Eine böse Überraschung

Janko fiel vom Trab in einen leichten Galopp. Sina zügelte ihn und lachte. „Nicht so schnell, Alter. Ich weiß ja, dass du es kaum erwarten kannst. Aber wir sind noch nicht mal richtig aus der Stadt.“

Sie spürte die Ungeduld des Quarterhorses, die geballte Energie in jedem Muskel, jeder Sehne. Bei den anderen Pferden war es ganz genauso. Sie drängten nach vorn und ließen sich kaum im Zaum halten. Drei lange Tage hatten sie im Stall gestanden und waren fast nicht bewegt worden.

Heute schien endlich wieder die Sonne, die Wiesen leuchteten in strahlendem Grün und die Luft roch wie frisch gewaschen.

Noch ritten sie hintereinander. Tori auf Tibor, Juliana auf Nike, Ayla auf Saphir und Sina auf Janko. Aber hinter den letzten Häusern am Stadtrand endete der Weg vor der großen Wiese, die sich über eine Anhöhe bis zum Wald erstreckte. Dort ließen sie den Pferden immer freien Lauf und das konnten die Tiere jetzt kaum erwarten.

„Hat jemand Lust auf ein kleines Rennen?“, rief Sina. Janko wieherte begeistert, als habe er sie verstanden.

„Klar doch!“, schrie Tori über die Schulter zurück. „Aber mach dir keine Hoffnungen! Heute ist unser Tag, was, Tibor?“

Auf der Wiese ließen sie die Zügel locker und gaben den Pferden das Zeichen zum Galopp. Sina und Tori setzten sich im Nu an die Spitze. Janko und Tibor waren Westernpferde, die viel kräftiger und schneller waren als Julianas kleine Haflingerstute und Aylas schwerfälliger Freiberger-Wallach.

Sina jubelte. Der Wald flog förmlich auf sie zu. Unter ihr donnerten Jankos Hufe.

Tibor lag ein ganzes Stück vor Janko. Seine Hufe schlugen die Erde auf. Erdbrocken und Gras wirbelten durch die Luft. Tori lag weit nach vorn gebeugt auf seinem Rücken, ihr silberblonder Pferdeschwanz wippte unter dem Reiterhelm auf und ab. „Lauf, Tibor, gib alles!“, hörte Sina sie rufen.

Sina versuchte gar nicht erst, sie einzuholen. Sollte sie gewinnen, was kümmerte es Sina. Der Tag war so herrlich, die Sonne schien und David liebte sie. Wie zart er sie auf die Wange geküsst hatte! Ich finde dich nämlich total nett, Sina. Es war wie ein Traum, aus dem sie niemals, niemals mehr aufwachen wollte.

Zu allem Überfluss war auch Sue heute wieder viel ausgeglichener und fröhlicher als in den letzten Tagen. Wahrscheinlich hatte sie eingesehen, dass sie völlig überreagiert hatte.

Die Welt war perfekt.

„Was ist mit dir, du lahme Schnecke?“ Tori ließ sich ein Stück zurückfallen. „Willst du nicht kämpfen?“

„Na warte!“ Auch Sina legte sich jetzt nach vorn. Hm, wie gut Janko roch. Eine Sekunde lang schloss sie glücklich die Augen. Dann riss sie sich zusammen, schlug leicht mit den Zügeln gegen Jankos Hals und drückte die Absätze in seine Seiten. „Also komm, Alter. Zeig dem ollen Tibor, was in dir steckt! Den müden Ackergaul schaffst du doch mit links.“

Janko reagierte sofort. Er schoss nach vorn, die Nüstern weit aufgerissen. Aber der Vorsprung, den Tori sich erkämpft hatte, war zu groß. Janko erreichte das Ende der Wiese erst kurz nach Tibor.

Die beiden Mädchen sprangen von ihren Pferden.

„Und die Siegerin des heutigen Tages heißt wieder einmal: Tori Marquardt auf Tibor“, trompetete Tori durch ihre zu einem Trichter geformten Hände über die Wiese.

„Glückwunsch“, meinte Sina trocken. „Du bist die Größte!“

„Ich weiß.“ Tori grinste. „Aber jetzt mal raus mit der Sprache: Was ist los mit dir?“

„Hä?“

„Na, irgendwas stimmt doch nicht. Seit ich dich heute Morgen abgeholt habe, strahlst du, als hättest du eine Drei in Mathe bekommen.“

Verdammt! Tori konnte man wirklich nichts vormachen.

