber hat das Schwierigste in Judäa bewältigt. Er wird Titus den glänzenderen Rest der Aufgabe übertragen.
  Wieder aber ließ er seine Umgebung peinvoll warten, ehe er mit seinem Entschluß herauskam. Der alexandrinische Winter zog sich hin. Mit dem Ende des Winters mußte man die Operationen in Judäa neu aufnehmen, wenn man dort nicht bedenk liche Rückschläge riskieren wollte. Wird der Kaiser selber den Feldzug beenden, oder wen wird er beauftragen? Warum zögerte er?
  Um diese Zeit wurde Josef vor den Kaiser gerufen. Vespasian hänselte ihn zunächst auf seine gewohnte Art. »Ihre Ehe ist offenbar glücklich, mein Jude«, sagte er. »Sie sehen stark abgerackert aus, und mir scheint, Ihre Magerkeit rührt nicht grade von innerer Schau und Ekstase her.« Er behielt den hänselnden Ton bei, aber Josef spürte die ernsthafte Erwartung durch. »Sie müssen trotzdem«, fuhr er fort, »wieder einmal Ihre innere Stimme bemühen. Vorausgesetzt, daß es noch Ihr Plan ist, die judäischen Dinge zu beschreiben. Diese Dinge werden nämlich in den nächsten Monaten bereinigt werden. Ich werde aber die endgültige Erledigung eures Aufruhrs meinem Sohne Titus überlassen. Es steht bei Ihnen, ob Sie in einiger Zeit mit mir nach Rom oder jetzt mit Titus vor Jerusalem gehen wollen.«
  Dem Josef hob sich die Brust. Die Entscheidung, auf die man mit so quälender Spannung wartete, der Alte teilte sie ihm als erstem mit. Gleichzeitig aber spürte er scharf und peinvoll, wie hart die Entscheidung war, vor die der Kaiser ihn stellte. Soll er nach Judäa gehen, das mit ansehen, was er am Grabmal des Jeremias vorgeschmeckt hat? Soll er in seine Augen aufnehmen die Bitterkeit des Untergangs seiner Stadt? Der Mann vor ihm hat seine Augen wieder so verflucht hart und eng gemacht. Er weiß, daß es eine bittere Entscheidung ist, er prüft ihn, er wartet.
  Es ist eine innere Fessel, die ihn an diesen Römer bindet, seitdem er ihn zum erstenmal sah. Wenn er nach Rom geht, dann wird diese Fessel fester werden, der Mann wird auf ihn hören, und er wird steigen und viel erreichen. Es ist eine Fessel, die ihn an die Ägypterin bindet. Glatt und braun ist ihre Haut, ihre Hände sind dünn und braun, seine Haut begehrt nach ihnen. Er ist eifersüchtig, wenn sie mit ihren dünnen braunen Händen die Katze Immutfru streichelt. Eines Tages wird er sich nicht bezähmen können und wird ihren Gott Immutfru umbringen, nicht aus Haß gegen die Abgötterei, sondern aus Eifersucht. Er muß fort von der Ägypterin. Er kommt herunter, wenn er noch länger bei ihr liegt. Schon ist sein inneres Auge fast blind, und die Haut seines Herzens ist stumpf und kann nichts mehr tasten vom Geist. Er muß fort von diesem Mann, denn wenn er weiter mit ihm zusammen ist, dann wird er mehr und mehr nach Macht begehren. Und Macht verdummt, und die innere Stimme schweigt.
  Süß ist die Macht. Die Füße heben sich wie von selbst, wenn man Macht hat. Die Erde wird einem leicht, und der Atem geht einem tief und gut aus der Brust. Glatt und braun ist die Haut Dorions. Ihre Glieder sind lang und locker und doch wie eines kleinen Mädchens, und die Sünde mit ihr ist leicht und wohlschmeckend. Wenn er nach Rom geht, werden seine Tage gut sein, denn er wird den Kaiser haben, und seine Nächte gut, denn er wird Dorion haben. Aber wenn er nach Rom geht, dann wird er nichts sehen vom Untergang der Stadt, und sein Land und das Haus Gottes wird untergehen, ungeschrieben, es wird für immer versinken, und keiner von den Späteren wird seinen Untergang sehen.
  Er ist plötzlich ganz ausgefüllt von einer Ungeheuern Begier nach Judäa. Er hat eine irrsinnige Sehnsucht, dabeizusein, seine Augen und sein Herz ganz damit auszufüllen, wie die weiß und goldene Pracht des Tempels dem Erdboden gleichgemacht wird, wie die Priester geschleift werden an ihren Haaren, und die blaue Heiligkeit ihrer herrlichen Gewänder wird ihnen abgerissen, und die goldene Traube über dem Tor in das Innere zerschmilzt und tröpfelt in einen Sumpf von Blut und Glitsch und Kot. Und sein ganzes Volk zusammen mit seinem Tempel sackt hin in Rauch und wüster Metzelei, ein Brandopfer für den Herrn.
  In seine gehetzten Gesichte hinein hört er die knarrende Stimme des Kaisers. »Ich warte auf Ihre Entscheidung, Flavius Josephus.«
  Josef führt die Hand an die Stirn, verneigt sich tief, auf jüdische Art. Erwidert: »Wenn der Kaiser es erlaubt, will ich mit eigenen Augen die Vollendung der Aktion ansehen, die der Kaiser begonnen hat.«
  Der Kaiser lächelt dünn, resigniert und böse; er sieht mit einemmal sehr alt aus. Er hängt an seinem Juden, er hat dem Juden manches Gute getan. Jetzt hat sich der Jude für seinen Sohn entschieden. Je nun, sein Sohn Titus ist jung, und er hat noch zehn Jahre zu leben, oder vielleicht auch nur fünf, und wenn es hoch kommt, fünfzehn.

Dorion lebte still für sich in der kleinen Villa in Canopus, die Titus ihnen überlassen hatte. Es war ein herrlicher Winter, sie genoß mit Haut und Herz die Frische der Luft. Der Gott Immutfru vertrug sich mit ihrem Sperber, und der Hauspfau stelzte majestätisch durch die kleinen Räume. Dorion war glücklich. Früher hatte sie viele Menschen um sich sehen müssen; der Ehrgeiz ihres Vaters hatte auch sie gepackt, sie hatte glänzen müssen, schwatzen, bewundert werden. Jetzt wurde ihr schon die seltene Gesellschaft des Titus zur Last, und ihr ganzer Ehrgeiz hieß Josef.
  Wie schön war er. Wie heiß und lebendig waren seine Augen, wie zart und kräftig seine Hände, wie wild und süß sein Atem, und er war der klügste der Menschen. Sie erzählte von ihm ihren Tieren. Mit ihrer dünnen Stimme, die nicht viel schöner war als die Stimme ihres Pfaus, sang sie ihnen die alten Liebeslieder vor, die sie von ihrer Bonne gelernt hatte. »O streichle meine Schenkel, mein Geliebter! Die Liebe zu dir füllt jeden Zoll meines Leibes an, wie Salböl sich mit der Haut vermengt.« Sie bat Josef immer von neuem, ihr die Strophen des Hohenlieds herzusagen, und wenn sie sie auswendig kannte, dann mußte er ihr die hebräischen Urworte sagen, und sie plapperte sie nach, glücklich, mit ungelenker Zunge. Die Tage, so kurz sie waren, waren ihr zu lang, und die Nächte, so lang sie waren, waren ihr zu kurz.
  Es wird schwer sein, überlegte Josef, es ihr beizubringen, daß ich nach Hause gehe und sie hier zurücklasse. Es wird ein sehr böser Schnitt sein auch für mich, aber ich will diesen Schnitt gleich machen und nicht zögern.
  Als er es ihr sagte, begriff sie zuerst nicht. Als sie begriff, erblaßte sie, ganz langsam, wie das ihre Art war, erst um den Mund herum, und dann stieg die Blässe in die Wangen und über die Stirn. Dann fiel sie vornüber, leicht, merkwürdig langsam und lautlos.
  Als sie wieder zu sich kam, saß er bei ihr und redete behutsam auf sie ein. Sie schaute ihn an, ihre meerfarbenen Augen waren wirr und verwildert. Dann warf sie auf häßliche Art die Lippen hoch und gab ihm alle Schimpfworte, die sie kannte, die wüstesten, ägyptische, griechische, lateinische, aramäische. Sohn eines stinkenden Leibeigenen war er und einer aussätzigen Hure. Aus allem Aas der Welt war er gemacht, die acht Winde hatten den Auswurf der Erde zusammengeweht, damit er daraus wachse. Josef sah sie an. Sie war häßlich, wie sie so dahockte, verwüstet, und mit ihrer scheppernden Stimme gegen ihn loskeifte. Aber er verstand das gut, er war voll Mitleid mit sich und mit ihr, und er liebte sie sehr. Dann plötzlich schlug sie um, sie liebkoste ihn, ihr Gesicht war locker, weich und hilflos. Leise gab sie ihm alle kleinen Worte der Lust zurück, die er ihr gegeben hatte, bittend, schmeichelnd, voll Hingabe und Verzweiflung.
  Josef sagte nichts. Mit sehr leichter Hand streichelte er sie, die schlaff an ihm lag. Dann, vorsichtig, von weit her, suchte er sich ihr klarzumachen. Nein, er wollte sie nicht verlieren. Es war hart, was er von ihr verlangte, daß sie, eine so Lebendige, dasitze und warte, aber er liebte sie und wollte sie nicht verlieren und verlangte es von ihr. Nein, er war nicht feig und wankelmütig, und auch nicht hölzern fühllos, wie sie ihn geschimpft hatte. Sehr wohl war er fähig, etwas so Kostbares wie sie zu sehen, zu greifen, zu schmecken, sich ganz damit anzufüllen. Sie zu lieben. Er werde ja nicht lange fortbleiben, ein Jahr höchstens.
  »Das ist auf ewig«, unterbrach sie ihn.
  Und daß er fortgehe, sprach er weiter, ernsthaft, dringlich, ihren Einwurf wegwischend, das geschehe für sie nicht weniger als für ihn selber. In ihre Augen stieg Spannung, Hoffnung und ein leises Mißtrauen. Sie immer streichelnd, sehr behutsam, setzte er ihr seinen Plan auseinander, ihn für sie umbiegend. Er glaubt an die Macht des Wortes, seines Wortes. Sein Wort wird die Kraft haben, etwas zu erlangen, wonach auch sie von innen her strebt. Ja, sein Buch wird ihr den Platz und Rang unter den Herrschenden verschaffen, um den ihr Vater sich sein Leben lang umsonst verzehrt hat. Heftig, doch schon leicht gelockt, wehrte sie ab. Leise, fanatisch sprach er ihr ins Ohr, in den Mund, in die Brust. Das Reich wird vom Osten ausgehen, dem Osten ist die Herrschaft bestimmt. Aber der Osten hat es zu plump angefangen bisher, zu grob, zu materiell. Die Herrschaft und die Macht, das ist nicht dasselbe. Der Osten wird die Welt bestimmen, doch nicht von außen her, sondern von innen. Durch das Wort, durch den Geist. Und sein Buch wird ein wichtiger Zeichenstein auf diesem Wege werden. »Dorion, mein Mädchen, meine Süße, meine Schäferin, siehst du nicht, daß das eine zweite, tiefere Gemeinschaft zwischen uns ist? Dein Vater stirbt fast daran, daß die Römer ihn nicht anders anschauen als ein seltenes Tier, einen Königsfasan oder einen weißen Elefanten. Ich, dein Mann, werde den Goldenen Ring des Zweiten Adels haben. Du, die Ägypterin, von den Römern verachtet, ich, der Jude, von Rom mit Mißtrauen, Scheu und halber Achtung angesehen, wir zusammen werden Rom erobern.«
  Dorion hörte zu, sie hörte seine Worte mit dem Ohr und mit dem Herzen, sie sog sie in sich ein. Wie ein Kind hörte sie zu, sie hatte sich die Tränen weggewischt, sie schnupfte noch manchmal ein wenig auf, aber sie glaubte ihm, er war ja so klug, und seine Worte gingen ihr lieblich ein. Ihr Vater hatte sein Leben lang nur gemalt, das war gewiß etwas Großes, aber dieser da hatte sein Volk aufgewiegelt, er hatte Schlachten geschlagen, und dann hatte er selbst den Sieger überzeugt, daß der an ihm hing. Ihr Mann, ihr schöner, starker, kluger Mann, sein Reich geht von Jerusalem bis Rom, die Welt ist Wein für ihn, den er in seine Schale schöpft; alles, was er tut, ist richtig.
  Josef streichelt sie, küßt sie. Sie schmeckt seinen Atem, seine Hände, seine Haut, und nachdem er sich mit ihr gemischt hat, ist sie vollends überzeugt. Sie seufzt glücklich, sie klammert sich an ihn, sie zieht sich zusammen, die Beine hoch wie das Kind im Mutterleib, sie schläft ein.
  Josef liegt wach. Er hat sie leichter überzeugt, als er erwartet hat. Ihm wird es nicht so leicht. Vorsichtig löst er ihre Arme und ihren Kopf von sich. Sie knurrt ein wenig, aber sie schläft weiter.
  Er liegt wach und denkt an sein Buch. Sein Buch steht vor ihm, groß, drohend, eine Last, eine Aufgabe, und dennoch beglückend. Das Wort des Vespasian vom Homer hat ihn getroffen. Er wird nicht der Homer des Vespasian werden, auch nicht des Titus. Er wird sein Volk singen, den großen Krieg seines Volkes.
  Wenn wirklich Bitternis und Zerstörung sein wird, dann wird er der Mund dieser Bitternis und Zerstörung sein, aber schon glaubt er nicht mehr an Bitternis und Zerstörung, sondern an Freude und Bestand. Er selber wird den Frieden vermitteln zwischen Rom und Judäa, einen guten Frieden voll Ehre, Vernunft und Glück. Das Wort wird siegen. Das Wort verlangt, daß er jetzt nach Judäa geht. Er sah die schlafende Dorion. Er lächelte, strich ihr sehr zart über die Haut. Er liebte sie, aber er war weit fort von ihr.

