Sosehr Agrippa und sein Haus ihm
gefielen, so enttäuscht war er von der Prinzessin. Er wurde ihr
vorgestellt, unmittelbar bevor man zu Tisch ging. Er war gewohnt,
rasch Kontakt mit Frauen zu finden; sie hatte für seine ersten
Sätze ein gleichmäßig höfliches Ohr und nicht mehr. Er fand sie
kalt und hochfahrend, ihre dunkle, ein wenig heisere Stimme
befremdete ihn. Er kümmerte sich während des Essens wenig um
Berenike, dafür um so mehr um die übrige Gesellschaft. Er war
heiter, ein amüsanter Erzähler, man hörte ihm mit Wärme und
Aufmerksamkeit zu. Er vergaß die Prinzessin, und während des langen
Mahls wechselten sie nur spärlich Rede und Antwort.
Das Mahl war zu Ende. Berenike
erhob sich; sie war eigenwillig angezogen, es war ein Kleid aus
einem Stück wie hier zulande üblich, aus
kostbarem, schwer fallendem Brokat. Sie nickte Titus zu,
gleichgültig freundlich, begann die Treppen hinaufzusteigen, die
Hand leicht auf die Schulter ihres Bruders gestützt. Titus schaute
ihr mechanisch nach. Er hatte sich in eine scherzhaft erbitterte
Debatte über Militärtechnisches eingelassen. Plötzlich, mitten im
Satz, brach er ab, seine neugierigen, rastlosen Augen wurden
scharf, stierten, starrten hinter der Schreitenden her. Der
kleinzahnige Mund seines breiten Gesichts stand etwas töricht
halboffen. Seine Knie zitterten. Unhöflich ließ er seine
Gesprächspartner stehen, eilte den Geschwistern nach.
Wie diese Frau ging. Nein, sie
ging nicht, hier gab es nur ein Wort, das griechische, homerische:
sie wandelte her. Es war gewiß lächerlich, das große, homerische
Wort im Alltag zu gebrauchen, aber für das Schreiten dieser Frau
gab es kein anderes. »Sie haben es aber eilig«, sagte sie mit ihrer
tiefen Stimme. Bisher hatte diese ein wenig heisere Stimme ihn
befremdet, fast abgestoßen, jetzt klang sie ihm erregend und voll
von dunkeln Lockungen. Er sagte irgend etwas von der notwendigen
Eile des Militärs, es war nicht sehr schlagend, er fand sonst
bessere Antworten. Er gab sich knabenhaft, täppisch beflissen.
Berenike merkte gut, welchen Eindruck sie ihm machte, und sie fand
ihn angenehm, von einer gewissen viereckigen Anmut.
Sie schwatzten von Physiognomik,
von Graphologie. Das ist im Osten wie im Westen große Mode.
Berenike möchte die Schrift des Titus sehen. Titus zieht sein
goldgerändertes Wachstäfelchen vor, lächelt spitzbübisch, schreibt.
Berenike wundert sich: das ist doch in jedem Schnörkel die Schrift
seines Vaters. Titus gibt zu, er habe einen Scherz gemacht;
eigentlich habe er keine eigene Schrift mehr, so oft sei er in den
Schriften anderer spazierengegangen. Aber nun soll sie ihm ihre
Schrift zeigen. Sie überliest, was er geschrieben hat. Es ist ein
Vers aus einem modernen Epos: »Die Adler der Legionen und ihre
Herzen breiten ihre Schwingen zum Flug.« Sie wird ernst, zögert
einen Augenblick, dann glättet sie seine Buchstaben fort, schreibt:
»Der Flug der Adler kann den Unsichtbaren im Allerheiligsten nicht
zudecken.« Der junge General beschaut sich die Schrift; sie ist
schulmäßig korrekt, ziemlich kindlich. Er überlegt, er wischt den
Satz nicht weg, er schreibt darunter: »Titus möchte den
Unsichtbaren im Allerheiligsten sehen.« Er reicht ihr Wachs und
Griffel hinüber. Sie schreibt: »Der Tempel von Jerusalem soll nicht
zerstört werden.« Nun ist nur mehr sehr wenig Raum auf der kleinen
Tafel. Titus schreibt: »Der Tempel von Jerusalem wird nicht
zerstört werden.«
Er will das Täfelchen wegstecken.
Sie bittet, er möge es ihr lassen. Sie legt ihm die Hand auf die
Schulter, fragt, wann endlich der grauenvolle Krieg zu Ende sein
werde. Das Schlimmste sei das herzzermürbende, aussichtslose
Warten. Ein rasches Ende sei ein mildes Ende. Er möge doch endlich,
endlich Jerusalem nehmen. Titus zögert, geschmeichelt: »Das steht
nicht bei mir.« Berenike – wie hat er sie je für kalt und
hochfahrend halten können? – spricht flehend und überzeugt auf ihn
ein: »Doch, das steht bei Ihnen.«
Vertraulich, nachdem Titus
gegangen war, fragte Agrippa die Schwester nach ihrem Eindruck: »Er
hat einen weichen, unangenehmen Mund, findest du nicht?« Berenike
lächelte zurück: »Ich finde viel Unangenehmes an diesem Knaben. Er
hat manche Ähnlichkeit mit seinem Vater. Aber es soll schon
vorgekommen sein, daß jüdische Frauen mit Barbaren gut fertig
wurden. Zum Beispiel Esther mit Ahasver. Oder Irene mit dem
siebenten Ptolemäus.« Agrippa meinte, und Berenike erkannte gut die
leise Warnung in seinem Scherz: »Aber unsre Urgroßmutter Mariamne
zum Beispiel hat bei diesem Spiel den Kopf verloren.« Berenike
erhob sich, schritt. »Sei unbesorgt, lieber Bruder«, sagte sie,
ihre Stimme blieb leise, aber sie war sehr sicher und voll von
Triumph, »dieser Knabe Titus wird mir nicht den Kopf abschlagen
lassen.«
Sogleich nachdem er nach Cäsarea zurückgekehrt
war, bestürmte Titus seinen Vater, nun endlich die Belagerung
Jerusalems zu beginnen. Er wurde ungewohnt heftig. Er ertrage das
nicht länger. Er schäme sich vor seinen Offizieren. So langes
Zögern könne nicht anders ausgelegt werden denn als Schwäche. Das
römische Prestige im Osten sei gefährdet, Ves pasians Vorsicht
grenze an Feigheit. Die Dame Cänis hörte stattlich und mißbilligend
zu. »Was wollen Sie eigentlich, Titus? Sind Sie so dumm, oder
stellen Sie sich so?« Titus erwiderte heftig, der Dame Cänis könne
man diese traurige Rechenhaftigkeit nicht verdenken; von ihr könne
man nicht Sinn verlangen für soldatischen Anstand. Vespasian kam
massig auf seinen Sohn zu. »Aber von dir, mein Junge, verlange ich,
daß du dich schleunigst bei Cänis entschuldigst.« Cänis blieb
gelassen. »Er hat recht, ich habe wirklich wenig Gefühl für Würde.
Würde ist bei der Jugend immer populärer als Vernunft. Aber das
sollte er eigentlich einsehen, daß nur ein Trottel in einer solchen
Situation seine Armee abgibt.« Vespasian fragte: »Haben sie dich in
Tiberias aufgehetzt, mein Junge? Einer nach dem andern. Ich bin
erst sechzig. Zehn Jahre wirst du dich schon noch gedulden
müssen.«
Als Titus fort war, ereiferte
sich Cänis gegen das Pack in Tiberias. Natürlich waren es diese
Juden, die sich hinter Titus gesteckt hatten. Der leisetreterische
König, die pfaueneitle Berenike, der schmierige, unheimliche Josef.
Vespasian tue besser, das ganze orientalische Gesindel aus dem
Spiel zu lassen, römisch und geradezu mit Mucian zu verhandeln. Der
Marschall hörte ihr aufmerksam zu. Dann sagte er: »Du bist eine
gescheite und resolute Dame, alter Hafen. Aber für den Osten hast
du kein Organ. In diesem Osten komme ich ohne das Geld und die
Geriebenheit meiner Juden nicht weiter. In diesem Osten sind die
krümmsten Wege die geradesten.«
Die Nachricht kam, daß die
Nordarmee ihren Führer Vitell zum Kaiser ausgerufen habe. Otho war
gestürzt, Senat und Volk von Rom hatten Vitell als den neuen Kaiser
anerkannt. Gespannt schaute die Welt nach dem Osten, und der neue
Herr, schlemmerisch und phlegmatisch, zuckte zusammen, sooft der
östliche Führer genannt wurde. Aber Vespasian tat, als sähe er von
alledem nichts. Gelassen, ohne Zögern, vereidigte er seine Legionen
auf den neuen Kaiser, und zögernd, mißmutig folgten seinem Beispiel
für Ägypten der Gouverneur Tiber Alexander, für Syrien der
Gouverneur Mucian. Von allen Seiten drängte man in Vespasian. Er
aber spielte den Verständnislosen, blieb mit jedem Wort
loyal.
Der westliche Kaiser, um sich zu
sichern, mußte starke Abteilungen nach der Hauptstadt heranführen,
die vier niederrheinischen, die zwei Mainzer Legionen, dazu
sechsundvierzig Hilfsregimenter. Vespasian machte die Augen eng,
lauerte. Er war ein guter Militär, er wußte, daß mit hunderttausend
demoralisierten Berufssoldaten in einer Stadt wie Rom nicht gut
hausen war. Diese Soldaten, die den Vitell zum Kaiser gemacht
hatten, warteten auf Belohnung. Geld war wenig da, und mit Geld,
Vespasian kannte die Sinnesart der Armee, würden sie sich auch
nicht begnügen. Sie hatten den anstrengenden Dienst in Deutschland
hinter sich, jetzt waren sie in Rom, und jetzt rechneten sie auf
die kürzere Dienstzeit und den höheren Sold der hauptstädtischen
Garde. Zwanzigtausend Mann, wenn es hoch kommt, kann Vitell in Rom
garnisonieren, was aber will er mit den andern machen? In den
östlichen Armeen tauchten immer bestimmtere Gerüchte auf, Vitell
wolle diese Mannschaften zum Dank für ihre Leistungen nach dem
schönen, warmen Osten versetzen. Die östlichen Legionen hatten
schon bei der Vereidigung die vorgeschriebenen Hochrufe auf den
neuen Herrn nur recht dünn ausgebracht: jetzt zeigten sie ihre
Erbitterung öffentlich. Hielten Versammlungen ab, schimpften, man
werde allerlei erleben, wenn man versuche, sie nach dem rauhen
Deutschland oder nach dem verdammten England zu transportieren. Die
Herren des Ostens hörten das mit Vergnügen. Von ihren Offizieren
bedrängt, was an den Gerüchten über die Umgruppierung der Armee
wahr sei, schwiegen sie, zuckten mit vieldeutigem Bedauern die
Achseln. Von Rom her kamen immer wüstere Nachrichten. Die Finanzen
waren in heilloser Unordnung, die Wirtschaft stockte, in ganz
Italien, in der Hauptstadt selbst, kam es zu Plünderungen, der
neue, schlechtorganisierte Hof gab sich lässig, schlemmerisch,
üppig, das Reich drohte vor die Hunde zu gehen. Die Empörung im
Osten wuchs. Tiber Alexander, König Agrippa schürten sie mit Geld
und Gerüchten. Das ganze weite Land jetzt vom Nil bis zum Euphrat
hallte wider von den Prophezeiungen über Vespasian; die wunderbare
Voraussage, die der gefangene jüdische General Josef Ben Matthias
dem Marschall in Gegenwart von Zeugen gemacht hatte, war in aller
Mund: »Der Retter wird kommen aus Judäa.« Wenn Josef, immer noch in
seiner Fessel, durch die Straßen Cäsareas ging, war um ihn
Ehrfurcht und scheues Geraun.
Zauberhaft hell und herrlich war die Luft in
diesem Frühsommer an der Küste des Jüdischen Meeres. Vespasian
schaute mit seinen klaren, grauen Augen über die leuchtende See,
lauerte, wartete. Er wurde immer schweigsamer in dieser Zeit, sein
hartes Gesicht wurde härter, herrischer, der steife Körper straffte
sich, der ganze Mann wuchs. Er studierte die Depeschen aus Rom.
Wirren überall im Reich, die Finanzen zerrüttet, die Armee
verlottert, die bürgerliche Sicherheit hin. Der Retter wird
ausgehen von Judäa. Aber Vespasian preßte die langen Lippen
zusammen, bezwang sich. Die Dinge sollen ausreifen, er läßt sie an
sich herankommen.
Cänis ging um den breiten Mann
herum, beschaute ihn. Niemals bisher hatte er Geheimnisse vor ihr
gehabt; jetzt war er hinterhältig, unverständlich. Sie war ratlos,
und sie liebte ihn sehr.
Sie schrieb einen täppischen,
hausfraulich besorgten Brief an Mucian. Ganz Italien warte doch
darauf, daß die Ostarmee sich aufmache, um das Vaterland zu retten.
Aber Vespasian tue nichts, sage kein Wort, rühre sich nicht. In
Italien wäre sie bestimmt gegen dieses sonderbare Phlegma
aufgekommen; aber in diesem verfluchten, unheimlichen Judäa finde
sich ja kein Mensch zurecht. Sie bitte Mucian dringend, die Römerin
den Römer, er möge auf seine gescheite und energische Art den
Vespasian aufrütteln.
Dieser Brief wurde Ende Mai
geschrieben. Anfang Juni kam Mucian nach Cäsarea. Auch er nahm
sogleich die Veränderung des Marschalls wahr. Mit einem neidischen,
betretenen Respekt sah er, wie dieser Mann größer wurde, je näher
die großen Dinge an ihn herankamen. Nicht ohne Bewunderung machte
er sich lustig über seine Festigkeit, Schwere, Breite. »Sie haben
Philosophie, mein Freund«, sagte er. »Aber ich bitte Sie dringend,
philosophieren Sie nicht zu lange.« Er stieß mit seinem Stock gegen
einen unsichtbaren Gegner.
Es lockte ihn, die dreiste Ruhe
des Marschalls durch Quertreibereien zu stören. Die alte Eifersucht
nagte ihn. Aber nun war es zu spät. Jetzt schwor die Armee auf den
andern, jetzt konnte er nur mehr im Schatten des andern
marschieren. Er erkannte das, bezwang sich, förderte den andern.
Sorgte, daß die Gerüchte über den Austausch der syrischen und
judäischen Truppen gegen westliche sich verdichteten. Schon wurden
bestimmte Termine genannt. Anfang Juli sollten die Legionen in
Marsch gesetzt werden.
Um die Mitte des Juni stellte
sich Agrippa bei Vespasian ein. Er war wieder in Alexandrien
gewesen bei seinem Freunde und Verwandten Tiber Alexander. Der
ganze Osten, erklärte er dem Marschall, lehne sich auf gegen
Vitell. Bestürzt über die wüsten Nachrichten aus Rom, warte Ägypten
und beide Asien in wilder, sehnlicher Spannung, daß der
gottbegnadete Retter sich endlich ans Werk mache. Vespasian
erwiderte nichts, schaute Agrippa an, schwieg beharrlich. Da sprach
Agrippa, ungewohnt energisch, weiter: es gebe Männer, die des
festen Willens seien, die göttliche Absicht zu fördern. Soviel er
wisse, sei der ägyptische Generalgouverneur Tiber Alexander
entschlossen, seine Truppen am 1. Juli auf Vespasian zu
vereidigen.
Vespasian bezwang sich, aber er
konnte nicht verhindern, daß sein Schnaufen beängstigend hart und
hastig wurde. Er ging ein paarmal auf und ab; schließlich sagte er,
aber es klang eher wie ein Dank als wie eine Drohung: »Hören Sie,
König Agrippa, ich würde dann Ihren Verwandten Tiber Alexander als
Hochverräter betrachten müssen.« Er ging ganz nah an den König
heran, legte ihm beide Hände auf die Schultern, blies ihm seinen
harten Atem ins Gesicht, sagte ungewohnt herzlich: »Es tut mir
leid, König Agrippa, daß ich Sie gehänselt habe, weil Sie die
Fische aus dem See Genezareth nicht aßen.« Agrippa sagte: »Bitte,
zählen Sie auf uns, Kaiser Vespasian, auf unser ganzes Herz und
unser ganzes Vermögen.«
Der Juli rückte vor. Überall im
Osten kamen Gerüchte auf, Kaiser Otho habe, unmittelbar bevor er
sich den Tod gab, Vespasian in einem Schreiben beschworen, seine
Nachfolge anzutreten, das Reich zu retten. Eines Tages fand
Vespasian diesen Brief auch wirklich in seinem Einlauf. Der tote
Otho richtete große, dringliche Worte an den Feldherrn des Ostens,
er solle ihn an dem Schlemmer Vitell rächen, solle Ordnung
schaffen, Rom nicht versinken lassen. Vespasian las das Schreiben
aufmerksam. Er sagte seinem Sohne Titus, er sei wirklich ein großer
Künstler; man müsse geradezu Angst haben vor seiner Kunst. Er
fürchte, eines Morgens werde er aufwachen und ein Dokument
vorfinden, in welchem er den Titus zum Kaiser ernannt
habe.
Die vierte Juniwoche kam. Die
Spannung wurde unerträglich. Cänis, Titus, Mucian, Agrippa,
Berenike, alle verloren die Nerven, zerrten ungestüm an Vespasian,
er möge sich endlich erklären. Der schwere Mann war nicht von der
Stelle zu bringen. Er gab ausweichende Antworten, schmunzelte,
machte Witze, wartete.
In der Nacht vom 27. zum 28. Juni berief
Vespasian in großer Heimlichkeit den Jochanan Ben Sakkai zu sich.
»Sie sind ein sehr gelehrter Herr«, sagte er. »Ich bitte Sie, mich
noch weiter über das Wesen Ihres Volkes und Ihres Glaubens zu
unterrichten. Gibt es bei euch ein Grundgesetz, eine Goldene Regel,
auf die man eure unheimlich zahlreichen Gebote zurückführen kann?«
Der Großdoktor wiegte den Kopf, schloß die Augen, erzählte: »Vor
hundert Jahren gab es unter uns zwei weitberühmte Doktoren,
Schammai und Hillel. Ein Nichtjude kam zu Schammai und sagte ihm,
er wolle zu unserm Glauben übertreten, wenn Schammai ihm das Wesen
dieses Glaubens beibringe in der Zeit, da er sich auf einem Fuß halten könne. Doktor Schammai schickte ihn
erzürnt fort. Da ging der Nichtjude zu Hillel. Doktor Hillel
willfuhr ihm. Er sagte ihm: ›Was du nicht willst, das man dir tue,
das tue nicht an andern.‹ Das ist alles.« Vespasian dachte
ernsthaft nach. Er meinte: »Solche Maximen sind gut; aber ein
großes Reich kann man damit schwerlich in Ordnung halten. Da ihr
solche Maximen habt, tätet ihr besser, gute Bücher zu schreiben und
uns die Politik zu überlassen.« – »Sie sprechen eine Ansicht aus,
Konsul Vespasian«, stimmte der Jude bei, »die Ihr Diener Jochanan
Ben Sakkai von jeher vertrat.« – »Ich glaube, mein Doktor und
Herr«, fuhr der Römer fort, »Sie sind der beste Mann in diesem
Land. Mir liegt daran, daß Sie meine Motive begreifen. Glauben Sie
mir, ich bin relativ selten ein Schuft, nur dann, wenn es unbedingt
sein muß. Lassen Sie mich Ihnen sagen, ich habe gegen Ihr Land
nicht das geringste. Nur: ein guter Bauer macht einen Zaun um
seinen Besitz. Wir müssen einen Zaun um das Reich haben. Judäa ist
unser Zaun gegen die Araber und die Parther. Leider seid ihr, wenn
man euch allein läßt, ein schlechter Pfahl. Also müssen wir uns
selber hierherstellen. Das ist alles. Was ihr im übrigen treibt,
kümmert uns nicht. Laßt uns in Frieden, und wir lassen euch in
Frieden.« Jochanans Augen schauten sehr hell und frisch aus dem
welken, verrunzelten Gesicht. »Es ist unangenehm«, sagte er, »daß
euer Zaun gerade über unser Gebiet läuft. Es ist ein sehr dicker
Zaun, und viel von unserm Land bleibt nicht übrig. Aber schön,
macht euern Zaun. Nur: wir brauchen auch einen Zaun. Einen andern,
einen Zaun um das Gesetz. Worum ich Sie neulich bat, Konsul
Vespasian, das ist dieser Zaun. Er ist bescheiden und kümmerlich,
vergleicht man ihn mit dem euern: ein paar Gelehrte und eine kleine
Universität. Wir behindern eure Soldaten nicht, ihr gebt uns die
Universität Jabne. Eine so kleine Universität«, setzte er
überredend hinzu, und wiederum mit seinen winzigen Händen malte er
ihre Kleinheit.
»Ich glaube, Ihr Vorschlag ist
nicht schlecht«, sagte langsam Vespasian. Er erhob sich, plötzlich
sehr verändert. Jochanan mit sicherem Instinkt begriff sogleich
diese Veränderung. Bisher hatte ein alter, verträglicher
sabinischer Bauer mit einem alten, verträglichen Jerusalemer
Gelehrten geredet: jetzt sprach Rom zu Judäa. »Seien Sie bereit«,
sagte der Marschall, ȟbermorgen ein Dokument von mir
entgegenzunehmen, das Ihre Forderung bewilligt. Wollen Sie, bitte,
mein Doktor und Herr, mir dann Zug um Zug die Unterwerfungsurkunde
mit dem Siegel des Großen Rats übergeben.«
Für den zweiten Tag darauf berief
Vespasian eine feierliche Versammlung auf das Forum von Cäsarea.
Die Behörden des von Rom besetzten Gebiets, Deputationen aller
Regimenter waren hinbeschieden. Allgemein erwartete man, jetzt
endlich werde die von den Truppen ersehnte Akklamation Ves pasians
zum Kaiser erfolgen. Statt dessen erschien auf der Rednerbühne des
Forums der Marschall zusammen mit Jochanan Ben Sakkai. Ein hoher
Justizbeamter sprach vor, und ein Herold mit schallender Stimme
verkündete, die rebellische Provinz habe ihr Unrecht eingesehen,
kehre reuig unter die Schutzherrschaft des Senats und Volks von Rom
zurück. Des zum Zeichen werde jetzt der Großdoktor Jochanan Ben
Sakkai dem Marschall Dokument und Siegel der höchsten Behörde
Jerusalems überreichen. Der jüdische Krieg, den zu führen das Reich
den Feldherrn Titus Flavius Vespasian ausgesandt habe, sei damit zu
Ende. Was noch zu tun bleibe, die Züchtigung der Stadt Jerusalem,
sei eine polizeiliche Aktion. Die Soldaten schauten sich an,
verwundert, enttäuscht. Sie hatten erwartet, ihren Feldherrn als
Kaiser begrüßen zu können, Sicherheit über ihr zukünftiges
Schicksal und vielleicht auch eine einmalige Gratifikation zu
erhalten. Statt dessen sollten sie jetzt Zeugen eines juristischen
Aktes sein. Sie wußten als Römer, daß Dokumente und Juristerei eine
wichtige Sache waren, immerhin, den Sinn dieser Urkunde begriffen
sie nicht. Nur sehr wenige, Mucian, Cänis, Agrippa, deuteten die
Zeremonie richtig aus. Sie verstanden, daß dem Ordnungsmanne
Vespasian, bevor er als Kaiser nach Rom zurückkehrte, daran lag,
von der Gegenseite Brief und Siegel zu erhalten, er habe seine
Aufgabe erfüllt.
Die Soldaten also machten lange
Gesichter, viel Unmut wurde laut. Aber Vespasian haue seine Truppen
gut diszipliniert, und als man jetzt von ihnen verlangte, sie
sollten den Friedensschluß mit großer Zeremonie begrüßen, brachten
sie sogar das freudige Gesicht auf, das das Militärreglement für
solche Gelegenheiten vorschrieb. Die Armee defilierte also vor dem
kleinen Doktor aus Jerusalem. Die Feldzeichen und Standarten zogen
an ihm vorbei. Die römischen Legionen grüßten ihn, den Arm mit der
flachen Hand ausgestreckt.
Hatte Josef nicht schon einmal
Ähnliches gesehen? So sah er einmal einen östlichen König geehrt in
der Stadt Rom vor dem Antlitz des Kaisers Nero, sein Säbel aber war
festgenagelt in der Scheide. Jetzt ehrte die römische Armee die
jüdische Gottesweisheit, doch erst nachdem sie das Schwert Judäas
zer brochen hatte. Josef sah das Schauspiel von einem Winkel des
großen Platzes aus, ganz hinten, unter kleinen Leuten und
Leibeigenen, man stieß ihn, drängte ihn, schrie. Er starrte gerade
vor sich hin, regte sich nicht.
Der kleine Uralte aber stand auf
der Tribüne; später, da er sichtlich ermüdete, brachte man ihm
einen Sessel. Immer wieder führte er die Hand an die Stirn, dankte,
grüßte. Wiegte ab und zu den welken Kopf, ganz leise
lächelnd.
Die Armee, die Zeremonie vollendet, wütete.
Mucian und Agrippa waren sicher, der Marschall habe mit Absicht die
Empörung der Truppe gesteigert. Sie bestürmten ihn, die Frucht sei
überreif, er solle endlich sich als Herrn proklamieren. Als er sich
aber auch diesmal naiv und bedächtig gab wie stets, schickten sie
Josef Ben Matthias vor.
Es war eine kühle, angenehme
Nacht mit frischem Wind vom Meer her, aber Josef war voll von einer
heißen, zitternden Erregung. Es war an dem: sein Römer wird der
Kaiser sein, und er hat ein Großteil dazu getan, das zu bewirken.
Er zweifelte nicht, daß es ihm gelingen werde, den Zögernden zum
Entschluß zu bringen. Natürlich war dieses Zögern nichts andres als
klügliches Getändel. Wie wohl Wettläufer zehn Tage vor dem Spiel
Schuhe aus Blei tragen, um den Fuß zu trainieren, so mochte sich
der Anwärter auf den Thron mit Ausflucht und gespielter Weigerung
den Lauf erschwert haben, damit er schließlich das Ziel um so
schneller erreiche. Josef also breitete Ergebenheit, Zuversicht,
Wissen um das Schicksal mit solcher Dringlichkeit vor Vespasian
aus, daß der gar nicht anders konnte, als sich vor Gott und seinem
Schicksal neigen und ja sagen.
Aber Vespasian konnte doch
anders. Dieser Mann war wirklich hochmütig und starr wie ein
Felsblock. Keinen kleinsten Schritt wollte er von allein tun; bis
zum letzten wollte er sich stoßen und schieben lassen. »Sie sind
ein Narr, mein Jüdlein«, sagte er. »Eure östlichen Duodezkönige
mögen sich ihre Kronen aus Blut und Dreck zusammenleimen; für mich
ist das nichts. Ich bin ein römischer Bauer, ich denke nicht daran.
Bei uns machen Armee, Senat und Volk den Kaiser, nicht Willkür. Der
Kaiser Vitell hat die gesetzliche Bestätigung. Ich bin kein Rebell.
Ich bin für Gesetz und Ordnung.« Josef preßte die Zähne
aufeinander. Er hatte mit seiner ganzen Intensität gesprochen, sein
Wort war an dem hartnäckigen Mann abgeprallt. Der wollte wirklich
das Unmögliche, der wollte das Gesetzliche und das Ungesetzliche
zugleich. Es war sinnlos, weiter auf ihn einzureden, es blieb
nichts übrig als Verzicht.
Josef konnte sich nicht
entschließen zu gehen, und Vespasian schickte ihn nicht weg. Fünf
lange Minuten saßen die beiden Männer stumm in der Nacht. Josef
ausgehöhlt und resigniert, Vespasian sicher, gleichmäßig
atmend.
Plötzlich nahm der Marschall das
Gespräch wieder auf, leise, doch jedes Wort wägend: »Sie können
Ihrem Freunde Mucian sagen, daß ich mich nicht fügen werde, daß ich
nur dem äußersten Zwang weichen würde.« Josef sah hoch, sah ihn an,
atmete groß auf. Versicherte sich nochmals: »Aber dem Zwang
würden Sie weichen?« Vespasian
achselzuckte: »Totschlagen natürlich ließ ich mich ungern. Sechzig
Jahre sind für einen robusten Bauern wie mich kein
Alter.«
Josef verabschiedete sich so
rasch wie möglich. Vespasian wußte: der Jude wird sofort zu Mucian
gehen, er selber wird morgen, leider, erfreulicherweise gezwungen
werden, Kaiser zu sein. Er war ein nüchterner Herr, er hatte es
Cänis und sich streng verwehrt, dieses Ziel zu schmecken, solange
es nicht erreicht war. Jetzt also kostete er es aus. Hart den Atem
durch die Nase stieß er. Er hatte noch keine Zeit gefunden, sich’s
bequem zu machen; mit den schweren Soldatenstiefeln stapfte er über
den kühlen Steinboden des Zimmers. »T. Fl. Vespasian, Kaiser,
Herrscher, Gott«, schmunzelte er, grinste breit, machte das Gesicht
wieder scharf. »Na ja«, sagte er. Er warf die lateinischen und die
östlichen Worte durcheinander: Cäsar, Adir, Imperator, Messias.
Eigentlich war es komisch, daß sein Jude ihn als erster akklamiert
hatte. Ein klein wenig verdroß es ihn: er fühlte sich dem Menschen
fester verkettet, als er wollte.
Er spürte Lust, Cänis zu wecken,
der Frau, die nun so lange Sturz und Aufstieg mit ihm geteilt
hatte, zu sagen: »Ja, nun ist es an dem.« Aber dieses Verlangen
dauerte nur einen kleinen Augenblick. Nein, er mußte jetzt allein
sein, keinen einzigen Menschen konnte er sehen. Doch, einen. Einen
ganz fremden, der von ihm nichts wußte und von dem er nichts wußte.
Wieder faltete er das Gesicht auseinander, breit, böse, glücklich.
Mitten in der Nacht schickte er nach Josefs Haus und befahl Josefs
Frau zu sich, Mara, Tochter des Lakisch, aus Cäsarea.
Josef war soeben von der
Unterredung mit Mucian nach Hause gekommen, sehr hochgestimmt in
dem Bewußtsein, einen wie großen Anteil er daran hatte, daß nun
morgen sein Römer Kaiser sein wird. Um so tiefer jetzt stürzte er
hinunter. Es war eine fressende Schmach und Enttäuschung, daß der
Römer den Mann, der ihm die große Idee eingegeben hatte, auf solche
Art demütigte. Der freche Unbeschnittene wird nicht zulassen, daß
er sich je wieder aus dem Schlamm dieser Ehe heraushebt. In sich
hinein knirschte er alle die höhnischen Namen, mit denen der
Marschall genannt wurde: Spediteur, dreckiger, Pferdeäpfelbauer!
Fügte die unflätigsten Schimpfworte zu, aramäische, griechische,
was immer ihm beifiel.
Das Mädchen Mara, nicht weniger
erschreckt als er, fragte still: »Josef, mein Herr, soll ich
sterben?« – »Närrin«, sagte Josef. Sie hockte vor ihm, mattweiß,
jämmerlich, in einem dünnen Hemd. Sie sagte: »Das Blut, das vor
drei Wochen hätte kommen sollen, ist nicht gekommen. Josef, mein
Mann, den Jahve mir gegeben hat, höre: Jahve hat meinen Leib
gesegnet.« Und da er schwieg, fügte sie ganz leise hinzu, demütig,
erwartungsvoll: »Willst du mich nicht halten?« – »Geh!« sagte er.
Sie fiel um. Nach einer Weile raffte sie sich hoch, schleppte sich
zur Tür. Er aber, da sie gehen wollte, wie sie war, fügte unwirsch,
befehlend hinzu: »Zieh deine besten Kleider an.« Sie gehorchte
scheu, zögernd. Er musterte sie und sah, daß sie schlichte Schuhe
trug. »Auch die parfümierten Sandalen«, herrschte er sie
an.
Vespasian, in der Stunde, da sie
bei ihm war, fühlte sich sehr zufrieden, genoß sie mit allen
Sinnen. Er wußte, morgen wird es sein, morgen wird man ihn
akklamieren, und dann wird er für immer aus diesem Osten weggehen
dahin, wohin er gehört, in seine Stadt Rom, um dort Ordnung und
Zucht zu schaffen. Im Grund verachtete er ihn, diesen Osten, aber
mit einer Art gönnerhafter Liebe. Dieses Judäa jedenfalls hat ihm
gut geschmeckt, das fremdartige, glückbringende, vergewaltigte Land
war ein brauchbarer Schemel für seine Füße gewesen, es hatte sich
als sehr geeignet erwiesen, sich unterwerfen und profitieren zu
lassen, und auch diese Mara, Tochter des Lakisch, gerade weil sie
so still und voll verächtlicher Sanftmut war, sagte ihm zu. Er
dämpfte seine knarrende Stimme, legte ihren mondlich schimmernden
Kopf auf seine haarige Brust, spielte mit seinen gichtischen Händen
in ihrem schwarzen Haar, sprach ihr gut zu mit den paar spärlichen
aramäischen Worten, die er wußte: »Sei zärtlich, mein Mädchen! Sei
nicht dumm, meine Taube!« Er sagte das mehrmals, möglichst mild,
aber doch ein wenig abwesend und verächtlich. Er schnaufte, er war
angenehm müde, er hieß sie sich waschen und anziehen, rief seinen
Kammerdiener, ließ sie wegbringen, und eine Minute später hatte er
sie vergessen und schlief befriedigt ein in Erwartung des kommenden
Tages.
