Tori greift ein

Als Sina am nächsten Morgen aufstand, war ihre Mutter schon weg. „Tut mir leid“, erklärte sie Sina zerknirscht, als diese sie auf dem Handy anrief. „Ich hatte einen ganz frühen Termin. Dafür versuche ich heute Abend eher zu Hause zu sein.“

„Kein Problem.“ Sina seufzte erleichtert. Es war gut, dass ihre Mutter nicht da war. Sie hätte sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und Sina stundenlang ausgefragt. Dabei war sie doch selbst vollkommen ratlos.

Die Ereignisse auf der Ranch. Robert, Viktor, ihre Beziehung zu David. Das war alles ein bisschen viel auf einmal.

Angewidert betrachtete Sina die Scheibe Toast auf ihrem Teller. Keinen Hunger. Sie trank einen Schluck Milch und radelte zur Ranch.

Frau Fischer fegte gerade den Bürgersteig vor ihrem Gartenzaun.

„Guten Morgen“, sagte Sina und wollte weiter.

„Sagen Sie dieser Frau Mirador, dass wir die Angelegenheit unserem Neffen übergeben haben, der ist nämlich Rechtsanwalt“, erklärte Frau Fischer, ohne zu grüßen.

„Welche Angelegenheit?“, fragte Sina.

„Unsere Forderung, dass der Esel eingeschläfert wird. Das Tier ist gemeingefährlich.“

Sina blieb vor Empörung fast die Luft weg. „Das ist ja lächerlich!“

Konnte man ein Tier töten lassen, nur weil es ausgebrochen war? Fritz war kein Kampfhund, er hatte nur ein paar Kakteen angeknabbert!

„Mein Vater ist auch Anwalt“, erklärte Sina. Das war eine glatte Lüge, ihr Vater war Leiter der örtlichen Stadtbücherei, von juristischen Dingen hatte er keinen blassen Schimmer. Aber das konnte Frau Fischer nicht wissen. „Er wird sich um die Sache kümmern.“

Frau Fischer antwortete nicht, sie blickte nicht einmal auf. Aber ihr Besen fegte jetzt so wild und wütend über das Pflaster, als könnte sie Sinas Worte einfach wegkehren.

„Schönen Tag noch“, sagte Sina.

Auf dem Hof der Sunshine Ranch stand Viktor. Er hatte Maxim gesattelt und aufgezäumt.

„Hi! Du scheinst ja neuerdings gar nicht genug von der Ranch zu kriegen.“ Sina schob ihr Fahrrad in den Ständer.

„Na ja, heute Nachmittag muss ich wieder arbeiten, da dachte ich, ich nutze den Vormittag zum Ausreiten. Was ist mit dir, hast du Lust mitzukommen?“

„Klar doch!“ Und ob sie Lust hatte. Die Luft war so frisch und klar und die Sonne schien. Ein Ausritt würde ihr wirklich guttun.

„Dann beeil dich. Wir warten hier auf dich.“

„Wir?“, fragte Sina. Dann sah sie Tori mit Tibor aus dem Stall kommen. Ganz offensichtlich hatte sie beschlossen, Viktor nicht länger Sina zu überlassen, sondern ihn sich selbst vorzunehmen.

Sinas Hände zitterten, als sie den Sattel vom Haken in der Sattelkammer riss. Was ist denn nur los mit mir?, fragte sie sich selbst. Die ganze Zeit über hatte sie sich geärgert, dass Tori ihr alle Nachforschungen überlassen hatte, und nun, da Tori endlich aktiv wurde, war es ihr auch nicht recht.

Sina zog den Sattelgurt mit großem Nachdruck straff. Janko warf den Kopf zurück und schnaubte empört. Zu fest! „Entschuldigung, Janko“, murmelte sie schuldbewusst.

Warum hatte sie ein so ungutes Gefühl dabei, wenn sie Tori und Viktor zusammen sah? Weil sie genau wusste, dass Tori Viktor nur benutzte. Sie schmeißt sich an ihn ran und tut so, als ob sie auf ihn steht, dachte Sina, während sie den Sattelgurt lockerte und Janko aus dem Stall führte. Nicht weil sie ihn wirklich mag, einfach nur, um möglichst viel aus ihm rauszukriegen. Und wenn sie ihn dabei verletzt, ist es ihr völlig egal.

Und ich mache mit, dachte Sina. Genau wie damals, als er auf Dakota ausreiten wollte. Ich schaue einfach zu, wie er in sein Unglück rennt.

Dann schüttelte sie den Kopf.

Worüber machte sie sich eigentlich so viele Gedanken? Gestern hatte sie doch auch keine Skrupel gehabt, in Roberts Unterlagen herumzuschnüffeln. Die Ranch war in Gefahr und sie mussten sie retten. Das war das Einzige, was zählte. Und außerdem: Was interessierte sie Viktor? Sie war schließlich mit David zusammen.