Die Unterredung, in der Vespasian dem Titus seinen Entschluß mitteilte, ihn mit der Beendigung des Feldzugs in Judäa zu beauftragen, war barsch und herzlich. Vespasian nahm seinen Sohn um die Schulter, führte ihn auf und ab, sprach vertraulich, ein guter Familienvater, auf ihn ein. Die Vollmachten, die er ihm überließ, waren weit und erstreckten sich auf den ganzen Osten. Außerdem gab er ihm vier Legionen für Judäa mit statt der drei, mit denen er selber sich hatte begnügen müssen. Titus, voll dankbarer Freude, gab sich offenherzig. Er strebte wirklich nicht nach vorzeitiger Übernahme des Throns. Er war frei von den Machtgelüsten des Früchtchens, er hatte ein römisches Herz. Später einmal, nach einem glücklichen Alter Vespasians, das Reich gutgefügt und in Ordnung zu übernehmen, auf dieser Zuversicht ließ sich fest stehen, und er war kein Narr, sich von solchem Terrain in einen Sumpf zu begeben. Vespasian hörte ihm wohlgefällig zu, er glaubte ihm. Er schaute seinem Jungen ins Gesicht. Dieses Gesicht, sehr rotbraun im judäischen Sommer, war im alexandrinischen Winter weißer geworden, aber immer noch geeignet, der Armee und der Menge zu gefallen. Die Stirn nicht schlecht, das Kinn kurz, hart und soldatisch, nur die Wangen etwas zu weich. Und manchmal steigt in die Augen des Jungen etwas Wirres und Törichtes, was dem Vater gar nicht gefällt. Schon des Jungen Mutter, Domitilla, hat manchmal solche Augen gehabt; sie hat dann idiotische, hysterische Geschichten angestellt, und wahrscheinlich war es aus diesem Grund, daß der Ritter Capella, von dem Vespasian die Frau übernommen hat, sie seinerzeit hat loswerden wollen. Wie immer, dumm ist der Junge nicht, und mit dem Rest der judäischen Aufgabe wird er schon zurechtkommen, zumal da Vespasian ihm einen besonders klugen Generalstabschef mitgibt, den Tiber Alexander. Donner und Herakles!, alles wäre gut, wenn sich der Junge mehr an die östlichen Männer halten wollte als an die Weiber.

  Behutsam, in dieser vertraulichen Stimmung, schneidet Vespasian das alte, leidige Thema wieder an: Berenike. »Ich kann verstehen«, beginnt er das freundschaftliche Männergespräch, »daß diese jüdische Dame im Bett Reize hat, die eine griechische oder römische Frau nicht mitbringt.« Titus zieht die Brauen hoch, er sieht jetzt wirklich aus wie ein Baby, er will etwas entgegnen, diese Äußerung kratzt ihn, aber er kann seinem Vater doch nicht sagen, daß er immer noch nicht mit der Jüdin geschlafen hat; der würde einen ganzen Katarakt von Hänseleien über ihn losprasseln lassen. Titus kneift also den langen Mund zusammen und schweigt. »Ich gebe zu«, fährt der Alte fort, »diese östlichen Menschen haben von ihren Göttern gewisse Fähigkeiten mitbekommen, die wir nicht haben. Aber glaube mir, es sind keine wichtigen Fähigkeiten.« Er legte seinem Jungen die Hand auf die Schulter, redete ihm gut zu. »Siehst du, die Götter des Ostens sind alt und schwach. Der unsichtbare Gott dieser Juden zum Beispiel, obwohl er seinen Gläubigen gute Bücher eingegeben hat, kann, wie man mir zuverlässig sagt, nur auf dem Wasser kämpfen. Er hat gegen den ägyptischen Pharao nichts vermocht, als daß er die Wasser über ihn zusammenschlagen ließ, und gleich zu Anfang seines Regiments wurde er mit den Menschen nicht anders fertig, als daß er eine große Flut über sie schickte. Zu Lande ist er schwach. Unsere Götter, mein Sohn, sind jung. Sie verlangen nicht so viele Gewissensskrupel wie die östlichen; sie sind weniger fein, sie begnügen sich mit ein paar Ochsen und Schweinen und einem kräftigen Manneswort. Ich rate dir, laß dich nicht zu tief ein mit den Juden. Es tut manchmal ganz gut, zu wissen, daß es auf der Welt noch was andres gibt als die Gedanken des Forums und des Palatins. Es schadet nichts, wenn du dir manchmal von jüdischen Propheten und jüdischen Weibern ein bißchen die Haut und das Herz kraulen läßt; aber glaub mir, mein Sohn, das römische Exerzierreglement und das politische Handbuch des Kaisers August sind Dinge, mit denen du im Leben besser bestehst als mit allen Heiligen Schriften des Ostens.«
  Titus hörte sich das still mit an. Vieles, was der Alte sagte, war richtig. Aber er sah im Geist die Prinzessin Berenike die Stufen einer Terrasse hinaufschreiten, und vor ihrem Schritt verging alle römische Staatsweisheit in den Wind. Wenn sie sagte: Lassen Sie mir Zeit, mein Titus, bis wir in Judäa sein werden und bis ich judäischen Boden unter meinen Füßen spüre. Dann erst kann ich mir klarwerden, was ich tun darf und was nicht – wenn sie mit ihrer dunklen, beunruhigenden, leicht heisern Stimme dies sagte, dann kam kein römischer Sieger- und Kaiserwille dagegen an. Man mochte Herrschaft über die Welt haben und die Macht, die Legionen von einem Ende der Erde zum andern zu werfen: das Königtum dieser Frau war von vielen Müttern her legitimer, königlicher als eine solche feste, nüchterne Herrschaft. Sein Vater war ein alter Mann. Was im Grund aus den Worten dieses alten Mannes sprach, war Furcht. Die Furcht, ein Römer werde den inneren Anfechtungen des Ostens nicht gewachsen sein, seiner feineren Logik, seiner tieferen Moral. Aber Rom hat griechische Weisheit und griechisches Gefühl verdaut. Es war jetzt gebildet genug, auch jüdisches Gefühl und jüdische Weisheit ohne Gefahr schlucken zu können. Er jedenfalls, Titus, fühlte sich stark genug, beides zu vereinigen: östliche Dunkelheit und Tiefe und römisch grade, klare Herrenart.


Die Nachricht, Titus werde den judäischen Feldzug beendigen und der Kaiser in absehbarer Zeit nach Rom zurückkehren, erregte die Stadt Alexandrien. Die Weißbeschuhten atmeten auf. Sie freuten sich, den Kaiser loszuwerden und ihren stren gen Gouverneur Tiber Alexander dazu, und es war ihnen eine Genugtuung, daß nun endlich gegen das freche Judäa mit vier Legionen durchgegriffen werden wird. Das alte Hetzwort vom Juden Apella lebte wieder auf. Wo immer Juden sich zeigten, schallte es ihnen nach: Apella, Apella. Dann aber wurde es verdrängt von einem andern Hetzwort, einem kürzeren, schärferen, das sich rasch über die Stadt, über den Osten, über die Welt verbreitete. Der Weißbeschuhte Chäreas hatte es erfunden, jener junge Herr, den Josef einstmals mit seinem Schreibzeug niedergeschlagen hatte. Es waren die Initialen des Satzes: Hierosolyma est perdita, Jerusalem ist verloren. Hep, Hep, erklang es nun, wo Juden sich sehen ließen. Hep, Hep, schrien insbesondere die Kinder, und man verband das Wort mit dem andern, und durch die ganze Stadt johlte, schrillte es: Hep Apella, Hep Apella, Apella Hep.

  Josef ließ sich das Geschrei nicht anfechten. Er, Berenike, Agrippa, der als Jude geborene Marschall Tiber Alexander waren die Hoffnung der Juden, und wieder, wo immer er erschien, begrüßte man ihn mit den Worten: Marin, Marin. Er strahlte Zuversicht. Er kannte den Titus. Es war unmöglich, daß der Marschall Tiber Alexander, von dessen Vater die schönsten Weihgeschenke des Tempels stammten, es zuließ, daß dieser Tempel zugrunde gehe. Es wird ein harter, kurzer Feldzug sein. Dann wird Jerusalem sich ergeben, das Land wird, gesäubert von den »Rächern Israels«, neu aufblühen. Er sieht sich selber schon als einen der ersten Männer, sei es der römischen Provinzialverwaltung, sei es der Jerusalemer Regierung.
  Die Aufgabe freilich, die unmittelbar vor ihm liegt, ist schwer. Er will ein ehrlicher Mittler sein zwischen den Juden und den Römern. Beide Parteien werden ihm mißtrauen. Wenn die Römer eine Schlappe erleiden, wird man sie ihm in die Schuhe schieben; wenn es den Juden schlecht geht, wird er daran schuld sein. Aber wie immer, er wird ohne Bitterkeit bleiben und Augen und Herz ohne Bitterkeit offenhalten. »O Jahve, gib mir mehr Herz, die Vielfalt deiner Welt zu begreifen. O Jahve, gib mir mehr Stimme, die Größe deiner Welt zu bekennen.« Er wird sehen, wird spüren, und dieser Krieg, sein


Unsinn, sein Schrecken und seine Größe wird durch ihn von den Späteren weitergelebt werden.