„Ich hab eben gute Laune. Weil die Sonne so schön scheint.“

„Klar. Und mit David hat das Ganze nichts zu tun?“

„David? Wie kommst du denn jetzt auf den?“ Ach, war das schön, seinen Namen auszusprechen. Am liebsten hätte sie ihn gleich noch mal gesagt. David. David. David. David.

Einen Moment lang war sie versucht, Tori alles zu erzählen. Früher hatte es keine Geheimnisse zwischen ihnen gegeben – wenn Sina sich über etwas freute, dann freute Tori sich mit ihr, und wenn Tori sauer war, dann kochte auch Sina vor Wut. Die Unzertrennlichen, hatten die anderen sie in der Grundschule immer genannt. Weil sie ein Herz und eine Seele waren. Aber das war jetzt vorbei.

Nein. Irgendetwas hinderte Sina daran, von ihren Gefühlen für David zu sprechen. Alles war so neu und zart und zerbrechlich. Sina hatte Angst, dass es kaputtgehen könnte, bevor es richtig angefangen hatte.

„Meine Güte, ihr hattet’s aber eilig“, erklärte Juliana, als sie und Ayla endlich den Waldrand erreicht hatten. Sie ließ sich von Nikes Rücken gleiten und reckte ihr Gesicht zur Sonne. „Wer hat denn gewonnen?“, fragte sie, ohne dabei die Augen zu öffnen.

„Ich natürlich“, meinte Tori. „Sina hat sich nicht mal richtig angestrengt. Sie ist viel zu verknallt dazu.“

„Verknallt?“, fragten Juliana und Ayla gleichzeitig.

„Blödsinn“, meinte Sina. „Tori hat einen Sonnenstich. Sie fantasiert. Beachtet sie einfach nicht. Wie war’s denn gestern bei den Fischers, Ayla?“

Nicht dass sie die Antwort wirklich interessierte. Die Fischers hatten bestimmt nichts mit ihrem Fall zu tun. Es gab nämlich gar keinen Fall.

„Super. Die haben mich direkt wieder rausgeworfen“, erklärte Ayla. „Gott sei Dank!“ Sie gab Nike einen Klaps.

Die Nase der Haflingerstute steckte bereits tief in dem saftigen, weichen Gras der Waldwiese. Auch die anderen Pferde hatten zu grasen begonnen.

Tori breitete eine alte Pferdedecke über die feuchte Bank am Waldrand und ließ sich darauf nieder. Die anderen Mädchen setzten sich neben sie.

„Das ging aber schnell“, meinte Juliana. „Wie hast du das denn geschafft?“

„Ich sollte zuerst staubsaugen. Links von mir war der Staubsauger, rechts von mir Frau Fischer. Erst dachte ich, sie wollte mir das Gerät erklären. Aber sie blieb die ganze Zeit an meiner Seite. Nicht nur beim Staubsaugen, sondern auch beim Staubwischen und Fegen und Kloputzen. Weil sie nämlich kontrollieren wollte, ob ich das auch ordentlich mache.“

„Und? Lass mich raten? Sie war unzufrieden.“

„So kann man das nicht sagen.“

„Nein? Warum hat sie dich dann rausgeworfen?“, fragte Juliana.

„Frau Fischer war nicht unzufrieden, sie war total angeekelt! Fräulein Maksut, Ihre Putztechnik ist einfach wi-der-wär-tig, sagte sie. Und dann hat sie mir erklärt, dass es sie jetzt nicht mehr wundert, dass die Türkei so verdreckt und verkommen ist.“

„Oje“, sagten Sina, Juliana und Tori wie aus einem Mund.

„Das hast du natürlich nicht einfach hingenommen“, meinte Tori.

„Natürlich nicht“, sagte Ayla und nickte zufrieden.

„Hast du die Porzellansammlung zerschmettert?“, fragte Juliana.

„Hast du Frau Fischer erschlagen?“, erkundigte sich Sina.

„Oder ihren Mann?“, riet Tori.

„Nee. So was mach ich doch nicht“, meinte Ayla verächtlich. „Ich hab nur den Putzeimer über den Perserteppich ausgekippt und bin gegangen.“

„Boah!“, sagte Tori beeindruckt.

„Und Frau Fischer?“, wollte Juliana wissen. „Wie hat sie reagiert?“

„Keine Ahnung.“ Ayla fuhr sich durch die kurzen schwarzen Haare, die wie immer in alle Richtungen abstanden. „Im Grunde kann sie sich ja freuen. Ich hab ihr nämlich meinen Lohn für zwei Stunden Putzarbeit erlassen. Großzügigerweise. Da hat sie doch glatt sieben Euro gespart.“

„Wow! Sie ist bestimmt außer sich vor Begeisterung. Wahrscheinlich macht sie gerade eine Flasche Champagner auf“, meinte Tori.