Auf der Wiese vor dem Wald ließen sie die drei Pferde nebeneinander traben. „Und?“, erkundigte sich Tori. „Wie gefällt es dir, wieder auf einem Pferd zu sitzen?“

„Super“, sagte Viktor. „Ich hab seltsamerweise gar keine Angst. Nach dem Unfall dachte ich eine Zeit lang, dass ich es überhaupt nicht mehr schaffen würde zu reiten. Ich hatte nachts Albträume, in denen ich von einem Pferd fiel und hinterher totgetrampelt wurde. Komisch, was? Dabei kann ich mich an den Sturz selbst überhaupt nicht mehr erinnern. Die Erinnerung daran ist einfach weg.“

Tori lachte.

„Was ist?“, fragte Viktor gekränkt. „Findest du mich albern oder was?“

„Gar nicht“, sagte Tori. „Ich wundere mich nur.“

„Worüber?“

„Du warst so ein Großkotz im Sommer. So ein Angeber, es war kaum auszuhalten mit dir. So ein Satz wie der eben – dass du Angst hast oder Albträume –, der wär dir nie über die Lippen gegangen.“

„Stimmt“, gab Viktor zu. Sina sah, wie das Blut in seinen Kopf stieg und sein Gesicht verfärbte. Er wurde rot. Das Gefühl war ihr so vertraut, dass sie am liebsten ihren Arm um seine Schulter gelegt hätte. Aber das ging nicht, sie saßen ja auf den Pferden. Und überhaupt.

„Der Sturz hat dir sehr gutgetan, finde ich“, sagte Tori. „Er hat dir den Kopf zurechtgerückt, wenn du mich fragst.“ Dann gab sie Tibor die Sporen. „So, und jetzt zeig mal, was du so draufhast! Ein kleiner Galopp wird ja wohl drin sein.“

„Und ob das drin ist!“ Viktors Augen leuchteten kampflustig auf.

Sina blieb ein bisschen zurück, während die anderen vorweggaloppierten. Vielleicht tut Tori ja nicht nur so, als ob sie ihn nett findet, dachte sie. Vielleicht steht sie wirklich auf ihn. Er ist jedenfalls ganz offensichtlich Feuer und Flamme für sie. Das Gefühl des Unbehagens, das sie vorher im Stall verspürt hatte, war wieder da.

Aber jetzt zügelte Viktor Maxim und drehte sich im Sattel zu ihr um. „Wo bleibst du, Sina?“, rief er ihr zu.

„Ich komme ja schon!“, gab sie zurück. Sie schlug mit den Zügeln gegen Jankos Hals und brachte ihn durch einen leichten Schenkeldruck dazu, sein Tempo zu beschleunigen.

Auf dem Rückweg schlug Tori ein Wettrennen vor.

„Das ist doch Quatsch“, meinte Sina. „Maxim hat keine Chance gegen Janko und Tibor. Er ist viel zu langsam.“

„Maxim und Janko haben keine Chance gegen Tibor und mich“, korrigierte Tori sie. „Du musst der Realität langsam mal ins Auge sehen: Ich bin die Beste!“

„So viel zum Thema Großkotz“, sagte Viktor.

„Pah!“ Tori warf den Kopf in den Nacken, dann beugte sie sich tief nach vorn und preschte davon. „Tschüss, ihr lahmen Enten!“, rief sie über die Schulter zurück.

„Du kannst ihr gerne hinterher, wenn du willst“, sagte Viktor. „Ich halt mich heute lieber noch ein bisschen zurück.“

„Ich hol sie jetzt ohnehin nicht mehr ein“, entgegnete Sina.

Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander her. Tori ist bestimmt vorausgeritten, um mir eine Gelegenheit zu geben, ihn auszufragen, dachte Sina. Aber ihr Kopf war plötzlich so leer gefegt wie der Bürgersteig vor dem Haus von Frau Fischer. „Hast du von der Sache mit Fritz gehört?“, fragte sie schließlich.

„Dass er die Kakteen der Nachbarn gefressen hat?“ Viktor lachte. „Klar. Ich war doch auf der Ranch, als er eingefangen wurde.“

„Die Nachbarn wollen ihn einschläfern lassen.“ Sina blickte Viktor verstohlen an. Wenn er jetzt wieder rot wurde, dann war das vielleicht ein Zeichen dafür, dass er ein schlechtes Gewissen hatte.

Er wurde aber nicht rot. „Das ist doch Quatsch. Einen Esel schläfert man nicht einfach so ein“, meinte er nur. Dann wechselte er das Thema. „Ich finde es echt nett von dir und Tori, dass ihr mir nicht nachtragt, wie blöd ich im Sommer war.“

„Na, hör mal. Wir hätten dich davon abhalten müssen, Dakota zu nehmen. Im Grunde sind wir schuld an dem Unfall.“

„Unsinn. Jeder ist für sich selbst verantwortlich.“

Also, entweder verstellte er sich perfekt oder er war ganz einfach wirklich unschuldig.

Jetzt warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. „Mensch, schon halb eins! Ich muss um zwei in der Eisdiele sein. Ich glaube, wir müssen einen Zahn zulegen.“

Sina brachte Janko zu einem schnellen Trab und unterdrückte ein Seufzen. So sehr sie sich auch bemühte, sie kam einfach kein Stück weiter. Sie tappte völlig im Dunkeln.