Der ägyptische Winter war zu Ende, die Nilschwelle vorbei. Die Regengüsse, die das sumpfige Land gegen Pelusium schwer passierbar machten, hatten aufgehört, man konnte die Armee von Nikopolis aus nilaufwärts transportieren und sie dann auf der alten Wüstenstraße nach Judäa marschieren lassen.
  Die Führer der alexandrinischen Juden gingen stolz her, in gemessener Haltung wie stets, mit ruhigen Gesichtern; aber innerlich waren sie voll Unrast. Sie waren selber mitbeteiligt an der Mobilisierung, sie machten gute Geschäfte an der Ausrüstung und der Verproviantierung der Armee. Auch waren sie voll Ingrimm gegen die Aufrührer in Judäa und billigten aus tiefstem Herzen, daß jetzt Rom den Fuß hob, um diese Aufrührer vollends zu zertreten. Aber wie leicht konnte der Tritt nicht nur die Aufrührer treffen, sondern auch die Stadt oder gar den Tempel. Jerusalem war die festeste Feste der Welt, die Aufrührer waren verblendet bis zur Selbstzerfleischung, und wenn eine Stadt mit Gewalt genommen werden muß, wo hört da die Gewalt auf, und wer kann der Gewalt gebieten aufzuhören?
  Rom verhielt sich den alexandrinischen Juden gegenüber korrekt und wohlwollend. Gegen die Rebellen der Provinz Judäa wurde der Krieg geführt, nicht gegen die Juden im Reich. Wenn aber die Regierung diesen Unterschied machte, die Massen machten ihn nicht. Die Stadt Alexandrien mußte einen großen Teil ihrer Garnison für den Feldzug abgeben. Die Juden ließen es sich nicht merken, aber sie waren voll Sorge vor einem Pogrom, ähnlich dem vier Jahre zuvor.
  Sie bestrebten sich um so mehr, dem Kaiser und seinem Sohn ihre Loyalität zu zeigen. Obwohl viele aus der Gemeinde finster schauten, gab der Großmeister Theodor Bar Daniel dem Prinzen Titus ein Bankett zum Abschied. Der Kaiser war da, Agrippa, Berenike, der Stabschef des Titus, Tiber Alexander. Auch Josef und Dorion waren eingeladen. Sie sahen ernst aus, von leuchtender Blässe, sehr gesammelt, und alle sahen auf sie.
  Da lagen also diese hundert Menschen, Juden und Römer, beim Mahl, und sie feierten, daß nun morgen die Armee aufbrechen würde, verstärkt, vier Legionen stark jetzt, die Fünfte, die Zehnte, die Zwölfte, die Fünfzehnte, von Syrien her, von Ägypten her, um die freche jüdische Hauptstadt einzuschließen und für immer zu demütigen. »Deine Bestimmung, Römer, ist es, die Welt zu regieren, Unterwürfige schonend und niederkämpfend die Frechen.« So hatte der Dichter gesungen, als der Begründer der Monarchie das Reich fügte, und sein Wort wahr zu machen, waren sie nun entschlossen, Römer und Juden, es wahr zu machen durch Schwert und Schrift.
  Das Festmahl dauerte nicht lange. Auf eine kurze Rede des Großmeisters erwiderte Titus. Er war in der Galauniform des Feldherrn, er sah gar nicht jungenhaft aus, seine Augen waren hart, kalt und klar, und alle sahen, wie ähnlich er seinem Vater war. Er sprach vom römischen Soldaten, von seiner Zucht, seiner Milde, seiner Härte, seiner Tradition. »Andere haben tiefer gedacht«, sagte er, »andere haben schöner gefühlt: uns haben die Götter gegeben, im rechten Augenblick das Rechte zu tun. Der Grieche hat seine Statue, der Jude hat sein Buch, wir haben unser Lager. Es ist fest und beweglich, es ersteht jeden Tag von neuem, eine kleine Stadt. Es ist der Schutz des Unterwürfigen, der dem Gesetz sich fügt, und der Schrekken des Frechen, der dem Gesetz trotzt. Ich verspreche Ihnen, mein Vater, ich verspreche Rom und der Welt, daß Rom in meinem Lager sein wird, das alte Rom, hart, wo es sein muß, und mild, wo es sein darf. Es wird kein leichter Krieg sein, aber es wird ein guter Krieg sein, geführt auf römische Art.« Es waren nicht nur Worte, die der junge General sprach, es war Sinn und Wesen seines Geschlechts, es war die Mannhaftigkeit selber, die da sprach, die Mannestugend, die die Bewohner jener kleinen Siedlung auf den Tiberhöhen zu den Herren Latiums, Italiens, des Erdkreises gemacht hatte.
  Der Kaiser hörte vergnügt und beipflichtend seinem Sohne zu; leise, mechanisch strich er sein gichtisches Bein. Nein, die Jüdin wird diesen seinen Jungen nicht herumkriegen. Und er sah mit einem kleinen, innern Schmunzeln auf Berenike. Sie hörte zu, das dunkle, kühne Gesicht in die Hand geschmiegt, reglos. Sie war voll Trauer. Dieser Mensch hat sie jetzt völlig vergessen, hat sie ausgetilgt aus der letzten Falte seines Herzens. Er ist nichts als Soldat, er hat gelernt zu stechen, zu schießen, zu töten, niederzutreten. Es wird schwer sein, seine Hand aufzuhalten, wenn er sie einmal gehoben hat.
  Es war sehr still in dem leuchtenden Saal, während der Prinz sprach. Der Maler Fabull war da. Das Gemälde der Prinzessin Berenike war fertig. Aber der Prinz wollte es nicht mitnehmen, und dies war eine große Bestätigung des Malers; denn das Bild, hatte der Prinz gesagt, ist so lebendig, daß es ihn immer beunruhigen wird, wenn es in seiner Nähe ist, und er hat jetzt einen Feldzug zu führen und kann solche Unruhe nicht brauchen. Der Maler Fabull war älter geworden, sein Kopf war noch strenger, aber sein Körper war weniger massig. Er starrte vor sich hin, blicklos, wie das seine Art war, aber diese Blicklosigkeit war Täuschung. Der Mann, der in diesen Wochen alt geworden war, sah sehr gut. Er sah die hundert Gesichter, die Römer, die Herren, die auszogen, um aufsässige Leibeigene zu züchtigen, und die Juden, die Gezüchtigten, die ihren Herren die Hand leckten. Der Maler Fabull war karg von Wort, ihm eignete nicht das Wort, aber er war ein Meister, er begriff ohne Wort, was hinter diesen Gesichtern vorging, mochten sie noch so zugesperrt sein. Er sah den Marschall Tiber Alexander, der kalt und elegant dasaß und der das in vollem Maß erreicht hatte, wonach er, Fabull, sein Leben lang vergeblich sich zerrieben hatte, und er sah, daß dieser harte, gescheite und mächtige Herr nicht glücklich war. Nein, keiner wohl von all diesen Juden war glücklich, nicht der König und nicht Claudius Regin und nicht der Großmeister. Glücklich und einverstanden mit sich und ihrem Schicksal waren nur die Römer. Sie waren nicht tief, Weisheit und Schönheit waren für sie kein Problem. Ihr Weg war grad und einfach. Es war eine harte Straße und sehr lang, aber sie hatten feste Beine und mutige Herzen: Sie gingen ihre Straße zu Ende. Die Juden und Ägypter und Griechen hier in der Halle taten recht daran, sie als die Herren zu feiern.
  Er sah auch das Gesicht des Menschen, zu dem seine Toch ter gelaufen war, den Lumpen, den Hund, den Wegwurf, an den sie sich weggeworfen hatte. Aber siehe, es war keines Lumpen Gesicht, es war das Gesicht eines kämpfenden Mannes, der sich lange gestemmt hat gegen die Macht, der wissend geworden ist und sich fügt, der die Macht anerkennt, aber mit tausend listigen Vorbehalten, eines Kämpfers, der erkannt, aber sich nicht ergeben hat. Der Maler Fabull versteht nichts von Literatur, er will nichts davon wissen, er haßt sie, er ist voll von Erbitterung, daß Rom die Literaten gelten läßt, nicht aber die Künstler. Allein der Maler Fabull versteht etwas von Gesichtern. Er sieht Josef zuhören, während Titus spricht, und er weiß, dieser Mensch, der Beischläfer seiner Tochter, der Lump, der Hund, wird nun hingehen und wird Titus begleiten und wird zuschauen, wie seine Stadt untergeht, und wird es beschreiben. Er sieht das alles hinter dem Gesicht des Mannes. Und kurz nachdem Titus zu Ende ist, geht er hinüber zu Josef, ein bißchen zögernd, nicht so fest und gravitätisch wie sonst. Dorion sieht ihm entgegen, ängstlich, was nun geschehen wird. Aber es geschieht nichts. Der Maler Fabull sagt zu Josef, und seine Stimme ist nicht ganz so sicher wie sonst: »Ich wünsche Ihnen Glück, Flavius Josephus, zu dem Buch über den Krieg, das Sie schreiben sollen.«
  Anderen Tages in Nikopolis steigt Josef auf das lange Schiff, das ihn nilaufwärts tragen wird. Der Kai ist voll von Soldaten, Kisten, Koffern, Gepäck. Nur wenig Zivilisten sind zugelassen, denn der Abschied hatte auf Anordnung der Heeresleitung bereits in Alexandrien stattgefunden. Nur einer hat sich’s nicht nehmen lassen, den Josef bis Nikopolis zu begleiten: Claudius Regin. »Machen Sie Ihr Herz und Ihre Augen weit auf, junger Herr«, sagt er, als Josef aufs Schiff steigt, »damit Ihr Buch auch etwas wird. Hundertfünfzigtausend Sesterzien sind ein unerhörter Vorschuß.«
  Titus, unmittelbar bevor er das Schiff bestieg, gab Weisung, die feuertelegrafischen Posten, die Rom den Fall Jerusalems melden sollten und die Vespasian zurückgezogen hatte, von neuem zu beziehen.