Juliana lachte. „Hast du denn nebenbei irgendwas rausgefunden, was uns weiterbringt? Ich meine, kannst du dir vorstellen, dass sie oder ihr Mann das Pferdemüsli in die Futterkammer gebracht haben?“

„Frau Fischer ist eine Hexe“, erklärte Ayla. „Ich trau ihr alles zu. Eine anonyme Anzeige ist noch das Geringste. Und den Sack hätte sie mit links auf die Sunshine Ranch getragen. Ich hab mit eigenen Augen gesehen, wie sie mal eben das zentnerschwere Sofa verrückt hat, damit ich dahinter putzen konnte. Einfach so, als wäre es ein Klappstuhl.“

„Trotzdem“, wandte Sina ein. „Ich finde die Vorstellung nach wie vor ziemlich bizarr, dass die Fischers sich nachts auf die Ranch schleichen könnten …“

„Ich nicht“, unterbrach sie Ayla. „Nicht nachdem ich dieses Scheusal besser kennengelernt habe. Sie ist voller Hass und Bosheit, genau wie ihr Mann. Und die Ranch stört sie enorm. Diese stinkenden Gäule und das Viehzeug dort drüben verpesten uns die ganze Luft, hat sie mir erklärt. Und Herr Fischer sagte, dass er lieber neben der Landebahn am Flughafen wohnen würde als neben der Ranch. Weil er das Kindergeschrei nicht ertragen kann.“

„Die haben ja wohl den totalen Knall!“, rief Juliana.

„Du sagst es“, meinte Ayla. „Also, für mich stehen die Fischers auf der Liste der Verdächtigen oben an erster Stelle.“

„Oder vielmehr – an einziger Stelle“, korrigierte Sina sie. „Außer den Fischers haben wir nämlich keine Verdächtigen mehr.“

„Was soll das denn heißen?“, fragte Tori.

„Ich hab mich gestern kurz mit David unterhalten.“ David, David, David. So ein schöner Name. Jetzt nur nicht rot werden. „Er findet Robert total in Ordnung und die Agentur läuft super. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass er etwas gegen die Sunshine Ranch haben könnte.“

„Was hat er erwartet?“, meinte Tori skeptisch. „Dass Robert eine Zielscheibe mit Sues Gesicht in der Agentur hängen hat, auf die er schießt? Wenn er was mit der Sache zu tun hat, wird er es seinem Praktikanten bestimmt nicht gleich am ersten Tag auf die Nase binden. David soll sich da mal gründlich umsehen. Vielleicht findet er doch noch was Auffälliges. Und was ist mit Viktor? Bist du da weitergekommen?“

Dieser Kommandoton. Warum musste sich Tori immer wie ein Feldwebel aufführen?

„Viktor ist absolut unverdächtig“, meinte Sina widerwillig. „Ich hab das Gefühl, dass er sich total gewandelt hat. Er hat sich bei mir entschuldigt, weil er sich im Sommer auf der Ranch wie ein Idiot aufgeführt hat. Eigentlich ist er … ganz nett.“

„Mann, Sina!“, rief Tori. „Wie naiv bist du eigentlich? Er will bei dir landen, deshalb erzählt er dir genau das, was du hören willst. Weißt du, in Wirklichkeit bin ich total sensibel. Ich finde, dieses Gesäusel macht ihn eher noch verdächtiger.“

„Das macht doch keinen Sinn! Vielleicht stimmt es und er will wirklich bei mir landen. Aber warum sollte er dann die Rachenummer mit der anonymen Anzeige und dem Futter starten? Das passt doch nicht zusammen!“

„Das stimmt“, gab Tori zu.

„Vielleicht ist das alles ja eine einzige große Show“, überlegte Juliana. „Einerseits tut er so, als sei er sensibel und nett, andererseits will er nur eins: Rache!“

Sina stand auf.

„Gehst du schon wieder?“, fragte Tori.

„Nee. Ich finde nur, ihr übertreibt ganz gewaltig. Ich meine, was ist denn schon passiert? Es gab eine anonyme Anzeige – dahinter könnten tatsächlich die Fischers stecken. Oder irgendein frustrierter Reitschüler. Und als die Polizei die Ranch überprüft hat, hat sie zufällig einen Futtersack gefunden, auf dem sich eine Schimmelschicht gebildet hat. Es gab eine Verwarnung. Ende der Geschichte. Es gibt überhaupt keinen Kriminalfall.“

„Vergiss das verdorbene Brot nicht“, meinte Tori.