Es war eine sehr kurze Nacht, und
es war in der ersten Dämmerung, als Mara zu Josef zurückkehrte. Sie
ging schwer, als trüge sie jeden ihrer Knochen einzeln, ihr Gesicht
war verwischt, lappig, wie aus feuchtem, schlechtem Stoff. Sie zog
das Kleid aus. Langsam, mit Mühe dröselte sie daran, dröselte es
auf, zerriß es, umständlich, mit Mühe, in lauter kleine Fetzen.
Dann nahm sie die Sandalen, die geliebten, parfümierten Sandalen,
riß daran herum, mit Nägeln, mit Zähnen, alles langsam, lautlos.
Josef haßte sie, weil sie nicht klagte, weil sie nicht gegen ihn
aufbegehrte. In ihm war nur ein Gedanke:
Weg von ihr, fort von ihr! Ich komme nicht hinauf, solange ich
eine Luft mit ihr atme.
Den Vespasian, als er sein Schlafzimmer
verließ, begrüßten die wachhabenden Soldaten mit der Ehrenbezeigung
und dem Gruß, der dem Kaiser vorbehalten war. Vespasian grinste:
»Verrückt geworden, Jungens?« Aber da war schon der diensttuende
Offizier und andere Offiziere, und sie wiederholten den
Kaiserlichen Gruß. Vespasian zeigte Zorn. Nun aber stellten sich
auch einige Obersten und Generäle ein, an ihrer Spitze Mucian. Das
ganze Gebäude war plötzlich voll von Soldaten, Soldaten füllten den
weiten Platz davor, und immer wieder und immer lauter, während die
ganze Stadt in stürmische Begeisterung geriet, wiederholten sie den
Kaiserlichen Gruß. Mucian währenddes, in dringlicher und
außerordentlich geschickter Rede, bestürmte den Marschall, das
Vaterland nicht im Dreck verkommen zu lassen. Die andern
unterstützten seine Rede mit wilden Zurufen, immer dreister drangen
sie vor, ja, schließlich zückten sie die Schwerter und drohten, da
sie nun doch einmal Rebellen seien, ihn zu ermorden, wenn er sich
nicht an ihre Spitze stelle. Vespasian, mit seiner
Lieblingswendung, sagte: »Na, na, na, nicht so heftig, Jungens.
Wenn ihr durchaus darauf besteht, dann sag ich nicht nein.«
Den elf Soldaten, die die Wache
gehalten hatten, diktierte er wegen des unvorschriftsmäßigen Grußes
eine Strafe von dreißig Hieben zu und eine Gratifikation von
siebenhundert Sesterzien. Wenn sie wollten, konnten sie sich von
den dreißig Hieben durch dreihundert Sesterzien loskaufen. Die fünf
Soldaten, die die Hiebe und die Sesterzien nahmen, beförderte er zu
Feldwebeln.
Dem Josef sagte er: »Ich denke,
mein Jüdlein, jetzt können Sie Ihre Kette ablegen.« Josef hob ohne
großen Dank die Hand zur Stirn, das blaßbraune Gesicht unverhohlen
mürrisch, voll Auflehnung. »Haben Sie sich mehr erwartet?« hänselte
Vespasian. Und da Josef schwieg, fügte er barsch hinzu: »Machen Sie
schon den Mund auf! Ich bin kein Prophet.«
Er hatte wohl längst erraten, was Josef wollte, aber es machte ihm
Spaß, den Juden selber darum bitten zu lassen. Allein der gutmütige
Titus mischte sich ein: »Doktor Josef erwartet wohl, daß man ihm
die Kette zerhaut.« Dies war die Art, wie man Männer befreite, die
zu Unrecht gefangen waren. »Na schön«, achselzuckte Vespasian. Er
ließ zu, daß die Zerschlagung der Kette in großer Zeremonie
geschah.
Josef, als freier Mann, bückte
sich tief, fragte: »Darf ich fortan den Geschlechternamen des
Kaisers führen?«
»Wenn Sie sich davon etwas
versprechen«, meinte Vespasian, »ich habe nichts dagegen.« Und
Josef Ben Matthias, Priester der Ersten Reihe aus Jerusalem, nannte
sich von da an Flavius Josephus.
VIERTES
BUCH
Alexandrien
in
langes, schmales Rechteck, streckte sich die Hauptstadt des Ostens,
das ägyptische Alexandrien, am Meer
entlang,
nach Rom die größte Stadt der bekannten Welt und sicherlich ihre
modernste. Fünfundzwanzig Kilometer maß ihr Umfang. Sieben große
Avenuen durchschnitten ihre Länge, zwölf ihre Breite; die Häuser
waren hoch und weit, alle versehen mit fließendem Wasser.
Im Angelpunkt dreier Weltteile,
an der Kreuzung des Orients und des Okzidents, an der Straße nach
Indien gelegen, hatte sich Alexandrien zum ersten Handelsplatz der
Welt hochgeschwungen. Auf der ganzen neunhundert Kilometer langen
Strecke der asiatischen und afrikanischen Küste zwischen Joppe und
Parätonium war der Hafen dieser Stadt der einzige wettersichere.
Hier stapelten sich Goldstaub, Elfenbein, Schildpatt, arabisches
Gewürz, Perlen des persischen Meers, indische Edelsteine,
chinesische Seide. Eine mit der modernsten Technik arbeitende
Industrie lieferte berühmte Leinwand bis nach England, wirkte
kostbare Teppiche und Gobelins, stellte für arabische und indische
Volksstämme Nationaltrachten her. Fabrizierte edle Gläser, berühmte
Parfüms. Versorgte die ganze Erde mit Papier, vom dünnsten
Damenbriefpapier bis zum gröbsten Packpapier.
Alexandrien war eine arbeitsame
Stadt. Hier hatten selbst die Blinden zu tun, und die
ausgemergelten Greise gingen nicht müßig. Es war fruchttragende
Arbeit, und die Stadt versteckte diese Früchte nicht. Während in
den engen Straßen Roms und in den hügeligen Straßen Jerusalems
jeder Wagenverkehr tagsüber verboten war, hallten in Alexandrien
die luftigen Boulevards wider vom Verkehr von Zehntausenden von
Fahrzeugen, und eine nie abreißende Reihe von Luxusgefährten zog
die beiden Korsostraßen auf und ab. Riesig hob sich inmitten weiter
Parks die Residenz der alten Könige, das Museum, die stolze
Bibliothek, das Mausoleum mit dem gläsernen Sarg und dem Leichnam
Alexanders des Großen. Der Fremde brauchte Wochen für die vielen
Sehenswürdigkeiten. Da war noch das Heiligtum des Serapis, die
Theater, die Rennbahn, die Insel Pharus, gekrönt von ihrem weißen,
berühmten Leuchtturm, die riesigen Industrie- und Hafenanlagen, die
Basilika, die Börse, die die Warenpreise der Welt festsetzte, und
nicht zuletzt das große Vergnügungsviertel, das in den üppigen
Badeort Canopus ausmündete.
Man lebte leicht und gut in
Alexandrien. Zahllos waren die Garküchen und die Kneipen, in denen
das berühmte einheimische Gerstenbier verzapft wurde. An allen
Tagen, die das Gesetz dafür freigab, fanden in den Theatern, im
Sportpalast, in der Arena Spiele statt. In ihren Stadtpalästen, in
ihren Villen in Eleusis und Canopus, auf ihren Luxusjachten gaben
die Reichen raffiniert ausgeklügelte Feste. Das Ufer des zwanzig
Kilometer langen Kanals, der Alexandrien mit dem Badeort Canopus
verband, war besetzt mit Speisehäusern. Man fuhr auf Barken den
Kanal hinauf und hinunter; die Kajüten hatten Vorrichtungen, daß
sie bequem verhängt werden konnten; überall am Ufer im Schatten des
Geranks der ägyptischen Bohne lagen solche Schiffe verankert. Hier
in Canopus lokalisierte man die elysäischen Gefilde Homers; in
allen Provinzen träumten die Kleinbürger von canopischen
Ausschweifungen, sparten für eine Reise nach Alexandrien.
Auch edleren Genüssen diente der
Reichtum der Stadt. Das Museum übertraf die Kunstsammlungen Roms
und Athens, die lückenlose Bibliothek hatte neunhundert Schreiber
in ständigem Dienst. Die Lehranstalten Alexandriens waren besser
als die Schulen Roms. In der Kriegswissenschaft, vielleicht auch in
Jurisprudenz und Nationalökonomie mochte die Reichshauptstadt
überlegen sein; aber in den andern Disziplinen führte unbestritten
die Akademie Alexandriens. Die römischen Familien der herrschenden
Schicht bevorzugten die Ärzte, die an der alexandrinischen Anatomie
studiert hatten. Auch pflegte die Stadt auf Betreiben ihrer
Mediziner eine humane Art der Hinrichtung, indem sie den schnell
wirkenden Biß einer zu diesem Zweck gezüchteten Giftnatter
verwandte.
Die Alexandriner, bei aller
Modernität, hingen an der Tradition. Sie hielten ihre Tempel und
Kultstätten im Ruf besonderer Heiligkeit und Wirksamkeit, ließen
die von den Vätern ererbte altägyptische Magie nicht abreißen,
klammerten sich an ihre überkommenen Bräuche. Wie in Urzeiten
verehrten sie ihre heiligen Tiere, Stier, Sperber, Katze. Als ein
römischer Soldat versehentlich eine Katze umgebracht hatte, konnte
ihn keine Macht vor der Hinrichtung retten.
So lebten diese
zwölfmalhunderttausend Menschen, rastlos aus der Arbeit in den
Genuß, aus dem Genuß in die Arbeit stürzend, immer nach Neuem
süchtig und andächtig starr am Überkommenen hängend, sehr launisch,
aus höchster Gunst jäh in wilde Abneigung umschlagend, geldgierig,
geistreich, von beweglichem, bösartigem Witz, zügellos frech,
musisch, politisiert bis in die Poren ihrer Haut. Aus allen Teilen
der Erde waren sie in die Stadt zusammengeströmt; bald aber hatten
sie ihre Heimat vergessen und fühlten sich nur mehr als
Alexandriner. Alexandrien, das war die Stadt des Morgen- und des
Abendlandes, der sinnenden Philosophie, der heitern Kunst, des
rechnenden Handels, der rastlosen Arbeit, des überschäumenden
Genusses, der ältesten Tradition, der modernsten Lebensform.
Unbändig stolz waren sie auf ihre Stadt, und es kümmerte sie nicht,
daß ihr maßloser, großschnäuziger Lokalpatriotismus überall
Ärgernis gab.
Inmitten dieser Gemeinschaft
lebte eine Gruppe Menschen, noch älter, noch reicher, noch
gebildeter, noch hochfahrender als die andern: die Juden. Sie
hatten eine bewegte Geschichte hinter sich. Seitdem vor
siebenhundert Jahren tapfere jüdische Landsknechte dem König
Psammetich seinen großen Sieg erfochten hatten, saßen sie im Land.
Später hatten der makedonische Alexander, die Ptolemäer sie zu
Hunderttausenden angesiedelt. Jetzt lebten ihrer allein in der
Stadt Alexandrien fast eine halbe Million. Ihre kultische
Absonderung, ihr Reichtum, ihre Hoffart hatten immer wieder zu
wüsten Pogromen geführt. Erst vor drei Jahren, als der Aufruhr in
der Provinz Judäa ausbrach, waren in Alexandrien an fünfzigtausend
Juden in einem wilden Gemetzel umgekommen. Noch heute lagen in dem
Stadtteil Delta, ihrem Hauptwohnsitz, weite Bezirke verwüstet.
Vieles Zerstörte ließen sie absichtlich liegen, auch wuschen sie
von den Mauern ihrer Synagogen das Blut nicht weg, das damals
verspritzte. Sie waren stolz selbst auf diese Angriffe, sie waren
ihnen eine Bestätigung ihrer Macht. Denn sie regierten in Wahrheit
das Land Ägypten, wie einst Josef, der Sohn des Jakob, unter seinem
Pharao das Land beherrscht hatte. Der Feldmarschall Tiber
Alexander, der Generalgouverneur Ägyptens, war jüdischer Abkunft,
und die führenden Männer der Provinz, Anwälte, Textilfabrikanten,
Steuerpächter, Waffenhändler, Bankiers, Korngroßhändler, Reeder,
Papierfabrikanten, Ärzte, Lehrer der Akademie waren
Juden.
Die Hauptsynagoge in Alexandrien
war eines der Wunderwerke der Welt. Sie bot Raum für mehr als
hunderttausend Menschen; nächst dem Tempel von Jerusalem war sie
das größte jüdische Bauwerk der Erde. Einundsiebzig Stühle aus
reinem Gold standen da für den Großmeister und die Präsidenten des
Gemeinderats. Keine noch so umfangreiche menschliche Stimme konnte
das mächtige Haus durchdringen: man mußte mit Fahnen anzeigen, wenn
die Gemeinde dem Vorbeter ihr Amen respondieren sollte.
Stolz blickten die
alexandrinischen Juden auf die römischen herab, auf diese
Westjuden, die zumeist kärglich lebten und sich aus ihrer
Proletarierexistenz nicht recht hochbringen konnten. Sie, die
Alexandriner, hatten ihr Judentum klug und harmonisch mit der
Lebensform und dem Weltbild des griechischen Orients ausgesöhnt.
Schon vor hundertfünfzig Jahren hatten sie die Bibel ins
Griechische übertragen, und sie fanden, diese ihre Bibel füge sich
gut in die griechische Welt.
Trotz alledem und trotzdem sie in
Leontopolis ihren eigenen Tempel hatten, galt ihnen der Berg Zion
als ihr Zentrum. Sie liebten Judäa, sie sahen mit tiefem Mitleid,
wie infolge der politischen Unfähigkeit Jerusalems der jüdische
Staat zu zerfallen drohte. Eine ganz große Sorge erfüllte sie: daß
wenigstens der Tempel erhalten bleibe. Sie zinsten dem Tempel wie
alle andern Juden, sie pilgerten nach Jerusalem, sie hatten dort
ihre eigenen Hotels, Synagogen, Friedhöfe. Viele Weihgeschenke des
Tempels, Tore, Säulen, Hallen, waren von ihnen errichtet worden.
Ein Leben ohne den Tempel in Jerusalem war auch den
alexandrinischen Juden nicht denkbar.
Sie schritten hoch her, sie
ließen sich nicht anmerken, wie sehr die Geschehnisse in Judäa an
sie rührten. Die Geschäfte blühten, der neue Kaiser hatte
Verständnis für sie. Glänzend in ihren Luxuswagen fuhren sie über
den Korso, sie saßen fürstlich auf ihren hohen Stühlen innerhalb
der Schranken der Basilika, der Börse, sie gaben ihre großen Feste
in Canopus, auf der Insel Pharus. Aber wenn sie unter sich waren,
dann, oft, verdüsterten sich ihre hochmütigen Gesichter. Ihr Atem
preßte sich, ihre stolzen Schultern erschlafften.
Die Juden Alexandriens nahmen Josef herzlich
und mit Achtung auf, als er im Gefolg des neuen Kaisers aus dem
Schiff stieg. Man schien genau zu wissen, welchen Anteil er an der
Akklamation Vespasians hatte, ja, man überschätzte diesen Anteil.
Josefs Jugend, seine verhaltene Spannkraft, die ernste Schönheit
seines hagern, heftigen Gesichts packte die Herzen. Wie seinerzeit
in Galiläa, so rief es jetzt in Alexandrien, wenn er in den Straßen
der Juden sich zeigte: »Marin, Marin, unser Herr, unser
Herr.«
Nach dem finstern Fanatismus
Judäas, nach der Derbheit des römischen Militärbetriebs pumpte er
sich jetzt genießerisch voll mit der freien Helligkeit der
Weltstadt. Sein dumpfes und wildes früheres Leben, sein Weib Mara
hatte er in Galiläa zurückgelassen. Sein Bereich waren nicht die
Intrigen aktueller Politik, nicht die groben Aufgaben militärischer
Organisation, sein Bereich war das Geistige. Mit Stolz am Gürtel
trug er das goldene Schreibzeug, das der junge General Titus, als
man Judäa verließ, ihm als Ehrengabe geschenkt hatte.
Prächtig an der Seite des
Großmeisters Theodor Bar Daniel fuhr er über den Korso. Er zeigte
sich in der Bibliothek, in den Bädern, in den Luxusrestaurants von
Canopus. Der Jude mit dem goldenen Schreibzeug war bald überall
bekannt. In manchen Lehrsälen bei seinem Eintritt erhoben sich
Lehrer und Studenten. Die Fabrikanten, die Kaufherren waren stolz,
wenn er ihre Werke, Lager, Warenspeicher besichtigte, die Literaten
geehrt, wenn er ihren Vorlesungen beiwohnte. Er führte das Leben
eines großen Herrn. Die Männer hörten auf ihn, die Frauen flogen
ihm zu.
Ja, er hatte recht gehabt mit
seiner Prophezeiung. Vespasian war wirklich der Messias. Die
Erlösung freilich durch diesen Messias vollzog sich anders, als er
gedacht hatte, langsam, hell, nüchtern. Sie bestand darin, daß
dieser Mann die Schale des Judentums zerschlug, auf daß ihr Inhalt
über die Erde verströmte und Griechentum und Judentum
ineinanderschmolzen. In Josefs Leben und Weltbild drang immer mehr
von dem hellen, skeptischen Geist dieser östlichen Griechen. Er
verstand nicht mehr, wie er früher hatte Abscheu spüren können vor
allem Nichtjüdischen. Die Heroen des griechischen Mythos und die
Propheten der Bibel schlossen einander nicht aus, es war kein
Gegensatz zwischen den Himmeln Jahves und dem Olymp des Homer.
Josef begann die Grenzen zu hassen, die ihm früher Auszeichnung,
Auserwähltheit bedeutet hatten. Es kam darauf an, das eigene Gute
überfließen zu lassen in die andern, das fremde Gute einzusaugen in
sich selbst.
Er war der erste Mensch, eine
solche Weltanschauung beispielhaft vorzuleben. Er war eine neue Art
Mensch, nicht mehr Jude, nicht Grieche, nicht Römer: ein Bürger des
ganzen Erdkreises, soweit er gesittet war.
Von jeher war die Stadt Alexandrien der
Hauptsitz der Judenfeinde gewesen. Hier hatten Apion, Apollonius
Molo, Lysimach, der ägyptische Oberpriester Manetho gelehrt, die
Juden stammten von Aussätzigen ab, sie verehrten in ihrem
Allerheiligsten einen Eselskopf, sie mästeten in ihrem Tempel junge
Griechen, schlachteten sie an ihrem Osterfest und schlössen
alljährlich, das Blut dieser Opfer trinkend, ein jüdisches
Geheimbündnis gegen alle andern Völker. Vor dreißig Jahren hatten
zwei Direktoren der Sporthochschule, Dionys und Lampon, die
judenfeindliche Bewegung fachmännisch organisiert. Der weiße Schuh
der Sporthochschule war allmählich zum Symbol geworden, und jetzt
nannten sich die Judenfeinde des ganzen Landes Ägypten »Die
Weißbeschuhten«.
Mit dem Juden Josef war den
Weißbeschuhten eine neue Plage über Alexandrien gekommen. Wie er
hochmütig in der Stadt herumfuhr und sich feiern ließ, galt er
ihnen als der fleischgewordene jüdische Übermut. In ihren Klubs,
bei ihren Zusammenkünften sang man Couplets, zum Teil recht
witzige, über den jüdischen Freiheitshelden, der zu den Römern
übergelaufen war, über den betriebsamen Makkabäer, der sich überall
einschob und den Mantel nach jedem von den acht Winden
hängte.
Eines Tages nun, als Josef das
Agrippabad betreten wollte, mußte er in der Vorhalle eine Gruppe
junger weißbeschuhter Herren passieren. Kaum waren die
Weißbeschuhten seiner ansichtig geworden, als sie einen widerlich
näselnden, gurgelnden, quiekenden Singsang anstimmten: »Marin,
Marin«, offenbar um die enthusiastischen Zurufe der Juden an Josef
zu parodieren.
Josefs blaßbraunes Gesicht
erblaßte noch tiefer. Aber er ging gerade zu, den Kopf nicht rechts
noch links drehend. Die Weißbeschuhten, als sie sahen, daß er ihrer
nicht achtete, verdoppelten ihre Zurufe. Einige riefen: »Geht nicht
zu nah an ihn heran, daß ihr euch nicht ansteckt.« Andere: »Wie
schmeckt Ihnen unser Schweinefleisch, Herr Makkabäer?« Von allen
Seiten jetzt johlte es, gellte es: »Josef, der Makkabäer! Der
beschnittene Livius!«, und Josef sah vor sich eine Mauer hämischer,
haßgeifernder Gesichter. »Wünschen Sie was?« fragte er in das
nächste Gesicht, ein olivbraunes, und seine Stimme war sehr ruhig.
Der Angeredete, mit übertrieben frecher Unterwürfigkeit, sagte:
»Ich wollte Sie nur um eine Auskunft bitten, Herr Makkabäer. Ist
Ihr Herr Vater auch aussätzig gewesen?« Josef schaute ihm in die
Augen, sagte nichts. Ein zweiter Weißbeschuhter, auf Josefs
goldenes Schreibzeug weisend, fiel ein: »Hat das einer Ihrer Herren
Väter mitgehen lassen, als sie aus Ägypten hinausgejagt wurden?«
Josef sagte noch immer nichts. Plötzlich, mit einer erschreckend
jähen Bewegung, zog er das schwere Schreibzeug aus dem Gürtel,
schlug es dem Frager auf den Kopf. Der brach zusammen. Es war
lautlos still ringsum. Josef, hochmütig, ohne sich nach dem
Gefallenen umzuwenden, ging in das Innere des Bades. Die
Weißbeschuhten wollten ihm nach, Badediener, Gäste warfen sich
dazwischen.
Der Getroffene, es war ein
gewisser Chäreas, aus angesehener Familie, war ernstlich verletzt.
Untersuchung gegen Josef wurde eingeleitet, bald niedergeschlagen.
Der Kaiser sagte zu Josef: »Na ja, mein Junge, ganz nett. Aber dazu
haben wir Ihnen das Schreibzeug eigentlich nicht
geschenkt.«
Alljährlich feierten die alexandrinischen
Juden auf der Insel Pharus ein großes Fest zur Erinnerung an die
Vollendung der griechischen Bibel. Der zweite Ptolemäus und der
Chef seiner Bibliothek, Demetrius von Phaleron, hatten drei
Jahrhunderte zuvor die Übersetzung der Heiligen Schrift ins
Griechische angeregt. Zweiundsiebzig jüdische Doktoren, des
Hebräischen und des Griechischen in gleicher Weise kundig, hatten
das schwierige Werk vollendet, das den Juden Ägyptens, die den
Urtext nicht mehr verstanden, das Wort Gottes vermittelte. Die
zweiundsiebzig Doktoren hatten unter Klausur gearbeitet, jeder
streng abgesondert; dennoch hatte der Text eines jeden am Ende
wortwörtlich übereingestimmt mit dem Text aller andern. Dieses
Wunder, durch das Jahve dartat, daß er die Versöhnlichkeit der
Juden und ihr Zusammenleben mit den Griechen billigte, feierten die
Alexandriner mit ihrem jährlichen Fest.
Alle führenden Männer und Frauen
der Stadt, auch die Nichtjuden, zeigten sich an diesem Tage auf der
Insel Pharus; nur die Weißbeschuhten blieben fern. Auch der Kaiser
nahm teil, der Prinz Titus, die vielen großen Herren aus Rom und
allen Provinzen, die die Anwesenheit des Hofs nach Alexandrien
gespült hatte.
Josef war die Aufgabe zugefallen,
den Dank der Fremden auszusprechen, die zu dem Fest geladen waren.
Er tat das in einer heitern, doch nicht unbedeutenden Art, feierte
in bewegten Worten das völkerverbindende Schrifttum, die
völkerverbindende Weltstadt Alexandrien.
Er mußte, um mit Erfolg sprechen
zu können, die Wirkung auf den Gesichtern der Zuhörer wahrnehmen,
und er pflegte, um den Eindruck abzulesen, wahllos ein Gesicht aus
der Zuhörermenge auszusuchen. Diesmal fiel sein Auge auf einen
fleischigen und doch strengen, sehr römischen Kopf. Aber der Kopf
versperrte sich ihm und blieb während seiner ganzen Rede unbewegt.
Säuerlich, sonderbar blicklos, schaute dieser römische Kopf durch
ihn hindurch, über ihn hinweg, mit einem merkwürdig stumpfen
Hochmut, der ihn beinahe aus dem Konzept brachte. Seine Rede
vollendet, erkundigte sich Josef, wer der Herr sei, dem der Kopf
gehörte. Es ergab sich, daß es Cajus Fabull war, Kaiser Neros
Hofmaler, von dem die Fresken des Goldenen Hauses stammten. Josef
sah sich den Mann genau an, der seine Rede mit so unhöflicher
Gleichgültigkeit angehört hatte. Auf einem gedrungenen, dicken,
fast unförmigen Körper saß ein starker, strenger Kopf. Im übrigen
war Cajus Fabull besonders sorgfältig angezogen, er hielt sich
steif und würdevoll, was bei seiner Beleibtheit ein bißchen komisch
wirkte.
Josef hatte in Rom viel von den
Schrullen dieses Cajus Fabull gehört. Der Maler, überzeugter
Hellenist, der eine leichte, sinnenfreudige Kunst übte, war in
seinem Wesen betont gravitätisch; er malte nur im Galakleid, er war
äußerst hochmütig, er sprach nicht mit seinen Leibeigenen,
verständigte sich mit ihnen nur durch Zeichen und Winke. So berühmt
und gesucht seine Kunst war – es gab keine noch so kleine
Provinzstadt, die nicht Fresken und Bilder in seiner ‘ Manier
aufwies –, war es ihm trotzdem nicht geglückt, in die großen
römischen Familien einzudringen. Er hatte schließlich eine
hellenisierte Ägypterin geehelicht und sich damit den Eintritt in
die herrschende Schicht für immer verbaut.
Josef wunderte sich, daß Fabull
überhaupt hier war; man hatte ihm gesagt, er zähle zu den
eifrigsten Anhängern der Weißbeschuhten. Dem Josef war alle Malerei
zuwider, sie sprach nicht zu ihm. Die Vorschrift der Lehre: du
sollst dir kein Abbild machen, hatte sich tief in ihn eingefressen.
Man schätzte auch in Rom den Schriftsteller sehr hoch, den Maler
aber als ein Wesen niedriger Kaste; diesen eiteln Künstler Fabull
betrachtete Josef mit doppelt verächtlicher Abneigung.
Der Kaiser sprach Josef an. Er
hatte in einem besonders schönen Exemplar der griechischen Bibel,
das man ihm als Ehrengeschenk ausgehändigt hatte, mit sicherm Blick
gewisse erotische Partien herausgefunden und erbat sich jetzt mit
knarrender Stimme von Josef Erläuterungen. »Sie haben ja ein wenig
Fett angesetzt, mein Jüdlein«, sagte er unvermittelt, erstaunt. Er
wandte sich an Fabuli, der in der Nähe stand. »In Galiläa hätten
Sie meinen Juden sehen sollen, Meister. Damals war er großartig.
Stoppelig, hundsmager, verwahrlost. Wirklich ein Prophet zum
Malen.« Fabull stand steif, säuerlich; Josef lächelte höflich. »Ich
habe mir hier«, fuhr Vespasian fort, »den Arzt Hekatäus zugelegt.
Der läßt mich jede Woche einmal fasten. Das bekommt mir
ausgezeichnet. Was meinen Sie, Fabull? Wenn wir den Burschen eine
Woche fasten lassen, wollen Sie ihn mir dann malen?« Fabull stand
stocksteif, das Gesicht ein wenig verzerrt. Josef sagte
geschmeidig: »Es freut mich, Majestät, daß Sie heute in der Lage
sind, so vergnügt über Jotapat zu scherzen.« Der Kaiser lachte.
»Wenn das Wetter umschlägt«, sagte er, »spüre ich immer noch den
Fuß, auf den mir Ihre Leute die Steinkugel gepfeffert haben.« Er
wies auf die Dame, die neben dem Maler stand. »Ihre Tochter,
Fabull?« – »Ja«, sagte der Maler trocken, zurückhaltend, »meine
Tochter Dorion.« Alle beschauten das Mädchen. Dorion war ziemlich
groß, schmal und zart, die Haut gelbbraun, langer, dünner Kopf, die
Stirn schräg und hoch, die Augen meerfarben. Die Jochbogen betont,
die Nase stumpf, ein wenig breit, das Profil leicht und rein; groß,
frech sprang der Mund aus dem zarten, hochfahrenden Gesicht.
»Nettes Mädchen«, sagte der Kaiser. Und, sich verabschiedend: »Na
ja. Überlegen Sie sich’s, Fabull, ob Sie mir meinen Juden malen
wollen.« Er brach auf.
Die andern standen eine kleine
Weile stumm und betreten zusammen. Fabull war nur aus Rücksicht auf
das neue Regime auf das Fest gegangen. Er hatte Dorion mit Mühe
bewogen, mitzukommen. Jetzt bereute er, daß er da war. Er dachte
nicht daran, den faulen, eiteln jüdischen Literaten zu
porträtieren. Josef seinesteils dachte nicht daran, sich von dem
überheblichen, verständnislosen Maler porträtieren zu lassen.
Immerhin war nicht zu leugnen, das Mädchen Dorion war eine
auffallende Erscheinung. Nettes Mädchen, hatte der Kaiser gesagt.
Das war platt ausgedrückt und überdies schief. Wie sie dastand,
zart bis zur Gebrechlichkeit, locker und doch streng in der
Haltung, ein ganz kleines, triumphierendes und obszönes Lächeln um
den großen Mund. Josef schmeckte mit Widerwillen ihre etwas wilde
Anmut.
»Naja«, wiederholte ein wenig
spöttisch das Mädchen Dorion die Lieblingsworte des Kaisers.
»Wollen wir nicht auch gehen, Vater?« Sie hatte eine hohe, dünne,
bösartige Stimme. Josef machte den Mund auf, sie anzusprechen, aber
dem sonst so Gewandten fiel nichts Rechtes ein. In diesem
Augenblick spürte er, daß sich etwas an seinen Füßen rieb. Er sah
an sich herunter, es war eine große, rotbraune Katze. Die Katzen,
heilige Tiere, wurden in Ägypten verhätschelt, Römer und Juden
mochten sie nicht. Josef suchte sie wegzuscheuchen. Sie blieb, sie
belästigte ihn. Er beugte sich nieder, packte das Tier. Plötzlich
sprang ihn die Stimme des Mädchens an: »Lassen Sie die Katze!« Es
war eine schrille, unangenehme Stimme. Merkwürdig, wie sanft sie
wurde, als sie sich jetzt an die Katze wandte: »Komm, mein
Tierchen! Meine Liebe, meine kleine Göttin! Er versteht nichts von
dir, der Mann. Hat er dich erschreckt?« Und sie streichelte die
Katze. Das häßliche Tier schnurrte.
»Entschuldigen Sie«, sagte Josef,
»ich wollte Ihrer Katze nicht zu nahe treten. Es sind nützliche
Tiere, in Mäusejahren.« Dorion hörte gut seinen Spott. Sie hatte
eine ägyptische Mutter gehabt und eine ägyptische Bonne. Die Katze
ist göttlich, in ihr ist noch ein Teil der Löwengöttin Bastet,
Kraft und Gewalt der Urzeit. Der Jude wollte ihren Gott
herabwürdigen, der Jude war ihr zu gering, ihm zu erwidern. Man
hätte nicht zu diesem Fest gehen sollen. Die Kunst ihres Vaters war
einzigartig, keine Regierung, kein Kaiser kam ohne ihn aus, er
hätte es nicht nötig gehabt, dem neuen Regime die Konzession zu
machen. Sie sagte nichts, sie stand still da, die Katze auf dem
Arm, und stellte ein hübsches Bild: geschmücktes Mädchen, mit einer
Katze spielend. Während sie, angenehm überrieselt, viele Blicke auf
sich fühlte, überlegte sie. Ein nettes Mädchen, hat der Kaiser
gesagt. Ihr Vater soll diesen Juden malen. Was für ein klobiger,
witzloser Spaß. Der Kaiser ist plump, ein echter Römer. Schade, daß
ihr Vater nicht Geistesgegenwart genug hat, sich gegen solche Späße
zu wehren. Er hat ihnen nichts entgegenzusetzen als seine etwas
säuerliche Gravität. Da hat sich der Jude mit seiner servilen
Ironie besser aus der Affäre gezogen. Sie nahm gut wahr, daß Josef
trotz der frechen Anmerkung über die Katze Gefallen an ihr fand.
Wenn sie jetzt einen Satz sagt, dann wird er viele und sicher sehr
schmeichelhafte und versöhnliche Sätze erwidern. Aber sie
beschließt, nichts zu sagen. Wenn er von neuem spricht, dann,
vielleicht, wird es ihr gefallen, zu antworten. Wenn er nicht
spricht, dann wird sie gehen, und es wird ihre letzte Begegnung mit
dem Juden gewesen sein.