FÜNFTES BUCH


Jerusalem





      om 1. Nissan an zeigten sich auf den Straßen Judäas die Pilger, die nach Jerusalem hinaufzogen, um das Oster
      lamm am Altar Jahves zu schlachten und das Abendmahl in der heiligen Stadt zu halten. Bürgerkrieg war, die Straßen waren voll von Räubern und Soldaten, aber die Unbegreiflichen ließen sich ihre Passah-Wallfahrt nicht nehmen. Sie kamen, alle Männlichen über dreizehn Jahre, einzeln und in großen Zügen. Die meisten kamen zu Fuß, beschuht, mit Wanderstab, den Wasserschlauch und den hörnernen Behälter für die Wegzehrung um die Schulter. Manche kamen auf Eseln, auf Pferden, auf Kamelen, reiche Leute zu Wagen oder in Sänften. Ganz Reiche brachten Frau und Kinder mit.
  Sie kamen von Babylon her auf der großen, breiten Königstraße. Sie kamen auf den vielen schlechten Feldwegen vom Süden her. Sie kamen auf den drei guten Heerstraßen der Römer. Knirschend passierten sie die Säulen des Gottes Merkur, die längs dieser Straßen errichtet waren, knirschend zahlten sie die hohen Weg- und Brückenzölle. Aber sogleich wieder hellten sie sich auf und zogen fröhlichen Gesichts weiter, wie das Gesetz es vorschrieb. Des Abends wuschen sie sich die Füße, salbten sich, sprachen den Segensspruch, freuten sich auf den Anblick des Tempels und der heiligen Stadt, auf den Genuß des Osterlammes, des fehllosen, männlichen, einjährigen.
  Hinter den Wallfahrern her aber kamen die Römer. Vier ganze kriegsstarke Legionen, dazu die Kontingente der Vasallen, insgesamt an hunderttausend Mann. Am 23. April, dem
10. Nissan jüdischer Rechnung, brachen sie von Cäsarea auf, am 25. schlugen sie ihr Lager in Gabathsaul, dem nächsten größeren Ort vor Jerusalem.
  Die Soldaten, in Reihen zu sechs Mann marschierend, nahmen die ganze Breite der Straße ein und drängten die Wallfahrer auf die Feldwege. Im übrigen behelligten sie die Pilger nicht. Nur wer die aufrührerische Binde mit dem Wort Makkabi trug, den packten sie. Die Wallfahrer überfröstelte es, als sie den Riesenwurm der Legionen gegen die Stadt vorkriechen sahen. Vielleicht auch zögerte der eine oder andere einen Augenblick, aber sie machten nicht kehrt, sie beschleu nigten, die Unbegreiflichen, ihren Schritt. Abgewandten Blikkes, scheu drängten sie vorwärts, zuletzt war es schon mehr eine Flucht. Und als am 14. Nissan, dem Tag vor dem Fest, dem Tag des Abendmahls, die letzten Wallfahrer die Stadt erreichten, da schlossen sich die Tore; denn hinter ihnen auf den Höhen erschienen bereits die Vorhuten der Römer.
  Von jeher hatte es als eines der zehn Wunder gegolten, durch die Jahve sein Volk Israel auszeichnete, daß den Wallfahrern zum Passah der Raum Jerusalem nicht zu eng wurde. In diesem Jahr, eingezwängt in ihre Mauern, abgeschnürt von den Dörfern ringsum, die sonst Obdach bieten konnten, barst die Stadt von Menschen. Allein den Wallfahrern machte die Enge nichts aus. Sie füllten die riesigen Hallen und Höfe des Tempels, bewunderten die Herrlichkeit Jerusalems. Sie brachten Geld mit, sie drängten sich in den Basaren. Freundschaftlich rieben sie sich aneinander, machten gefällig einer dem andern Platz, feilschten gut gelaunt mit den Händlern, überbrachten ihren Bekannten Geschenke. In diesem Monat Nissan hat Jahve die Juden errettet aus der Hand der Ägypter. Sie schauten auf die anrückenden Römer mit Staunen und Neugier, doch ohne Angst. Sie spürten den heiligen Boden unter ihren Füßen. Sie waren geborgen, sie waren glücklich.

Titus und die Herren seiner Suite hielten auf der Höhe des Hügels Schönblick. Zu ihren Füßen, besonnt, von tiefen Schluchten durchfurcht, lag die Stadt.
  Der Prinz, nun er sein berühmtes, aufsässiges Jerusalem zum erstenmal erblickte, schmeckte die Schönheit der Stadt ganz aus. Da schaute sie zu ihm herauf, weiß, frech auf ihren kühnen Hügeln. Weit und leer liegt die weite Landschaft hinter ihr, die vielen kahlen Gipfel, die Zedern- und Pinienhänge, die Täler mit ihren Ackern, Oliventerrassen, Weinbergen, das fern glitzernde Tote Meer; die Stadt davor aber birst von Menschen, knapp läßt sie Raum für ihre tiefen Straßenschluchten, füllt jeden Fuß Boden mit Behausung. Und wie die stille Landschaft in die wimmelnde Stadt, so mündet die wimmelnde Stadt wiederum in das Weiß und Goldene dort drüben, in das Geviert des Tempels, das, so mächtig es ist, unendlich zart und rein in der Luft schwimmt. Ja, die höchsten Punkte Jerusalems, das Fort Antonia und das Dach des Tempelhauses, liegen viel tiefer als der Grund, auf dem Titus jetzt steht, und dennoch ist es, als seien er und sein Pferd an den Boden festgeklebt, während Stadt und Tempel leicht und unerreichbar in der Luft schweben.
  Der Prinz sieht die Schönheit der Stadt. Gleichzeitig, mit dem Auge des Soldaten, sieht er ihre Unzugänglichkeit. Auf drei Seiten Schluchten. Eine riesige Mauer um das. Ganze. Und wenn die genommen ist, hat die Vorstadt ihre zweite Mauer, die Oberstadt ihre dritte, und der Tempel auf seinem hohen, steilen Hügel, die Oberstadt auf dem ihren sind wiederum zwei Festungen für sich. Nur vom Norden her, da, wo er jetzt steht, senkt sich das Gelände ohne tiefen Einschnitt hinunter in Stadt und Tempel. Aber da liegen Mauern und Forts am festesten. Unbezwinglich, frech, schaut das herauf zu ihm. Eine immer unbändigere Lust füllt ihn, diese breiten, trotzigen Paläste niederzureißen, sich durch die dicken Mauern mit Eisen und Feuer einen Weg zu bahnen hinein in den Leib der spröden Stadt.
  Der Prinz macht einen kleinen, unbehaglichen Ruck mit dem Kopf. Er spürt den Blick Tiber Alexanders auf sich. Titus weiß, daß der Marschall der erste Soldat der Epoche ist, die beste Stütze des flavischen Hauses. Er bewundert den Mann; sein kühnes Antlitz, sein federnder Gang erinnern ihn an Berenike. Aber er fühlt sich schülerhaft in seiner Gegenwart, die verbindliche Überlegenheit des Marschalls drückt ihn.
  Tiber Alexander sitzt trotz seiner Jahre in guter Haltung auf seinem arabischen Rappen. Das lange Gesicht mit der scharfen Nase ohne Regung, schaut er hinunter auf die Stadt. Wie verwinkelt das alles ist. Es ist ein Wahnsinn, wie sich diese Menschen bei ihren Wallfahrtsfesten in die Stadt pressen, eng aneinander wie gesalzene Fische. Er war lange Jahre Gouverneur in Jerusalem, er weiß Bescheid. Wie soll man die vielen Hunderttausende auf die Dauer verproviantieren? Glauben die Führer, diese Herren Simon Bar Giora und Johann von Gischala, ihn bald loszuwerden? Wollen sie mit ihren vierundzwanzigtausend Mann seine hunderttausend wegtreiben? Er denkt an seine Artillerie, an die Rammböcke der Zehnten Legion, an den »Harten Julius« vor allem, diese großartige, moderne Stoßmaschine. Der alte, erfahrene Soldat schaut mit fast mitleidigem Blick auf die Stadt.
  Sie schlagen sich noch immer herum, die Unbelehrbaren, innerhalb ihrer Mauern. Sie hassen einander mehr als die Römer. Sie haben in ihrem sinnlosen Bürgerkrieg ihre ungeheuern Getreidevorräte niedergebrannt, Johann hat gegen den Simon selbst in den Säulenhallen des Tempels Artillerie aufgestellt. Still, ein wenig müde, grüßend und vertraut gleitet der Blick des Marschalls das Geviert des Tempels entlang. Sein eigener Vater hat die Metallbeschläge der neun Innentore gestiftet, Gold, Silber, korinthisches Erz, ihr Wert betrug die Steuereingänge einer ganzen Provinz. Trotzdem hat eben dieser Vater, Großmeister der Juden von Alexandrien, es zugelassen, daß er, Tiber Alexander, noch als Knabe aus dem Judentum ausschied. Er ist seinem weisen Vater dankbar dafür. Es ist verbrecherische Torheit, sich aus dem ausgeglichenen, sinnvollen Bereich griechischer Kultur auszuschließen.
  Mit einem ganz kleinen, höhnischen Lächeln sieht er hinüber zu des Prinzen Sekretär und Dolmetsch, der benommenen Gesichts auf die Stadt hinunterschaut. Dieser Josephus will beides zugleich, Judentum und Griechentum. Das gibt es nicht, mein Lieber. Jerusalem und Rom, Jesaja und Epikur, das können Sie nicht haben. Wollen Sie sich gefälligst für das eine entscheiden oder für das andere.
  Der König Agrippa neben ihm hält das gewohnte höfliche Lächeln fest auf dem schönen, ein bißchen zu fetten Gesicht. Er wäre lieber als Wallfahrer hier denn an der Spitze von fünftausend Reitern. Er hat die Stadt vier Jahre nicht gesehen, seitdem ihn dieses törichte Volk nach seiner großen Friedensrede hinausjagte. Er schaut jetzt, der leidenschaftliche Bauherr, mit großer Liebe und tiefem Bedauern auf Jerusalem nieder, wie es weiß und geschäftig seine Hügel hinankriecht. Er selber hat hier viel gebaut. Als die achtzehntausend Tempelarbeiter durch die Fertigstellung des Baues brotlos wurden, hat er durch sie die ganze Stadt neu pflastern lassen. Jetzt haben die Makkabi-Leute einen Teil dieser Bauarbeiter zu Soldaten gepreßt. Einen von ihnen, einen gewissen Phanias, haben sie zum Hohn für die Aristokraten gar zum Erzpriester gemacht. Und wie sie seine Häuser zugerichtet haben, den Herodespalast, das alte Makkabäer-Palais. Es ist schwer, Herz und Antlitz bei solchem Anblick ruhig zu halten.
  Ringsum arbeiten die Soldaten. In das Schweigen der Herren, die reglos im leichten Wind auf der Höhe halten, klingen ihre Spaten und Äxte. Sie schlagen ihre Lager, sie ebnen das Terrain für die Zwecke der Belagerung ein, füllen auf, tragen ab. Die Umgebung Jerusalems ist ein einziger großer Garten. Sie schlagen die Ölbäume, die Obstbäume, die Weinreben. Sie reißen die Villen auf dem Ölberg nieder, die Magazine der Brüder Chanan. Sie machen das Land dem Erdboden gleich. Solo adaequare, dem Erdboden gleichmachen, das ist der technische Ausdruck. Das muß man zu Beginn einer Belagerung, es ist eine Elementarregel, jedem Lehrling der Kriegskunst wird sie als erstes eingetrichtert. Der jüdische König sitzt auf seinem Pferd, in guter und lässiger Haltung, sein Gesicht blickt ein wenig müde, still wie immer. Er ist jetzt zweiundvierzig Jahre alt. Er hat stets ja zur Welt gesagt, obgleich sie voll von Dummheit und Barbarei ist. Heute fällt es ihm schwer.
  Josef ist der einzige, der seine Miene nicht zähmen kann. So sah er einmal von Jotapat aus die Legionen ihren pressenden Ring schließen. Er weiß, Widerstand ist aussichtslos. Sein Hirn gehört denen, in deren Mitte er ist. Aber sein Herz ist bei den andern, es kostet ihn Anstrengung, das Geräusch der Äxte, Hämmer, Spaten zu ertragen, mit denen die Soldaten die strahlende Umgebung der Stadt verwüsten.
  Ein ungeheures Gedröhn brüllt aus dem Tempelbezirk auf. Die Pferde werden unruhig. »Was ist das?« fragt der Prinz. »Es ist die Magrepha, die hunderttonige Schaufelpfeife«, erklärt Josef. »Man hört sie bis Jericho.« – »Euer Gott Jahve hat eine gewaltige Stimme«, anerkennt Titus.
  Dann, endlich, unterbricht er das lange, benommene Schweigen. »Was denken Sie, meine Herren?«, und seine Stimme klingt schmetternd, fast knarrend, ein Kommando mehr als eine Frage. »Wie lange werden wir brauchen? Ich schätze, wenn es gut geht, drei Wochen, wenn es schlecht geht, zwei