„Meinetwegen. Trotzdem, ich glaube, wir haben alle überreagiert. Vor allem Sue.“

„Was schlägst du vor?“, fragte Ayla. „Dass wir unsere Nachforschungen wieder aufgeben? Ich bin dafür. Zu den Fischers bringen mich keine zehn Pferde mehr.“

„David wird sein Praktikum in der Agentur bestimmt zu Ende machen, er findet es nämlich ganz gut“, sagte Sina. „Und wenn er schon mal da ist, kann er sich ja auch für uns umschauen. Ich glaube nur nicht, dass er irgendwas finden wird, was uns weiterhilft. Und wenn ihr Lust habt, könnt ihr Viktor gerne überprüfen. Ich mach’s jedenfalls nicht.“

Juliana legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in den strahlend blauen Himmel.

„Sina hat Recht“, meinte sie. „Wahrscheinlich ist das alles Humbug. Eine Reihe von Zufällen, die nichts bedeuten, und wir machen einen Riesenwirbel darum. Ich schlage vor, wir sitzen wieder auf und reiten zum kleinen Wasserfall. Und dann nehmen wir den Weg über die Allee zurück.“

„Die lange Tour“, sagte Tori. „Warum nicht? Die Pferde haben sich genug die Beine in den Bauch gestanden. Wird Zeit, dass sie sich wieder ein bisschen bewegen.“

Sie schnalzte mit der Zunge. „Tibor! Es geht weiter.“

„Pferdebursche!“, rief Tori, als sie eine knappe Stunde später durchs Tor der Ranch ritten. „Hierher! Ich hätte vier Pferde abzugeben. Einmal trocken reiben, putzen und striegeln, das ganze Programm, Sie wissen schon!“

Ayla lachte. „Das wär schön, wenn jetzt jemand käme, dem wir die Arbeit aufs Auge drücken könnten. Aber wir sind hier leider nicht im Schloss, sondern auf der Sunshine Ranch.“

Juliana gähnte, während sie ihre langen Beine aus dem Sattel schwang. „Dabei bin ich hundemüde. Der Ritt war superanstrengend.“

Nike schnaubte und nickte, als wollte sie ihre Worte bestätigen. Das hellbraune Fell der zierlichen Haflingerstute war dunkel vor Schweiß.

„Wann erfindet eigentlich irgendjemand mal eine Pferdeputzmaschine?“, fragte Sina. „Klappe auf, Pferd rein, ein Knopfdruck und los geht’s. Hinten kommt dann das saubere Tier wieder raus. Das kann doch nicht so schwer sein. Die erfinden doch sonst auch alles Mögliche.“

„Da ist Hannah! Vielleicht hat die ja Lust auf ein bisschen Abwechslung und freut sich drauf, mal eben vier Pferde zu putzen. Hey, Hannah!“ Tori winkte der Freundin zu, dann sprang sie ebenfalls aus dem Sattel.

„Da seid ihr ja endlich!“ Hannah rannte zu ihnen herüber. „Mannomann, warum hat eigentlich keine von euch ihr Handy an! Wir haben verzweifelt versucht, euch zu erreichen!“

„Mein Handy war an“, sagte Tori. „Aber der Wald ist ein einziges Funkloch, da erreicht dich keiner. Ist was passiert?“

„Das kann man wohl sagen!“ Hannah keuchte vor Aufregung. „Hier war die Hölle los. Eine Katastrophe.“

„Was?“ Nun schwangen sich auch Sina und Juliana aus dem Sattel. „Erzähl schon! Was war los?“

Bevor Hannah berichten konnte, tauchte Myriam in der Stalltür auf. „Hannah! Du musst sofort kommen! Sue rastet vollkommen aus.“

Schon verschwand sie in Richtung Büro. Hannah drehte sich um und folgte ihr.

„Hier!“ Tori drückte Sina Tibors Zügel in die Hand. „Ich muss wissen, was passiert ist.“

„Warte, ich komm mit!“ Ayla übergab Juliana Saphirs Zügel und rannte den anderen nach.

Sina und Juliana starrten ihnen hinterher. „Du haust jetzt aber nicht auch noch ab!“, warnte Sina die Freundin.

„Was machen wir denn jetzt?“ Juliana hob ratlos die Zügel.

„Wir bringen erst mal die Pferde in den Stall. Wenn wir hier länger rumstehen, erkälten sie sich nur“, entschied Sina.