Josef seinesteils überlegte:
dieses Mädchen Dorion ist spöttisch und hochfahrend. Wenn er sich
mit ihr einläßt, wird es bald Weiterungen geben,
Unannehmlichkeiten. Das beste wäre, sie stehenzulassen mit ihrer
dummen, häßlichen Katze. Wie merkwürdig braun das Braun ihrer Hände
ist gegen das häßliche Braun der Katze. Ungemein dünne, lange Hände
hat sie. Sie ist wie aus einem der alten, eckigen, harten Bilder,
mit denen hier alles vollbekleckst ist. »Finden Sie es nicht
übertrieben, wenn ich noch dünner werden soll, um mich von Ihrem
Vater malen zu lassen?« sagt er, und während er spricht, bereut er
schon, nicht weggegangen zu sein. »Ich denke, ein wenig Fasten ist
kein zu hoher Preis, um für die Ewigkeit fortzuleben«, sagt mit
ihrer hohen Kinderstimme Dorion. »Ich glaube«, erwidert Josef,
»wenn ich weiterleben werde, dann lebe ich in meinen Büchern
weiter.«
Dorion ärgerte sich über diese
Antwort. Da war sie wieder, die berühmte jüdische Überheblichkeit.
Sie suchte nach einer Antwort, die den Mann treffen sollte; aber
bevor sie sie gefunden hatte, sagte trocken und lateinisch Fabull:
»Gehen wir, meine Tochter. Es hängt nicht von uns ab und nicht von
ihm, ob ich ihn malen werde. Wenn der Kaiser befiehlt, dann male
ich auch das Aas eines verwesenden Schweines.«
Josef sah den beiden nach, wie
sie in der Säulenhalle verschwanden, die den Damm nach dem Festland
säumte. Er hatte nicht sehr gut abgeschnitten, aber er bereute
nicht, daß er gesprochen hatte.
In diesen Tagen schrieb Josef den Psalm, der
späterhin der Psalm des Weltbürgers genannt wurde:
O Jahve, gib mir mehr Ohr und mehr
Auge,
Die Weite deiner Welt zu sehen und zu hören.
O Jahve, gib mir mehr Herz,
Die Vielfalt deiner Welt zu begreifen.
O Jahve, gib mir mehr Stimme,
Die Größe deiner Welt zu bekennen.
Merkt auf, Völker, und hört gut zu,
Nationen.
Spart nicht, spricht Jahve, mit dem Geist, den ich
über euch ausgoß.
Verschwendet euch, geht die Stimme des Herrn,
Denn ich speie aus denjenigen, der knausert.
Und wer eng hält sein Herz und sein Vermögen,
Von dem wende ich mein Antlitz.
Reiße dich los von deinem Anker, spricht
Jahve.
Ich liebe nicht, die im Hafen verschlammen.
Ein Greuel sind mir, die verfaulen im Gestank ihrer
Trägheit.
Ich habe dem Menschen Schenkel gegeben, ihn zu tragen
über die Erde,
Und Beine zum Laufen,
Daß er nicht stehen bleibe wie ein Baum in
seinen Wurzeln.
Denn ein Baum hat nur eine Nahrung. Aber der Mensch nähret sich von
allem,
Was ich geschaffen habe unter dem Himmel. Ein
Baum kennt immer nur das gleiche,
Aber der Mensch hat Augen, daß er das Fremde
in sich einschlinge,
Und eine Haut, das andere zu tasten und zu
schmecken.
Lobet Gott und verschwendet euch über die
Länder. Lobet Gott und vergeudet euch über die Meere. Ein Knecht
ist, wer sich festbindet an ein einziges Land. Nicht Zion heißt das
Reich, das ich euch gelobte, Sein Name heißt: Erdkreis.
So machte sich Josef aus einem Bürger Judäas
zum Bürger der Welt und aus dem Priester Josef Ben Matthias zu dem
Schriftsteller Flavius Josephus.
Es gab auch in Alexandrien Anhänger der »Rächer
Israels«. Trotz der damit verbundenen Gefahr ließen sich selbst auf
den Straßen Leute mit der verpönten Feldbinde sehen, die die
Initialen Makkabi trug: »Wer ist wie du, o Herr?« Die Makkabi-Leute
hatten Josef, dem Verräter ihrer Sache, seit seiner Ankunft auf
jede Art ihre Verachtung bezeigt. Nach seinem Zusammenstoß mit dem
Weißbeschuhten Chäreas waren sie ein wenig stiller geworden. Jetzt
aber nach dem Psalm des Weltbürgers eiferten sie mit doppeltem
Geschrei gegen den zweideutigen, vielbemakelten Mann.
Josef lachte zunächst. Bald aber
mußte er merken, wie die Agitation der »Rächer Israels« auch die
Gemäßigten ergriff, wie sogar die Herren des Großen Gemeinderats
von ihm abzurücken begannen. Wohl dachten die jüdischen Führer
Alexandriens in ihrem Herzen wie er: aber für die Majorität der
Gemeinde war der Psalm des Weltbürgers wüste Ketzerei, und kaum
zwei Wochen nach der Veröffentlichung dieses Psalms kam es in der
Hauptsynagoge zum Skandal.
Wenn ein Jude Alexandriens
glaubte, der Großmeister und seine Beamten hätten in einer
wichtigen Sache ein ungerechtes Urteil gefällt, dann erlaubte ihm
ein alter Brauch, an die ganze Gemeinde zu appellieren, und zwar am
Sabbat, vor der geöffneten Rolle der Schrift. Die heilige Handlung
des Sabbats, die Vorlesung aus der Schrift, mußte so lange
inhibiert werden, bis die ganze Gemeinde in sofortigem Entscheid
über eine solche Klage befunden hatte. Diesen Entscheid anzurufen
aber war gefährlich; denn gab die Gemeinde dem Kläger nicht statt,
dann wurde er auf drei Jahre in den Großen Bann getan. Infolge
solcher Strenge wurde von dem Recht nur selten Gebrauch gemacht; in
den letzten zwei Jahrzehnten war es nur dreimal
geschehen.
Jetzt, als Josef sich nach der
Veröffentlichung seiner Verse zum erstenmal in der großen
Hauptsynagoge zeigte, geschah es ein viertes Mal. Es war der
Sabbat, an dem der Abschnitt verlesen werden sollte, der mit den
Worten beginnt: »Und es erschien ihm Jahve unter den Terebinthen
Mamres.« Kaum war die Schriftrolle auf die große Kanzel gebracht
worden, von der aus die Vorlesung statthaben sollte, kaum war die
Rolle ihres kostbaren Mantels entkleidet und geöffnet worden, da
stürmte der Führer der Makkabi-Leute mit einigen seiner Anhänger
die Kanzel, und sie verboten die Vorlesung. Sie erho ben Klage
gegen Josef Ben Matthias. Wohl hätten die Juristen in der Gemeinde
unter Zitierung allerlei verzwickter Klauseln erklärt, der Bann
Jerusalems sei jetzt für Alexandrien nicht wirksam. Die weitaus
meisten unter den Juden Alexandriens aber dächten anders. Dieser
Mann Josef Ben Matthias sei schuld an dem Unheil in Galiläa und
Jerusalem, er sei ein doppelter Verräter. Allein seine
schimpfliche, knechtische Ehe mit der Beischläferin des Vespasian
genüge, ihn aus der Gemeinschaft der Synagoge auszuschließen. Unter
stürmischer Zustimmung verlangte der Redner, daß Josef aus dem
heiligen Raum hinausgewiesen werde.
Josef stand sehr still, die
Lippen fest geschlossen. Die Hunderttausend hier in der Synagoge,
das waren doch die gleichen, die ihm vor wenigen Wochen zugejubelt
hatten: Marin, Marin. Waren es jetzt so wenige, die sich für ihn
rührten? Er schaute auf den Großmeister Theodor Bar Daniel und die
siebzig Herren auf den goldenen Stühlen. Die saßen, blasser als
ihre Gebetmäntel, und taten den Mund nicht auf. Nein, die konnten
ihn nicht schützen und schützten ihn nicht. Auch daß er der Freund
des Kaisers war, schützte ihn nicht. Er wurde mit Schande aus der
Synagoge ausgewiesen.
Manche, als sie ihn so kahl
hinausgehen sahen, sagten sich: Das ist, weil ein Rad in der Welt
ist. Es ist ein Schöpfrad, es geht hoch und sinkt, und den leeren
Eimer füllt es und den vollen leert es aus. Und diesen hat es jetzt
getroffen; denn gestern war er noch stolz, und heute ist er
überdeckt mit Schande.
Josef selber schien die Sache nicht sehr
ernst zu nehmen. Er lebte weiter sein glänzendes Leben wie bisher,
mit Frauen, mit Literaten und Schauspielern, ein hochgeehrter Gast
in den verschwenderischen Zirkeln von Canopus. Prinz Titus
zeichnete ihn noch sichtbarer aus als bisher und zeigte sich fast
immer in seiner Gesellschaft.
Aber wenn Josef allein war, in
seinen Nächten, war er krank vor Bitterkeit und Schmach. Seine
Gedanken kehrten sich gegen ihn selber. Er war unrein, er war voll
Aussatz innen und außen, kein Titus konnte ihm seinen Grind
abkratzen. Seine Schande war greifbar, jeder konnte sie sehen. Sie
hatte einen Namen, sie hieß Mara. Er mußte diesen Quell seines
Übels zuschütten und für immer.
Nach einigen Wochen, ohne mit
irgendwem Rates darüber gepflogen zu haben, ging er zum Oberrichter
der Gemeinde, dem Doktor Basilid. Josef hatte sich seit seiner
Austreibung bei keinem der großen jüdischen Herren sehen lassen.
Dem Oberrichter war der Besuch unbehaglich. Er suchte nach
irgendwelchen vermittelnden Worten, wand sich, machte ein paar
lahme Redensarten. Aber Josef zog den zerrissenen Priesterhut
heraus, wie es der Ritus für seinen Fall vorschrieb, legte ihn vor
dem Oberrichter nieder, riß das Kleid ein und sagte: »Mein Doktor
und Herr, ich bin Ihr Knecht und Untergebener Josef Ben Matthias,
früher Priester der Ersten Reihe in Jerusalem. Ich habe begangen
die Sünde des bösen Triebs. Ich habe ein Weib geheiratet, das zu
heiraten mir verboten war, eine Kriegsgefangene, die gehurt hatte
mit den Römern. Ich bin schuldig der Strafe der Ausrottung.« Doktor
Basilid, der Oberrichter, wurde blaß, als Josef diese Worte sprach;
er wußte gut, was sie zu bedeuten hatten. Es dauerte eine Weile,
ehe er die Antwort gab, die die Formel vorschrieb: »Die Strafe der
Ausrottung, Sündiger, steht nicht bei den Menschen, sie steht bei
Gott.« Und Josef ging weiter und fragte gemäß der Formel: »Gibt es
ein Mittel, mein Doktor und Herr, durch das der Sündiger die Strafe
der Ausrottung von sich und seinem Geschlecht abwenden kann?« Der
Oberrichter erwiderte: »Wenn der Sündiger die Strafe der vierzig
Schläge auf sich nimmt, dann übt Jahve Gnade. Aber der Sündiger muß
um diese Strafe bitten.« Josef sagte: »Ich bitte, mein Doktor und
Herr, um die Strafe der vierzig Schläge.«
Als bekannt wurde, daß Josef die
Strafe der Geißelung auf sich nehmen wollte, gab es ein ungeheures
Aufsehen in der Stadt Alexandrien; die Geißelung wurde nicht oft
vollzogen, gewöhnlich nur an Leibeigenen. Die Makkabi-Leute zogen
die Brauen hoch und verstummten, und manche, die in der Synagoge
bei der Austreibung Josefs mit am lautesten geschrien hatten,
bereuten es in ihrem Herzen. Die Weißbeschuhten aber beschmierten
alle Hauswände mit Karikaturen des gegeißelten Josef, und in den
Kneipen sang man Couplets.
Die jüdischen Behörden gaben den
Termin der Exekution nicht bekannt. Dennoch war am festgesetzten
Tag der Hof der Augustäer-Synagoge voll von Menschen, und die
Straßen ringsum gurgelten von Neugierigen. Blaßbraun und hager, die
heftigen Augen gradaus, ging Josef den Weg zum Oberrichter. Er
legte die Hand auf die Stirn; sehr laut, daß man es bis in den
letzten Winkel hören konnte, sagte er: »Mein Doktor und Herr, ich
habe begangen die Sünde des bösen Triebs. Ich bitte um die Strafe
der vierzig Schläge.« Der Oberrichter erwiderte: »So übergebe ich
dich dem Gerichtsdiener, Sündiger.«
Der Büttel Ananias Bar Akaschja
winkte seinen beiden Gehilfen, und sie rissen Josef die Kleider vom
Leib. Der Arzt trat hinzu, untersuchte ihn, ob er fähig sei, die
Geißelung derart zu überstehen, daß ihm nicht unter der Geißel Harn
und Kot abgingen; denn das war Entwürdigung, und das Gesetz schrieb
vor: »Dein Bruder soll nicht entwürdigt werden in deinen Augen.« Es
war der Oberarzt der Gemeinde, der Josef untersuchte, Julian. Er
tastete ihn ab, prüfte besonders Herz und Lunge. Viele unter den
Zuschauern glaubten, der Arzt werde den Josef für unfähig erklären,
die ganze Geißelung durchzuhalten, oder höchstens für fähig weniger
Hiebe. In seinem Innern hoffte selbst Josef auf einen ähnlichen
Befund. Aber der Arzt wusch sich die Hände und erklärte: »Der
Sündiger ist fähig der vierzig Hiebe.«
Der Büttel hieß Josef
niederknien. Die Gehilfen banden seine beiden Hände an einen Pfahl,
so daß seine Knie Abstand von dem Pfahl hielten, und alle sahen,
wie die glatte, blasse Haut seines Rückens sich dehnte. Dann banden
sie ihm einen schweren Stein um die Brust, so daß der Oberkörper
niedergezogen wurde. Der Büttel Ananias Bar Akaschja ergriff die
Geißel. Umständlich, während man sah, wie Josefs Herz gegen die
Rippen schlug, befestigte der Büttel den breiten Riemen aus
Ochsenleder am Griff, prüfte ihn, machte ihn loser, straffer,
wieder loser. Die Spitze des Riemens mußte den Bauch des
Gezüchtigten erreichen. Das war Vorschrift.
Der Oberrichter begann, die
beiden Schriftverse zu lesen über die Geißelung. »So soll es
geschehen: wenn Schläge verdient der Sündiger, so läßt der Richter
ihn hinlegen, und man schlägt ihn vor seinem Angesicht nach Maßgabe
seiner Sünde an Zahl. Vierzig Schläge schlägt man ihn, nicht mehr.
Daß er nicht mehr gebe als diese, der Schläge zuviel, und dein
Bruder entwürdigt werde in deinen Augen.« Der Büttel hieb dreizehn
Streiche auf den Rücken. Der zweite Richter zählte, dann netzten
die Gehilfen den Sündiger. Dann sagte der dritte Richter: schlage,
und der Büttel hieb dreizehn Schläge auf die Brust. Dann wieder
netzten die Gehilfen den Sündiger. Zuletzt hieb der Büttel nochmals
dreizehn Streiche auf den Rücken. Es war sehr still, während er
zuschlug. Man hörte die Hiebe scharf aufklatschen, man hörte den
gepreßten, pfeifenden Atem Josefs, sah sein flatterndes
Herz.
Josef lag gebunden und rang unter
der Geißel nach Atem. Die Hiebe waren kurz und scharf, aber der
Schmerz war wie ein endloses, bewegtes Meer; er kam in hohen
Wellen, nahm Josef weg, verebbte, ließ Josef hochtauchen, kam
wieder und brach über ihm zusammen. Josef keuchte, pfiff, roch den
Geruch des Blutes. Dies alles geschah um Maras willen, der Tochter
des Lakisch, er hatte sie begehrt, er haßte sie, jetzt ließ er sie
aus seinem Blut herauspeitschen. Er betete: Aus den Tiefen schrei
ich zu dir, o Herr. Er zählte die Schläge, aber die Zahlen
verwirrten sich ihm, es waren schon viele hundert Schläge, und sie
schlugen ihn immer weiter. Das Gesetz schreibt vor, es sollten
nicht vierzig Schläge sein, sondern neununddreißig; denn es stand
geschrieben: »an Zahl«, und das ist gleich: »ungefähr«, und somit
sollten es nur neununddreißig sein. Oh, wie mild war das Gesetz der
Doktoren. Oh, wie hart war die Schrift. Wenn sie jetzt nicht
aufhören, dann wird er sterben. Es war ihm, Jochanan Ben Sakkai
werde sagen, daß sie aufhören sollten. Der Großdoktor war in Judäa,
in Jerusalem oder in Jabne, aber trotzdem, er wird dasein, er wird
seinen Mund auftun. Es kommt nur darauf an, daß Josef aushält bis
dahin. Der Boden und der Pfahl vor ihm verschwimmt, allein Josef
reißt sich zusammen. Es ist ihm geboten, klar zu sehen, Boden und
Pfahl genau zu erkennen, bis Jochanan Ben Sakkai kommt. Aber
Jochanan Ben Sakkai kam nicht, und schließlich verlor Josef doch
Gesicht und Erkenntnis. Ja, beim vierundzwanzigsten Streich wurde
er ohnmächtig und lag leblos in den Stricken. Aber nachdem man ihn
genetzt hatte, kam er wieder zu sich, und der Arzt sagte: er ist
fähig, und der Richter sagte: schlage weiter.
Unter den Zuschauern war die
Prinzessin Berenike. Es gab keine Tribünen, keine gesonderten
Plätze. Aber sie hatte schon in der Nacht zuvor ihren kräftigsten
kappadokischen Leibeigenen geschickt, ihr einen Platz frei zu
halten. Nun stand sie in der zweiten Reihe, gepreßt zwischen vielen
andern, die langen Lippen halb offen, hart atmend, die dunkeln
Augen beharrlich auf den Gegeißelten gerichtet. Im Hof war es
lautlos still. Man hörte nur die Stimme des Oberrichters, der die
Schriftverse verlas, sehr langsam, dreimal im ganzen, und von weit
her aus den Straßen das Gejohl der Massen. Sehr aufmerksam sah
Berenike zu, wie dieser hochmütige Josef die Hiebe auf sich nahm,
um von der Hure loszukommen, an die er seinen Namen hatte binden
müssen. Ja, er war in Wahrheit ihr Vetter. Er befaßte sich nicht
mit kleinen Sünden und nicht mit kleinen Tugenden. Sich tief
demütigen, um dann um so stolzer hochzutauchen, das begriff sie.
Sie hatte selber in der Wüste die Wollust solcher Demütigungen
gekostet. Sie stand sehr blaß; es war nicht leicht, zuzuschauen,
aber sie schaute zu. Sie bewegte lautlos die Lippen, zählte
mechanisch mit. Sie war froh, als der letzte Schlag gefallen war;
aber sie hätte noch länger stehen und es mit ansehen können. Ihre
Zähne waren trocken geworden unter ihren langen Lippen.
Josef wurde bewußtlos und blutig
in das Gemeindehaus getragen. Man wusch ihn, unter der Aufsicht des
Arztes Julian, salbte ihn, flößte ihm einen Trank ein aus Wein und
Myrrhen. Als er zu sich kam, sagte er: »Gebt dem Büttel zweihundert
Sesterzien.«
Mara, die Tochter des Lakisch, indes ging
beglückt umher, sich freuend auf das Kind, das sie gebären sollte,
es mit tausend Sorgen hütend. Sie war sehr arbeitsam, aber jetzt
drehte sie nicht die Handmühle, auf daß das Kind kein Trunkenbold
werde. Sie aß keine unreifen Datteln, auf daß es nicht Triefaugen
bekomme, trank kein Bier, auf daß sein Teint nicht schlecht werde,
aß keinen Senf, um es vor Schlemmerei zu behüten. Hingegen aß sie
Eier, auf daß die Augen des Kindes sich vergrößerten, Meerbarben,
auf daß es den Menschen wohlgefällig werde, und Zitronat, auf daß
es angenehm rieche. Ängstlich ging sie allem Häßlichen aus dem Weg,
um sich nicht zu versehen, beflissen suchte sie den Anblick schöner
Menschen. Mit Mühe verschaffte sie sich einen zauberkräftigen
Adlerstein, der, von Natur innen hohl, einen kleineren Stein in
sich schloß, ein Bild der Gebärmutter, die, obzwar nach innen
geöffnet, die Frucht nicht herausfallen läßt.
Als es soweit war, setzte man
Mara in den Gebärstuhl, ein Gestell aus Lattenwerk, in dem sie halb
sitzen, halb liegen konnte, und band eine Henne an das Gestell,
damit ihr Geflatter die Geburt beschleunige. Es war eine
schmerzhafte Geburt, noch Tage später verspürte Mara die bittere
Kälte an den Hüften. Die Hebamme sprach beschwörend auf sie ein,
zählte, rief sie bei Namen, zählte.
Dann aber war das Kind da, und
siehe, es war ein Knabe. Blauschwarz, schmutzig, voll Schleim und
Blut war seine Haut, aber er schrie, und er schrie so, daß sein
Schrei von der Wand widerhallte. Das war ein gutes Zeichen, und
auch daß das Kind an einem Sabbat zur Welt kam, war ein gutes
Zeichen. Man nahm warmes Wasser zum Bad, trotz des Sabbats, und man
goß Wein in das Badewasser, kostbaren Wein von Eschkol. Vorsichtig
renkte man die Glieder des Kindes aus, und man bestrich seinen
weichen Schädel mit einem Brei aus unreifen Trauben, um Geziefer zu
verscheuchen. Man salbte es mit warmem Öl, bestreute es mit dem
Pulver von zerstoßenen Myrrhen, wickelte es in feines Linnen; Mara
hatte an ihren Kleidern gespart, um das beste Linnen für das Kind
zu erwerben.
Janik, Janiki, oder wohl auch
Jildi, mein Kind, mein Kindchen, mein Baby, sagte Mara, und stolz
am andern Tag ließ sie eine Zeder pflanzen, weil es ein Knabe
war.
Die ganzen neun Monate hindurch
hatte sie darüber nachgedacht, welchen Namen sie dem Knaben geben
sollte. Aber jetzt, in der Woche vor der Beschneidung, da sie sich
entscheiden mußte, schwankte sie lange. Endlich entschied sie sich.
Sie ließ den Schreiber kommen und diktierte ihm einen
Brief:
»Mara, Tochter des Lakisch, grüßt
ihren Herrn, Josef, den
Sohn des Matthias, Priester der Ersten Reihe,
den Freund des Kaisers.
O Josef, mein Herr, Jahve hat
gesehen, daß Deine Magd mißfällig war vor Deinem Angesicht, und er
hat meinen Leib gesegnet und hat mich gewürdigt, daß ich Dir einen
Sohn gebäre. Er ist an einem Sabbat geboren, und er wiegt sieben
Litra und fünfundsechzig Zuz, und sein Schrei kam von der Wand
zurück. Ich habe ihn Simeon genannt, das ist der Sohn der Erhörung,
denn Jahve hat mich erhört, als ich mißfällig war. Josef, mein
Herr, sei gegrüßt und werde groß in der Sonne des Kaisers, und der
Herr lasse sein Antlitz leuchten über Dir.
Und iß keinen Palmkohl, weil es
Dich dann gegen die Brust drückt.«
Um die gleiche Zeit, noch bevor er diesen
Brief erhalten hatte, stand Josef im Zeremoniensaal der Gemeinde
von Alexandrien. Er war noch blaß und sehr mitgenommen von der
Geißelung, aber er hielt sich aufrecht. Neben ihm standen als
Zeugen der Großmeister Theodor Bar Daniel und der Präsident der
Augustäer-Gemeinde, Nikodem. Der Oberrichter Basilid selber führte
den Vorsitz, und drei Doktoren fungierten als Richter. Der erste
Sekretär der Gemeinde schrieb nach dem Diktat des Oberrichters, er
schrieb vorschriftsmäßig auf Pergament aus Kalbshaut, er schrieb
mit dem Gänsekiel und tiefschwarzer Tinte, und sah zu, daß das
Dokument genau zwölf Zeilen umfaßte nach dem Ziffernwert des Wortes
Get, des hebräischen Wortes für Scheidebrief.
Josef, während der Gänsekiel über
das Pergament knirschte, hörte in seinem Herzen ein Geräusch,
lauter als dieses Knirschen. Es war aber jenes scharfe Geräusch,
mit dem Mara, Tochter des Lakisch, ihr Kleid zerrissen hatte und
ihre Sandalen, wortlos, umständlich, als sie in jenem grauen Morgen
zurückkam von dem Römer Vespasian. Josef glaubte, er habe dieses
Geräusch vergessen, jetzt aber war es wieder da und war sehr laut,
lauter als das Knirschen des Kiels. Aber er machte sein Ohr taub
und sein Herz stumpf.
Der Sekretär aber schrieb
folgendes: »Am siebzehnten Tag des Monats Kislew im Jahre
dreitausendachthundertdreißig nach Erschaffung der Welt in der
Stadt Alexandrien am Ägyptischen Meer.
Ich, Josef Ben Matthias, genannt
Flavius Josephus, der Jude, der ich mich heute in der Stadt
Alexandrien am Ägyptischen Meer befinde, habe eingewilligt aus
freiem Willen und ohne Zwang, Dich zu entlassen, loszulösen und zu
scheiden, Dich, meine Ehefrau Mara, Tochter des Lakisch, die sich
heute in der Stadt Cäsarea am Jüdischen Meer befindet. Du warst
bisher mein Weib. Jetzt ab sei frei, entlassen, geschieden von mir,
so daß Dir erlaubt ist, über Dich in Zukunft zu verfügen, und so
daß Du in Zukunft erlaubt bist für jedermann.
Hierdurch erhältst Du von mir die
Urkunde der Entlassung und den Scheidebrief nach dem Gesetz Mosis
und Israels.«
Das Dokument wurde einem
besonderen Vertreter übergeben mit dem schriftlichen Auftrag, es
der Mara, der Tochter des Lakisch, zu überbringen und es ihr in
Gegenwart des Gemeindepräsidenten von Cäsarea sowie von neun andern
erwachsenen jüdischen Männern zu überreichen.
Schon am Tag, nachdem der Kurier
in Cäsarea angelangt war, wurde Mara vorgeladen. Sie hatte keine
Ahnung, worum es sich handeln könne. In Gegenwart des
Gemeindepräsidenten überreichte ihr Josefs Vertreter das
Schriftstück. Sie konnte nicht lesen, sie bat, man möge es ihr
vorlesen. Man las, sie begriff nicht, man las nochmals, erklärte
ihr, sie fiel um. Der Gemeindesekretär riß die Urkunde ein, zum
Zeichen, daß sie vorschriftsmäßig übergeben und verlesen war, nahm
sie zu seinen Akten und stellte dem Kurier ein Zertifikat darüber
aus.
Mara kam nach Hause. Sie begriff,
sie hatte nicht Gunst gefunden vor Josefs Augen. Wenn ein Weib
nicht Gunst findet vor des Mannes Augen, dann hat der Mann das
Recht, sie wegzuschicken. Keiner ihrer Gedanken ging gegen
Josef.
Von jetzt an widmete sie ihre
Tage mit ängstlicher Sorgfalt dem kleinen Simeon, Josefs
Erstgeborenem. Peinlich enthielt sie sich aller Dinge, die ihrer
Milch hätten schaden können, vermied Salzfische, Zwiebeln, gewisse
Gemüse. Sie nannte ihr Kind nicht mehr Simeon, sie nannte es erst
Bar Mëir, das ist Sohn des Leuchtenden, dann Bar Adir, das ist Sohn
des Gewaltigen, dann Bar Niphli, das ist
Sohn der Wolke. Aber der Gemeindepräsident ließ sie ein zweites Mal
kommen und untersagte ihr, ihrem Kind solche Namen zu geben, denn
Wolke und Gewaltiger und Leuchtender waren Beinamen des Messias.
Sie führte ihre Hand an die niedrige Stirn, neigte sich, versprach
Gehorsam. Aber wenn sie allein war, in der Nacht, wenn niemand sie
hörte, dann nannte sie den kleinen Simeon weiter mit diesen
Namen.
Mit Treue hütete sie die
Gegenstände, die Josef einmal angerührt, die Tücher, mit denen er
sich getrocknet, den Teller, aus dem er gegessen hatte. Sie wollte
ihr Kind des Vaters würdig machen. Sie sah voraus, daß da große
Schwierigkeiten sein werden. Denn der Sohn aus der Ehe eines
Priesters mit einer Kriegsgefangenen war nicht anerkannt, er war
ein Bastard, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft. Aber dennoch, sie
mußte einen Weg finden. An Sabbaten, an Festtagen zeigte sie dem
kleinen Simeon die Überbleibsel seines Vaters, die Tücher, den
Teller, und sie erzählte ihm von der Größe seines Vaters und
beschwor ihn, ein Doktor und Herr zu werden wie er.
Josef, nachdem er das Zertifikat
der Scheidung dem zuständigen Gemeindebeamten in Alexandrien
übergeben hatte, wurde in der Hauptsynagoge feierlich zur Vorlesung
aus der Schrift aufgerufen. Seinem priesterlichen Rang zufolge als
Erster. Zum erstenmal seit langer Zeit wieder trug er den
Priesterhut und den blauen, blumendurchwirkten Gürtel der Priester
der Ersten Reihe. Er trat auf die große Kanzel vor die geöffnete
Rolle der Schrift, von der er vor wenigen Wochen weggewiesen worden
war. Unter lautloser Stille der Hunderttausend sprach er den
Segensspruch: »Gelobt seist du, Jahve, unser Gott, der du uns die
wahre Lehre gabst und ewiges Leben uns einpflanztest.« Dann las er
selber mit lauter Stimme den Abschnitt aus der Schrift, der für
diesen Sabbat vorgeschrieben war.
Auf der Höhe des Winters, um den Beginn des
neuen Jahres herum, wußte Vespasian, daß das Reich fest in seiner
Hand sei. Die Arbeit des Soldaten war getan: jetzt begann die
schwie rigere, die des Verwalters. Was vorläufig in Rom in seinem
Namen geschah, war schlecht und unvernünftig. Mucian preßte aus
Italien mit kalter Gier heraus, was immer an Geld vorhanden war,
und des Kaisers jüngerer Sohn, Domitian, den er nie hatte leiden
mögen, ein Liederjan, ein Früchtchen, verteilte als Statthalter des
Kaisers wahllos Sonne und Gewitter. Vespasian schrieb dem Mucian,
er möge dem Land nicht zuviel Purgative verabreichen, es sei einer
auch schon an Diarrhöe gestorben. An das Früchtchen schrieb er, ob
das Früchtchen die Gnade habe, ihn für das nächste Jahr im Amt zu
belassen. Dann beorderte er drei Männer von Rom nach Alexandrien,
den uralten Finanzminister Etrusk, den Hofjuwelier und Direktor der
Kaiserlichen Perlfischereien Claudius Regin und den Verwalter
seiner sabinischen Güter.
Die drei Sachverständigen
tauschten ihre Ziffern aus, prüften sie. Die imperialistische
Orientpolitik des Kaisers Nero und die Wirren nach seinem Tod
hatten riesige Werte zerstört, die Summe der Reichsschulden, die
die drei Männer errechneten, war hoch. Regin übernahm die wenig
dankbare Aufgabe, dem Kaiser diese Summe zu nennen.
Vespasian und der Finanzmann
hatten sich nie gesehen. Jetzt saßen sie sich in bequemen Sesseln
gegenüber. Regin blinzelte, er sah schläfrig aus, er hatte das eine
der fetten Beine über das andere gelegt, seine losen Schuhbänder
baumelten. Er hatte früh auf diesen Vespasian gesetzt, als mit ihm
nur sehr magere Geschäfte zu machen waren. Er war mit der Dame
Cänis in Verbindung getreten, hatte ihr dann, als es um große
Lieferungen für die judäische und für die europäischen Armeen
Vespasians ging, ansehnliche Provisionen gezahlt. Vespasian wußte,
daß sich der Finanzmann in seinen Abrechnungen als anständiger Kerl
erwiesen hatte. Mit seinen hellen, harten Augen schaute er in das
fleischige, traurige, verhängte Gesicht Regins. Die beiden Männer
berochen einander, sie rochen sich nicht schlecht.
Regin nannte dem Kaiser seine
Ziffer. Vierzig Milliarden. Vespasian zuckte nicht zurück.
Vielleicht schnaufte er etwas härter, aber seine Stimme klang
ruhig, als er erwiderte: »Vierzig Milliarden. Sie sind ein mutiger
Mann, und haben Sie nicht einige Posten zu hoch angeschlagen?«
Claudius Regin, gelassen, mit seiner fettigen Stimme, beharrte:
»Vierzig Milliarden. Man muß der Ziffer ins Auge schauen.« – »Ich
schaue ihr ins Auge«, sagte hart schnaufend der Kaiser.
Sie besprachen die notwendigen
geschäftlichen Maßnahmen. Man könnte riesige Gelder hereinbekommen,
wenn man das Vermögen derjenigen konfiszierte, die dem früheren
Kaiser noch nach der Akklamation Vespasians angehangen hatten. Es
war der Tag, an dem der Kaiser nach der Diätvorschrift des Arztes
Hekatäus zu fasten pflegte, und an diesem Tag hatte er den Sinn für
Geschäfte besonders offen. »Sind Sie Jude?« fragte er unvermittelt.