Monate. Auf alle Fälle möchte ich zum Fest des Oktoberrosses in Rom zurück sein.«


Es waren bisher drei Heerführer gewesen, die als Diktatoren Jerusalems einer den andern bekämpften. Simon Bar Giora beherrschte die Oberstadt, Johann von Gischala die Unterstadt und den äußeren südlichen Tempelbezirk, der Doktor Eleasar Ben Simon das Innere dieses Bezirks, das Tempelhaus und das Fort Antonia. Als nun an diesem Vortag zum Passahfest die Pilger in Scharen zum Tempel hinaufströmten, um Jahve ihr Lamm zu schlachten, wagte Eleasar nicht, ihnen den Eintritt in die inneren Höfe zu wehren. Johann von Gischala aber mischte unter die Pilger viele seiner Soldaten, und die, im Innern des Tempelbezirks, angesichts des riesigen Brandopferaltars, warfen ihre Pilgerkleider ab, standen in Waffen da, machten die Offiziere des Eleasar nieder, nahmen ihn selbst gefangen. Johann von Gischala, auf diese Art in den Besitz des gesamten Tempelbezirks gelangt, schlug dem Simon Bar Giora vor, fortan gemeinsam den Feind vor den Mauern zu bekämpfen, lud ihn ein, mit ihm in seinem Hauptquartier, dem Palais der Fürstin Grapte, das Passahlamm zu verzehren. Simon nahm an.
  Gegen Abend also stand Johann klein, schlau und vergnügt innerhalb der geöffneten Torflügel des Hauses der Fürstin Grapte und erwartete seinen früheren Feind und neuen Kampfgenossen. Simon, an den Wachen des Johann vorbei, die ihm die Ehrenbezeigung erwiesen, stieg die Stufen des Hauses herauf. Er und seine Begleiter waren gerüstet. Einen Augenblick verdroß das den Johann, er selber war waffenlos, aber sogleich wieder bezwang er sich. Ehrerbietig, wie es die Sitte wollte, ging er drei Schritte zurück, neigte sich tief und sagte: »Ich danke Ihnen herzlich, mein Simon, daß Sie gekommen sind.«
  Sie gingen in das Innere. Das Haus der Fürstin Grapte, einer transjordanischen Prinzessin, vormals mit allem Prunk ausgestattet, war jetzt verwahrlost, eine Kaserne. Simon Bar Giora, während er an der Seite des Johann durch die kahlen Räume klirrte, musterte seinen Begleiter aus seinen engen, braunen Augen. Dieser Mann Johann hat ihm alles Üble getan, er hat ihm die Frau wegfangen lassen, um Konzessionen aus ihm herauszupressen, sie haben gegeneinander gewütet wie wilde Tiere, er haßt ihn. Trotzdem spürt er Respekt vor der Schlauheit des andern. Vielleicht wird es Jahve diesem Johann nicht verzeihen, daß er vor seinem Altar, der aus unbehauenen Steinen gefügt war, weil Eisen ihn nicht berühren durfte, aus Pilgergewändern heimliche Schwerter hat ziehen lassen; aber kühn war es, listig, tapfer. Unwirsch, doch voll Achtung, ging er neben Johann her.
  Man briet die Lämmlein unmittelbar auf dem Feuer, wie das Gesetz es befahl, das ganze Tier, die Kniestücke und die inneren Teile legte man von außen auf. Sie sprachen die Gebete, die vorgeschriebenen Erzählungen über den Auszug aus Ägypten, sie aßen mit Appetit die Lämmlein, sie aßen ungesäuertes Brot dazu nach der Vorschrift und Bitterkraut nach der Vorschrift zur Erinnerung an die Bitterkeit im Lande Ägypten. Eigentlich waren die ganzen Plagen, mit denen Jahve Ägypten geschlagen hatte, ein bißchen lächerlich, verglich man. sie mit den Plagen, die über sie selber gekommen waren, und die Armee der Römer war bestimmt furchtbarer als die der Ägypter. Aber das machte nichts. Sie saßen jetzt zusammen in einem Raum, leidlich versöhnt. Auch der Wein war gut, es war Wein von Eschkol, er wärmte ihre verwilderten Herzen. Simon Bar Giora zwar saß ernst da, aber die andern wurden vergnügt.
  Nach dem Mahle rückten sie zusammen, tranken gemeinsam die letzten der vorgeschriebenen vier Becher Weines. Dann schickten die beiden Führer die Frauen und ihre Leute weg und blieben allein.
  »Wollen Sie einen Teil Ihrer Geschütze mir und meinen Leuten überlassen?« begann nach einer Weile Simon Bar Giora das ernsthafte Gespräch, mißtrauisch, fordernd mehr als bittend. Johann schaute ihn an. Sie waren beide abgezehrt, verwahrlost, verbittert von vielen Mühen, Pein und Enttäuschung. Wie kann man so jung sein und so mürrisch? dachte Johann. Es sind noch nicht drei Jahre, da war um diesen Mann ein Strahlen wie um den Tempel selbst. »Sie können meine ganzen Geschütze haben«, sagte er, offen, beinahe zart. »Ich will nicht gegen Simon Bar Giora bestehen, ich will gegen die Römer bestehen.« – »Ich danke Ihnen«, sagte Simon, und jetzt war in seinen engen, braunen Augen etwas von der alten, wilden Zuversicht. »Dies ist ein guter Passahabend, an dem Jahve Ihren Sinn für mich geöffnet hat. Wir werden Jerusalem halten, und die Römer werden zerschmettert werden.« Er saß schlank und aufrecht vor dem breiten Johann, und man sah, daß er sehr jung war.
  Johann von Gischalas klobige Bauernhand spielte mit dem großen Weinbecher. Er war leer, und mehr als die vier Becher durfte man nicht trinken. »Wir werden Jerusalem nicht halten, mein Herr Simon, mein Bruder«, sagte er. »Nicht die Römer, sondern wir werden zerschmettert werden. Aber es ist gut, daß es Männer gibt mit einem solchen Glauben wie Sie.« Und er sah freundschaftlich auf ihn, herzlich.
  »Ich weiß«, sagte leidenschaftlich Simon, »daß Jahve uns den Sieg geben wird. Und Sie glauben es auch, Johann. Warum sonst hätten Sie diesen Krieg angefangen?« Johann schaute nachdenklich auf die Feldbinde mit den Initialen Makkabi. »Ich will nicht mit Ihnen rechten, mein Bruder Simon«, sagte er nachgiebig, »warum mein Glaube in Jerusalem nicht so fest ist wie in Galiläa.« Simon bezwang sich. »Schweigen Sie von dem Blut und Feuer«, sagte er, »das zwischen uns war. Nicht Sie waren schuld und nicht ich war schuld. Die Aristokraten und Doktoren waren schuld.« – »Nun«, stieß ihn Johann vertraulich an, »denen haben Sie es ja gegeben. Gesprungen wie syrische Seiltänzer sind sie, die Herren Doktoren in ihren langen Röcken. Der alte Erzpriester Anain, der sich im Großen Rat ein Ansehen gab wie der zürnende Gott Jahve selber, damals lag er tot und bloß und schmutzig und keine Augenweide mehr. Der wirft Sie kein zweites Mal aus der Quadernhalle hinaus.« – »Nun«, sagte Simon, und jetzt ging selbst über sein zerarbeitetes Gesicht ein kleines Lächeln, »Sie, mein Johann, waren auch der Zahmste nicht. Wie Sie die letzten aristokratischen Erzpriestersöhne erledigten, und wie Sie dann den Bauarbeiter Phanias zum Erzpriester auslosten, und wie Sie den dummen, tölpischen Burschen die Einkleidungszeremonien und den ganzen Kram zelebrieren ließen, das kann man auch nicht gerade in einer Lehrstunde für fromme Lebensart als Beispiel anführen.« Johann schmunzelte. »Sagen Sie nichts gegen meinen Erzpriester Phanias, mein Bruder Simon«, sagte er. »Er ist ein bißchen schwerfällig, zugegeben, aber er ist ein guter Mann, und er ist ein Arbeiter, kein Aristokrat. Er gehört zu uns. Und schließlich hat das Los ihn bestimmt.« – »Haben Sie bei der Auslosung nicht ein wenig nachgeholfen?« fragte Simon. »Wir stammen aus einem Land«, lachte Johann. »Dein Gerasa und mein Gischala liegen nicht weit auseinander. Komm, mein Bruder Simon, mein Landsmann, küsse mich.« Simon zögerte einen Augenblick. Dann machte er die Arme auf, und sie küßten sich.
  Dann, es ging gegen Mitternacht, machten sie einen Rundgang, um Mauern und Wachtposten zu inspizieren. Oft stolperten sie über schlafende Wallfahrer; denn die Häuser boten nicht Raum, und in allen Torwegen, auf allen Straßen lagen die Pilger, manchmal unter primitiven Zelten, oft nur gehüllt in ihre Mäntel. Die Nacht war frisch, in der Luft lag dick der Gestank von Menschen, Rauch, Holz, gebratenem Fleisch, Spuren des Bürgerkriegs waren überall, um die Mauern stand der Feind, die Straßen Jerusalems waren kein bequemes Bett. Aber die Pilger schliefen gut. Dies war die Nacht der Obhut, und wie einstmals die Ägypter, so wird Jahve jetzt die Römer mit Mann und Roß und Wagen ins Meer schmeißen. Simon und Johann bemühten sich, ihre Schritte zart zu setzen, und machten wohl auch um einen Schlafenden einen umständlichen Bogen. Sie waren fachmännisch neugierig einer auf die Verteidigungsmaßnahmen des andern. Sie fanden überall gute Zucht und Ordnung, die Anrufe der Wachtposten kamen, wie sie sollten.
  Der Morgen schritt vor. Von jenseits der Mauern klangen die Signale der Römer. Aber dann kam vom Tempel her das ungeheure Getöse, mit dem das Tor zum Heiligen Raum sich öffnete, und der gewaltige Laut der Schaufelpfeife, der Magrepha, der den Beginn des Tempeldienstes verkündete, und er überdeckte die Signale der Römer.
  Die Legionen schanzten, von den Mauern her wurden sie beschossen, sie erwiderten die Beschießung. Gleichmäßig, wenn die schweren Geschosse der Römer heransurrten, kam der aramäische Ruf der Wachen: »Geschoß kommt«, und lachend gingen die Soldaten in Deckung.
  Vom Turm Psephinus aus beschauten Simon und Johann den beginnenden Kampf. »Es wird ein guter Tag, mein Bruder Johann«, sagte Simon. »Es wird ein guter Tag, mein Bruder Simon«, sagte Johann.
  Die Geschosse der Römer kamen, weiß, surrend, von weit her sichtbar. »Geschoß kommt«, rief es, und die Soldaten lachten und warfen sich nieder. Aber dann kamen Geschosse, die waren nicht mehr sichtbar, die hatten die Römer gefärbt. Sie fegten eine Gruppe Verteidiger von den Mauern, und nun lachte niemand mehr.

Am 11. Mai begab sich der Glasbläser Alexas aus seinem Wohn- und Geschäftshaus in der Salbenmachergasse zu seinem Vater Nachum in die Neustadt. Heute nacht hatten die Römer trotz allen Widerstands ihre Rammböcke an die Mauer herangebracht, durch die ganze Neustadt schütterten die dumpfen Stöße des »Harten Julius«, ihres größten Widders. Jetzt muß es Alexas glücken, seinen Vater zu überreden, sich, seine Leute und seine beste Habe aus der gefährdeten Neustadt zu ihm in die Oberstadt zu flüchten.
  Nachum Ben Nachum hockte vor seinem Laden im Innern, unter der großen Glastraube, auf Polstern, die Beine gekreuzt. Es waren Käufer da, man feilschte um ein vergoldetes Kunstwerk aus Glas, ein Goldenes Jerusalem, einen Kopfschmuck für Frauen. Abseits, von dem Gefeilsche ungestört, brummelte der Doktor Nittai, den Körper schaukelnd, den ewigen Singsang seiner Lehrsätze. Nachum Ben Nachum drängte die Käufer mit keinem Wort. Sie gingen schließlich, unentschlossen.
  Nachum wandte sich seinem Sohne zu: »Sie werden wiederkommen, das Geschäft wird werden. In längstens einer Woche wird der gesiegelte Kaufbrief im Archiv liegen.« Nachums viereckiger Bart war gepflegt, seine Wangen frischfarbig wie stets, seine Worte zuversichtlich. Aber Alexas merkte gut die versteckte Angst. Wenn der Vater auch tat, als gehe sein Tagewerk weiter wie immer, jetzt, beim Klang der Stöße des »Harten Julius«, mußte auch er erkennen, daß die ganze Neustadt, daß sein Haus und seine Fabrik gefährdet waren. In wenigen Wochen, wahrscheinlich schon in Tagen, werden da, wo sie jetzt sitzen und ruhevoll schwatzen, die Römer sein. Der Vater muß das einsehen und zu ihm hinaufziehen. Man braucht ja nur ein paar Schritte zu gehen, dort auf die Mauer, dann sieht man die Maschinen der Römer arbeiten.
  Nachum Ben Nachum unterdes setzte behaglich sein optimistisches Geschwätz fort. Wäre es nicht Torheit und Verbrechen gewesen, wenn er, dem Drängen des Sohnes nachgebend, vor dem Passahfest aus der Stadt geflüchtet wäre? Eine Saison wie diese war noch nie da. Ist es nicht ein Segen, daß die Pilger vorläufig nicht aus der Stadt herauskönnen? Es bleibt ihnen nichts übrig, als sich den ganzen Tag in den Läden und Basaren herumzutreiben. Ein Glück ist es, daß er sich nicht vom Gerede seines Sohnes hat irremachen lassen.
  Alexas ließ den Vater reden. Dann, still und beharrlich, bohrte er weiter: »Jetzt geben sie selbst im Fort Phasael zu, daß sie die äußere Mauer nicht halten können. In den Straßen der Schmiede und der Kleiderhändler sind schon eine ganze Menge Läden geschlossen. Alle sind sie in die Oberstadt hinaufgezogen. Nimm Vernunft an, laß den Ofen löschen, zieh zu mir hinauf.«
  Der Knabe Ephraim war zu ihnen getreten. Er eiferte los gegen den Bruder. »Wir halten die Neustadt«, glühte er. »Man müßte dich im Fort Phasael anzeigen. Du bist schlimmer als der Gelbgesichtige.« Der Gelbgesichtige war ein Prophet, der auch jetzt noch die Makkabi-Leute verhöhnte und Verhandlungen und Unterwerfung anriet. Alexas lächelte sein fatales Lächeln. »Ich wollte«, sagte er, »ich hätte die Kraft und das Wort des Gelbgesichtigen.«
  Nachum Ben Nachum streichelte seinem jüngsten Sohne kopfnickend das dichte, sehr schwarze Haar. Aber gleichzeitig in seinem Herzen erwog er die Reden seines Ältesten, des Siebenklugen. Die Stöße des »Harten Julius« kamen wirklich erschreckend gleichmäßig. Auch daß viele Einwohner der Neustadt sich in die sichere Oberstadt verdrückten, war richtig. Nachum hatte es mit eigenen Augen gesehen, und daß die »Rächer Israels«, die jetzigen Herren der Stadt, es zuließen, bedeutete einiges. Denn die »Rächer Israels« waren sehr streng. Zu streng, fand der Glasbläser Nachum Ben Nachum. Aber das sagte er nicht laut. Die Makkabi-Leute hatten scharfe Ohren, und Nachum Ben Nachum hatte oft mit ansehen müssen, wie sie Bekannte von ihm, geachtete Bürger, weil sie unbesonnene Äußerungen getan hatten, gefangen ins Fort Phasael brachten oder sie gar an die Mauer führten, um sie zu exekutieren.
  Nachum wandte sich an Doktor Nittai: »Mein Sohn Alexas rät, wir sollen zu ihm in die Oberstadt hinaufziehen. Mein Sohn Ephraim erklärt, man werde die Neustadt halten. Was sollen wir tun, mein Doktor und Herr?« Der dürre Doktor Nittai richtete seine engen, wilden Augen auf ihn. »Die ganze Welt ist Netz und Falle«, sagte er, »nur im Tempel ist Sicherheit.«
  An diesem Tage entschied sich der Glasbläser Nachum nicht. Aber am nächsten Tag zog er sein altes, viereckiges Arbeitskleid an, er hatte es durch viele Jahre nicht getragen, sondern sich darauf beschränkt, mit den Käufern zu verhandeln. Jetzt also holte er das alte Arbeitskleid hervor, zog es an und hockte sich vor den Ofen. Seine Söhne und Gehilfen standen um ihn herum. Auf altmodische Art, wie sie sein Sohn Alexas für die Werkstatt längst abgeschafft hatte, nahm er mit der Schaufel dünnflüssige Masse des geschmolzenen Belus-Sandes aus dem Ofen, zwickte das zu formende Stück mittels einer Zange ab, formte mit der Hand einen schönen, runden Becher. Dann gab er Weisung, den großen, eiförmigen Ofen zu löschen, der nun so viele Jahrzehnte hindurch gebrannt hatte. Er schaute zu, wie er erlosch, und betete den Spruch, der bei Kenntnisnahme eines Todesfalles zu sprechen ist: »Gelobt seist du, Jahve, gerechter Richter.« Dann, mit seiner Frau, seinen Söhnen, Gehilfen, Leibeigenen, seinen Pferden, Eseln und seiner ganzen Habe, begab er sich in die Oberstadt zum Hause seines Sohnes Alexas. »Wer sich in Gefahr begibt«, sagte er, »kommt darin um. Wer zu lange wartet, von dem zieht Jahve seine Hand ab. Wenn du uns Platz geben willst, dann wohnen wir, bis die Römer fort sind, in deinem Haus.« Die Augen des Glasbläsers Alexas verloren ihren verhängten, bekümmerten Ausdruck. Er sah seit Jahren zum erstenmal frisch aus, seinem Vater sehr ähnlich. Ehrerbietig trat er drei Schritte zurück, führte die Hand an die Stirn, sagte, sich tief neigend: »Die Ratschlüsse meines Vaters sind meine Ratschlüsse. Mein niederes Haus ist glücklich, wenn mein Vater es betritt.«
  Drei Tage darauf nahmen die Römer die äußere Mauer. Sie plünderten die Neustadt, verwüsteten die Läden und Werkstätten der Kleidermacher, der Schmiede, der Eisenarbeiter, der Töpfer, die Fabrik des Glasbläsers Nachum. Sie machten das ganze Viertel dem Erdboden gleich, um Wälle und Maschinen gegen die zweite Mauer heranzuführen.
  Der Glasbläser Nachum Ben Nachum strich seinen dichten, viereckigen, schwarzen Bart, in dem jetzt einige graue Haare waren, wiegte seinen Kopf und sagte: »Wenn die Römer fort sind, werden wir einen größeren Ofen hauen.« War er aber allein, dann verhängten sich seine schönen Augen, der ganze Mann sah bekümmert aus, seinem Sohne Alexas sehr ähnlich. Ach und oj, dachte er. Nachums Glasfabrik war die beste in Israel seit hundert Jahren. Die Doktoren haben mir erlaubt, den Bart, den mir Jahve so lang und schön gemacht hat, kürzer zu tragen, auf daß er nicht versengt werde von der glühenden Masse, der Doktor Nittai hat gelebt von Nachums Glasfabrik. Und wo ist Nachums Glasfabrik jetzt? Vielleicht sind die Makkabi-Leute tapfer und gottesfürchtig. Aber es kann nicht der Segen Jahves sein mit einem Unternehmen, bei dem Nachums Glasfabrik zugrunde geht. Man hätte unterhandeln sollen. Mein Sohn Alexas hat es immer gesagt. Man sollte noch unterhandeln. Aber das darf man leider nicht laut sagen, sonst bringen sie einen in das Fort Phasael.
  Um diese Zeit waren die Preise der Lebensmittel in der Stadt Jerusalem bereits sehr hoch geklettert. Alexas kaufte gleichwohl, was immer er an Nahrungsmitteln erraffen konnte. Sein Vater Nachum schüttelte den Kopf. Sein Bruder, der Knabe Ephraim, drang mit wilder Rede auf ihn ein wegen seiner Schwarzseherei. Aber Alexas kaufte weiter, was immer an Lebensmitteln er auftreiben konnte. Einen Teil dieses Vorrats versteckte und vergrub er.
Am 30. Mai erstürmten die Römer die zweite Mauer. Sie mußten diesen Sieg mit großen Verlusten an Menschen und Material bezahlen; denn Simon Bar Giora hatte die Mauer mit Zähigkeit und Geschick verteidigt. Eine ganze Woche lang hatten die Römer Tag und Nacht unter Waffen stehen müssen.
  Titus gönnte den erschöpften Leuten eine Pause. Er setzte für diese Zeit die Soldzahlung an, dazu eine Parade und die feierliche Überreichung der Ehrenzeichen an die verdienten Offiziere und Mannschaften.
  Seit seinem Abmarsch von Cäsarea hatte er sich den Anblick der Berenike versagt. Nicht einmal des Malers Fabull schönes Bild von ihr hatte er in seinem Zelt aufgestellt, weil er fürchtete, schon ihre Gegenwart im Bild könnte ihn von seinen soldatischen Aufgaben abziehen. Jetzt gönnte er auch sich Ablenkung und Erholung und bat durch einen Eilkurier um ihren Besuch.
  Doch schon als er ihr entgegenritt, wußte er, daß er es falsch gemacht hatte. Nur fern von der Frau fühlte er sich klar, sicher, ein guter Soldat. Sowie sie da war, rannen ihm die Gedanken auseinander, Ihr Gesicht, ihr Geruch, ihr Schritt, die leichte Heiserkeit ihrer dunkeln Stimme brachten ihn um seinen Gleichmut.
  Am Morgen des 3. Juni dann, die Prinzessin Berenike neben sich, nahm er die Parade ab. Außerhalb der Schußweite, doch in Sehweite der Belagerten, rückten die Truppen aus, Die Legionen zogen vorbei, in Reihen zu sechs Mann, in voller Rüstung, die Schwerter entblößt. Die Reiter führten ihre geschmückten Pferde am Zügel. Die Feldzeichen glänzten in der Sonne, weithin glitzerte es silbern und golden. Auf den Mauern Jerusalems wohnten die Belagerten dem Schauspiel bei. Die ganze nördliche Mauer, die Dächer der Tempelkolonnaden und des Tempelhauses waren besetzt mit Menschen, die in der prallen Sonne hockten und die Macht, die Zahl, den Glanz ihrer Feinde beschauten.
  Nach dem Defilé verteilte Titus die Ehrenzeichen. Man war mit diesen Fähnchen, Lanzen, goldenen und silbernen Ketten sehr sparsam. Unter den hunderttausend Mann der Belagerungsarmee waren es noch keine hundert, die man damit bedachte. Einer vor allem fiel auf, ein Subalternoffizier, der Hauptmann Pedan, Zenturio des Ersten Manipels der Ersten Kohorte der Fünften Legion, ein vierschrötiger Mann von etwa fünfzig Jahren, mit einem nackten, roten Gesicht, blond, ein wenig angegraut. Beunruhigend über seiner frechen, weitnüstrigen Nase stand ein blinzelndes, blaues Auge und ein totes, künstliches. Der Hauptmann Pedan trug bereits die höchste Auszeichnung, die ein Soldat erringen konnte, den Kranz aus Gras, den nicht der Feldherr, sondern die Armee verlieh, und nur an solche Männer, deren Umsicht und Tapferkeit das ganze Heer aus der Gefahr gerettet hatte. Dem Hauptmann Pedan war der Kranz aus den Gräsern eines armenischen Hochplateaus geflochten worden, der Gegend, in der er unter dem Marschall Corbulo sein Armeekorps durch List und kaltes Blut aus der Umzingelung parthischer Übermacht herausgehauen hatte. Der Hauptmann Pedan mit seiner Frechheit, seiner Tollkühnheit, seiner gemeinen und gescheiten Zunge war der Liebling der Armee.
  Die Ehrenkette, die Titus ihm jetzt überreichte, war keine große Sache. Der Erste Zenturio der Fünften Legion sprach beiläufig die vorgeschriebene Dankformel. Dann mit seiner quäkenden, weithin vernehmbaren Stimme fügte er hinzu: »Eine Frage, Feldherr. Haben Sie auch schon Läuse? Wenn wir hier nicht bald Schluß machen, dann kriegen Sie sie bestimmt. Wenn Sie dem Hauptmann Pedan einen Gefallen tun wollen, Feldherr, dann nehmen Sie Ihre Kette zurück und erlauben ihm, daß er als erster die Brandfackel wirft in das verfluchte Loch, in dem diese Mistjuden ihren Gott verstecken.« Der Prinz spürte, wie Berenike gespannt auf seine Erwiderung wartete. Etwas gezwungen sagte er: »Was wir mit dem Tempel anfangen, steht bei meinem Vater, dem Kaiser. Im übrigen wird sich niemand mehr freuen als ich, wenn ich Ihnen eine zweite Auszeichnung verleihen kann.« Er ärgerte sich, daß ihm nur eine so kümmerliche Antwort eingefallen war.
  Auch Josef erhielt eine Auszeichnung, eine kleine Schildplatte, über dem Panzer auf der Brust zu tragen. »Nehmen Sie, Flavius Josephus«, sagte Titus, »den Dank des Feldherrn und der Armee.« Zwiespältigen Gefühls starrte Josef auf die große, silberne Plakette, die der Prinz ihm hinhielt. Sie stellte das Haupt der Meduse dar. Sicher glaubte Titus ihn zu beglücken, wenn er unter die wenigen, die er auszeichnete, ihn, den Juden, aufnahm. Aber so wenig mühte er sich, ihn zu verstehen, daß er für solche Auszeichnung gerade das Medusenhaupt wählte, verpönte Darstellung nicht nur menschlicher Gestalt, sondern götzendienerisches Symbol. Es war kein Einverständnis möglich zwischen Juden und Römern. Sicher war dem Prinzen, der ihm wohlwollte, der Gedanke nicht einmal gekommen, daß eine solche Schildplatte dem Juden Kränkung mehr als Auszeichnung sein mußte. Josef war voll von Trauer und Beklommenheit. Allein er bezwang sich. »Ich bin es«, erwiderte er ehrerbietig die Formel, »der dem Feldherrn und der Armee zu danken hat. Ich werde versuchen, dieser Auszeichnung würdig zu sein.« Und er nahm die Schildplatte. Groß, das kühne Gesicht unbewegt, stand Berenike. Auf der Mauer, Kopf an Kopf, schauten die Juden zu, schweigend in der prallen Sonne.
  Den Prinzen unterdes packte ein immer tieferer Verdruß. Was wollte er mit dieser Parade? Berenike wußte so gut wie er, was die römische Armee war. Sie ihr auf so protzige Art vorzuführen war taktlos, barbarisch. Da hockten diese Juden auf ihren Mauern, ihren Dächern, die gedrängten Tausende, schauten zu, schwiegen. Wenn sie geschrien hätten, gehöhnt. Ihr Schweigen war eine tiefere Ablehnung. Auch Berenike hat während des ganzen Vorbeimarsches kein Wort gesprochen. Dieses jüdische Schweigen verstörte den Titus.
  Mitten in Betretenheit und Verdruß hat er eine Idee. Er wird eine neue, ernsthafte Vermittlungsaktion unternehmen. Als Einleitung einer solchen Aktion bekommt seine Parade Sinn und Verstand. Der Herr dieser Armee darf sich’s leisten, den Gegner zu Verhandlungen einzuladen, ohne daß man ihm das als Zeichen von Schwäche auslegt.
  Leicht freilich fällt ihm dieser Entschluß nicht. Noch hält sein Vater die Fiktion aufrecht, es handle sich nicht um einen Feldzug, sondern um eine Polizeimaßnahme. Seine, des Titus, Meinung ist das nicht. Er und seine Armee sehen als Lohn und Ende ihrer Mühe einen Triumph in Rom vor sich, ein strahlen des, ehrenvolles Schauspiel. Schließt aber das Unternehmen mit Vergleich ab, dann kriegt er seinen Triumph nicht. Trotzdem: er steht hier nicht für sich. Rom treibt Politik auf weite Sicht. Er wird den Vermittlungsvorschlag machen.
  Diesen Entschluß einmal gefaßt, hellt Titus sich auf. Jetzt hat seine Parade auf einmal Sinn, auch die Gegenwart der Frau hat Sinn. Des Prinzen Blick und Stimme werden jungenhaft, zuversichtlich. Er hat Freude an seinen Soldaten, er hat Freude an der Frau.