»Halbjude«, erwiderte Regin, »aber ich sehe jedes Jahr jüdischer
aus.« – »Ich wüßte ein Mittel«, Vespasian verengerte die Augen,
»die Hälfte der vierzig Milliarden auf einmal loszuwerden.« – »Ich
bin neugierig«, sagte Claudius Regin. »Wenn ich anordnete«,
überlegte Vespasian, »daß in der Hauptsynagoge ein Standbild von
mir aufgestellt werden muß ...« – »Dann würden die Juden
aufbegehren«, ergänzte Claudius Regin. »Richtig«, sagte der Kaiser.
»Dann könnte ich ihnen ihr Geld abnehmen.« – »Richtig«, sagte
Claudius Regin. »Das ergäbe schätzungsweise zwanzig Milliarden.« –
»Sie sind ein schneller Rechner«, lobte der Kaiser. »Sie hätten
dann die erste Hälfte der Schulden gedeckt«, meinte Claudius Regin.
»Aber die zweite würden Sie niemals decken können; denn Wirtschaft
und Kredit, nicht nur im Orient, wären für immer zerstört.« – »Ich
fürchte, Sie haben recht«, seufzte Vespasian. »Aber Sie müssen
zugeben, der Gedanke ist verlockend.« – »Ich gebe es zu«, lächelte
Claudius Regin. »Schade, daß wir beide zu gescheit dafür
sind.«
Regin mochte die alexandrinischen
Juden nicht leiden. Sie waren ihm zu protzig, zu elegant. Auch
verdroß ihn, daß sie auf die römischen Juden wie auf
kompromittierende arme Verwandte herabschauten. Allein, was der
Kaiser vorschlug, erschien ihm zu radikal. Er wird später für die
alexandrinischen Juden andere Abzapfungen aussinnen, nicht solche,
daß sie daran verbluten, aber immerhin solche, daß sie an ihn
denken sollen.
Vorläufig empfahl er dem Kaiser
eine andere Steuer, die alle traf und die bisher im Osten noch
keiner gewagt hatte: eine Steuer auf gesalzene Fische und
Fischkonserven. Er verhehlte nicht das Gefährliche einer solchen
Steuer. Die Alexandriner hatten Schnauzen wie die Schwertfische,
und der Kaiser wird von ihnen allerhand zu hören bekommen. Allein
Vespasian hatte keine Angst vor Couplets.
Die Sympathie der Alexandriner
für den Kaiser schlug, als die Salzfischsteuer ausgeschrieben
wurde, jäh um. Sie schimpften wild über die Verteuerung dieses sehr
geliebten Nahrungsmittels, und einmal, bei einer Ausfahrt, bewarfen
sie ihn mit faulen Fischen. Der Kaiser lachte schallend. Kot,
Pferdeäpfel, Rüben, jetzt faule Fische. Es amüsierte ihn, daß er
auch als Kaiser aus dieser Materie nicht herauskam. Er ordnete eine
Untersuchung an, und die Unruhstifter mußten an seine
Vermögensverwaltung ebenso viele goldene Fische liefern, als sich
faule Fische in seinem Wagen vorgefunden hatten.
Den Josef sah Vespasian selten in
diesen Tagen. Er war gewachsen mit seinem Amt, er war seinem Juden
ferner gerückt, war fremd geworden, westlich, ein Römer.
Gelegentlich sagte er zu ihm: »Ich höre, Sie haben sich wegen
irgendeines Aberglaubens vierzig Schläge aufpfeffern lassen. Ich
wollte«, seufzte er, »ich könnte meine vierzig Milliarden auch
durch vierzig Schläge ablösen.«
Josef und Titus lagen in der offenen
Speisehalle der Villa in Canopus, in welcher der Prinz einen großen
Teil seiner Zeit zuzubringen pflegte. Sie waren allein. Es war ein
milder Wintertag; man brauchte, trotzdem es gegen Abend ging, die
offene Halle noch nicht zu verlassen. Das Meer lag still, die
Zypressen rührten sich nicht. Langsam stelzte der Lieblingspfau des
Prinzen durch den Raum, Speisereste aufpickend.
Josef konnte von seinem Sofa aus
durch die weite Wandöffnung die tiefer liegende Terrasse und den
Garten übersehen. »Sie lassen die Buchsbaumhecke in einen
Buchstaben umformen, mein Prinz?« fragte er und wies mit dem Kopf
auf die unten arbeitenden Gärtner. Titus kaute an einem Stückchen
Konfekt. Er war in guter, freimütiger Laune; sein breites
Knabengesicht über dem etwas zu kurzen Körper lächelte. »Jawohl,
mein Jude«, sagte er, »ich lasse die Buchsbaumhecke in einen
Buchstaben umformen. Ich lasse auch die Buchsbäume meiner
alexandrinischen Villa in einen Buchstaben umformen, auch die
Zypressen.« – »In den Buchstaben B?« lächelte Josef. »Du bist
schlau, mein Prophet«, sagte Titus. Er rückte näher; Josef saß,
Titus lag, die Arme überm Kopf, und schaute zu ihm auf. »Sie
findet«, sagte er vertraulich, »ich sehe meinem Vater ähnlich. Sie
mag meinen Vater nicht. Ich kann das verstehen; aber ich finde, ich
sehe ihm immer weniger ähnlich. Ich habe es nicht leicht mit meinem
Vater«, klagte er. »Er ist ein großer Mann, er kennt die Menschen,
und wer, wenn er die Menschen kennt, sollte sich nicht über sie
lustig machen? Aber er tut es ein bißchen gar zu üppig. Jüngst, bei
Tafel, als der General Prisk sich dagegen verwahrte, zu dick zu
sein, hieß er ihn glatt seinen Hintern entblößen. Es war großartig,
wie die Prinzessin einfach vor sich hin schaute. Sie saß still, sah
nichts, hörte nichts. Wir können das nicht«, seufzte er. »Wir
werden da verlegen oder grob. Wie kann man das machen, daß einen so
etwas Plumpes nicht anrührt?« – »Es ist nicht schwer«, sagte Josef,
den Blick auf den Gärtnern, die an den Buchsbäumen beschäftigt
waren. »Sie müssen nur dreihundert Jahre hindurch ein Reich
beherrschen, dann kommt es von selbst.« Titus sagte: »Du bist sehr
stolz auf deine Kusine, aber du hast Ursache. Ich kenne doch nun
Frauen aus allen acht Windrichtungen. Im Grunde ist es immer das
gleiche, und mit ein bißchen Routine hat man sie bald an dem Punkt,
wo man sie haben will. Sie kriege ich nicht an den Punkt. Hast du
gewußt, daß ein Mann in meinen Jahren und in meiner Stellung
schüchtern sein kann? Vor ein paar Tagen habe ich ihr gesagt:
›Eigentlich sollte man Sie zur Kriegsgefangenen erklären; denn mit
dem Herzen sind Sie bei den »Rächern Israels«.‹ Sie sagte einfach
ja. Ich hätte weitergehen sollen, ich hätte sagen sollen: Da du
also eine Kriegsgefangene bist, so nehme ich dich als meinen
privaten Beuteanteil. Jeder andern Frau hätte ich das gesagt, und
ich hätte sie genommen.« Sein verwöhntes Knabengesicht war geradezu
bekümmert.
Josef, sitzend, sah hinunter auf
den Prinzen. Josefs Antlitz war härter geworden und zeigte,
unbeobachtet, oft einen erschreckend finstern Hochmut. Er wußte
jetzt wiederum ein gut Teil besser, was Macht ist, was Demut und
was Demütigung, was Wollust ist, Schmerz, Tod, Erfolg, Aufstieg,
Niederbruch, freier Wille und Gewalt. Es war ein wohlerworbenes
Wissen, nicht unterm Preis bezahlt. Er hatte den Prinzen gern. Er
stieß bei ihm rasch auf Verständnis und Gefühl, und er hatte ihm
viel zu verdanken. Jetzt aber, bei allem Wohlwollen, sah er aus
diesem seinem teuer erkauften Wissen heraus auf ihn hinunter. Er,
Josef, wurde mit Frauen fertig, für ihn war Berenike nie ein
Problem gewesen, und er an Stelle des Prinzen wäre längst mit
dieser Sache zu Rande gekommen.
Aber es war gut, daß es war, wie
es war, und als nun der Prinz den Josef bat, knabenhaft,
vertrauensvoll und ein wenig geniert, er möge ihm doch raten, wie
er sich zu Berenike stellen solle, um voranzukommen, und er möge
bei der Prinzessin für ihn wirken, da sagte er das erst nach
einigem Nachdenken zu und tat, als sei es eine schwierige
Aufgabe.
Es war keine schwere Aufgabe.
Berenike hatte sich seit seiner Geißelung verändert. Statt jenes
Fließenden aus Haß und Neigung war jetzt zwischen ihnen eine ruhige
Gemeinsamkeit, herrührend aus Verwandtschaft des Wesens und
Ähnlichkeit des Ziels.
Berenike machte sich vor Josef
nicht kostbar; rückhaltlos ließ sie ihn in ihr Leben hineinschauen.
Oh, sie hat sich nie lange geziert, wenn ihr ein Mann gefiel. Sie
hat mit manchem Manne geschlafen, sie hat Erfahrungen. Aber lang
gedauert hat eine solche Bindung nie. Es sind nur zwei Männer, die
sie sich nicht aus ihrem Leben fortdenken könnte. Der eine ist
Tiber Alexander, mit dem sie verwandt ist. Kein junger Mann mehr,
nicht jünger als der Kaiser. Aber wie großartig biegsam, wie
höflich und geschmeidig ist er bei aller Härte und Entschiedenheit.
Ebenso fest wie der Kaiser und trotzdem niemals plump und bäurisch.
Er ist ein großer Soldat, er hält seine Legionen in strengster
Zucht und kann sich dennoch jeden Umweg der Höflichkeit und des
Geschmacks leisten. Und dann ist da ihr Bruder. Die Ägypter sind
weise, wenn sie von ihren Königen verlangen, daß Bruder und
Schwester sich paaren. Ist Agrippa nicht der klügste Mann der Welt
und der vornehm ste, mild und stark wie Wein später Lese? Man wird
weise und gut, wenn man nur an ihn denkt, und die Zärtlichkeit für
ihn macht einen reich. Josef nimmt nicht zum erstenmal wahr, wie
ihr kühnes Gesicht sich sänftigt, wenn sie von ihm spricht, und
ihre langen Augen sich verdunkeln. Er lächelt, er ist ohne Neid. Es
gibt Frauen, die, auch wenn sie von ihm sprechen, sich so
verändern.
Vorsichtig lenkt er auf Titus.
Gleich fragt sie: »Sollen Sie vorfühlen, mein Doktor Josef? Titus
kann höllisch klug sein; aber wenn es um mich geht, wird er
linkisch, und sein Ungeschick steckt sogar einen so geschickten
Menschen wie Sie an. Er ist täppisch, mein Titus, ein riesiges
Baby. Man kann wirklich nicht anders zu ihm sagen als Janik. Er hat
sich für dieses Wort ein eigenes stenographisches Zeichen
ausgedacht, so oft sage ich es. Er schreibt nämlich fast alles mit,
was ich sage. Er hofft, Sätze zu finden, auf die er mich dann
festlegen kann. Er ist ein Römer, ein guter Jurist. Sagen Sie, ist
er eigentlich gutmütig? Die meiste Zeit des Tages ist er gutmütig.
Dann plötzlich macht er, einfach aus Neugier, Experimente, bei
denen Tausende von Existenzen draufgehen, ganze Städte. Er bekommt
unangenehm kalte Augen dann, und ich wage nicht, ihm einzureden.« –
»Er gefällt mir sehr, ich bin mit ihm befreundet«, sagte ernsthaft
Josef.
»Ich habe oft Angst um den
Tempel«, sagte Berenike. »Wenn Gott ihm die Neigung zu mir
eingeflößt hat, sagen Sie selbst, Josef, kann es zu anderm Zweck
sein, als um seine Stadt zu retten? Ich bin sehr bescheiden
geworden. Ich denke nicht mehr daran, daß von Jerusalem aus die
Welt regiert werden soll. Aber bleiben muß die Stadt. Sie dürfen
das Haus Jahves nicht zertreten.« Und still und angstvoll, mit
schlichter, großer Gebärde die Handflächen nach außen drehend,
fragte sie: »Ist das schon zuviel?«
Josef verfinsterte sich. Er
dachte an Demetrius Liban, er dachte an Justus. Aber er dachte auch
an Titus, wie er neben ihm gelegen war, aus offenen,
freundschaftlichen Knabenaugen zu ihm aufschauend. Nein, es war
unmöglich, daß dieser junge, freundliche Mensch mit seinem Respekt
vor altem, heiligem Gut seine Hand gegen den Tempel heben würde.
»Vor Jerusalem wird Titus kein böses Experiment machen«, sagte er
mit großer Bestimmtheit.
»Sie sind sehr zuversichtlich«,
sagte Berenike. »Ich bin es nicht. Ich weiß nicht, ob er mir nicht
schon aus der Hand geglitten wäre, wenn ich ein Wort gegen seine
Experimente gewagt hätte. Er schaut mir nach, wenn ich gehe, er
findet mein Gesicht besser geschnitten als andere, nun ja, wer tut
das nicht?« Sie trat ganz nahe an Josef heran, legte ihm ihre Hand
auf die Schulter, eine weiße, gepflegte Hand, und man sah nichts
mehr von den Rissen und Schrunden der Wüste. »Wir kennen die Welt,
mein Vetter Josef. Wir wissen, daß der Trieb des Menschen immer da
ist, daß er stark ist und daß ein Kluger viel erreichen kann, wenn
er den Trieb des Menschen zu verwerten weiß. Ich danke Gott, daß er
dem Römer diese Begier eingepflanzt hat. Aber, glauben Sie mir,
wenn ich heute mit ihm schlafe, dann wird er, wenn er seine
neugierigen Augen bekommt, auf mein Wort bestimmt nicht mehr
achten.« Sie setzte sich; sie lächelte, und Josef erkannte, daß sie
ihren Weg weit voraussah. »Ich werde ihn knapphalten«, schloß sie
kühl, rechnerisch, »ich werde ihn nicht zu nah heranlassen.« – »Sie
sind eine kluge Frau«, anerkannte Josef. »Ich will, daß der Tempel
nicht zerstört werde«, sagte Berenike.
»Was soll ich meinem Freunde
Titus sagen?« überlegte laut Josef. »Hören Sie gut zu, mein Vetter
Josef«, forderte Berenike ihn auf. »Ich warte auf ein Vorzeichen.
Sie kennen das Dorf Thekoa, bei Bethlehem. Dort hat mein Vater bei
meiner Geburt einen Pinienhain gepflanzt. Obwohl jetzt im
Bürgerkrieg harte Kämpfe um Thekoa waren, hat der Hain nicht
gelitten. Hören Sie gut zu. Wenn der Hain noch steht zur Zeit, da
die Römer in Jerusalem einziehen, dann mag mir Titus ein Brautbett
aus dem Holz meiner Pinien machen lassen.«
Josef überlegte scharf. Soll dies
ein Zeichen sein für das Wesen des Titus oder für das Schicksal des
Landes? Will sie ihr Beilager mit Titus abhängig machen von der
Schonung des Landes, oder will sie sich sichern vor der neugierigen
Grausamkeit des Mannes? Und soll er ihre Mitteilung an Titus
weitergeben? Was eigentlich will sie?
Er setzte zu einer Frage an. Aber
das lange, kühne Gesicht der Prinzessin war hochmütig zugesperrt,
die Stunde der Offenheit war vorbei, und Josef wußte, es war
sinnlos, weiter zu fragen.
Eines Morgens, als Josef sich zum Frühempfang
im kaiserlichen Palais einfand, war im Schlafzimmer Vespasians ein
Porträt der Dame Cänis ausgestellt, das der Maler Fabull im Auftrag
des Kaisers in aller Heimlichkeit geschaffen hatte. Das Bild war
für das Chefkabinett der Kaiserlichen Vermögensverwaltung bestimmt.
Ursprünglich hatte Vespasian gewünscht, es solle neben der Dame
Cänis als Schirmherr der Gott Merkur stehen, dazu eine Glücksgöttin
mit dem Füllhorn, und vielleicht auch die drei Parzen, goldene
Fäden spinnend. Aber der Maler Fabull hatte erklärt, er komme damit
nicht zurecht, und hatte die Dame Cänis auf sehr realistische Art
dargestellt, an ihrem Schreibtisch sitzend, Rechnungen überprüfend.
Hart und genau spähten ihre braunen Augen aus dem breiten,
kräftigen Gesicht. Still saß sie, dabei unheimlich lebendig; der
Kaiser hatte gescherzt, man müsse das Bild nachts anbinden, daß ihm
Cänis nicht durchgehe. So sollte sie sitzen über dem Schreibtisch
seines obersten Kaisers, immer mit ihren scharfen Augen zur Stelle,
auf daß keine Schlampereien und Durchstechereien passierten. Der
Kaiser bedauerte, daß sein Merkur nicht auf dem Bild war, aber es
gefiel ihm trotzdem. Auch die Dame Cänis war zufrieden; nur eines
ärgerte sie, daß der Maler ihr keine pompösere Frisur hatte
zubilligen wollen.
Wer schärfer zusah, erkannte ohne
Mühe, daß das Porträt von einem Meister gemalt war, aber nicht eben
von einem Freund der Dame Cänis. Sie war eine große Geschäftsfrau,
fähig, die Finanzen des ganzen Reiches zu überblicken und zu
ordnen, mit einem warmen Herzen für Vespasian und für das Volk von
Rom. Auf dem Bild des Malers Fabull wurde sie zu einer
rechenhaften, kniffligen Hausmutter. Und war das Resolute,
Stattliche der Frau auf dem Bild nicht bis über die Grenzen des
Plumpen hinübergesteigert? Es war wohl so, daß der Maler Fabull,
der Verehrer der alten Senatoren, seinen Haß gegen die
hochgestiegenen Kleinbürger in das Bild mit hineingemalt
hatte.
Aus der weiten Empfangshalle
führte eine mächtige, offene Tür in das Schlafzimmer des Kaisers.
Hier ließ er sich, wie die Sitte es wollte, vor aller Augen
ankleiden. Und hier saß neben der gemalten Cänis die lebendige. Ihr
Freund, der Mann, an den sie geglaubt hatte, als er noch sehr
gering einherging, war jetzt Kaiser geworden, und sie saß neben
ihm. Ihr Wesentliches war auf dem Bild, und dafür stand sie ein.
Langsam schoben sich die Aufwartenden aus der Empfangshalle in das
Schlafzimmer, drängten sich vor dem Bild, passierten vorbei,
langsam, eine endlose Reihe; jeder fand ein paar künstliche Worte
der Bewunderung und der Verehrung. Die Dame Cänis kassierte sie
streng ein, und Vespasian lächelte.
Josef spürte vor dem Bild
Unbehagen. Er fürchtete die Dame Cänis, und er sah gut, daß da
Dinge mitgemalt waren, geeignet, seine Abneigung zu nähren und zu
rechtfertigen. Trotzdem empfand er es wieder als einen Verstoß
gegen die Schöpfung, Dinge neu schaffen zu wollen, die der
unsichtbare Gott geschaffen hatte. Jahve war es, der dieser Frau
ihre Plumpheit, ihre kalte Rechenhaftigkeit eingeblasen hatte; der
Maler Fabull überhob sich, wenn er nun seinesteils ihr diese
Eigenschaften verleihen wollte. Voll Widerwillen sah er auf den
Maler. Der stand in der Nähe des Kaisers. Sein fleischiger,
strenger, sehr römischer Kopf schaute durch die Besucher hindurch;
säuerlich, hochmütig, unbeteiligt stand er, während er die
Schmeichelworte der Besucher einsog.
Auch das Mädchen Dorion war da.
Die geschwungenen Lippen ihres großen, vorspringenden Mundes
lächelten, ein heller Schein war um ihr zartes, hochfahrendes
Gesicht. Ihr Vater hatte seine Schrullen, niemand wußte das besser
als sie, aber das Bild war ein Meisterwerk, voll von Kunst und
Erkenntnis, und diese Dame Cänis lebte nun für immer genau so, wie
ihr Vater sie sah und wollte; ihre Plumpheit, ihr scharfer Geiz
waren nun ins Licht gehoben, für ewig in die sichtbare Welt
gestellt. Dorion liebte Bilder leidenschaftlich, sie verstand sich
auf die Technik bis in die letzten Schattierungen. Ihr Vater hatte
vielleicht noch Wirksameres gemalt, aber dies war sein bestes
Porträt; hier hatte er seine Grenzen ganz ausgefüllt, und es waren
weite Grenzen.
Die Empfangshalle war gedrängt
voll. Dorion lehnte an einer Säule, groß, schmal, zart, den
gelbbraunen, dünnen Kopf nach hinten geworfen. Leicht mit der
stumpfen Nase schnupperte sie, ihre kleinen Zähne lagen bloß, sie
genoß die Wirkung des Bildes, sie genoß das etwas verblüffte
Unbehagen der Beschauer nicht weniger als ihre Bewunderung. Sie
freute sich, als sie Josef sah. Er war weit weg, aber sie hatte mit
schrägem, raschem Blick erkannt, daß auch er sie wahrgenommen
hatte, und sie wußte, daß er jetzt zu ihr vordringen
werde.
Sie hatte seit dem Fest auf der
Insel Pharus den jungen Juden nicht wieder gesehen. Als man ihr von
seiner Geißelung erzählte, hatte sie ein paar böse und
leichtfertige Witze gemacht, aber in ihrem Innersten hatte sie sich
damals gefühlt wie in einer Schaukel, wenn sie ganz oben ist und
gerade vor dem Umkippen; denn sie war fest überzeugt, der freche,
schöne und begabte Mensch habe die Geißelung auf sich genommen, nur
um sich den Weg zu ihr frei zu machen.
Gekitzelt von Erwartung sah sie,
wie er sich näher an sie heranbahnte. Aber als er sie begrüßte,
mußte sie sich erst erinnern, wer er sei. Dann wußte sie es: ach
ja, der junge jüdische Herr, den der Kaiser von ihrem Vater
porträtiert haben wollte. Jetzt seien ja die Vorbedingungen des
Kaisers besser erfüllt; sie habe gehört, Josef habe sich
mittlerweile freiwillig allerlei heftigen Kasteiungen unterzogen.
Sein Gesicht jedenfalls sei viel hagerer geworden, und sie könne
sich wohl vorstellen, daß man nicht viel dazutun müsse, um jenes
Prophetische an ihm zu finden, das der Kaiser vermißte. Mit
langsamer, aufreizender Neugier schaute sie ihn auf und ab, und mit
heller, dünner Stimme fragte sie ihn, ob die Narben der Geißelung
noch sehr sichtbar seien.
Josef schaute auf ihre dünnen,
braunen Hände, dann schaute er nach dem Bild der Dame Cänis, dann
wieder auf Dorion, sichtlich einen Vergleich ziehend, und sagte:
»Sie und die Dame Cänis sind hier in Alexandrien die einzigen
Frauen, die mich nicht leiden mögen.« Dorion, wie er es
beabsichtigt hatte, ärgerte sich über diese Zusammenstellung. »Ich
glaube«, fuhr er fort, »das Bild von mir wird nicht zustande
kommen. Ihr Herr Vater liebt mich nicht mehr als ein verwesendes
Schweineaas, und Sie, Dorion, finden, ich brauchte Fasten und
Geißelung, um ein würdiges Modell zu werden. Ich glaube, es wird
den Späteren nichts übrigbleiben, als mich aus meinen Büchern
kennenzulernen und nicht aus einem Werk des Fabull.« Aber er
dämpfte seine Stimme, während er diese stacheligen Worte sprach,
daß sie fast wie eine Schmeichelei klangen, und dem Mädchen Dorion
schien die Tönung seiner Rede wichtiger als ihr Inhalt. »Ja, Sie
haben recht«, erwiderte sie, »mein Vater mag Sie nicht. Aber Sie
sollten sich bemühen, gegen diese Antipathie anzugehen. Glauben Sie
mir, es lohnt. Ein Mann wie Sie, Doktor Josef, der die vierzig
Schläge auf sich genommen hat, sollte dem Maler Fabull ein
verärgertes Wort nicht zu lange nachtragen.« Ihre Stimme klang
nicht mehr schrill, sie wurde so sanft wie seinerzeit, als sie mit
der Katze gesprochen hatte.
Josef, infolge des Gedränges,
stand so nahe an ihr, daß er sie fast berührte. Er sprach leise,
als sollten es die andern nicht hören, vertraulich. Er wurde
ernsthaft. »Ihr Vater mag ein großer Mann sein, Dorion«, sagte er,
»aber wir Juden hassen seine Kunst. Das ist kein Vorurteil, wir
haben gute Gründe.« Sie schaute ihn spöttisch an aus ihren
meerfarbenen Augen und sagte ebenso leise und vertraulich: »Sie
sollten nicht so feig sein, Doktor Josef. Denn es ist nur, weil ihr
feig seid. Ihr wißt sehr gut, daß es kein besseres Mittel gibt, den
Dingen auf den Grund zu kommen, als die Kunst. Ihr wagt es nicht,
euch der Kunst zu stellen, das ist alles.« Josef lächelte mitleidig
aus der Höhe seiner Überzeugung. »Wir sind vorgedrungen bis zum
Unsichtbaren hinter dem Sichtbaren. Nur deshalb glauben wir nicht
mehr an das Sichtbare, weil es zu billig ist.« Aber das Mädchen
Dorion, aus der Tiefe ihres Gemütes heraus, und ihre Stimme wurde
vor Eifer ganz schrill, redete auf ihn ein. »Die Kunst ist das
Sichtbare und Unsichtbare zugleich. Die Wirklichkeit stümpert der
Kunst nach, sie ist nur eine unfertige, fehlerhafte Nachahmung der
Kunst. Glauben Sie mir, der große Künstler schreibt der
Wirklichkeit ihre Gesetze vor. Mehrmals hat mein Vater das getan,
willentlich oder nicht.« Ihr großer Kinderkopf kam ihm ganz nahe,
sie sprach ihm fast ins Ohr vor Geheimnis. »Erinnern Sie sich, wie
die Senatorin Drusilla starb? An einem Stich durch die linke
Schulter ins Herz. Niemand weiß, wer den Stich geführt hat. Ein
Jahr zuvor hatte mein Vater ihr Bild gemalt. Er hatte ihr einen
Fleck auf die entblößte Schulter gemalt, eine Art Narbe; es war ein
technischer Grund, er mußte den Fleck haben. Es war diese Stelle
der Schulter, durch die der Stich ging.« Sie standen in dem hellen,
hohen Raum, rings um sie waren gut angezogene, schwatzende Damen
und Herren, es war ein nüchterner Dienstag, aber um die beiden
jungen Menschen war Schleier und Geheimnis. Lächelnd glitt Dorion
aus diesem Dämmerigen heraus. »Eigentlich«, meinte sie in
verbindlichem, konventionellem Ton, »müßten solche Dinge den
Propheten Josef mit dem Maler Fabull verbinden.«
Josef, gerade weil ihn die
Argumente des Mädchens angerührt hatten, behauptete hartnäckig die
Überlegenheit des Wortes über das Bild. Die Überlegenheit des
gottgedrängten jüdischen Wortes vor allem. Das Mädchen Dorion
krümmte die Lippen, lächelte, lachte laut heraus, ein hohes,
schepperndes, bösartiges Lachen. Was sie von hebräischen Büchern
kenne, erklärte sie, damit könne sie wenig anfangen; es sei voll
von törichtem Aberglauben. Sie habe sich aus seinem Makkabäerbuch
vorlesen lassen. Sie bedaure, es seien leere, tönende Worte. Wenn
der Mann Josef so leer wäre wie das Buch, läge ihr nichts daran,
daß ein Porträt von ihm zustande käme. Josef selber hatte in
letzter Zeit das Makkabäerbuch nach Kräften verleugnet. Jetzt fand
er ihr Urteil dreist und albern, es verdroß ihn. Er schlug zurück
und erkundigte sich freundlich nach ihren Göttern, gewissen
Tiergöttern, ob sie auch eifrig Teller leckten und Milch stählen.
Sie erwiderte heftig, geradezu grob; das Gespräch der beiden war
wahrscheinlich das unhöflichste, das in der weiten Halle geführt
wurde.
Da der Prinz Titus bei Fabull ein Bild der
Berenike bestellt hatte, kam das Mädchen Dorion in den
festfreudigen Kreis der Villa in Canopus. Nun war sie beinahe
täglich mit Josef zusammen. Er sah, wie die andern sie behandelten,
sehr höflich, sehr galant und im Grunde verächtlich, wie eben
alexandrinische Herren hübsche Frauen zu behandeln pflegten. In
andern Fällen machte er es ebenso; bei ihr wollte es ihm nicht
glücken. Das reizte ihn. Er warf sich besinnungslos in seine
Leidenschaft. Scharf, in Gegenwart anderer, verspottete er sie, um
sie dann ebenso maßlos vor andern anzubeten. Mit der Sicherheit
eines klugen Kindes durchschaute sie ihn, seine Sucht zu glänzen,
seine Eitelkeit, seine Würdelosigkeit. Sie hatte gelernt, was Würde
ist. Sie sah, wie es an ihrem Vater fraß, daß die Aristokratie ihn
nicht gelten ließ, sie sah, wie die Römer auf die Ägypter
herabschauten. Ihre ägyptische Mutter, ihre Bonne hatten ihr
beigebracht, aus wie uraltem, heiligem Blut sie sei, ihre Väter
schliefen unter spitzen, hohen, dreieckigen Bergen. Und waren die
Juden nicht die verächtlichsten der Menschen, lächerlich wie Affen,
nicht viel besser als unreine Tiere? Nun konnte sie gerade von
diesem Juden nicht loskommen, und gerade seine Würdelosigkeit zog
sie an, seine uferlose Hingabe an das, was ihn im Augenblick
fesselte, der jähe Wechsel, wie er sich aus einer Wallung in die
andere schmiß, die Schamlosigkeit, mit der er seine Gefühle
heraussagte. Sie streichelte ihre Katze Immutfru: »Er ist stumpf
vor dir. Er hat kein Herz, er weiß nicht, was du bist und was
Bilder sind und was das Land Kernet ist. Immutfru, mein kleiner
Gott, kralle mich, daß mein Blut herausrinnt, denn mein Blut muß
schlecht sein, weil ich an ihm hänge, und ich bin lächerlich, weil
ich an ihm hänge.« Die Katze saß auf ihrem Schoß, schaute sie aus
ihren runden, leuchtenden Augen an.
Einmal, bei einem heftigen Streit
mit Josef, im Beisein anderer, sagte sie zu ihm, voll Haß und
Triumph: »Warum, wenn Sie mich für so töricht halten, haben Sie
sich geißeln lassen, um sich für mich frei zu machen?« Er war
verblüfft, er wollte sie verlachen, aber sogleich hatte er sich
wieder in der Gewalt, schwieg.
Als er allein war, riß es ihn hin
und her. War es ein Hin- weis des Schicksals, ein Vorzeichen, daß
die Ägypterin seine Geißelung so deutete? Er hatte sich richtig
verhalten, als er diese Deutung zuließ; einer Frau gegenüber, die
man haben wollte, war eine solche schweigende Lüge erlaubt. Aber
war es denn eine Lüge? Immer hatte er diese Frau haben wollen, und
hatte er je daran denken können, daß sie ohne Opfer und Zeremonie
mit ihm schlafen werde? Es war eine große Lockung, sie zu seiner
Frau zu machen. Sie war ihm, dem Priester, verboten, selbst wenn
sie zum Judentum übertrat. Wozu hatte er die Geißelung auf sich
genommen, wenn er gleich darauf von neuem das Gesetz verletzte? Die
Makkabi-Leute werden schreien, schlimmer, sie werden lachen. Mögen
sie. Es wird süß sein, es wird eine Lust sein, für die Ägypterin
Opfer zu bringen. Die Sünde, jene zu heiraten, die der Römer
ausgespien hatte, war ekel gewesen, schmutzig. Diese Sünde
schimmerte prächtig. Es war eine sehr große Sünde. Du sollst dich
nicht vergatten mit den Töchtern der Fremden, hieß es in der
Schrift, und Pinchas, als er sah, daß einer aus der Gemeinde Israel
hurte mit einer Midianitin, nahm einen Spieß und ging dem Manne
nach in den Hurenwinkel und durchstach beide, den Mann und das
Weib, durch ihren Bauch. Ja, es war eine sehr große Sünde.
Andernteils: sein Namensvetter Josef hatte die Tochter eines
ägyptischen Priesters geheiratet, Moses eine Midianitin, Salomo
eine Ägypterin. Die Kleinen mußten sich kleine Maße gefallen
lassen, denn sie liefen Gefahr, sich bei den Töchtern der Fremden
zu verliegen und ihre Götter anzunehmen. Er, Josef, gehörte zu
jenen, die stark genug waren, das Fremde in sich aufzunehmen, ohne
darin unterzugehen. Reiße dich los von deinem Anker, spricht Jahve.
Er verstand plötzlich den dunkeln Spruch, man solle Gott mit beiden
Trieben lieben, dem bösen und dem guten.
Bei der nächsten Zusammenkunft
mit Dorion sprach er von Verlöbnis und Heirat wie von einem alten,
oft erörterten Projekt. Sie lachte nur, ihr dünnes, schepperndes
Lachen. Aber er tat, als höre er es nicht, er war besessen von
seinem Plan, von der Andacht zu seiner Sünde. Schon besprach er die
Einzelheiten, das Datum, die Formalitäten ihres Übertritts zum
Judentum. Waren nicht oft in Rom wie in Alexandrien Frauen auch der
höchsten Schicht zum Judentum übergetreten? Das Ganze ist etwas
verwickelt, dennoch wird es nicht allzu lange dauern. Sie lachte
nicht einmal, sie schaute ihn an wie einen Verrückten.