Die Zusammenkunft der Römer mit den Juden fand in der Nähe des Turms Psephinus statt, in Reichweite der jüdischen Schußwaffen. Von den Wällen ihres Lagers schauten die Römer, von den Stadtmauern die Juden zu, wie ihre Abgesandten sich trafen. Sprecher der Römer war Josef, Sprecher der Juden der Doktor und Herr Amram, Josefs Jugendfreund. Die Juden hielten zwischen sich und Josef peinlich den Abstand von sieben Schritten, sie machten, wenn er sprach, zugesperrte Gesichter. Nie an ihn richteten sie das Wort, immer an seine beiden römischen Begleiter.
  Man lagerte auf der kahlen, besonnten Erde, Josef war waffenlos. Er hatte sich mit aller Inbrunst vorbereitet, die in der Stadt zur Vernunft zu bekehren. Sie hatten ihn Tag für Tag ihren Haß spüren lassen. Oft hatte man ihm Bleikugeln und andere Geschosse der Belagerten gebracht mit der eingeritzten aramäischen Inschrift: »Triff den Josef.« Sein Vater, sein Bruder lagen in den Kerkern des Forts Phasael, aufs übelste gequält. Er achtete es nicht. Er hatte alle Bitterkeit aus seinem Herzen getilgt. Hatte gefastet, gebetet, Jahve möge seiner Rede Kraft geben.
  Es duldete ihn nicht auf der Erde, als er jetzt zu sprechen anhub. Er sprang auf, hager stand er in der Sonne, die Augen noch heißer als sonst vom Fasten und von dem Willen, zu überzeugen. Vor sich sah er das zugesperrte, verwilderte Gesicht des Doktor Amram. Seit Jotapat hatte Josef von Amram nichts mehr gehört, als daß er es war, der seine Bannung gefordert hatte. Es war kein gutes Zeichen, daß ihm die Juden als Partner gerade diesen seinen Studienkameraden schickten, der ihn mit gleicher Leidenschaft geliebt und gehaßt hatte. Wie immer, die Vorschläge, die Josef mitbringt, sind ungewöhnlich milde. Die Vernunft verlangt, sie zu erwägen. Beschwörend, mit scharfer, dringlicher Logik sprach Josef auf die jüdischen Abgesandten ein. Die Römer, setzte er ihnen auseinander, verpflichten sich, im ganzen Land den früheren Zustand herzustellen. Sie garantieren das Leben aller Zivilpersonen in der belagerten Stadt, die Autonomie des Tempeldienstes. Ihre einzige Forderung ist, daß die Garnison sich auf Gnade und Ungnade ergibt. Josef redete dem Doktor Amram zu, im Singsang, in den Formeln des theologisch-juristischen Disputs, die ihnen aus ihrer gemeinsamen Studienzeit vertraut waren. Er gliederte: »Was habt ihr zu verlieren, wenn ihr die Stadt übergebt? Was habt ihr zu gewinnen, wenn ihr es nicht tut? Übergebt ihr die Stadt, dann bleibt die Zivilbevölkerung, der Tempel, der Dienst Jahves gerettet. Muß die Stadt aber mit der Waffe erstürmt werden, dann ist alles verloren, Armee, Bevölkerung, Tempel. Ihr sagt vielleicht, die Armee sei nicht schuldiger als ihr, sie habe nur euern Willen ausgeführt. Mag sein. Aber schickt ihr nicht auch den Bock in die Wüste und legt ihm die Sünden aller auf? Schickt die Armee zu den Römern, laßt einige büßen statt aller.« Leidenschaftlich, beschwörend ging er auf den Doktor Amram zu. Aber der rückte fort von ihm, hielt die sieben Schritte Abstand.
  Kühl dann, als Josef zu Ende war, unterbreitete Doktor Amram den Römern die Gegenbedingungen der Juden. Er hätte sicher lieber aramäisch gesprochen, aber er wollte nicht mit Josef reden, so sprach er lateinisch. Er forderte freien Abzug der Garnison, Ehrenbezeigung für ihre Führer Simon Bar Giora und Johann von Gischala, die Garantie, daß niemals mehr eine römische Truppe nach Jerusalem gelegt werde. Das waren ungeheuer dreiste Forderungen, offenbar dazu bestimmt, die Verhandlungen zu sabotieren.
  Langsam, in mühsamem Latein, maskiert ins Gewand sachlicher Bedingungen, kam der aufreizend freche Unsinn aus dem verwilderten Antlitz des Amram. Josef hörte zu, auf der Erde hockend, müde vor Trauer über seine Ohnmacht. Von den Mauern schauten viele Gesichter. Eines, ein stures, fanati sches, mit törichten Augen, quälte Josef besonders, es lähmte ihn, es war wie ein Teil der Mauer, man konnte ebensogut an die Mauer hinsprechen. Dabei glaubte er, dieses Gesicht schon gesehen zu haben. So waren die Gesichter gewesen, die in Galiläa zu ihm hochgeblickt hatten, in stumpfer Bewunderung. Vielleicht war der junge Mensch einer von denen, die ihm damals zugejubelt hatten: Marin, Marin.
  Der Oberst Paulin versuchte noch einige freundliche, vernünftige Worte. »Lassen Sie uns nicht so auseinandergehen, meine Herren«, bat er. »Machen Sie uns einen andern Vorschlag, einen, den man erwägen kann.«
  Der Doktor Amram beriet eine kleine Weile flüsternd mit seinen beiden Begleitern. Dann, immer in seinem schweren Latein, höflich, doch sehr laut, sagte er: »Gut, wir haben einen andern Gegenvorschlag. Übergeben Sie uns die Leute, die wir für die Schuldigen halten, und wir nehmen Ihre Bedingungen an.« – »Was sind das für Leute?« fragte mißtrauisch der Oberst Paulin. »Das ist«, erwiderte der Doktor Amram, »der Mann Agrippa, früher König der Juden, die Frau Berenike, früher Prinzessin in Judäa, und der Mann Flavius Josephus, früher Priester der Ersten Reihe.« – »Schade«, sagte der Oberst Paulin, und die römischen Herren wandten sich, um zu gehen.
  In diesem Augenblick kam ein schriller Ruf von der Stadtmauer: »Triff den Josef!«, und mit dem Ruf kam schon der Pfeil. Josef sah noch, wie der Schütze auf der Mauer zurückgerissen wurde. Dann fiel er um. Es war der junge Mensch mit dem stumpfen, fanatischen Gesicht, der geschossen hatte. Der Pfeil hatte Josef nur am Oberarm getroffen. Es war wohl mehr die Erregung als die Wunde, die ihn umwarf.