Vielleicht war es gerade die
Verrücktheit seines Projekts, die sie anzog. Sie dachte an das
Gesicht ihres Vaters, den sie liebte und verehrte. Sie dachte an
die Väter ihrer Mutter, die einbalsamiert unter den spitzen Bergen
schliefen. Aber dieser Jude wischte mit dem Fanatismus eines Irren
alle Einwände fort. Es gab keine Schwierigkeiten für ihn, alle
Gegengründe der Vernunft waren Luft. Glückstrahlend, mit heftigen
Augen, erzählte er dem Titus und den Gästen der Villa in Canopus
von seinem Verlöbnis mit dem Mädchen Dorion.
Das Mädchen Dorion lachte. Das
Mädchen Dorion sagte: er ist toll. Aber den Josef kümmerte das
nicht. War nicht alles Große und Wichtige zuerst für toll gehalten
worden? Allmählich unter seiner Heftigkeit, unter seiner
querköpfigen Zähigkeit gab sie nach. Widersprach, wenn die andern
das Projekt für wahnwitzig erklärten. Kam mit den Argumenten
Josefs. Schon fand sie die Idee nicht mehr absurd. Schon hörte sie
genau zu, wenn Josef die Einzelheiten erörterte, begann mit Josef
um diese Einzelheiten zu feilschen.
Der Übertritt zum Judentum war
nicht schwierig. Frauen waren zur Einhaltung der zahlreichen Gebote
nicht verpflichtet, nur an die Verbote waren sie gebunden. Josef
war bereit zu weiteren Zugeständnissen. Wollte sich mit der
Versicherung begnügen, sie werde nicht die Sieben Gebote für
Nichtjuden übertreten. Sie lachte, trotzte. Was, sie soll ihre
Götter abschwören, Immutfru, ihren kleinen Katzengott? Josef redete
ihr zu. Sagte sich, was man erweichen wolle, das müsse man zuerst
richtig hart werden lassen, was man zusammendrücken wolle, das
müsse man zuerst richtig sich ausdehnen lassen. Er hielt an sich,
übte Geduld. Wurde nicht müde, immer die gleichen Gespräche zu
führen.
Vor Titus aber ließ er sich
gehen, klagte heftig über die Halsstarrigkeit des Mädchens. Titus
war ihm gewogen. Er hatte auch keine Abneigung gegen jüdische
Lehren und Bräuche; eine Gemeinschaft, die Frauen wie Berenike
hervorbrachte, verlangte mit Recht Achtung. Aber daß jemand, durch
Geburt einem andern Glauben verhaftet, die sichtbaren Götter seiner
Ahnen abschwören und sich dem unsichtbaren Judengott zuneigen
sollte, war das nicht etwas viel verlangt? Der Prinz kramte in
seinen stenographischen Notizen, er hatte sich einige besonders
abstruse Glaubenssätze und Lehrmeinungen der jüdischen Doktoren
aufnotiert. Nein, sich zu solchem Aberglauben zu bekennen, das war
dem Mädchen Dorion nicht zuzumuten. Sie lagen bei Tisch, zu dreien,
Josef, der Prinz, das Mädchen Dorion, und diskutierten eifrig,
ernsthaft, was man füglich von einem Proselyten fordern dürfe, was
nicht. Der kleine Gott Immutfru lag auf Dorions Schulter, klappte
seine leuchtenden Augen auf, zu, gähnte. Immutfru abschaffen, nein,
auch Titus war der Meinung, das ginge zuweit. Nach vielem Hin und
Her war Josef damit einverstanden, daß das Judentum des Mädchens
Dorion sich auf eine formale Erklärung des Übertritts vor den
zuständigen Gemeindebeamten beschränken solle.
Nun aber kamen die
Gegenforderungen der Ägypterin. Sie lag da, lang, locker, zart bis
zur Gebrechlichkeit; unter der stumpfen Nase sprang groß der Mund
vor. Sie lächelte, sie strengte sich nicht an, ihre Stimme blieb
dünn und höflich, aber sie ging von ihrer Forderung nicht ab. Sie
dachte an ihren Vater, an seinen lebenslangen Kampf um
gesellschaftliche Geltung, und sie verlangte kindlich, still, dünn
und eigensinnig, Josef müsse sich das römische Bürgerrecht
erwirken.
Josef, unterstützt von Titus,
hielt ihr entgegen, ein wie schweres und langwieriges Unternehmen
das sei. Sie zuckte die Achseln. »Es ist unmöglich«, rief er
zuletzt, erbittert. Sie zuckte die Achseln, sie erblaßte, sehr
langsam, wie das ihre Art war, zuerst um den Mund herum, dann
ergriff die Blässe ihr ganzes Gesicht. Und sie beharrte: »Ich will
die Frau eines römischen Bürgers sein.« Sie sah Josefs finstere
Augen, und mit ihrer dünnen, hohen Stimme formulierte sie: »Ich
bitte Sie, Doktor Josef, binnen zehn Tagen römischer Bürger zu
sein. Dann bin ich bereit, vor Ihren Gemeindebeamten meinen
Übertritt zu Ihrem Gott zu erklären. Wenn Sie aber nicht binnen
zehn Tagen römischer Bürger sind, dann halte ich es für besser, wir
sehen uns nicht mehr.« Josef sah ihre dünnen, braunen Hände, die
die langen, rotbraunen Haare der Katze Immutfru kraulten, er sah
ihre schräge Kinderstirn, ihr leichtes, reines Profil. Er war
erbittert, und er begehrte sie sehr. Er wußte mit großer Gewißheit:
ja, so wird es sein. Wenn er nicht in zehn Tagen das Bürgerrecht
hat, dann wird er dieses gelbbraune Mädchen, das so gelassen mit
gelockerten Gliedern daliegt, wirklich nie mehr zu Gesicht
bekommen.
Titus griff ein. Er fand die
Forderung Dorions hoch, aber war Josefs Forderung niedrig? Er wog
sachlich Josefs Chancen ab, er betrachtete das Ganze sportlich, als
eine Art Wette. Es war nicht ausgeschlossen, daß der Kaiser, der
Josef wohlwollte, ihm das Bürgerrecht verlieh. Billig freilich wird
die Sache nicht werden. Vermutlich wird die Dame Cänis die Gebühren
festsetzen, und die Dame Cänis, das weiß jeder, gibt es nicht
billig. Zehn Tage sind eine kurze Zeit. »Du mußt dich gut
daranhalten, mein Jude«, sagte er, und: »Gürte dich! Das Blei aus
den Schuhen!« spornte er ihn lächelnd mit dem Zuruf an die Läufer
der sportlichen Spiele.
Das Mädchen Dorion hörte sich die
Überlegungen der beiden mit an. Ihre meerfarbenen Augen gingen von
einem zum andern. »Es soll ihm nicht leichter gemacht werden als
mir«, sagte sie. »Ich bitte Sie sehr, Prinz Titus, unparteiisch zu
bleiben und weder für noch gegen ihn einzugreifen.«
Josef ging zu Claudius Regin. In zehn Tagen das
Bürgerrecht zu erwerben, wenn das überhaupt jemand möglich machen
konnte, dann war es er. Claudius Regin ist in Alexandrien noch
leiser geworden, noch unscheinbarer, noch verwahrloster. Nicht
viele wissen um die Rolle, die er spielt. Aber Josef weiß darum. Er
weiß, daß dieser Regin die Ursache ist, wenn jetzt zum Beispiel die
Herren der jüdischen Gemeinde mit sehr andern Blicken auf die
Westjuden schauen als früher. Er weiß, daß diesem Regin, wenn kein
anderer mehr helfen kann, immer noch ein letzter Trick einfällt.
Mit wie schlichten Mitteln etwa hat er bewirkt, daß Vespasian, seit
der Salzfischsteuer in Alexandrien überaus unpopulär, plötzlich von
neuem zum Liebling des Volkes wurde. Er hat den Kaiser einfach
Wunder tun lassen. Wunder waren im Osten immer geeignet, den Täter
beliebt zu machen, aber erst dieser Mann aus dem Westen mußte
kommen, ehe man das alterprobte Mittel anwandte. Josef war selbst
zugegen, wie der Kaiser einen stadtbekann ten Lahmen gehen machte
und einem Blinden die Sehkraft wiedergab, indem er ihnen die Hand
auflegte. Seither ist Josef noch unbehaglicher überzeugt von den
Fähigkeiten Regins.
Fett, schmuddelig, aus
schläfrigen Augen von der Seite her blinzelnd, hörte der Verleger
zu, wie Josef ihm ein wenig steif und behindert auseinandersetzte,
er müsse das Bürgerrecht haben. Er schwieg eine Weile, als Josef zu
Ende war. Dann, mißbilligend, meinte er, Josef habe immer so
kostspielige Bedürfnisse. Die Einkünfte aus der Verleihung des
Bürgerrechts seien eine der wichtigsten Einnahmequellen der
Provinz. Man müsse, schon um das Bürgerrecht nicht zu entwerten,
sparsam damit umgehen und die Gebühren hoch halten. Josef,
hartnäckig, erwiderte: »Ich muß das Bürgerrecht rasch haben.« –
»Wie rasch?« fragte Regin. »In neun Tagen«, sagte Josef. Regin saß
faul in seinem Sessel, seine Hände baumelten feist von der Lehne.
»Ich brauche das Bürgerrecht, weil ich heiraten will«, sagte
verbissen Josef. »Wen?« fragte Regin. »Dorion Fabulla, die Tochter
des Malers«, sagte Josef. Regin wiegte den Kopf ablehnend: »Eine
Ägypterin. Und gleich heiraten. Und das Bürgerrecht muß es auch
sein.« Josef saß da, hochmütig, mit zugesperrtem Gesicht. »Erst
haben Sie den Psalm des Weltbürgers geschrieben«, dachte Regin laut
nach, »das war gut. Dann haben Sie sich mit sehr heftigen Mitteln
Ihren Priestergürtel zurückgeholt, das war besser. Jetzt wollen Sie
ihn wieder hinwerfen. Sie sind ein stürmischer junger Herr«,
konstatierte er. »Ich will diese Frau haben«, sagte Josef. »Sie
müssen immer von allem haben«, tadelte mit seiner fettigen Stimme
Regin. »Sie wollen immer alles zugleich, Judäa und die Welt, Bücher und
Festungen, das Gesetz und die Lust. Ich
mache Sie höflich darauf aufmerksam, daß man sehr zahlungskräftig
sein muß, um für das alles zahlen zu können.« – »Ich will diese
Frau haben«, beharrte eng, wild und töricht Josef. Er wurde
dringlich. »Helfen Sie mir, Claudius Regin. Schaffen Sie mir das
Bürgerrecht. Ein wenig Dank sind auch Sie mir schuldig. Ist es
nicht ein Segen für uns alle und für Sie besonders, daß dieser Mann
der Kaiser ist? Habe ich nicht auch das Meine dazu getan? War ich
ein falscher Prophet, als ich ihn den Adir nannte?«
Regin beschaute seine
Handflächen, drehte die Hände um, beschaute wieder seine
Handflächen. »Ein Segen für uns alle«, sagte er, »richtig. Ein
anderer Kaiser hätte vielleicht mehr auf den Minister Talaß gehört
als auf den alten Etrusk und mich. Aber glauben Sie«, und er packte
Josef plötzlich mit einem überraschend scharfen Blick, »daß, weil
er Kaiser ist, Jerusalem stehen bleiben wird?« – »Ich glaube es«,
sagte Josef. »Ich glaube es nicht«, sagte müde Claudius Regin.
»Wenn ich es glaubte, dann würde ich Ihnen nicht dazu helfen, diese
Dame zu heiraten und Ihren Priestergürtel wegzugeben.« Den Josef
überfröstelte es. »Der Kaiser ist kein Barbar«, wehrte er sich.
»Der Kaiser ist ein Politiker«, erwiderte Claudius Regin.
»Vermutlich haben Sie recht«, fuhr er fort, »vermutlich ist es
wirklich ein Segen für uns alle, daß er der Kaiser ist. Vermutlich
hat er wirklich den guten Willen, Jerusalem zu retten. Aber«, er
winkte den Josef näher, er machte seine fettige Stimme ganz leise,
schlau, geheimnisvoll, »ich will Ihnen einmal ganz im Vertrauen
etwas sagen. Im Grund ist es gleichgültig, wer der Kaiser ist. Von
zehn politischen Entscheidungen, die ein Mann treffen muß, sind
ihm, er sei an welcher Stelle immer, neun durch die Umstände
vorgeschrieben. Und je höher einer steht, um so beschränkter ist
seine Entschlußfreiheit. Es ist eine Pyramide, der Kaiser ist die
Spitze, und die ganze Pyramide dreht sich; aber es ist nicht er,
der sie dreht, sie dreht sich von unten her. Es sieht aus, als
handle der Kaiser freiwillig. Aber seine fünfzig Millionen
Untertanen schreiben ihm seine Handlungen vor. Neun Handlungen von
zehn müßte jeder andre Kaiser genau ebenso machen wie dieser
Vespasian.«
Das hörte Josef nicht gern.
Unwirsch fragte er: »Wollen Sie mir helfen, das Bürgerrecht zu
erwirken?« Regin ließ ab von ihm, ein wenig enttäuscht. »Schade,
daß Sie für ein ernsthaftes Männergespräch nicht zu haben sind«,
meinte er. »Ich vermisse sehr Ihren Kollegen Justus von
Tiberias.«
Im übrigen sagte er ihm zu, den
Vespasian auf Josefs Angelegenheiten vorzubereiten.
Vespasian, nun seine Herrschaft gesichert
schien und die Zeit seiner Abreise nach Italien näherrückte,
sperrte sich gegen den Osten mehr und mehr zu. Er war ein großer,
römischer Bauer, der von Rom aus römische Ordnung in die Welt
bringen wird. Sein Boden hieß Italien, sein Gewissen Cänis. Er
freute sich auf die Rückkehr. Er fühlte sich kräftig, stand gut auf
seinen Beinen. Es ist von Rom nicht weit nach seinen satanischen
Besitzungen. Bald wird er die gute satanische Erde riechen, seine
Felder, seine Reben und Oliven beschauen.
Mehr als je sah jetzt der Kaiser
auch in seinem Privatleben auf Ordnung. Pedantisch hielt er den
festgesetzten Tagesplan ein. Jeden Montag, nach der Vorschrift des
Arztes Hekatäus, fastete er. Dreimal in der Woche, Sonntag,
Dienstag, Freitag, immer unmittelbar nach dem Essen, ließ er sich
ein Mädchen kommen, jedesmal ein anderes. In den Stunden darauf
pflegte er guter Laune zu sein. Die Dame Cänis verlangte für
Audienzen, die sie auf diese Stunden legte, ansehnliche
Provisionen.
Es war eine solche Stunde, und
zwar an einem Freitag, zu der dem Josef durch Regin ein Empfang bei
Vespasian erwirkt wurde. Dem Kaiser machte es Spaß, seinen Juden zu
sehen; er liebte Züchtungsexperimente jeder Art. Er wird jetzt zum
Beispiel versuchen, afrikanische Fasanen- und Flamingoarten,
asiatische Zitronen- und Pflaumenspezialitäten auf seinen
sabinischen Besitzungen fortzupflanzen. Warum soll er seinem Juden
nicht das römische Bürgerrecht geben? Aber kräftig schwitzen soll
der Junge darum. »Sie sind anspruchsvoll, Flavius Josephus«,
tadelte er bedenklich. »Ihr Juden selber seid verdammt exklusiv.
Wenn ich zum Beispiel die Absicht hätte, in euerm Tempel zu opfern,
oder wenn ich nur hier in Alexandrien zur Vorlesung eurer Heiligen
Schrift aufgerufen werden wollte, ihr würdet mir die größten
Schwierigkeiten machen. Ich müßte mich zumindest beschneiden lassen
und, Donner und Herakles!, was noch alles. Aber von mir verlangen
Sie, daß ich Ihnen eins zwei drei das römische Bürgerrecht gebe.
Glauben Sie, Ihre Verdienste um den Staat sind wirklich so groß?« –
»Ich glaube«, erwiderte bescheiden Josef, »es ist ein Verdienst,
als erster erklärt zu haben, daß Sie der Mann sind, dieses Reich zu
retten.« – »Fuhrwerken Sie nicht etwas heftig herum, mein Jüdlein«,
schmunzelte der Kaiser, »was Frauen anlangt? Was macht übrigens die
Kleine? Ich habe ihren Namen vergessen.« Er suchte die aramäischen
Worte zusammen: »Sei süß, meine Taube, sei zärtlich, mein Mädchen.
Sie wissen schon. Hat sie ein Kind?« – »Ja«, sagte Josef. »Ist es
ein Knabe?« – »Ja«, sagte Josef. »Vierzig Schläge«, schmunzelte der
Kaiser. »Ihr Juden seid wirklich exklusiv. Ihr gebt es nicht
billig.«
Er saß bequem, schaute sich
seinen Juden an, der ehrfurchtsvoll vor ihm stand. »Sie haben
eigentlich kein Recht«, sagte er, »sich auf Ihre frühere Leistung
zu berufen. Man sagt mir, Sie huren weidlich herum. Folglich müssen
Sie nach Ihrer eigenen Theorie Ihre ganze Begabung verloren haben.«
Josef schwieg. »Wir wollen einmal sehen«, fuhr Vespasian fort und
schnaufte vergnügt, »ob von Ihrer Prophetengabe noch was da ist.
Los. Prophezeien Sie einmal, ob ich Ihnen das Bürgerrecht geben
werde oder nicht.« Josef zögerte nur ganz kurz, dann neigte er sich
tief: »Ich wende nur Vernunft an, nicht Prophetengabe, wenn ich
glaube, daß ein weiser und guter Herrscher keinen Anlaß hat, mir
das Bürgerrecht zu verweigern.« – »Du drückst dich um die Antwort,
du Aal von einem Juden«, beharrte der Kaiser. Josef sah, was er
gesagt hatte, genügte nicht. Er mußte Besseres finden. Er suchte
krampfig, fand. »Jetzt«, setzte er an, »da alle erkannt haben, wer
der Retter ist, ist meine frühere Sendung erfüllt. Ich habe eine
neue Aufgabe.« Der Kaiser sah hoch. Josef, ihn aus seinen heißen,
dringlichen Augen anschauend, fuhr fort, kühn, mit jähem Entschluß:
»Es ist mir auferlegt, nicht mehr die Zukunft, sondern das
Vergangene für immer gegenwärtig zu machen.« Er schloß entschieden:
»Ich will ein Buch schreiben über die Taten des Vespasian in
Judäa.«
Vespasian richtete überrascht den
harten, klaren Blick auf den Bittsteller. Rückte nah an ihn heran,
blies ihm seinen Atem ins Gesicht. »Hm, das ist keine schlechte
Idee, mein Junge. Ich habe mir meinen Homer freilich anders
vorgestellt.« Josef, den Handrücken an der Stirn, sagte demütig,
doch voll Zuversicht: »Es wird kein unwürdiges Buch sein.« Er sah,
daß den Kaiser der Gedanke reizte. Ungestüm trieb er weiter. Riß
sich die Brust auf, beschwor ihn: »Geben Sie mir das Bürgerrecht.
Es wäre eine große, tiefe Gnade, für die ich der Majestät auf den
Knien meines Herzens Danklieder singen wollte bis an mein Ende.«
Und, sich ganz öffnend, mit einer wilden und demütigen
Vertraulichkeit flehte er: »Ich muß diese Frau haben. Alles
mißlingt mir, wenn ich sie nicht habe. Ich kann nicht ans Werk
gehen. Ich kann nicht leben.«
Der Kaiser lachte. Nicht ohne
Wohlwollen erwiderte er: »Sie gehen stürmisch vor, mein Jude. Sie
betreiben Ihre Dinge intensiv, das habe ich schon gemerkt.
Aufrührer, Soldat, Schreiber, Agitator, Priester, Büßer, Hurer,
Prophet: was Sie machen, das machen Sie ganz. Sagen Sie übrigens,
wie ist das? Schikken Sie wenigstens der Kleinen in Galiläa
reichlich Geld? Daß Sie sich da nicht drücken, mein Jude. Ich will
nicht, daß mein Sohn hungert.«
Josef verlor seine Demut.
Herausfordernd und töricht erwiderte er: »Ich bin nicht geizig.«
Vespasian machte die Augen eng. Josef fürchtete, im nächsten
Augenblick werde er wüst losbrechen, aber er hielt ihm stand. Doch
schon hatte sich der Kaiser wieder in der Gewalt. »Du bist nicht
geizig, mein Junge ? Das ist ein Fehler«, tadelte er väterlich.
»Ein Fehler, der sich sogleich rächen wird. Ich bin nämlich geizig.
Ich hatte die Absicht, von dir für das Bürgerrecht hunderttausend
Sesterzien zu verlangen. Jetzt zahlst du mir diese hunderttausend,
und außerdem schickst du fünfzigtausend an die Kleine nach
Cäsarea.« – »Soviel Geld kann ich nie auftreiben«, sagte Josef
schlaff.
Vespasian kam auf ihn zu. »Sie
wollten doch ein Buch schreiben. Ein vielversprechendes Buch.
Verpfänden Sie das Buch«, riet er.
Josef stand mutlos. Vespasian gab
ihm einen kleinen Klaps, schmunzelte: »Das Herz hoch, mein Jude. In
sechs oder sieben Jahren lassen wir uns den Jungen aus Cäsarea nach
Rom schicken und schauen ihn uns an. Wenn er mir ähnlich sieht,
dann kriegst du deine fünfzigtausend zurück.«
Josef hatte sich um Geld nie große Sorgen
gemacht. Seine Terrains in der Neustadt von Jerusalem hatten
freilich die Makkabi-Leute konfisziert; aber wenn die Römer der
Unruhen Herr geworden sind, wird man sie ihm zurückgeben. Vorläufig
lebte er von dem Gehalt, das er als Dolmetsch und Beamter des
Kaiserlichen Sekretariats bezog. Einen Teil dieses Gehalts ließ er
Mara überweisen. Er konnte, da er fast immer Gast des Titus war, in
Alexandrien auch ohne viel Geld weit und behaglich leben. Aber aus
eigenen Mitteln die hundertfünfzigtausend Sesterzien aufzubringen,
die der Kaiser von ihm verlangte, daran war nicht zu
denken.
Er hätte vielleicht das Geld bei
den großen Herren der jüdischen Gemeinde ausleihen können, aber er
fürchtete das Gerede, die wüsten, pathetischen Beschimpfungen der
Makkabi-Leute, den hurtigen, gemeinen Witz der Weißbeschuhten.
Seine rasche Phantasie sah bereits an den Mauern der Häuser
Zeichnungen, die ihn mit dem Mädchen Dorion auf schmutzige Art
verknüpften. Nein, er mußte einen andern Weg suchen.
Nach einer Nacht voll bitterer
Gedanken nahm er es auf sich, zu Claudius Regin zu gehen. Der
Verleger wiegte den Kopf. »Ich kann mir nicht denken«, bohrte er
hartnäckig, »daß Ihr Herz noch an den Bestand des Tempels glaubt.
Sonst würden Sie Ihren Priestergürtel nicht wegwerfen.« Josef
erwiderte: »Mein Herz glaubt an den Bestand des Tempels, und mein
Herz begehrt nach der Ägypterin.« – »Ich war sechsmal in Judäa«,
sagte Regin. »Ich war sechsmal im Tempel, natürlich nur im Vorhof
der Nichtjuden, und stand vor dem Tor, das Unbeschnittene nicht
durchschreiten dürfen. Ich bin kein Jude, aber ich wäre gern ein
siebentes Mal vor diesem Tor gestanden.« – »Sie werden dort
stehen«, sagte Josef. »Ich vielleicht«, grinste fatal Regin. »Aber
ob dann das Tor noch steht?« – »Wollen Sie mir die
hundertfünfzigtausend Sesterzien geben?« fragte Josef. Regin
schaute ihn mit seinem unangenehm verhängten Blick auf und ab.
»Fahren Sie mit mir hinaus vor die Stadt«, schlug er vor. »Dort
will ich es mir überlegen.«
Die beiden Männer fuhren vor die
Stadt. Regin entließ den Wagen, sie gingen zu Fuß weiter. Erst
wußte Josef nicht, wo sie waren. Dann sah er ein Gehäuse aufragen,
nicht groß, weiß, mit dreieckigem Giebel. Er war nie hier gewesen,
aber er wußte von Bildern her, daß das das Grab des Propheten
Jeremias war. Grell, kahl, beklemmend stand es auf dem öden
Sandfeld in der weißen Sonne. Des Vormittags pflegten viele
Wallfahrer das Grab des großen Mannes zu besuchen, der den
Untergang des ersten Tempels geweissagt und so herzzerfressend
beklagt hatte. Jetzt aber war es Nachmittag, und die beiden Männer
waren allein. Gradewegs auf das Grabmal zu ging Regin, und Josef
folgte ihm unbehaglich durch den Sand. Zwanzig Schritte vor dem Mal
blieb Josef stehen; er durfte als Priester nicht weiter in die Nähe
des Toten gehen. Regin aber ging weiter, und, angelangt, hockte er
sich nieder auf die Erde, in der Stellung eines Trauernden. Josef
stand seine zwanzig Schritte entfernt und wartete, was der andere
tun oder sagen werde. Regin aber sagte nichts, er hockte da, der
schwere Mann, in unbequemer Stellung, in Sand und weißem Staub, und
er schaukelte ein wenig seinen feisten Oberkörper. Langsam begriff
Josef, der Mann trauerte um Jerusalem und den Tempel. Wie der
Prophet, der hier begraben lag, vor mehr als sechshundert Jahren,
da der Tempel noch schimmerte und Judäa übermütig war, Unterwerfung
gepredigt und jene Schriftrolle hatte verlesen lassen, voll der
wildesten Trauer um die zerstörte Stadt, die doch noch in allem
Glanze dastand, so hockte jetzt der große Finanzmann im Sand, ein
Bündel Trauer und Nichts, in wortlosem Jammer um die Stadt und den
Tempel. Die Sonne ging unter, es wurde empfindlich kalt, aber Regin
blieb hocken. Josef stand und wartete. Er kniff die Lippen
zusammen, er trat von einem Fuß auf den andern, er fror, er stand
und wartete. Es war eine Frechheit von diesem Mann, daß er ihn
zwang, mit anzusehen, wie er trauerte. Es sollte wohl eine Anklage
sein. Josef lehnte sich auf gegen diese Anklage. Aber er stand hier
um Geld, er durfte nicht reden. Allmählich kehrten sich seine
Gedanken ab von dem Mann und dem Geld, und wider seinen Willen
gingen durch sein Herz die Klagen, Beschwörungen, Verwünschungen
des Propheten, der hier begraben lag, die wohlbekannten, immer
wieder zitierten, die wildesten, peinvollsten, die jemals ein
Mensch geklagt hatte. Der Frost wurde immer schärfer, seine
Gedanken wurden immer bitterer, Frost und bittere Gedanken
zerbrannten ihn und höhlten ihn ganz aus. Als endlich Regin sich
erhob, war dem Josef, als müsse er seine Knochen einzeln
weiterschleppen. Regin sagte noch immer nichts. Josef schlich
hinter ihm her wie ein Hund, er war klein und verachtet vor dem
andern und vor sich selber wie niemals in seinem Leben. Und als sie
am Wagen angelangt waren und Regin ihn mit seiner gewöhnlichen,
fettigen Stimme aufforderte, er solle mit in den Wagen steigen,
lehnte er ab und ging allein die lange, staubige Straße zurück,
bitter, peinvoll.
Anderen Tages bat ihn Regin um
seinen Besuch. Der Verleger war wie stets von einer etwas groben
Umgänglichkeit. »Sie haben lange nichts mehr geschrieben«, sagte
er. »Ich höre von dem Kaiser, Sie denken an ein Buch über den Krieg
in Judäa. Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Flavius Josephus. Widmen
Sie das Buch mir.«
Josef sah hoch. Was Regin gesagt
hatte, war die übliche Form eines Verlagsangebots, und so
widerwärtig ihm der Mensch war, so schätzte er sein Urteil und war
stolz auf diesen Antrag. Das Glück war mit ihm. Gott war mit ihm.
Er war allen ein Ärgernis, dem Jochanan Ben Sakkai, dem Kaiser, dem
Claudius Regin. Aber wenn es darauf ankam, glaubten sie an ihn und
standen zu ihm.
»Ich will das Buch schreiben«,
sagte er. »Ich danke Ihnen.«
»Das Geld steht zu Ihrer
Verfügung«, sagte fettig, etwas unwirsch Claudius Regin.
Das Mädchen Dorion, nachdem sich erwies, Josef
werde ihre Bedingung erfüllen, stand nun ihrerseits für ihren
Entschluß ein, so lächerlich und unvorstellbar diese Ehe war. Mit
gläserner Energie ging sie an die notwendigen Vorbereitungen der
Heirat. Zunächst, und das war das schwerste, teilte sie ihrem Vater
ihren Entschluß mit. Sie tat das in einem nebensächlichen, etwas
albernen Ton, als ob sie sich über sich selber lustig machte. Der
Maler Fabull schien den kleinen Teil einer Sekunde nicht zu
begreifen. Dann begriff er. Seine Augen traten beängstigend rund
aus seinem strengen Gesicht; aber er blieb sitzen, er preßte den
Mund zu, daß er ganz dünn wurde. Dorion kannte ihn, sie hatte nicht
erwartet, daß er schimpfen oder fluchen werde, aber sie hatte
geglaubt, er werde irgendeine harte, höhnische Anmerkung machen.
Daß er nun so dasaß, schweigend, mit dem ganz dünnen Mund, das war
schlimmer, als sie erwartet hatte. Sie ging aus dem Haus, sehr
schnell, es war geradezu eine Flucht, sie nahm nur ihre Katze
Immutfru mit, sie ging zu Josef.
Still und hochfahrend ließ sie
die Formalitäten des Übertritts und der Trauung über sich ergehen.
Begnügte sich, mit ihrer dünnen Kinderstimme ja und nein zu sagen,
wo es nötig war. Der Kaiser hatte nicht übel Lust gezeigt, die
Hochzeit seines Juden mit der Ägypterin wieder so groß aufzuziehen
wie seinerzeit die mit Mara. Auch Titus hätte dem Josef gern eine
prunkvolle Hochzeit ausgerichtet. Aber Josef wehrte ab. Still und
ohne Aufsehen schlossen sie sich in das kleine, hübsche Haus in
Canopus ein, das Titus für die Zeit seines Alexandriner Aufenthalts
ihnen überließ. Sie gingen in das Obergeschoß des Hauses. Das war
wie ein Zelt eingerichtet, und in diesem Zelt lagen sie, als sie
zum erstenmal beisammenlagen. Josef spürte sehr stark, daß es Sünde
war, als er bei dieser Frau lag. »Du sollst dich nicht mit ihnen
vergatten.« Aber die Sünde war leicht und schmeckte sehr gut. Die
Haut der Frau duftete wie Sandelholz, ihr Atem roch wie die Luft
Galiläas im Frühling. Aber seltsamerweise wußte Josef nicht, wie
sie hieß. Er lag mit geschlossenen Augen und konnte nicht
daraufkommen. Mit Mühe öffnete er die Augen. Sie lag da, lang,
schlank, gelbbraun, durch einen kleinen Spalt der Lider schauten
ihre meerfarbenen Augen. Er liebte ihre Augen, ihre Brüste, ihren
Schoß, den Atem, der aus ihrem halboffenen Munde kam, das ganze
Mädchen, aber er konnte nicht auf ihren Namen kommen. Die Decke war
leicht, die Nacht war kühl, ihre Haut war glatt und nicht heiß. Er
streichelte sie sehr leise, seine Hände waren in Alexandrien weich
und glatt geworden, und da er nicht wußte, wie sie hieß, flüsterte
er Koseworte in ihren Leib, hebräisch, griechisch, aramäisch: meine
Liebe, meine Schäferin, meine Braut, Janiki.
Von unten kam leise, kehlig,
gleichmäßig der Singsang ihrer ägyptischen Diener, wenige Töne,
immer das gleiche. Denn diese Menschen brauchten nicht viel Schlaf,
und sie hockten oft wach in den Nächten und wurden nicht müd, ihre
paar Lieder zu singen. Sie sangen: O mein Geliebter, es ist süß,
zum Teich zu gehen und vor dir zu baden. Laß mich dir meine
Schönheit zeigen, mein Hemd von feinstem Königsleinen, wenn es
feucht ist und dem Körper anliegt.
Josef lag still, neben ihm lag
die Frau, und er dachte: Die Ägypter zwangen uns, ihnen Städte zu
errichten, die Städte Piton und Ramses. Die Ägypter zwangen uns,
unsere Erstgeborenen lebendig in die Häusermauern einzubauen. Aber
dann holte die Tochter des Pharao den Moses aus dem Nilfluß, und
als wir aus Ägypten auszogen, da sprangen die Kinder aus den Mauern
heraus und waren lebendig. Und er streichelte die Haut der
Ägypterin.