Der Prinz Titus war über den jämmerlichen Ausgang der Vermittlungsaktion sehr erbittert. Die Frau war daran schuld, daß er diesen läppischen Schritt getan hat. Sie nahm ihm seine Klarheit, machte seine grade Linie krumm. Er mußte mit dieser Angelegenheit Berenike zu Ende kommen.
  Wie war ihre Bedingung? Wenn zur Zeit, da die Römer in Jerusalem einziehen, der Hain von Thekoa noch steht, dann mag mir Titus aus dem Holz meiner Pinien das Brautbett machen lassen. Ihre Bedingung ist erfüllt. Daß er Jerusalem nehmen wird, daran ist kein Zweifel mehr. Er hat dem Hauptmann Valens, dem Kommandanten von Thekoa, Auftrag gegeben, drei Pinien des Haines zu fällen. Heute abend kann das Bett fertig sein. Er wird heute allein mit Berenike zu Abend essen. Er will nicht länger warten. Er schickte Leute, das Bett zu holen.
  Es ergab sich, daß das Bett nicht da war. Der Pinienhain von Thekoa stand nicht mehr, des Prinzen Auftrag hat nicht erfüllt werden können. Titus schäumte. Hat er nicht klaren Befehl gegeben, den Hain zu schonen? Ja, der Hauptmann Valens hat diesen Befehl erhalten, aber dann, als das Holz für die Laufgräben und Wälle knapp wurde, hat der Marschall Tiber Alexander Gegenorder erteilt. Der Hauptmann Valens hat gezögert, hat rückgefragt. Er konnte sich auf die schriftliche Weisung des Marschalls berufen, den Hain entgegen der ersten Order zu fällen.
  Das Gesicht des Prinzen, als er dies vernahm, änderte sich auf erschreckende Art. Aus dem klaren, harten Antlitz des Soldaten wurde das eines sinnlos tobenden Knaben. Er befahl Tiber Alexander zu sich, knurrte, fauchte. Je maßloser der Prinz wurde, so kälter wurde der Marschall. Höflich erklärte er, ein von allen zuständigen Stellen, auch vom Prinzen unterzeichneter Erlaß befehle bei strengen Strafen die Herbeischaffung alles verfügbaren Holzes. Die Bedürfnisse des Krieges gingen den persönlichen Bedürfnissen eines einzelnen vor. In den Feldzügen, die er bisher geleitet habe, habe er es stets so gehalten und Ausnahmen nicht zugelassen. Der Prinz wußte nichts zu erwidern. Der Mann hatte recht und war ihm zuwider, er war sich selber zuwider. Ein starker Kopfschmerz klammerte ihm von den Schläfen her den Schädel ein. Alles um ihn war trüb. Er liebt Berenike. Er muß mit der Sache zu Ende kommen. Er wird es.
  Berenike ging durch das Lager von Jerusalem, schön und ruhevoll wie immer. Unter ihrer Ruhe aber war sie voll Aufruhr. Sie hat die Tage gezählt, die sie in Cäsarea ohne Titus verbracht hat. Sie will es nicht wahrhaben, aber sie hat ihn entbehrt. Seitdem er die Leitung der Armee übernommen hat, ist er nicht mehr der gutmütige Junge mit dem Knabengesicht, er ist ein Mann, ist der Feldherr, besessen von seiner Aufgabe. Sie sagte sich vor, es sei um Jerusalems willen, daß sie mit ihm zusammen ist, aber sie weiß, das ist Lüge.
  Beglückt war sie aufgebrochen, als Titus sie jetzt in das Lager gerufen hatte. Aber als sie den Raum um Jerusalem sah, um ihr Jerusalem, fiel ihre Freude zusammen. Die herrliche Umgebung kahl gefressen wie von Heuschrecken, die Fruchthaine, die Oliven, die Reben, die Landhäuser, die reichen Magazine des Ölbergs fortrasiert, alles schauerlich nackt, glatt und wüst gestampft. Als sie bei der Parade auf der Tribüne gestanden war, neben dem Feldherrn der Römer, war ihr, als schauten die Zehntausende auf den Mauern und den Dächern des Tempels nur auf sie, anklagend.
  Sie war durch wilde Schicksale gegangen, sie war nicht sentimental, sie war den Geruch von Heerlagern und von Soldaten gewöhnt. Aber der Aufenthalt hier vor Jerusalem war schwerer, als sie gedacht hatte. Der geordnete Reichtum des Lagers und die Not der an der Fülle ihrer Menschen erstickenden Stadt, die soldatische Geschäftigkeit des Prinzen, die verbindliche Härte Tiber Alexanders, die kahle, geschändete Umgebung Jerusalems, alles quälte sie. Sie, wie der Prinz, wollte zu Ende kommen. Mehrmals schon war sie im Begriff, den Mund aufzutun: Was ist mit dem Hain von Thekoa? Steht noch der Hain von Thekoa? Allein sie wußte nicht, sollte sie ein Ja wünschen oder ein Nein.
  Sie war müde und überreizt, als sie an diesem Abend zu Titus kam. Er gab sich finster, glühend und verbissen. Sie war trüb und kahl, Kraft und Willen waren ihr ausgeronnen, sie wehrte sich schwach. Er nahm sie roh, seine Augen, seine Hände, der ganze Mann war wüst und roh.
  Berenike, nachdem er sie genommen hatte, lag zerschlagen, den Mund trocken, die Augen trüb und stier, das Kleid zerrissen. Sie fühlte sich alt und traurig.
  Der Prinz starrte auf sie, den Mund verkniffen, das Gesicht das eines bösen, hilflosen Kindes. Jetzt hat er also seinen Willen gehabt. Hat es gelohnt? Es hat nicht gelohnt. Es war kein Genuß gewesen, alles andre eher als ein Genuß. Er wollte, er hätte es nicht getan. Er ärgerte sich über sich selber, und er haßte sie. »Wenn du übrigens wirklich glaubst«, sagte er boshaft, »daß der Hain von Thekoa noch steht oder daß dieses Bett aus dem Holz der Bäume von Thekoa gemacht ist, dann bist du angeschmiert. Wir haben für das Holz eine besondere Verwendung. Dein eigener Vetter hat Order gegeben, den Hain zu schlagen.«
  Berenike stand langsam auf, sie sah ihn nicht an, hatte keinen Vorwurf für ihn. Er war ein Mann, ein Soldat, ein guter Junge im Grund. Schuld war dieses Lager, schuld war der Krieg. Sie verkommen alle in diesem Krieg, sie werden zu Tieren und Barbaren. Man hat alle denkbaren Greuel verübt innerhalb und außerhalb der Mauern, hat die Menschen geschändet, das Land, Jahve, den Tempel. Eine Tierhetze ist das Ganze wie in der Arena an den großen Tagen, man weiß nicht, wer Tier ist und wer Mensch. Jetzt hat also dieser Mann Titus sie genommen, ohne ihren Willen, er hat sie betrogen, und hernach hat er sie verhöhnt, trotzdem er sie liebt. Es ist das Lager, und es ist der Krieg. Es ist diese wüste, stinkende Männerkloake, und ihr ist recht geschehen, weil sie hergekommen ist.
  Sie machte sich auf, jämmerlich, mühevoll, sie sammelte ihre Glieder, sie raffte ihr Kleid, sie schüttelte es, sie schüttelte den Dreck dieses Lagers von sich. Sie ging. Sie hatte keinen Vorwurf für Titus, doch auch keinen Gruß. Ihr Gang war noch immer, auch in dieser letzten Müdigkeit und Demütigung, der Gang der Berenike.
  Titus stierte ihr nach, schlaff, ausgehöhlt. Es war sein Plan gewesen, die Frau aus seinem Blut zu bringen. Er wollte sich seinen Feldzug, seine Aufgabe nicht verhunzen lassen durch die Frau. Er wollte sie hinter sich haben, dann Jerusalem nehmen, und dann, den Fuß auf dem besiegten Jerusalem, sich entscheiden, ob er von neuem mit der Frau beginnen soll. Es war ein schöner Plan gewesen, aber er war leider schiefgegangen. Es hat sich gezeigt, daß leider bei der Frau mit Gewalt nichts auszurichten war. Sie war keineswegs heraus aus seinem Blut. Es hat gar nichts genützt, daß er sie genommen hat, er hätte ebensogut eine beliebige andere nehmen können. Sie ist ihm fremder als je. Er denkt scharf nach, er strengt sein Gedächtnis an: nichts weiß er von ihr. Er kennt nicht ihren Geruch, ihr Verlöschen, ihr Verströmen, ihre Lust, ihren Zusammenbruch. Sie ist ihm versperrt geblieben durch sechs Schlösser und verhüllt durch sieben Schleier. Diese Juden sind infernalisch gescheit. Sie haben ein tiefes, höhnisches Wort für den Akt, sie sagen nicht: einander beiwohnen, sie sagen nicht: sich miteinander mischen, ineinanderhineingehen. Sie sagen: ein Mann erkennt eine Frau. Nein, er hat diese verfluchte Berenike nicht erkannt. Und er wird sie nie erkennen, solange sie sich ihm nicht gibt.
  Berenike unterdes lief durch die Gassen des Lagers. Sie fand ihre Sänfte nicht, sie lief. Kam in ihr Zelt. Gab hastige, ängstliche Anweisung. Verließ das Lager, floh nach Cäsarea. Verließ Cäsarea, floh nach Transjordanien, zu ihrem Bruder.
  Am 18. Juni berief Titus einen Kriegsrat ein. Die Angriffe der Römer auf die dritte Mauer waren fehlgeschlagen. Mit ungeheurer Mühe hatten sie gegen diese Mauer und das Fort Antonia vier Wälle herangeführt, um ihre Panzertürme, Geschütze, Sturmböcke in Stellung zu bringen. Aber die Juden hatten Minenstollen gegen diese Werke gegraben, die Pfähle dieser Stollen durch Pech und Asphalt zum Brennen und zum Einsturz gebracht und mit ihnen die Dämme und Geschütze der Römer. Die mit soviel Mühe und Gefahr errichteten Werke waren vernichtet.
  Die Stimmung im Kriegsrat war nervös und erbittert. Die jüngeren Herren forderten einen Generalangriff mit allen Mitteln. Das war die gerade, steile Straße zum Triumph, der allen vorschwebte. Die älteren Offiziere widersprachen. Ohne Panzertürme und Rammböcke eine mit allen Schikanen angelegte Festung zu stürmen, die von fünfundzwanzigtausend verzweifelten Soldaten gehalten wird, ist kein Spaß und kostet selbst im Glücksfall ungeheure Verluste. Nein, so langwierig das sein wird, es bleibt nichts übrig, als neue Dämme und Wälle zu bauen.