Dorion küßte die Narben auf
seinem Rücken und auf seiner Brust. Er war ein Mann und voll Kraft,
aber seine Haut war glatt wie die eines Mädchens. Vielleicht kann
man die Narben wegheilen, daß sie unsichtbar werden; viele lassen
solche Narben wegheilen, nach dem Rezept des Scribon Larg. Aber sie
will nicht, daß er sich diese Narben wegheilen lasse. Er darf es
nicht, niemals. Er hat sich die Narben für sie geholt, süße Narben
sind eine Auszeichnung für sie, er muß sie behalten.
Sie ließen niemand zu sich,
keinen Diener, niemand, den ganzen Tag nicht. Sie wuschen ihre Haut
nicht, daß einer nicht des Geruchs des andern verlustig gehe, sie
aßen nichts, daß einer nicht des Geschmacks des andern verlustig
gehe. Sie liebten sich, es gab nichts auf der Welt außer ihnen. Was
außer ihrer Haut war, war nicht in der Welt.
In der nächsten Nacht, vor dem
Morgen, lagen sie wach, und alles war sehr verändert. Josef wog ab.
Dorion stand auf den hassenswerten Bildern ihres Vaters mit ihrem
tellerlekkenden, milchstehlenden Gott, und sie war ganz fremd. Mara
war Wegwurf, Mara war das Ausgespiene des Römers, aber sie war
nicht fremd, nie. Sie hat ihm einen Sohn geboren, einen Bastard
freilich. Aber wenn man Mara umarmte, dann umarmte man ein
pochendes Herz. Und was umarmt man, wenn man diese Ägypterin
umarmt?
Dorion lag, den vorspringenden,
begehrlichen Mund halb offen; zwischen ihren ebenmäßigen Zähnen kam
frisch und leicht der Atem heraus. Von unten, leise, stieg der
gleichförmige, kehlige Singsang der ägyptischen Diener. Jetzt
sangen sie: Wenn ich meine Geliebte küsse und ihre Lippen sind
offen, dann wird mein Herz fröhlich auch ohne Wein. Manchmal,
mechanisch, summte Dorion mit. Was alles hat sie diesem Mann
geopfert, einem Juden, und großen Dank, Götter, es ist sehr gut.
Sie hat sich kaufen lassen nach dem höchst lächerlichen und höchst
verächtlichen jüdischen Recht, und großen Dank, Götter, es ist sehr
gut. Sie hat ihren Vater verleugnet, den ersten Künstler der
Epoche, um eines Mannes willen, der stumpf und blind ist und ein
Bild nicht von einem Tisch unterscheiden kann, und großen Dank,
Götter, es ist sehr gut. Sie hat dem albernen Jerusalemer Dämon
zugeschworen, in dessen Allerheiligstem ein Eselskopf verehrt wird
oder vielleicht, was noch schlimmer ist, gar nichts, und wenn sie
von diesem Mann verlangen würde, er möge ihrem lieben, kleinen Gott
Immutfru opfern, dann würde er einfach lachen, und doch, großen
Dank, Götter, es ist sehr gut.
Josef sah sie daliegen, nackt und
in der Haltung eines ganz kleinen Mädchens, und ihr gelbbraunes
Gesicht war schlaff von den Anstrengungen der Liebe. Sie war blaß,
ihr Leib war kalt, ihre Augen waren meerfarben, und sie war sehr
fremd.
Ein strahlender Mittag kam. Sie
hatten einige Stunden geschlafen, sie waren frisch, sie sahen sich
an, sie gefielen einander, und sie waren sehr hungrig. Sie
frühstückten stark, derbe Gerichte, die die Diener ihnen nach ihrem
eigenen Geschmack bereiten mußten, einen Mehl- und Linsenbrei, eine
Pastete aus verdächtigem Schabefleisch, dazu tranken sie Bier. Sie
waren vergnügt, einverstanden mit sich und ihrem
Schicksal.
Am Nachmittag durchstöberten sie
das ganze Haus. Unter den Sachen des Josef fand Dorion ein paar
merkwürdige Würfel mit hebräischen Buchstaben. Josef wurde
nachdenklich, als sie ihm die Würfel zeigte. Er sagte, das sei ein
glückbringendes Amulett, aber jetzt, da er sie habe, brauche er
dieses Amulett nicht. Im stillen beschloß er, nie mehr mit falschen
Würfeln zu spielen. Noch um Dorion hatte er im Grund mit falschen
Würfeln gespielt, denn hatte er sie nicht glauben lassen, er habe
ihrethalben die Geißelung auf sich genommen? Lachend, vor ihren
Augen, warf er die Würfel ins Meer. Vespasian hatte seinen Sohn
sehr scharf beobachtet, auch die Dame Cänis hielt ihn gut im Auge.
Viele Zungen und Hände arbeiteten daran, den Jungen an Stelle des
Alten zu schieben. Der Junge hatte Mut und Besonnenheit, seine
Truppen hingen an ihm. Auch zerrte an ihm unablässig diese
hysterische, jüdische Prinzessin, deren Fanatismus sich von dem
jungen, tollverliebten Prinzen viel mehr für Judäa versprach als
von dem kalten Vespasian. Der Kaiser sah das alles sehr gut. Er
fand es richtig, die Dinge beim Namen zu nennen. Oft zog er seinen
Jungen auf, berechnete, wie lange der wohl noch werde warten
müssen. Oft auch kam es zu scharfen Auseinandersetzungen. Titus,
darauf hinweisend, welch weite Vollmachten sein Bruder, das
Früchtchen Domitian, in Rom habe, bestand darauf, seinesteils hier
im Osten mehr Befugnisse zu bekommen. Es war ein frischer, barscher
Ton zwischen den beiden. Knarrig, witzig, väterlich warnte
Vespasian den Sohn vor der Jüdin. Antonius, als er bei der
Ägypterin verhurte und verkam, habe wenigstens zuvor Rom erobert;
er, Titus, habe bislang nur ein paar Bergnester in Galiläa erobert
und also noch nicht den Anspruch, sich bei östlichen Damen zu
verliegen. Titus schlug zurück. Erklärte, die Neigung zu östlichen
Damen sei ihm nicht plötzlich angeflogen, sie stecke im Blut. Er
erinnerte den Vater an Mara. Vespasian freute sich schallend.
Richtig, Mara hatte das Luder geheißen. Jetzt hatte er ja den
Namen. Er hatte ihn vollkommen vergessen, und sein Jude Josef, der
Hund, als unlängst die Rede darauf kam, habe ihn vergeblich zappeln
lassen.
Im übrigen verließ er sich auf
des Sohnes Klugheit. Der wird nicht so dumm sein, jetzt mit
zweifelhafter Chance nach der Macht zu langen, die ihm in einigen
Jahren mit Bestimmtheit als reife Frucht zufallen muß. Er liebte
seinen Sohn, er wollte die Dynastie sichern, er beschloß, seinem
Sohne Ruhm zu schaffen. Er selber hat das Schwierigste in Judäa
bewältigt. Er wird Titus den glänzenderen Rest der Aufgabe
übertragen.
Wieder aber ließ er seine
Umgebung peinvoll warten, ehe er mit seinem Entschluß herauskam.
Der alexandrinische Winter zog sich hin. Mit dem Ende des Winters
mußte man die Operationen in Judäa neu aufnehmen, wenn man dort
nicht bedenk liche Rückschläge riskieren wollte. Wird der Kaiser
selber den Feldzug beenden, oder wen wird er beauftragen? Warum
zögerte er?
Um diese Zeit wurde Josef vor den
Kaiser gerufen. Vespasian hänselte ihn zunächst auf seine gewohnte
Art. »Ihre Ehe ist offenbar glücklich, mein Jude«, sagte er. »Sie
sehen stark abgerackert aus, und mir scheint, Ihre Magerkeit rührt
nicht grade von innerer Schau und Ekstase her.« Er behielt den
hänselnden Ton bei, aber Josef spürte die ernsthafte Erwartung
durch. »Sie müssen trotzdem«, fuhr er fort, »wieder einmal Ihre
innere Stimme bemühen. Vorausgesetzt, daß es noch Ihr Plan ist, die
judäischen Dinge zu beschreiben. Diese Dinge werden nämlich in den
nächsten Monaten bereinigt werden. Ich werde aber die endgültige
Erledigung eures Aufruhrs meinem Sohne Titus überlassen. Es steht
bei Ihnen, ob Sie in einiger Zeit mit mir nach Rom oder jetzt mit
Titus vor Jerusalem gehen wollen.«
Dem Josef hob sich die Brust. Die
Entscheidung, auf die man mit so quälender Spannung wartete, der
Alte teilte sie ihm als erstem mit. Gleichzeitig aber spürte er
scharf und peinvoll, wie hart die Entscheidung war, vor die der
Kaiser ihn stellte. Soll er nach Judäa gehen, das mit ansehen, was
er am Grabmal des Jeremias vorgeschmeckt hat? Soll er in seine
Augen aufnehmen die Bitterkeit des Untergangs seiner Stadt? Der
Mann vor ihm hat seine Augen wieder so verflucht hart und eng
gemacht. Er weiß, daß es eine bittere Entscheidung ist, er prüft
ihn, er wartet.
Es ist eine innere Fessel, die
ihn an diesen Römer bindet, seitdem er ihn zum erstenmal sah. Wenn
er nach Rom geht, dann wird diese Fessel fester werden, der Mann
wird auf ihn hören, und er wird steigen und viel erreichen. Es ist
eine Fessel, die ihn an die Ägypterin bindet. Glatt und braun ist
ihre Haut, ihre Hände sind dünn und braun, seine Haut begehrt nach
ihnen. Er ist eifersüchtig, wenn sie mit ihren dünnen braunen
Händen die Katze Immutfru streichelt. Eines Tages wird er sich
nicht bezähmen können und wird ihren Gott Immutfru umbringen, nicht
aus Haß gegen die Abgötterei, sondern aus Eifersucht. Er muß fort
von der Ägypterin. Er kommt herunter, wenn er noch länger bei ihr
liegt. Schon ist sein inneres Auge fast blind, und die Haut seines
Herzens ist stumpf und kann nichts mehr tasten vom Geist. Er muß
fort von diesem Mann, denn wenn er weiter mit ihm zusammen ist,
dann wird er mehr und mehr nach Macht begehren. Und Macht verdummt,
und die innere Stimme schweigt.
Süß ist die Macht. Die Füße heben
sich wie von selbst, wenn man Macht hat. Die Erde wird einem
leicht, und der Atem geht einem tief und gut aus der Brust. Glatt
und braun ist die Haut Dorions. Ihre Glieder sind lang und locker
und doch wie eines kleinen Mädchens, und die Sünde mit ihr ist
leicht und wohlschmeckend. Wenn er nach Rom geht, werden seine Tage
gut sein, denn er wird den Kaiser haben, und seine Nächte gut, denn
er wird Dorion haben. Aber wenn er nach Rom geht, dann wird er
nichts sehen vom Untergang der Stadt, und sein Land und das Haus
Gottes wird untergehen, ungeschrieben, es wird für immer versinken,
und keiner von den Späteren wird seinen Untergang sehen.
Er ist plötzlich ganz ausgefüllt
von einer Ungeheuern Begier nach Judäa. Er hat eine irrsinnige
Sehnsucht, dabeizusein, seine Augen und sein Herz ganz damit
auszufüllen, wie die weiß und goldene Pracht des Tempels dem
Erdboden gleichgemacht wird, wie die Priester geschleift werden an
ihren Haaren, und die blaue Heiligkeit ihrer herrlichen Gewänder
wird ihnen abgerissen, und die goldene Traube über dem Tor in das
Innere zerschmilzt und tröpfelt in einen Sumpf von Blut und Glitsch
und Kot. Und sein ganzes Volk zusammen mit seinem Tempel sackt hin
in Rauch und wüster Metzelei, ein Brandopfer für den
Herrn.
In seine gehetzten Gesichte
hinein hört er die knarrende Stimme des Kaisers. »Ich warte auf
Ihre Entscheidung, Flavius Josephus.«
Josef führt die Hand an die
Stirn, verneigt sich tief, auf jüdische Art. Erwidert: »Wenn der
Kaiser es erlaubt, will ich mit eigenen Augen die Vollendung der
Aktion ansehen, die der Kaiser begonnen hat.«
Der Kaiser lächelt dünn,
resigniert und böse; er sieht mit einemmal sehr alt aus. Er hängt
an seinem Juden, er hat dem Juden manches Gute getan. Jetzt hat
sich der Jude für seinen Sohn entschieden. Je nun, sein Sohn Titus
ist jung, und er hat noch zehn Jahre zu leben, oder vielleicht auch
nur fünf, und wenn es hoch kommt, fünfzehn.
Dorion lebte still für sich in der kleinen
Villa in Canopus, die Titus ihnen überlassen hatte. Es war ein
herrlicher Winter, sie genoß mit Haut und Herz die Frische der
Luft. Der Gott Immutfru vertrug sich mit ihrem Sperber, und der
Hauspfau stelzte majestätisch durch die kleinen Räume. Dorion war
glücklich. Früher hatte sie viele Menschen um sich sehen müssen;
der Ehrgeiz ihres Vaters hatte auch sie gepackt, sie hatte glänzen
müssen, schwatzen, bewundert werden. Jetzt wurde ihr schon die
seltene Gesellschaft des Titus zur Last, und ihr ganzer Ehrgeiz
hieß Josef.
Wie schön war er. Wie heiß und
lebendig waren seine Augen, wie zart und kräftig seine Hände, wie
wild und süß sein Atem, und er war der klügste der Menschen. Sie
erzählte von ihm ihren Tieren. Mit ihrer dünnen Stimme, die nicht
viel schöner war als die Stimme ihres Pfaus, sang sie ihnen die
alten Liebeslieder vor, die sie von ihrer Bonne gelernt hatte. »O
streichle meine Schenkel, mein Geliebter! Die Liebe zu dir füllt
jeden Zoll meines Leibes an, wie Salböl sich mit der Haut
vermengt.« Sie bat Josef immer von neuem, ihr die Strophen des
Hohenlieds herzusagen, und wenn sie sie auswendig kannte, dann
mußte er ihr die hebräischen Urworte sagen, und sie plapperte sie
nach, glücklich, mit ungelenker Zunge. Die Tage, so kurz sie waren,
waren ihr zu lang, und die Nächte, so lang sie waren, waren ihr zu
kurz.
Es wird schwer sein, überlegte
Josef, es ihr beizubringen, daß ich nach Hause gehe und sie hier
zurücklasse. Es wird ein sehr böser Schnitt sein auch für mich,
aber ich will diesen Schnitt gleich machen und nicht
zögern.
Als er es ihr sagte, begriff sie
zuerst nicht. Als sie begriff, erblaßte sie, ganz langsam, wie das
ihre Art war, erst um den Mund herum, und dann stieg die Blässe in
die Wangen und über die Stirn. Dann fiel sie vornüber, leicht,
merkwürdig langsam und lautlos.
Als sie wieder zu sich kam, saß
er bei ihr und redete behutsam auf sie ein. Sie schaute ihn an,
ihre meerfarbenen Augen waren wirr und verwildert. Dann warf sie
auf häßliche Art die Lippen hoch und gab ihm alle Schimpfworte, die
sie kannte, die wüstesten, ägyptische, griechische, lateinische,
aramäische. Sohn eines stinkenden Leibeigenen war er und einer
aussätzigen Hure. Aus allem Aas der Welt war er gemacht, die acht
Winde hatten den Auswurf der Erde zusammengeweht, damit er daraus
wachse. Josef sah sie an. Sie war häßlich, wie sie so dahockte,
verwüstet, und mit ihrer scheppernden Stimme gegen ihn loskeifte.
Aber er verstand das gut, er war voll Mitleid mit sich und mit ihr,
und er liebte sie sehr. Dann plötzlich schlug sie um, sie liebkoste
ihn, ihr Gesicht war locker, weich und hilflos. Leise gab sie ihm
alle kleinen Worte der Lust zurück, die er ihr gegeben hatte,
bittend, schmeichelnd, voll Hingabe und Verzweiflung.
Josef sagte nichts. Mit sehr
leichter Hand streichelte er sie, die schlaff an ihm lag. Dann,
vorsichtig, von weit her, suchte er sich ihr klarzumachen. Nein, er
wollte sie nicht verlieren. Es war hart, was er von ihr verlangte,
daß sie, eine so Lebendige, dasitze und warte, aber er liebte sie
und wollte sie nicht verlieren und verlangte es von ihr. Nein, er
war nicht feig und wankelmütig, und auch nicht hölzern fühllos, wie
sie ihn geschimpft hatte. Sehr wohl war er fähig, etwas so
Kostbares wie sie zu sehen, zu greifen, zu schmecken, sich ganz
damit anzufüllen. Sie zu lieben. Er werde ja nicht lange
fortbleiben, ein Jahr höchstens.
»Das ist auf ewig«, unterbrach
sie ihn.
Und daß er fortgehe, sprach er
weiter, ernsthaft, dringlich, ihren Einwurf wegwischend, das
geschehe für sie nicht weniger als für ihn selber. In ihre Augen
stieg Spannung, Hoffnung und ein leises Mißtrauen. Sie immer
streichelnd, sehr behutsam, setzte er ihr seinen Plan auseinander,
ihn für sie umbiegend. Er glaubt an die Macht des Wortes, seines
Wortes. Sein Wort wird die Kraft haben, etwas zu erlangen, wonach
auch sie von innen her strebt. Ja, sein Buch wird ihr den Platz und
Rang unter den Herrschenden verschaffen, um den ihr Vater sich sein
Leben lang umsonst verzehrt hat. Heftig, doch schon leicht gelockt,
wehrte sie ab. Leise, fanatisch sprach er ihr ins Ohr, in den Mund,
in die Brust. Das Reich wird vom Osten ausgehen, dem Osten ist die
Herrschaft bestimmt. Aber der Osten hat es zu plump angefangen
bisher, zu grob, zu materiell. Die Herrschaft und die Macht, das
ist nicht dasselbe. Der Osten wird die Welt bestimmen, doch nicht
von außen her, sondern von innen. Durch das Wort, durch den Geist.
Und sein Buch wird ein wichtiger Zeichenstein auf diesem Wege
werden. »Dorion, mein Mädchen, meine Süße, meine Schäferin, siehst
du nicht, daß das eine zweite, tiefere Gemeinschaft zwischen uns
ist? Dein Vater stirbt fast daran, daß die Römer ihn nicht anders
anschauen als ein seltenes Tier, einen Königsfasan oder einen
weißen Elefanten. Ich, dein Mann, werde den Goldenen Ring des
Zweiten Adels haben. Du, die Ägypterin, von den Römern verachtet,
ich, der Jude, von Rom mit Mißtrauen, Scheu und halber Achtung
angesehen, wir zusammen werden Rom erobern.«
Dorion hörte zu, sie hörte seine
Worte mit dem Ohr und mit dem Herzen, sie sog sie in sich ein. Wie
ein Kind hörte sie zu, sie hatte sich die Tränen weggewischt, sie
schnupfte noch manchmal ein wenig auf, aber sie glaubte ihm, er war
ja so klug, und seine Worte gingen ihr lieblich ein. Ihr Vater
hatte sein Leben lang nur gemalt, das war gewiß etwas Großes, aber
dieser da hatte sein Volk aufgewiegelt, er hatte Schlachten
geschlagen, und dann hatte er selbst den Sieger überzeugt, daß der
an ihm hing. Ihr Mann, ihr schöner, starker, kluger Mann, sein
Reich geht von Jerusalem bis Rom, die Welt ist Wein für ihn, den er
in seine Schale schöpft; alles, was er tut, ist richtig.
Josef streichelt sie, küßt sie.
Sie schmeckt seinen Atem, seine Hände, seine Haut, und nachdem er
sich mit ihr gemischt hat, ist sie vollends überzeugt. Sie seufzt
glücklich, sie klammert sich an ihn, sie zieht sich zusammen, die
Beine hoch wie das Kind im Mutterleib, sie schläft ein.
Josef liegt wach. Er hat sie
leichter überzeugt, als er erwartet hat. Ihm wird es nicht so
leicht. Vorsichtig löst er ihre Arme und ihren Kopf von sich. Sie
knurrt ein wenig, aber sie schläft weiter.
Er liegt wach und denkt an sein
Buch. Sein Buch steht vor ihm, groß, drohend, eine Last, eine
Aufgabe, und dennoch beglückend. Das Wort des Vespasian vom Homer
hat ihn getroffen. Er wird nicht der Homer des Vespasian werden,
auch nicht des Titus. Er wird sein Volk singen, den großen Krieg
seines Volkes.
Wenn wirklich Bitternis und
Zerstörung sein wird, dann wird er der Mund dieser Bitternis und
Zerstörung sein, aber schon glaubt er nicht mehr an Bitternis und
Zerstörung, sondern an Freude und Bestand. Er selber wird den
Frieden vermitteln zwischen Rom und Judäa, einen guten Frieden voll
Ehre, Vernunft und Glück. Das Wort wird siegen. Das Wort verlangt,
daß er jetzt nach Judäa geht. Er sah die schlafende Dorion. Er
lächelte, strich ihr sehr zart über die Haut. Er liebte sie, aber
er war weit fort von ihr.
Die Unterredung, in der Vespasian dem Titus
seinen Entschluß mitteilte, ihn mit der Beendigung des Feldzugs in
Judäa zu beauftragen, war barsch und herzlich. Vespasian nahm
seinen Sohn um die Schulter, führte ihn auf und ab, sprach
vertraulich, ein guter Familienvater, auf ihn ein. Die Vollmachten,
die er ihm überließ, waren weit und erstreckten sich auf den ganzen
Osten. Außerdem gab er ihm vier Legionen für Judäa mit statt der
drei, mit denen er selber sich hatte begnügen müssen. Titus, voll
dankbarer Freude, gab sich offenherzig. Er strebte wirklich nicht
nach vorzeitiger Übernahme des Throns. Er war frei von den
Machtgelüsten des Früchtchens, er hatte ein römisches Herz. Später
einmal, nach einem glücklichen Alter Vespasians, das Reich
gutgefügt und in Ordnung zu übernehmen, auf dieser Zuversicht ließ
sich fest stehen, und er war kein Narr, sich von solchem Terrain in
einen Sumpf zu begeben. Vespasian hörte ihm wohlgefällig zu, er
glaubte ihm. Er schaute seinem Jungen ins Gesicht. Dieses Gesicht,
sehr rotbraun im judäischen Sommer, war im alexandrinischen Winter
weißer geworden, aber immer noch geeignet, der Armee und der Menge
zu gefallen. Die Stirn nicht schlecht, das Kinn kurz, hart und
soldatisch, nur die Wangen etwas zu weich. Und manchmal steigt in
die Augen des Jungen etwas Wirres und Törichtes, was dem Vater gar
nicht gefällt. Schon des Jungen Mutter, Domitilla, hat manchmal
solche Augen gehabt; sie hat dann idiotische, hysterische
Geschichten angestellt, und wahrscheinlich war es aus diesem Grund,
daß der Ritter Capella, von dem Vespasian die Frau übernommen hat,
sie seinerzeit hat loswerden wollen. Wie immer, dumm ist der Junge
nicht, und mit dem Rest der judäischen Aufgabe wird er schon
zurechtkommen, zumal da Vespasian ihm einen besonders klugen
Generalstabschef mitgibt, den Tiber Alexander. Donner und
Herakles!, alles wäre gut, wenn sich der Junge mehr an die
östlichen Männer halten wollte als an die Weiber.
Behutsam, in dieser vertraulichen
Stimmung, schneidet Vespasian das alte, leidige Thema wieder an:
Berenike. »Ich kann verstehen«, beginnt er das freundschaftliche
Männergespräch, »daß diese jüdische Dame im Bett Reize hat, die
eine griechische oder römische Frau nicht mitbringt.« Titus zieht
die Brauen hoch, er sieht jetzt wirklich aus wie ein Baby, er will
etwas entgegnen, diese Äußerung kratzt ihn, aber er kann seinem
Vater doch nicht sagen, daß er immer noch nicht mit der Jüdin
geschlafen hat; der würde einen ganzen Katarakt von Hänseleien über
ihn losprasseln lassen. Titus kneift also den langen Mund zusammen
und schweigt. »Ich gebe zu«, fährt der Alte fort, »diese östlichen
Menschen haben von ihren Göttern gewisse Fähigkeiten mitbekommen,
die wir nicht haben. Aber glaube mir, es sind keine wichtigen
Fähigkeiten.« Er legte seinem Jungen die Hand auf die Schulter,
redete ihm gut zu. »Siehst du, die Götter des Ostens sind alt und
schwach. Der unsichtbare Gott dieser Juden zum Beispiel, obwohl er
seinen Gläubigen gute Bücher eingegeben hat, kann, wie man mir
zuverlässig sagt, nur auf dem Wasser kämpfen. Er hat gegen den
ägyptischen Pharao nichts vermocht, als daß er die Wasser über ihn
zusammenschlagen ließ, und gleich zu Anfang seines Regiments wurde
er mit den Menschen nicht anders fertig, als daß er eine große Flut
über sie schickte. Zu Lande ist er schwach. Unsere Götter, mein
Sohn, sind jung. Sie verlangen nicht so viele Gewissensskrupel wie
die östlichen; sie sind weniger fein, sie begnügen sich mit ein
paar Ochsen und Schweinen und einem kräftigen Manneswort. Ich rate
dir, laß dich nicht zu tief ein mit den Juden. Es tut manchmal ganz
gut, zu wissen, daß es auf der Welt noch was andres gibt als die
Gedanken des Forums und des Palatins. Es schadet nichts, wenn du
dir manchmal von jüdischen Propheten und jüdischen Weibern ein
bißchen die Haut und das Herz kraulen läßt; aber glaub mir, mein
Sohn, das römische Exerzierreglement und das politische Handbuch
des Kaisers August sind Dinge, mit denen du im Leben besser
bestehst als mit allen Heiligen Schriften des Ostens.«
Titus hörte sich das still mit
an. Vieles, was der Alte sagte, war richtig. Aber er sah im Geist
die Prinzessin Berenike die Stufen einer Terrasse hinaufschreiten,
und vor ihrem Schritt verging alle römische Staatsweisheit in den
Wind. Wenn sie sagte: Lassen Sie mir Zeit, mein Titus, bis wir in
Judäa sein werden und bis ich judäischen Boden unter meinen Füßen
spüre. Dann erst kann ich mir klarwerden, was ich tun darf und was
nicht – wenn sie mit ihrer dunklen, beunruhigenden, leicht heisern
Stimme dies sagte, dann kam kein römischer Sieger- und Kaiserwille
dagegen an. Man mochte Herrschaft über die Welt haben und die
Macht, die Legionen von einem Ende der Erde zum andern zu werfen:
das Königtum dieser Frau war von vielen Müttern her legitimer,
königlicher als eine solche feste, nüchterne Herrschaft. Sein Vater
war ein alter Mann. Was im Grund aus den Worten dieses alten Mannes
sprach, war Furcht. Die Furcht, ein Römer werde den inneren
Anfechtungen des Ostens nicht gewachsen sein, seiner feineren
Logik, seiner tieferen Moral. Aber Rom hat griechische Weisheit und
griechisches Gefühl verdaut. Es war jetzt gebildet genug, auch
jüdisches Gefühl und jüdische Weisheit ohne Gefahr schlucken zu
können. Er jedenfalls, Titus, fühlte sich stark genug, beides zu
vereinigen: östliche Dunkelheit und Tiefe und römisch grade, klare
Herrenart.
Die Nachricht, Titus werde den judäischen
Feldzug beendigen und der Kaiser in absehbarer Zeit nach Rom
zurückkehren, erregte die Stadt Alexandrien. Die Weißbeschuhten
atmeten auf. Sie freuten sich, den Kaiser loszuwerden und ihren
stren gen Gouverneur Tiber Alexander dazu, und es war ihnen eine
Genugtuung, daß nun endlich gegen das freche Judäa mit vier
Legionen durchgegriffen werden wird. Das alte Hetzwort vom Juden
Apella lebte wieder auf. Wo immer Juden sich zeigten, schallte es
ihnen nach: Apella, Apella. Dann aber wurde es verdrängt von einem
andern Hetzwort, einem kürzeren, schärferen, das sich rasch über
die Stadt, über den Osten, über die Welt verbreitete. Der
Weißbeschuhte Chäreas hatte es erfunden, jener junge Herr, den
Josef einstmals mit seinem Schreibzeug niedergeschlagen hatte. Es
waren die Initialen des Satzes: Hierosolyma est perdita, Jerusalem
ist verloren. Hep, Hep, erklang es nun, wo Juden sich sehen ließen.
Hep, Hep, schrien insbesondere die Kinder, und man verband das Wort
mit dem andern, und durch die ganze Stadt johlte, schrillte es: Hep
Apella, Hep Apella, Apella Hep.
Josef ließ sich das Geschrei
nicht anfechten. Er, Berenike, Agrippa, der als Jude geborene
Marschall Tiber Alexander waren die Hoffnung der Juden, und wieder,
wo immer er erschien, begrüßte man ihn mit den Worten: Marin,
Marin. Er strahlte Zuversicht. Er kannte den Titus. Es war
unmöglich, daß der Marschall Tiber Alexander, von dessen Vater die
schönsten Weihgeschenke des Tempels stammten, es zuließ, daß dieser
Tempel zugrunde gehe. Es wird ein harter, kurzer Feldzug sein. Dann
wird Jerusalem sich ergeben, das Land wird, gesäubert von den
»Rächern Israels«, neu aufblühen. Er sieht sich selber schon als
einen der ersten Männer, sei es der römischen Provinzialverwaltung,
sei es der Jerusalemer Regierung.
Die Aufgabe freilich, die
unmittelbar vor ihm liegt, ist schwer. Er will ein ehrlicher
Mittler sein zwischen den Juden und den Römern. Beide Parteien
werden ihm mißtrauen. Wenn die Römer eine Schlappe erleiden, wird
man sie ihm in die Schuhe schieben; wenn es den Juden schlecht
geht, wird er daran schuld sein. Aber wie immer, er wird ohne
Bitterkeit bleiben und Augen und Herz ohne Bitterkeit offenhalten.
»O Jahve, gib mir mehr Herz, die Vielfalt deiner Welt zu begreifen.
O Jahve, gib mir mehr Stimme, die Größe deiner Welt zu bekennen.«
Er wird sehen, wird spüren, und dieser Krieg, sein
Unsinn, sein Schrecken und seine Größe wird
durch ihn von den Späteren weitergelebt werden.
Der ägyptische Winter war zu Ende, die
Nilschwelle vorbei. Die Regengüsse, die das sumpfige Land gegen
Pelusium schwer passierbar machten, hatten aufgehört, man konnte
die Armee von Nikopolis aus nilaufwärts transportieren und sie dann
auf der alten Wüstenstraße nach Judäa marschieren lassen.
Die Führer der alexandrinischen
Juden gingen stolz her, in gemessener Haltung wie stets, mit
ruhigen Gesichtern; aber innerlich waren sie voll Unrast. Sie waren
selber mitbeteiligt an der Mobilisierung, sie machten gute
Geschäfte an der Ausrüstung und der Verproviantierung der Armee.
Auch waren sie voll Ingrimm gegen die Aufrührer in Judäa und
billigten aus tiefstem Herzen, daß jetzt Rom den Fuß hob, um diese
Aufrührer vollends zu zertreten. Aber wie leicht konnte der Tritt
nicht nur die Aufrührer treffen, sondern auch die Stadt oder gar
den Tempel. Jerusalem war die festeste Feste der Welt, die
Aufrührer waren verblendet bis zur Selbstzerfleischung, und wenn
eine Stadt mit Gewalt genommen werden muß, wo hört da die Gewalt
auf, und wer kann der Gewalt gebieten aufzuhören?
Rom verhielt sich den
alexandrinischen Juden gegenüber korrekt und wohlwollend. Gegen die
Rebellen der Provinz Judäa wurde der Krieg geführt, nicht gegen die
Juden im Reich. Wenn aber die Regierung diesen Unterschied machte,
die Massen machten ihn nicht. Die Stadt Alexandrien mußte einen
großen Teil ihrer Garnison für den Feldzug abgeben. Die Juden
ließen es sich nicht merken, aber sie waren voll Sorge vor einem
Pogrom, ähnlich dem vier Jahre zuvor.
Sie bestrebten sich um so mehr,
dem Kaiser und seinem Sohn ihre Loyalität zu zeigen. Obwohl viele
aus der Gemeinde finster schauten, gab der Großmeister Theodor Bar
Daniel dem Prinzen Titus ein Bankett zum Abschied. Der Kaiser war
da, Agrippa, Berenike, der Stabschef des Titus, Tiber Alexander.
Auch Josef und Dorion waren eingeladen. Sie sahen ernst aus, von
leuchtender Blässe, sehr gesammelt, und alle sahen auf
sie.
Da lagen also diese hundert
Menschen, Juden und Römer, beim Mahl, und sie feierten, daß nun
morgen die Armee aufbrechen würde, verstärkt, vier Legionen stark
jetzt, die Fünfte, die Zehnte, die Zwölfte, die Fünfzehnte, von
Syrien her, von Ägypten her, um die freche jüdische Hauptstadt
einzuschließen und für immer zu demütigen. »Deine Bestimmung,
Römer, ist es, die Welt zu regieren, Unterwürfige schonend und
niederkämpfend die Frechen.« So hatte der Dichter gesungen, als der
Begründer der Monarchie das Reich fügte, und sein Wort wahr zu
machen, waren sie nun entschlossen, Römer und Juden, es wahr zu
machen durch Schwert und Schrift.
Das Festmahl dauerte nicht lange.
Auf eine kurze Rede des Großmeisters erwiderte Titus. Er war in der
Galauniform des Feldherrn, er sah gar nicht jungenhaft aus, seine
Augen waren hart, kalt und klar, und alle sahen, wie ähnlich er
seinem Vater war. Er sprach vom römischen Soldaten, von seiner
Zucht, seiner Milde, seiner Härte, seiner Tradition. »Andere haben
tiefer gedacht«, sagte er, »andere haben schöner gefühlt: uns haben
die Götter gegeben, im rechten Augenblick das Rechte zu tun. Der
Grieche hat seine Statue, der Jude hat sein Buch, wir haben unser
Lager. Es ist fest und beweglich, es ersteht jeden Tag von neuem,
eine kleine Stadt. Es ist der Schutz des Unterwürfigen, der dem
Gesetz sich fügt, und der Schrekken des Frechen, der dem Gesetz
trotzt. Ich verspreche Ihnen, mein Vater, ich verspreche Rom und
der Welt, daß Rom in meinem Lager sein wird, das alte Rom, hart, wo
es sein muß, und mild, wo es sein darf. Es wird kein leichter Krieg
sein, aber es wird ein guter Krieg sein, geführt auf römische Art.«
Es waren nicht nur Worte, die der junge General sprach, es war Sinn
und Wesen seines Geschlechts, es war die Mannhaftigkeit selber, die
da sprach, die Mannestugend, die die Bewohner jener kleinen
Siedlung auf den Tiberhöhen zu den Herren Latiums, Italiens, des
Erdkreises gemacht hatte.
Der Kaiser hörte vergnügt und
beipflichtend seinem Sohne zu; leise, mechanisch strich er sein
gichtisches Bein. Nein, die Jüdin wird diesen seinen Jungen nicht
herumkriegen. Und er sah mit einem kleinen, innern Schmunzeln auf
Berenike. Sie hörte zu, das dunkle, kühne Gesicht in die Hand
geschmiegt, reglos. Sie war voll Trauer. Dieser Mensch hat sie
jetzt völlig vergessen, hat sie ausgetilgt aus der letzten Falte
seines Herzens. Er ist nichts als Soldat, er hat gelernt zu
stechen, zu schießen, zu töten, niederzutreten. Es wird schwer
sein, seine Hand aufzuhalten, wenn er sie einmal gehoben
hat.
Es war sehr still in dem
leuchtenden Saal, während der Prinz sprach. Der Maler Fabull war
da. Das Gemälde der Prinzessin Berenike war fertig. Aber der Prinz
wollte es nicht mitnehmen, und dies war eine große Bestätigung des
Malers; denn das Bild, hatte der Prinz gesagt, ist so lebendig, daß
es ihn immer beunruhigen wird, wenn es in seiner Nähe ist, und er
hat jetzt einen Feldzug zu führen und kann solche Unruhe nicht
brauchen. Der Maler Fabull war älter geworden, sein Kopf war noch
strenger, aber sein Körper war weniger massig. Er starrte vor sich
hin, blicklos, wie das seine Art war, aber diese Blicklosigkeit war
Täuschung. Der Mann, der in diesen Wochen alt geworden war, sah
sehr gut. Er sah die hundert Gesichter, die Römer, die Herren, die
auszogen, um aufsässige Leibeigene zu züchtigen, und die Juden, die
Gezüchtigten, die ihren Herren die Hand leckten. Der Maler Fabull
war karg von Wort, ihm eignete nicht das Wort, aber er war ein
Meister, er begriff ohne Wort, was hinter diesen Gesichtern
vorging, mochten sie noch so zugesperrt sein. Er sah den Marschall
Tiber Alexander, der kalt und elegant dasaß und der das in vollem
Maß erreicht hatte, wonach er, Fabull, sein Leben lang vergeblich
sich zerrieben hatte, und er sah, daß dieser harte, gescheite und
mächtige Herr nicht glücklich war. Nein, keiner wohl von all diesen
Juden war glücklich, nicht der König und nicht Claudius Regin und
nicht der Großmeister. Glücklich und einverstanden mit sich und
ihrem Schicksal waren nur die Römer. Sie waren nicht tief, Weisheit
und Schönheit waren für sie kein Problem. Ihr Weg war grad und
einfach. Es war eine harte Straße und sehr lang, aber sie hatten
feste Beine und mutige Herzen: Sie gingen ihre Straße zu Ende. Die
Juden und Ägypter und Griechen hier in der Halle taten recht daran,
sie als die Herren zu feiern.
Er sah auch das Gesicht des
Menschen, zu dem seine Toch ter gelaufen war, den Lumpen, den Hund,
den Wegwurf, an den sie sich weggeworfen hatte. Aber siehe, es war
keines Lumpen Gesicht, es war das Gesicht eines kämpfenden Mannes,
der sich lange gestemmt hat gegen die Macht, der wissend geworden
ist und sich fügt, der die Macht anerkennt, aber mit tausend
listigen Vorbehalten, eines Kämpfers, der erkannt, aber sich nicht
ergeben hat. Der Maler Fabull versteht nichts von Literatur, er
will nichts davon wissen, er haßt sie, er ist voll von Erbitterung,
daß Rom die Literaten gelten läßt, nicht aber die Künstler. Allein
der Maler Fabull versteht etwas von Gesichtern. Er sieht Josef
zuhören, während Titus spricht, und er weiß, dieser Mensch, der
Beischläfer seiner Tochter, der Lump, der Hund, wird nun hingehen
und wird Titus begleiten und wird zuschauen, wie seine Stadt
untergeht, und wird es beschreiben. Er sieht das alles hinter dem
Gesicht des Mannes. Und kurz nachdem Titus zu Ende ist, geht er
hinüber zu Josef, ein bißchen zögernd, nicht so fest und
gravitätisch wie sonst. Dorion sieht ihm entgegen, ängstlich, was
nun geschehen wird. Aber es geschieht nichts. Der Maler Fabull sagt
zu Josef, und seine Stimme ist nicht ganz so sicher wie sonst: »Ich
wünsche Ihnen Glück, Flavius Josephus, zu dem Buch über den Krieg,
das Sie schreiben sollen.«
Anderen Tages in Nikopolis steigt
Josef auf das lange Schiff, das ihn nilaufwärts tragen wird. Der
Kai ist voll von Soldaten, Kisten, Koffern, Gepäck. Nur wenig
Zivilisten sind zugelassen, denn der Abschied hatte auf Anordnung
der Heeresleitung bereits in Alexandrien stattgefunden. Nur einer
hat sich’s nicht nehmen lassen, den Josef bis Nikopolis zu
begleiten: Claudius Regin. »Machen Sie Ihr Herz und Ihre Augen weit
auf, junger Herr«, sagt er, als Josef aufs Schiff steigt, »damit
Ihr Buch auch etwas wird. Hundertfünfzigtausend Sesterzien sind ein
unerhörter Vorschuß.«
Titus, unmittelbar bevor er das
Schiff bestieg, gab Weisung, die feuertelegrafischen Posten, die
Rom den Fall Jerusalems melden sollten und die Vespasian
zurückgezogen hatte, von neuem zu beziehen.
FÜNFTES
BUCH
Jerusalem
om 1.
Nissan an zeigten sich auf den Straßen Judäas die Pilger, die nach
Jerusalem hinaufzogen, um das Oster
lamm am
Altar Jahves zu schlachten und das Abendmahl in der heiligen Stadt
zu halten. Bürgerkrieg war, die Straßen waren voll von Räubern und
Soldaten, aber die Unbegreiflichen ließen sich ihre
Passah-Wallfahrt nicht nehmen. Sie kamen, alle Männlichen über
dreizehn Jahre, einzeln und in großen Zügen. Die meisten kamen zu
Fuß, beschuht, mit Wanderstab, den Wasserschlauch und den hörnernen
Behälter für die Wegzehrung um die Schulter. Manche kamen auf
Eseln, auf Pferden, auf Kamelen, reiche Leute zu Wagen oder in
Sänften. Ganz Reiche brachten Frau und Kinder mit.
Sie kamen von Babylon her auf der
großen, breiten Königstraße. Sie kamen auf den vielen schlechten
Feldwegen vom Süden her. Sie kamen auf den drei guten Heerstraßen
der Römer. Knirschend passierten sie die Säulen des Gottes Merkur,
die längs dieser Straßen errichtet waren, knirschend zahlten sie
die hohen Weg- und Brückenzölle. Aber sogleich wieder hellten sie
sich auf und zogen fröhlichen Gesichts weiter, wie das Gesetz es
vorschrieb. Des Abends wuschen sie sich die Füße, salbten sich,
sprachen den Segensspruch, freuten sich auf den Anblick des Tempels
und der heiligen Stadt, auf den Genuß des Osterlammes, des
fehllosen, männlichen, einjährigen.
Hinter den Wallfahrern her aber
kamen die Römer. Vier ganze kriegsstarke Legionen, dazu die
Kontingente der Vasallen, insgesamt an hunderttausend Mann. Am 23.
April, dem
10. Nissan jüdischer Rechnung, brachen sie
von Cäsarea auf, am 25. schlugen sie ihr Lager in Gabathsaul, dem
nächsten größeren Ort vor Jerusalem.
Die Soldaten, in Reihen zu sechs
Mann marschierend, nahmen die ganze Breite der Straße ein und
drängten die Wallfahrer auf die Feldwege. Im übrigen behelligten
sie die Pilger nicht. Nur wer die aufrührerische Binde mit dem Wort
Makkabi trug, den packten sie. Die Wallfahrer überfröstelte es, als
sie den Riesenwurm der Legionen gegen die Stadt vorkriechen sahen.
Vielleicht auch zögerte der eine oder andere einen Augenblick, aber
sie machten nicht kehrt, sie beschleu nigten, die Unbegreiflichen,
ihren Schritt. Abgewandten Blikkes, scheu drängten sie vorwärts,
zuletzt war es schon mehr eine Flucht. Und als am 14. Nissan, dem
Tag vor dem Fest, dem Tag des Abendmahls, die letzten Wallfahrer
die Stadt erreichten, da schlossen sich die Tore; denn hinter ihnen
auf den Höhen erschienen bereits die Vorhuten der Römer.
Von jeher hatte es als eines der
zehn Wunder gegolten, durch die Jahve sein Volk Israel
auszeichnete, daß den Wallfahrern zum Passah der Raum Jerusalem
nicht zu eng wurde. In diesem Jahr, eingezwängt in ihre Mauern,
abgeschnürt von den Dörfern ringsum, die sonst Obdach bieten
konnten, barst die Stadt von Menschen. Allein den Wallfahrern
machte die Enge nichts aus. Sie füllten die riesigen Hallen und
Höfe des Tempels, bewunderten die Herrlichkeit Jerusalems. Sie
brachten Geld mit, sie drängten sich in den Basaren.
Freundschaftlich rieben sie sich aneinander, machten gefällig einer
dem andern Platz, feilschten gut gelaunt mit den Händlern,
überbrachten ihren Bekannten Geschenke. In diesem Monat Nissan hat
Jahve die Juden errettet aus der Hand der Ägypter. Sie schauten auf
die anrückenden Römer mit Staunen und Neugier, doch ohne Angst. Sie
spürten den heiligen Boden unter ihren Füßen. Sie waren geborgen,
sie waren glücklich.
Titus und die Herren seiner Suite hielten auf
der Höhe des Hügels Schönblick. Zu ihren Füßen, besonnt, von tiefen
Schluchten durchfurcht, lag die Stadt.
Der Prinz, nun er sein berühmtes,
aufsässiges Jerusalem zum erstenmal erblickte, schmeckte die
Schönheit der Stadt ganz aus. Da schaute sie zu ihm herauf, weiß,
frech auf ihren kühnen Hügeln. Weit und leer liegt die weite
Landschaft hinter ihr, die vielen kahlen Gipfel, die Zedern- und
Pinienhänge, die Täler mit ihren Ackern, Oliventerrassen,
Weinbergen, das fern glitzernde Tote Meer; die Stadt davor aber
birst von Menschen, knapp läßt sie Raum für ihre tiefen
Straßenschluchten, füllt jeden Fuß Boden mit Behausung. Und wie die
stille Landschaft in die wimmelnde Stadt, so mündet die wimmelnde
Stadt wiederum in das Weiß und Goldene dort drüben, in das Geviert
des Tempels, das, so mächtig es ist, unendlich zart und rein in der
Luft schwimmt. Ja, die höchsten Punkte Jerusalems, das Fort Antonia
und das Dach des Tempelhauses, liegen viel tiefer als der Grund,
auf dem Titus jetzt steht, und dennoch ist es, als seien er und
sein Pferd an den Boden festgeklebt, während Stadt und Tempel
leicht und unerreichbar in der Luft schweben.
Der Prinz sieht die Schönheit der
Stadt. Gleichzeitig, mit dem Auge des Soldaten, sieht er ihre
Unzugänglichkeit. Auf drei Seiten Schluchten. Eine riesige Mauer um
das. Ganze. Und wenn die genommen ist, hat die Vorstadt ihre zweite
Mauer, die Oberstadt ihre dritte, und der Tempel auf seinem hohen,
steilen Hügel, die Oberstadt auf dem ihren sind wiederum zwei
Festungen für sich. Nur vom Norden her, da, wo er jetzt steht,
senkt sich das Gelände ohne tiefen Einschnitt hinunter in Stadt und
Tempel. Aber da liegen Mauern und Forts am festesten.
Unbezwinglich, frech, schaut das herauf zu ihm. Eine immer
unbändigere Lust füllt ihn, diese breiten, trotzigen Paläste
niederzureißen, sich durch die dicken Mauern mit Eisen und Feuer
einen Weg zu bahnen hinein in den Leib der spröden Stadt.
Der Prinz macht einen kleinen,
unbehaglichen Ruck mit dem Kopf. Er spürt den Blick Tiber
Alexanders auf sich. Titus weiß, daß der Marschall der erste Soldat
der Epoche ist, die beste Stütze des flavischen Hauses. Er
bewundert den Mann; sein kühnes Antlitz, sein federnder Gang
erinnern ihn an Berenike. Aber er fühlt sich schülerhaft in seiner
Gegenwart, die verbindliche Überlegenheit des Marschalls drückt
ihn.
Tiber Alexander sitzt trotz
seiner Jahre in guter Haltung auf seinem arabischen Rappen. Das
lange Gesicht mit der scharfen Nase ohne Regung, schaut er hinunter
auf die Stadt. Wie verwinkelt das alles ist. Es ist ein Wahnsinn,
wie sich diese Menschen bei ihren Wallfahrtsfesten in die Stadt
pressen, eng aneinander wie gesalzene Fische. Er war lange Jahre
Gouverneur in Jerusalem, er weiß Bescheid. Wie soll man die vielen
Hunderttausende auf die Dauer verproviantieren? Glauben die Führer,
diese Herren Simon Bar Giora und Johann von Gischala, ihn bald
loszuwerden? Wollen sie mit ihren vierundzwanzigtausend Mann seine
hunderttausend wegtreiben? Er denkt an seine Artillerie, an die
Rammböcke der Zehnten Legion, an den »Harten Julius« vor allem,
diese großartige, moderne Stoßmaschine. Der alte, erfahrene Soldat
schaut mit fast mitleidigem Blick auf die Stadt.
Sie schlagen sich noch immer
herum, die Unbelehrbaren, innerhalb ihrer Mauern. Sie hassen
einander mehr als die Römer. Sie haben in ihrem sinnlosen
Bürgerkrieg ihre ungeheuern Getreidevorräte niedergebrannt, Johann
hat gegen den Simon selbst in den Säulenhallen des Tempels
Artillerie aufgestellt. Still, ein wenig müde, grüßend und vertraut
gleitet der Blick des Marschalls das Geviert des Tempels entlang.
Sein eigener Vater hat die Metallbeschläge der neun Innentore
gestiftet, Gold, Silber, korinthisches Erz, ihr Wert betrug die
Steuereingänge einer ganzen Provinz. Trotzdem hat eben dieser
Vater, Großmeister der Juden von Alexandrien, es zugelassen, daß
er, Tiber Alexander, noch als Knabe aus dem Judentum ausschied. Er
ist seinem weisen Vater dankbar dafür. Es ist verbrecherische
Torheit, sich aus dem ausgeglichenen, sinnvollen Bereich
griechischer Kultur auszuschließen.
Mit einem ganz kleinen,
höhnischen Lächeln sieht er hinüber zu des Prinzen Sekretär und
Dolmetsch, der benommenen Gesichts auf die Stadt hinunterschaut.
Dieser Josephus will beides zugleich, Judentum und Griechentum. Das
gibt es nicht, mein Lieber. Jerusalem und
Rom, Jesaja und Epikur, das können Sie
nicht haben. Wollen Sie sich gefälligst für das eine entscheiden
oder für das andere.
Der König Agrippa neben ihm hält
das gewohnte höfliche Lächeln fest auf dem schönen, ein bißchen zu
fetten Gesicht. Er wäre lieber als Wallfahrer hier denn an der
Spitze von fünftausend Reitern. Er hat die Stadt vier Jahre nicht
gesehen, seitdem ihn dieses törichte Volk nach seiner großen
Friedensrede hinausjagte. Er schaut jetzt, der leidenschaftliche
Bauherr, mit großer Liebe und tiefem Bedauern auf Jerusalem nieder,
wie es weiß und geschäftig seine Hügel hinankriecht. Er selber hat
hier viel gebaut. Als die achtzehntausend Tempelarbeiter durch die
Fertigstellung des Baues brotlos wurden, hat er durch sie die ganze
Stadt neu pflastern lassen. Jetzt haben die Makkabi-Leute einen
Teil dieser Bauarbeiter zu Soldaten gepreßt. Einen von ihnen, einen
gewissen Phanias, haben sie zum Hohn für die Aristokraten gar zum
Erzpriester gemacht. Und wie sie seine Häuser zugerichtet haben,
den Herodespalast, das alte Makkabäer-Palais. Es ist schwer, Herz
und Antlitz bei solchem Anblick ruhig zu halten.
Ringsum arbeiten die Soldaten. In
das Schweigen der Herren, die reglos im leichten Wind auf der Höhe
halten, klingen ihre Spaten und Äxte. Sie schlagen ihre Lager, sie
ebnen das Terrain für die Zwecke der Belagerung ein, füllen auf,
tragen ab. Die Umgebung Jerusalems ist ein einziger großer Garten.
Sie schlagen die Ölbäume, die Obstbäume, die Weinreben. Sie reißen
die Villen auf dem Ölberg nieder, die Magazine der Brüder Chanan.
Sie machen das Land dem Erdboden gleich. Solo adaequare, dem
Erdboden gleichmachen, das ist der technische Ausdruck. Das muß man
zu Beginn einer Belagerung, es ist eine Elementarregel, jedem
Lehrling der Kriegskunst wird sie als erstes eingetrichtert. Der
jüdische König sitzt auf seinem Pferd, in guter und lässiger
Haltung, sein Gesicht blickt ein wenig müde, still wie immer. Er
ist jetzt zweiundvierzig Jahre alt. Er hat stets ja zur Welt
gesagt, obgleich sie voll von Dummheit und Barbarei ist. Heute
fällt es ihm schwer.
Josef ist der einzige, der seine
Miene nicht zähmen kann. So sah er einmal von Jotapat aus die
Legionen ihren pressenden Ring schließen. Er weiß, Widerstand ist
aussichtslos. Sein Hirn gehört denen, in deren Mitte er ist. Aber
sein Herz ist bei den andern, es kostet ihn Anstrengung, das
Geräusch der Äxte, Hämmer, Spaten zu ertragen, mit denen die
Soldaten die strahlende Umgebung der Stadt verwüsten.
Ein ungeheures Gedröhn brüllt aus
dem Tempelbezirk auf. Die Pferde werden unruhig. »Was ist das?«
fragt der Prinz. »Es ist die Magrepha, die hunderttonige
Schaufelpfeife«, erklärt Josef. »Man hört sie bis Jericho.« – »Euer
Gott Jahve hat eine gewaltige Stimme«, anerkennt Titus.
Dann, endlich, unterbricht er das
lange, benommene Schweigen. »Was denken Sie, meine Herren?«, und
seine Stimme klingt schmetternd, fast knarrend, ein Kommando mehr
als eine Frage. »Wie lange werden wir brauchen? Ich schätze, wenn
es gut geht, drei Wochen, wenn es schlecht geht, zwei
Monate. Auf alle Fälle möchte ich zum Fest des
Oktoberrosses in Rom zurück sein.«
Es waren bisher drei Heerführer gewesen, die
als Diktatoren Jerusalems einer den andern bekämpften. Simon Bar
Giora beherrschte die Oberstadt, Johann von Gischala die Unterstadt
und den äußeren südlichen Tempelbezirk, der Doktor Eleasar Ben
Simon das Innere dieses Bezirks, das Tempelhaus und das Fort
Antonia. Als nun an diesem Vortag zum Passahfest die Pilger in
Scharen zum Tempel hinaufströmten, um Jahve ihr Lamm zu schlachten,
wagte Eleasar nicht, ihnen den Eintritt in die inneren Höfe zu
wehren. Johann von Gischala aber mischte unter die Pilger viele
seiner Soldaten, und die, im Innern des Tempelbezirks, angesichts
des riesigen Brandopferaltars, warfen ihre Pilgerkleider ab,
standen in Waffen da, machten die Offiziere des Eleasar nieder,
nahmen ihn selbst gefangen. Johann von Gischala, auf diese Art in
den Besitz des gesamten Tempelbezirks gelangt, schlug dem Simon Bar
Giora vor, fortan gemeinsam den Feind vor den Mauern zu bekämpfen,
lud ihn ein, mit ihm in seinem Hauptquartier, dem Palais der
Fürstin Grapte, das Passahlamm zu verzehren. Simon nahm
an.
Gegen Abend also stand Johann
klein, schlau und vergnügt innerhalb der geöffneten Torflügel des
Hauses der Fürstin Grapte und erwartete seinen früheren Feind und
neuen Kampfgenossen. Simon, an den Wachen des Johann vorbei, die
ihm die Ehrenbezeigung erwiesen, stieg die Stufen des Hauses
herauf. Er und seine Begleiter waren gerüstet. Einen Augenblick
verdroß das den Johann, er selber war waffenlos, aber sogleich
wieder bezwang er sich. Ehrerbietig, wie es die Sitte wollte, ging
er drei Schritte zurück, neigte sich tief und sagte: »Ich danke
Ihnen herzlich, mein Simon, daß Sie gekommen sind.«
Sie gingen in das Innere. Das
Haus der Fürstin Grapte, einer transjordanischen Prinzessin,
vormals mit allem Prunk ausgestattet, war jetzt verwahrlost, eine
Kaserne. Simon Bar Giora, während er an der Seite des Johann durch
die kahlen Räume klirrte, musterte seinen Begleiter aus seinen
engen, braunen Augen. Dieser Mann Johann hat ihm alles Üble getan,
er hat ihm die Frau wegfangen lassen, um Konzessionen aus ihm
herauszupressen, sie haben gegeneinander gewütet wie wilde Tiere,
er haßt ihn. Trotzdem spürt er Respekt vor der Schlauheit des
andern. Vielleicht wird es Jahve diesem Johann nicht verzeihen, daß
er vor seinem Altar, der aus unbehauenen Steinen gefügt war, weil
Eisen ihn nicht berühren durfte, aus Pilgergewändern heimliche
Schwerter hat ziehen lassen; aber kühn war es, listig, tapfer.
Unwirsch, doch voll Achtung, ging er neben Johann her.
Man briet die Lämmlein
unmittelbar auf dem Feuer, wie das Gesetz es befahl, das ganze
Tier, die Kniestücke und die inneren Teile legte man von außen auf.
Sie sprachen die Gebete, die vorgeschriebenen Erzählungen über den
Auszug aus Ägypten, sie aßen mit Appetit die Lämmlein, sie aßen
ungesäuertes Brot dazu nach der Vorschrift und Bitterkraut nach der
Vorschrift zur Erinnerung an die Bitterkeit im Lande Ägypten.
Eigentlich waren die ganzen Plagen, mit denen Jahve Ägypten
geschlagen hatte, ein bißchen lächerlich, verglich man. sie mit den
Plagen, die über sie selber gekommen waren, und die Armee der Römer
war bestimmt furchtbarer als die der Ägypter. Aber das machte
nichts. Sie saßen jetzt zusammen in einem
Raum, leidlich versöhnt. Auch der Wein war gut, es war Wein von
Eschkol, er wärmte ihre verwilderten Herzen. Simon Bar Giora zwar
saß ernst da, aber die andern wurden vergnügt.
Nach dem Mahle rückten sie
zusammen, tranken gemeinsam die letzten der vorgeschriebenen vier
Becher Weines. Dann schickten die beiden Führer die Frauen und ihre
Leute weg und blieben allein.
»Wollen Sie einen Teil Ihrer
Geschütze mir und meinen Leuten überlassen?« begann nach einer
Weile Simon Bar Giora das ernsthafte Gespräch, mißtrauisch,
fordernd mehr als bittend. Johann schaute ihn an. Sie waren beide
abgezehrt, verwahrlost, verbittert von vielen Mühen, Pein und
Enttäuschung. Wie kann man so jung sein und so mürrisch? dachte
Johann. Es sind noch nicht drei Jahre, da war um diesen Mann ein
Strahlen wie um den Tempel selbst. »Sie können meine ganzen
Geschütze haben«, sagte er, offen, beinahe zart. »Ich will nicht
gegen Simon Bar Giora bestehen, ich will gegen die Römer bestehen.«
– »Ich danke Ihnen«, sagte Simon, und jetzt war in seinen engen,
braunen Augen etwas von der alten, wilden Zuversicht. »Dies ist ein
guter Passahabend, an dem Jahve Ihren Sinn für mich geöffnet hat.
Wir werden Jerusalem halten, und die Römer werden zerschmettert
werden.« Er saß schlank und aufrecht vor dem breiten Johann, und
man sah, daß er sehr jung war.
Johann von Gischalas klobige
Bauernhand spielte mit dem großen Weinbecher. Er war leer, und mehr
als die vier Becher durfte man nicht trinken. »Wir werden Jerusalem
nicht halten, mein Herr Simon, mein Bruder«, sagte er. »Nicht die
Römer, sondern wir werden zerschmettert werden. Aber es ist gut,
daß es Männer gibt mit einem solchen Glauben wie Sie.« Und er sah
freundschaftlich auf ihn, herzlich.
»Ich weiß«, sagte
leidenschaftlich Simon, »daß Jahve uns den Sieg geben wird. Und Sie
glauben es auch, Johann. Warum sonst hätten Sie diesen Krieg
angefangen?« Johann schaute nachdenklich auf die Feldbinde mit den
Initialen Makkabi. »Ich will nicht mit Ihnen rechten, mein Bruder
Simon«, sagte er nachgiebig, »warum mein Glaube in Jerusalem nicht
so fest ist wie in Galiläa.« Simon bezwang sich. »Schweigen Sie von
dem Blut und Feuer«, sagte er, »das zwischen uns war. Nicht Sie
waren schuld und nicht ich war schuld. Die Aristokraten und
Doktoren waren schuld.« – »Nun«, stieß ihn Johann vertraulich an,
»denen haben Sie es ja gegeben. Gesprungen wie syrische Seiltänzer
sind sie, die Herren Doktoren in ihren langen Röcken. Der alte
Erzpriester Anain, der sich im Großen Rat ein Ansehen gab wie der
zürnende Gott Jahve selber, damals lag er tot und bloß und
schmutzig und keine Augenweide mehr. Der wirft Sie kein zweites Mal
aus der Quadernhalle hinaus.« – »Nun«, sagte Simon, und jetzt ging
selbst über sein zerarbeitetes Gesicht ein kleines Lächeln, »Sie,
mein Johann, waren auch der Zahmste nicht. Wie Sie die letzten
aristokratischen Erzpriestersöhne erledigten, und wie Sie dann den
Bauarbeiter Phanias zum Erzpriester auslosten, und wie Sie den
dummen, tölpischen Burschen die Einkleidungszeremonien und den
ganzen Kram zelebrieren ließen, das kann man auch nicht gerade in
einer Lehrstunde für fromme Lebensart als Beispiel anführen.«
Johann schmunzelte. »Sagen Sie nichts gegen meinen Erzpriester
Phanias, mein Bruder Simon«, sagte er. »Er ist ein bißchen
schwerfällig, zugegeben, aber er ist ein guter Mann, und er ist ein
Arbeiter, kein Aristokrat. Er gehört zu uns. Und schließlich hat
das Los ihn bestimmt.« – »Haben Sie bei der Auslosung nicht ein
wenig nachgeholfen?« fragte Simon. »Wir stammen aus einem Land«, lachte Johann. »Dein Gerasa und mein
Gischala liegen nicht weit auseinander. Komm, mein Bruder Simon,
mein Landsmann, küsse mich.« Simon zögerte einen Augenblick. Dann
machte er die Arme auf, und sie küßten sich.
Dann, es ging gegen Mitternacht,
machten sie einen Rundgang, um Mauern und Wachtposten zu
inspizieren. Oft stolperten sie über schlafende Wallfahrer; denn
die Häuser boten nicht Raum, und in allen Torwegen, auf allen
Straßen lagen die Pilger, manchmal unter primitiven Zelten, oft nur
gehüllt in ihre Mäntel. Die Nacht war frisch, in der Luft lag dick
der Gestank von Menschen, Rauch, Holz, gebratenem Fleisch, Spuren
des Bürgerkriegs waren überall, um die Mauern stand der Feind, die
Straßen Jerusalems waren kein bequemes Bett. Aber die Pilger
schliefen gut. Dies war die Nacht der Obhut, und wie einstmals die
Ägypter, so wird Jahve jetzt die Römer mit Mann und Roß und Wagen
ins Meer schmeißen. Simon und Johann bemühten sich, ihre Schritte
zart zu setzen, und machten wohl auch um einen Schlafenden einen
umständlichen Bogen. Sie waren fachmännisch neugierig einer auf die
Verteidigungsmaßnahmen des andern. Sie fanden überall gute Zucht
und Ordnung, die Anrufe der Wachtposten kamen, wie sie
sollten.
Der Morgen schritt vor. Von
jenseits der Mauern klangen die Signale der Römer. Aber dann kam
vom Tempel her das ungeheure Getöse, mit dem das Tor zum Heiligen
Raum sich öffnete, und der gewaltige Laut der Schaufelpfeife, der
Magrepha, der den Beginn des Tempeldienstes verkündete, und er
überdeckte die Signale der Römer.
Die Legionen schanzten, von den
Mauern her wurden sie beschossen, sie erwiderten die Beschießung.
Gleichmäßig, wenn die schweren Geschosse der Römer heransurrten,
kam der aramäische Ruf der Wachen: »Geschoß kommt«, und lachend
gingen die Soldaten in Deckung.
Vom Turm Psephinus aus beschauten
Simon und Johann den beginnenden Kampf. »Es wird ein guter Tag,
mein Bruder Johann«, sagte Simon. »Es wird ein guter Tag, mein
Bruder Simon«, sagte Johann.
Die Geschosse der Römer kamen,
weiß, surrend, von weit her sichtbar. »Geschoß kommt«, rief es, und
die Soldaten lachten und warfen sich nieder. Aber dann kamen
Geschosse, die waren nicht mehr sichtbar, die hatten die Römer
gefärbt. Sie fegten eine Gruppe Verteidiger von den Mauern, und nun
lachte niemand mehr.
Am 11. Mai begab sich der Glasbläser Alexas
aus seinem Wohn- und Geschäftshaus in der Salbenmachergasse zu
seinem Vater Nachum in die Neustadt. Heute nacht hatten die Römer
trotz allen Widerstands ihre Rammböcke an die Mauer herangebracht,
durch die ganze Neustadt schütterten die dumpfen Stöße des »Harten
Julius«, ihres größten Widders. Jetzt muß es Alexas glücken, seinen
Vater zu überreden, sich, seine Leute und seine beste Habe aus der
gefährdeten Neustadt zu ihm in die Oberstadt zu flüchten.
Nachum Ben Nachum hockte vor
seinem Laden im Innern, unter der großen Glastraube, auf Polstern,
die Beine gekreuzt. Es waren Käufer da, man feilschte um ein
vergoldetes Kunstwerk aus Glas, ein Goldenes Jerusalem, einen
Kopfschmuck für Frauen. Abseits, von dem Gefeilsche ungestört,
brummelte der Doktor Nittai, den Körper schaukelnd, den ewigen
Singsang seiner Lehrsätze. Nachum Ben Nachum drängte die Käufer mit
keinem Wort. Sie gingen schließlich, unentschlossen.
Nachum wandte sich seinem Sohne
zu: »Sie werden wiederkommen, das Geschäft wird werden. In
längstens einer Woche wird der gesiegelte Kaufbrief im Archiv
liegen.« Nachums viereckiger Bart war gepflegt, seine Wangen
frischfarbig wie stets, seine Worte zuversichtlich. Aber Alexas
merkte gut die versteckte Angst. Wenn der Vater auch tat, als gehe
sein Tagewerk weiter wie immer, jetzt, beim Klang der Stöße des
»Harten Julius«, mußte auch er erkennen, daß die ganze Neustadt,
daß sein Haus und seine Fabrik gefährdet waren. In wenigen Wochen,
wahrscheinlich schon in Tagen, werden da, wo sie jetzt sitzen und
ruhevoll schwatzen, die Römer sein. Der Vater muß das einsehen und
zu ihm hinaufziehen. Man braucht ja nur ein paar Schritte zu gehen,
dort auf die Mauer, dann sieht man die Maschinen der Römer
arbeiten.
Nachum Ben Nachum unterdes setzte
behaglich sein optimistisches Geschwätz fort. Wäre es nicht Torheit
und Verbrechen gewesen, wenn er, dem Drängen des Sohnes nachgebend,
vor dem Passahfest aus der Stadt geflüchtet wäre? Eine Saison wie
diese war noch nie da. Ist es nicht ein Segen, daß die Pilger
vorläufig nicht aus der Stadt herauskönnen? Es bleibt ihnen nichts
übrig, als sich den ganzen Tag in den Läden und Basaren
herumzutreiben. Ein Glück ist es, daß er sich nicht vom Gerede
seines Sohnes hat irremachen lassen.
Alexas ließ den Vater reden.
Dann, still und beharrlich, bohrte er weiter: »Jetzt geben sie
selbst im Fort Phasael zu, daß sie die äußere Mauer nicht halten
können. In den Straßen der Schmiede und der Kleiderhändler sind
schon eine ganze Menge Läden geschlossen. Alle sind sie in die
Oberstadt hinaufgezogen. Nimm Vernunft an, laß den Ofen löschen,
zieh zu mir hinauf.«
Der Knabe Ephraim war zu ihnen
getreten. Er eiferte los gegen den Bruder. »Wir halten die
Neustadt«, glühte er. »Man müßte dich im Fort Phasael anzeigen. Du
bist schlimmer als der Gelbgesichtige.« Der Gelbgesichtige war ein
Prophet, der auch jetzt noch die Makkabi-Leute verhöhnte und
Verhandlungen und Unterwerfung anriet. Alexas lächelte sein fatales
Lächeln. »Ich wollte«, sagte er, »ich hätte die Kraft und das Wort
des Gelbgesichtigen.«
Nachum Ben Nachum streichelte
seinem jüngsten Sohne kopfnickend das dichte, sehr schwarze Haar.
Aber gleichzeitig in seinem Herzen erwog er die Reden seines
Ältesten, des Siebenklugen. Die Stöße des »Harten Julius« kamen
wirklich erschreckend gleichmäßig. Auch daß viele Einwohner der
Neustadt sich in die sichere Oberstadt verdrückten, war richtig.
Nachum hatte es mit eigenen Augen gesehen, und daß die »Rächer
Israels«, die jetzigen Herren der Stadt, es zuließen, bedeutete
einiges. Denn die »Rächer Israels« waren sehr streng. Zu streng,
fand der Glasbläser Nachum Ben Nachum. Aber das sagte er nicht
laut. Die Makkabi-Leute hatten scharfe Ohren, und Nachum Ben Nachum
hatte oft mit ansehen müssen, wie sie Bekannte von ihm, geachtete
Bürger, weil sie unbesonnene Äußerungen getan hatten, gefangen ins
Fort Phasael brachten oder sie gar an die Mauer führten, um sie zu
exekutieren.
Nachum wandte sich an Doktor
Nittai: »Mein Sohn Alexas rät, wir sollen zu ihm in die Oberstadt
hinaufziehen. Mein Sohn Ephraim erklärt, man werde die Neustadt
halten. Was sollen wir tun, mein Doktor und Herr?« Der dürre Doktor
Nittai richtete seine engen, wilden Augen auf ihn. »Die ganze Welt
ist Netz und Falle«, sagte er, »nur im Tempel ist
Sicherheit.«
An diesem Tage entschied sich der
Glasbläser Nachum nicht. Aber am nächsten Tag zog er sein altes,
viereckiges Arbeitskleid an, er hatte es durch viele Jahre nicht
getragen, sondern sich darauf beschränkt, mit den Käufern zu
verhandeln. Jetzt also holte er das alte Arbeitskleid hervor, zog
es an und hockte sich vor den Ofen. Seine Söhne und Gehilfen
standen um ihn herum. Auf altmodische Art, wie sie sein Sohn Alexas
für die Werkstatt längst abgeschafft hatte, nahm er mit der
Schaufel dünnflüssige Masse des geschmolzenen Belus-Sandes aus dem
Ofen, zwickte das zu formende Stück mittels einer Zange ab, formte
mit der Hand einen schönen, runden Becher. Dann gab er Weisung, den
großen, eiförmigen Ofen zu löschen, der nun so viele Jahrzehnte
hindurch gebrannt hatte. Er schaute zu, wie er erlosch, und betete
den Spruch, der bei Kenntnisnahme eines Todesfalles zu sprechen
ist: »Gelobt seist du, Jahve, gerechter Richter.« Dann, mit seiner
Frau, seinen Söhnen, Gehilfen, Leibeigenen, seinen Pferden, Eseln
und seiner ganzen Habe, begab er sich in die Oberstadt zum Hause
seines Sohnes Alexas. »Wer sich in Gefahr begibt«, sagte er, »kommt
darin um. Wer zu lange wartet, von dem zieht Jahve seine Hand ab.
Wenn du uns Platz geben willst, dann wohnen wir, bis die Römer fort
sind, in deinem Haus.« Die Augen des Glasbläsers Alexas verloren
ihren verhängten, bekümmerten Ausdruck. Er sah seit Jahren zum
erstenmal frisch aus, seinem Vater sehr ähnlich. Ehrerbietig trat
er drei Schritte zurück, führte die Hand an die Stirn, sagte, sich
tief neigend: »Die Ratschlüsse meines Vaters sind meine
Ratschlüsse. Mein niederes Haus ist glücklich, wenn mein Vater es
betritt.«
Drei Tage darauf nahmen die Römer
die äußere Mauer. Sie plünderten die Neustadt, verwüsteten die
Läden und Werkstätten der Kleidermacher, der Schmiede, der
Eisenarbeiter, der Töpfer, die Fabrik des Glasbläsers Nachum. Sie
machten das ganze Viertel dem Erdboden gleich, um Wälle und
Maschinen gegen die zweite Mauer heranzuführen.
Der Glasbläser Nachum Ben Nachum
strich seinen dichten, viereckigen, schwarzen Bart, in dem jetzt
einige graue Haare waren, wiegte seinen Kopf und sagte: »Wenn die
Römer fort sind, werden wir einen größeren Ofen hauen.« War er aber
allein, dann verhängten sich seine schönen Augen, der ganze Mann
sah bekümmert aus, seinem Sohne Alexas sehr ähnlich. Ach und oj,
dachte er. Nachums Glasfabrik war die beste in Israel seit hundert
Jahren. Die Doktoren haben mir erlaubt, den Bart, den mir Jahve so
lang und schön gemacht hat, kürzer zu tragen, auf daß er nicht
versengt werde von der glühenden Masse, der Doktor Nittai hat
gelebt von Nachums Glasfabrik. Und wo ist Nachums Glasfabrik jetzt?
Vielleicht sind die Makkabi-Leute tapfer und gottesfürchtig. Aber
es kann nicht der Segen Jahves sein mit einem Unternehmen, bei dem
Nachums Glasfabrik zugrunde geht. Man hätte unterhandeln sollen.
Mein Sohn Alexas hat es immer gesagt. Man sollte noch unterhandeln.
Aber das darf man leider nicht laut sagen, sonst bringen sie einen
in das Fort Phasael.
Um diese Zeit waren die Preise
der Lebensmittel in der Stadt Jerusalem bereits sehr hoch
geklettert. Alexas kaufte gleichwohl, was immer er an
Nahrungsmitteln erraffen konnte. Sein Vater Nachum schüttelte den
Kopf. Sein Bruder, der Knabe Ephraim, drang mit wilder Rede auf ihn
ein wegen seiner Schwarzseherei. Aber Alexas kaufte weiter, was
immer an Lebensmitteln er auftreiben konnte. Einen Teil dieses
Vorrats versteckte und vergrub er.
Am 30. Mai erstürmten die Römer die zweite
Mauer. Sie mußten diesen Sieg mit großen Verlusten an Menschen und
Material bezahlen; denn Simon Bar Giora hatte die Mauer mit
Zähigkeit und Geschick verteidigt. Eine ganze Woche lang hatten die
Römer Tag und Nacht unter Waffen stehen müssen.
Titus gönnte den erschöpften
Leuten eine Pause. Er setzte für diese Zeit die Soldzahlung an,
dazu eine Parade und die feierliche Überreichung der Ehrenzeichen
an die verdienten Offiziere und Mannschaften.
Seit seinem Abmarsch von Cäsarea
hatte er sich den Anblick der Berenike versagt. Nicht einmal des
Malers Fabull schönes Bild von ihr hatte er in seinem Zelt
aufgestellt, weil er fürchtete, schon ihre Gegenwart im Bild könnte
ihn von seinen soldatischen Aufgaben abziehen. Jetzt gönnte er auch
sich Ablenkung und Erholung und bat durch einen Eilkurier um ihren
Besuch.
Doch schon als er ihr
entgegenritt, wußte er, daß er es falsch gemacht hatte. Nur fern
von der Frau fühlte er sich klar, sicher, ein guter Soldat. Sowie
sie da war, rannen ihm die Gedanken auseinander, Ihr Gesicht, ihr
Geruch, ihr Schritt, die leichte Heiserkeit ihrer dunkeln Stimme
brachten ihn um seinen Gleichmut.
Am Morgen des 3. Juni dann, die
Prinzessin Berenike neben sich, nahm er die Parade ab. Außerhalb
der Schußweite, doch in Sehweite der Belagerten, rückten die
Truppen aus, Die Legionen zogen vorbei, in Reihen zu sechs Mann, in
voller Rüstung, die Schwerter entblößt. Die Reiter führten ihre
geschmückten Pferde am Zügel. Die Feldzeichen glänzten in der
Sonne, weithin glitzerte es silbern und golden. Auf den Mauern
Jerusalems wohnten die Belagerten dem Schauspiel bei. Die ganze
nördliche Mauer, die Dächer der Tempelkolonnaden und des
Tempelhauses waren besetzt mit Menschen, die in der prallen Sonne
hockten und die Macht, die Zahl, den Glanz ihrer Feinde
beschauten.
Nach dem Defilé verteilte Titus
die Ehrenzeichen. Man war mit diesen Fähnchen, Lanzen, goldenen und
silbernen Ketten sehr sparsam. Unter den hunderttausend Mann der
Belagerungsarmee waren es noch keine hundert, die man damit
bedachte. Einer vor allem fiel auf, ein Subalternoffizier, der
Hauptmann Pedan, Zenturio des Ersten Manipels der Ersten Kohorte
der Fünften Legion, ein vierschrötiger Mann von etwa fünfzig
Jahren, mit einem nackten, roten Gesicht, blond, ein wenig
angegraut. Beunruhigend über seiner frechen, weitnüstrigen Nase
stand ein blinzelndes, blaues Auge und ein totes, künstliches. Der
Hauptmann Pedan trug bereits die höchste Auszeichnung, die ein
Soldat erringen konnte, den Kranz aus Gras, den nicht der Feldherr,
sondern die Armee verlieh, und nur an solche Männer, deren Umsicht
und Tapferkeit das ganze Heer aus der Gefahr gerettet hatte. Dem
Hauptmann Pedan war der Kranz aus den Gräsern eines armenischen
Hochplateaus geflochten worden, der Gegend, in der er unter dem
Marschall Corbulo sein Armeekorps durch List und kaltes Blut aus
der Umzingelung parthischer Übermacht herausgehauen hatte. Der
Hauptmann Pedan mit seiner Frechheit, seiner Tollkühnheit, seiner
gemeinen und gescheiten Zunge war der Liebling der Armee.
Die Ehrenkette, die Titus ihm
jetzt überreichte, war keine große Sache. Der Erste Zenturio der
Fünften Legion sprach beiläufig die vorgeschriebene Dankformel.
Dann mit seiner quäkenden, weithin vernehmbaren Stimme fügte er
hinzu: »Eine Frage, Feldherr. Haben Sie auch schon Läuse? Wenn wir
hier nicht bald Schluß machen, dann kriegen Sie sie bestimmt. Wenn
Sie dem Hauptmann Pedan einen Gefallen tun wollen, Feldherr, dann
nehmen Sie Ihre Kette zurück und erlauben ihm, daß er als erster
die Brandfackel wirft in das verfluchte Loch, in dem diese
Mistjuden ihren Gott verstecken.« Der Prinz spürte, wie Berenike
gespannt auf seine Erwiderung wartete. Etwas gezwungen sagte er:
»Was wir mit dem Tempel anfangen, steht bei meinem Vater, dem
Kaiser. Im übrigen wird sich niemand mehr freuen als ich, wenn ich
Ihnen eine zweite Auszeichnung verleihen kann.« Er ärgerte sich,
daß ihm nur eine so kümmerliche Antwort eingefallen war.
Auch Josef erhielt eine
Auszeichnung, eine kleine Schildplatte, über dem Panzer auf der
Brust zu tragen. »Nehmen Sie, Flavius Josephus«, sagte Titus, »den
Dank des Feldherrn und der Armee.« Zwiespältigen Gefühls starrte
Josef auf die große, silberne Plakette, die der Prinz ihm hinhielt.
Sie stellte das Haupt der Meduse dar. Sicher glaubte Titus ihn zu
beglücken, wenn er unter die wenigen, die er auszeichnete, ihn, den
Juden, aufnahm. Aber so wenig mühte er sich, ihn zu verstehen, daß
er für solche Auszeichnung gerade das Medusenhaupt wählte, verpönte
Darstellung nicht nur menschlicher Gestalt, sondern
götzendienerisches Symbol. Es war kein Einverständnis möglich
zwischen Juden und Römern. Sicher war dem Prinzen, der ihm
wohlwollte, der Gedanke nicht einmal gekommen, daß eine solche
Schildplatte dem Juden Kränkung mehr als Auszeichnung sein mußte.
Josef war voll von Trauer und Beklommenheit. Allein er bezwang
sich. »Ich bin es«, erwiderte er ehrerbietig die Formel, »der dem
Feldherrn und der Armee zu danken hat. Ich werde versuchen, dieser
Auszeichnung würdig zu sein.« Und er nahm die Schildplatte. Groß,
das kühne Gesicht unbewegt, stand Berenike. Auf der Mauer, Kopf an
Kopf, schauten die Juden zu, schweigend in der prallen
Sonne.
Den Prinzen unterdes packte ein
immer tieferer Verdruß. Was wollte er mit dieser Parade? Berenike
wußte so gut wie er, was die römische Armee war. Sie ihr auf so
protzige Art vorzuführen war taktlos, barbarisch. Da hockten diese
Juden auf ihren Mauern, ihren Dächern, die gedrängten Tausende,
schauten zu, schwiegen. Wenn sie geschrien hätten, gehöhnt. Ihr
Schweigen war eine tiefere Ablehnung. Auch Berenike hat während des
ganzen Vorbeimarsches kein Wort gesprochen. Dieses jüdische
Schweigen verstörte den Titus.
Mitten in Betretenheit und
Verdruß hat er eine Idee. Er wird eine neue, ernsthafte
Vermittlungsaktion unternehmen. Als Einleitung einer solchen Aktion
bekommt seine Parade Sinn und Verstand. Der Herr dieser Armee darf
sich’s leisten, den Gegner zu Verhandlungen einzuladen, ohne daß
man ihm das als Zeichen von Schwäche auslegt.
Leicht freilich fällt ihm dieser
Entschluß nicht. Noch hält sein Vater die Fiktion aufrecht, es
handle sich nicht um einen Feldzug, sondern um eine
Polizeimaßnahme. Seine, des Titus, Meinung ist das nicht. Er und
seine Armee sehen als Lohn und Ende ihrer Mühe einen Triumph in Rom
vor sich, ein strahlen des, ehrenvolles Schauspiel. Schließt aber
das Unternehmen mit Vergleich ab, dann kriegt er seinen Triumph
nicht. Trotzdem: er steht hier nicht für sich. Rom treibt Politik
auf weite Sicht. Er wird den Vermittlungsvorschlag
machen.
Diesen Entschluß einmal gefaßt,
hellt Titus sich auf. Jetzt hat seine Parade auf einmal Sinn, auch
die Gegenwart der Frau hat Sinn. Des Prinzen Blick und Stimme
werden jungenhaft, zuversichtlich. Er hat Freude an seinen
Soldaten, er hat Freude an der Frau.
Die Zusammenkunft der Römer mit den Juden
fand in der Nähe des Turms Psephinus statt, in Reichweite der
jüdischen Schußwaffen. Von den Wällen ihres Lagers schauten die
Römer, von den Stadtmauern die Juden zu, wie ihre Abgesandten sich
trafen. Sprecher der Römer war Josef, Sprecher der Juden der Doktor
und Herr Amram, Josefs Jugendfreund. Die Juden hielten zwischen
sich und Josef peinlich den Abstand von sieben Schritten, sie
machten, wenn er sprach, zugesperrte Gesichter. Nie an ihn
richteten sie das Wort, immer an seine beiden römischen
Begleiter.
Man lagerte auf der kahlen,
besonnten Erde, Josef war waffenlos. Er hatte sich mit aller
Inbrunst vorbereitet, die in der Stadt zur Vernunft zu bekehren.
Sie hatten ihn Tag für Tag ihren Haß spüren lassen. Oft hatte man
ihm Bleikugeln und andere Geschosse der Belagerten gebracht mit der
eingeritzten aramäischen Inschrift: »Triff den Josef.« Sein Vater,
sein Bruder lagen in den Kerkern des Forts Phasael, aufs übelste
gequält. Er achtete es nicht. Er hatte alle Bitterkeit aus seinem
Herzen getilgt. Hatte gefastet, gebetet, Jahve möge seiner Rede
Kraft geben.
Es duldete ihn nicht auf der
Erde, als er jetzt zu sprechen anhub. Er sprang auf, hager stand er
in der Sonne, die Augen noch heißer als sonst vom Fasten und von
dem Willen, zu überzeugen. Vor sich sah er das zugesperrte,
verwilderte Gesicht des Doktor Amram. Seit Jotapat hatte Josef von
Amram nichts mehr gehört, als daß er es war, der seine Bannung
gefordert hatte. Es war kein gutes Zeichen, daß ihm die Juden als
Partner gerade diesen seinen Studienkameraden schickten, der ihn
mit gleicher Leidenschaft geliebt und gehaßt hatte. Wie immer, die
Vorschläge, die Josef mitbringt, sind ungewöhnlich milde. Die
Vernunft verlangt, sie zu erwägen. Beschwörend, mit scharfer,
dringlicher Logik sprach Josef auf die jüdischen Abgesandten ein.
Die Römer, setzte er ihnen auseinander, verpflichten sich, im
ganzen Land den früheren Zustand herzustellen. Sie garantieren das
Leben aller Zivilpersonen in der belagerten Stadt, die Autonomie
des Tempeldienstes. Ihre einzige Forderung ist, daß die Garnison
sich auf Gnade und Ungnade ergibt. Josef redete dem Doktor Amram
zu, im Singsang, in den Formeln des theologisch-juristischen
Disputs, die ihnen aus ihrer gemeinsamen Studienzeit vertraut
waren. Er gliederte: »Was habt ihr zu verlieren, wenn ihr die Stadt
übergebt? Was habt ihr zu gewinnen, wenn ihr es nicht tut? Übergebt
ihr die Stadt, dann bleibt die Zivilbevölkerung, der Tempel, der
Dienst Jahves gerettet. Muß die Stadt aber mit der Waffe erstürmt
werden, dann ist alles verloren, Armee, Bevölkerung, Tempel. Ihr
sagt vielleicht, die Armee sei nicht schuldiger als ihr, sie habe
nur euern Willen ausgeführt. Mag sein. Aber schickt ihr nicht auch
den Bock in die Wüste und legt ihm die Sünden aller auf? Schickt
die Armee zu den Römern, laßt einige büßen statt aller.«
Leidenschaftlich, beschwörend ging er auf den Doktor Amram zu. Aber
der rückte fort von ihm, hielt die sieben Schritte
Abstand.
Kühl dann, als Josef zu Ende war,
unterbreitete Doktor Amram den Römern die Gegenbedingungen der
Juden. Er hätte sicher lieber aramäisch gesprochen, aber er wollte
nicht mit Josef reden, so sprach er lateinisch. Er forderte freien
Abzug der Garnison, Ehrenbezeigung für ihre Führer Simon Bar Giora
und Johann von Gischala, die Garantie, daß niemals mehr eine
römische Truppe nach Jerusalem gelegt werde. Das waren ungeheuer
dreiste Forderungen, offenbar dazu bestimmt, die Verhandlungen zu
sabotieren.
Langsam, in mühsamem Latein,
maskiert ins Gewand sachlicher Bedingungen, kam der aufreizend
freche Unsinn aus dem verwilderten Antlitz des Amram. Josef hörte
zu, auf der Erde hockend, müde vor Trauer über seine Ohnmacht. Von
den Mauern schauten viele Gesichter. Eines, ein stures, fanati
sches, mit törichten Augen, quälte Josef besonders, es lähmte ihn,
es war wie ein Teil der Mauer, man konnte ebensogut an die Mauer
hinsprechen. Dabei glaubte er, dieses Gesicht schon gesehen zu
haben. So waren die Gesichter gewesen, die in Galiläa zu ihm
hochgeblickt hatten, in stumpfer Bewunderung. Vielleicht war der
junge Mensch einer von denen, die ihm damals zugejubelt hatten:
Marin, Marin.
Der Oberst Paulin versuchte noch
einige freundliche, vernünftige Worte. »Lassen Sie uns nicht so
auseinandergehen, meine Herren«, bat er. »Machen Sie uns einen
andern Vorschlag, einen, den man erwägen kann.«
Der Doktor Amram beriet eine
kleine Weile flüsternd mit seinen beiden Begleitern. Dann, immer in
seinem schweren Latein, höflich, doch sehr laut, sagte er: »Gut,
wir haben einen andern Gegenvorschlag. Übergeben Sie uns die Leute,
die wir für die Schuldigen halten, und wir nehmen Ihre Bedingungen
an.« – »Was sind das für Leute?« fragte mißtrauisch der Oberst
Paulin. »Das ist«, erwiderte der Doktor Amram, »der Mann Agrippa,
früher König der Juden, die Frau Berenike, früher Prinzessin in
Judäa, und der Mann Flavius Josephus, früher Priester der Ersten
Reihe.« – »Schade«, sagte der Oberst Paulin, und die römischen
Herren wandten sich, um zu gehen.
In diesem Augenblick kam ein
schriller Ruf von der Stadtmauer: »Triff den Josef!«, und mit dem
Ruf kam schon der Pfeil. Josef sah noch, wie der Schütze auf der
Mauer zurückgerissen wurde. Dann fiel er um. Es war der junge
Mensch mit dem stumpfen, fanatischen Gesicht, der geschossen hatte.
Der Pfeil hatte Josef nur am Oberarm getroffen. Es war wohl mehr
die Erregung als die Wunde, die ihn umwarf.
Der Prinz Titus war über den jämmerlichen
Ausgang der Vermittlungsaktion sehr erbittert. Die Frau war daran
schuld, daß er diesen läppischen Schritt getan hat. Sie nahm ihm
seine Klarheit, machte seine grade Linie krumm. Er mußte mit dieser
Angelegenheit Berenike zu Ende kommen.
Wie war ihre Bedingung? Wenn zur
Zeit, da die Römer in Jerusalem einziehen, der Hain von Thekoa noch
steht, dann mag mir Titus aus dem Holz meiner Pinien das Brautbett
machen lassen. Ihre Bedingung ist erfüllt. Daß er Jerusalem nehmen
wird, daran ist kein Zweifel mehr. Er hat dem Hauptmann Valens, dem
Kommandanten von Thekoa, Auftrag gegeben, drei Pinien des Haines zu
fällen. Heute abend kann das Bett fertig sein. Er wird heute allein
mit Berenike zu Abend essen. Er will nicht länger warten. Er
schickte Leute, das Bett zu holen.
Es ergab sich, daß das Bett nicht
da war. Der Pinienhain von Thekoa stand nicht mehr, des Prinzen
Auftrag hat nicht erfüllt werden können. Titus schäumte. Hat er
nicht klaren Befehl gegeben, den Hain zu schonen? Ja, der Hauptmann
Valens hat diesen Befehl erhalten, aber dann, als das Holz für die
Laufgräben und Wälle knapp wurde, hat der Marschall Tiber Alexander
Gegenorder erteilt. Der Hauptmann Valens hat gezögert, hat
rückgefragt. Er konnte sich auf die schriftliche Weisung des
Marschalls berufen, den Hain entgegen der ersten Order zu
fällen.
Das Gesicht des Prinzen, als er
dies vernahm, änderte sich auf erschreckende Art. Aus dem klaren,
harten Antlitz des Soldaten wurde das eines sinnlos tobenden
Knaben. Er befahl Tiber Alexander zu sich, knurrte, fauchte. Je
maßloser der Prinz wurde, so kälter wurde der Marschall. Höflich
erklärte er, ein von allen zuständigen Stellen, auch vom Prinzen
unterzeichneter Erlaß befehle bei strengen Strafen die
Herbeischaffung alles verfügbaren Holzes. Die Bedürfnisse des
Krieges gingen den persönlichen Bedürfnissen eines einzelnen vor.
In den Feldzügen, die er bisher geleitet habe, habe er es stets so
gehalten und Ausnahmen nicht zugelassen. Der Prinz wußte nichts zu
erwidern. Der Mann hatte recht und war ihm zuwider, er war sich
selber zuwider. Ein starker Kopfschmerz klammerte ihm von den
Schläfen her den Schädel ein. Alles um ihn war trüb. Er liebt
Berenike. Er muß mit der Sache zu Ende kommen. Er wird
es.
Berenike ging durch das Lager von
Jerusalem, schön und ruhevoll wie immer. Unter ihrer Ruhe aber war
sie voll Aufruhr. Sie hat die Tage gezählt, die sie in Cäsarea ohne
Titus verbracht hat. Sie will es nicht wahrhaben, aber sie hat ihn
entbehrt. Seitdem er die Leitung der Armee übernommen hat, ist er
nicht mehr der gutmütige Junge mit dem Knabengesicht, er ist ein
Mann, ist der Feldherr, besessen von seiner Aufgabe. Sie sagte sich
vor, es sei um Jerusalems willen, daß sie mit ihm zusammen ist,
aber sie weiß, das ist Lüge.
Beglückt war sie aufgebrochen,
als Titus sie jetzt in das Lager gerufen hatte. Aber als sie den
Raum um Jerusalem sah, um ihr Jerusalem, fiel ihre Freude zusammen.
Die herrliche Umgebung kahl gefressen wie von Heuschrecken, die
Fruchthaine, die Oliven, die Reben, die Landhäuser, die reichen
Magazine des Ölbergs fortrasiert, alles schauerlich nackt, glatt
und wüst gestampft. Als sie bei der Parade auf der Tribüne
gestanden war, neben dem Feldherrn der Römer, war ihr, als schauten
die Zehntausende auf den Mauern und den Dächern des Tempels nur auf
sie, anklagend.
Sie war durch wilde Schicksale
gegangen, sie war nicht sentimental, sie war den Geruch von
Heerlagern und von Soldaten gewöhnt. Aber der Aufenthalt hier vor
Jerusalem war schwerer, als sie gedacht hatte. Der geordnete
Reichtum des Lagers und die Not der an der Fülle ihrer Menschen
erstickenden Stadt, die soldatische Geschäftigkeit des Prinzen, die
verbindliche Härte Tiber Alexanders, die kahle, geschändete
Umgebung Jerusalems, alles quälte sie. Sie, wie der Prinz, wollte
zu Ende kommen. Mehrmals schon war sie im Begriff, den Mund
aufzutun: Was ist mit dem Hain von Thekoa? Steht noch der Hain von
Thekoa? Allein sie wußte nicht, sollte sie ein Ja wünschen oder ein
Nein.
Sie war müde und überreizt, als
sie an diesem Abend zu Titus kam. Er gab sich finster, glühend und
verbissen. Sie war trüb und kahl, Kraft und Willen waren ihr
ausgeronnen, sie wehrte sich schwach. Er nahm sie roh, seine Augen,
seine Hände, der ganze Mann war wüst und roh.
Berenike, nachdem er sie genommen
hatte, lag zerschlagen, den Mund trocken, die Augen trüb und stier,
das Kleid zerrissen. Sie fühlte sich alt und traurig.
Der Prinz starrte auf sie, den
Mund verkniffen, das Gesicht das eines bösen, hilflosen Kindes.
Jetzt hat er also seinen Willen gehabt. Hat es gelohnt? Es hat
nicht gelohnt. Es war kein Genuß gewesen, alles andre eher als ein
Genuß. Er wollte, er hätte es nicht getan. Er ärgerte sich über
sich selber, und er haßte sie. »Wenn du übrigens wirklich glaubst«,
sagte er boshaft, »daß der Hain von Thekoa noch steht oder daß
dieses Bett aus dem Holz der Bäume von Thekoa gemacht ist, dann
bist du angeschmiert. Wir haben für das Holz eine besondere
Verwendung. Dein eigener Vetter hat Order gegeben, den Hain zu
schlagen.«
Berenike stand langsam auf, sie
sah ihn nicht an, hatte keinen Vorwurf für ihn. Er war ein Mann,
ein Soldat, ein guter Junge im Grund. Schuld war dieses Lager,
schuld war der Krieg. Sie verkommen alle in diesem Krieg, sie
werden zu Tieren und Barbaren. Man hat alle denkbaren Greuel verübt
innerhalb und außerhalb der Mauern, hat die Menschen geschändet,
das Land, Jahve, den Tempel. Eine Tierhetze ist das Ganze wie in
der Arena an den großen Tagen, man weiß nicht, wer Tier ist und wer
Mensch. Jetzt hat also dieser Mann Titus sie genommen, ohne ihren
Willen, er hat sie betrogen, und hernach hat er sie verhöhnt,
trotzdem er sie liebt. Es ist das Lager, und es ist der Krieg. Es
ist diese wüste, stinkende Männerkloake, und ihr ist recht
geschehen, weil sie hergekommen ist.
Sie machte sich auf, jämmerlich,
mühevoll, sie sammelte ihre Glieder, sie raffte ihr Kleid, sie
schüttelte es, sie schüttelte den Dreck dieses Lagers von sich. Sie
ging. Sie hatte keinen Vorwurf für Titus, doch auch keinen Gruß.
Ihr Gang war noch immer, auch in dieser letzten Müdigkeit und
Demütigung, der Gang der Berenike.
Titus stierte ihr nach, schlaff,
ausgehöhlt. Es war sein Plan gewesen, die Frau aus seinem Blut zu
bringen. Er wollte sich seinen Feldzug, seine Aufgabe nicht
verhunzen lassen durch die Frau. Er wollte sie hinter sich haben,
dann Jerusalem nehmen, und dann, den Fuß auf dem besiegten
Jerusalem, sich entscheiden, ob er von neuem mit der Frau beginnen
soll. Es war ein schöner Plan gewesen, aber er war leider
schiefgegangen. Es hat sich gezeigt, daß leider bei der Frau mit
Gewalt nichts auszurichten war. Sie war keineswegs heraus aus
seinem Blut. Es hat gar nichts genützt, daß er sie genommen hat, er
hätte ebensogut eine beliebige andere nehmen können. Sie ist ihm
fremder als je. Er denkt scharf nach, er strengt sein Gedächtnis
an: nichts weiß er von ihr. Er kennt nicht ihren Geruch, ihr
Verlöschen, ihr Verströmen, ihre Lust, ihren Zusammenbruch. Sie ist
ihm versperrt geblieben durch sechs Schlösser und verhüllt durch
sieben Schleier. Diese Juden sind infernalisch gescheit. Sie haben
ein tiefes, höhnisches Wort für den Akt, sie sagen nicht: einander
beiwohnen, sie sagen nicht: sich miteinander mischen,
ineinanderhineingehen. Sie sagen: ein Mann erkennt eine Frau. Nein,
er hat diese verfluchte Berenike nicht erkannt. Und er wird sie nie
erkennen, solange sie sich ihm nicht gibt.
Berenike unterdes lief durch die
Gassen des Lagers. Sie fand ihre Sänfte nicht, sie lief. Kam in ihr
Zelt. Gab hastige, ängstliche Anweisung. Verließ das Lager, floh
nach Cäsarea. Verließ Cäsarea, floh nach Transjordanien, zu ihrem
Bruder.
Am 18. Juni berief Titus einen
Kriegsrat ein. Die Angriffe der Römer auf die dritte Mauer waren
fehlgeschlagen. Mit ungeheurer Mühe hatten sie gegen diese Mauer
und das Fort Antonia vier Wälle herangeführt, um ihre Panzertürme,
Geschütze, Sturmböcke in Stellung zu bringen. Aber die Juden hatten
Minenstollen gegen diese Werke gegraben, die Pfähle dieser Stollen
durch Pech und Asphalt zum Brennen und zum Einsturz gebracht und
mit ihnen die Dämme und Geschütze der Römer. Die mit soviel Mühe
und Gefahr errichteten Werke waren vernichtet.
Die Stimmung im Kriegsrat war
nervös und erbittert. Die jüngeren Herren forderten einen
Generalangriff mit allen Mitteln. Das war die gerade, steile Straße
zum Triumph, der allen vorschwebte. Die älteren Offiziere
widersprachen. Ohne Panzertürme und Rammböcke eine mit allen
Schikanen angelegte Festung zu stürmen, die von
fünfundzwanzigtausend verzweifelten Soldaten gehalten wird, ist
kein Spaß und kostet selbst im Glücksfall ungeheure Verluste. Nein,
so langwierig das sein wird, es bleibt nichts übrig, als neue Dämme
und Wälle zu bauen.